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Asylkompromiß „nur ein erster Schritt“ - taz.de
Asylkompromiß „nur ein erster Schritt“ ■ Interview mit dem stellv. SPD-Vorsitzenden Wolfgang Thierse taz: Bei den Asylverhandlungen sind alle Ansätze einer integrativen Ausländerpolitik, für die die SPD eintreten wollte, auf der Strecke geblieben. Warum? Thierse: Der Asylkompromiß ist ein wirklicher und auch ein bitterer Kompromiß. Die SPD hat Vorschläge zur Neuregelung der Staatsbürgerschaft, zum Kommunalwahlrecht für Ausländer und zu einer gesetzlichen Regelung der Zuwanderung in die Verhandlungen eingebracht. Dies war nicht durchsetzbar. Das muß aber nicht heißen, daß die SPD an diesen Zielen nicht weiter festhält. Im Gegenteil, ein Kompromiß ist ein Zwischenschritt. Gerade deshalb ist es ganz wichtig, daß wir alle drei Themen weiter verfolgen. Die SPD hat im Vorfeld der Verhandlungen von einem Paket zur Neuregelung der Zuwanderung gesprochen. Die Koalition hat sich aus diesem Paket genommen, was sie brauchte, nämlich die Zustimmung zur Änderung des Artikels 16. Vom Rest hat die SPD nichts durchsetzen können. Ich sehe da keinen Kompromiß. Es gab ja ein paar andere Dinge: die Verteidigung des Grundrechts auf Asyl, die Verteidigung der Rechtsweggarantie. Bei den laufenden Detailverhandlungen versucht die Regierung auch hier nach wie vor aufzuweichen. Für mich ist wichtig: Der Asylkompromiß ist nur ein erster Schritt. Die SPD hat jetzt zwei Gesetzentwürfe zur Einbürgerung und zur Zuwanderung erarbeitet, und wir werden auch weiterhin für das kommunale Wahlrecht eintreten. Wo soll das Interesse der Union denn herkommen, sich auf diese Projekte einzulassen, die sie während der Asylverhandlungen klar abgelehnt hat. Oder wird die SPD das noch einmal mit der Frage ihrer endgültigen Zustimmung zum Asylkompromiß verknüpfen? Nein, ich glaube nicht, daß es dafür Aussichten gibt. Man kann ein Verhandlungsergebnis nicht beliebig verändern. Man kann es nur im Detail noch korrigieren oder verteidigen, wenn ein Verhandlungspartner es anders interpretiert. Doch bei den Gesetzesvorhaben zur Zuwanderung und zur erleichterten Einbürgerung geht es nicht wie beim Asyl um das Grundgesetz ändernde, sondern um einfache Mehrheiten. Da denke ich über die Union hinaus. Für ein einfaches Gesetz braucht man nicht die Union, oder man braucht sie nicht vollständig. Welche Rolle spielt der gesellschaftliche Stimmungsumschwung der letzten Wochen für die Durchsetzung dieser Ziele? Wenn wir ernstnehmen, daß es eine Mehrheit gibt, die bereit ist, gegen Gewalt gegen Ausländer anzutreten, die bereit ist, Ausländer in diesem Lande als gleichberechtigte Menschen zu akzeptieren, dann kann man daraus auch eine Mehrheit ableiten, die sie zu wirklich gleichberechtigten Bürgern machen will. Und das ist eine Chance, die wir Politiker nicht ungenutzt lassen sollten. Das wird nur erfolgreich sein, wenn es durch eine breite öffentliche Debatte oder Bewegung unterstützt wird. Die Gefahr, daß die Erfahrung mit der Asyldebatte und der Einschränkung des Asylrechtes die Initiativen für eine Einwanderungspolitik, für eine andere Ausländerpolitik regelrecht im Keim erstickt, sehen Sie nicht? Es wäre eine Selbstlähmung der SPD, der liberalen und linken Öffentlichkeit, wenn sie jetzt wie das Kaninchen auf die Schlange auf den Asylkompromiß starrt und keinen Schritt weiter tut. Die Debatte muß gerade deshalb geführt werden, weil in dem Asylkompromiß bestimmte Dinge nicht erreichbar waren. Wir müssen eine humane Form von Begrenzung, von Auswahl und Lenkung des Zustroms von Flüchtlingen finden. Wenn man dies akzeptiert hat, erleichtert das durchaus den nächsten Schritt: Recht auf Einbürgerung unter klar definierten Bedingungen, Zuwanderungsmöglichkeiten, die gesetzlich festgelegt und natürlich mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kriterien verbunden sind. Gibt es eine Zeitperspektive? Ich bin unsicher hinsichtlich der Zeitvorstellungen. Wenn wir das in diesem Jahr diskutieren, aber unter den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag nicht durchbekommen, ist das denkbarerweise dann ein Thema für das dramatische Jahr 1994. Interview: Matthias Geis
m. geis
■ Interview mit dem stellv. SPD-Vorsitzenden Wolfgang Thierse
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Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus: Die Rückkehr der Gabe - taz.de
Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus: Die Rückkehr der Gabe Neue Gemein­schaftlichkeit oder neue soziale Spaltung? Die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner analysieren einen „Community-Kapitalismus“. Wenn die Zivilgesellschaft einspringen muss: Essensausgabe beim Verein „Menschen helfen Menschen“ Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz Die Community ist gut. Wo sonst Entfremdung, Bürokratie und Kälte herrschen, ist es in der Community wohlig warm. Das legt zumindest meist der Alltagsgebrauch des Begriffs nahe, sogar dann, wenn die Community nur digital auftritt. Doch Gemeinschaft ist nicht gleich Gemeinschaft. Es gibt antimoderne, nostalgische Bezüge von rechts, nichttraditionale Bezüge von links und immer öfter auch Anrufungen „sorgender Gemeinschaften“ seitens der offiziellen Politik. Die Gemeinschaftsidee ist en vogue. Und lässt man die Perversion zur Volksgemeinschaft einmal kurz beiseite, gibt es an der Gemeinschaftsidee angeblich wenig zu kritisieren. Silke van Dyk und Tine Haubner: „Community-Kapitalismus“. Hamburger Edition, Hamburg 2021, 176 S., 15 Euro Doch, sagen die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem klugen Buch „Community-Kapitalismus“ und wollen zeigen, wie die Gemeinschaft(sidee) in der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krise des neoliberalen Kapitalismus zur zentralen Ressource und Steuerungstechnologie wird. Heißt: Der Kapitalismus stellt gerade wieder einmal seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis, und damit geht es um die „Erschließung neuer, nicht kommodifizierter Räume und neuer Trägergruppen nicht regulär entlohnter Arbeit“. Krise des neoliberalen Kapitalismus Ging es in der Analyse des neoliberalen Kapitalismus nicht gerade noch um das unternehmerische Selbst, das selbstoptimiert und eigenverantwortlich in Konkurrenz zu anderen steht? Ja, im Übergang von der wohlfahrtsstaatlichen Disziplinargesellschaft zur neoliberalen Kontrollgesellschaft ist eine Ökonomisierung des Sozialen beobachtbar. Doch die Rede von der Ökonomisierung des Sozialen greift den Autorinnen zu kurz. Vielmehr erlebten wir „eine Neuausrichtung der sozialen Reproduktion, in der die Grenzen von Markt, Staat, Familie und Zivilgesellschaft mit ihren jeweiligen Steuerungslogiken neu vermessen werden“. Grund dafür sei die Hegemoniekrise des Neo­liberalismus (spätestens seit der Finanzkrise) sowie die Krise der sozialen Reproduktion (familialer und demografischer Wandel, Wohlfahrtsstaatsabbau) und die Digitalisierung (neue Vergemeinschaftungen). Der kooperative Aspekt neuerer Arbeitsformen und die Ausbeutung des so genannten „Gemeinsamen“ ist von einigen (post-)operaistischen Theo­re­ti­ke­r:in­nen bereits mit dem Begriff immaterielle Arbeit analysiert worden. Van Dyk und Haubner schließen daran an (wie auch an die Forschung zur Care-Arbeit) und möchten nun eine weitere Verschiebung herausstellen, nämlich die Adressierung „gemeinschaftsförmiger (Selbst-)Hilfepotenziale der Zivilgesellschaft“ – weshalb sie von „Community-Kapitalismus“ sprechen. Lösung der sozialen Frage Ist es also kein Zufall, dass das Lob des Engagements, des Gemeinsinns und der gegenseitigen Hilfe uns überall entgegenschallt? Man denke nur an die Pandemie und die Flutkatastrophe, die gegenseitige Hilfe jenseits entlohnter Arbeit notwendig werden ließen. Wo viel gelobt wird, wird auch viel verschleiert, denn wo „Arbeit in Hilfe, Freizeit, Freiwilligkeit, Gemeinsinn oder Liebe umdefiniert wird“, wo also Ressourcen der Zivilgesellschaft aktiviert werden, um Lücken der staatlichen Versorgung zu schließen, so die Autorinnen, wurde die Lösung der sozialen Frage in die Hände der Zivilgesellschaft gelegt. Van Dyk und Haubner geht es nicht um eine pauschale Verurteilung von Freiwilligenhilfe oder von Alternativökonomien (trotz unzureichender Kapitalismusanalyse), wie sie immer wieder betonen. Aber sie wollen zeigen, wie sich entlang von Posterwerbsarbeit eine Neuausrichtung des gegenwärtigen Kapitalismus vollzieht. Dafür haben sie empirisch Formen von Freiwilligenarbeit, nicht entlohnte Mehrarbeit und vor allem nicht regulär entlohnte Arbeit in der Pflege oder auf digitalen Plattformen untersucht. Sie können klar belegen, wie beispielsweise der Abbau sozialer Sicherungen und Kosteneinsparungen auf kommunaler Ebene oder im Gesundheits- und Pflegebereich mit der Aufwertung des Gemeinwohldienstes, also freiwilliger Arbeit, einhergehen. – Mit entsprechenden ideologischen Implika­tio­nen, wie der Überzeugung etwa, dass Engagement nichts mit Ökonomie zu tun habe, gar das Gegenteil einer zunehmenden Ökonomisierung sei. Die Thematisierung der Deprofessionalisierung von Arbeit, von neuen Abhängigkeitsverhältnissen und Interessensgegensätzen fallen da hinten runter. Vergiftete Früchte Was als soziale Frage adressiert wurde, werde in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften umgedeutet und soziale Rechte in soziale Gaben überführt. Die Autorinnen problematisieren diesen Aspekt sehr schön mit dem Philosophen Roberto Esposito, der mit der Gabe verbundene Abhängigkeitsverhältnisse herausstellte und im Vertrag (und Recht) die zentrale Institution des „immunitären Projekts der Moderne“ ausmachte, welches die „vergifteten Früchte“ der Gabe aufhebe. Van Dyk und Haubner lesen die Verlegung der sozialen Frage in die Zivilgesellschaft als „unausgesprochene Wiederkehr der Gabe in den sozialpolitischen Diskurs“. Wollen sie also zurück zum Wohlfahrtsstaat – zu Normalarbeitsverhältnissen, Normalbiografien und Kleinfamilie und den damit verbundenen Reproduktionsverhältnissen? Freilich wollen sie das nicht. Der normierende Wohlfahrtstaat ist nicht, wie sie betonen, die inkludierende, sicherheitsstiftende Antwort auf die soziale Frage. Aber – und das unterscheidet ihren von vielen anderen linken Ansätzen, wie zum Beispiel, wer sich erinnert, dem konvivialistischen Manifest von Chantal Mouffe, Eva Illouz etc., auf das sie Bezug nehmen – sie halten es für einen groben Fehlschluss, „die freiheitsverbürgende und autonomiestiftende Funktion sozialer Institutionen und sozialer Rechte“ geringzuschätzen. Emanzipation verorten sie nicht einfach in Gegenbewegungen von unten, sondern heben die autonomiegebende Funktion sozialer Rechte und ihrer Institutionalisierung hervor, eben weil diese von moralischen Beziehungen abstrahierten. Es gelte diese zu universalisieren, statt sie auszuhöhlen. Ein starkes Plädoyer Augenfällig wird diese Notwendigkeit auch – wenn man hier anschließen wollte – in den prekarisierten Arbeitsverhältnissen der Plattformökonomien. Erst kürzlich verkündete der Chef des Lieferdienstes Gorillas, Entlassungen wären „im Interesse der Community“. Aber das ist nur ein Aspekt der von Haubner und van Dyk beschriebenen Konstellation, die aus der Verbindung von Posterwerbsarbeit und Gemeinschaftspolitik hervorgeht. Ihr Buch ist eine wichtige Ergänzung zur Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und ein starkes Plädoyer für eine staatlich garantierte, aber strikt vergesellschaftete Infrastruktur.
Tania Martini
Neue Gemein­schaftlichkeit oder neue soziale Spaltung? Die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner analysieren einen „Community-Kapitalismus“.
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Vorbereitung für die Urabstimmung - taz.de
Vorbereitung für die Urabstimmung Ausgehend von Bielefeld überziehen Studierende Nordrhein-Westfalen in dieser Woche mit Protestaktionen gegen geplante Langzeit- und Einschreibegebühren. Das Kabinett hat die Studenten als zahlungskräftige Stopfer für das Haushaltsloch entdeckt von ISABELLE SIEMES In Bielefeld stehen seit gestern die Hörsäle leer. „Wer sponsert mir mein nächstes Semester?“ und „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung“ prangt auf den Streiktransparenten vor der großen Uni-Halle. Dicht gedrängt hörten mehrere tausend Studierende Montagvormittag die Reden gegen die geplanten Studiengebühren in Nordrhein-Westfalen. Bielefeld könnte Initialzündung für einen flächendeckenden Hochschulstreik in NRW werden. Sämtliche Asten an Unis und Fachhochschulen haben angekündigt, gegen die Gebührenpläne der rot-grünen Landesregierung mobil zu machen. Auch Schülervertretungen wollen sich an den Protesten beteiligen. Heute demonstrieren Studierende und Schüler in der Bielefelder Innenstadt. Morgen treffen sich die Studis in Dortmund zur Anti-Gebühren-Kundgebung. „Die Zeichen stehen auf Sturm“, sagt der Bochumer Asta- Vorsitzende Rolf von Raden. Die Bochumer haben in wenigen Tagen 3.000 Unterschriften gegen die Gebührenpläne gesammelt. In der Woche nach den Pfingstferien soll hier an der Ruhr-Uni und an anderen NRW-Hochschulen über Warnstreiks abgestimmt werden. Für den 8. Juni rufen die Asten gemeinsam zur landesweiten Großdemo in Düsseldorf auf – Motto: „Wer jetzt nicht handelt, wird verkauft.“ Das Düsseldorfer Kabinett will von jedem Studi 50 Euro als Einschreibegebühr und 650 Euro von Langzeit-, Zweit- und Seniorenstudenten kassieren. Wenn das hochschulstarke Land Gebühren erhebt, könnte der Damm bundesweit brechen. Die Technische Universität in München verhandelt bereits hinter verschlossen Türen über ein „Stipendien- und Beitragsmodell“, bei dem Gebühren von 5.000 bis 6.000 Euro jährlich im Gespräch sind. Der bayrische Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CDU) hat allerdings gegen das Modell Veto eingelegt, das die Münchner zusammen mit dem konservativen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) entwickelt haben. Über Gebühren entscheide der Gesetzgeber, nicht eine einzelne Hochschule, ärgerte sich Zehetmair. Im Gegensatz zu ihrem bayrischen Kollegen hält sich die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD) derzeit bedeckt. Seit zwei Wochen warten die 500.000 Studierenden in ihrem Land auf eine Stellungnahme zu dem Gebührenmodell aus dem Haus von NRW-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), der mit dem Geld das Haushaltsloch in der Landeskasse stopfen will. Doch das Warten ist bisher vergeblich: Es sei nicht Aufgabe des Staates, für jeden jederzeit kostenlos Bildung zur Verfügung zu stellen, sagte Behler vergangenen Freitag in Bielefeld ausweichend. Die Ministerin, die in den vergangenen Jahren die Gebührenvorstöße anderer Bundesländer scharf verurteilt hatte, ließ sich bei der Diskussion in der Bielefelder Uni nicht erweichen. Weder durch eine Gruppe als Bildungsbettler Verkleideter noch durch die Übergabe von 6.000 Protestunterschriften. Behler verwies auf die finanzielle Situation des Landes und betonte, auch über das Studienkonten-Modell werde weiterhin nachgedacht. Das setzt nicht auf Strafgebühren, sondern auf Bildungs-Gutscheine, die ein zügiges Studium belohnen, und wurde von Behler im November 2001 vorgestellt. Damals präsentierte sie ein bildungspolitisches Alternativkonzept zu den repressiven Langzeitgebühren-Modellen. Die pädagogische Wirkung der Strafe für Bummler stellt auch das „Aktionsbündnis gegen Studiengebühren“ (ABS) in Frage: „Studiengebühren verstärken die soziale Selektion.“ Betroffen seien vor allem Studierende mit Kind und Akademiker aus einkommensniedrigem Elternhaus. „Wenn ich künftig 650 Euro pro Semester zahlen soll, bedeutet das, ich muss einen weiteren Tag pro Woche arbeiten gehen und mein Abschluss verzögert sich“, sagt der Düsseldorfer Christian Schoppe, der neben dem Studium für seinen Lebensunterhalt sorgen muss. Von einem bildungspolitischen Steuerungsinstrument redet allerdings derzeit auch kein Politiker in NRW. Schließlich setzt der Finanzminister auf das Geld der Langzeitstudenten für sein Landessäckel. Christian Schneijderberg vom ABS ist sich deshalb sicher, „dass es längerfristig an den Unis rund gehen wird“. Im Herbst sollen die Proteste in NRW fortgesetzt werden, denn dann will die Landesregierung endgültig über das Steinbrück-Modell entscheiden.
ISABELLE SIEMES
Ausgehend von Bielefeld überziehen Studierende Nordrhein-Westfalen in dieser Woche mit Protestaktionen gegen geplante Langzeit- und Einschreibegebühren. Das Kabinett hat die Studenten als zahlungskräftige Stopfer für das Haushaltsloch entdeckt
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Homophobie in Ungarn: Orbáns Spiel mit den Farben - taz.de
Homophobie in Ungarn: Orbáns Spiel mit den Farben Viktor Orbán macht weiter Stimmung gegen queere Menschen. Welche Vorteile er sich davon verspricht und warum europäische Solidarität wichtig ist. Es gibt auch das bunte, tolerante Ungarn, wie hier bei einer Drag-Show in Budapest Foto: Bernadett Szabo/reuters BUDAPEST taz | Eindrucksvoll ist es nicht gerade, aber die Botschaft kommt an. Das Stadion des Fußballvereins Ferencváros Budapest wird hinter einer riesigen Adlerstatue rot beleuchtet, die Vereinsfarben sind sowieso Grün und Weiß. So erstrahlt die Arena an der Ausfallstraße zum Flughafen in den Nationalfarben Ungarns. Ausgedacht hat sich das Klubpräsident Gábor Kubatov. Er ist gleichzeitig Viktor Orbáns Mann fürs Grobe und Vorstandsmizglied der stellvertretender Vorsitzender der Regierungspartei Fidesz. Da aber auch die meisten anderen ungarischen Fußballvereine im Besitz der Orbán-Oli­garchie sind, wurde die symbolische Geste schnell überall im Land nachgeahmt. In Miskolc, Veszprém und Debrecen – und natürlich machte auch der Heimatverein des ungarischen Ministerpräsidenten mit. Der Vizemeister der ungarischen Liga ist in dem rund 1.800 Einwohner großen Dorf Felcsút zu Hause, sein Stadion hat Platz für 3.500 Zuschauer. Doch das in den ungarischen Nationalfarben angestrahlte Stadion in Felcsút werden am vergangenen Mittwoch nur wenige Menschen gesehen haben. Die überwiegende Mehrheit guckte die Fußball-Europameisterschaft, genauer gesagt das Spiel zwischen Deutschland und Ungarn, das am selben Abend in der Allianz Arena in München stattfand. Doch vorher hatte es jede Menge Stress gegeben. Denn eigentlich hätte die Arena zum Zeichen der Solidarität mit der ungarischen LGBTIQ*-Community in den Farben des Regenbogens leuchten sollen, doch dann hatte es die Uefa unter großen Protesten verboten. Schwul, das sind die anderen Viktor Orbán postete übrigens kurz nach dem vorzeitigen Aus für die ungarische Nationalmannschaft Fotos seines Heimatvereins in den Farben Rot, Weiß, Grün. Und wäre er nicht so besessen von Fußball, weshalb ihn die Niederlage geradezu kirre machen muss, könnte er sich eigentlich riesig freuen. Denn: Es läuft gerade prächtig für ihn im Streit um das neue ungarische Anti-LGBTQI-Gesetz – und München hat da mitgeholfen. Denn während als Reaktion auf das Uefa-Verbot mit einem Mal überall Regenbogenflaggen zu sehen waren, konnte Orbán sich mit seiner Nationalflagge gewissermaßen als gallisches Dorf inszenieren, das als einziges vor den Forderungen der LGBTIQ*-Community nicht einknickt. „Wir Ungarn sind tolerant gegenüber Homosexuellen“, sagte er noch vor einem Jahr und deutete damit an: Sein Volk sei heterosexuell, schwul seien die anderen. Er stehe für Normalität, und in Europa müsse man heutzutage mutig sein, um das auszusprechen. Er sei ein Freiheitskämpfer, nicht nur für die Ungarn, sondern für alle Nationen dieses Kontinents. „Populisten lieben nur jene Krisen, die sie selbst geschaffen haben“, sagte der bulgarische Politiloge Iwan Krastew einmal – und das passt zu Viktor Orbán. Er braucht den Streit um dieses geradezu böswillige Anti-LGBTQI-Gesetz. Denn er stand in den letzten Monaten unter Druck. Seine Pläne, mit ungarischen Steuergeldern eine chinesische Eliteuniversität zu bauen, stießen auf unerwarteten Widerstand, die Spätfolgen der Pandemie sind wirtschaftlich noch deutlich spürbar und die zersplitterte Opposition scheint vereint. Außerdem wird Viktor Orbán das Schicksal seines Politikfreundes Benjamin Netanjahu genau verfolgt haben. Nach zwölf Jahren war Schluss, weil acht israelische Parteien, darunter auch die Partei der Siedler und der israelischen Araber, sich geeinigt haben, ihn endlich loszuwerden. Und auch für den ungarischen Ministerpräsidenten ist das verflixte zwölfte Jahr nun angebrochen, in dem seine Gegner gerade jede Meinungsverschiedenheit hintanstellen, nur um ihn endlich abwählen zu können. Linke, Grüne, Liberale, sie alle machen selbst mit Jobbik gemeinsame Sache, einer zuletzt etwas gemäßigter gewordenen, aber dennoch rechtsextremen Partei. Vermutlich war die Spaltung der Opposition auch das wichtigste Ziel dieses homophoben Gesetzes. Und es hat ja auch geklappt: Jobbik hat das Gesetz im Parlament mitgetragen, die anderen Oppositionsfraktionen blieben der Abstimmung fern. Seitdem zitiert die Regierungspresse genüsslich alle aus dem linken Lager, die jetzt die Zusammenarbeit mit Jobbik aufkündigen wollen. Orbán hat aber auch andere Gründe, die Debatte um LGBTQI-Rechte weiter zu befeuern. Für ihn ist es nämlich ein strategischer Nachteil, dass die EU das Land bis zu den Parlamentswahlen im April 2022 doch noch bestrafen könnte. Denn einmal läuft auf EU-Ebene gerade eine Verfahren zum Entzug des Stimmrechts gegen Ungarn, zum anderen droht der neue Rechtsstaatsmechanismus, mit dem die EU die Subventionen kürzen kann, wenn sie rechtsstaatliche Prinzipien verletzt sieht. Also sorgt Orbáns Regierung jetzt schon für eine Ausrede: Die Schwulenlobby habe Brüssel unter Kontrolle, sie wolle verhindern, dass Ungarn seine Kinder besser schützt. Der ungarische Ministerpräsident provoziert seit Jahren. Geflüchteten wurde die Verpflegung in den Transitzonen verweigert, NGOs wurden mit einer Strafsteuer belegt, einem der letzten unabhängigen Sender wurde die Frequenz entzogen und gleichgeschlechtliche Paare können de facto nicht mehr adoptieren. Dieses Mal ist aber etwas neu. Die Fidesz-Partei ist nämlich dabei, neue Partner für eine Fraktion im Europäischen Parlament zu suchen. Sie verließ die Europäische Volkspartei und will jetzt einen populistischen Block bilden. Orbán selbst will dabei die Führung übernehmen und kann mit dem neuen Anti-LGBTQI-Gesetz natürlich bei allen erhofften Partnern punkten. Aber es gibt auch die Betroffenen, etwa die ungarische LGBTQI-Community. Und dort ist die deutsche Sympathiebekundung in Form der vielen Regenbogenflaggen gut angekommen, sagt Luca Dudits, die Geschäftsführerin der NGO „Háttér Társaság“. Sie fügt jedoch hinzu, dass es noch besser wäre, wenn den symbolischen Gesten praktische Schritte folgen würden. „Wenn Angela Merkel in Gesprächen mit Viktor Orbán ist, sollte sie das homophobe Gesetz ansprechen und politischen Druck ausüben.“ Ihre NGO kämpft mit anderen Vereinen trotz Verabschiedung des Gesetzes weiter, indem sie etwa Kampagnen wie #nemvagyegyedül (auf Deutsch: Du bist nicht allein) gestartet haben, um ungarischen LGBTQI-Menschen zu zeigen, dass sie ein wertvoller Teil der Gesellschaft sind. 5.000 auf der Straße „Viele Leute fragen mich, warum wir das immer noch tun, das Gesetz ist verabschiedet, der Präsident hat es unterschrieben. Was wir aber erreichen wollen, ist ein gesellschaftlicher Wandel. Es ist nutzlos, ein homophobes Gesetz zu haben, wenn die Mehrheit der Ungarn nicht damit einverstanden ist“, sagt Dudits – und fügt hinzu, dass es in Ungarn eine noch nie dagewesene Solidarität gegeben hat: 5.000 Menschen haben gegen das homophobe Gesetz demonstriert, viele haben ihre Profilbilder bei Facebook in Regenbogenfarben umgestellt und mehr als 160 Organisationen und Unternehmen haben sich für die homosexuelle Gemeinschaft eingesetzt. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. „Mehrere meiner Klienten haben mir erzählt, dass sie Kraft aus den Protesten schöpfen, aus dem Einstehen für sie in den sozialen Medien“, bestätigt Csilla Faix-Prukner, eine auf LGBTQI-Themen spezialisierte Psychologin. Seit das homophobe Gesetz verabschiedet wurde, werde in ihrer Therapie viel darüber gesprochen. Sie habe festgestellt, dass einige ihrer Kunden wütend sind, während andere eher an ihrem Land verzweifeln. Viele hätten das Gefühl, dass sie Ungarn verlassen müssen. Es scheint so, als habe Orbán sein Ziel erreicht. Doch die homophobe Propaganda ist auch ein Wagnis. Jetzt kommt es auf die Opposition an, ob sie sich von ihm spalten lässt. Gerade macht es den Eindruck, als würde sie sich wegducken, damit der Sturm vorüberzieht. Doch ihr Bündnis ist von so vielen Unterschieden geprägt, dass einer mehr auch keinen so großen Unterschied macht. Orbán muss abtreten, dann sehen wir weiter, sollte ihr Motto sein.
Márton Gergely
Viktor Orbán macht weiter Stimmung gegen queere Menschen. Welche Vorteile er sich davon verspricht und warum europäische Solidarität wichtig ist.
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Gemischtes Doppel am Griebnitzsee - taz.de
Gemischtes Doppel am Griebnitzsee ■ Am Karfreitag um 21.05 Uhr startet auf SFB1 eine neue Familien-Radioserie, die im Berliner Umland spielt Fontane über die Schulter geguckt haben die Hörspielleute beim SFB, als sie sechs Autoren — drei Ost und drei West — beauftragten, zusammen eine Serie zu schreiben, die das ach so schöne Phänomen der Familienzusammenführung nach dem Fall der Mauer aufs Korn nimmt. Da kommt in einer Villa am Griebnitzsee und unter der Fuchtel eines kauzig-sympathischen alten Herrn zusammen, was zusammengehört — oder auch, was sich dagegen sträubt. Auf billige Effekte soll verzichtet werden — so versprechen es die Macher, unter denen, jedenfalls im Moment, die Ostler dominieren. Mit dem Dramaturgen Lutz Volke und dem Regisseur Peter Groeger — beide kommen aus dem Funkhaus in der Nalepastraße — unterhielt sich Christian Deutschmann. Schon der Schauplatz Ihrer Serie „Sonntagsgäste“ scheint mir den Ostlern unter Ihren Autoren einen Heimvorteil zu geben. Ich habe überhaupt den Eindruck, daß bei dieser Serie das Schwergewicht auf der Ostseite liegt. Für einen Westsender ungewöhnlich. Lutz Volke: Es hat sich irgendwie so ergeben. Es sind die Ostautoren, die die ersten Manuskripte vorgelegt haben. Bei den Westautoren lief das etwas zögerlicher an. Das kann natürlich damit zusammenhängen, daß die Ostautoren in diesem Genre mehr Erfahrung haben, und daß in der DDR das Geschichtenerzählen — auch im Hörspiel — mehr Tradition hat. Das ist für diese Serie ein Vorteil. Es hängt auch damit zusammen, daß sich ein Ostautor, Helmut H. Schulz, besonders hineingekniet hat, schon weil er sich die Leitfigur der Serie und überhaupt die Vertreter der älteren Generation vorgenommen hat. Er hat sich am intensivsten mit dem Komplex der zwanziger, dreißiger Jahre in Berlin beschäftigt, der Zeit, in der die Hauptfigur, der alte Artur Sebaldus Hernstadt, groß geworden ist. Sie haben sich also bewußt für eine traditionelle Richtung entschieden? Es ist sehr schwer, für eine Serie, die ständig fortgeführt werden soll, ganz neue Muster zu finden. Wir haben uns gesagt, daß das gegenseitige Geschichtenerzählen — was die Leute in unserer Serie tun, die sich in den letzten Jahrzehnten gar nicht oder kaum gesehen haben und sich nun zum ersten Mal wiedersehen — eine geeignete Methode ist. Daraus ist die Form der Serie entstanden. Und das hat auch mit dem zu tun, was wir wollen: ein bißchen Hilfe vermitteln bei dem notwendigen Zusammenwachsen — vor allem in Berlin. Die Villa am Griebnitzsee: An den Klang müssen sich Westohren erst einmal gewöhnen. Für unsereinen war „Griebnitzsee“ bisher nur so eine Bahnstation, wo die Grenzer ein- und ausstiegen. Wir wollten das nicht so genau festlegen. Wir sagen mal: Griebnitzsee, denn da gibt es Leute, die das ziemlich genau kennen. Jochen Hauser, einer unserer Autoren, hat da zwar nicht gewohnt, aber studiert. Da gibt es also eine Lokalkenntnis. Dann haben da berühmte Leute gewohnt, wie etwa der General Schleicher, der von den Nazis erschossen worden ist. Alle diese Wasserlandschaften bei Potsdam sind überhaupt sehr geschichtsträchtig. Das paßt zu dieser Serie, bei der Vieles nach rückwärts erzählt wird. Peter Groeger, Sie haben die ersten neun Folgen inszeniert. Mit Familienserien verbinden wir Vorstellungen wie nett, idyllisch. Ist das auch bei den „Sonntagsgästen“ so? Peter Groeger: Es wird sich höchstwahrscheinlich nicht vermeiden lassen, daß unsere Sendung als Familienserie bezeichnet wird. Ich selber denke nicht daran beim Inszenieren. Denn hier wird ja ein sehr aktuelles Thema behandelt: Häuser, Besitz. Hier bekommt ein Mann sein Haus zurück, der immer in der DDR gelebt hat. Und er benutzt den Anlaß, die Beziehungen mit seiner Familie wiederherzustellen. Das, denke ich, ist der Reiz, und da liegen auch die Konflikte. Es geht um die Beziehungen der Leute in den letzten vierzig Jahren: Manche haben sich auseinandergelebt, mit manchen hat unser Held eine gute Beziehung behalten. Das Haus ist insofern eine Metapher. Ich nehme an, auch Sie denken bei dieser Serie häufig an Fontane. Geschichten und Sprechweise der Leute erinnern an ihn. Entspricht das der heutigen Zeit? Ja. Bleiben wir bei dem Alten. Es ist ja einigen älteren Herren gelungen, nach dieser Wende ihre traditionsreichen Unternehmen wiederzubekommen. Es gab in Berlin Firmennamen, die etwas Patriarchisches hatten. Es gibt sehr wenige solcher Figuren, aber es gibt sie. Und da sehe ich eine Analogie zur unmittelbaren Gegenwart. Der Held der Serie, Artur Hernstadt, macht einen geistvoll gebildeten Eindruck: schöne, gepflegte Dialoge. Doch er ist Unternehmer. Stimmt das denn zusammen? Ich denke, man muß die letzten dreißig oder vielleicht fünfundzwanzig ein bißchen toten Jahre berücksichtigen, die er überlebt hat. Eine Grundbildung war ja angelegt: humanistisches Gymnasium, Abitur. Auch wenn das verschüttet war, er vierzig Jahre in der DDR gelebt hat und als Außenseiter, als Kleinkapitalist bezeichnet wurde, denke ich, daß so ein Mann sich die lange Zeit zurückzieht auf einen privaten Sektor, existentielle Fragen ein bißchen philosophisch angeht, in den Klassikern sucht. Und dann ist es eine Frage der Generation: Hernstadt ist in unserer Serie ja achtzig Jahre alt, da gehört es dazu, seine Lebensphilosophie in Zitaten auszudrücken. Und ich denke: Vielleicht kann gar keiner Unternehmer sein wollen, wenn er nicht auch ethische Dimensionen bedenkt. Mir scheint, daß auch das thematische Schwergewicht in den einzelnen Folgen auf dem Osten liegt. Da gibt es so eine Richtung wie etwa: Man muß sich das einmal vorstellen, wie die Leute drüben gelebt haben! Ist das Ganze also eine Serie vor allem für den Hörer im Westen? Das wird sich im Laufe der Zeit ausgleichen. Da gibt es ja den Sohn von Artur Hernstadt, Oskar, der in Westberlin lebt. Der alte Hernstadt rechnet auf ihn, weil er denkt, der hat Geld, und der möchte, daß diese Westfamilie in sein Haus einzieht. Da liegt noch ein großer Konflikt, und das ist bisher erst angedeutet. Also, die Westler spielen schon noch eine wichtige Rolle. Wenn man das bisher so empfindet, daß es vielleicht mehr um die Befindlichkeiten der Familienmitglieder geht, die im Osten gelebt haben: Das wird sich alles noch verschieben. Daß sich ein Ostautor also in die Westproblematik einarbeitet? Ich habe bisher ja nur die ersten neun Folgen produziert. Da ist das nicht drin. Aber das kann ja in der 132.Folge noch kommen.
christian deutschmann
■ Am Karfreitag um 21.05 Uhr startet auf SFB1 eine neue Familien-Radioserie, die im Berliner Umland spielt
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Wie fühlt die Fledermaus? - taz.de
TAZ.DEBATTENKULTUR Wie fühlt die Fledermaus? HYPE Die Hirnforschung sei überbewertet, sagt Felix Hasler. Wir ließen uns von bunten Computerbildern zu sehr blenden. Und wüssten trotzdem nicht mehr VON TIMO STUKENBERG Moral, Ästhetik, Liebe – all das versuchen uns die Hirnforscher zu erklären. Der Pharmakologe Felix Hasler von der Berlin School of Mind and Brain hat da so seine Zweifel. „In der Hirnforschung kann man viel ungestraft behaupten“, sagt er auf dem taz.lab. Die empirischen Daten belegten hingegen nur selten, was als bahnbrechende Erkenntnis verkauft wird. Gegenwind von Sozialwissenschaftlern sind Neurowissenschaftler gewohnt. Nach jahrelanger Euphorie zweifeln sie nun aber auch selbst. Eine Studie, die kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature Reviews Neuroscience veröffentlicht wurde, zeigt: Nur jedes fünfte Ergebnis lässt sich tatsächlich belegen. Ein miserables Ergebnis. Echte Erfolge erzielt die Hirnforschung hingegen auf dem Buchmarkt. Wie trainiere ich das Gehirn meines Babys? Was sagt uns Buddhas Gehirnstruktur? Die Neurowissenschaft weiß es – oder behauptet es zumindest. Auch in den Medien wird die Hirnforschung immer häufiger aufgegriffen. Ein besonders absurdes Beispiel dafür hat Pharmakologe Hasler in der Schweizer Boulevardzeitung 20 Minuten gefunden. Unter dem Titel „Hirnscanner entlarvt Rassisten“ stellte die Zeitung die neuesten Ergebnisse einer Studie vor. Darunter ein Bild protestierender Neonazis. „Brauchen wir wirklich einen Hirnscanner, um Rassisten zu erkennen?“, fragt Hasler. Ein Grund für die überhöhte Bedeutung liege in den Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT), sagt Hasler. „Die Hirnforschung wäre ohne bildgebende Verfahren nie so ein Hype geworden.“ Nur: Bunte Bilder von Gehirnaktivitäten suggerierten eine Exaktheit, von der die Verfahren weit entfernt seien. Statt das Geschehen exakt abzubilden wie ein Foto, arbeitet zum Beispiel die MRT mit statistischen Berechnungen – die von vorher getroffenen Annahmen abhängen. Dennoch hätten gerade erst die EU und die USA ein Wettrüsten um Forschungsgelder für die Hirnforschung gestartet. Es gehe um Beträge in Milliardenhöhe. Welche Forschungsfragen sinnvoll sind und welche nicht, rücke dabei in den Hintergrund. Haslers Vortrag spielt auf die neurowissenschaftliche Forschungswut schon im Titel seines Vortrags an: „Was würde die Fledermaus denken?“ Wer herausfinden wolle, wie eine Fledermaus fühlt, könne gern das komplette Fledermaus-Gehirn untersuchen, sagt der Pharmakologe. Wie sich die Fledermaus fühlt, wisse er trotzdem nicht.
TIMO STUKENBERG
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Jugendlicher über Haasenburg-Heim: „Ich will auf keinen Fall zurück“ - taz.de
Jugendlicher über Haasenburg-Heim: „Ich will auf keinen Fall zurück“ Ein geflüchteter Heiminsasse spricht von Misshandlungen, Drohungen und Demütigungen. Die Haasenburg habe ihn „gefühlskälter“ gemacht. Der Junge berichtet von Tritten im Haasenburg-Heim. Bild: nurmalso/photocase.com Drei Jungen flüchteten im Juli aus Heimen der Haasenburg GmbH. Sie erhoben schwere Vorwürfe wegen Misshandlungen. Zwei Jungen, sie sind aus dem Saarland und Hamburg, waren gegen ihren Willen wieder in die umstrittene Einrichtung zurückgebracht worden. Der Junge, der aus dem Saarland stammt, hält nach Aussage seines Anwaltes an seinen Vorwürfen gegenüber der Haasenburg GmbH fest. Das würde er auch dem Landesjugenddamt Brandenburg so sagen. Der Hamburger Senat hatte zuvor verbreitet, die Jungen würden ihre Vorwürfe dementieren. Ein dritter Junge befindet sich noch auf der Flucht. Bei ihm entschied das Jugendamt Berlin-Charlottenburg, dass es nicht angemessen wäre, ihn in die Haaseburg GmbH zurück zu führen, so der Anwalt. Die taz hat die Haasenburg GmbH mit den Kernaussagen dieses Interviews konfrontiert. Eine Stellungnahme von der Haasenburg GmbH blieb aus. Nico*, weshalb bist du aus dem Heim der Haasenburg GmbH geflüchtet? Nico: Wegen der strengen Regeln dort und wegen der Missstände. Und weil ich Kontakt zu meinen Freunden wollte. Was ist dir passiert? Einen Tag vor meiner Flucht hatte ich Streit mit einem Erzieher. Ich hatte abends geklopft, weil ich etwas zu Trinken wollte. Das mussten wir so machen. Da hat er gesagt, du kriegst nichts, du hast schon vor einer halben Stunde getrunken. Er hat mich dann in mein Zimmer geschubst. Das hab ich mir nicht gefallen lassen und bin raus in den Flur, um mir was zu Trinken zu holen. Da hat er einen anderen Erzieher aus der Nachbargruppe angefunkt. Ich wollte wieder rein in mein Zimmer, da hat er ausgeholt und mir heftig in den Po getreten mit seiner Fußspitze. Und dann bist du wieder ins Zimmer? Nein, das hat sehr weh getan. Der hat so doll zugetreten, dass am nächsten Tag sein Fuß sichtbar geschwollen war. Ich habe mir gesagt, so nicht mit mir, habe einen Stuhl umgeschmissen, habe rumgeblökt und bin zum Wasserhahn, um was zu trinken. Da kam der zweite Betreuer an und hat gesagt: Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, aber wenn ich noch einmal wegen dir rüberkommen muss, dann verdrehe ich dir deine Gliedmaßen oder Körperteile – ich weiß es nicht mehr so genau, welches Wort er gewählt hat. Er hat dir gedroht? Ja. Ich habe ihm gesagt, das dürfen Sie gar nicht. Da meinte er: wird Zeit, dass du das mal kennen lernst. Da sagte ich, das dürfen Sie nicht, denn ich gefährde weder mich noch andere. Da sagte der, das sei immer Auslegungssache und er sei sicher, sein Kollege würde ihm da zustimmen. Bill und Hillary, Sahra und Oskar, Gerd und Doris: Wie funktionieren Beziehungen in aller Öffentlichkeit? Die Titelgeschichte „Liebe. Macht. Politik“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 13./14. Juli 2013. Darin außerdem: Am 24. April brach in Bangladesh ein Hochhaus über 3.500 Näherinnen ein. Die Schuldigen dafür waren im Land schnell gefunden: ihre Chefs. Die Geschichte zweier Glücksritter. Und der Streit der Woche zur Frage: Ist Datenhygiene jetzt Bürgerpflicht? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Hast du so eine Maßnahme schon mitbekommen? Ich habe bei anderen gesehen, wie das gemacht wurde. Ein Junge, der weglaufen wollte, den haben sie auf den Boden geworfen und Arme und Hände verdreht. Dabei hätte einfach Festhalten gereicht. Der hat noch gefleht: „Bitte nicht so doll, nicht so doll.“ Es war zu lesen, du wurdest in einer Mülltonne fotografiert? Ja, das war beim Müllrausbringen. Da gibt es so große Container. Der Erzieher sagt zu mir, steig da rein, dann reiche ich dir den Müll rein. Das habe ich gemacht. Dann sagte er auf einmal, wieso bist du denn da reingestiegen, ’du bist ja ein Müllbobby, haha, ich lach mich tot’ und hat mich fotografiert und die Klappe zugemacht. Später hat er die Bilder anderen rumgezeigt. Wie war dein Alltag im Heim der Haasenburg GmbH? Ich war knapp zwölf Monate dort und hab die meiste Zeit nur an meinem Tisch gesessen und mich zu Tode gelangweilt. Ich war oft in Einzelbetreuung. In der Gruppe war ich nur selten. Durftest du dich in deinem Zimmer frei bewegen? Nein. Wenn ich mich aufs Bett setzen oder ans Fenster stellen wollte, musste ich immer vorher klopfen und den Erzieher fragen „darf ich mich aufs Bett setzen oder darf ich mich auf Bett lümmeln“. Meistens kam ein „Nein“. Hat man das gemacht, ohne zu fragen, gab es erst einen Hinweis und beim zweiten Mal wurde das Bett rausgenommen. Es gab auch eine Station, da wurden dann beim Fenster die Außenrollos runtergelassen. War das immer so, oder nur am Anfang? Das war die ganze Zeit so schlimm, bis ich endlich flüchten konnte. Konntest du rausgehen? Allein aufs Gelände durfte ich nie, nur ein paar mal in Begleitung eines Erziehers. In der Regel durfte ich nur im Pausenhof an die frische Luft. Das ist ein von hohen Zäunen umgitterter Basketballplatz. Was hat die Zeit dort mit dir gemacht? Nichts Positives. Ich bin gefühlskälter geworden. Gab es dort Therapeuten, mit denen du reden konntest? Es gab eine Psychologin, aber die war voll eingebunden in das Konzept. Da nützt es ja nichts, wenn ich mich darüber beschwere, was mir nicht gefällt. Wie seid ihr geflüchtet? Darüber möchte ich nichts sagen. Du bist jetzt untergetaucht. Wie geht es mit dir weiter? Ich will auf keinen Fall zurück in die Haasenburg. Mein Anwalt hat mir schon gesagt, dass ich das auch nicht muss. Nun Kämpfe ich darum, dass ich nicht in ein anderes geschlossenes Heim komme. Ich möchte in eine offene Einrichtung. Ich habe keine Straftaten begangen. Die beiden anderen wurden von der Polizei wieder zurückgebracht. Es wird denen schrecklich gehen. Gerade wo jetzt schon Mitarbeiter gehen mussten wegen unserer Aussagen. Sie werden in Einzelbetreuung sein, zurück auf Null gestuft, werden die Aufgabe bekommen, alles zu reflektieren. Sie werden von den Erziehern menschlich wie der letzte Dreck behandelt werden, weil sie Missstände angeprangert haben. *Name von der Redaktion geändert
Kaija Kutter
Ein geflüchteter Heiminsasse spricht von Misshandlungen, Drohungen und Demütigungen. Die Haasenburg habe ihn „gefühlskälter“ gemacht.
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Totschläger „stolz, Deutsche zu sein“ - taz.de
Totschläger „stolz, Deutsche zu sein“ ■ Prozeß: Stadtstreicher von Jugendlichen brutal erschlagen Potsdam (AFP) – Vor dem Bezirksgericht Potsdam haben sich gestern zwei junge Männer, die wegen der brutalen Tötung eines Stadtstreichers angeklagt sind, zu den verbotenen rechtsextremen Organisationen „Nationale Offensive“ (NO) und „Nationalistische Front“ (NF) bekannt. Der 17jährige Daniel K. erklärte, er sei Mitglied der NF, der 18jährige Thomas S. sagte, er sympathisiere mit der NO und sei „stolz, ein Deutscher zu sein“. Zuvor hatten beide gestanden, den 52jährigen Rolf Sch. im November mit Springerstiefeln getreten, mit Fäusten traktiert, mit einer Gasflasche geschlagen und dann mehrmals im brandenburgischen Kölpinsee untergetaucht zu haben. Die Leiche hatten sie später mit Benzin übergossen und angezündet. Das Gericht kündigte an, die als gemeinschaftlichen Totschlag angeklagte Tat möglicherweise als Mord zu bewerten. Zum Tathergang sagte Daniel K. vor Gericht, er sei am Abend der Tat im November vergangenen Jahres mit seinen Kumpanen zum Bahnhof Berlin-Schönefeld gefahren, um „Penner“ zu suchen, „die wir rausschmeißen können“. Die Stadtstreicher seien doch „eine Belästigung für die Reisenden“ gewesen, sagte der Angeklagte. In Schönefeld seien sie auf ihr späteres Opfer Sch. gestoßen und hätten ihn überredet, in ihr Fahrzeug zu steigen. Dann seien sie an den See gefahren, in der Absicht, den „Asi umzutreten“. Weil Sch. wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern eine „zu geringe Strafe“ erhalten hätte, hätten er und seine Freunde ihm „einen Denkzettel verpassen“ wollen.
taz. die tageszeitung
■ Prozeß: Stadtstreicher von Jugendlichen brutal erschlagen
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Gesundheit: Impf-Empfehlung an die Szene - taz.de
Gesundheit: Impf-Empfehlung an die Szene Der Berliner Impfbeirat empfiehlt: Männer, die Sex mit Männern haben, sollen sich gegen Meningokokken schützen. Bereits drei Todesfälle in diesem Jahr. Beirat empfiehlt Meningokokkenimpfung für MSM. Bild: DPA Der Berliner Impfbeirat hat am Donnerstag eine neue Impfempfehlung ausgegeben: Männer, die mit Männern Sex haben, sollen sich gegen Meningokokken der Gruppe C impfen lassen. Das Bakterium kann schon durch Tröpfcheninfektion, etwa durch Niesen oder Küssen, übertragen werden, es verursacht Krankheiten wie Hirnhautentzündung und Blutvergiftung. Anlass der Warnung ist, dass es bereits drei Todesfälle in dieser Gruppe im Jahr 2013 gab. Ein weiterer Erkrankter aus dieser Gruppe leidet dauerhaft unter der schweren Erkrankung. Insgesamt gab es im laufenden Jahr bisher 18 Fälle von Meningokokken-Erkrankungen in Berlin, in 7 Fällen waren Schwule bzw. – so die offizielle Bezeichnung – „Männer, die mit Männern Sex haben“ (MSM), betroffen. Die mit dem gefährlichen Meningokokken-Erreger der Gruppe C Infizierten haben mit 10 Prozent eine hohe Sterblichkeitsrate. Die Berliner Schwulenberatung begrüßt die Empfehlung. „Es besteht kein Grund zur Panikmache“, so der Abteilungsleiter für HIV und Hepatitis, Stephan Jäkel, „aber wir wollen auch nicht, dass es zu einem Problem wird.“ Mit anderen Vereinen soll jetzt Aufklärungsarbeit in der Szene geleistet werden. „Die Informationen müssen zur Zielgruppe kommen“, sagt Jäkel, auch wenn die Krankheit nicht schwulenspezifisch sei. Denn: „Drei Tote sind drei zu viel.“ Wichtig sei aber, so Jäkel, dass Betroffene erst ab dem 27. Juli von der Möglichkeit der Impfung Gebrauch machten, wenn die Empfehlung des Beirats offiziell in Kraft tritt. Erst dann hätten sie im sehr seltenen Fall von Impfschäden die Möglichkeit, gegenüber dem Land Berlin Schadenersatz geltend zu machen. HIV-Infizierte könnten aber schon jetzt zur Impfung gehen. Sie fallen bereits jetzt unter die Empfehlung der Impfung gegen Meningokokken. Unklar ist laut der Senatsverwaltung für Gesundheit noch, ob die Krankenkassen die Kosten von rund 50 Euro pro Impfung übernehmen. Es gebe Gespräche mit den Kassen darüber, dass Betroffene die Kosten erstattet bekämen, bestätigt Jäkel. Allerdings müsse sich dann der Patient beim Arzt outen. Dafür suche man nach einer Lösung, etwa, Impfungen in der Schwulenberatung anzubieten. „Die Lösung brauchen wir nicht morgen, aber wir brauchen sie“, so Jäkel. Zunächst gilt die Impfempfehlung bis zum 31. Januar 2014. Danach sollen die Effekte überprüft werden. Neben Berlin haben auch Großstädte wie Paris und New York ähnliche Programme ins Leben gerufen.
Helena Wittlich
Der Berliner Impfbeirat empfiehlt: Männer, die Sex mit Männern haben, sollen sich gegen Meningokokken schützen. Bereits drei Todesfälle in diesem Jahr.
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Blogger über Tripolis: „Bye bye Gaddafi“ - taz.de
Blogger über Tripolis: „Bye bye Gaddafi“ Mission erfüllt? Von wegen! Auch nach der Einnahme großer Teile von Tripolis sehen internationale Blogger die wahren Probleme erst noch kommen. Da ist er! Gaddafi am Bildschirm. Bild: dpa Tripolis fällt, Gaddafi soll auf der Flucht sein, aber: nichts Genaues weiß man nicht. Das ist auch in der deutschen Blogosphäre so, die sich derzeit in weiten Teilen mit Einschätzungen und Diagnosen zurückhält. Im Zweifel wird auf Al-Jazeeras Liveblog oder aber auf Twitter-Korrespondenten vor Ort verwiesen. Das mag daran liegen, dass die deutsche Öffentlichkeit auf einem Auge blind ist: dem des Fernsehens. Revolution will not be televised: Was bei Scott Heron wie eine Mahnung klang, klingt heute nach Enttäuschung. Die deutschen Nachrichtensender seien „einfach unbrauchbar“, schreibt beispielsweise Abassin Sidiq, dabei bräuchten die Rebellen gerade jetzt Unterstützung: „Weltweit schauen Leute zu und weltweit fühlen die Leute mit und sind genauso angespannt, wie es weitergeht. Es ist wichtig, dass Journalisten vor Ort sind und auch zeigen, dass alles was passiert von jedem Gesehen wird. Sie schützen damit auch die Rebellen.“ Und auch im Online-Netzwerk Twitter brach sich die Enttäuschung Bahn, was "zeitweise“ zu der Feststellung Anlass gab, hier werde man wenigstens präzise und brandaktuell“ informiert, „welche deutschen Medien gerade in Sachen Libyen wo und wie versagen.“ Und das trotz der verfrühten Todesmeldung, die Al-Jazeera in die Welt gesetzt hatte. Ein Wunder, dass noch niemand die hunderste Petition zur Abschaffung der GEZ-Gebühren aufgesetzt hat. „Leute mit Regierungserfahrung“ Währenddessen fragt sich Ulrich Ladurner, was die Nato tun wird, sollte es zu Racheakten der Rebellen an Zivilisten in Trioplis kommen. Es sei bereits jetzt zu Übergriffen gekommen, aber bisher habe sich die Nato stets darauf verlassen, dass der Übergangsrat die Situation unter Kontrolle bekomme. Dabei werde man es nicht belassen können, wenn man die Bevölkerung schützen wolle, so Ladurner. Auch im US-Blog "ComparativeConstitutions“ sieht in die Zukunft und wirft einen Blick auf den Verfassungsentwurf der Rebellen. Tom Ginsbourgh findet darin den „bewunderswerten“ Artikel, Mitglieder des Übergangsrates oder sonstige momentan Verantwortliche von der Legislative fernzuhalten, hält diesen Ansatz aber für utopisch: Denn man brauche, schreibt er, „Leute mit Regierungserfahrung“. In den USA und Großbritannien hat man die zögerliche Haltung zu den Luftangriffen nicht vergessen. John Tabin spekuliert, dass Gaddafis Sturz schon vor Monaten hätte vollzogen werden können, wenn Obama nicht wochenlang gezaudert hätte. Noch im April hatte Leslie Gelb, Berater des Weißen Hauses, prognostiziert: „Von Teheran bis Pjöngjang wird man nach Libyen den Schluss ziehen, dass der Westen sie nicht entscheidend treffen kann.“ Der schwierige Teil der Mission Noah Shachtmann sammelt im "Dangerroom“ weitere einflussreiche Stimmen, die einen Erfolg der Intervention für ausgeschlossen hielten. Und "order-order“ erinnert an die Blockadehaltung, die Labour-Chef Ed Miliband an den Tag gelegt hatte. Daran werde man sich erinnern müssen, wenn Miliband in Siegerpose vor die Kameras trete. Andernorts gehen die Überlegungen in die Zukunft. Der Fall Gaddafis wird nicht ohne Auswirkungen bleiben, denn mindestens in Frankreich und in Großbritannien knüpften Sarkozy und Cameron ihre politische Daseinsberechtigung an den Erfolg der Mission in Libyen. Sunny Hundal befürchtet, die Interventionisten könnten daraus eine umfassende Lehre ziehen wollen und im Siegestaumel die Befreiung anderer Länder fordern – beispielsweise Syriens. Er mahnt, Libyen selbst nicht jetzt schon aus dem Blick zu verlieren: „Cameron könnte wie damals Bush ein ‚Mission accomplished‘ vermelden, und Libyen könnte instabiler und zerrissener als der Irak enden. Wenn wir etwas aus unserer Erfahrung mitgenommen haben, dann das: der schwierige Teil der Mission hat gerade erst begonnen.“ Die BBC meldet indes: Anti-Gaddafi-Hacker hätten Libyens Hauptseite für die Internetverwaltung gekapert. In der Tat grüßen von dort derzeit libysche Rebellen mit den Worten „bye bye Gaddafi“.
Frédéric Valin
Mission erfüllt? Von wegen! Auch nach der Einnahme großer Teile von Tripolis sehen internationale Blogger die wahren Probleme erst noch kommen.
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Ein widerständiger Geist - taz.de
Ein widerständiger Geist ■ Zu seinem 100. Geburtstag widmet sich eine Ausstellung in der Stabi dem Leben des kritischen Kommunisten Alfred Kantorowicz Die Biografie des jüdischen Literaturwissenschaftlers und Kritikers Alfred Kantorowicz (1899-1979) spiegelt die Geschichte dieses Jahrhunderts. Die politischen Machtverhältnisse legten seinem Wirken immer wieder Steine in den Weg und zwangen ihn mehrmals zur Flucht. Anlässlich seines 100. Geburtstages erinnert eine Ausstellung in der Staats- und Universi-tätsbibliothek an ihn. Mit Fotos, autobiografischen Notizen, Zeitungsartikeln, Büchern und Briefen aus seinem Nachlass wird sein Lebensweg nachgezeichnet. Als Jugendlicher stürmte der Sohn eines Berliner Kaufmanns im Zuge der Weltkriegsbegeisterung an die Front. Dort lernte er, dass es keineswegs süß und ehrenvoll ist, für das Vaterland zu sterben. Nach Studium und Promotion begann er Mitte der 20er Jahre für verschiedene Bätter wie die Vossische Zeitung als Literaturkritiker zu schreiben. In dieser Zeit lernte er Ernst Bloch und Lion Feuchtwanger kennen, woraus sich langjährige Freundschaften ergaben. Angesichts der wirtschaftlichen Krise und des Aufstiegs der Nationalsozialisten trat er 1931 in die KPD ein. Ein offener Aufruf zum Widerstand gegen Hitler zwang ihn im März 1933 zur Flucht. Im Pariser Exil wurde er zu einer wichtigen Figur der antifaschistischen Literaturszene. Als Sekretär des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller kooperierte er mit Autoren wie Roth, Herzfelde, Leonhard, Kisch, Malraux und Rollland. 1936 ging Kantorowicz als Freiwilliger nach Spanien, um im Bürgerkrieg den Faschismus direkt zu bekämpfen. Als Informationsoffizier einer Internationalen Brigade dokumentierte er den letztlich verlorenen Kampf gegen die Barbarei in seinem Spanischen Tagebuch und dem Band Tschapaiew. Das Bataillon der 21 Nationen. Seine Frau Friedel sprach die deutschen Nachrichten des republikanischen Radios in Madrid. 1940 zwang ihn der Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich, weiter nach New York zu fliehen – auf einem Schiff mit Anna Seghers. Beim Rundfunksender Columbia Broadcasting System fand Kantorowicz Arbeit als Redakteur. Zum eigenen Schreiben kam er jedoch kaum noch, insbesondere nachdem er zum Direktor seiner Abteilung befördert worden war. 1945 hoffte er, in Ost-Berlin eine günstigere Umgebung für sein Wirken zu finden. Dort gab er die Zeitschrift Ost und West heraus, publizierte eine Werkausgabe von Heinrich Mann und bekam einen Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Uni. Den erhofften sozialistischen Aufbruch fand er in der DDR jedoch nicht vor: „Wir meinten doch wirklich mit unserem Kampf die Volksherrschaft und fanden uns verstrickt in die Funktionärsdiktatur.“ Als er sich 1956 weigerte, eine Erklärung zur Unterstützung der sowjetischen Intervention in Ungarn zu unterzeichnen, wurde die Lage brenzlig. Ein weiteres Mal ließ Kantorowicz seine Bibliothek und unvollendete Arbeiten hinter sich und ging in die BRD. Die bayerischen Behörden verweigerten ihm jedoch den Status eines politischen Flüchtlings: Erstens sei er eh ein Kommunist und zweitens habe er Repressalien wegen mangelnder Linientreue selbst zu verschulden. An eine Hochschule konnte er so nicht berufen werden. Erst in den 60er Jahren wurde ihm in Hamburg der Status doch noch zugestanden. Hier lebte Alfred Kantorowicz mit seiner Frau bis zu seinem Tode 1979. Michael Müller „Alfred Kantorowicz (1899-1979) – eine deutsche Lebensgeschichte“, Staatsbibliothek, Mo – Fr 9 – 21 Uhr, Sa 10 – 13 Uhr, bis 20. November
Michael Müller
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Freier und Geliebte - taz.de
Freier und Geliebte Geschlecht Juchitán, ein kleiner Ort, mitten im katholischen Mexiko, ist bekannt für seine Muxhes. Sie erkämpfen ihre Freiheit in Frauenkleidern „Die Muxhes sprengen die Tabus, die in den Köpfen der Menschen existieren“PFARRER HERRERA, JUCHITÁN VON LISA MARIA HAGEN Carlos Alejandro quetscht seinen Penis in einen Damenslip. Eine Nummer kleiner, damit alles fest sitzt. Wimper für Wimper klebt er sich den Augenaufschlag auf rosaroten Glitzerstaub. Die Barthaare hat er sich zuvor gezupft. An den Stoppeln klumpt das Make-up. Einlagen schummeln seine Brust von null auf Körbchengröße B. Absätze klappern, es quietscht, das Eisentor schwingt auf. Carla Castillo stöckelt hinaus in die Mittagshitze. Carla Greta Castillo, 27, ist eine von etwa 2.000 Männermädchen, den Muxhes, in Juchitán, einer erzkatholischen Stadt mit 93.000 Einwohnern. Muxhes, das sind Männer, die sich als Frauen kleiden, fühlen und leben. Sie sind keine Transvestiten, denn ihre Weiblichkeit sprengt den bloßen Kleiderschrank. Sie sind keine Transsexuellen, würden nie ihr letztes Stück Männlichkeit ans Messer liefern. Und sie sind keine Homosexuellen, denn beim Sex und im Alltag empfinden sie sich als Frauen. Am Isthmus von Tehuántepec, jener Landenge, an der der Pazifik beinahe den Golf von Mexiko berührt, sind die Muxhes das Produkt einer konservativen Kultur. Carla Castillo fasziniert das Frausein in allen Facetten. Als Kind spielte sie mit den Mädchen aus der Nachbarschaft, versteckte die Puppen unter ihrem Bett. Mit 14 steckte sie ein Muxhe-Freund in ein gelbes Kleid, enthaarte und schminkte sie. Zusammen durchtanzten sie die Nacht. Von da an weigerte sich Carla Castillo, ihre Weiblichkeit in die männliche Schuluniform zu sperren und ging nicht mehr zum Unterricht. Bis heute hat Carlos Alejandro Hausarrest und Carla Castillo liebt die Zügellosigkeit. Die Muxhes: Hausmädchen, Geldverdiener und Pflegeschwester in einem – das perfekte Kind, das seine Eltern nie für eine eigene Familie verlassen wird. Mexikanische Zeitungen schreiben, dass die Eltern aus Juchitán sich ein Muxhe-Mädchen wünschen. Carla Castillo hat das anders erlebt. „Als mein Mann unseren Sohn mit Puppen spielen sah, hat er ihn grün und blau geschlagen“, erzählt Castillos Mutter, Alejandra Matús. Danach sei ihr Mann gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Er hätte es nicht ertragen, dass sein einziger Sohn „eine Schwuchtel“ sei. Auf der Straße vor dem Elternhaus feiern die Nachbarn ein Fest zu Ehren der Jungfrau Maria. Carla Castillo schäkert mit den Männern auf der Bank. Der pinkfarbene Trachtenrock schwingt sanft um ihre Hüften. „Nach drei Töchtern dachte ich, der Herrgott hätte uns endlich einen Sohn geschenkt.“ Als sie merkte, dass ihr Sohn ein Männermädchen ist, weinte Alejandra Matús. „Aber ihn verstoßen? Er ist mein Kind, ich liebe ihn.“ Alejandra Matús darf ihr Kind nicht Carlos nennen, Carla will sie es nicht nennen. Sie ruft es Flaco, Spargel, als den dünnen Jungen, der Carla Castillo früher war. Später, die letzten Sonnenstrahlen blinzeln durch das Hoftor, Castillo sitzt auf einem Plastikstuhl, die Haare fest zu einem Dutt gezurrt. Mit einer Nähmaschine hämmert sie Faden in den Stoff. Rosa Blüten auf schwarzer Seide. Die schönsten Trachten sind von Muxhes gefertigt. Handwerkliches Geschick, Fleiß und Vermögen – dafür stehen sie. „Er kann alles, die Nachbarn lieben ihn, er verdient gut“, sagt Mutter Alejandra. „Aber so wie er das Geld einnimmt, gibt er es auch aus“, klagt sie. Ihre Pesos steckt Castillo in Geschenke für ihren Freund, und in das Hotel, in dem sie sich treffen, um miteinander zu schlafen. Eigentlich schläft er mit ihr, denn ein Muxhe benutzt seinen Penis nicht. Ein Muxhe wird geliebt, statt selbst zu lieben. Sogar Selbstbefriedigung ist verpönt. „Ich komme, ohne mich selbst anzufassen“, sagt Carla Castillo. Eine Frau masturbiere schließlich auch nicht, meint sie. Ihr Liebhaber und sie sehen sich heimlich, jeden Tag. Er hat geheiratet, vergangenes Jahr. Carla Castillo hat genäht. Ein Brautkleid für seine Verlobte, weiß und weich. Die Seitensprünge konnten ihre Enttäuschung nicht übertünchen. „Ich habe immer mich in diesem Kleid gesehen.“ Manchmal, wenn sie sich streiten, sage sie: „Verlass deine Frau, lass uns gehen, nach Mexiko-Stadt“, dann wolle sie ihn schütteln, mit sich reißen. Und er schweigt. Im Juni erwartet seine Frau das zweite Kind. Sie möchte Castillo als Patentante. Die Muxhes: Schattenfrauen. Freier. Geliebte. Sie verstehen die Freiheit Juchitáns als eine Freiheit, sich das zu nehmen, was sie wollen. Was hier geschehe, sei Hurerei, eine Jagd nach Vergnügen, Irrsinn, sagt die Journalistin Guadalupe Rios. In Juchitán tarne sich die Zweckmäßigkeit als Toleranz. Eine Frau heirate einen Muxhe, um nicht als alte Jungfer zu enden. Eine Mutter akzeptiere ihren Muxhe-Sohn, damit er sie unterhält und pflegt. Und die Männer schliefen mit den Muxhes, weil die ihnen Geld geben, Geschenke kaufen. Innerhalb der letzten Jahre sei ihr Verhalten in eine Show ausgeartet, meint Ríos. Zu zwei der traditionellen Feiern der Stadt werden die Muxhes nur noch in Männerkleidung eingelassen, und die Damentoiletten bleiben ihnen verschlossen. „Richtig so“, sagt Ríos, die Muxhes würden Rechte einfordern, die ihnen nicht zustehen. Denn: „Muxhes sind keine Frauen.“ Die Muxhes aber feiern ihre Weiblichkeit einmal im Jahr. Aus sämtlichen Bundesländern und aller Welt reisen Muxhes, Transvestiten und Homosexuelle nach Juchitán, um gemeinsam, jetzt im November, die Muxhe-Königin zu krönen. Der Weg zur Krone ist vor allem teuer. Ein ganzes Jahr lang hat Mística, die im Jahr 2010 Königin wurde, gearbeitet, um die nötigen 5.000 Euro zusammenzukratzen. Das Kleid allein ließ sie sich 730 Euro kosten, schließlich wollte sie die Königin des Vorjahres ausstechen. Das hat sie getan, um 300 Euro. „Ein Muxhe ist großzügig“, sagt sie, „zwar sind wir allein im Leben, aber unser Leben ist dazu da, es mit den anderen zu teilen.“ In den nächsten Wochen wird Mística wohl ihre Krone an Carla Castillo übergeben. Seit Jahren spart die für den großen Tag. Ihr Kleid muss noch schöner, noch teurer werden. Außerdem sind da noch der Tanzkurs, eine Radikaldiät, Hormone für breite Hüften und einen runden Hintern, die Silikonimplantate. Die Messe zur Feier wird wie jedes Jahr Pfarrer Arturo Francisco Herrera halten, den alle nur Padre Pancho nennen. Muxhes haben eigentlich keinen Platz in der katholischen Lehre, aber Sünde sei nur, was der Gesellschaft Schaden zufüge, sagt Padre Pancho. „Und die Muxhes schaden niemandem.“ Ob sie nun Brüder oder Schwestern seien – sie verdienten Respekt. „Die Muxhes sprengen die Tabus, die in den Köpfen der Menschen existieren.“ Es gebe Kollegen, die sie etwa als Taufpaten nicht akzeptierten. Er selbst sieht das locker. „Ich spitze ihnen bestimmt nicht unter den Rock, um sicherzustellen, dass sie ganz Frau sind.“ Männermädchen gibt es immer mehr. Für die Jungen und Schönen unter ihnen ist der Sex umsonst. Für alle anderen verwandelt sich das Vergnügen immer häufiger in einen Wettstreit. Wer einen Mann zuerst anmacht, steckt ihm einen Schein zu und genießt. „200 Pesos für einen guten Fick, und die meisten Männer steigen sofort drauf ein“, sagt Carla Castillo. Mit ihren 27 hat sie das nicht nötig. Noch nicht. Schweißperlen rinnen über Carla Castillos Oberlippe. Sie versucht sie loszuwerden, ohne das Make-up zu verwischen. Doch die Hitze lässt die Maske laufen. Carla Castillo will sterben, bevor sie 35 ist. Bevor sie sich zum Clown macht und Sex nur noch für Geld bekommt. Bevor sie einsam wird.
LISA MARIA HAGEN
Geschlecht Juchitán, ein kleiner Ort, mitten im katholischen Mexiko, ist bekannt für seine Muxhes. Sie erkämpfen ihre Freiheit in Frauenkleidern
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Am Morgen nach der Party - taz.de
Am Morgen nach der Party Die New Economy ist nicht tot. 1.000 Arbeitsplätze in der deutschen Informationswirtschaft sind unbesetzt. Nur ist die Arbeit nicht mehr so lustig wie früher und das Geld nicht mehr so flüssig von VERENA DAUERER Auch die zweite Welle blieb aus. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. (Bitcom) hat seine Wachstumserwartungen für das laufende Jahr von 6,6 Prozent auf knapp unter 2 Prozent heruntergeschraubt: 28.000 Arbeitsplätze fallen weg. Allerdings hat derselbe Verband der Bundesregierung ein Notprogramm mit 10 Punkten vorgelgt, wonach in seiner Branche 1.000 Stellen unbesetzt sind. Und Menno Harms, Aufsichtsratsvorsitzender bei Hewlett-Packard Deutschland, rechnet vor: „Wir verlieren zwar jeden Monat so um die 40 bis 60 Jungunternehmen. Wir reden aber nicht von den über 10.000 nach wie vor erfolgreichen Start-ups mit 100.000 Mitarbeitern.“ Start-up? Das Unwort ist eingemottet wie die letzte Winterkollektion. Übrig blieben nur die Menschen, die dabei waren, als der Marsch durch die Dotcoms begann. „No risk, no fun“, bekommt man überall zu hören, ein überzeugter Start-upper möchte dennoch niemand mehr sein. Das dafür typische Verwechseln von Party und Arbeit wirkt heute allzu peinlich. Markus zum Beispiel, heute 32, war irgendwie beim Berliner Jugendportal Kindercampus.de als Onlineredakteur gelandet. Das ging bis Frühjahr 2001 ganz gut, jetzt ist froh, bei der Stiftung Warentest „was Geregeltes“ zu haben: „Am Anfang war die Party. Wir standen dauernd draußen und haben getrunken und gefeiert. Nach drei weiteren Start-ups war das nur noch bitter, weil mir ständig der ökonomische Rückhalt weggebrochen ist.“ Jugendschulden Allein fühlte sich Markus in Berlin nicht. „Hier machen sich alle ständig Sorgen darüber, wo das Geld herkommt.“ Auch dass er sich selbst „nicht so über Arbeit definert“, ist nicht ungewöhnlich in dieser Stadt. Nur älter ist er geworden: „Die New Economy war eine Jugendkultur, keine Frage. Aber auch der hippste Mensch wird, hat er die 30 überschritten, merken, dass er Sicherheiten braucht. Für das tolle Gefühl, mit tollen, jungen Menschen zusammenzuarbeiten, kann man sich nichts kaufen.“ Aber ungemein wichtig kann man sich fühlen: Daniela, 39, schwärmt von dem Gefühl, „wenn man von Flughafen zu Flughafen sprintet, von Messe zu Messe und auf den wichtigen Partys ist“. Tatsächlich war für die ehemalige „Content-Managerin“ beim Hamburger Ableger der amerikanischen Suchmaschine Altavista.de die Arbeit das Wichtigste. „Ich würde mich als Workaholic bezeichnen zu der Zeit. Euphorisch war man, wenn man eine Aufgabe hatte“, sagt sie. Ende 2000 hatte sie keine mehr, dafür Schulden: „Ich habe sehr viel damals verdient, dann mit Aktien am Neuen Markt viele Schulden gemacht und sicher 50.000 Euro in den Sand gesetzt. Jetzt habe ich noch mehr Schulden beim Finanzamt, an denen ich noch ein paar Jahre nagen werde.“ Echtes Spielgeld Daniela ist in das Leben zurückgekehrt, das sie nur kurze Zeit verlassen hatte. Sie hat ihr Studium abgeschlossen, geheiratet und ist im achten Monat schwanger. Die Aktien, mit denen sich Klaus, 34, verschuldet hat, sind zwar am alten Markt notiert, aber auch dort nicht mehr viel wert. Noch 1999 hatte er mit dem Einrichten des Redaktionssystems bei Springer in Hamburg „richtig viel“ verdient. Dann wurde er Grafiker beim Spieleportal Gamechannel.de, abends hielt er Softwareschulungen ab, Ende desselben Jahres übernahm er den stolzen Job eines „Game-Developpers“ in einer Berliner Firma; vor wenigen Monaten kam das Ende auch hier: „Jetzt bin ich schlechter abgesichert als ein Arbeitsloser, ich bin existenziell unten und weiß nicht, wie ich die nächste Miete zahlen soll.“ Er hat sich eine kleiner Wohnung gesucht, ist froh, wenn er mal ein paar „Webseiten designen“ darf, und beklagt, dass ihm bei alledem seine Familie „nicht das Gefühl gibt, dass sie das duldet und dass sie mich unterstützt“. Stehaufmännchen Holger, 35, ist robuster. „Man gewöhnt sich halt daran, ständig wo neu anzufangen“, findet er. Fröhlich hat er einige Entwicklungsredaktionen von PC- und Internetmagazinen durchwandert, „die alle eingestellt wurden, nicht mal mehr erschienen sind“. Und das dreimal in drei Jahren: „Man muss sich klar machen, dass es nicht an deiner Person liegt, sondern an einer Verlagsentscheidung.“ Und einsam fühlt auch er sich nicht: „Es hat die Branche erfasst, deswegen bist du nicht allein. Es ist kein Einzelschicksal – wir treffen uns regelmäßig, und deshalb ist das nicht mehr so tragisch.“ Anfang des Jahres hat er sich mit einem Partner für die Selbstständigkeit entschieden und hat ein Büro in der Hamburger Gründerwerft bezogen. Und sagt: „Die Zeiten in der Branche sind schlecht, aber ich mach weiter.“ vdauerer@t-online.de
VERENA DAUERER
Die New Economy ist nicht tot. 1.000 Arbeitsplätze in der deutschen Informationswirtschaft sind unbesetzt. Nur ist die Arbeit nicht mehr so lustig wie früher und das Geld nicht mehr so flüssig
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Jüdische Kontingentflüchtlinge: Eine Rente, von der man leben kann - taz.de
Jüdische Kontingentflüchtlinge: Eine Rente, von der man leben kann Migranten aus Russland und Polen erhalten weniger Pension als deutschstämmige Spätaussiedler. Die Grünen wollen das ändern. Viel Zeit, aber kaum Geld. Viele jüdische Kontingentflüchtlinge haben eine sehr niedrige Rente Foto: dpa BERLIN taz | Die Grünen wollen jüdische Zuwanderer bei der Rente besserstellen. Am Dienstag stellte der Grünen-Abgeordnete Volker Beck gemeinsam mit dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Im Kern sieht dieser vor, die jüdischen Kontingentflüchtlinge aus Russland und Polen den deutschstämmigen Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion gleichzustellen. Die Bundesregierung entschied 1991, jüdische Einwanderung zu fördern, um Verantwortung für den Nationalsozialismus zu übernehmen. Daraufhin kamen bis 2006 rund 225.000 jüdische Migranten. Die jüdischen Kontingentflüchtlinge erhalten derzeit niedrigere Renten, da für ihre Rente nur die Arbeitsjahre in Deutschland zählen. Laut Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, betrage der Unterschied bis zu mehrere hundert Euro. Bis zu 100.000 Menschen könnten betroffen sein. Ein jüdischer Kontingentflüchtling, der 1995 nach Deutschland kam, würde etwa 550 Euro weniger Rente erhalten als ein Spätaussiedler, bei gleichem Durchschnittsverdienst und gleicher Lebensarbeitszeit. Die Betroffenen empfänden dies nicht nur als un­gerecht, sondern litten auch unter ihrem Status als Sozialleistungsempfänger, sagte Lehrer. „Der eine kommt als Jude, der andere als Christ. Bei der Rente darf das keinen Unterschied machen.“ Aus Sicht von Beck und dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik haben die jüdischen Zuwanderer den Anspruch auf eine Gleichbehandlung mit Spätaussiedlern, da Deutschland beide Gruppen in Verantwortung für seine Geschichte aufnehme. „Der eine kommt als Jude, der andere als Christ“, sagte Beck. Das dürfe bei der Rente keinen Unterschied machen. Die Grünen wollen die unterschiedliche Behandlung der beiden Einwanderergruppen durch eine Änderung im Fremdrentengesetz beseitigen. (mit dpa)
Laura Weigele
Migranten aus Russland und Polen erhalten weniger Pension als deutschstämmige Spätaussiedler. Die Grünen wollen das ändern.
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Jauch auf den Mittwoch? - taz.de
Jauch auf den Mittwoch? STRAFECKE Gespräche mit Politikern überfordern Günther Jauch, sagen Kritiker – und fordern einen neuen Sendeplatz für den Moderator Nächste FrageDie Streitfrage wird vorab online gestellt. Immer dienstags. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der taz.am wochenende.www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommuneRedaktion: Bastian Fernández, Sebastian KempkensFotos: Müller-Stauffenberg/imago; Wolfgang Eilmes/F.A.Z.;Anke Illing; reuters; privat (2x) Katja Kipping Nicht nur ich habe mich über Günther Jauchs Griechenland-Sendung mit Gianis Varoufakis geärgert. Bezeichnenderweise war die grandiose Fake-Fake-Nummer von Jan Böhmermann der seriösere Beitrag zum Thema. Es sagt viel über die Medienlandschaft aus, dass Satiriker kritischere Aufklärung betreiben als manche Polit-Talkmaster. Katja Kipping, 37, ist Vorsitzende der Linkspartei und Bundestagsabgeordnete Nils Minkmar Die Sendung „Günther Jauch“ erfüllt nicht einmal minimale Erwartungen. Die Gäste sind vorhersehbar, die Gespräche konfus, der Moderator gänzlich uninteressiert. Das Gasometer ist ein Gefäß sonntäglicher Irrelevanz. Jauch ist ein toller Moderator von Unterhaltungs-sendungen, er sollte sich auf diese Disziplin beschränken. Anne Will sollte zurückkehren. Nils Minkmar, 48, ist europäischer Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gianis Varoufakis Ich sehe es nicht gerne, wenn jemand gefeuert wird. Es wäre besser, aus Fehlern zu lernen, statt gute und versöhnliche Debatten wie bei „Günther Jauch“ mit skrupellosen Mitteln zu untergraben. Gianis Varoufakis, 54, ist Finanzminister Griechenlands und Mitglied der Regierungspartei Syriza Marc-André Waldvogel Ich finde, dass eine Redaktion auch mal einen Fehler machen darf. Deshalb sollte man Jauch nicht auf den Mittwoch verbannen. Er eignet sich gut für solch ein Format, gerade weil er nicht allzu politisch vorgeht. Sonst wäre es ja langweilig. Marc-André Waldvogel, 22, ist taz-Leser und hat die Streitfrage per E-Mail kommentiert Jessica Heesen Ich bin dafür, dass Günther Jauch mit seiner Show auf dem Sendeplatz am Sonntag bleibt – als Sidekick des Satirikers Jan Böhmermann. Eine politische Talk-Sendung trägt Verantwortung für die Meinungsbildung, da können Jauch und andere „Talker“ noch nachlegen in Sachen Wahrhaftigkeit, Ausgewogenheit und Sorgfalt. Jessica Heesen, 46, leitet eine Forschungsgruppe zum Thema Medienethik an der Universität Tübingen Tim Wolff Ein Unsympath, der geltungssüchtigen Trotteln blöde Fragen stellt? Schluss mit „Wer wird Millionär?“, enteignet Jauch! Tim Wolff, 37, ist Chefredakteur der Satirezeitschrift Titanic
KATJA KIPPING / NILS MINKMAR / YANIS VAROUFAKIS / MARC-ANDRÉ WALDVOGEL / JESSICA HEESEN / TIM WOLFF
STRAFECKE Gespräche mit Politikern überfordern Günther Jauch, sagen Kritiker – und fordern einen neuen Sendeplatz für den Moderator
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Emilie Plachy über Andrea Nahles’neuen Job: Zeichen an die SPD - taz.de
Emilie Plachy über Andrea Nahles’neuen Job: Zeichen an die SPD Dass Andrea Nahles die neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit werden soll, zeigt erwartbare Reaktionen. Die einen sind gerührt ob der Rückkehr der altgedienten Genossin an verantwortungsvolle Stelle. Die anderen finden, da werde eine politische Verliererin mit einem gut dotierten Posten belohnt. Beides stimmt nur zum Teil. Tatsächlich übernimmt mit Nahles eine ausgewiesene Fachfrau für Arbeitsmarktpolitik die Megabehörde. Nahles war von 2013 bis 2017 Bundesarbeitsministerin. Unter ihrer Führung wurde der mitregierenden Union der Mindestlohn abgerungen, die Rente mit 63 sowie eine höhere Erwerbsminderungsrente. Selbst Kri­ti­ke­r:in­nen mussten einräumen, dass sich da jemand voll reingekniet und – das vor allem – Ergebnisse erzielt hatte. Die andere Seite der Andrea Nahles ist die als Genossin. Wie viele andere in der SPD war sie über Jahrzehnte ausschließlich dies: Funktionärin. Sie war laut, sie war dominant und manchmal peinlich. Dass sie vor zweieinhalb Jahren von jetzt auf gleich den Parteivorsitz, den Fraktionsvorsitz, das Parlament und Berlin verlassen hat, war ihrem Scheitern geschuldet. Die 15 Prozent bei der Europawahl 2019 waren lediglich der letzte Anlass. Die Szene, wie sie – sich bei der Pförtnerin bedankend – das Willy-Brandt-Haus verließ, war zugleich hoch symbolisch. Da ging eine, die sich Jahrzehnte für ihre Partei krumm gemacht hatte, die immer wieder nach vorne geschickt worden war, wenn die Lage unübersichtlich wurde. Am Ende fand sich niemand, der sie wenigstens verabschiedet hätte. Sie übernahm Verantwortung, auch weil sie verstanden hatte, dass sie Teil des Problems war. Aber eben nur ein Teil. Sie arbeitete als Behördenleiterin in Bonn und weigerte sich, schlecht über ihre Partei und einstige Weg­ge­fähr­t:in­nen zu sprechen. Grund dazu hätte sie gehabt. Dass Nahles jetzt Vorstandschefin der Bundesagentur für Arbeit wird, ist auch ein Zeichen an die Partei für einen neuen Umgang. Oder, um das Schlagwort des zurückliegenden Wahlkampfsommers zu bemühen: Respekt. inland
anja maier
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Kommentar Internet und Knast: Smartphones für alle Inhaftierten! - taz.de
Kommentar Internet und Knast: Smartphones für alle Inhaftierten! Wer die Risiken des Internets durchdekliniert, entzaubert die tatsächliche Brisanz. Alle Inhaftierten sollten freien Zugang zum Internet bekommen. Alle Inhaftierten in Deutschland sollten freien Zugang zum Internet bekommen. Politiker, die das fordern, dürfen nicht auf politisches Kapital hoffen. WLAN für alle Inhaftierten! Das dürfte die Mehrheit in diesem Land als Wahnsinn empfinden. Als Bestätigung der These vom Luxusvollzug. Tatsächlich sollte es heißen: Internet, na logisch! Selbstverständlich sollten Männer und Frauen auch im Gefängnis freien Zugang zu Informationen haben. Warum auch nicht? Würde Bullerbü sonst im Chaos versinken? Könnten wir Kinder, Gebrechliche und Alte nicht mehr ohne Geleitschutz auf die Straße lassen? Sind digitale Verabredungen zu Straftaten zu befürchten? Steigt die Internetkriminalität? Bei den meisten Inhaftierten besteht das Problem nicht darin, dass sie bei der nächsten Gelegenheit den Quellcode der Deutschen Bank hacken. Zum Bildungsadel im Knast zählt schon einer mit abgeschlossener Lehre. Aber es geht auch gar nicht um das Internet. Hat das Münztelefon im Knast die Gesellschaft an den Abgrund geführt? Der Fernseher? Stellen Pornoheftchen eine Gefahr für die Allgemeinheit dar? Muss Mohnkuchen wie in manchen Anstalten ernsthaft als mögliches Rauschmittel verboten werden? Mitunter gilt selbst der juristische Kommentar zum Strafvollzugsgesetz als nicht zumutbare Gefahr: Der Schmöker ist so dick, dass ein Waffe darin verborgen sein könnte. Wer die Risiken des Internets durchdekliniert, entzaubert die tatsächliche Brisanz. Die Frage aber, ob ein Internetzugang tragbar wäre, vermischt sich mit dem Impuls: Den Insassen im Knast besser nur nicht zu viel geben! Bei Debatten zum Strafvollzug bildet Unwissen meistens die Grundlage. Kaum einer kennt die Rechtslage. So heißt es im Strafvollzugsgesetz: „Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.“ Geradezu irrsinnig mag folgender Paragraf erscheinen: „Schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken.“ Die Richter des Bundesverfassungsgerichts glauben gar: „Der Vollzug von Freiheitsstrafen ist […] von Verfassungs wegen dem Ziel der Resozialisierung verpflichtet.“ Wer sich draußen umschaut, sieht Menschen, die mit anderen kommunizieren, per Handy und per Internet. Alle, die mehr Härte gegen Täter fordern, müssten gesetzestreu rufen: Smartphones für alle Inhaftierten!
Kai Schlieter
Wer die Risiken des Internets durchdekliniert, entzaubert die tatsächliche Brisanz. Alle Inhaftierten sollten freien Zugang zum Internet bekommen.
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Nach Tragödie am Filmset von „Rust“: Waffenmeisterin wehrt sich - taz.de
Nach Tragödie am Filmset von „Rust“: Waffenmeisterin wehrt sich Nach dem Tod einer Kamerafrau bei Dreharbeiten mit Alec Baldwin steht eine junge Mitarbeiterin im Fokus der Ermittlungen. Die sieht die Schuld bei anderen. Andenken an die getötete Kamerafrau auf der Bonanza Creek Film Ranch Foto: Andres Leighton/dpa SANTA FE dpa | Nach dem Tod einer Kamerafrau bei einem Filmdreh mit Hollywood-Star Alec Baldwin in den USA hat die im Fokus stehende Waffenmeisterin Vorwürfe der Nachlässigkeit am Set zurückgewiesen. Sie habe „keine Ahnung“, wo die dort gefundene scharfe Munition hergekommen sei, ließ die 24-Jährige über ihre Anwälte in einem Schreiben mitteilen, aus dem mehrere US-Medien am Freitag zitierten. Bei dem Vorfall während der Dreharbeiten zu dem Low-Budget-Western „Rust“ auf einer Filmranch in Santa Fe im Bundesstaat New Mexico war am 21. Oktober Chef-Kamerafrau Halyna Hutchins (42) tödlich verletzt und Regisseur Joel Souza (48) an der Schulter getroffen worden. Baldwin (63), der als Hauptdarsteller und Produzent bei dem Film mitwirkt, hatte die Waffe bei der Probe für eine Szene abgefeuert. Ermittlungen ergaben, dass in dem Colt eine echte Kugel steckte. Ein ebenfalls im Fokus stehender Regieassistent räumte ein, er habe die Sicherheitsvorkehrungen nicht strikt befolgt und die Waffe nur unvollständig geprüft. Sheriff Adan Mendoza hatte mit Blick auf den Umgang mit Waffen gesagt: „Ich denke, an diesem Set herrschte eine gewisse Nachlässigkeit.“ Die Waffenmeisterin beklagte nun ihrerseits unsichere Arbeitsbedingungen. „Das gesamte Set wurde wegen verschiedener Faktoren unsicher, einschließlich fehlender Sicherheitsbesprechungen“, zitierten unter anderem der Sender NBC News und die „Los Angeles Times“ aus dem Schreiben. Dies sei nicht Schuld der Waffenmeisterin gewesen, so die Anwälte. Die 24-Jährige sei gleich für zwei verschiedene Aufgaben eingestellt worden, daher sei es für sie extrem schwierig gewesen, sich auf ihre Arbeit als Waffenmeisterin zu fokussieren. Vergeblich habe sie sich für mehr Zeit eingesetzt, um die Schau­spie­le­r*in­nen zu schulen, die Waffen zu warten und Schussszenen vorzubereiten. Die junge Frau selbst sei wegen des Todes der Kamerafrau auch „am Boden zerstört“ und stehe völlig neben sich, hieß es weiter. Sheriff Mendoza sagte NBC News, die Erklärung der Waffenmeisterin sei wenig hilfreich: „Sie wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt.“
taz. die tageszeitung
Nach dem Tod einer Kamerafrau bei Dreharbeiten mit Alec Baldwin steht eine junge Mitarbeiterin im Fokus der Ermittlungen. Die sieht die Schuld bei anderen.
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Die Wahrheit: Allemaal koppen dicht - taz.de
Die Wahrheit: Allemaal koppen dicht Buchmessengast 2016. Ganz frisch aus dem Gewächshaus des Rechts kommt die neueste niederländische Verfassung. König Willem-Alexander und Königin Maxima verkünden die neuen Artikel des Grundgesetzes Foto: dpa Die Verfassung der Niederlande ist eine der ältesten noch gültigen Verfassungen der Welt. Seit ihrer ersten Veröffentlichung im August 1815 wurde sie immer wieder umgeschrieben, um aus ihr eine wahre Prachtverfassung zu machen. Das ist gelungen. So gilt die „Grondwet voor het Koninkrijk der Nederlanden“ momentan als eine der glänzendsten Verfassungen der Welt, bestehend aus feinstem Wortgeklingel und ziseliertesten Sprachgirlanden. Das muss jeder neidvoll eingestehen, der sich die 142 Artikel und 29 Zusatzartikel einmal genau durchliest. Diese einmaligen Rechte zum Beispiel, die den Niederländern garantiert werden, wie keinem anderen Volk der Welt. Nehmen wir bloß Artikel 5: „Jeder hat das Recht, schriftliche Gesuche an die zuständigen Stellen zu richten.“ Jeder! Selbst der irre Piet in seinen kotverschmierten Holzschuhen. Präzision und Gerechtigkeit Dazu gesellen sich hammerharte Pflichten des Staates: Art. 19 (1) „Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates …“ Toll! Sozial! Gerecht! Diese Präzision, wenn es um die Erbfolge des niederländischen Königshauses geht: „Das zum Zeitpunkt des Todes des Königs ungeborene Kind gilt im Sinne der Erfolge als bereits geboren. Wird es tot geboren, geht man davon aus, dass es niemals existiert hat.“ (Art. 26) Jaha, da kuckst du! Oder die grandiose Apodiktik des Artikels 42: „Die Regierung besteht aus dem König und den Ministern. (1) Der König ist unverletzlich; die Minister sind verantwortlich.“ Voll apodiktisch, oder? Der niederländische König ist qua Verfassung praktisch Supermann; anders als im Rest der Welt tragen Minister wirkliche Verantwortung. Allerdings haben die Niederländer beim Verfassungsändern in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. Die letzte große Verfassungsreform fand 1983 statt, dem Jahr, in dem Helmut Kohl deutscher Bundeskanzler wurde und Bands wie Kajagoogoo in den Charts waren. Kajagoogoo, ja ganz recht! Damit die niederländische Verfassung auch in Zukunft ihren Glanz behält, hier ein paar Verbesserungs-, Ergänzungs- und Rekonstruktionsvorschläge, völlig gratis (belangeloos), als Gastgeschenk zum Gastauftritt von Flandern und den Niederlanden auf der Buchmesse 2016: Art. 143: Allemaal koppen dicht. Holland ist immer dann in Not, wenn Polen gerade nicht offen ist Art. 144: Hinterm Deich ist es besser als vor dem Deich. Art. 145 Holland ist immer dann in Not, wenn Polen gerade nicht offen ist (bzw. vice versa). Näheres regelt der blanke Hans. Art 146. Im Coffeeshop sollen fürderhin nur Cannabisprodukte verkauft werden, im Teeladen gibt es nur Bier, und beim Bäcker ausschließlich Bromfietsen. Beim Bromfietsen-Verkäufer soll es aber tatsächlich nur Bromfietsen geben (informell auch: Brommer. Quelle: Wikipedia). Art 147. Obwohl im Prinzip das Gleiche, sind Bromfietsen keine Motorfietsen. Art. 148. Ein Bromfiets mit einem 50cc-Motor und einer Gangschaltung soll allerdings nur Schakelbrommer genannt werden. Art. 149. Dat is niet grappig (Das ist nicht komisch). Art. 150. Eine Frikadelle soll nicht Frikadelle heißen, sondern Frikandel. Sie soll auch keine Frikadelle sein, sondern irgendetwas Wurstartiges ohne Pelle. Fünf Prozent der Frikandellen sollen in der Amsterdamer Fußgängerzone in Automaten angeboten werden. Art. 151. Orange is the new black. Art. 152 (bereits durchgesetzt). Die Städte Amsterdumm, Rotterdumm, Edumm und Volendumm sollen irgendwie umbenannt werden. Näheres regelt der stumpfe Hans. Art. 153. Die Todesstrafe darf nicht verhängt werden. Das gilt nicht für Delinquenten, die Witze über holländischen Käse, die niederländische Sprache (Stichwort: Halskrankheit) und holländische Wohnwagen gemacht haben. Art. 154. Nervensägen, Quasseltanten, Peinsäcke, Imbezille und Gagaleute aller Art können ohne Weiteres Federlesen nach Mof- beziehungsweise Poepland (Scheißland) abgeschoben werden. (Lex Lou van Burg. Spätere Fassung: Lex Rudi Carell, Marijke Amado, Harry Wijnvoord, Linda de Mol. Jetzt: Lex Sylvie van der Vaart alias Sylvie Vollmeisje). Art. 155. In Purmerend, Oss und Zwolle / kriegt man sich in die Wolle. Art. 156. Wortspiele mit holländischen Städtenamen sind untersagt. Wer zuwiderhandelt, sei amsterverdammt für alle Zeiten und soll bei lebendigem Leib verrotterdamen. Darauf keinen Appelkoorn mit Knecht Utrecht, der verlängert nur das Leiden. Okay, ich bin ja schon Amersfoort. Die Wahrheit auf taz.de
Christian Y. Schmidt
Buchmessengast 2016. Ganz frisch aus dem Gewächshaus des Rechts kommt die neueste niederländische Verfassung.
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Frauenquote beim Theatertreffen: Anleitung zum Perspektivwechsel - taz.de
Frauenquote beim Theatertreffen: Anleitung zum Perspektivwechsel Vor vier Jahren führte das Theatertreffen in Berlin eine Frauenquote ein. Pünktlich zum Festivalstart wird in einem Buch Bilanz gezogen. Lucia Bihlers „Die Eingeborenen von Maria Blut“ kommt dieses Jahr zum Theatertreffen Foto: Susanne Hassler-Smith Als die ehemalige Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer 2019 die Frauenquote einführte, wurde dies umgehend heftig diskutiert. Sogar die damalige Staatsministerin, Monika Grütters, Beauftragte für Kultur und Medien, positionierte sich gegen die Quote. Wie viele, die das Wort ergriffen, sorgte sie sich um die Unabhängigkeit der Jury, die jedes Jahr zehn deutschsprachige Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auswählt, ebenso wie um die Freiheit der Kunst. Denn daran, dass das Beste sich schon durchsetzen werde, herrschte trotz aller Strukturdebatten noch immer verblüffend wenig Zweifel. Drei Jahre später ziehen die Theaterkritikerinnen und Theatertreffen-Jurorinnen Sabine Leucht, Petra Paterno und Katrin Ullmann Bilanz. Ihr Buch „Status Quote. Theater im Umbruch: Regisseurinnen im Gespräch“, das nun zur Eröffnung des diesjährigen Theatertreffens (TT) erscheint, veröffentlicht ausführliche Interviews mit allen Regisseurinnen, die von 2020 bis 2023 zur „Bestenschau“ des deutschsprachigen Theaters reisten. Vertreterinnen unterschiedlicher Generationen werden von den Herausgeberinnen und weiteren TT-Jurorinnen zu ihrem beruflichen Werdegang, zur Diskriminierung von Frauen im Theaterbetrieb, zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zu Honoraren und, natürlich, zu ihrer Haltung zur Quote befragt. Vorangestellt sind den Interviews ein Resümee von Yvonne Büdenhölzer, ein historischer Rückblick von Eva Behrendt sowie ein Gespräch mit Karin Henkel und Lisa Lucassen von She She Pop. Dabei gehört zu den absoluten No-Fun-Facts, dass erst 16 Jahre nach dem ersten Theatertreffen erstmals zwei Regisseurinnen eingeladen wurden, 1980 nämlich. Bis 2010 blieb es dabei, dass in jedem Jahr maximal ein oder zwei Frauen in der „Bestenschau“ vertreten waren, später stiegen die Zahlen so punktuell wie zögerlich an. Arbeit von Regiseurinnen kriegen Aufmerksamkeit Abhilfe gegen die – im Übrigen oft festgestellte und durchaus kritisierte – Schieflage brachte erst die Quote, die nun auch sicherstellt, dass die Arbeiten von Regisseurinnen in der Jury selbst eine größere Aufmerksamkeit erhalten und häufiger gesichtet werden. „Seit Jahrhunderten bestimmt eine informelle Männerquote die Kunstwelt“, schreibt Yvonne Büdenhölzer. Dass die Meinung der interviewten Regisseurinnen zur Quote so weit auseinandergeht wie gesamtgesellschaftlich, versteht sich von selbst – von Claudia Bauer: „Mein allererster Impuls? Das sind Almosen für Gehandicapte. Das haben Frauen nicht nötig“, bis zu Anne Lenk: „Sie kam zu spät. Es wurde zu wenig in Regisseurinnen investiert, und so fehlt es heute an weiblichen Führungskräften“. Unbestritten bleibt, dass die Quote kulturpolitisch eine Wirksamkeit entfaltet: Die Stadt- und Staatstheater bieten nun häufiger Regisseurinnen eine Bühne, auch wenn noch immer deutlich weniger Regisseurinnen inszenieren als Regisseure. Die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins wies für die Spielzeit 2018/19 rund 28,1 Prozent aus, nach geschätzten Zahlen waren es in der Spielzeit 2021/22 bereits 34,6 Prozent. Facettenreiches Wissen über Diskriminierung Die Interviews mit den 19 Regisseurinnen sind so spannend wie lehrreich und liefern vor allem ein umfang- und facettenreiches Wissen über strukturelle Diskriminierung. Die meisten Regisseurinnen beschreiben eine eklatante Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung (Anta Helena Recke: „Die Annahme ist, dass man nichts kann, keine Kompetenz hat und somit auch keine Autorität.“ Viele von ihnen sind mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, dass sie Männern gleichgestellt seien, um sich dann beruflich in einer vollkommen anderen Realität wiederzufinden. In allen Gesprächen herrscht ein hohes Reflexionsniveau über die Strukturen des Theaterbetriebs, wie es wohl vor allem Zugehörige marginalisierter Gruppen an den Tag legen. Sind sie doch gezwungen, Strukturen zu durchdringen, die nicht für sie geschaffen wurden und ihnen nicht dienen. Dass alle Künstlerinnen jeweils eigene Strategien im Umgang damit gefunden haben, macht „Status Quote“ ebenfalls zu einer wertvollen Lektüre. Zudem regen viele von ihnen eine andere Führungskultur an, die nach einer gemeinsamen, geteilten Verantwortung strebt, in der Theaterarbeit nicht lediglich „als Bühne für das eigene Ego“ benutzt wird. Das Buch„Status Quote. Theater im Umbruch: Regisseurinnen im Gespräch“, Henschel Verlag Leipzig 2023, 224 Seiten, 18 EuroAm 26. Mai wird das Buch im Haus der Berliner Festspiele präsentiert. Wer wird dieses Buch lesen? Es ist eines für Geschichtsschreibung, sicher, es wird in die Universitätsbibliotheken wandern und dort wohlgelitten sein. Regisseurinnen werden es lesen, wenn sie nach Vorbildern suchen, nach Strategien und Ermutigung. Intendanten und Regisseuren bietet es einen unbezahlbaren Perspektivwechsel, Kul­tur­po­li­ti­ke­r:in­nen ebenso wie Theaterliebenden ein umfassenderes Bild der deutschen Theaterlandschaft: „Status Quote“ ist eine heterogene Le­se­r:in­nen­schaft zu wünschen.
Esther Boldt
Vor vier Jahren führte das Theatertreffen in Berlin eine Frauenquote ein. Pünktlich zum Festivalstart wird in einem Buch Bilanz gezogen.
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Neues Buch „Identitätspolitiken“: Solidarität ist niemals fertig - taz.de
Neues Buch „Identitätspolitiken“: Solidarität ist niemals fertig Soziale Kämpfe sind Kämpfe um Anerkennung – und andersherum: Dieses Buch tritt der Frontenbildung in der Identitätspolitik differenziert entgegen. Aus der politischen Komplexität gibt es keinen großen Sprung, man muss sich auf einen „Mehrfrontenkampf“ einlassen Foto: dpa Nach der Trump-Wahl und verstärkt nach dem Einzug der AfD in den Bundestag ging eine These viral: Verantwortlich für beide Ereignisse ist die linke Identitätspolitik, der es nur noch um die Anerkennung kultureller Differenzen geht und dabei „die wahren Probleme der Menschen“ – ergo die soziale Frage – sträflich vernachlässigt. Mit Pseudothemen wie genderneutralen Toiletten hätten Linksliberale die abgehängte Industriearbeiterschaft vergrätzt, so der Tenor. In ihrem Buch „Identitätspolitiken“ treten die Wiener Autor*innen Lea Susemichel und Jens Kastner dieser, wie sie es nennen, „anti-identitätspolitischen Frontenbildung“ argumentativ entgegen. Abgesehen davon, dass es auch schwarze und queere Arbeiter gibt, ist das Lamento ahistorisch; als hätte es je die eine, unumstrittene linke Identitätspolitik gegeben. Tatsächlich gab es immer schon eine Vielzahl von identitätspolitischen Ansätzen. Deren geschichtliche und theoretische Grundlagen leuchten Susemichel und Kastner gut lesbar aus, das Anschauungsmaterial reicht vom Austromarxismus bis zu aktuellen Genderthemen. Während derzeit, oft in demagogischer Absicht, kulturelle Differenz und universale Gerechtigkeit zu unvereinbaren Gegensätzen hochdramatisiert werden, zeigen Susemichel und Kastner, dass soziale Kämpfe immer zugleich identitätspolitische Kämpfe waren – und vice versa. Schon die klassische Arbeiter*innenbewegung war für sie ein identitätspolitisches Projekt, das durch kulturelle Praktiken, wie etwa – kein Witz – den Übergang vom „zerstörerischen Schnaps“ zum „geselligen Bier“, politischen Willen formte. Genauso war jede linke Identitätspolitik, die für die Autor*innen den Namen verdient, ein Kampf ums Ganze. Exemplarisch zeigen sie diese „egalitäre, universelle Dimension“ an der „Black Lives Matter“-Bewegung auf: „Schwarze Leben sollen nicht etwa mehr zählen oder anders gezählt werden, sondern einfach so zählen wie alle anderen auch.“ Zugleich zeigt „Black Lives Matter“ das unentrinnbare Paradox jeder Identitätspolitik. Sie muss sich, um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen, positiv auf eben die Fremdzuschreibung (als schwarz, schwul, weiblich etc.) beziehen, die Grundlage der eigenen Diskriminierung ist. Das BuchJens Kastner, Lea Susemichel: „Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“. Unrast Verlag, Münster 2018, 152 Seiten, 12,80 Euro Um das abschätzige Sprechen über Identitätspolitik als ideologisch zu kontern, sind die innerhalb der jeweiligen Communities geführten Debatten erhellend. Schon im Feminismus oder in der antikolonialen Bewegung waren politische Aktivist*innen versucht, die innere Spannung zwischen Universalismus und kultureller Differenz einseitig aufzulösen: durch die kulturessenzialistische Einschließung ins Identitäre oder durch die Flucht in eine vulgärmarxistische Eigentlichkeit, die jede Unterdrückung qua kultureller oder sexueller Differenz zum Nebenwiderspruch herabgewürdigt hat. Ineinander verwobene Diskriminierungsformen Susemichel/Kastner machen deutlich, dass es keinen archimedischen Punkt der Unterdrückung gibt, auch wenn die Sehnsucht danach gerade jetzt groß sein mag. Viel zu sehr sind die unterschiedlichen Diskriminierungsformen ineinander verwoben, als dass es einen Generalschlüssel geben könnte. Was heute unter dem Konzept der Intersektionaliät diskutiert wird, heißt in diesem Sinne, dass sich etwa in einer schwarzen, lesbischen Frau mehrere Diskriminierungen überkreuzen. Aus dieser Komplexität gibt es keinen großen Sprung, man hat sich auf den „Mehrfrontenkampf“ einzulassen. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Bei der Betrachtung aktueller Identitätspolitiken äußern die Autor*innen eine solidarische, aber unmissverständliche Kritik an der Inflation von kulturellen und sexuellen Kleinstdifferenzen sowie an den erbitterten Gegnern kultureller Aneignung. Sie erkennen darin eine selbstreferentielle „Individualisierung von Identität“, da oft persönliche Betroffenheit zum alleinigen Kriterium für legitimes Sprechen erklärt würde. Damit werde die Möglichkeit geleugnet, sich von der prägenden Dominanzkultur zu distanzieren und sich mit anderen solidarisch zu zeigen. Zudem tendiere der Überschuss an Identitäten dazu, strukturelle Gewalt zu nivellieren und Diskriminierungserfahrungen leichtfertig gleichzusetzen. Eine „lookistische“ Abwertung qua Aussehen ist eben etwas anderes als die Konfrontation mit rassistischer Polizeigewalt. Politische Aufklärung Die unendlichen Abweichungen dann aber im Namen einer imaginären Gemeinsamkeit nicht zu artikulieren ist für die Autor*innen keine Option. „Es gibt diese Differenzen, und sie sind gewaltig“, schreiben sie lakonisch. Jede Identitätspolitik sollte diese grundlegende Differenz nach innen (es gibt nicht „die Frau“, „den Arbeiter“ etc.) und nach außen (andere berufen sich auch auf ihre Abweichung) anerkennen und als konstruktives Merkmal bejahen. Solidarität – für Susemichel und Kastner das zentrale Ziel linker Politik – setze diese Differenz gerade voraus, deshalb sei sie nie fertig, sondern müsse immer wieder neu ausgehandelt werden. Mit wem ich eh schon „eins“ bin, mit dem brauche ich mich nicht zu solidarisieren. Während Identitätspolitik von Leuten wie dem „Aufstehen“-Vordenker Bernd Stegemann als Elitenveranstaltung abgetan wird, betreiben Susemichel und Kastner politische Aufklärung, indem sie sich konkrete Kämpfe mit all ihren Widersprüchen genauer anschauen. Die Lage der Dinge lassen sie so sowohl komplizierter als auch hoffnungsvoller erscheinen.
Aram Lintzel
Soziale Kämpfe sind Kämpfe um Anerkennung – und andersherum: Dieses Buch tritt der Frontenbildung in der Identitätspolitik differenziert entgegen.
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Obdachlose in Hamburg: Angezählte Osteuropäer - taz.de
Obdachlose in Hamburg: Angezählte Osteuropäer Eine Befragung soll nichtdeutsche Obdachlose in den Blick nehmen. Befeuert das die Debatte über die Konkurrenz zwischen einheimischen und zugereisten Obdachlosen? Konkurrenz auch um Schlafplätze: Obdachloser auf St. Pauli Foto: dpa HAMBURG taz | Ab heute werden Hamburgs Obdachlose gezählt: Vom 19. bis 25. März werden Sozialarbeiter und Streetworker im Auftrag der Sozialbehörde die Runde bei Hamburgs Obdachlosen machen, um sie zur freiwilligen Teilnahme an einer „Untersuchung zu obdach- und wohnungslosen Menschen“ zu bewegen. Nach Geschlecht, Alter und Nationalität soll dabei gefragt werden, wobei der Fokus diesmal laut Behörde auf nicht-deutschen Obdachlosen liegen soll. „Wir brauchen eine neue Erhebung, weil sich die Zusammensetzung der Obdachlosenszene verändert hat“, sagt Behördensprecher Marcel Schweitzer. „Die letzte Erhebung stammt aus dem Jahr 2009, der Anteil osteuropäischer Obdachloser ist seit der EU-weiten Freizügigkeit 2011 aber stark gestiegen.“ Und während die Behörde keine aktuellen Zahlen nennt, sagt Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer vom Obdachlosenmagazin „Hinz und Kunzt“, der Anteil der Obdachlosen etwa aus Polen, Bulgarien und Rumänien liege derzeit bei rund 75 Prozent. Warum man das Augenmerk diesmal auf Nichtdeutsche richtet, sagt der Behördensprecher nicht so klar. Man wolle „das bestehende Hilfesystem überprüfen“, erklärt er. Tatsache ist aber, dass derzeit eine Debatte über die Konkurrenz einheimischer und osteuwropäischer Obdachloser tobt und Hamburg eine recht harte Linie verfolgt: Rund 100 Osteuropäern wurde diesmal der Zugang zum Winternotprogramm verwehrt. Das ist kein Einzelfall; bundesweit diskutiert wurde jüngst das Vorgehen der Essener Tafel, deren Veranstalter zeitweilig einen Aufnahmestopp für Ausländer verhängt hatten. Dass die Hamburger Erhebung – die ob ihrer Freiwilligkeit sowieso keine belastbaren Zahlen liefern wird – jenen in die Hände spielt, die gegen osteuropäische Obdachlose agitieren, ist für die Sozialbehörde kein Thema. Es geht ums Geld De facto geht es aber durchaus ums Geld, denn viele Obdachlose sind nicht krankenversichert, sodass für Notfälle die Sozialbehörde aufkommt. Deshalb sei es ein Ziel der Studie, mehr über die Krankenversicherungen von EU-Bürgern zu erfahren, sagt Schweitzer: „Die Einzelabrechnung der Notfallversorgung ist bislang zu bürokratisch.“ Konkret heißt das, dass die Behörde bei jedem im Ausland Versicherten das Geld aufwendig von dort zurückfordern muss. Viele deutsche Obdachlose wiederum hätten, da einst werktätig, durchaus das Recht auf Krankenversicherung, scheuten sich aber, dort vorzusprechen. „Hier müssen wir Überzeugungsarbeit leisten, damit sie sich anmelden und eine Versicherungskarte beantragen“, sagt Schweitzer. „Viele scheuen diesen Behördengang – teils aus Scham, teils aufgrund anderer persönlicher Probleme.“ Bleiben jene Osteuropäer, die nirgends krankenversichert sind und für deren Behandlung gleichfalls die Sozialbehörde zahlt. „Hier beginnt das Dilemma“, sagt Schweitzer. „Das Gesetz sagt: Diese Menschen haben keinen Anspruch auf staatliche Hilfe, allenfalls auf eine Rückfahrkarte. De facto können wir sie aber nicht im Stich lassen und tun das auch nicht.“ Daran werde die neue Erhebung nichts ändern. Verbesserte Akutversorgung So sieht es auch Sozialarbeiter Karrenbauer, der froh ist, dass die vier inzwischen eröffneten Schwerpunktpraxen für Wohnungslose zumindest die Akutversorgung verbessert haben. Ungelöst bleibe aber – und das bestätigt Dirk Hauer, Leiter des Fachbereichs Migration und Existenzsicherung im Diakonischen Werk – die Wohnungssituation. Sie habe sich nach keiner der bisherigen Erhebungen von 1996, 2002 und 2009 verbessert. „Das darf nicht wieder passieren“, fordert Stephan Karrenbauer. Eigenartig ist zudem, dass erstmals auch Menschen in Wohnunterkünften befragt werden. Ob sie die Fachstellen kennen, die von Kündigung bedrohten Mietern helfen, will die Untersuchung erheben. Auf den Einwand, diese Information komme für Obdachlose reichlich spät, sagt Schweitzer: „Letztlich geht es darum, dass die Behörde erfährt, wie sie ihre Angebote verbessern und effektiver kommunizieren kann.“
Petra Schellen
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Brexit-Folgen für Nordirland: Ohne Mauer geht es nicht - taz.de
Brexit-Folgen für Nordirland: Ohne Mauer geht es nicht Seit über 20 Jahren herrscht offiziell Frieden in Nordirland. Nun reißt der nahende Brexit alte Wunden wieder auf und sorgt für Unsicherheit. Teil des Stadtbilds von Belfast: die Wandgemälde auf den „peace walls“ Foto: ap BELFAST taz | Der Garten: ein Käfig. Betonfußboden, am Ende eine neun Meter hohe Mauer aus Stein, Wellblech und Draht, an den Seiten und obendrüber Metallgitter. Niemand sitzt hier gerne. Der Garten gehört zu einem Reihenhaus in der Bombay Street im Westen der nordirischen Hauptstadt Belfast. Die Mauer an seinem Ende ist die sogenannte Friedenslinie; sie trennt die katholisch-nationalistischen Stadtviertel Belfasts von den protestantisch-unionistischen rund um die Shankill Road. „Die Metallgitter schützen die Bewohner, falls jemand aus Richtung Shankill Road eine Brandbombe über die Mauer werfen würde“, sagt Bill Rolston, der bis zu seiner Pensionierung Professor für Soziologie an der Ulster University war. Der 72-Jährige deutet auf ein Bild an der Giebelwand, es zeigt brennende Häuser, darüber steht der Satz: „Bombay Street – Never Again!“ Am 15. August 1969 griff eine Meute von der Shankill Road die Bombay Street an, erzählt Rolston. „Sämtliche 63 Häuser gingen in Flammen auf, die Bewohner mussten fliehen, sie verbrachten den Winter in Schulen, Gemeindehallen und Wohnwagen.“ Sie bauten ihre Straße wieder auf, ohne staatliche Hilfe. Vor rund 20 Jahren trat das Belfaster Abkommen in Kraft, am Karfreitag 1998 wurde es unterzeichnet und hat Nordirland einen relativen Frieden gebracht. Aber eine Annäherung der beiden Bevölkerungsgruppen hat bisher kaum stattgefunden. Das Misstrauen bleibt groß, in den Arbeitervierteln auf beiden Seiten haben fast alle Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn verloren. Mehr als 3.500 Menschen sind in dem Konflikt gestorben. Kommen neue Grenzkontrollstellen? Zu diesen Zeiten will keiner zurück. Doch nun, wo der Brexit immer näher rückt, reißt die täglich wachsende Ungewissheit alte Wunden auf. Da ist zum Beispiel die Frage, was mit der irisch-nordirischen Grenze, einer kommenden EU-Außengrenze, passieren wird. Eigentlich, sind sich die Verhandlungsführer Großbritanniens und der EU einig, soll sie offen bleiben. Aber wie das praktisch aussieht, ist immer noch nicht geklärt. Werden am Ende doch neue Grenzkontrollstellen eingerichtet, die dann zu Anschlagszielen werden könnten? „Eine Auferstehung der Grenze mit Kontrollen und allem Pipapo wäre fatal“, sagt Rolston. Als das Belfaster Abkommen unterzeichnet wurde, trennten 24 Mauern die protestantischen und katholischen Viertel Belfasts. Heute sind es über 40. Die Fahrer der schwarzen Taxis, die Touristen zu den ehemaligen Brennpunkten des Konflikts fahren, haben dicke Filzstifte bei sich, damit sich die Besucher auf der Mauer verewigen können. Rolston liest amüsiert eine Botschaft am Cupar Way auf der protestantischen Seite vor: „Wir haben unsere Probleme gelöst. Warum könnt ihr das nicht auch?“ Unterzeichnet ist die Nachricht von „Debbie, Tel Aviv“. taz am wochenendeKein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Belfasts Wandgemälde haben es längst in alle Reiseführer geschafft. Auf protestantischer Seite gibt es sie seit 1908. Auf dem ersten Gemälde war Wilhelm von Oranien zu sehen, der 1690 seinen katholischen Schwiegervater Jakob II. in einer Schlacht besiegte und dadurch die protestantische Thronfolge in Großbritannien sicherte. „King Billy“ ist nach wie vor ein beliebtes Motiv. Auf katholisch-nationalistischer Seite entstanden Wandgemälde erst im Zuge eines Hungerstreiks, bei dem 1981 zehn politische Gefangene starben. „Hunderte von Bildern entstanden in dieser Zeit“, sagt Bill Rolston. „Nach dem Hungerstreik nahm Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, erstmals an Wahlen zum Londoner Unterhaus teil, auch wenn sie die gewonnenen Sitze nicht einnahmen. Die Partei warb mit Wandgemälden um Stimmen, denn sie sind viel wirksamer als Wahlplakate.“ Inzwischen ist Sinn Féin stärkste Kraft auf katholisch-nationalistischer Seite. Ein interkonfessionelles Gemälde Rolstons Lieblingsbild befand sich auf der „International Wall“ an der Falls Road, eine Nachbildung von Picassos „Guernica“. Da die Wandmalereien je nach politischen Ereignissen aktualisiert, übermalt oder erneuert werden, gibt es das Bild nicht mehr. Es war eine Ko-Produktion des Katholiken Danny Devenny und des Protestanten Mark Ervine. Devenny ist 64 Jahre alt. Er hat 15 Geschwister, die Familie wohnte in einem Sozialbau an der Falls Road. Mit 16 ist Devenny der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) beigetreten. 1973 wurde er wegen eines Banküberfalls zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Ervine, 45, ist im protestantisch-unionistischen Ost-Belfast aufgewachsen. Sein Vater David Ervine war Mitglied der paramilitärischen Ulster Volunteer Force (UVF) und ist 1975 wegen Sprengstoffanschlägen zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Mark besuchte ihn jede Woche im Gefangenenlager Long Kesh. Nach seiner Entlassung trat David Ervine der Progressive Unionist Party bei, dem politischen Flügel der UVF. Später wurde er Chef der Partei und war Ende der neunziger Jahre maßgeblich an den Friedensverhandlungen beteiligt. Devenny und Ervine hatten sich zufällig bei einem Fototermin kennengelernt. Seitdem haben sie zahlreiche Wände gemeinsam bemalt – aber nur auf katholischer Seite. „Ich könnte für Dannys Sicherheit in protestantischen Vierteln nicht garantieren“, sagt Mark Ervine. In diesen Vierteln haben die Anführer paramilitärischer Organisationen die Kontrolle über die Wände, sagt Rolston. „Sie bestimmen, was gemalt werden darf, und das sind meistens Darstellungen von Ruhmestaten ihrer Organisation.“ Eine demografische Zeitbombe Gleichzeitig wachsen auf protestantisch-unionistischer Seite Angst und Frust. „Die Unionisten fühlen sich als Verlierer des Friedensschlusses“, sagt Rolston, „Sie mussten seit 1998 einige ihrer Privilegien aufgeben.“ Außerdem ticke eine demografische Zeitbombe für sie: „2022 werden die Katholiken in Nordirland in der Mehrheit sein.“ Und das erhöht die Chancen bei einer Volksabstimmung über die Vereinigung der Republik Irland mit Nordirland, die schon lange zu den Plänen von Sinn Féin gehört. „Es gibt aber keine Garantie, dass alle Katholiken für ein vereinigtes Irland stimmen“, schränkt Rolston ein. „Ein Fünftel von ihnen beschreibt sich nicht als irisch oder britisch, sondern als nordirisch.“ Wirtschaftlich hätte ein vereinigtes Irland einige Vorteile, glaubt Rolston. „Kosten durch die Doppelung von Ämtern und Behörden würden gesenkt.“ Im Gegenzug fielen Milliardensubventionen aus London für Nordirland weg. Das könnte durch das im Vergleich zu Nordirland dreimal so hohe BIP der Republik Irland aufgefangen werden, glaubt Rolston. „Viele radikalere Unionisten sind jedoch lieber arm im Vereinigten Königreich als reich in einem vereinigten Irland. Emotionen und Identität spielen eine große Rolle.“ In diesem Zusammenhang spielt auch der Brexit wieder eine Rolle. „Eine Reihe von gemäßigten Unionisten würden für ein vereinigtes Irland stimmen“, sagt Rolston. „Noch vor fünf oder sechs Jahren wäre das undenkbar gewesen. Aber der Brexit hat einige zum Nachdenken bewogen.“ Sie wollen vielleicht kein vereinigtes Irland, aber noch weniger wollen sie die EU verlassen. „Manche möchten im europäischen Ausland studieren oder arbeiten“, sagt er „Müssen sie dann internationale Studiengebühren zahlen oder eine Arbeitserlaubnis beantragen?“ Irische Pässe für Protestanten Seit dem Brexit-Votum vor zwei Jahren sind 75.000 irische Pässe in Nordirland ausgestellt worden. „Das waren fast alles Protestanten, denn die Katholiken hatten ja bereits irische Pässe“, sagt Rolston. In der Republik Irland gibt es inzwischen die gleichgeschlechtliche Ehe, und seit dem Referendum im Mai sind auch Abtreibungen möglich. In Nordirland ist beides illegal. „Wen sollten etwa junge LGBTIQ-Menschen auf unionistischer Seite wählen?“ Eine Mitsprachemöglichkeit bei den Brexit-Verhandlungen haben die Nord­iren nicht, denn seit Januar 2017 liegen ihr Regionalparlament und die Mehrparteienregierung auf Eis. Die großen Parteien beider Seiten, Sinn Féin und die Democratic Unionist Party (DUP), haben sich zerstritten. Vordergründig geht es um ein Projekt der DUP, mit dem Unternehmen und Bauern animiert werden sollen, ihre Heizung auf erneuerbare Energien umzustellen. Seitdem erhalten sie für jedes Pfund, das sie ausgeben, einen Zuschuss. Je mehr man heizt, desto mehr Geld fließt. Es ist ein Milliardengrab, bemängelt Sinn Féin. Aber dahinter stecken tiefer sitzende Konflikte, sagt Rolston. Sinn Féin beklagt den mangelnden Respekt. So sei etwa das Geld für die Förderung der irischen Sprache gestrichen worden – dabei ging es nur um 50.000 Pfund. „Die DUP kann sich hingegen zurücklehnen, sie sitzt auf Muttis Schoß in Westminster, Theresa Mays Minderheitsregierung ist auf ihre Unterstützung angewiesen“, sagt Rolston. „Aber wie lange wird sie noch ihren Einfluss bei May für den Erhalt der Union geltend machen können?“
Ralf Sotscheck
Seit über 20 Jahren herrscht offiziell Frieden in Nordirland. Nun reißt der nahende Brexit alte Wunden wieder auf und sorgt für Unsicherheit.
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cap anamur, seerecht, illegale einschleusung etc.: Auf schwankendem Boden - taz.de
cap anamur, seerecht, illegale einschleusung etc.: Auf schwankendem Boden Schiffbrüchigen muss, Flüchtlingen darf nicht geholfen werden: Das stürzt Kapitäne in ein moralisches Dilemma In der bioethischen Debatte wird, um das Tötungsverbot zu relativieren, immer wieder gerne auf das Beispiel von Schiffbrüchigen verwiesen, die auf hoher See treiben, ohne dass Rettung in Sicht wäre. Haben diese Flüchtlinge das Recht, einen der anderen Flüchtlinge umzubringen, damit wenigstens ein paar überleben können? Wie nicht nur der aktuelle Fall der „Cap Anamur“ zeigt, hält das wirkliche Leben Konstellationen bereit, die weniger blutrünstig klingen, aber moralisch genauso bedenklich sind, weil in ihnen das nackte Überleben der Flüchtlinge und der Wunsch der Staaten, ihre Flüchtlingszahlen gering zu halten, miteinander so in Konflikt geraten, dass Dritte, nämlich die Besatzungen der Schiffe, in eine schweres Dilemma gestürzt werden. Menschen, die in Seenot geraten sind, zu retten gehört zu den Verpflichtungen jedes Schiffskapitäns. Nur wenn ein Schiff sich durch die Rettungsaktion selbst in eine gefährliche Lage brächte, darf ein erforderliches Rettungsmanöver unterbleiben. Diese Verpflichtung ist zum ersten Mal 1910 in Paragrafen gefasst worden; durch Artikel 98 der UN- Seerechtskonvention ist sie heute geltendes Völkerrecht. Artikel 98 verpflichtet bemerkenswerterweise nicht in erster Linie den Verantwortlichen des Schiffes, sondern den Staat, unter dessen Flagge es fährt, dafür Sorge zu tragen, dass in Seenotfällen auch tatsächlich Rettungsmaßnahmen unternommen werden. Da die „Cap Anamur“ unter deutscher Flagge fährt, wäre hier Deutschland gefordert. Allerdings ist nirgendwo im internationalen Seerecht geregelt, was nach der Rettung geschehen soll. Während die Geretteten üblicherweise im nächsten Hafen an Land gehen und dann in ihre Heimat reisen können, ist das bei Flüchtlingen, die aus Seenot geborgen wurden, gerade kein gangbarer Weg. Denn viele Staaten weigern sich, Schiffe mit Flüchtlingen an Bord einlaufen zu lassen. Oder, wie das aktuelle Beispiel der „Cap Anamur“ zeigt, schlimmer noch: Sie lassen das Schiff einlaufen und nehmen dann den für die Rettung der Flüchtlinge Verantwortlichen wegen illegaler Einschleusung fest. Die entsprechenden, auf EU-Ebene abgestimmten Rechtsvorschriften gegen die so genannte Einschleusung sind mittlerweile so weit gefasst, dass sie sich auf diesen Fall anwenden lassen. In Deutschland gilt der einschlägige Paragraf 92 a des Ausländergesetzes: Mit Strafe bis zu fünf Jahren wird bedroht, wer einem Ausländer hilft, ohne erforderlichen Pass in die Bundesrepublik einzureisen. Üblicherweise ist erforderlich, dass er dafür Geld erhält, was bei der „Cap Anamur“ nicht der Fall gewesen sein wird. Nun reicht es aber auch aus, dass der Täter wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt, was im Fall „Cap Anamur“ gegeben scheint. Auch die Feststellung eines Vorsatzes dürfte keine Schwierigkeiten bereiten, denn die Besatzung der „Cap Anamur“ wird gewusst haben, dass die Flüchtlinge aufs Festland fliehen wollten und die erforderlichen Pässe nicht dabeihaben. Die Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht wäre in so einem Fall allenfalls noch abzuwenden, wenn Ermittlungsbehörden oder Gerichte anerkennen würden, dass es sich um eine Art Notstand handelte, weil der Schutz des Lebens der Flüchtlinge über dem Interesse des Staates, deren Einreise zu verhindern, angesiedelt ist. Beziehungsweise weil der Kapitän sich zwischen zwei widerstreitenden Pflichten, Lebensrettung und Verbot der illegalen Einreise, entscheiden musste, die er nicht beide einhalten konnte. Was im Fall der „Cap Anamur“ nicht zu Lasten der Flüchtlinge geht, weil Lebensrettung um fast jeden Preis ja die Mission des Schiffes ist, führt im Normalfall dazu, dass Kapitäne die Verpflichtung vernachlässigen, deren Umsetzung ihnen am meisten Ärger bringt. Da Flüchtlinge in Seenot sich nicht wehren und keine Zwangsmaßnahmen androhen können, werden sie oft genug nicht gerettet. Diese Katastrophe, die den Tod ungezählter Menschen verursacht hat, ist vom UNHCR wiederholt thematisiert worden – zuletzt im Beschluss Nr. 97 des Exekutivkomitees über Schutzgarantien bei Aufgriffsmaßnahmen im Oktober 2003. Dabei hat der UNHCR deutlich gemacht, dass die Sicherheit von Flüchtlingen, die in Seenot geraten, nur dann wenigstens in Ansätzen gewährleistet werden kann, wenn die Schiffseigner und -kapitäne klare Garantien der Staatengemeinschaft haben, dass sie die Geretteten am nächsten besten Hafen von Bord gehen lassen können, ohne dass ihnen deswegen Sanktionen drohen. Diese Grundsätze etwa im Rahmen der Schengener Flüchtlingspolitik anzuerkennen und verbindlich zu machen wäre eine lohnende Aufgabe für das sonst um Menschenrechte in der ganzen Welt so besorgte Deutschland. Der aktuelle Fall der „Cap Anamur“ könnte ein Anlass sein, dieses Engagement voranzutreiben. OLIVER TOLMEIN
OLIVER TOLMEIN
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Misshandlung im Botschafterhaushalt: Wenn Diplomaten Löhne prellen - taz.de
Misshandlung im Botschafterhaushalt: Wenn Diplomaten Löhne prellen Seit 50 Jahren schützt das Wiener Übereinkommen Diplomaten vor gerichtlicher Verfolgung. Doch die Immunität schützt sie, auch wenn sie Bedienstete misshandeln. Polizisten vor der saudischen Botschaft: Der Staat schützt Diplomaten, doch darf dieser Schutz auf Kosten schwacher Gruppen durchgesetzt werden? Bild: dpa BERLIN taz | Um die Sache sollte es am Mittwoch im Berliner Landesarbeitsgericht nicht gehen. Nicht darum, ob die indonesische Hausangestellte Dewi Ratnasari* monatelang im Privathaushalt eines saudischen Diplomaten ausgebeutet wurde. Richter Martin Dreßler hatte nur darüber zu entscheiden, ob sein Gericht zuständig ist. Oder ob die Immunität den Diplomaten auch in diesem Fall schützt. Achtzehn Monate soll Dewi Ratnasari ohne Lohn und unter Misshandlungen bei dem Kulturattaché der saudischen Botschaft gearbeitet haben. Inzwischen lebt sie wieder in Indonesien. Stellvertretend für sie klagen die Anwälte Jürgen Kühling und Klaus Bertelsmann und die Frauenrechtlerin Heide Pfarr auf 70.000 Euro Lohn und Schmerzensgeld. Das Deutsche Institut für Menschenrechte finanziert den Prozess. In erster Instanz fällte das Arbeitsgericht im Juni ein schnelles Urteil: Klageabweisung wegen Immunität. Laut dem Wiener Übereinkommen von 1961 sind Diplomaten im Einsatzland vor rechtlicher Verfolgung geschützt - beim Falschparken genauso wie bei Mord. Der Richter ließ zu Beginn der Verhandlung keinen Zweifel daran, dass er die Immunität als unangreifbares Gut respektiere. Schließlich schütze sie auch deutsche Diplomaten, die in wenig rechtssichere Staaten entsandt werden. Dass sich das Landesarbeitsgericht nicht über internationale Abkommen hinwegsetzen kann, war Anwalt Kühling klar. Ihm geht es um etwas anderes. "Die Immunität ist im Sinne des Gemeinwohls richtig", sagte er vor Gericht. Aber dass sie auf dem Rücken einzelner, schwacher Menschen ausgetragen werde, sei verfassungsrechtlich untragbar. "Dann muss der Staat eine Entschädigung leisten." Darüber könne nur das Verfassungsgericht entscheiden, an dem Kühling selbst bis 2001 Richter war. Rückenwind für diese Argumentation kommt aus Frankreich, wo Anfang 2011 das Oberste Gericht in einem ähnlichen Fall den Staat zu einer Ausgleichszahlung verpflichtete. Ratnasari könne doch in Saudi-Arabien ihre Rechte einklagen, hielt der Rechtsvertreter des Diplomaten dagegen, so sehe es das Wiener Übereinkommen schließlich vor. Dass genau dieser Weg laut einem Bericht von Human Rights Watch für ausländische Frauen faktisch unmöglich ist, wollte der Anwalt nicht gelten lassen. Ob der ausführlichen Ausführungen muss der Richter doch noch ins Grübeln geraten sein. Eine schnelle Entscheidung gab es am Mittwoch nicht. Ob er wie das Arbeitsgericht den Fall Ratnasari abweist und so die Anwälte zum Gang durch die Instanzen zwingt oder doch direkt dem Bundesverfassungsgericht vorlegt, will Dreßler am 9. November verkünden. (* Name geändert)
Manuela Heim
Seit 50 Jahren schützt das Wiener Übereinkommen Diplomaten vor gerichtlicher Verfolgung. Doch die Immunität schützt sie, auch wenn sie Bedienstete misshandeln.
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Atommüll nach Lubmin: "Wir sind noch nicht das Wendland" - taz.de
Atommüll nach Lubmin: "Wir sind noch nicht das Wendland" Der nächste Castortransport nach Lubmin steht bevor. Die Protestkultur gleicht nicht der im Wendland. Doch: Wie lebt man im Nordosten mit dem Atommüll? Mit Stacheldraht gesichert: Gelände des ehemaligen VEB Kernkraftwerk bei Lubmin. Bild: dpa LUBMIN taz | Minus ein Grad zeigt das Thermometer an der Lubminer Seebrücke. Gischt und Schnee vernebeln die Sicht. Eine Woche bis Tag X. Der Castor kommt. Nicht ins Wendland diesmal, sondern in den hohen Norden, tiefen Osten, kurz vor der polnischen Grenze. 20 Kilometer westlich: Greifswald. 60.000 Einwohner, 12.000 Studenten. Mindestens 3.000 Menschen werden hier am Samstag gegen den Atomtransport aus Frankreich ins nahe Zwischenlager demonstrieren, erwartet die lokale Anti-Atom-Initiative. Bürgermeister: 2.400 Jobs Amtsgericht, Anwaltszimmer. Axel Vogt ist seit August 2009 Bürgermeister von Lubmin, 2.000 Einwohner. Im Anwaltsanzug, zwischen zwei Verhandlungen, erklärt der bei seiner Wahl noch parteilose Vogt, jetzt CDU, er sehe in puncto Zwischenlager "die Nachteile nicht". Vogt sieht vor allem: Jobs. Etwa 2.400 Jobs biete der "Energie- und Technologiestandort Lubminer Heide". In den einstigen Werkhallen des VEB Kernkraftwerk Bruno Leuschner fertigen heute Metaller Bauteile. Nebenan lagern Castoren sowie schwach- und mittelradioaktiver Müll, vor allem aus dem Rückbau der Meiler hier und in Rheinsberg. Vogts Vorgänger Klaus Kühnemann hatte sich noch gegen Atomtransporte engagiert. Er kämpft jetzt für einen Antrag, der Vogt verpflichten soll, das Mögliche zu tun, um das Seebad Lubmin nicht mit Atommüll in Verbindung zu bringen. "Zwischenlager Lubmin" - das könne dem Tourismus schaden. Vogt dagegen sagt, jetzt werde erst recht über die Nähe von Zwischenlager und Seebad diskutiert. Dabei seien 2010 erstmals über 50.000 Gäste gekommen. Ins Restaurant an der Seebrücke hat sich heute durchs Schneegestöber nur ein Paar getraut. Inhaberin Heidrun Moritz, 62, erinnert sich, wie sie als junge Chemielehrerin an Atomkraft geglaubt habe. Für blauäugig hält sie das heute, nach Tschernobyl, nach den Bildern aus der Asse. Die gebürtige Greifswalderin hat sich mit dem Haus am Meer einen Traum verwirklicht. "Wir können damit leben, was hier oben ist, wir haben das in der DDR gebaut, wir müssen mit den Resten leben." Gastronomin: Einbußen Aber dass hierher noch mehr Müll kommt, von außerhalb? Vom "Hin- und Hergekarre" halte sie nichts. Viele dächten hier so, aber sie trauten sich nicht, das zu sagen. Hat sie Einbußen wegen des Atommülls? "Stornierungen, ja, die gibt es, immer wenn das Thema in den Medien ist." Aber später buchten die Leute wieder. Zur Demo gehe sie nicht. "Falsch", das wisse sie. "Aber so deutlich Stellung beziehen - als Unternehmerin?" In einem Greifswalder Jugendzentrum sitzt Silke Schnabel an letzten Vorbereitungen. Ihr Vater, erzählt die 27-Jährige, arbeitete als Schlosser im AKW, leide seit den Achtzigern an Neurodermitis, "nach einer erhöhten Strahlendosis". Dass aus Lubmin kaum jemand protestiere, wundert sie nicht. "Die sagen, wir müssen hier weiterleben." Dass viele hier noch DDR-obrigkeitshörig seien, weist sie zurück. "Aber auf dem Land am meisten geholfen haben uns Zugezogene aus Westdeutschland." Und die Initiativen aus dem Rest der Republik. "Was hier entsteht, da muss man sich keine Illusionen machen, ist studentengetragen." Und: "Wir sind noch nicht das Wendland." Grünen-Politikerin Ulrike Berger, 31, die die Demo angemeldet hat, hat trotzdem das "Gefühl, dass die Luft hier brennt". In Lubmin sei es komplizierter: "Die eine Hälfte im Dorf hat jemanden, der bei der EWN arbeitet, die andere will sichs nicht mit der ersten verscherzen." Manch einer sei dem VEB noch dankbar, etwa für dessen Wohnungsbauten. Demonstrieren und vor allem die Mahnwachen nächste Woche, das sei schließlich etwas "für die waschechten Anti-Atomaktivisten". Bei Minusgraden und Schnee an der Ostsee.
Jan Michael Ihl
Der nächste Castortransport nach Lubmin steht bevor. Die Protestkultur gleicht nicht der im Wendland. Doch: Wie lebt man im Nordosten mit dem Atommüll?
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Kolumne Blicke: Der Preis des Schreibens - taz.de
Kolumne Blicke: Der Preis des Schreibens Die deutsche Literatur ist üppig subventioniert. Wer was vom Kuchen abhaben will, zahlt mit Erniedrigung. Aber es geht auch anders. Andrang in Leipzig. Ruhe in Berlin, schön. Bild: dpa Ruhig ist es in Berlin, das große Palaver ist temporär nach Leipzig zur Buchmesse umgezogen. Ich war schon einige Male da und hatte immer viel Spaß: Es ist ja schön, ein paar Tage unter dauerbeschwipsten Menschen zu verbringen. Nach einer Phase der winterlichen Einkehr mischte auch ich mich zuletzt wieder unter die Menschen, bei Kongressen und Lesungen. Dabei ist mir eine bemerkenswerte Wandlung aufgefallen, die sich in den Pausen oder beim anschließenden Umtrunk vollzieht. Gewiss, das zahlende Publikum debattiert dann noch über den Einsatz des antiken Jambus im modernen Gedicht oder über die Schwierigkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements im ländlichen Raum; die professionellen Podiumsbewohner jedoch und die versammelten Eingeweihten reden nur über eines: über Geld. Besonders krass ist dieser Wechsel der Rede natürlich bei den Schriftstellern. Kaum ist der Gesang verklungen, wird bei Wein und Tabak das deutsche Literaturförderwesen durchdekliniert, eine blühende Kultursubventionslandschaft, um die uns – wie sollte es anders sein – die ganze Welt beneidet. Wie viele Literaturpreise, Förderstipendien und Stadtschreiberpöstchen es in der Bundesrepublik gibt, weiß niemand, die Zahl ist jedenfalls vierstellig. Mindestens. Was ich weiß, ist, dass die Autoren, die mir am meisten am Herzen liegen, gar nicht oder nur sehr sparsam aus diesen reichen Töpfen abbekamen. Ausschließlich unrecht ist ihnen das aber nicht, sie folgen der Devise „writing is my business“ – und wenn es in der deutschen Litertaur marktwirtschaftlich zuginge, dann müssten sich sehr, sehr viele einen vernünftigen Job suchen. Die klassische Formulierung zum Thema stammt von Jörg Fauser. In einem biografischen Abriss schrieb er einmal: „Keine Stipendien, keine Preise, keine Gelder der öffentlichen Hand, keine Jurys, keine Gremien, kein Mitglied eines Berufsverbands, keine Akademie, keine Clique; verheiratet, aber sonst unabhängig.“ Kurz darauf wurde er von einem Lkw überfahren. Wie sagten es seine geliebten Amerikaner ungefähr: „Da draußen ist der Dschungel.“ Mir war es bei der Herstellung von Literatur und Literaturwissenschaft immer egal, ob ich dafür ausgezeichnet würde. Einmal verhinderte ein kaputter Anlasser die Anreise zur Preisverleihung, einmal sagte ich ab, weil ich gerade ein Kind bekam; und jedes Mal wurde ich von den Vergebern wie ein Kellner dafür gerügt, dass ich nichts zum strahlenden Event der Verleihung der Peter-Puschel-Gedächtnismedaille in der Stadthalle Neudettelsbrück beigetragen hätte. Denn darum ging es bei der Sache: um die Eitelkeit der Auszeichner, nicht um die Förderung der Macher. Und wenn ich sehe, wie die Kollegen im Journalismus als Preisverleihungsfußvolk durch die Lande gehetzt werden und sich den öden Reden und dem Pestatem der sogenannten Entscheider aussetzen müssen, dann bin ich ganz zufrieden mit der möglicherweise angeborenen Haltung, dass meine Texte nur vor mir selbst bestehen müssen – der Job ist auch hart genug.
Ambros Waibel
Die deutsche Literatur ist üppig subventioniert. Wer was vom Kuchen abhaben will, zahlt mit Erniedrigung. Aber es geht auch anders.
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Minister scheitert an seiner Polizei - taz.de
Minister scheitert an seiner Polizei ■ Hamburgs Innensenator wegen Übergriffen der Polizei zurückgetreten / 27 Beamte suspendiert Hamburg (AP/dpa/taz) – Am Montag abend ist überraschend der Hamburger Innensenator Werner Hackmann zurückgetreten. Noch überraschender als dieser Schritt waren allerdings dessen Begründung und die gestrigen Reaktionen darauf. In einer persönlichen Erklärung des SPD- Politikers hieß es, er wolle seinen Rücktritt als Signal gegen Ausländerfeindlichkeit verstanden wissen. Es beschäme ihn zutiefst, daß die Übergriffe von Polizisten gegen Ausländer eine Dimension angenommen hätten, die er nicht für möglich gehalten habe. Was Hackmann während seiner Amtszeit anscheinend nicht gelungen war, sein Rücktritt machte es möglich. Gestern wurden 27 Beamte wegen solcher Übergriffe vom Dienst suspendiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie wegen Körperverletzung und Strafvereitelung im Amt, Freiheitsberaubung und Nötigung. Einem Beamten wird vorgeworfen, Kontakte zur rechtsextremistischen Szene zu haben und sich zielgerichtet beim Hamburger Staatsschutz in der Abteilung „Bekämpfung des Rechtsextremismus“ beworben zu haben. Der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau, der vergeblich versucht hatte, den Innensenator von seiner Entscheidung abzuhalten, bedauerte: „Das ist ein Schock. Mich schmerzt der Rücktritt politisch und auch persönlich.“ Die Grünen wollen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragen, die CDU hat bereits ihre Unterstützung dieser Forderung erklärt. Auslöser für Hackmanns Entscheidung war die Anzeige eines Polizeibeamten, die ungeheuerliche Vorgänge im Polizeirevier am Hamburger Hauptbahnhof offenbart hatte. In der Anzeige, die dem Innensenator erst am Montag auf den Tisch gelegt worden war, hieß es, ausländische Gefangene seien im Keller der Wache so lange provoziert worden, bis sie sich gewehrt hätten. Daraufhin seien sie mißhandelt worden. In der Hamburger Morgenpost vom Dienstag sagte Hackmann: „Als mir der Vermerk auf den Tisch gelegt wurde, ... daß an der Wache 11 Mißhandlungen vorgekommen sind, da habe ich gedacht, ob ich mir das noch antun muß. Und ob ich nicht eher ein Signal setzen kann, damit die Leute aufwachen, wenn ich zurücktrete.“ Bereits in der vergangenen Woche hatte sich in Hamburg ein Polizeiskandal angebahnt. Durch einen Bericht der taz war bekanntgeworden, daß im Januar zwei Polizeibeamte nachts einen 44jährigen Senegalesen krankenhausreif geschlagen hatten, weil er eine Mütze mit dem Aufnäher „Gebt Nazis keine Chance“ trug. Ohne öffentliches Gerichtsverfahren erhielten die geständigen Polizisten Strafbefehle über 90 Tagessätze von 65 Mark. Nach der Veröffentlichung des Vorfalls wurden die Polizisten am Freitag von Hackmann in eine andere Dienststelle versetzt. Diese Entscheidung war öffentlich als zu milde kritisiert worden. Übergriffe der Hamburger Polizei gegen Ausländer, Demonstranten und Obdachlose sind keine Einzelfälle. Gegen Polizisten der Revierwache 16 im Hamburger Schanzelviertel wurden seit 1988 130 Anzeigen wegen Körperverletzung im Amt erstattet. Justizsenator Klaus Hardrath will nun eine Kommission einsetzen, die die eingestellten Verfahren und Strafbefehle nochmals überprüft. dr Seite 3
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■ Hamburgs Innensenator wegen Übergriffen der Polizei zurückgetreten / 27 Beamte suspendiert
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Die Wahrheit: Abschied von Mitte - taz.de
Die Wahrheit: Abschied von Mitte Niemals geht man so ganz: Was von meinen Jahren in der Hauptstadt übrig bleibt. Ein sentimentaler Blick zurück ohne Zorn. Die Koffer sind gepackt. Bloß weg aus Mitte! Foto: dpa Manchmal, wenn ich ZDF-Nachrichten gucke, hör ich meine alte, ebenda gelandete Bekannte Inken berichten, und dann muss ich daran denken, wie wir früher immer den Witz machten, man müsse beizeiten mal „nach Mitte“, denn wer nicht „in Mitte“ lebe, der lebe praktisch gar nicht. Vermutlich lebt Inken jetzt in Wiesbaden, und ich, wo lebe ich? In Mitte. Beziehungsweise bald ja nicht mehr, weil ich weg muss, wieder mal, denn Leben, wusste Benn, ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn; oder, in meiner Version: ist Löcher in Wände dübeln, die bloß gemietet sind. Also wieder den Umzugslaster bestellen und den Sperrmüll planen und die Regalmeter überschlagen und bei all dem den Gedanken haben, dass man lang nicht mehr wo so lange war, wie man in Mitte gewesen ist; und dass man da, wo man hingeht, das alles wohl vermissen wird: das Bunte, das Treiben, die Geschäfte, die Tätowierungen – schön, die nicht, und die gibt’s ja auch längst überall. Auf dem Fernsehturm waren wir nie, und der Alex ist Nachbarschaft. Nie mehr U-Bahn fahren Die große Frage ist: Zusammenleben in Sonstwo oder nur mehr halb zusammen in Mitte? Und jetzt also: fort. Wir werden nicht mehr U-Bahn fahren, weil es am neuen Wohnort keine gibt, und wir werden uns nicht mehr zwischen Rewe, Edeka, Bio- und Lose-Laden entscheiden müssen, weil es das am neuen Wohnort auch nicht gibt. Es gibt einen Aldi, und der ist nicht mal um die Ecke. Mit Glück fehlen dann allerdings die Leute, die ihre Sätze mit „geil“ und „witzig“ füllen, wobei „witzig“ nur die Frauen sagen, und zwar auf so eine verstörend dumme Weise, die klingt wie „witzäääg“. Die stehen dann in der Kinderboutique und sagen: „Das Kleid für die Tilly ist ja voll witzäääg!“, und die Verkäuferin so: „Ja, voll geil!“ Und kratzt sich ihre frische, hochgradig individuelle Tätowierung. Da denkt man dann immer, dass es irgendwann mit Mitte auch mal genug ist, und ich hoffe, dass ich das auch noch denke, wenn ich im Aldi stehe und niemand was witzäääg findet, weil witzäääge Dinge im Aldi traditionell unbekannt sind. Wir hätten pendeln können, wie so viele. Aus Berlin gehen Leute ja grundsätzlich nicht weg, selbst wenn sie einen Job haben in Garmisch oder Oslo, die pendeln dann natürlich. Solche Leute fand ich immer lächerlich, und jetzt haben wir selbst diskutiert, halbe Abende durch, ob ein Leben lang Mitte die Fernehe lohnt. Also: Zusammen in Sonstwo, oder nur mehr halb zusammen in Mitte. Wo man den Laden kennt, genauer: die Läden; wo ich meinem (tätowierten) Friseur durchs Schaufenster zuwinke und seinem Chef und dessen Frau, dann die Padrona von der Pizzeria grüße, in der ich seit Jahren nicht mehr war, sowie den Apotheker, alle drei Buchhändlerinnen aus der Buchhandlung nebenan und den (tätowierten) Schuster, den ich, bevor Corona anfing, um Schamhaaresbreite in der Dusche vom Fitnessstudio verpasst habe, zur unserer beider grenzenlosen Erleichterung. Eine letztes Mal Currywurst Was ich noch tun muss, bevor ich gehe? Ich könnte noch mal die U-Bahn nehmen und flexitarisch Currywurst essen, die berühmte aus dem Laden, den ich, aus Schleichwerbevermeidungsgründen einer- und Bekanntheitsgründen andererseits, hier nur „-ke“ nennen will; könnte noch mal den ewigen Hundehaufen ausweichen und unter den Lindenern spazieren gehen oder auf der Friedrichstraße; wobei, was soll ich in Wettbergen, war ich doch sechs Jahre nicht, und warum auch. Also lieber nach gegenüber zu Eva und Alex, zum Frühstück auf ihrer Terrasse, und sicher noch mal ins – ich sag’s jetzt doch, ich muss es sagen! – „Plümecke“ zur, wie man so sagt, besten Currywurst der Stadt, auch wenn das gar nicht mehr in Linden-Mitte ist, dem grundsympathischen, links- bis zeitgemäß rechtsgrünen, nicht unversifften Bauchstück von Linden, Trendbezirk Number one der schönsten Hauptstadt von Niedersachsen, Hannover. Und dass der Fernsehturm hier „Telemax“ heißt, weiß ich jetzt auch. Die Wahrheit auf taz.de
Stefan Gärtner
Niemals geht man so ganz: Was von meinen Jahren in der Hauptstadt übrig bleibt. Ein sentimentaler Blick zurück ohne Zorn.
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Bildungsministerin von Schleswig-Holstein: Elf Verschreiber auf vier Seiten - taz.de
Bildungsministerin von Schleswig-Holstein: Elf Verschreiber auf vier Seiten Die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud Wende, hat ein Schreiben an den Landtag verfasst. Dabei passte sie nicht richtig auf. Nervig, denkt sich die habilitierte Literaturwissenschaftlerin. Bild: dpa KIEL dpa/taz | Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Waltraud Wende (parteilos) hat nach einem Bericht der Welt vom Samstag einen offiziellen Brief mit zahlreichen Rechtschreibfehlern verschickt. In dem Schreiben an den Finanz- und den Bildungsausschuss des Landtags, das ihre Unterschrift trägt, fänden sich auf vier knappen Seiten drei Tippfehler, drei Kommafehler, vier weitere Grammatikfehler und eine falsche Trennung, berichtet die Zeitung. In dem Brief mit Datum 2. Juli geht es um das Lehrkräftebildungsgesetz. „Das war die iPhone-Falle“, sagte Ministeriumssprecher Thomas Schunck der Welt. Die Ministerin habe von unterwegs unter Zeitdruck über das iPhone schnell ein paar Änderungswünsche am – fehlerfreien – Originalschreiben durchgegeben. Diese seien dann zwar eingefügt, aber nicht mehr korrigiert worden. Die Änderungen habe die Ministerin „reintelefoniert“. „Sie gibt das nur durch, jemand anderes tippt“, sagte Schunck der Nachrichtenagentur dpa. „Die Fehler ärgern uns.“ Ob die Ministerin den Brief vor oder nach den Änderungen unterschrieb, konnte der Sprecher nicht sagen. Wende ist habilitierte Literaturwissenschaftlerin und war bis zu ihrem Amtsantritt Präsidentin der Universität Flensburg. Sie steht wegen der geplanten Reform der Lehrerbildung seit Wochen in der Kritik. Der Entwurf sieht vor, Lehrer künftig nur noch für zwei Stufen, für Grund- und Oberstufe, auszubilden. Von der Reform würde Wendes ehemaliger Arbeitgeber, die Universität Flensburg, profitieren, wo derzeit Lehrkräfte für Grund-, Förder- und Gemeinschaftsschulen ausgebildet werden. Der Rechnungshof kritisierte „Doppelstrukturen“. Die oppositionelle CDU und FDP warfen Wende „Korruption, Selbstbedienungsmentalität, Vetternwirtschaft“ vor, bislang jedoch keine „Lese-, Rechtschreibschwäche“.
taz. die tageszeitung
Die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud Wende, hat ein Schreiben an den Landtag verfasst. Dabei passte sie nicht richtig auf.
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Burdas Frauen-Erotik-Magazin: Neues Heft für alte Säcke - taz.de
Burdas Frauen-Erotik-Magazin: Neues Heft für alte Säcke Der Burda-Verlag versucht sich an Erotik für Frauen - und liefert Altherrenschwulst. Oder was sagen Sie zu geilen Frauen mit verruchtem Blick und Nippelhütchen? Irgendwie an der Zielgruppe vorbei: Alley Cat. Bild: burda Das neue Erotik-Magazin für Frauen ist da. Nein! Halt! Falsch! Das neue Erotik-Magazin für alte lüsterne Säcke ist da. Die sich in einem weiteren Magazin Brüste von jungen Frauen in mädchenhaften Softpornoposen angucken wollen. Dabei hatte Chefredakteurin Ina Küper doch vor, ihren Leserinnen "auf Augenhöhe" zu begegnen, wie der Burda-Verlag (Focus, Bunte) verlauten lässt. Und nannte deswegen das Magazin Alley Cat. Das ist Englisch und heißt unter anderem "streunende Katze", "Flittchen" oder auch "Straßendirne". Neben den geilen Frauen mit verruchtem Blick hat der Bildredakteur - ja, der ist ein echter Mann - dann natürlich noch ein paar Alibi-Männer in Fußballtrikots - äh: Baumwollslips - abgelichtet. Das ist dann aber auch irgendwie an der Zielgruppe vorbei: Klar, keiner schwitzt schöner als Ballack. Aber Fußball? Auch vorbei am Thema ist Küper mit dem Begriff "sexuelles Selbstbewusstsein", von dem sie im Editorial schreibt. Wer Alley Cat nicht nur wegen der Bilder kauft, sondern auch liest, erfährt, dass 29 Prozent aller Frauen es besser als Sex finden, wenn sie wieder in eine zu eng gewordene Jeans passen, dass das weibliche Gesäß "DAS Trend-Accessoire" sei. Dafür gibts für die aufgeklärte Leserin zum Schnäppchenpreis aber nichts Gesäßtaugliches, sondern - Nippelhütchen. Und die Modestrecke mit der Ode an den Bleistiftrock beflügelt wohl auch eher die Sekretärinnensexfantasien eines verklemmten Büroheinis. Außer Vibratorentipps und einem Bericht über eine Sadistin ist die Frau hier leider eher Objekt als Subjekt. Meinte Ina Küper am Ende eher "sexuelle Selbsterniedrigung"?
Julia Fritzsche
Der Burda-Verlag versucht sich an Erotik für Frauen - und liefert Altherrenschwulst. Oder was sagen Sie zu geilen Frauen mit verruchtem Blick und Nippelhütchen?
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Kommentar Rückzug des Dalai Lama: Die Demokratie kommt von oben - taz.de
Kommentar Rückzug des Dalai Lama: Die Demokratie kommt von oben Der Dalai Lama will seine Landsleute offenbar ermutigen, sich politisch mehr zu engagieren. Dennoch wird er nach innen wie nach außen wichtigste Figur bleiben. Der Dalai Lama hat den Rückzug von seinen politischen Ämtern angekündigt - nicht zum ersten Mal, aber zwei Dinge sind bemerkenswert: Erstens waren derartige Ankündigungen in der Vergangenheit zumeist mit konkreten Ereignissen verbunden - beim Volksaufstand vom März 2008 zum Beispiel drohte er damit, sofern die Tibeter Gewalt ausübten. Zweitens werden die Abstände zwischen den Ankündigungen immer kürzer; zuletzt Ende November hatte sein Privatsekretär erklärt, der Dalai Lama erwäge, von seinem Amt als weltliches Oberhaupt zurücktreten. Bemerkenswert ist auch der Zeitpunkt: Nach monatelangen Vorwahlen in den Exilgemeinden geht die Entscheidung über einen neuen Ministerpräsidenten im Exil am 20. März in die entscheidende Runde. Als Favorit gilt der Harvard-Absolvent Lobsang Sangay, der nicht zum tibetischen Establishment in Nordindien gehört. Mit der Ankündigung will das tibetische Oberhaupt offenkundig die demokratischen Institutionen stärken und seine in Freiheit lebenden Landsleute motivieren, sich an dem Meinungsbildungsprozess zu beteiligen. Damit erhält die Wahl eine größere Bedeutung und der neue Amtsinhaber wird aufgewertet. Die Demokratisierung der Tibeter im Exil ist eine Demokratisierung von oben. Der AutorKlemens Ludwig ist freier Autor der taz. Selbst bei einem Rückzug aus den politischen Ämtern wird der Dalai Lama nicht in der Versenkung verschwinden. Seine weit wichtigere Funktion als geistliches Oberhaupt ist davon unberührt. Er bleibt für den tibetischen Freiheitskampf die wichtigste Integrationsfigur nach innen und der überzeugendste Vermittler nach außen. Die Tibeter sind jedoch gut beraten, die Botschaft zu hören und in der Entwicklung ein Chance zu sehen, statt - wie in der Vergangenheit - den Dalai Lama zu bitten, den Rückzug vom Rückzug anzutreten.
Klemens Ludwig
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Rückholaktion wegen Coronavirus: Deutsche aus Wuhan auf Heimflug - taz.de
Rückholaktion wegen Coronavirus: Deutsche aus Wuhan auf Heimflug Sobald die Passagiere in Deutschland gelandet sind, sollen sie 14 Tage in Quarantäne bleiben. In China stieg die Zahl der Erkrankten auf rund 12.000. Reisende am Pekinger Flughafen Foto: reuters WUHAN dpa/afp | Ein Flugzeug der Bundeswehr hat mehr als 120 Deutsche und andere Staatsbürger aus der schwer vom Coronavirus betroffenen Metropole Wuhan in China ausgeflogen. Nach der Rückholaktion kommen die Passagiere für 14 Tage in Quarantäne. Die Epidemie in China erlebte am Samstag den bisher höchsten Anstieg der Infektionen und Toten innerhalb eines Tages. Die Gesundheitskommission in Peking meldete einen Zuwachs um fast 2.000 auf 11.791 Erkrankte. Die Zahl der Todesfälle kletterte um 46 auf 259. In Deutschland steckte sich erstmals ein Kind an. Die Zahl der Fälle stieg auf sieben. Der Vater des Kindes ist ein infizierter Mann aus dem Landkreis Traunstein. Wie das bayerische Gesundheitsministerium mitteilte, wurde zudem bei einem Mann aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck die Lungenkrankheit bestätigt. Er arbeitet wie die ersten fünf Infizierten beim Autozulieferer Webasto. Außerhalb der Volksrepublik wurden bisher in zwei Dutzend Ländern rund 150 Infektionen gezählt. Für die Rückholung der Deutschen aus Wuhan startete der Airbus A 310 der Luftwaffe um 02.22 Uhr MEZ (09.22 Uhr Ortszeit) vom Flughafen des schwer von der Lungenkrankheit heimgesuchten Wuhan in Zentralchina, wie das Einsatzführungskommando berichtete. Die Maschine wird nach einem Zwischenstopp am Samstagmittag in Frankfurt/Main erwartet. Kurz vor dem Start machte sich Erleichterung breit: „Glücklich am Gate zu sein“, berichtete eine Frau, die namentlich nicht genannt werden wollte, der Deutschen Presse-Agentur. Die Gruppe hatte sich schon am Vorabend am Flughafen versammelt und musste dort die Nacht verbringen. „War bis hier doch alles schon ganz schön anstrengend.“ Nach ihren Angaben wurden 126 Personen gezählt. Ann-Sophie Muxfeldt, deutsche Studentin in Wuhan„Ich bin wirklich sehr traurig. Ich konnte ja meinen ganzen Freunden nicht richtig ‚Tschüss‘ sagen“ „Ok, jetzt geht es zurück nach Deutschland für unbestimmte Zeit“, sagte die Studentin Ann-Sophie Muxfeldt am Flughafen dem Norddeutschen Rundfunk. „Man weiß eben nicht, wird es möglich sein zurückzukommen in nächster Zeit“, sagte die Rostockerin, die seit September in Wuhan studiert hatte. „Ich bin wirklich sehr traurig. Ich konnte ja meinen ganzen Freunden nicht richtig „Tschüss“ sagen.“ Nach einem mehr als zehnstündigen Flug war die Maschine am frühen Morgen in Wuhan gelandet. Nach früheren Angaben sollten rund 90 Bundesbürger und etwa 40 andere Staatsbürger ausgeflogen werden. Für ihre 14-tägige Quarantäne ist eine zentrale Unterbringung in einer Ausbildungskaserne auf dem Luftwaffenstützpunkt Germersheim in Rheinland-Pfalz vorgesehen – 100 Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt. Auch die USA, Japan, Südkorea und andere Länder haben Staatsbürger aus Wuhan geholt oder planen Rückholaktionen. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ erklärt hatte, riefen die USA eine eigene „gesundheitliche Notlage“ aus. Ausländische Reisende aus China werden wegen des Ansteckungsrisikos nicht mehr ins Land gelassen – mit Ausnahme von Angehörigen von US-Staatsbürgern. Der von US-Präsident Donald Trump erlassene Bann gilt ab Sonntag (23.00 Uhr MEZ). US-Staatsbürger, die in den 14 Tagen zuvor in Wuhan oder der umliegenden Provinz Hubei waren, müssen sich für bis zu zwei Wochen in Quarantäne begeben. Amerikaner, die in anderen Teilen Chinas waren, sollen sich selbst für zwei Wochen isolieren. Bislang gibt es sechs Fälle des Coronavirus in den USA. 45 Millionen in der Provinz Hubei abgeschottet „Es ist mit Sicherheit keine Geste des guten Willens“, kritisierte Chinas Außenamtssprecherin. Während die Weltgesundheitsorganisation von Reisebeschränkungen abrate, gingen die USA in die entgegengesetzte Richtung und setzten ein „schlechtes Beispiel“. Viele Länder hätten China ihre Hilfe angeboten, sagte die Sprecherin. Sie verwies auf die Redensart „In der Not erkennt man seine Freunde“. Was die USA täten, basiere nicht auf Fakten und sei nicht hilfreich. Die Regierung in Australien ein Einreiseverbot gegen Reisende aus China verhängt. Von dem Verbot ausgenommen seien australische Staatsbürger, Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht sowie deren Angehörige, erklärte Premierminister Scott Morrison am Samstag. Das Außenministerium in Canberra verschärfte seine Reisehinweise für China und empfiehlt Australiern nun, auf Reisen in die Volksrepublik zu verzichten. Erstmals meldete auch Spanien eine Infektion: Betroffen sei ein Deutscher auf der Kanareninsel La Gomera, der mit einem der in Deutschland infizierten Patienten in Kontakt gewesen sein soll, teilte die Regierung mit. Insgesamt waren fünf Deutsche in La Gomera getestet worden, die in Kontakt mit einem Mann gekommen sein sollen, bei dem in Deutschland das Virus nachgewiesen wurde. In Deutschland hat sich das erste Kind angesteckt Auslöser der Ansteckungen in Deutschland waren ein oder zwei chinesische Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto. Das Unternehmen nannte neben der bereits bekannten Frau auch einen Mann, der ebenfalls in Deutschland gewesen sei. Alle infizierten deutschen und chinesischen Mitarbeiter seien in längeren Meetings am Firmensitz der Zentrale in Stockdorf gewesen, berichtete das Unternehmen. Die infizierten Chinesen sind nach der Rückkehr in ihre Heimat erkrankt. Das erste Kind, das sich in Deutschland angesteckt hat, liegt wie der Vater in einem Krankenhaus in Trostberg. Die Ärzte gehen davon aus, dass die ganze Familie infiziert ist – sie wurde auf eigenen Wunsch zusammen untergebracht. Die anderen Mitglieder müssten aber noch nachgetestet werden. Der Mann habe drei Kinder im Alter zwischen einem halben Jahr und fünf Jahren. Wegen der Lungenkrankheit ist China praktisch zum Stillstand gekommen. In der hart betroffenen Provinz Hubei wurden 45 Millionen Menschen abgeschottet. Alle Verkehrsverbindungen sind dort gekappt. Landesweit werden Überlandbusse gestoppt, Züge und Flüge reduziert. Die Ferien zum chinesischen Neujahrsfest wurden verlängert: Schulen, Universitäten und Kindergärten bleiben geschlossen, Fabriken stehen still und Büros sind verriegelt. Nach Ikea oder H&M schließt auch Apple bis mindestens 9. Februar seine Läden.
taz. die tageszeitung
Sobald die Passagiere in Deutschland gelandet sind, sollen sie 14 Tage in Quarantäne bleiben. In China stieg die Zahl der Erkrankten auf rund 12.000.
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Kommentar Erschossener Jugendlicher: Ferguson ist überall - taz.de
Kommentar Erschossener Jugendlicher: Ferguson ist überall In Ferguson zeigt sich das Erbe des Rassismus in den USA. Er reicht von der Sklaverei über die Segregation bis hin zur Benachteiligung von Minderheiten. Wie eine Besatzungsarmee: weiße Polizisten und schwarzer Protestierender. Bild: dpa Sechs Kugeln, die ein Polizist in den Körper und Kopf eines unbewaffneten und mit erhobenen Händen vor ihm stehenden Teenagers gejagt hat, haben Ferguson in das Zentrum der USA katapultiert. Nach tagelangen friedlichen Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen für Michael Brown, nach immer neuen Polizeiprovokationen mit Worten und mit militärischen Taten und nachdem die nächtlichen Plünderungen nicht aufhören wollen, soll jetzt die Nationalgarde in dem kleinen Ort für Ruhe sorgen: das Militär. Der Krieg ist damit offiziell in Missouri angekommen. Die erste Verantwortliche für die Situation ist die lokale Polizei. Sie hat sich mit Kriegswaffen aus Beständen des Pentagon ausgestattet. Sie hat fast ausschließlich weiße Beamte in der mehrheitlich schwarzen Stadt eingesetzt. Und sie hat sich wie eine Besatzungsarmee aufgeführt. Jeder schwarze Mann in Ferguson kann von Erniedrigungen und Angst im Umgang mit der Polizei berichten. Anschließend haben die Polizeichefs ihre ganze Energie darauf verwendet, das Geschehene zu vertuschen. Sie haben Demonstranten wie Kriminelle behandelt und ins Visier ihrer Kriegswaffen genommen. Und als der örtliche Polizeichef – unter dem Druck aus Washington – nach fünf Tagen endlich die Identität des Todesschützen bekannt gab, sagte er nichts zum Hergang der Todesschüsse. Er nutzte aber die Gelegenheit, um posthum den Ruf des Toten zu zerstören. All das ist wie aus dem Lehrbuch zur Eskalation eines Konfliktes. Und genau das ist passiert. Jetzt befindet sich Ferguson in einem Ausnahmezustand, in dem nachts die Straße allein den Uniformierten und einigen Plünderern gehört, von denen niemand weiß, wer sie sind und woher sie kommen. Aber Ferguson ist nicht nur das Resultat falscher und aggressiver polizeilicher Strategien. In Ferguson zeigt sich zugleich das bittere Erbe eines jahrhundertelangen Rassismus in den USA, der von der Sklaverei über die Segregation bis hin zu selektiven Benachteiligungen von Minderheiten reicht, der bis heute nicht wirklich überwunden ist. Ferguson ist überall. Sozial, politisch und polizeilich benachteiligte Minderheiten, die räumlich abgetrennt von der Mehrheitsbevölkerung leben, existieren in Großstädten wie New York, Chicago und Los Angeles und auch mitten im „tiefen Amerika“. Jeder einzelne dieser Orte ist ein potenzielles Pulverfass.
Dorothea Hahn
In Ferguson zeigt sich das Erbe des Rassismus in den USA. Er reicht von der Sklaverei über die Segregation bis hin zur Benachteiligung von Minderheiten.
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Die Wahrheit: Löcher im Gehirn - taz.de
Die Wahrheit: Löcher im Gehirn Leidet Julian Reichelt an Rinderwahnsinn? Eine infame Kampagne untergräbt die Glaubwürdigkeit des vorbildlichen „Bild“-Chefredakteurs. Kein Zyniker, sondern ein einfühlsamer und warmherziger Menschenfreund: Julian Reichelt Foto: Imago Der Bild-Chefredakteur Julian Reichelt hat es nicht leicht. Ständig wird er angefeindet, obwohl er nur seine Arbeit macht und sich redlich darum bemüht, den Fußstapfen seines unvergessenen Vorvorgängers Kai Diekmann zu folgen. In einem Podcast fragte der Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner den gebeutelten Reichelt kürzlich: „Wie gehst du mit dieser negativen Energie um? Man kann sagen, es gehört zum Job, aber wie schafft man es, dabei nicht zum Zyniker zu werden oder nicht zu verhärten? Was macht das mit dir?“ Worauf Reichelt erwiderte, es gebe mittlerweile ein „Ausmaß an Beschimpfungen, wie ich es mir selber nicht hätte vorstellen können“. Doch gottlob ist er darüber eben nicht zum Zyniker geworden, sondern das geblieben, was er immer war: ein vorbildlicher Journalist, ein ebenso nachdenklicher wie einfühlsamer und warmherziger Menschenfreund und zugleich ein ritterlicher Vorkämpfer des Guten, Wahren und Schönen. Viele erinnern sich noch an die von Reichelt höchstpersönlich verfasste Bild-Schlagzeile „Macht das Tor auf!“, die erschien, als es mit der deutschen Willkommenskultur in der Flüchtlingskrise vorbei war, oder an die bewegenden Worte, die er fand, als ihm an einem und demselben Tag der Geschwister-Scholl-Preis, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte zuerkannt worden waren: „Olé, olé, olé, olééééé …“ Um so rätselhafter ist die Wut, die Reichelt allenthalben entgegenschlägt. Und es bleibt nicht bei Schmähungen. Es werden bösartige Gerüchte verbreitet, die ihm schaden sollen. Da heißt es zum Beispiel, er schummele beim Dominospielen und er habe seine zwei Meerschweinchen auf die Namen Mathias und Friede getauft. Noch gemeiner ist die Falschmeldung, dass er an Rinderwahnsinn erkrankt sei. Man erkenne das, so wird in einschlägigen Internetforen behauptet, an Reichelts Gedächtnisstörungen, seiner Aggressivität und nicht zuletzt an schwammartigen Löchern in seinem Gehirn, die für diese Krankheit typisch seien. Man kann darüber streiten, ob Reichelt tatsächlich einige Symptome der bovinen spongiformen Enzephalopathie aufweist. Verbürgt ist nur, dass er gern Leichenfotografen ausschickt, die „für die Marke Bild brennen“, und dass er bei seiner Verdachtsberichterstattung regelmäßig schneller zuschlägt als die Polizei. Aber leidet er wirklich an Rinderwahnsinn? Der Tiermediziner Dr. Albert Schulte vom Pharmazeutischen Institut der Universität Kiel gibt Entwarnung. „Manche Aussetzer lassen sich auch mit einem niedrigen IQ erklären“, hat er in einem Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt geäußert. „Ich würde darauf tippen, dass Herr Reichelt geistig einfach unterhalb der Möglichkeiten operiert, die dem Durchschnittsbürger zur Verfügung stehen. Er zeigt ein Verhalten, das abnorm ist, aber nicht unbedingt krankhaft sein muss. An seiner Stelle würde ich den Beruf wechseln. Vielleicht steckt in Herrn Reichelt ja ein mittelmäßig begabter Fußpfleger oder jemand, der kleine Haustiere ausführen und füttern kann. Wir dürfen niemanden verloren geben. Das finde ich ganz, ganz wichtig. Gerade und besonders auch im Hinblick auf Underperformer wie Julian Reichelt, die der Gesellschaft noch beweisen müssen, dass sie etwas können.“ Speerspitze der Aufklärung Zu einem anderen Schluss kommt Dr. med. Oliver Sullivan von der Johns Hopkins University, der die „Mad Cow Disease“ seit zwanzig Jahren untersucht: Er plädiert dafür, Reichelt sofort in Quarantäne zu nehmen und ihn mindestens ein Dreivierteljahr lang von allen anderen Säugetieren abzusondern. Branchen-Insider wittern hinter alledem das abgekartete Spiel einer linken Allianz, die mit unlauteren Methoden gegen Reichelt vorgeht, weil sie es nicht erträgt, dass er die Bild-Zeitung zur Speerspitze der Aufklärung über das Aussehen von toten Unfallopfern geformt hat. Im übrigen können Reichelts Gedächtnisstörungen nach Auskunft von Experten auch völlig harmlose Ursachen haben. „Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass er in seiner Jugend ein paarmal zu oft vom Dreirad gefallen ist“, sagt der Psychotherapeut Dr. Hans-Michael Frieß von der Bad Nauheimer Burghof-Klinik. „Oder, dass er unmittelbar nach seinem Vorstellungsgespräch bei Springer in einen Spiegel geschaut und sich dabei eine traumatische Belastungsstörung zugezogen hat. Ich erörtere diesen Fall bereits seit Wochen mit meinen Kollegen vom Royal College of Psychiatrists in London und der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry. Wir werden die Ergebnisse unserer Forschung in Kürze in der Zeitschrift Scientific Review of Mental Health Practice zur Diskussion stellen …“ Bis dahin gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung, auch wenn Reichelt mit seinen Kommentaren den Eindruck erweckt, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. „Dass der Staat niemals Menschenleben abwiegen darf gegen ein anderes Gut, ist eine noble Idee, die der Realität leider nicht immer standhält“, schrieb Reichelt im April 2020 in Bild, als er noch zu klein war, um die Verben „abwiegen“ und „abwägen“ auseinanderhalten zu können. Und er fügte hinzu: „Die Stärke der Demokratie ist, dass sie auch die unbequemsten Debatten aushält.“ Nun wartet ganz Deutschland gespannt auf den Ausgang der unbequemen Debatte über Reichelts Geisteszustand. Bei Tipico, Xtip und Happybet werden sogar schon Wetten angenommen. Der Höchsteinsatz beträgt zur Zeit zwei Eurocent. Die Wahrheit auf taz.de
Gerhard Henschel
Leidet Julian Reichelt an Rinderwahnsinn? Eine infame Kampagne untergräbt die Glaubwürdigkeit des vorbildlichen „Bild“-Chefredakteurs.
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Feier zum 100. Geburtstag Nordirlands: Heikler Gottesdienst in Armagh - taz.de
Feier zum 100. Geburtstag Nordirlands: Heikler Gottesdienst in Armagh Die Einladung zur Messe bringt Irlands Politik in Bedrängnis – es ist auch der Jahrestag der Teilung der Insel. Präsident Higgins wählte die Absage. Irlands Präsident Higgins mit seiner Frau vor seiner Residenz in Dublin Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters DUBLIN taz | Eine Einladung kann eine zweischneidige Sache sein. Am Donnerstag findet im nordirischen Armagh, wo sowohl die protestantische, als auch die katholische Kirche Irlands ihren Hauptsitz hat, ein Gottesdienst zur Feier des hundertsten Geburtstags Nordirlands statt. Veranstaltet wird die Messe von den Oberhäuptern der vier christlichen Religionen Irlands. Königin Elisabeth II. war eingeladen und auch der irische Präsident Michael D. Higgins. Die Organisatoren wussten, dass sie ihn dadurch in Schwierigkeiten bringen würden, denn der Geburtstag Nordirlands ist naturgemäß auch der Jahrestag der Teilung der Insel. Wie immer sich Higgins entscheiden würde, Kritik war ihm sicher. Er entschied sich für eine Absage. War zunächst von einer Feier zur Versöhnung und zum Frieden die Rede, so hieß es in der offiziellen Einladung, die Veranstaltung solle „den hundertsten Jahrestag der Teilung Irlands und der Gründung Nordirlands begehen“. Higgins sagte: „Was als Einladung zu einem Gottesdienst begann, ist zu einem politischen Statement geworden.“ Deshalb sei eine Teilnahme für ihn als Staatsoberhaupt unangemessen. Die Debatte um den Gottesdienst hat vorübergehend Brexit und Nordirlandprotokoll aus den Schlagzeilen verdrängt. Erwartungsgemäß sind Nordirlands Unionisten wütend auf Higgins und werfen ihm vor, die Queen zu brüskieren. Kritik kam auch aus Regierungsparteien in Dublin Aber auch aus den Parteien der Dubliner Regierungskoalition kam Kritik. Der frühere Premierminister John Bruton von der konservativen Fine Gael sagte, Higgins hätte die Einladung annehmen müssen, denn das hätte dem Willen des irischen Volkes entsprochen. Das Volk sieht das anders: 68 Prozent erklärten bei einer Meinungsumfrage, der Präsident habe sich richtig entschieden. Nur 17 Prozent sagten, er hätte die Einladung annehmen sollen. Die Iren mögen ihren Präsidenten. Higgins, ein kleiner Mann mit zerzausten weißen Haaren, der von allen „Michael D.“ genannt wird, ist im April 80 Jahre alt geworden. Er ist liberal, 2018 wurde er für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Die Regierung schickt statt seiner den Außenminister Simon Coveney von der konservativen Fine Gael und den Fianna-Fáil-Fraktionsführer Jack Chambers zum Gottesdienst nach Armagh. Für beide Parteien ist die Veranstaltung ein Giftbecher. Einerseits will man die Unionisten und die britische Regierung nicht verärgern, andererseits ist mit der Teilnahme am Gottesdienst keine Wählerstimme zu ergattern. Im Gegenteil: Nicht zuletzt deswegen hat Sinn Féin, der ehemalige politische Flügel der inzwischen aufgelösten Irisch-Republikanischen Armee (IRA), nun zehn beziehungsweise zwölf Prozent Vorsprung vor den Regierungsparteien. Die nordirische Bürgerrechtlerin Bernadette McAliskey, die 1969 unter ihrem Geburtsnamen Devlin mit 21 Jahren als jüngste Abgeordnete aller Zeiten ins Londoner Unterhaus gewählt wurde, hatte schon vor Wochen prophezeit, dass die Queen in letzter Minute absagen würde, weil der Gottesdienst in Armagh „für sie irgendwie kontaminiert“ sei. Das tat sie denn auch am Mittwoch – auf ärztliches Anraten, ließ der Buckingham-Palast verlauten. Stattdessen kommt der britische Premier Boris Johnson. Er ist bei den Unionisten wegen des Nordirlandprotokolls verhasst, durch das eine Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland gezogen wird, und will nun verlorenen Boden wettmachen. Nordirlands Unionisten wütend auf Higgins und warfen ihm vor, die Queen zu brüskieren Higgins bleibt dem Zirkus fern und gibt stattdessen in seinem Amtssitz in Dublin einen Empfang für die Gesellschaft für statistische und soziale Untersuchungen.
Ralf Sotscheck
Die Einladung zur Messe bringt Irlands Politik in Bedrängnis – es ist auch der Jahrestag der Teilung der Insel. Präsident Higgins wählte die Absage.
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Raketenabschuss-System der Nato: Abwehr gegen die Abwehr - taz.de
Raketenabschuss-System der Nato: Abwehr gegen die Abwehr Die Patriot-Raketen der Bundeswehr sollen Teil des europäischen "Raketenschilds" werden. Linksfraktion und Grüne befürchten eine neue Rüstungsspirale. Sollen künftig für die Nato schießen: deutsche Patriot-Abschussrampen. Bild: reuters BERLIN/GENF taz | Große Zweifel haben Linke und Grüne daran geäußert, welchen Sinn der geplante Nato-"Raketenschild" für Europa sowie die deutsche Beteiligung daran haben. "Dieses Abwehrsystem trägt nicht zur Sicherheit Europas, sondern zur Destabilisierung bei", sagt der Linken-Verteidigungspolitiker Paul Schäfer, "es birgt die Gefahr, dass es eine neue Rüstungsspirale gibt". Am Donnerstag war bekannt geworden, dass USA und Nato die Kommandozentrale für das Abwehrsystem auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein ansiedeln wollen. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte zudem die Bereitschaft, die in Deutschland stationierten Patriot-Raketen für das Projekt zur Verfügung zu stellen. Dies sei reine Symbolik, kritisierte Paul Schäfer: "Jeder weiß, dass die Patriots dafür ungeeignet sind." Grünen-Verteidigungspolitikerin Agnieszka Brugger sagte, de Maizières Ankündigung habe überrascht. "Bislang hieß es, Deutschland werde sich nicht mit Hardware beteiligen", sagte Brugger. Kosten und politische Konsequenzen des Abwehrsystems, das seit langem von den USA und seit 2010 offiziell von der Nato geplant wird, seien nicht absehbar: "Die Notwendigkeit abzurüsten wird dadurch konterkariert." Auf der Samstag beginnenden Münchner Sicherheitskonferenz wird der "Raketenschild" für Streit sorgen. Russische Politiker weisen seit Jahren darauf hin, dass sie ein Raketenabwehrsystem, von dem viele Teile in der Nähe zur eigenen Grenze aufgebaut werden sollen, mindestens als Affront empfinden. "Ausweitung der Bedrohungsperzeption" Eine aktuelle Studie des Militärforschers Jerry Sommer für die Linksfraktion im Bundestag zeichnet nach, dass USA und Nato längst nicht mehr nur den Iran als Grund dafür anführen, eine Raketenabwehr in Europa aufzubauen. Vielmehr arbeite die US-Regierung an einer "Ausweitung der Bedrohungsperzeption" und verweise auf bis zu 30 Staaten mit Raketen. Die Patriot ist eine bodengestützte Rakete zur Abwehr von Flugzeugen, Marschflugkörpern sowie von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 1.000 Kilometern und niedriger Flugbahn. Raketen aus dem Nahen oder Mittleren Osten, die Ziele in Deutschland erreichen sollen, hätten jedoch eine weit größere Reichweite und höhere Flugbahn. Deshalb sind die Patriot-Systeme der Bundeswehr untauglich zu deren Abwehr. Die US-amerikanischen Rüstungskonzerne Lockheed und Raytheon entwickelten und produzierten die Patriot ab 1969. Die Ursprungsversion der Rakete, genannt PAC-1, wurde erstmals von den USA im zweiten Golfkrieg ab Januar 1991 zur Abwehr von Scud-Raketen, die Irak auf Israel und Saudi-Arabien abschoss, eingesetzt. Unabhängige Untersuchungsberichte nannten später eine Trefferquote von unter 10 Prozent. Seither wurden die Nachfolgeversionen PAC-2 und PAC-3 mit "verbessertem Kampfwert" entwickelt. Mit der PAC-3 erzielten die US-Streitkräfte im Irakkrieg von 2003 laut Pentagon "große Erfolge" beim Abschuss irakischer Raketen. Seit 1985 sind US-Streitkräfte in Deutschland mit dem Patriot-System bewaffnet. Die Bundeswehr verfügt derzeit über bis zu 192 Abwehrraketen der Versionen PAC-2 und PAC-3. Das Verteidigungsministerium kündigte zuletzt eine Reduzierung der Bestände an.
U. Winkelmann
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Straßenbahn bettet sich neu - taz.de
Straßenbahn bettet sich neu Domsheide, Ostertorstraße und Wilhelm-Kaisen-Brücke bekommen neue Gleise mit Stoßdämpfung. Nächstes Jahr fahren breitere Straßenbahnen Bremen taz ■ Während der Sommerferien erneuert die BSAG die Straßenbahnschienen im Bereich Domsheide, in der Ostertorstraße und auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke. Die Baumaßnahmen beginnen heute und dauern bis zum 2. Oktober. Kostenpunkt: 4,7 Millionen Euro. Ein Ersatz von Schienen ist in der Regel alle 10 bis 15 Jahre fällig. Die Gleise auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke liegen aber bereits seit 1975, im Bereich Domsheide erneuerte die BSAG seit 1987 nicht mehr. Hier werden zwölf Weichen an drei Kreuzungen jährlich je 180.000 Mal gestellt. „Eine Erneuerung ist dringend notwendig, sonst werden die ständigen Nachbesserungsarbeiten einfach zu teuer“, sagt BSAG-Vorsitzender Georg Drechsler. Der Eindruck, dass die BSAG ständig Schienenbaustellen habe, rühre daher, dass das Unternehmen bei knapp 80 Kilometern Streckennetz etwa acht Kilometer pro Jahr ersetzen müsste. Alternativ können abgenutzte Schienen auch „aufgeschweißt“ werden. Die Verlängerung der Lebensdauer sei aber begrenzt: „Genau wie beim Autoreifen – wenn Sie den zweimal erneuern, kann der beim dritten Mal auch weg“, erläutert Drechsler. Seit zehn Jahren etwa verbreitert die BSAG bei jeder Schienenerneuerung das Gleisbett um etwa 30 Zentimeter. Der Grund: Ab Ende nächsten Jahres fährt ein neues Modell auf Bremens Straßenbahnschienen. Das ist etwas breiter als die alten Züge und bietet dementsprechend mehr Fahrgästen Platz. An der Domsheide und auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke muss die BSAG allerdings nicht mehr verbreitern. Aufgrund des reichlich vorhandenen Platz sind die Gleisbette hier schon immer recht breit gewesen. Die neue Straßenbahn kommt zunächst auf der Linie 6 Richtung Uni zum Einsatz. „Hier haben wir so viele Fahrgäste, dass wir in Stoßzeiten alle drei Minuten fahren“, sagt Martin Nussbaum, der bei der BSAG für die Angebotsplanung zuständig ist. Der neue Zug soll genauso viele Straßenbahnfahrer wie bisher bei einer Frequenz von fünf Minuten transportieren. „Jede Bahn, die wir weniger fahren, spart uns eine halbe Million Betriebskosten pro Jahr“, erklärt Drechsler die Motivation für die Umrüstung. Die soll in spätestens 15 Jahren abgeschlossen sein, wenn alle Gleise und der komplette Fuhrpark ausgetauscht sind. Ein weiterer Effekt der Gleiserneuerung, so Drechsler, sei mehr Komfort. „Die neuen Gleise unterschäumen wir mit einem speziellen Kunststoff - der dämpft das bekannte Ruckeln in der Innenstadt, wo die Schienen direkt auf der Straße liegen.“ Etwa die Hälfte der Gleise in der City verfüge allerdings bereits über Stoßdämpfung. ado Die Bauarbeiten in den Sommerferien haben Umleitungen und Fahrtenstreichungen zur Folge. Diese und der allgemeine Sommerfahrplan sind auf der BSAG-Homepage (www.bsag.de) nachzulesen.
ado
Domsheide, Ostertorstraße und Wilhelm-Kaisen-Brücke bekommen neue Gleise mit Stoßdämpfung. Nächstes Jahr fahren breitere Straßenbahnen
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Aufblasen, abspritzen, fertig - taz.de
Aufblasen, abspritzen, fertig POP-UP Zwei Studenten entwickeln ein Material, für das sich auch das Militär interessiert VON ANNA POLONYI Stellen Sie sich ein Haus vor, das man aufblasen kann wie eine Luftmatratze – mit dem Unterschied, dass es am Ende so hart wird wie Beton. Diese Vision hatten die beiden angehenden Ingenieure Peter Brewin und William Crawford, als sie ein Material entwickelten, das auf Stoff basiert und hart wird, sobald man es mit Wasser benetzt. Mit ihrer Erfindung nahmen Brewin und Crawford an zahlreichen Wettbewerben teil und gewannen unter anderem den Innovation Award der British Cement Association. Im Anschluss gründeten sie die Firma Concrete Canvas und realisierten das „Gebäude aus der Tüte“. Für das Produkt interessierten sich schließlich nicht nur Baufirmen, sondern auch das Militär. Die Erfindung könnte aber auch die Erstellung von Notunterkünften revolutionieren. Innerhalb von 24 Stunden kann man damit eine quasi dauerhafte Unterkunft schaffen, hinzugefügt werden muss nur Wasser. Für einen 25 Quadratmeter großen Schutzraum braucht man etwa sechs Badewannen voll. Die fertige Unterkunft sieht aus wie eine riesige Eierschale und wiegt etwa drei Tonnen, was verhältnismäßig wenig ist. Das Aufblasen der Hülle dauert etwa zwanzig Minuten. Dann werden die Seiten am Boden festgepflockt, die Falten geglättet, alles mit Wasser bespritzt – und das Ganze muss nur noch aushärten. Beton halte zwar gut, sei aber nicht flexibel genug, erklärt Brewin aus der Zentrale der Firma in Southern Wales. „Die Herausforderung bestand darin, den Beton hart werden zu lassen, ohne dass er Risse bekommt“, sagt Brewin. „Deshalb haben wir Stoff benutzt.“ Bis jetzt wurden in der ganzen Welt erst etwa ein Dutzend der Betonzelte aufgebaut, die hauptsächlich vom Militär genutzt werden. Auch bei einigen Hilfsorganisationen, zum Beispiel in Uganda, haben die Erfinder schon angefragt – doch diese für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, ist schwieriger als gedacht: „Baut man eine quasi dauerhafte Notunterkunft, wenn man es mit einer vorübergehenden Notsituation zu tun hat?“, fragt Brewin. „Unsere Gebäude halten etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre. Viele Flüchtlingslager bestehen so lange, aber das möchte niemand zugeben.“ Das neue Material mag zwar noch nicht dort genutzt werden, wo es am dringendsten gebraucht wird, aber es hat sich wegen seines relativ geringen Gewichts und der kurzen Zeit, in der es montiert werden kann, bereits unter sehr schweren Bedingungen als nützlich erwiesen. Als Ingenieure in Chile im Jahr 2011 einen Kanal bauten, der auf 5.000 Meter Höhe Gletscherwasser führen sollte, war Concrete Canvas genau das Material, das sie dafür brauchten. Aus dem Englischen von Heike Brandt
ANNA POLONYI
POP-UP Zwei Studenten entwickeln ein Material, für das sich auch das Militär interessiert
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Brand in Oakland: Wenn Gentrifizierung tötet - taz.de
Brand in Oakland: Wenn Gentrifizierung tötet In einem illegalen Club sterben bei einem Brand mehr als 30 Menschen. Warum das nicht die Schuld der Veranstalter ist. Menschen trauern um die Opfer in Oakland Foto: ap Es sollte eine lange Partynacht werden am Freitag in Oakland – mit verschiedenen DJs und einem Auftritt der Band „Golden Donna“. Doch um kurz nach 23 Uhr bricht ein Feuer aus. Mindestens 33 Menschen sterben dabei, zwei Dutzende werden noch vermisst. Die Brandursache ist unklar. Veranstaltungsort war das „Ghost Ship“ – ein Lagerhaus, in dem 18 Künstler_innen illegal gewohnt und Veranstaltungen organisiert haben sollen. Laut Feuerwehr glich das Haus einem Labyrinth. Es gab weder genügend Notausgänge noch Sprinkleranlagen, die Brandschutzverordnung wurde nicht erfüllt. Jetzt wird nach Schuldigen gesucht: Die Künstler_innen, weil sie dort illegal wohnen und sich selbst und andere dadurch in Gefahr begeben? Die Polizei, die von dem Haus wusste und es nicht räumen ließ? Die Bay Area, früher ein Zuhause für Literat_innen und Musiker_innen, bietet heute vor allem Raum für Techfirmen und Besserverdienende. Die Mieten sind für Künstlerinnen häufig nicht zu bezahlen. Da bleibt das Besetzen leerstehender Häuser meist die einzige Alternative. Problem größer als Oakland Die Sängerin Kimya Dawson, die selbst schon häufig auf illegalen Veranstaltungen performt hat, spricht das Problem in einem Facebook-Post an: „Es gibt nicht genügend Plätze für uns, um zusammen zu kommen.“ Dabei spielen nicht nur hohe Mieten eine Rolle, sondern auch Missstände in der Clubszene. Fehlende Inklusion und Toleranz machen diese Orte für sie noch unsicherer als ein illegal besetztes Haus. Diese Problematik, dass jungen und mittellosen Künstler_innen kein Raum gegeben wird, gibt es nicht nur in der Bay Area. Sondern überall, wo Gentrifizierung ungenügend reguliert wird – ob in New York, London oder Berlin. Dabei ist es gerade diese künstlerische Szene, die Städte lebenswert und attraktiv macht. An Akteur_innen mangelt es dabei nicht, was fehlt, ist eine Politik, die beides zu liefern bereit ist: Freiraum und Sicherheit.
Carolina Schwarz
In einem illegalen Club sterben bei einem Brand mehr als 30 Menschen. Warum das nicht die Schuld der Veranstalter ist.
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Berlin öffnet Außengastronomie: Beteiligung unklar - taz.de
Berlin öffnet Außengastronomie: Beteiligung unklar Seit Freitag dürfen Kneipen und Restaurants draußen wieder servieren. Wie viele mitmachen, ist offen. Besucher können täglich einen Test machen. Mit dem Impfausweis ins Cafe: Berlin am Freitag Foto: dpa BERLIN dpa | Wie viele Kneipen und Restaurants in Berlin die Außengastronomie über Pfingsten tatsächlich öffnen, ist nach Angaben des Berliner Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga unklar. Der größere Aufwand wegen der Corona-Regeln erschwere die Entscheidung, sagte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Gerrit Buchhorn am Freitag. „Es gibt auch Betriebe, die sagen: Das ist mir alles viel zu aufwendig mit dem Testen.“ Die Kontrolle der Testergebnisse oder Impfnachweise sei in jedem Fall ein Mehraufwand, der Zeit in Anspruch nehme. Die Kontrollen gleich am Eingang zu machen, sei zwar sinnvoll. Buchhorn geht aber davon aus, dass die Betriebe das unterschiedlich umsetzen. „Das hängt auch von deren Größe ab.“ Ob der höhere Aufwand für die Wirte auch zu höheren Preisen führt, sei schwer einzuschätzen. „Wenn ich Gastronom wäre, würde ich die Kosten des Mehraufwands natürlich mit berechnen“, sagte Buchhorn. „Alles andere wäre Verlust.“ Der Dehoga plant für Ende nächster Woche eine Umfrage unter den Berliner Gastronomen, um herauszufinden, wie viele bereits geöffnet haben und wie das Geschäft angelaufen ist. Noch seien viele Fragen offen: Dazu gehört nach Einschätzung des Verbands auch, ob es sich für die Berliner Bars rechnet, die Außengastronomie zu öffnen. Ab 23 Uhr dürfe schließlich kein Alkohol mehr verkauft werden, sagte Buchhorn. „Wir müssen schauen, wie sich das entwickelt.“ Unklar sei auch, wie viele Gastronomen ihren Gästen die Möglichkeit anbieten, einen Schnelltest zu machen – so wie zum Beispiel im „Zollpackhof“. „Das ist auch ein gewisser Aufwand und benötigt eine gewisse Größe.“ Nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz in Berlin seit Längerem stabil unter dem wichtigen Schwellenwert von 100 liegt und die Bundes-Notbremse nicht mehr greift, dürfen Gaststätten ihre Außengastronomie seit Freitag wieder öffnen. Unterdessen stellte die Gesundheitsverwaltung klar, dass Menschen in Berlin bei Bedarf täglich einen Corona-Schnelltest machen können. Es gebe keine rechtliche Begrenzung auf nur einen Test pro Woche, sagte der Sprecher der Senatsverwaltung, Moritz Quiske. In der entsprechenden Verordnung des Bundes heißt es, Tests könnten „im Rahmen der Verfügbarkeit von Testkapazitäten mindestens einmal in der Woche in Anspruch genommen werden“. Eine Obergrenze sei dort aber nicht genannt, sagte Quiske. Entsprechend seien Tests mehrmals in der Woche oder auch täglich möglich. Kapazität von 4 Millionen Schnelltests Eine Grenze setzt auch in Berlin die in der Verordnung genannte „Verfügbarkeit von Testkapazitäten“. Derzeit seien fast vier Millionen Schnelltests pro Woche möglich, sagte Quiske. Die Zahl der Teststellen nehme außerdem ständig weiter zu. Derzeit seien es rund 1.200, überwiegend sogenannte Test-to-Go Stellen, wie zum Beispiel Apotheken oder Einkaufszentren sie anbieten. Hinzu kommen 26 senatseigene Testzentren. Bisher wurden die Testkapazitäten nach Angaben der Gesundheitsverwaltung bei weitem nicht ausgeschöpft. Für viele Berlinerinnen und Berliner war die Frage, wie viele Schnelltests pro Woche erlaubt sind, bisher eine eher theoretische. Das dürfte sich allerdings ändern, je mehr Lockerungen der Corona-Maßnahmen es gibt, die an den Nachweis eines negativen Testergebnisses gebunden sind, wie eben der Besuch der Außengastronomie. Viele weitere für Juni in Aussicht gestellte Lockerungsschritte sind ebenfalls an solche Vorgaben gebunden. In anderen Bereichen – etwa beim Friseurbesuch – gilt die Testpflicht bereits seit längerem.
taz. die tageszeitung
Seit Freitag dürfen Kneipen und Restaurants draußen wieder servieren. Wie viele mitmachen, ist offen. Besucher können täglich einen Test machen.
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22.03.2017: taz.meinland Albersdorf: Vom Winde verweht - taz.de
22.03.2017: taz.meinland Albersdorf: Vom Winde verweht Aktuelle Pressemitteilungen der taz Das Thema Windkraft polarisiert in ganz Schleswig-Holstein, besonders aber im Kreis Dithmarschen. Einige Mitglieder des Bürgerinitiativen-Netzwerks Dithmarschen setzen sich unter anderem gegen den „Wildwuchs“ von Windkraftanlagen ein. Sie fordern etwa größere Abstände zwischen den Anlagen und den Wohnhäusern. Wegen Lärmbelästigung und Schlagschatten könnten die Häuser in den besonders stark betroffenen Ortschaften, wie Wesselburen, Sankt Michaelisdonn oder Barlt, an Wert verlieren. Einige Einwohner dieser Dörfer sehen sich als Verlierer der Energiewende. Gemeindevertretungen, die über die Köpfe der Bürger hinweg planen, wenn es um Windkraftanlagen geht, bereiten ihnen Unmut. Dithmarschen deckt bereits ein Vielfaches seines eigenen Strombedarfs, ein beträchtlicher Anteil der Fläche in der Region ist mit Windkraftanlagen zugebaut. Andererseits: Windkraft gilt für eine grüne Energiewende als unverzichtbar, schafft Jobs, verdrängt den Umweltkiller Braunkohle – und soll von Dithmarschen aus auch in den Süden der Republik exportiert werden. Doch in der Region wollen manche den Kampf des Don Quijote weiterführen. Was spricht dafür, was spricht dagegen? taz.meinland will es wissen. Neben allen Interessierten begrüßen wir dazu: • Eike Ziehe, Bürgerinitiativennetzwerk Dithmarschen (BIND-SH) • Erk Ulich, Kreis Dithmarschen, Fachdienst Bau, Naturschutz und Regionalentwicklung • Norbert Pralow, BUND Dithmarschen • Detlef Matthiessen, Landtagsfraktion Die Grünen, zuständig für Energiepolitik und Tierschutz • Ulrich Schmück, FDP-Direktkandidat im Landtagswahlkreis Dithmarschen Schleswig • Detlef Matthiessen, Landtagsfraktion Die Grünen, zuständig für Energiepolitik und Tierschutz • Patrick Breyer, Piratenpartei Schleswig-Holstein, Fraktionsvorsitzender • Dr. Kuno Veit, Facharzt für Allgemeinmedizin im Kreis Dithmarschen • Johannes Grützner, Leiter der Abteilung Energie, Klima- und Ressourcenschutz im Ministerium für Energiewende Moderation: David Joram, Malaika Rivuzumwami, taz-RedakteurInnen Wann: Mittwoch, 29. März 2017, 19.00 Uhr Wo: Halle 22, Dithmarsenpark 9, 25767 Albersdorf Der Eintritt ist frei. taz.meinland ist die Veranstaltungsreihe der taz im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017: taz on tour für die offene Gesellschaft – in fünfzig Diskussionsveranstaltungen kommt die taz zu ihren Leserinnen und Lesern, zu Interessierten im ganzen Land. Wohin steuert Deutschland in Zeiten der Globalisierung, des weltweiten Aufstiegs von populistischen Strömungen, eines möglichen Zerfalls von Europa? Weitere Informationen zur taz-Veranstaltungsreihe taz.meinland finden Sie unter www.taz.de/meinland. Pressemitteilung als PDF aufrufen.
taz. die tageszeitung
Aktuelle Pressemitteilungen der taz
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■ Plädoyer für die doppelte Staatsbürgerschaft: Die Reform muß kommen! - taz.de
■ Plädoyer für die doppelte Staatsbürgerschaft: Die Reform muß kommen! Der Konsens wächst. Der Konflikt auch. Die CSU hat kategorisch erklärt: Keine erleichterte Einbürgerung für hier lebende Noch-nicht-Deutsche. Von der Bonner Ausländerbeauftragten ist ein guter Vorschlag gekommen – allerdings bisher nur für die Öffentlichkeit, anscheinend nicht fürs Parlament. Die CDU hofft, daß sie sich halb hinter der CSU und halb hinter Frau Schmalz-Jacobsen verstecken kann. Die SPD hat einen Gesetzentwurf zur „Erleichterung der Einbürgerung und Hinnahme der Doppelstaatsangehörigkeit“ eingebracht, der im Bundestag beraten wird. Seit den Lichterketten haben sich viele Initiativen gebildet: Erleichtert Einbürgerung, erlaubt die doppelte Staatsbürgerschaft! Macht Schluß mit den alten Zöpfen des „Reichsrechts“ von 1913, wonach Abstammung das entscheidende Kriterium für „Deutschsein“ ist. Diese Rechtstradition spricht aller Wirklichkeit moderner Gesellschaften Hohn, auch der deutschen. Aber immer noch geistert die Mär durchs Land, wir seien kein Einwanderungsland, wir seien das mehr oder weniger lupenreine Volk. Ein gefährliches Märchen. Es gibt Zehntausende farbige Deutsche, die es bitter leid sind, dreimal am Tag gefragt zu werden, woher sie stammen. Es gibt Zehntausende eingebürgerte Deutsche, die ihre Kindheit irgendwo in der Welt verbracht haben. Die oft von ihren Nachbarn nicht als deutsche Staatsbürger anerkannt werden. – Wir müssen jetzt endlich lernen: Staatsbürgerschaft ist etwas anderes als Abstammung. Die Zugehörigkeit kann erworben werden durch den Rechtsakt der Einbürgerung. Staatsbürgerschaft schützt vor Rassismus nicht. Sie konnte die Deutschen jüdischer Abstammung nicht vor der Vernichtung durch die Diktatur schützen. Und Rassismus gibt es auch in anderen westeuropäischen Staaten. Aber bei uns ist Rassismus immer noch mit dem tödlichen Alptraum verbunden, man könne „die anderen“ ganz und gar loswerden. Auch darum braucht unsere Demokratie jetzt die Reform des Einbürgerungsrechts – als Signal gegen den Rassismus. Die Reform muß kommen. Es gibt in allen Fraktionen viele Abgeordnete, die sie wollen. Wenn der Gesetzentwurf jetzt abgeblockt werden sollte, dann muß wie beim Paragraphen 218 der fraktionsübergreifende Gruppenantrag kommen. Denn das Staatsbürgerrecht unseres Landes ist eine sehr grundsätzliche Frage, die unsere Vorstellungen von der offenen zivilen Gesellschaft berührt. Diese Reform muß noch in dieser Wahlperiode begonnen werden. Sie darf nicht vom Wahlhürdenlauf im nächsten Jahr verdrängt werden. Freimut Duve MdB der SPD und im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages
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Soundtrack von BRD-Filmnoir-Klassiker: Sleazy Swing für den Würger - taz.de
Soundtrack von BRD-Filmnoir-Klassiker: Sleazy Swing für den Würger Der Soundtrack des Schweizer Jazzmusikers Bruno Spoerri für „Der Würger vom Tower“ bereitet Vergnügen. Mehr als der 1966 gedrehte Film selbst. Bruno Spoerrie vor seinem Instrumentenpark, vermutlich in 1970ern Jahren Foto: Finders Keepers Mit der schweizerisch-deutschen Koproduktion „Der Würger vom Tower“ versuchte Filmproduzent Erwin C. Dietrich 1966 sich an den Erfolg der deutschen Edgar-Wallace-Verfilmungen dranzuhängen. Schon der Filmtitel spekulierte darauf, dass sich das Publikum an den „Würger von Schloss Blackmoor“ erinnert fühlte oder beide Werke gar verwechselte. Eine kluge Marketing­strategie, denn von sich aus würde „Der Würger vom Tower“ kein Hit werden, so viel war klar. Der Plot war diffus, die Schauspielerinnen und Schauspieler wirkten wie aus Holz, und die Stadtbilder müssen ohne Menschen auskommen, weil das Budget für einen Dreh in London nicht reichte. Trotzdem strahlt der einzige Kinofilm des ansonsten fürs Fernsehen tätigen Regisseurs Hans Mehringer einen eigenen Zauber ab, vielleicht im Rückblick sogar noch stärker als zu seiner Entstehungszeit. Die Handlung ist so offensichtlich deutsch; auch wenn die Scotland-Yard-Beamten englische Namen tragen, sagen die Schauspieler weitgehend ausdruckslos Sachen: Etwa „Der Bursche hat uns ganz schön zu schaffen gemacht“, oder „Ich würde auf meine Beförderungsaussichten verzichten, wenn ich diesen Kerl erwischen könnte“. Auch sonst wirkt das Geschehen habituell eher postnazistisch. Und nicht britisch. Insofern ist „Der Würger vom Tower“ stählernes BRD-noir-Kino. Der Soundtrack trägt seinen Teil zu dem sanft bekloppt wirkenden Treiben bei. Der Jazz-Musiker Bruno Spoerri – ein Pionier der elektronischen Musik in der Schweiz – hat für Dietrichs Film ein bumsfideles Jazz-Titelthema komponiert, das zu jeder Gelegenheit – Establishing Shot, Verfolgungsjagd, Mordszene – ertönt, zur allgemeinen Erheiterung von Zuschauerin und Zuschauer. Aus den Archiven des Obskuren Spoerris Soundtrack ist jetzt zum ersten Mal auf Vinyl und als Download erschienen, wieder ausgegraben vom in den Archiven des Obskuren sehr bewanderten Label Finders Keepers aus Manchester. Und der heute 87-jährige Bruno Spoerri hat, das wird erst deutlich, wenn man seine Auftragsmusik ohne die Bilder hört, viel kompositorischen Aufwand zur Vertonung des Thrillers betrieben. Zum Gewinn und zur Freude von Hörerin und Hörer. Der Würger vom TowerBruno Spoerri: „Der Würger vom Tower“ OST (Finders Keepers/Morr Music/Indigo Die nämlich bekommen neben dem sleazigen Swing („Jane Flees (Jazz Chase)“), bewusst infantile Kinderorgelmelodien („Der Würger vom Tower 2 (Oxfords on Oxford Street)“), Gruselchöre („To the Brothers of Compensatory Righteousness Holy Root Give Us a Sign“) und ekstatische Percussion vorgesetzt. Man kann an diesen Skizzen, entstanden zu Anfang von Spoerris musikalischer Karrie­re, hören, dass sich hier bald einer Richtung Avantgarde und weg von der Funktionsmusik aufmachen wird. Spoerri, von Haus aus Psychologe, spielte später mit George Gruntz und Tony Oxley im Trio und leitete in den siebziger Jahren das Zürcher Jazz-Festival. Am Stück gehört, hat Spoerris Filmmusik durchaus psychedelische Qualitäten, klingt aber zugleich staubtrocken, kalkuliert und latent trashig. Und trifft damit den Geist des Films sehr genau. Das Leitthema wiederum ist mit seiner Gitarrenmelodie und einem wunderschönen Saxofon-Solo Spoerris schlicht toller Jazz. Es fällt auf, wie viel gestalterische Intelligenz beim Soundtrack von ihm aufgewendet wurde und wie wenig für die Bilder. Gerade in diesem Gegensatz ist „Der Würger vom ­Tower“, der auch unter dem nicht minder schönen Titel „Großalarm bei Scotland Yard“ kursierte, recht faszinierend. Nichts stimmt wirklich an der Handlung dieses Streifens, trotzdem entfaltet er eine eigensinnige Atmosphäre, vermutlich aus Versehen. Und die kommt im Wesentlichen von der Musik Bruno Spoerris. Ohne die Bilder wirkt sie eigentlich noch besser als mit ihnen.
Benjamin Moldenhauer
Der Soundtrack des Schweizer Jazzmusikers Bruno Spoerri für „Der Würger vom Tower“ bereitet Vergnügen. Mehr als der 1966 gedrehte Film selbst.
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Nach dem Tod von Abu Bakr Al-Baghdadi: Rätselraten um den neuen IS-Chef - taz.de
Nach dem Tod von Abu Bakr Al-Baghdadi: Rätselraten um den neuen IS-Chef Abu Ibrahim Al-Hashimi Al-Kuraischi soll der neue Kalif des sogenannten Islamischen Staates sein. Wer ist das? Mutmaßungen über ein Phantom. US-Einheiten beim Angriff auf den Wohnsitz des vorherigen IS-Chefs Abu Bakr al-Baghdadi Foto: reuters KAIRO taz | Die Bestätigung des Todes des alten und die Ernennung des neuen Chefs des IS, des sogenannten Islamischen Staates, kam wie erwartet über das Internet und wurde über den IS-Medien-Arm Al-Furqan verbreitet, drei Tage nachdem US-Präsident Donald Trump den Tod des IS-Kalifen Abu Bakr Al-Baghdadi verkündet hatte. In der Audio-Erklärung, vermeintlich vom neuen Sprecher des IS, Abu Hamza Al-Qurashy gesprochen, heißt es, man trauere um Abu Bakr Al-Baghdadi, den Kommandeur der Gläubigen. Der Ältestenrat der heiligen Krieger hätte sich zusammengesetzt, um einen Nachfolger zu bestimmen, der unter dem Namen Abu Ibrahim Al-Hashimi Al Kuraischi vorgestellt wird. In der siebenminütigen Ankündigung werden keine weiteren Details über den Hintergrund des neuen IS-Chefs offengelegt. Seitdem wird spekuliert, wer hinter dem Kampfnamen stecken könnte. Warum der Neue den Namen Al-Kuraischi trägt, könnte damit zu tun haben, dass der IS versucht, ihn religiös zu legitimieren, da dieser Name beweisen soll, dass es sich um einen Nachkommen des Propheten Muhammad handelt. Mit großer Wahrscheinlichkeit Iraker Der IS bezieht sich dabei auf die Sammlung von Überlieferungen des Propheten, die der islamische Rechtsgelehrte Al-Buchari im 9. Jahrhundert gesammelt hat. In seiner Sammlung interpretiert er eine der Überlieferungen so, dass der religiöse Führer aus der Kuraisch-Linie stammen sollte. Der IS hat diese Interpretation bei der Wahl eines Kalifen scheinbar übernommen. Es wird auch viel darüber gemutmaßt, welche Nationalität der neue IS-Chef hat. Laut dem irakischen Experten für militanten Islam, Hassan Abu Haneya, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er Iraker ist. Denn vor allem im engen Zirkel um den getöteten Baghdadi und in den obersten Rängen des IS für militärische und Sicherheitsbelange, befinden sich überdurchschnittlich viele Iraker, die sich aus der Zeit im Kampf gegen die US-Besatzung im Irak kennen und die zum Teil dort gemeinsam in US-Gefangenlagern saßen. Viele von ihnen waren ehemalige Offiziere der irakischen Armee unter Saddam Hussein, die der US-Besatzungsverwalter Paul Bremer nach dem Irakkrieg auflösen ließ. Es gibt aber auch andere Spekulationen: Dass es sich um einen Tunesier, Ägypter oder Jordaniern, oder wegen des Namens Kuraischi, um einen Saudi handeln könnte, ohne das weiter zu untermauern. Wer aber steckt hinter dem Kampfnamen? Ein Name, der öfters fällt, ist Abdullah Qardash, der schon eine Weile als Baghdadis möglicher Vize gehandelt worden war. Er ist auch bekannt als Abu Omar Al-Turkamni, was darauf hinweist, dass er der turkmenischen Minderheit im Irak angehört. Ehemaliger Offizier der irakischen Armee? Laut dem irakischen Fernsehsender Al-Sumaria soll es sich bei ihm um einen ehemaligen Offizier der irakischen Armee handeln, der nach dem Sturz Saddam Husseins mit Al-Qaida im Irak zusammengearbeitet hatte und Baghdadi wahrscheinlich aus der gemeinsamen Haftzeit im US-Gefangenlager „Camp Bucca“ im Irak kennt. Qardash soll Baghdadi in der irakischen Stadt Mossul empfangen haben, nachdem diese vom IS erobert worden war. Von dort hatte Baghdadi auch im Sommer 2014 das Kalifat und sich selbst als Kalifen des IS ausgerufen. Laut dem irakischen Terrorexperten Abu Haniya habe Qardash danach die Abteilung für Öffentliche Sicherheit in Syrien und dem Irak geleitet, und hatte damit innerhalb des IS eine wichtige Rolle inne. Später soll er als eine Art Verteidigungsminister des IS fungiert haben und war auch unter dem Namen Al-Hashimi, „der Zerstörer“ bekannt. Abu Haneya erwartet, dass der neue IS-Chef noch gewaltsamer als sein Vorgänger vorgehen wird und eine noch striktere Interpretation des Islam vertritt. Oft versucht der IS mit einer ganze Reihe von Kampfnamen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern, die wahre Identität der Führungsebene zu verschleiern Bestätigt sind all diese Informationen bisher nicht. Oft versucht der IS mit einer ganze Reihe von Kampfnamen, die sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern, die wahre Identität der Führungsebene zu verschleiern. Dabei steckt der IS aber in einem Dilemma: Einerseits will er aus Sicherheitsgründen und um den neuen Chef zu schützen, nur so wenig Informationen wie möglich über den neuen IS-Kalifen veröffentlichen. Gleichzeitig aber möchte die militante Islamistenorganisation auch ihre Anhänger hinter dem neuen IS-Chef zum Durchhalten mobilisieren und sich derer Treue versichern – doch einem Phantom huldigt es sich nur schlecht.
Karim El-Gawhary
Abu Ibrahim Al-Hashimi Al-Kuraischi soll der neue Kalif des sogenannten Islamischen Staates sein. Wer ist das? Mutmaßungen über ein Phantom.
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Verlust der Topratings: Paris und Wien in Erklärungsnot - taz.de
Verlust der Topratings: Paris und Wien in Erklärungsnot Die Ratingagentur Standard & Poor's hat Frankreich und Österreich von "AAA" auf "AA+" abgewertet. In beiden Ländern freut sich die Opposition. "S rkozy" - so titelte die französische Tageszeitung Libération nach der Abwertung. Bild: reuters PARIS/WIEN taz | Nach dem Verlust des Bestratings AAA der US-Ratingagentur Standard & Poors für ihre Kreditwürdigkeit gab sich die Regierung in Frankreich demonstrativ gelassen, die in Österreich ging auf Abwehr. Der französische Premierminister François Fillon erklärte, er rechne mit keinen direkten wirtschaftlichen Folgen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der demnächst wiedergewählt werden will, sah sich von der Opposition mit seiner eigenen Erklärung vom Dezember konfrontiert, wenn Frankreich das Triple-A verliere, dann "bin ich erledigt". Tatsächlich kann es für Frankreich noch schlimmer kommen. S&P hat seine Wertung mit der Anmerkung "Perspektive negativ" versehen. Premier Fillon verwies jedoch auf die USA, die ihre Topbonität bei S&P im Sommer verloren hätten, aber weiter günstig Geld aufnehmen könnten. Allerdings verfügen die USA mit dem Dollar über ein eigenes Währungsinstrument und sind nicht an eine kriselnde Gemeinschaft gebunden. Unterstützt wird Fillon von Philippe Waechter, Direktor für Wirtschaftsforschung bei der Bank Natixis, der sagt, die Herabstufung sei "mehr ein Frage der [verletzten] Ehre, wird aber auf den Alltag wenig Auswirkungen haben". Frankreich muss zur Finanzierung seiner 1,6 Billionen Euro Schulden 2012 180 Milliarden neu aufnehmen. Ein zusätzlicher Prozentpunkt bei den Zinsen würde den Schuldendienst um rund 2 Milliarden Euro verteuern - und womöglich einen Vertrauensverlust bei den Banken bedeuten, die Paris bisher als exzellenten Schuldner schätzten. Österreichs teure Nachbarn Die Herabstufung von Österreich begründete S&P mit dessen wirtschaftlicher Verflechtung mit den krisengeschüttelten Nachbarn Ungarn und Italien. Vor allem die Banken, die mit Investitionen von 40 Milliarden Euro in Ungarn Marktführer sind, fürchten Verluste. Aber auch die Exporte dürften angesichts der schwindenden Kaufkraft der Magyaren leiden. Allerdings hatten die Ratingagenturen Moodys und Fitch erst Ende 2011 ihr Toprating für Österreich bestätigt, obwohl die Krisen in Italien und Ungarn auch da schon virulent waren. Finanzministerin Maria Fekter nahm die Herabstufung zum Anlass, neuerlich für eine Schuldenbremse in der Verfassung zu werben. Für dieses Vorhaben, das die Agenturen besänftigen soll, braucht die Koalition eine Verfassungsmehrheit und damit die Stimmen zumindest einer dritten Partei. Im Herbst hatten sich zwar die Grünen sowie die beiden rechtspopulistischen Parteien FPÖ und BZÖ gesprächsbereit gezeigt, jedoch für ihre Zustimmung Gegenleistungen gefordert, die zumindest eine der Regierungsparteien unannehmbar fand. Die FPÖ fordert die Aufwertung von Plebisziten, das BZÖ eine Deckelung der Steuerquote in Verfassungsrang, die Grünen wollen eine zusätzliche Besteuerung der Vermögenden. Ob die neue Beurteilung auch das Zinsniveau für Österreichs Staatsanleihen in die Höhe treiben wird, ist noch nicht klar. Letzte Woche konnten langfristige Papiere für 3 Prozent Rendite verkauft werden, für kurzfristige Schatzscheine zahlten Investoren wie in Deutschland gar einen geringfügigen Negativzins.
R. Balmer
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Ausländerfeindlichkeit in Bremen: Fingierte Drohung vom Amt - taz.de
Ausländerfeindlichkeit in Bremen: Fingierte Drohung vom Amt Unbekannte haben einen gefälschten Abschiebebescheid an eine Migrantin verschickt. Polizei und Staatsschutz ermitteln. Auf den ersten Blick täuschend echt: gefälschter Bescheid vom Stadtamt. Foto: Jan Zier BREMEN taz | Der Abschiebebescheid ist eine Fälschung – aber nicht für jeden sofort als solche zu erkennen. Der Briefkopf der Stadt Bremen, die Aufmachung, die Sprache des Schreibens: Vieles an diesem fingierten Brief des Stadtamtes wirkt sehr offiziell. Auch Name und Adresse sind fehlerfrei geschrieben. „Die Gültigkeit Ihres Aufenthaltstitels wurde geprüft, für nichtig erklärt und die Duldung Ihres Aufenthaltes für das Bundesgebiet endet zum 30.09.2015“. Mit diesen Worten beginnt das Schreiben, das Frau R. Montag morgen in ihrem Briefkasten vorfand. Vermutlich hat der oder die AbsenderIn ihn persönlich eingeworfen – der Umschlag kam ohne Briefmarke an. Frau R. ist um die 50, psychisch krank und hat eine sichere Aufenthaltserlaubnis bis zum März kommenden Jahres, sagt ihr Anwalt Jan Sürig. Gleichwohl wird ihr in dem Brief die „Rückführung in Ihr Heimatland“ zum 1. Oktober angedroht. Sämtliche Verträge seien „zum Datum Ihrer Deportation“ zu kündigen. Und für den Fall, dass sich Frau R. „nicht rechtzeitig für Ihre Rückführung“ melde, drohe eine Haftstrafe von bis zu 10 Jahren, „vollständige Enteignung“ und „fristlose Deportation“, heißt es am Ende. Und weiter: „Dieser Bescheid ist rechtswirksam und ohne Unterschrift gültig.“ „Natürlich ist das eine Fälschung“, sagt Sürig, auch das angegebene Aktenzeichen ist falsch. „Dennoch ist so ein Schreiben geeignet, Leute mit psychischen Erkrankungen – und nicht nur die – in Angst und Schrecken zu versetzen“, sagt der Anwalt. Sürig vermutet einen politischen Hintergrund hinter dem Schreiben, eine persönliche, private Auseinandersetzung als Anlass für „unwahrscheinlich“. Die Frau sei „eher ruhig und zurückhaltend“, sagt ihr Anwalt, und biete „wenig Angriffsfläche“. Sämtliche Verträge seien „zum Datum Ihrer Deportation“ zu kündigen, so das Schreiben Sürig hat umgehend Anzeige erstattet – eine Amtsanmaßung wird mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft, für Urkundenfälschung gibt es bis zu fünf Jahre Gefängnis. Und für den Missbrauch von Titeln und dergleichen kann es auch bis zu ein Jahr Haft geben. Polizei und Staatsschutz prüfen das Schreiben derzeit noch. Ein „ausländerfeindlicher Hintergrund ist offenkundig“, heißt es aus der Innenbehörde, ähnliche Fälschungen seien bisher in Bremen noch nicht bekannt. „Das ist widerlich“, sagte die Sprecherin des Innenressorts Rose Gerdts-Schiffler, „wir werden dem nachgehen.“ Als TäterIn käme ihrer Ansicht nach die rechte Szene in Frage, aber auch das persönliche Umfeld der Adressatin, Nachbarn etwa, oder andere „Einzeltäter“. „Das Schreiben zeugt von einer sehr manifesten rassistischen Motivation“, sagte Gundula Oerter von der Flüchtlingsinitiative, die sich in einer ersten Reaktion „geschockt“ zeigte. Ihr ist ein solcher Fall in Bremen bislang noch nicht untergekommen, auch der Flüchtlingspolitikerin der Linken, Sofia Leonidakis, nicht. „Die Boshaftigkeit“ hinter dem Schreiben „verschlägt mir den Atem“, so Leonidakis. Anderswo wurde ähnliche Post jüngst schon versandt: Im baden-württembergischen Freiburg tauchten im Juli gefälschte Schreiben über angeblich geplante Abschiebungen von AsylbewerberInnen auf, die den Briefkopf des Regierungspräsidiums trugen. Allerdings richtete sich die Post an AnwohnerInnen.
Jan Zier
Unbekannte haben einen gefälschten Abschiebebescheid an eine Migrantin verschickt. Polizei und Staatsschutz ermitteln.
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In eigener Sache – Datenklau: Redaktionsgeheimnis: Ein hohes Gut - taz.de
In eigener Sache – Datenklau: Redaktionsgeheimnis: Ein hohes Gut Das Wichtigste für uns ist, den Datendiebstahl in der Redaktion aufzuklären und das Vertrauen in die taz zurückzugewinnen. Unsere EDV-Abteilung. Bild: taz Das Redaktionsgeheimnis ist ein hohes Gut. Eine Tageszeitung lebt nicht nur vom Vertrauen, das ihr die LeserInnen entgegenbringen. Interviewpartner oder Informanten müssen sich darauf verlassen können, dass die Aussagen und Sachverhalte, mit denen sie sich an die Zeitung wenden, in guten Händen sind und bleiben. Wichtig ist aber auch das Vertrauen, das innerhalb einer Redaktion herrscht. Die KollegInnen müssen sich gewiss sein können, dass alle, die in einer Redaktion arbeiten, im Sinne der Berichterstattung an einem Strang ziehen. Dieses Grundvertrauen ist in der vergangenen Woche in der taz erschüttert worden, als ein Mitarbeiter dabei beobachtet wurde, wie er einen sogenannten Keylogger aus dem USB-Slot eines Redaktionscomputers abgezogen hat. Mittels eines Keyloggers lassen sich die Eingaben, die ein Benutzer an seinem Computer macht, protokollieren. Passwörter sind dabei meist das Erste, was protokolliert wird. Seitdem die Vorfälle durch erste Veröffentlichungen bekannt wurden, ist in sozialen Netzwerken vom „tazgate“ die Rede. Tatsächlich haben wir es mit einer Spionageaffäre zu tun. Der Schock bei uns allen sitzt tief. Nach Erkenntnissen unserer EDV-Abteilung waren von der Schnüffelei RessortleiterInnen ebenso betroffen wie aktuelle oder ehemalige RedakteurInnen. Auch in Rechnern von Praktikantinnen wurde der Keylogger eingesetzt. Die Fassungslosigkeit über die Spähattacke dauert an. Während andere Medien bereits über den Fall berichteten, haben wir uns zunächst mit einer Bewertung des Vorgefallenen zurückgehalten. Das hatte arbeitsrechtliche und andere juristische Gründe. Zum anderen hatte es für uns Vorrang, eine interne Aufklärung der Vorkommnisse in die Wege zu leiten. Wir wollten wissen, welche MitarbeiterInnen vom Einsatz des Keyloggers betroffen waren, und diese darüber informieren. Unsere EDV-Abteilung hat dabei hervorragende Arbeit geleistet. ChronologieDie Chronologie zu den Ereignissen finden Sie hier. Nachdem der unter Verdacht stehende Mitarbeiter am Montag nicht die Möglichkeit genutzt hat, sich der taz gegenüber zu äußern, wurden arbeitsrechtliche Schritte eingeleitet. Zudem wird eine Strafanzeige gestellt. Das Wichtigste ist für uns dabei, die Vorkommnisse, so weit dies irgend möglich ist, aufzuklären und so das Vertrauen in die taz zurückzugewinnen – bei LeserInnen, Interviewpartnern und Informanten ebenso wie unter den KollegInnen.
Ines Pohl
Das Wichtigste für uns ist, den Datendiebstahl in der Redaktion aufzuklären und das Vertrauen in die taz zurückzugewinnen.
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Warten im neuen Wüsten-Hauptquartier - taz.de
Warten im neuen Wüsten-Hauptquartier In wenigen Stunden wäre die Kommandozentrale der US-Streitkräfte in Katar für einen Krieg bereit. Auch die Räume für das Pressezentrum werden schon hergerichtet. Die Bevölkerung des Emirats lehnt die Anwesenheit der Amerikaner ab und beruft sich dabei auch auf den Koran DOHA taz ■ Ein Kühlschrank surrt schon in der Ecke: Eisgekühltes Wasser steht bereit. So wie es bei Pressekonferenzen von den Rednern am Podium getrunken wird. Ansonsten sieht der Raum noch unfertig aus. Demonstrativ unfertig. „Wir wollen nicht, dass Sie berichten, hier sei schon alles bereit für den Krieg“, bestätigt Major Dan Amos, der eine kleine Gruppe von Journalisten durch das Pressezentrum führt. Durch das zukünftige Pressezentrum des zukünftigen Hauptquartiers der US-Streitkräfte am Golf, sollte man sagen. Vom Stützpunkt As-Sailiyya kurz außerhalb der katarischen Hauptstadt Doha aus soll der Krieg gegen den Irak koordiniert werden. Das Computerzentrum, von dem aus jede Flugbewegung, jeder Angriff und jede Bombe gesteuert und kontrolliert werden soll, könnte innerhalb weniger Stunden hochgefahren werden. Die Spezialisten sind zum Teil schon da, andere warten noch in den USA auf den Abflugbefehl. Dann könnte es losgehen. Auch das Pressezentrum, in dem der Oberkommandierende Tommy Franks dann seine täglichen Briefings abhalten wird – jeden Tag um 17 Uhr Ortszeit, damit das Frühstücksfernsehen in den USA die Meldungen verbreiten kann – wäre im Ernstfall schnell parat. Die Polstersessel müssen noch in Linie gerückt werden. In manchen Räumen fehlen ein paar Möbel, und in der Vorhalle ein Cola-Automat, damit die rund 200 Journalisten, die hier erwartet werden, auch etwas zu trinken bekommen. Der Geruch von Farbe wird dann dem von Atemluft, Aufregung und Hektik weichen. Und es muss natürlich noch das Herzstück des Pressezentrums installiert werden: die große Leinwand hinter dem Rednerpodium. Schließlich brauchen die Kameras Bilder, und die US-Armee will ihre Erfolgsmeldungen mit Videos und Satellitenbildern belegen. „Den Amerikanern glaubt doch eh keiner mehr“, sagt Amr. Er ist Student an der Universität von Doha: „Das ist ‚Photoshop‘-Wahrheit. Jeder weiß, wie einfach man heutzutage Bilder am Computer bearbeiten kann“, sagt er. Amr sitzt in einem Internetcafé in einer von Dohas Shopping Malls. 20 Kilometer Luftlinie sind es vielleicht bis zum Hauptquartier der Amerikaner. Im vergangenen Jahr habe er noch manchmal US-Soldaten in der Stadt gesehen. „Jetzt aber schon lange nicht mehr“, berichtet der 23-Jährige. Kein Wunder, denn die Soldaten haben zum großen Teil Ausgangsverbot oder dürfen nur unter strengen Sicherheitsbestimmungen ihre Camps verlassen. Insgesamt sind derzeit schätzungsweise 6.000 US-Soldaten in Katar stationiert. Für die Bevölkerung weitgehend unsichtbar. „Die Menschen sind nicht offen feindselig zu uns, aber auch nicht gerade freundlich“, sagt Major Dan Amos. Um Konflikte zu vermeiden, bleiben die Soldaten lieber im Camp. Die große Mehrheit der Katarer ist gegen einen Krieg im Irak und dagegen, dass die Amerikaner ihn von Katar aus führen. Katar ist ein sehr religiöses Land. Islam und Traditionen spielen eine große Rolle. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele junge Männer freiwillig für den Dschihad in Afghanistan gemeldet, und in Doha haben Islamisten aus verschiedensten Ländern ein neues Zuhause gefunden. Kein Wunder also, dass die Ablehnung des US-Hauptquartiers in erster Linie religiös begründet wird. „Es ist unrecht“, sagt der Student Amr. „In diesem Punkt sind sich alle Rechtsgelehrten einig“, sagt Hamed al-Hamed al-Marwani, Professor an der islamischen Fakultät von Doha: „Es ist islamisch verboten, den Amerikanern für diesen Angriff auf ein muslimisches Bruderland Boden zur Verfügung zu stellen.“ Scheich al-Shammari, der Vorsitzende des islamischen Gerichts von Doha, geht noch einen Schritt weiter: „Aus islamischer Sicht ist dieser Angriff abzulehnen, aber auch aus politischen, humanitären und Gründen des internationalen Rechts, sind wir Muslime dagegen“, sagt er. Der Krieg werde die gesamte Region gefährden. „Und übrigens: Wir Muslime wären auch gegen den Krieg, wenn er sich nicht gegen den Irak, sondern gegen ein nichtislamisches Land richten würde“, fügt er hinzu. Starke Worte, Kritik an der Regierung des Emirs. „Na ja, man muss auch verstehen“, sagt da der Scheich schon versöhnlicher: „Wir sind ein kleines schwaches Land, da können wir den Amerikanern schlecht unsere Gastfreundschaft verweigern. Aber recht ist es nicht.“ Katar ist ein sehr ruhiges Land. Hier wird selten demonstriert. „Das passt nicht zu uns“, erklärt Amr. „Aber vielleicht lernen wir es ja, wenn der Krieg jetzt wirklich anfängt.“ JULIA GERLACH
JULIA GERLACH
In wenigen Stunden wäre die Kommandozentrale der US-Streitkräfte in Katar für einen Krieg bereit. Auch die Räume für das Pressezentrum werden schon hergerichtet. Die Bevölkerung des Emirats lehnt die Anwesenheit der Amerikaner ab und beruft sich dabei auch auf den Koran
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Sicherungsverwahrungsfall beim EGMR: Von Straubing nach Straßburg - taz.de
Sicherungsverwahrungsfall beim EGMR: Von Straubing nach Straßburg Ein Verurteilter will freikommen. Er hält seine Verwahrung in Deutschland für einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention. Eingeschränkter Blick aus dem Fenster: Anstalt für Sicherungsverwahrung in Straubing Foto: dpa STRAßBURG taz | Der sadistische Mörder Daniel I. war 1999 zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt worden – und sitzt 2017 immer noch hinter Gittern. Über seinen Fall verhandelte am Mittwoch die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das Gericht des Europarats. Der Schreinergeselle Daniel I. war 19, als er 1997 in einem Wald bei Kelheim eine Joggerin ­erdrosselte und über der Leiche onanierte. Zwei Jahre später wurde er wegen Mordes zu zehn Jahren Jugendhaft verurteilt. ­Sicherungsverwahrung war damals für Täter, die nach Jugendstrafrecht verurteilt wurden, ­gesetzlich noch nicht vorgesehen. Deshalb hätte Daniel I. 2008 freikommen müssen, obwohl er noch als gefährlich galt. Der Bundestag änderte aber das Jugendstrafrecht. Auch hier kann ein Täter nun in Sicherungsverwahrung gesteckt ­werden, wenn er nach Verbüßung der Strafe weiter als gefährlich gilt. So geschah es mit Daniel I. Allerdings kassierte das Bundesverfassungsgericht 2011 diese und ähnliche Gesetzesverschärfungen. Daniel I. wurde dennoch nicht entlassen. Stattdessen ordnete das Landgericht Regensburg 2012 erneut Sicherungsverwahrung an. Ein Gutachter hatte ihm krankhaften sexuellen Sadismus mit hoher Rückfallgefahr attestiert. Seit Juni 2013 sitzt Daniel I. in einer neu erbauten Einrichtung in Straubing. Sein Rechtsvertreter Markus Mavany hält das für rechtswidrig: „Das ist eine neue Strafe für den begangenen Mord.“ Strafen dürften aber nicht rückwirkend verhängt oder nachträglich verlängert werden. „Die Einrichtung in Straubing ist auf dem Gelände des Gefängnisses, die Fenster sind vergittert und im Flur gibt es Videoüberwachung“, so der Anwalt. 550 Sicherungsverwahrte in Deutschland Die Unterbringung sei von einer therapeutischen Einrichtung weit entfernt. Mavany nahm damit auf alte Urteile des EGMR Bezug, die veranlassten, dass rund 40 deutsche Schwerverbrecher aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden, weil diese faktisch eine zweite Strafe sei. Für die Bundesregierung konterte Rechtsprofessor Thomas Giegerich: „In Straubing gibt es eine Unterbringung ähnlich wie in einem psychiatrischen Krankenhaus, das ist keine Strafe mehr.“ Er weiß, dass der EGMR einen rückwirkend angeordneten oder verlängerten Gewahrsam nur bei psychisch Kranken akzeptiert. „Der Mord ist nicht der Grund für die heutige Unterbringung von Daniel I., sondern seine Gefährlichkeit bei einer Entlassung“, argumentierte der Professor. Es gehe um Prävention. Daniel I. komme sofort frei, wenn er nicht mehr gefährlich sei. Es gebe einen detaillierten individuellen Therapieplan für Daniel I. „Er könnte Fortschritte machen – wenn er kooperieren würde“, so der Staatsvertreter. Um die Anforderungen aus Straßburg und Karlsruhe zu erfüllen, habe Deutschland rund 200 Millionen Euro in neue Gebäude investiert und viel zusätzliches Personal angestellt. Derzeit gibt es in Deutschland rund 550 Sicherungsverwahrte. Nach 2011 hat der EGMR schon einige Beschwerden von Straftätern abgelehnt, die als psychisch krank eingestuft wurden, um sie nicht entlassen zu müssen. Diesmal entscheidet erstmals die mit 17 Richtern besetzte Große Kammer. Es geht also um ein Grundsatzurteil, das aber erst in einigen Monaten verkündet wird.
Christian Rath
Ein Verurteilter will freikommen. Er hält seine Verwahrung in Deutschland für einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention.
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Neonazis durchdringen Stadtteil: Landnahme von rechts - taz.de
Neonazis durchdringen Stadtteil: Landnahme von rechts In Hannover-Ahlem bedrohen Rechtsradikale eine junge Frau rassistisch und schänden die dortige Gedenkstätte. Die Zivilgesellschaft reagiert kaum. Erneut von Nazis geschändet: die „Wand der Namen“ in der Gedenkstätte Ahlem Foto: Olaf Döring/Imago HANNOVER taz | Es sind verstörende Botschaften, die Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Gedenkstätte Ahlem vergangene Woche auf der „Wand der Namen“ vorfinden. Rechtsextreme Propaganda und Verherrlichung des Nationalsozialismus überdecken an mehreren Stellen die über 3.000 dunklen Steintafeln. Namen, Geburts- und Todesdaten sollen auf dem Außengelände der früheren israelitischen Gartenbauschule eigentlich an jene erinnern, die in dem zur Gestapo-Außenstelle gemachten Gebäude auf dem Weg in den Tod inhaftiert oder gleich hier ermordet wurden. Es handle sich nicht nur um Sachbeschädigung, sondern um einen „abscheulichen“ Angriff auf das Gedenken an die Opfer der Verbrechen des Nationalsozialismus, sagt der hannoversche Regionspräsident Steffen Krach (SPD). Die Region Hannover als Betreiberin der Gedenkstätte Ahlem habe Anzeige erstattet. Die Polizei bestätigt, der für politische Kriminalität zuständige Staatsschutz ermittle. „Diese Beleidigungen und der Hass gegen die Opfer des Nationalsozialismus machen überdeutlich, wie wichtig die Erinnerungsarbeit der Gedenkstätte Ahlem ist und dass wir Antisemitismus mit Erinnern, Aufklärung und Bildung begegnen müssen“, sagt Krach. Aktiv kommuniziert hatte die Region die Schmierereien nicht. Die taz wurde durch einen Tipp aufmerksam. Die rechtsextremen Hassbotschaften an der Gedenkstätte sind ein weiterer Höhepunkt im Kampf um den öffentlichen Raum im beschaulichen Ahlem. Wer durch den 12.000-Seelen-Stadtteil im Westen von Hannover läuft, würde wohl auf den ersten Blick nicht darauf kommen, dass Rechtsextreme versuchen, diesen als ihr Gebiet zu markieren. Reihenhäuser mit adrett gepflegten Vorgärten drängen sich aneinander. Dazwischen liegen eine Kleingartenanlage und ein Tümpel, zu dem nur An­lie­ger­*in­nen Zugang haben. Ansonsten ist der Stadtteil von Wohnblocks geprägt. Ganz am Rand sind in einer ehemaligen Schule Geflüchtete untergebracht. Ein Fünftel aller Ein­woh­ne­r*in­nen hat keinen deutschen Pass. Damit liegt Ahlem im hannoverschen Durchschnitt. Ein rechter Aktivist zur Anwohnerin Hêvî Keskesor, die kurdische Wurzeln hat„Wenn ich dich das nächste Mal hier sehe, fahr' ich dich tot“ Seit Monaten überschwemmen hunderte rechte Sticker und Parolen das Viertel. Kaum ein Laternenpfosten und Stromkasten auf den Hauptstraßen sind verschont geblieben. In krakeliger Schrift steht vor dem ehemaligen Gemeindezentrum: „Antifafreie Zone“. Ein Lagebild, veröffentlicht durch das Recherche Netzwerk Hannover, sammelt die Daten zur rechtsextremen Raumnahme. Die hat bereits vor drei Jahren begonnen. Im August 2019 tauchten erstmals vereinzelte NPD-Aufkleber rund um den Endhaltepunkt der Straßenbahn auf. Im Januar 2020 wurde dann ein eingeritztes Hakenkreuz in den Gedenktafeln festgestellt, die nun wieder geschändet wurden. Im Verlauf des Jahres seien weitere Hakenkreuzschmierereien im Umfeld der Gedenkstätte aufgetaucht. Danach habe es noch vereinzelte Sticker der NPD im Stadtteil gegeben. Im März 2022 zogen die lokalen Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g*in­nen an der Gedenkstätte vorbei. In diesem Sommer tauchten dann hunderte Sticker auf. Eine neue Qualität erreichte die rechte Raumnahme im Juni – denn es blieb nicht bei Propaganda. Eine junge Deutsche mit kurdischen Wurzeln wurde an der Wunstorfer Landstraße beleidigt und bedroht, als sie eine Gruppe junger Männer beim Verkleben rechter Sticker ansprach. „Wenn ich dich das nächste Mal hier sehe, fahr ich dich tot“, habe ihr einer der Männer zugerufen, sagt Hêvî Keskesor (Name geändert) der taz am Telefon. Seitdem fühlt sie sich in Ahlem unsicher und will am liebsten wegziehen. Das kann sie sich aber nicht leisten. Nachts vermeidet sie es, unterwegs zu sein. „E-Scooter fahren, Pfefferspray in der Tasche und Handy parat – das ist meine Realität geworden“, so Keskesor. Die Polizei konnte damals zwei der mutmaßlichen Täter aufgreifen, schweigt aber zum Ermittlungsstand. Die Veröffentlichung des Recherche Netzwerks Hannover hat die Lokalpresse aufgescheucht. Bisher reagiert die Zivilgesellschaft aber eher verhalten. Lediglich der Bezirksrat entschied vor Kurzem, die Sticker entfernen zu lassen. Polizei sieht Ahlem nicht als rechten Brennpunkt Eine Beobachterin der Sitzung berichtete der taz, die CDU habe dort eher Linke als Problem ausgemacht, die die Nazi-Sticker besprühten und damit Sachbeschädigungen an den Gebäuden verübten. Die Grünen enthielten sich, da sie den Antrag der SPD aufgrund der immer wieder auftauchenden Sticker für praxisfern erachteten. Die AfD enthielt sich dagegen, weil ihr im Antrag linke Sticker fehlen – die sollten in eine Reihe mit „rassistischen, fremdenfeindlichen, homophoben, frauenverachtenden oder vergleichbaren Inhalten“ gestellt werden, so die Beobachterin. Die Polizei ermittelt weiter und konnte einen 16-jährigen Tatverdächtigen feststellen, der mehrere Graffitis gesprüht haben soll. Eine Zeugin soll ihn dabei fotografiert haben. Seit 2019 hätten sich 43 rechte Straftaten im Viertel ereignet, heißt es in einem Bericht der Polizei an den Bezirksrat. Trotz der Übergriffe und Propagandadelikte sieht die Polizei Ahlem nicht als einen Brennpunkt rechtsmotivierter Kriminalität an. Allerdings wurde ein Ermittlungskomplex geformt, wie ein Sprecher der Polizei Hannover der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sagte. Eine Anfrage der taz blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. „Ich möchte mich einfach wieder wohl fühlen“, sagt Hêvî Keskesor. Vielleicht würde es ihr helfen, wenn ein Großteil der Nachbarschaft Zivilcourage zeigte. Erst vor wenigen Wochen war sie wieder mit den immer mutiger werdenden Rechten im Stadtteil konfrontiert. Ein Mann habe in der Linie 10 Richtung Ahlem einen Hitlergruß gemacht, erzählt Keskesor. „In dem Moment bin ich innerlich gestorben.“ Sie habe eine Panikattacke bekommen und habe nur denken können: „Jetzt haben sie mich!“
Michael Trammer
In Hannover-Ahlem bedrohen Rechtsradikale eine junge Frau rassistisch und schänden die dortige Gedenkstätte. Die Zivilgesellschaft reagiert kaum.
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Botschaft bröckelt - taz.de
Botschaft bröckelt Feuerwehreinsatz an der Kanadischen Botschaft: An dem Gebäude in der Nähe des Potsdamer Platzes wurde gestern Vormittag die Fassade bei Reinigungsarbeiten so stark beschädigt, dass ein Teil der Fassade aus dem sechsten Stock in die Tiefe stürzte. Weitere Steinstücke drohten zu folgen, die Polizei sperrte die Straße. Der Fahrer eines Krans für die Fassadenreinigung war mit dem Kranausleger an das Gebäude gestoßen. Dadurch löste sich ein Teil der Steinverkleidung der Fassade aus seiner Metallhalterung. Der Kranfahrer reagierte geistesgegenwärtig und fixierte mit dem Kran die gelockerten Steine. Bei dem Unfall wurde niemand verletzt. Die Polizei und ein Zug der Feuerwehr sperrten einen Teil der Ebertstraße. Der Versuch, die gelockerten Gebäudeteile zu sichern, wurde zunächst durch die Witterung behindert: Regenfälle und Wind ließen es nicht zu, am Gebäude zu arbeiten. rf
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Schlammschlacht um No-Angels-Star: Ende der Unschuldsvermutung - taz.de
Schlammschlacht um No-Angels-Star: Ende der Unschuldsvermutung Sängerin Nadja Benaissa sitzt wegen des Verdachts auf schwere Körperverletzung in Untersuchungshaft - ihr Anwalt geht gegen die Presse vor und hofft auf baldige Freilassung. Sängerin Nadja Benaissa versucht sich im Kreuzfeuer der Medien zu behaupten. Bild: reuters "Behutsam drang RTL-Moderator Günther Jauch in Nadjas Privatsphäre ein", wurde 2001 im Online-Portal laut.de das Drogengeständnis der No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa gewürdigt. Solch ein Eindringling fand sich nach Meinung der Musikerin und ihres Anwalts nun wieder - allerdings ein unerwünschter. Die Bild hatte am Dienstag in großer Aufmachung berichtet: "Es geht um schwere Körperverletzung! No-Angels-Nadja nachts in der Disco verhaftet!" Die Redakteure wollten mehr erfahren: "Schwere Körperverletzung - was ist da vorgefallen?" Und sie taten, was der Presse Recht und Pflicht ist: "Bild fragte bei der Polizei nach." Ein Polizeisprecher beschied die Neugier lapidar: "Dazu machen wir keine Angaben." Dass die Boulevardpostille gleich bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt hätte nachfragen sollen, demonstriert diese seit der ersten Bild-Veröffentlichung mit Details zu den Hintergründen des Tatvorwurfs. Ausgerechnet über die Bild ließ ein Sprecher der Staatsanwaltschaft gestern verbreiten, dass sie weiter über den Fall informieren wolle: "In der konkreten Situation sehen wir uns nach wie vor verpflichtet, den äußeren Tatbestand der Vorwürfe den Medien mitzuteilen." Was aber verbirgt sich hinter diesem juristisch trockenen "äußeren Tatbestand"? Inzwischen berichten alle Medien darüber, dass Benaissa für die HIV-Infektion eines Mannes verantwortlich sein soll, mit dem sie ungeschützten Sex hatte, was ihr Anwalt als nicht erwiesen ansieht. Auf seinen Antrag hin erließ das Landgericht Berlin ebenfalls noch am Dienstag eine einstweilige Verfügung gegen den Axel-Springer-Verlag, mit der diesem untersagt wird, "über ein […] Ermittlungsverfahren wegen schwerer Körperverletzung und/oder den Gegenstand der Untersuchungshaft zu berichten […]". Das verwundert in der Tat, denn eine solche Verdachtsberichterstattung ist wegen ihrer Prangerwirkung zwar nur eingeschränkt möglich und muss insbesondere die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen wahren. Jedoch hindert die bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung geltende Unschuldsvermutung die Medien nicht immer an einer solchen Berichterstattung. So vermag auch der bloße Verdacht der Begehung einer Straftat und erst recht die bloße Tatsache einer Untersuchungshaft dann ein öffentliches Interesse an einer Berichterstattung begründen, wenn es sich um einen Prominenten handelt. Ohne Hinweis auf den Verdacht der HIV-Infektion wird man hier ein solches überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit bejahen müssen, hinter dem das Persönlichkeitsrecht von Nadja Benaissa zurücktritt. Folgerichtig hat der Axel-Springer-Verlag bereits Rechtsmittel gegen diesen Gerichtsbeschluss angekündigt. Dass Nadja Benaissa zumindest eine - wie "Prominenz" im Juristendeutsch umschrieben wird - "relative Person der Zeitgeschichte" ist, steht außer Frage: Bereits vor neun Jahren gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der kommerziell sehr erfolgreichen No Angels und singt dort auch seit dem Comeback vor zwei Jahren wieder. Ihren Erfolg verdankt diese "Retorten-Band" übrigens nicht zuletzt der Schützenhilfe durch die Bild. Ungleich interessanter könnten aber die Prozesse verlaufen, welche Benaissas Anwalt aufgrund der folgenden detailversessenen Berichterstattung führen dürfte. Denn es ist in der Tat schwerer, eine Berichterstattung zu legitimieren, welche auf die Details der HIV-Infektion selbst eingeht, da hier zumindest die Privatsphäre, wenn nicht sogar die Intimsphäre betroffen sein könnte. Auch wenn dieser Begriff im Fall Benaissa eine unfreiwillige Doppelbedeutung erfährt, handelt es sich bei der Intimsphäre nicht etwa um ein Synonym für bestimmte Körperregionen, sondern sie umfasst nach Auffassung des Bundesgerichtshofes die innere Gedanken- und Gefühlswelt und den Sexualbereich, aber auch Krankheiten. Daher ist dieser am strengsten geschützte Teil der Persönlichkeitsrechte für eine Berichterstattung weitestgehend tabu, wobei auch hier die Prominenz des "Opfers" eine Rolle spielen kann. Denn gerade dieser Status ist Ursache dafür, dass Prominente selbst mit intimen Details bei die Medien hausieren gehen. Dabei lohnt es sich durchaus, einen Blick in Benaissas mediale Vergangenheit zu werfen: Besonders interessant ist ein bis heute verbreitetes Interview der Bild am Sonntag mit Benaissas Exfreund vom 28. Oktober 2001, der darin behauptet: "Um ihre Sucht zu finanzieren, ging sie anschaffen." Damals fand Benaissa es scheinbar nicht wichtig genug, sich gegen diese Vorwürfe presserechtlich zu wehren, auch wenn sie auf dem Höhepunkt ihres Ruhms über die entsprechenden Mittel verfügt haben dürfte. Immerhin griff die Bild das kurz darauf gesendete RTL-Interview mit Günther Jauch auf, um mit Benaissas Worten zu relativieren: "[…] ich habe mich nicht prostituiert." Überhaupt war ihr Verhältnis zum Axel-Springer-Verlag früher noch unverkrampfter. Pünktlich zum Comeback der No Angels ließ sich Nadja Benaissa von der Bild zu den "Tiefpunkten ihres Lebens" befragen und gab dem ebenfalls im Springer-Verlag erscheinenden Jugendblättchen Yam! bereitwillig Auskunft zu ihrem Beziehungsleben oder besser zu dessen momentaner Abwesenheit. Wer wollte ihr widersprechen, wenn sie dort verkündet: "Bei uns passiert immer etwas Unvorhergesehenes."
Peter Scheibe
Sängerin Nadja Benaissa sitzt wegen des Verdachts auf schwere Körperverletzung in Untersuchungshaft - ihr Anwalt geht gegen die Presse vor und hofft auf baldige Freilassung.
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Kommentar Chavez und Vargas LLosa: Ein Armutszeugnis - taz.de
Kommentar Chavez und Vargas LLosa: Ein Armutszeugnis Chávez hat liberale Intellektuelle zum Gespräch bei "Aló Presidente" eingeladen. Die kneifen nun. Ihnen ist an einer Dämonisierung mehr gelegen als am Austausch von Argumenten. Selten gab es eine Chance für ein solch hochkarätiges Streitgespräch wie Ende letzter Woche in Venezuelas Hauptstadt Caracas: In seiner TV-Sendung "Aló Presidente" lud Hugo Chávez die unweit tagenden rechtsliberalen Intellektuellen gleich vier Mal zu einem öffentlichen Schlagabtausch mit ihren Pendants aus dem linken Lager ein. Bemerkenswert - denn üblicherweise reden und schreiben auch in Lateinamerika Vertreter der Pole des Meinungsspektrums lieber über- statt miteinander. Doch nach einer ersten Zusage bestanden die Ultraliberalen auf einer Zweierdebatte zwischen Chávez und dem peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa: "Wir wollen lieber mit dem Zirkusdirektor reden als mit den Clowns", lautete die Begründung von Mexikos Exaußenminister Jorge Castañeda, der wie viele seiner Mitstreiter den langen Weg von links unten nach rechts oben gegangen ist. Ein Duell mit dem scharfzüngigen Vargas Llosa wiederum war dem sozialistischen Volkstribun offenbar nicht geheuer. Er wolle nur "mitdiskutieren", sagte Chávez, der in der Öffentlichkeit gerne auf lange Monologe setzt, in ungewohnter Bescheidenheit. Außerdem spiele Vargas Llosa nicht in seiner Liga, befand der Präsident äußerst unsouverän. Nach diesem Zwischenerfolg zogen aber auch die Wortführer der "Freiheit" den Schwanz ein und verzichteten am Samstag ganz auf einen Auftritt in "Aló Presidente". Zu groß sei das Risiko eines "Hinterhalts", behauptete Vargas Llosa und beschimpfte Chávez als Autisten. Offensichtlich ist der neoliberalen Rechten an der Dämonisierung des venezolanischen Staatschefs mehr gelegen als am Austausch von Argumenten. Auf diese Art zementiert sie die Polarisierung in Venezuela, die sie sonst immer lauthals beklagt. Ein Armutszeugnis.
Gerhard Dilger
Chávez hat liberale Intellektuelle zum Gespräch bei "Aló Presidente" eingeladen. Die kneifen nun. Ihnen ist an einer Dämonisierung mehr gelegen als am Austausch von Argumenten.
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Fotojournalismus im Krieg: Die Kamera als Schutzschild - taz.de
Fotojournalismus im Krieg: Die Kamera als Schutzschild Anja Niedringhaus starb 2014 in Afghanistan. Zuvor ließ sich die Fotojournalistin bei der Arbeit für eine Doku filmen. Die ist trist, aber bewegt. Anja Niedringhaus fotografiert im Irak BERLIN taz | Ein lauter Knall. Der braune Staub umhüllt das Bild wie eine Wolke. Soldaten finden am Bein eine lange Wunde, im selben Moment klingelt das Handy von Anja Niedringhaus. „Ich bin okay, ich schicke die Bilder gleich rüber.“ Niedringhaus klammert sich an ihre Kamera, als sei es ihr Kind. In dem Dokudrama „Die Bilderkriegerin – Anja Niedringhaus“ präsentiert das ZDF aktuell das Leben der 2014 in Afghanistan getöteten renommierten Fotojournalistin. „Krieg ist für Männer.“ Mit diesen Worten wird Fotografin Niedringhaus zunächst nicht nach Jugoslawien geschickt. Mit der Entschlossenheit, dass ihre Bilder den Krieg beenden können, setzt sich Niedringhaus durch. Krieg wird für sie zur Normalität. Ihr wird klar, dass es für sie kein Zurück mehr in das bürgerliche Leben gibt. Man sieht Nie­dring­haus im Irak mit amerikanischen Soldaten sprechen, die ihr feindselig gegenüberstehen, weil sie in ihr nur eine Journalistin sehen, die da ist, um sie wie Monster darzustellen. Und obwohl die Fotografin die US-Operation im Irak kritisch sieht, erkennt sie, dass sie etwas mit den Soldaten verbindet: Wie sie selbst auch, treibt die noch sehr jungen Soldaten Perspektivlosigkeit in den Krieg. Uninspiriert aber wichtig Die Doku„Die Bilderkriegerin – Anja Niedringhaus“ in der ZDF Mediathek Leider ist die Ästhetik des Films sehr karg und langweilig. Die Kulissen bestehen hauptsächlich aus eintönigen, leeren Räumen, kombiniert mit konstruierten, befremdlichen Dialo­gen. Meist sieht man, wie Niedringhaus mit jemandem in einem beliebigen Raum über das Fotografieren redet und dann in der nächsten Szene fotografiert. Dennoch trifft das Dokudrama den Zeitgeist: Es zeigt, welche Verantwortung Fo­togra­f:in­nen in einer immer visueller wahrgenommenen Welt haben. Wer interessiert sich für das Leid in der Ukraine, auf dem Mittelmeer, in Erdbebenregionen, wenn wir es nicht sehen?
Ogulcan Korkmaz
Anja Niedringhaus starb 2014 in Afghanistan. Zuvor ließ sich die Fotojournalistin bei der Arbeit für eine Doku filmen. Die ist trist, aber bewegt.
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Kommentar Geberkonferenz für Gaza: Aufbau bis zur nächsten Zerstörung - taz.de
Kommentar Geberkonferenz für Gaza: Aufbau bis zur nächsten Zerstörung Das Geld für Gaza fließt, doch keiner der Geber wagt sich an eine Problemlösung heran. So kommt der nächste Krieg bestimmt. Zerstörung und Tod: Gaza im August 2014. Bild: Reuters Wenn das Thema auf den Gazastreifen kommt, öffnen sich die Herzen und die Gebernationen ihre Brieftaschen. Nicht weniger als ein 750 Millionen Euro will Katar in den Wiederaufbau der während des Krieges zerstörten Wohnhäuser und Instrastruktur stecken, und auch Europa ist mit 450 Millionen Euro dabei. Und weil die Menschen schnelle Hilfe brauchen, legt Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier gleich nochmal 50 Millionen oben drauf. Die Zusagen sind höher als die von den Palästinensern selbst veranschlagte Summe von vier Millarden Dollar. Auf die Bevölkerung im Gazastreifen umgerechnet sind das 2222 Dollar pro Nase. Ganz schön großzügig, vor allem wo die Chancen, dass die Menschen langfristig in den Genuß der Investitionen kommen, doch recht mau sind. In den vergangenen sechs Jahren hat es drei Kriege gegeben. Statistisch könnten wir demnach das Jahr 2016 für die nächste große Gaza-Spendenaktion gleich vormerken. Alle sind gern bereit, den Eimer zu füllen, aber keiner will das Loch stopfen. Israel hält den wichtigsten Schlüssel für eine Lösung in der Hand, denn es geht um die Öffnung der Grenzen. Schon deshalb hätte man Israel zu Geberkonferenz nach Kairo einladen müssen. Dass das nicht passierte, störte offenbar weder die Vertreter von UN und EU noch US-Außenminister John Kerry. Schon heute könnte der Erez-Grenzübergang für den Personenverkehr geöffnet werden, denn mit den modernen Kontrollanlagen, die an einen Hochsicherheitstrakt in Gefängnissen für Schwerverbrecher erinnern, geht das dort postierte Personal keinerlei Risiken mehr ein. Auch der Warenverkehr für den Export sollte in dem Moment wieder möglich sein, wo die Fatah-nahen Sicherheitsleute, mit denen Israel kooperiert, und die auch umgekehrt mit Israel kooperieren, was die Hamas stets ablehnte, erneut Position am Grenzübergang beziehen. Das soll noch diese Woche passieren. Ohne eine Öffnung der Grenzen nach Israel kann der Gazastreifen wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen. Verantwortung der Bevölkerung Allein Israel in die Pflicht zu nehmen, wäre indes nur die halbe Arbeit. Die palästinensische Einheitsregierung steht vor der Aufgabe, den aufgeblasenen Verwaltungs- und Sicherheitsapparat abzuspecken und das doppelte Personalaufkommen von Hamas und Fatah effektiv zu fusionieren. Seit sieben Jahren finanziert die Palästinensische Autonomiebehörde die Gehälter von rund 60.000 Angestellten im Gazastreifen, die zur Untätigkeit gezwungen zu Hause sitzen. Aber auch die Bevölkerung muss anfangen, endlich Verantwortung für sich zu übernehmen. Dass die Hamas laut Umfragen ausgerechnet nach dem Krieg wieder so populär unter den Palästinensern ist wie seit Jahren nicht mehr, macht nicht gerade Hoffnung.
Susanne Knaul
Das Geld für Gaza fließt, doch keiner der Geber wagt sich an eine Problemlösung heran. So kommt der nächste Krieg bestimmt.
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Jenny Zylka - taz.de
Das gehörtdoch verboten! Jenny Zylka Wie ich einmal fast Praktikantin bei der Regierung einer Weltmacht geworden wäre Es war Anfang 1997. Ich hatte mein Praktikum bei der Wort-Zeitung gerade abgeschlossen und fühlte mich zu Höherem berufen. Wort war mir zu politisch, zu wenig boulevardesk, meine grenzenlose Fantasie und mein Interesse für bunte Themen kamen dort zu kurz. Zufällig geriet mir eine Stellenanzeige in die Hände, die das „Squatted Square“, der Sitz der Machtzentrale eines weit entfernten Landes, aufgegeben hatte: „Praktikantin gesucht“. Zu einem Vorstellungsgespräch wurde ich ins „Black Manson“ geladen, hier residierte der Präsident des Landes. Clint Billton war ein smarter Mann, Typ „Sporty Spice“. Er trug mit Vorliebe Hemden der Marke „Boss“ und summte den ganzen Tag den alten Gassenhauer „Graue Schläfen schützen nicht vor hübschen Beinen“ vor sich hin. Als wir uns vorgestellt wurden, murmelte er in seiner weichen, fremden Sprache: „Zylka? Oh, ich liebe slawisch klingende Nachnamen …“. Ich erzählte ihm von meinem beruflichen Werdegang, von meinen Hobbys Innenpolitik und Massage, und er nickte wohlwollend zu meinen Ausführungen. Dann fasste er mich plötzlich an den Händen, schaute mir bedeutungsvoll in die Augen und fragte gedehnt: „Was mir eigentlich am wichtigsten ist: Können Sie … mmmh … ich will mal sagen … Kopieren?“. Wie von der Tarantel gestochen zuckte ich zurück. Kopieren, was? Das hatte der Chef der Wort-Zeitung doch auch immer von mir gewollt! Enttäuschung übermannte mich. Ich schaute Präsident Billton fest an und sagte: „Dafür müssen Sie sich eine andere suchen. Bedaure!“. Dann packte ich meine Sachen und flog zurück. Ich glaube, die Stelle ist dann anderweitig besetzt worden. Jenny Zylka kennen Sie als taz-Kolumnistin. Ihr Buch „1000 neue Dinge, die man bei Schwerelosigkeit tun kann“ gibt es als Rowohlt Taschenbuch
Jenny Zylka
Wie ich einmal fast Praktikantin bei der Regierung einer Weltmacht geworden wäre
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Das Ende aller Träume - taz.de
Das Ende aller Träume ■ So eher lala: Andrea Bongers und Alexander Geringas „La, la, la“ Ein Thema, das man ernst nehmen kann oder auch nicht: die Liebe. Andrea Bongers und Alexander Geringas entscheiden sich für die spielerische Variante, wie schon der Titel ihres neuen Programms La, la, la verrät. Auch wenn sie in der Unterzeile für ihren Abend in den Kammerspielen behaupten, „Liebe sei kein Problem“, beweisen sie in eineinviertel Stunden natürlich das Gegenteil. In ihren selbstgetexteten Songs singt Bongers vom Sonntag abend auf dem roten Sofa, das das Ende aller Träume bedeutet, vom Samstag abend, an dem sie strickenderweise ihre Ruhe haben will, oder von der kleinen Affäre: „War nett mit Dir, hat Spaß gemacht, belassen wir es bei dieser Nacht.“ Beim Texten zur Seite standen ihr nach Auskunft der Programmankündigung Tschechov, Brigitte, Lao Tse und ihre Mutter – eine recht krude und eigenwillige Mischung, die beherrscht werden will. Damit tut sich die Sängerin besonders anfangs recht schwer. Betont ironisch und lässig gibt sie sich, vor allem zwischen den Liedern, wo sie sich in schauspielerisch-kabarettistischen Einlagen versucht, die verkrampft bis desaströs daherkommen. Geringas, ihr Partner am Klavier und für die Kompositionen verantwortlich, steht ihr leider in Sachen gekünsteltes Schauspiel nichts nach. Da wünscht der Zuschauer, das Duo möge ganz einfach Song an Song reihen: Die bestechen zwar auch eher durch Banalität als durch geistigen Tiefgang, aber wenigstens läßt die dahinplätschernde Musik entspannende Freiräume. Glücklicherweise berappeln sich die Mägädämler an einer extensiven Warmlaufphase doch noch. Wenn Bongers temperamentvoll ansetzt: „So ein Tag, so ein Mist, so ein Scheiß“, um Frauenbefindlichkeiten unter die Lupe zu nehmen, macht sie das mit gelungener Selbstironie. Auch der Schmollmund in „I love you“ wirkt überzeugend: „Geh zur Mutti oder ich hau drauf.“ Und „Wenn wir beide streiten“ wird anständig mit Pep gerappt. Da springt zwar nach zwei Drittel des Konzerts endlich der Funke auf das Publikum über. Insgesamt aber ist La, la, la doch mehr so lala. Oliver Eckers noch heute, 23 Uhr, Hamburger Kammerspiele
Oliver Eckers
■ So eher lala: Andrea Bongers und Alexander Geringas „La, la, la“
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Die Wahrheit: Orgien der Selbstzerfleischung - taz.de
Die Wahrheit: Orgien der Selbstzerfleischung Sechs Punkte, wie es mit der SPD doch noch klappen kann. Das sehr persönliche Motivationsschreiben eines kritischen Freundes der Partei. Illustration: Rattelschneck Die SPD begleitet mich, seit ich denken kann. Wie auch anders? Sie ist ja seit mehr als zwanzig Jahren praktisch ununterbrochen an der Macht. Man könnte sagen: Ich und die SPD, wir haben uns aneinander gewöhnt. Haben viel durchgemacht. Mir gefällt nicht alles, was die SPD macht, umgekehrt bin ich mit vielen ihrer Handlungen nicht einverstanden. Das ist in Ordnung. An die meisten Gesetze, die von SPD-Regierungen erlassen wurden, habe ich mich gehalten – als Nichtmitglied, wohlgemerkt! Noch immer versuche ich, mir die Namen führender SPD-Politiker zu merken. Wenn Sozis im Fernsehen auftauchen, unterdrücke ich bewusst den Reflex zum Umschalten. Weil ich weiß: Hinter jedem Sozi steckt immer auch ein Mensch. Bei allen Unterschieden im Politischen: Diesen Menschen respektiere ich. Und weil mir dieser Mensch wichtig ist, ist mir die SPD wichtig. Jetzt, wo plötzlich sehr viele Konservative ihr Herz für die SPD entdecken, mache auch ich mir Sorgen. Sorgen um eine SPD, in der Stalinisten wie Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die Errungenschaften der Großen Koalition niederreißen könnten. Mein Sieben-Punkte-Fahrplan ist mein ganz persönliches Angebot an eine Partei, die mir nicht völlig gleichgültig ist. Punkt 1: Sich unbedingt von Kevin Kühnert lösen! Kühnert verkörpert Punk, Anarchie, unklare Verhältnisse. Kevin Kühnert trägt oft bunte Hemden und hat ein sogenanntes Internetprofil, auf dem er teilweise stundenlang surft. Wie soll man einem einfachen Kohlearbeiter unter Tage so etwas erklären? Dort gibt es oft nicht einmal genug Handyempfang! Zuletzt fiel Kühnert damit auf, dass er Vorschriften für Vermieter forderte. Viele der einfachen Menschen, mit denen ich jeden Tag tausendfach spreche, wollen keine Gesetze für Vermieter, sondern lieber einen alten Schröderianer, der sie nach Strich und Faden über den Tisch zieht. Mir geht es da ähnlich. Punkt 2: Deutschlands große Stärke ist die Industrie! Bei der SPD fehlte zuletzt ein starkes Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland. Dabei ist Industrie das eiserne Herz, das das Blut durch die stählernen Adern dieser Nation peitscht! Blut, das aus Autos besteht, die quasi die roten Blutkörperchen in meinem Gleichnis sind. Wer aber sitzt im Zellkern? Jedenfalls nicht die SPD! Wann hat man Saskia Esken zuletzt rußverschmiert an einem Hochofen stehen sehen? Wann hat Walter-Borjans zuletzt in einem Klärwerk Eimer voller Scheiße durch die Gänge geschleppt? In meiner Fantasie sind SPD-Mitglieder muskelbepackte, schwitzende Proletarier, die nach einem Regenschauer plötzlich an meiner Tür stehen und sich aufwärmen wollen, bei Kakao und romantischer Musik. Wenn ihr das nicht mehr gelingt, ist die SPD nicht mehr wert, dass sie existiert. Punkte 3: Absolut gar keine Experimente! Die SPD ist in letzter Zeit immer wieder mit Initiativen und Ideen nach vorne geprescht. Das soll wohl den „Zeitgeist“ bedienen helfen. Das Ergebnis ist leider eindeutig: Die Wähler wenden sich angewidert von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ab, wie in der letzten Szene von „Gefährliche Liebschaften“, wo die böse Marquise de Merteuil plötzlich ganz allein dasteht. Umgekehrt hat die SPD immer dann gepunktet, wenn sie einfach gar nichts gemacht hat, die anderen Parteien in Ruhe ihre Arbeit machen ließ. Die Stammwähler kehrten zurück, die Sonne brach durch die Wolkendecke, Vögel zwitscherten, muskelbepackte Proletarier klingelten bei mir zu Hause. Auf die Schnelle kann ich diese These zwar nicht belegen, dennoch ist die SPD verloren, wenn sie nicht auf mich hört. Der Experimentalreaktor Kevin Kühnert muss jetzt abgeschaltet werden, sonst droht die Kernschmelze! Punkt 4: Ohne Digitalisierung geht es heutzutage nicht! Während überall Start-ups aus dem Boden schießen, wo ganze Branchen von raffinierten Digitalentwicklern disruptet werden und die Bitcoins nur so auf der Straße liegen, werden in der SPD immer noch zentnerschwere Aktenordner von Büro zu Büro geschleppt, muss Kevin Kühnert noch persönlich das Schreibmaschinenband auswechseln und wird die Fraktion komplett handlungsfähig, wenn das Faxpapier alle ist. Der kleine Arbeiter in seinem Flözklärwerk hat dafür absolut kein Verständnis! Es muss ein ebenso schickes wie hippes Digitalkonzept her, mit mehreren Apps, einer eigenen Website und sämtlichen E-Mail-Adressen von allen SPD-Mitgliedern. Gern bin ich bereit, mich von der SPD mit einem üppigen Beratervertrag ausstatten zu lassen, um diesen längst fälligen Schritt ins 20. Jahrhundert gemeinsam zu verantworten! Punkt 5: Ein fester Mut zum ­Experimentieren und Probieren! Die SPD ist immer dann am besten gefahren, wenn sie die Chuzpe hatte, auch mal Dinge auszuprobieren. Ohne immer das Für und Wider abzuwägen, sich in endlosen Selbstzerfleischungen zu ergehen und sich „Sorgen“ um irgendwelche „Konsequenzen“ zu machen! Ich erinnere an unbeliebte, aber bitter nötige Entscheidungen früherer Regierungen. Europas größter Markt für Billigjobs, endlose Schikanen für Hartz-IV-Bezieher und Unihörsäle, die nach Markendiscountern benannt sind: Ohne die SPD hätte es das alles vielleicht auch gegeben, aber nicht so schnell. Wenn man irgendwem eine Riesenschweinerei verkaufen muss, dann lässt man das doch die SPD machen! Ich als Schwein fände es irrsinnig schade, wenn ich mich hier nicht mehr auf „meine“ SPD verlassen könnte! Punkt 6: Schluss mit dem sich ­drehenden Personaltheater! Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass das menschliche Kurzzeitgedächtnis sich nur drei bis fünf Dinge gleichzeitig merken kann, bevor es genervt abschaltet. Allein die Kandidatenliste für den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war aber bereits ein Zigfaches länger! Um kognitive Dissonanz zu vermeiden, wäre es gut, wenn alle Parteiämter kommissarisch auf Olaf Scholz umgeladen werden könnten, einen alten Hanseaten von Schrot und Korn, der sich auch durchzusetzen weiß, wenn die Linken mal wieder nach der Weltherrschaft greifen. Mit Sigmar Gabriel haben wir Sozis bereits einen wichtigen Kämpfer an die freie Wirtschaft verloren. Ich sage: Kein Preis ist zu hoch, um dem Olaf noch ein, zwei Ehrenrunden auf Parteikosten zu spendieren! Wenn diese meine Ratschläge umgesetzt werden, sehe ich für die SPD eine Zukunft, in der es mir hervorragend geht. Andernfalls brauchen sich die Genossen nicht wundern, wenn ich mich künftig in der freien Wirtschaft umsehe. Ich kann immer nur Angebote machen! Die Wahrheit auf taz.de
Leo Fischer
Sechs Punkte, wie es mit der SPD doch noch klappen kann. Das sehr persönliche Motivationsschreiben eines kritischen Freundes der Partei.
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Alternativer Fußballclub in Schweden: Die anderen Profis - taz.de
Alternativer Fußballclub in Schweden: Die anderen Profis Die Spieler von Östersund FK tanzen Ballett, spielen Theater und veranstalten einen Lesezirkel. Jetzt ist der Aufstieg in die Erste Liga geglückt. Zum Repertoire des Fußballvereins gehört auch „Schwanensee“ Foto: Östersund FK STOCKHOLM taz | Die Vorstellung im Storsjö-Theater beginnt mit einem Videoclip. „Das ist der erste Klub, bei dem ich spiele, der so einzigartige Sachen macht. Viele sagen ja, wir sind verrückt. Aber ich mag es“, lächelt Brwa Nouri in die Kamera. Danach kommen auch noch die anderen Mitwirkenden kurz zu Wort, bevor es richtig losgeht. Zu den Klängen von Tschaikowskis „Schwanensee“ bewegt sich einer nach dem anderen der Männer in den schwarzen T-Shirts und Trainingshosen auf die Mitte der Bühne. Die erste Fußballmannschaft des Östersunds FK (ÖFK) präsentiert ein 50-minütiges Ballett- und Tanzprogramm. Seit Januar hatten sie trainiert, und eigentlich sollte schon im Oktober Premiere sein. Sie wurde um einen Monat verschoben, damit sich die Elf erst einmal auf eine andere Aufgabe konzentrieren konnte, die sie dann auch mit Bravour schaffte. 2011 noch viertklassig, gelang in dieser Saison, die Anfang November endete, der Aufstieg in Schwedens höchste Männerfußballliga, die Allsvenskan. Womit Östersund mit seinen 40.000 EinwohnerInnen und vor allem als Wintersportort bekannt, für eine Premiere sorgte: Erstmals in der 91-jährigen Geschichte der Allsvenskan spielt 2016 mit dem ÖFK eine im nordschwedischen Inland beheimatete Mannschaft in Schwedens Bundesliga. Und ÖFK ist die einzige schwedische Profifußballmannschaft, die in ihren Verträgen eine „Kulturklausel“ verankert hat: Die Teilnahme an den kulturellen Aktivitäten des Vereins ist obligatorisch, berichtet Kulturcoach Karin Wahlén. 2012 startete der Klub eine erste „Kulturakademie“. Dort trafen Spieler und Vereinsangestellte mit Schauspielerinnen, Tänzern und Schriftstellern zusammen. „Doch das Resultat war nicht so gut“, erinnert sich Wahlén: „Das war alles ganz einfach zu passiv. Aktives Tun ist etwas ganz anderes als das bloße Aufeinandertreffen mit Kultur.“ Also begannen die Spieler eine eigene Theatervorstellung zu produzieren. Die öffentliche Kritik war zunächst allerdings gar nicht gnädig. Weil das Theaterprojekt ausgerechnet mit einer sportlichen Formschwäche zusammenfiel, schimpften die Fans und die Lokalzeitung Östersundposten. Man moserte vom „ÖFK-Theater, das schon drei Verluste gekostet hat“: Die Spieler sollten sich gefälligst auf ihren Job konzentrieren. „Kulturereignis des Jahres“ Drei Jahre später ist solche Kritik längst verstummt. „Vom Kulturereignis des Jahres“ schreibt nun dasselbe Blatt, wenn es um die ÖFK-Aktivitäten geht: Der Verein beweise, dass er viel mehr beherrsche als nur den Ball auf dem Kunstrasen, nämlich auch das kulturelle Feld. Der Theatervorstellung folgten eine Gesangsaufführung, eine Fotoausstellung und ein viel gelobtes Buchprojekt. Torhüter Haraldur Björnsson„Man wird mutiger, wenn man andere Sachen testet“ Wozu das Ganze? „Man soll neue Seiten in sich selbst entdecken“, sagt Wahlén. Über Schreiben, Malen, Singen, Tanzen bekomme man eine andere Stärke, eine größere Selbstsicherheit. Man lerne seine Mitspieler, die aus verschiedenen Ländern stammen, unterschiedliche persönliche Hintergründe und verschiedene Bildungsniveaus hätten, anders kennen. Das stärke die Gemeinschaft und schmiede das Team zusammen. Die Spieler bestätigen das. „Ich wurde offener, bin auch auf dem Spielfeld ein anderer Mensch geworden“, erzählt Nouri. „Wenn man seine Bequemlichkeitszone verlässt, sich auf Neues einlässt und etwas ganz anderes macht, ist das anstrengend, aber gleichzeitig eine große Herausforderung“, berichtet Stürmerkollege Michael Omoh. „Man wird mutiger, wenn man andere Sachen testet“, hat Torhüter Haraldur Björnsson gemerkt: „Man wächst.“ Die Gruppendynamik sei viel besser geworden, und es sei „cool, eine andere Rolle zu spielen als auf dem Platz“ sagt der Mittelfeldspieler Bobo Sallander. Und er verweist stolz auf ein Exemplar von „Meine Reise zum ÖFK“. Ein 2014 veröffentlichtes Buch, auf dessen 240 Seiten die Spieler mit Wurzeln in neun Ländern – von Island bis Ghana und von England bis Bosnien – mit ihren Geschichten und Gedanken zu Wort kommen. Omoh erzählt, wie er mit seinem Spielergehalt nicht nur seine Familie in Nigeria unterstützt, sondern auch ein kleines Wohltätigkeitsprojekt gestartet hat, um noch mehr Menschen dort helfen zu können. Nouri berichtete von seiner Vergangenheit als „bad boy“ und der Bedeutung des Fußballs für ihn, um eine kriminelle Lebensphase hinter sich zu lassen. Regelmäßig lesen Spieler nun vor Schulklassen oder in anderen Sportvereinen aus ihrem Buch vor. „Stärke durch Vielfalt“ Parallel zum Buchprojekt veranstaltete der auch in der Flüchtlings- und Obdachlosenarbeit aktive Verein vor dem Hintergrund der letztjährigen Parlamentswahlen und dem Erstarken der Rechtspopulisten ein Kunstprojekt unter dem Motto „Stärke durch Vielfalt“. Der durch die Versteigerung der Bilder erzielte Erlös ging an die Organisation „Niemand ist illegal“. Auf eigene Initiative starteten die Spieler einen Lektürezirkel, in dem sie jeweils ein aus den eigenen Reihen vorgeschlagenes Buch lesen. Meist seien es Titel, „deren gemeinsamer Nenner Klasse, Ethnie und Liebe ist“, berichtet Wahlén. Und die Freude war groß, als die feministische nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie sich mit einer Videobotschaft bei den Spielern meldete, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr „Americanah“ zum Leseprogramm der ÖFK-Spieler gehörte.“Mächtig imponiert“ zeigt sich Fußballnationalcoach Erik Hamrén von der Attitüde der Östersunder, das schwedische Königshaus gab sich bei ÖFK die Ehre, um deren Kultur- und Integrationsarbeit anzuerkennen, und von einem Verein, „der die Normen herausfordert“ schwärmt die Tageszeitung Expressen. Ein Kulturredakteur des schwedischen Rundfunks lobte die diesjährige Tanzvorstellung „souveräner Fußballspieler und Tänzer“ als „schlicht und ergreifend gut“: und als „eines der merkwürdigsten, bewegendsten und besten Projekte eines Elite-Sportvereins, das ich je gesehen oder von dem ich gelesen habe“. Im Januar gibt der ÖFK bekannt, wovon das nächste Kulturprojekt handeln soll. Und wie wird es sportlich in der höchsten Liga klappen? „Natürlich werden wir schwedischer Meister“, sagt Vereinsvorsitzender Daniel Kindberg. Aber es müsse ja nicht gleich sein.
Reinhard Wolff
Die Spieler von Östersund FK tanzen Ballett, spielen Theater und veranstalten einen Lesezirkel. Jetzt ist der Aufstieg in die Erste Liga geglückt.
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Iraker wählen im Butz - taz.de
Iraker wählen im Butz Bis Sonntag können in Köln Iraker ihre Stimme abgeben Köln dpa/taz ■ Bachtiar Salih holt einen kleinen gelben Zettel aus seiner Jackentasche. Auf ihm hat der 43-Jährige notiert, was er Menschen antworten will, die ihn bei der Wahl nach seinen Hoffnungen fragen: „Ich fühle, dass da jetzt ein neues Land entsteht. Die Leute werden gleich.“ Schon um sieben Uhr gestern früh kamen die ersten Auslands-Iraker zum alten Flughafengelände Butzweiler Hof in Köln-Ossendorf, um an der irakischen Parlamentswahl teilzunehmen. Polizei patrouilliert weiträumig um das Gelände. Die Iraker müssen an Betonsperren, gepanzerten Fahrzeugen, schwer bewaffneten Polizisten und Sicherheitsschleusen vorbei. Trotzdem ist die Atmosphäre erstaunlich entspannt. Die Sicherheitsbeamten sind freundlich, die Wähler euphorisch. „Das ist ein wunderschönes Gefühl“, sagt Ahmed Al Hamdany nach der Stimmabgabe. Der 35-Jährige lebt seit neun Jahren in Deutschland, seit 15 Jahren war er nicht mehr im Irak. „Wir bekommen unser Land wieder zurück“, sagt er. Das sehen wohl nicht alle Exil-Iraker so: Von den rund 56.000 Wahlberechtigten in Deutschland haben sich nur 57 Prozent registrieren lassen. Bei der International Organization for Migration (IOM) ist man damit allerdings „sehr zufrieden“, erklärte eine Sprecherin. In Köln, einem von vier deutschen Städten, wo noch bis Sonntag gewählt werden kann, haben sich 7.329 in die Wählerlisten eintragen lassen. Über die Wahlbeteiligung konnte die IOM gestern noch nichts sagen. Man gehe aber davon aus, dass insgesamt „annähernd 100 Prozent“ ihre Stimme abgeben, so die Sprecherin. „Wer sich die Mühe macht, sich registrieren zu lassen, wird wohl auch wählen gehen.“ SUG
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Atomreaktor „Tihange 2“ in Belgien: Neue Risse in AKW entdeckt - taz.de
Atomreaktor „Tihange 2“ in Belgien: Neue Risse in AKW entdeckt Seit Jahren laufen Atomkraftgegner Sturm gegen die belgischen Meiler in Tihange. Nun wurden bei einer neuen Untersuchung wieder Risse entdeckt. Nah an der deutschen Grenze: „Tihange 2“ Foto: reuters BRÜSSEL dpa | Im belgischen Atomreaktor Tihange 2 nahe der deutschen Grenze sind bei Kontrollen weitere Risse entdeckt worden. Im Hochdruckkessel fanden Experten mittels Ultraschall 70 Risse mehr als bei der vorigen Inspektion 2014, wie es in einer Antwort des belgischen Innenministers Jan Jambon auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen heißt. Die Sicherheit des Reaktors sei damit in keiner Weise infrage gestellt, erklärte Jambon demnach nach Medienberichten vom Freitagabend. Die 70 zusätzlichen Risse habe man entdeckt, weil die Kamera anders positioniert worden sei, erklärte Jambon nach Angaben der Nachrichtenagentur Belga. Einige frühere Hinweise würden dem Minister zufolge nach der neuen Kontrolle hingegen nicht mehr als Schäden eingestuft. Das Ergebnis der Prüfung insgesamt habe dazu geführt, dass die belgische Atomaufsicht keine Einwände gegen ein Wiederanfahren des Reaktors erhoben habe. Atomkraftgegner in Belgien und im nur 65 Kilometer Luftlinie entfernten Deutschland kritisieren den Betrieb des Kernkraftwerks bei Huy hingehen seit Jahren als unsicher. Die Grünen-Bundesvorsitzende Simone Peter sprach am Samstag von einer „Laissez-faire-Mentalität europäischer Atombehörden zu Lasten der Sicherheit“. Es sei nicht länger hinnehmbar, dass „überalterte, störanfällige Atom-Schrottmeiler in Grenznähe“, wie Tihange und Doel in Belgien oder Fessenheim und Cattenom in Frankreich, immer mehr ganze Großregionen gefährdeten. Über 3.000 Hinweise auf Schäden Die Grünen-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen, Mona Neubaur, forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Eingreifen auf: „Zum Schutz der Bevölkerung in NRW muss sie ihre Umweltministerin anweisen, sofort die Lieferung von Brennelementen aus Deutschland nach Tihange zu stoppen und mit der belgischen Regierung über Wege für die Abschaltung der Atomkraftwerke verhandeln.“ Die Atomaufsicht hatte Belga zufolge im Jahr 2015 insgesamt 3.149 Hinweise auf Schäden in Tihange 2 festgestellt. Diese Zahl sei mit der jüngsten Überprüfung um 2,22 Prozent auf 3.219 gestiegen, errechnete die Organisation Nucléaire Stop. Wegen dieser Risse sei der Betrieb des Reaktors unverantwortlich, meinte der Verein. Der Grünen-Abgeordnete Jean-Marc Nollet, der die Anfrage an Jambon gestellt hatte, beklagte, dass der Minister nicht von sich aus die Gesamtzahl der Risse und ihre Größe mitgeteilt habe.
taz. die tageszeitung
Seit Jahren laufen Atomkraftgegner Sturm gegen die belgischen Meiler in Tihange. Nun wurden bei einer neuen Untersuchung wieder Risse entdeckt.
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Frauen-WM Frankreich gegen Norwegen: Brutal, brachial, ineffizient - taz.de
Frauen-WM Frankreich gegen Norwegen: Brutal, brachial, ineffizient Das Match der Französinnen gegen Norwegen zeigt, dass die begabte Mannschaft des Gastgebers Schwächen hat – trotz des 2:1-Siegs Die französischen Offensivspielerinnen harmonierten flink gegen überrumpelte Norwegerinnen Foto: ap NIZZA taz | Am Ende überwog offensichtlich die Erleichterung. Es sei ein „kompliziertes Spiel“ gewesen, sagte Torschützin Valérie Gauvin, Norwegen habe es ihnen nicht leicht gemacht. Und Corinne Diacre erklärte mit der ihr eigenen Gelassenheit, in der ersten Halbzeit sei es „ein bisschen schwierig“ gewesen. Man habe aber gezeigt, was das Team leisten könne. Möglicher Kritik an der fehlenden Präzision vorm gegnerischen Kasten beugte die Trainerin vor: „Es ist nicht normal bei einer WM, dass man jedes Spiel mit 4:0 gewinnt.“ Sicher, ist es natürlich nicht. Aber adrenalinreicher als eigentlich nötig hatte Frankreich mit 2:1 gewonnen, nach langer Dominanz. In einer Partie, die wieder einmal durch Elfmeter entschieden wurde. Leider – man würde sich ja doch wünschen, dass es den angreifenden Teams bei dieser WM nicht so leicht gemacht wird, immer irgendeine Strafstoßsituation zu finden. Wie eng es wurde, lag dabei eigentlich weniger an den Norwegerinnen. Die waren defensiv oft überfordert, im Angriff fehlte es an einer überzeugenden Spielidee. Zusätzlich zu den norwegischen Füßen standen sich die Französinnen in dieser unterhaltsamen Partie selbst im Weg: Sie erarbeiteten sich minütlich herausragende Chancen, im Strafraum endeten die Hereingaben aber vielfach im Nichts. Zu verspielt, manchmal zu eigensinnig, oft im Zuspiel unpräzise blieb die Offensive. Brutale Hochgeschwindigkeit, starke Technik, Ineffizienz. Für potenzielle französische Gegnerinnen im Achtelfinale war es ein spannendes Spiel: Es zeigte, dass die begabte Mannschaft Schwächen hat. Norwegen trat defensiver und bemüht kompakter an, mit Karina Sævik als zusätzlicher Stabilisatorin statt Stürmerin Lisa-Marie Utland, bei Frankreich stürmte Valérie Gauvin für Delphine Cascarino. Das französische Offensivtrio harmonierte flink gegen zunächst überrumpelte Norwegerinnen. Schon in der ersten Minute hätte Eugénie Le Sommer nach einem Freistoß die Führung erzielen können. Dann fand Norwegen allmählich Mittel: Dem französischen Hardcore-Pressing begegneten sie mit geduldigem Aufbauspiel über links, und die Defensive der Gastgeberinnen erwies sich schnell als gar nicht so sattelfest. Ingrid Engen brachte Frankreich mit einem Kopfball in arge Bedrängnis, etwa zwanzig Minuten lang waren die Skandinavierinnen überzeugend gleichwertig. Dann wuchs ihnen das brachiale Angriffsspiel der Französinnen über den Kopf. Hinten zu viel Glück, vorn zu wenig Ideen „Wir haben gezeigt, dass Norwegen eine harte Gegnerin für jedes Team der Welt wird. Das war ein sehr gutes Statement“, bilanzierte Coach Martin Sjögren. Das galt allerdings nur für Teile der ersten Halbzeit. Vor der Pause kippte das Spiel eindeutig zugunsten Frankreichs; vor allem Kristine Minde blieb ein dauernder Risikofaktor gegen die dribbelstarke Kadi­dia­tou Diani. Einige krasse Ballverluste erleichterten den Französinnen die Prozedur. Dabei ist das System der Gastgeberinnen im Grunde nicht allzu schwer auszurechnen: Meist geht es über Kapitänin Amandine Henry auf die Flügel, wo die Außenspielerinnen die Gegner mit ihrer Technik und Geschwindigkeit einfach überrennen. Besonders elaboriert ist das nicht, aber effektiv. Allein Diani hatte in der ersten Hälfte eine Handvoll Chancen auf den Führungstreffer. Unmittelbar nach der Pause erzielte Valérie Gauvin das längst überfällige 1:0. Das Spiel schien vorentschieden, da blockierte sich das Gastgeberteam noch einmal selbst: Eine eigentliche harmlose norwegische ­Hereingabe schob Wendie Re­nard unglücklich ins eigene Tor. Weil Frankreich auch weiterhin beste Möglichkeiten nicht nutzte und Norwegen kämpfte, durfte das Team glücklich sein, dass in der 72. Minute Ingrid Engen zwar den Ball spielte, aber abrutschte und Marion Torrent am Bein traf. Das war ein etwas kleinlicher Elfmeter. Eugénie Le Sommer verwandelte souverän zum 2:1. „Wir hatten einen guten Plan und haben den Plan gut ausgeführt“, fand zumindest Martin Sjögren am Schluss. „Wir hätten ein Unentschieden verdient gehabt.“ Dafür allerdings hatten die Norwegerinnen hinten zu viel Glück und vorn zu wenig Ideen.
Alina Schwermer
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Rückholaktion wegen Coronavirus: Deutsche aus Wuhan auf Heimflug - taz.de
Rückholaktion wegen Coronavirus: Deutsche aus Wuhan auf Heimflug Sobald die Passagiere in Deutschland gelandet sind, sollen sie 14 Tage in Quarantäne bleiben. In China stieg die Zahl der Erkrankten auf rund 12.000. Reisende am Pekinger Flughafen Foto: reuters WUHAN dpa/afp | Ein Flugzeug der Bundeswehr hat mehr als 120 Deutsche und andere Staatsbürger aus der schwer vom Coronavirus betroffenen Metropole Wuhan in China ausgeflogen. Nach der Rückholaktion kommen die Passagiere für 14 Tage in Quarantäne. Die Epidemie in China erlebte am Samstag den bisher höchsten Anstieg der Infektionen und Toten innerhalb eines Tages. Die Gesundheitskommission in Peking meldete einen Zuwachs um fast 2.000 auf 11.791 Erkrankte. Die Zahl der Todesfälle kletterte um 46 auf 259. In Deutschland steckte sich erstmals ein Kind an. Die Zahl der Fälle stieg auf sieben. Der Vater des Kindes ist ein infizierter Mann aus dem Landkreis Traunstein. Wie das bayerische Gesundheitsministerium mitteilte, wurde zudem bei einem Mann aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck die Lungenkrankheit bestätigt. Er arbeitet wie die ersten fünf Infizierten beim Autozulieferer Webasto. Außerhalb der Volksrepublik wurden bisher in zwei Dutzend Ländern rund 150 Infektionen gezählt. Für die Rückholung der Deutschen aus Wuhan startete der Airbus A 310 der Luftwaffe um 02.22 Uhr MEZ (09.22 Uhr Ortszeit) vom Flughafen des schwer von der Lungenkrankheit heimgesuchten Wuhan in Zentralchina, wie das Einsatzführungskommando berichtete. Die Maschine wird nach einem Zwischenstopp am Samstagmittag in Frankfurt/Main erwartet. Kurz vor dem Start machte sich Erleichterung breit: „Glücklich am Gate zu sein“, berichtete eine Frau, die namentlich nicht genannt werden wollte, der Deutschen Presse-Agentur. Die Gruppe hatte sich schon am Vorabend am Flughafen versammelt und musste dort die Nacht verbringen. „War bis hier doch alles schon ganz schön anstrengend.“ Nach ihren Angaben wurden 126 Personen gezählt. Ann-Sophie Muxfeldt, deutsche Studentin in Wuhan„Ich bin wirklich sehr traurig. Ich konnte ja meinen ganzen Freunden nicht richtig ‚Tschüss‘ sagen“ „Ok, jetzt geht es zurück nach Deutschland für unbestimmte Zeit“, sagte die Studentin Ann-Sophie Muxfeldt am Flughafen dem Norddeutschen Rundfunk. „Man weiß eben nicht, wird es möglich sein zurückzukommen in nächster Zeit“, sagte die Rostockerin, die seit September in Wuhan studiert hatte. „Ich bin wirklich sehr traurig. Ich konnte ja meinen ganzen Freunden nicht richtig „Tschüss“ sagen.“ Nach einem mehr als zehnstündigen Flug war die Maschine am frühen Morgen in Wuhan gelandet. Nach früheren Angaben sollten rund 90 Bundesbürger und etwa 40 andere Staatsbürger ausgeflogen werden. Für ihre 14-tägige Quarantäne ist eine zentrale Unterbringung in einer Ausbildungskaserne auf dem Luftwaffenstützpunkt Germersheim in Rheinland-Pfalz vorgesehen – 100 Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt. Auch die USA, Japan, Südkorea und andere Länder haben Staatsbürger aus Wuhan geholt oder planen Rückholaktionen. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ erklärt hatte, riefen die USA eine eigene „gesundheitliche Notlage“ aus. Ausländische Reisende aus China werden wegen des Ansteckungsrisikos nicht mehr ins Land gelassen – mit Ausnahme von Angehörigen von US-Staatsbürgern. Der von US-Präsident Donald Trump erlassene Bann gilt ab Sonntag (23.00 Uhr MEZ). US-Staatsbürger, die in den 14 Tagen zuvor in Wuhan oder der umliegenden Provinz Hubei waren, müssen sich für bis zu zwei Wochen in Quarantäne begeben. Amerikaner, die in anderen Teilen Chinas waren, sollen sich selbst für zwei Wochen isolieren. Bislang gibt es sechs Fälle des Coronavirus in den USA. 45 Millionen in der Provinz Hubei abgeschottet „Es ist mit Sicherheit keine Geste des guten Willens“, kritisierte Chinas Außenamtssprecherin. Während die Weltgesundheitsorganisation von Reisebeschränkungen abrate, gingen die USA in die entgegengesetzte Richtung und setzten ein „schlechtes Beispiel“. Viele Länder hätten China ihre Hilfe angeboten, sagte die Sprecherin. Sie verwies auf die Redensart „In der Not erkennt man seine Freunde“. Was die USA täten, basiere nicht auf Fakten und sei nicht hilfreich. Die Regierung in Australien ein Einreiseverbot gegen Reisende aus China verhängt. Von dem Verbot ausgenommen seien australische Staatsbürger, Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht sowie deren Angehörige, erklärte Premierminister Scott Morrison am Samstag. Das Außenministerium in Canberra verschärfte seine Reisehinweise für China und empfiehlt Australiern nun, auf Reisen in die Volksrepublik zu verzichten. Erstmals meldete auch Spanien eine Infektion: Betroffen sei ein Deutscher auf der Kanareninsel La Gomera, der mit einem der in Deutschland infizierten Patienten in Kontakt gewesen sein soll, teilte die Regierung mit. Insgesamt waren fünf Deutsche in La Gomera getestet worden, die in Kontakt mit einem Mann gekommen sein sollen, bei dem in Deutschland das Virus nachgewiesen wurde. In Deutschland hat sich das erste Kind angesteckt Auslöser der Ansteckungen in Deutschland waren ein oder zwei chinesische Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto. Das Unternehmen nannte neben der bereits bekannten Frau auch einen Mann, der ebenfalls in Deutschland gewesen sei. Alle infizierten deutschen und chinesischen Mitarbeiter seien in längeren Meetings am Firmensitz der Zentrale in Stockdorf gewesen, berichtete das Unternehmen. Die infizierten Chinesen sind nach der Rückkehr in ihre Heimat erkrankt. Das erste Kind, das sich in Deutschland angesteckt hat, liegt wie der Vater in einem Krankenhaus in Trostberg. Die Ärzte gehen davon aus, dass die ganze Familie infiziert ist – sie wurde auf eigenen Wunsch zusammen untergebracht. Die anderen Mitglieder müssten aber noch nachgetestet werden. Der Mann habe drei Kinder im Alter zwischen einem halben Jahr und fünf Jahren. Wegen der Lungenkrankheit ist China praktisch zum Stillstand gekommen. In der hart betroffenen Provinz Hubei wurden 45 Millionen Menschen abgeschottet. Alle Verkehrsverbindungen sind dort gekappt. Landesweit werden Überlandbusse gestoppt, Züge und Flüge reduziert. Die Ferien zum chinesischen Neujahrsfest wurden verlängert: Schulen, Universitäten und Kindergärten bleiben geschlossen, Fabriken stehen still und Büros sind verriegelt. Nach Ikea oder H&M schließt auch Apple bis mindestens 9. Februar seine Läden.
taz. die tageszeitung
Sobald die Passagiere in Deutschland gelandet sind, sollen sie 14 Tage in Quarantäne bleiben. In China stieg die Zahl der Erkrankten auf rund 12.000.
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Kolumne Durch die Nacht: Jazz muss anders funktionieren - taz.de
Kolumne Durch die Nacht: Jazz muss anders funktionieren Nicht nur musikalisch, auch diskursiv: auf der fünften Berliner Jazzwoche werden ab Freitag Machokult und unfaire Gagen thematisiert. Peter Brötzmann (r.) bei einem Konzert mit Band in Moers 2010. Alles Männer, wie im Jazz üblich Foto: picture alliance / dpa | Bernd Thissen Peter Brötzmann ist gestorben, der auch für mich ein großer Held war. Seine Platte „Machine Gun“ von 1968 musste ich mir dann gleich noch einmal anhören und erneut völlig überwältigt feststellen, dass sie immer noch zu den radikalsten Werken gehört, die ich so kenne, und das nicht nur im Bereich Free Jazz, sondern überhaupt. Brötzmann kam noch aus einer Zeit, in der der Jazz scheinbar naturgegeben Männersache war. Ich habe mir dann auch noch einmal die Line-ups auf dem von ihm mitgegründeten Berliner Jazzfestival Total Music Meeting angesehen, das es bis 2008 40 Jahre lang gab, und wurde natürlich kein bisschen überrascht. Mit ein paar Ausnahmen tröteten da die hartgesottenen Free-Jazz-Kerle – wie Brötzmann selbst einer war – alles nieder. Aber die Jazzwelt, der der große, wenngleich auch körperlich eher kleine Saxofonist entstammt, bröckelt. Und nach Möglichkeit sollte es sie bald nicht mehr geben. Denn noch hat der Jazz im Bereich Gleichberechtigung besonders viel Nachholbedarf. Studien auch aus jüngerer Zeit belegen: Die große Mehrheit der Jazzer sind immer noch Männer. Wofür es allerlei Gründe gibt. Sicherlich auch den, dass Frauen gar nicht zugetraut wird, ähnlich energetisch und kraftvoll in ihr Horn blasen zu können, wie Brötzmann das bis ins hohe Alter vermochte. Berliner Jazz Woche Die fünfte Berliner Jazzwoche, die diesen Freitag beginnt und die aktuelle Entwicklungen des Jazz in der deutschen Hauptstadt nicht nur mit Konzerten, sondern auch diskursiv beleuchtet, will sich bei Panels und Diskussionsrunden nun die Strukturen einmal genauer ansehen, die den immer noch vorhandenen Machokult im Jazz mitbedingen. Um Safe Spaces und warum der Jazz diese braucht, soll es da beispielsweise gehen. Außerdem darum, wie man diverser ein Jazzprogramm im Club oder auf einem Festival kuratieren kann. Im Bereich Jazz lautet die Standardausrede meist immer noch: Wir würden ja gerne mehr Frauen einladen, aber es gibt einfach zu wenige. Das war im Club- und Popmusikbereich vor ein paar Jahren noch ähnlich. Aber inzwischen hat sich da doch einiges getan. Der Jazz sollte hier schleunigst nachziehen. Mit zu dieser Debatte gehört auch das im Rahmen der Jazzwoche anberaumte Werkstattgespräch, das sich mit fairer Bezahlung in der Musik auseinandersetzen möchte. Das passt gut, denn gerade in Berlin ist es immer noch so, dass auch gestandene Profis irgendwo auftreten und, anstatt dass dann eine anständige Gage bezahlt wird, bloß der Hut rumgeht. Prekäre Lebensbedingungen hindern Frauen am Jazzen Auch dazu besagen Studien so einiges: Frauen wollen oder können sich diesen prekären Lebensstandard weniger leisten als Männer. Zumal als Mütter, wenn von ihnen verlangt wird, in irgendeinem Club irgendwann in der Nacht für ein paar Euro aufzutreten, während daheim ein Kind versorgt werden will, wobei der Partner – man kennt das ja nur zu gut und auch hierzu gibt es natürlich belastbare Zahlen – oft genug nur bedingt hilfreich ist. Es gibt einen Dokumentarfilm über Peter Brötzmann, der hat den bezeichnenden Titel: „Soldier of the Road“. Eine funktionierende Beziehung zu führen und sich um die Kinder zu kümmern, das sei bei seinem Globetrotter-Leben kaum möglich, hat Brötzmann einmal zu Protokoll gegeben. Der Mann war ein Unikat und hat viel für den Jazz getan. Aber diese Musik muss heute anders funktionieren und anders strukturiert sein als zu seinen Zeiten, um wirklich zeitgemäß sein zu können.
Andreas Hartmann
Nicht nur musikalisch, auch diskursiv: auf der fünften Berliner Jazzwoche werden ab Freitag Machokult und unfaire Gagen thematisiert.
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Unangenehm aktuelle Beobachtungen - taz.de
Unangenehm aktuelle Beobachtungen Die Reportagen, Kommentare und Polemiken, die Leo Trotzki zu den Balkankriegen von 1912 und 1913 geschrieben hat, sind erstaunliche Dokumente nicht nur ihres Autors wegen. Als zeitgenössische Texte, die Trotzki unter Pseudonym für eine Kiewer Tageszeitung verfaßt hat, sind sie von beachtlichem Quellenwert. Daß sie auch aufschlußreicher sind als die damaligen Berichte englischer, französischer oder deutscher Korrespondenten, ist nicht nur auf Trotzkis klugen analytisch-historischen Blick zurückzuführen. Seinen besonderen Blickwinkel verdankt der ungewöhnliche Journalist auch dem Mißtrauen der bulgarischen Behörden gegenüber dem radikalen Wiener Exilrussen. Trotzki durfte nicht an die Front und mußte seine Eindrücke im wesentlichen in Sofia sammeln. Das war sein Glück, denn auf diese Weise traf er verwundete Soldaten und andere informierte Zeugen, von denen er viel mehr erfahren konnte als die Journalisten, die sich von den siegreichen bulgarischen und serbischen Heeren an die Front kutschieren ließen. So kann Trotzki aus erster Hand – und erfreulich häufig in direkter Wiedergabe von Augenzeugenberichten – über die ungeheuren Grausamkeiten des damaligen Krieges Zeugnis ablegen. Und vor allem über die systematischen Verletzungen der erst fünf Jahre zuvor verabschiedeten Grundsätze der „Haager Landkriegsordnung“, die den modernen Krieg in Paragraphen mit humanitären Schutzklauseln bannen wollte. Entsetzt registriert er die systematische Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung, die wir heute als „ethnische Säuberungen“ bezeichnen würden. So ist es kein Zufall, daß Trotzkis Beobachtungen uns unangenehm aktuell vorkommen – etwa, wenn er über die Persönlichkeitsveränderung schreibt, die unbedeutende Männer überkommt, sobald man sie in eine Uniform steckt und ihnen imaginäre nationale Ziele einredet. Daß Trotzki nur die Grausamkeiten des bulgarischen und serbischen Ethnokrieges bezeugen konnte, ist ihm als unfreiwillige Einseitigkeit selbst bewußt. Für ihn gibt es keinen Zweifel, daß die anderen Kriegsparteien nicht nur in demselben Geist, sondern auch mit denselben Mitteln kämpften. Für die griechische Armee zum Beispiel ist das völkerrechtswidrige Vorgehen gegen die „feindliche“ Zivilbevölkerung ähnlich eindrucksvoll in einem Bericht für die Carnegie-Foundation geschildert, der von einer internationalen Untersuchungskommission nach Kriegsende angefertigt wurde. Zusammen mit diesem Bericht sind die Trotzki-Schriften die lehrreichsten Dokumente über einen Krieg, dessen spezifische Grausamkeit nur deshalb in Vergessenheit geraten konnte, weil ihm die Material- und Massenschlachten des Ersten Weltkrieges auf dem Fuße folgten. Und eine Ironie besonderer Güte liegt natürlich darin, daß sich hier der spätere Organisator der Roten Armee als Zeuge eines schmutzigen Krieges in kompromißloser pazifistischer Gesinnung präsentiert. Nils Kadritzke Leo Trotzki: „Die Balkankriege 1912–13“. Aus dem Russischen von Hannelore Georgi und Harald Schubärth, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1996, 580 S., 48 DM
Nils Kadritzke
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Reformbewegungen bei den Katholiken: Lasst Frauen sprechen von der Kanzel - taz.de
Reformbewegungen bei den Katholiken: Lasst Frauen sprechen von der Kanzel Wird Deutschlands katholische Kirche nun von synodaler Aufbruchstimmung ergriffen? Die Beharrungskräfte sind groß, doch der Druck der Basis steigt. Pink und laut: Aktivistinnen von Maria 2.0 protestieren in Köln gegen einen problematischen Mann: Erzbischof Woelki Foto: Christoph Hardt/picture alliance BERLIN taz | „Frauen an die Macht – Männer in die zweite Reihe“, „Frauen in Leitung in Kirche“, „Macht.Frau.Religion“, „Die Päpstin“. Und: „Lebensort Regenbogenfamilie“, „‚OutInChurch‘ – Für eine Kirche ohne Angst“, „Jesus liebt Trans“: So lesen sich die Titel einiger Diskussionen und Veranstaltungen beim Katholikentag in Stuttgart 2022. Moment mal: Frauen an die Macht und Kirche ohne Angst? Was ist da los bei den Katholiken? In der katholischen Kirche tut sich etwas, eben ausweislich des Programms des 102. Katholikentags vom 25. bis 29. Mai 2022. Zwar sehr viel weniger und sehr viel langsamer, als sich das Re­form­ka­tho­li­k:in­nen wünschen. Aber im 21. Jahrhundert soll die Kirche nicht mehr so erstarrt, so männerlastig, so ausgrenzend bleiben wie bisher. Erst recht nicht, wenn sich um sie herum die Welt verändert und die Gesellschaft nach mehr Gleichstellung ruft: Frauen in Führungspositionen, Väter an die Wickeltische, gleiche Bezahlung für gleiche Jobs, Anerkennung von queeren Personen, gleiche Rechte für Familien, die nicht aus Vater, Mutter, Kind(ern) bestehen. Allein 2020 über 200.000 Austritte Nun könnten der katholischen Kirche die Forderungen der Gesellschaft weitgehend egal sein, schließlich hat die Institution ihren eigenen Kosmos mit eigenen Regeln und eigenem Tempo, erwachsen aus über 2000-jähriger Geschichte. Aber wenn immer mehr Gläubige die Kirche verlassen – allein 2020 über 221.000 Menschen – und das mit verkarsteten Strukturen, Menschenverachtung und Ausgrenzung Andersseiender begründen, bleibt der Kirche wohl nichts anderes übrig, als sich zu bewegen. Den Anstoß zur Veränderung gab 2010 ein Skandal, der die katholische Kirche seitdem nicht mehr loslässt: Tausendfache sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Obhut katholischer Einrichtungen wurde ruchbar, öffentlich und endlich Thema. Seit Pater Klaus Mertes (siehe unser Interview hier), damals Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, die Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich gemacht hatte und damit den Stein zur Veränderung ins Rollen brachte, ist die Kirche nicht nur in der Pflicht, die Fälle aufzuarbeiten, sondern auch, sich so zu verändern, dass Machtmissbrauch in der Kirche keine Chance mehr hat. An dieser Stelle kommt die Kirche jedoch an den Frauen nicht vorbei. Es sind vor allem Frauen, die den kirchlichen Modernisierungsprozess ankurbeln, kirchliche Strukturen leben mehrheitlich von weiblichen Mitarbeiterinnen und ehrenamtlichen Kräften: in Kitas, Gemeinden, Beratungsstellen, karitativen Einrichtungen. Die Kirche ist einer der größten Arbeitgeber des Landes. Allerdings sind Frauen vor allem an der Basis beschäftigt und tätig, also jenseits der institutionellen Macht. Genau das dulden Frauen nicht länger, sie wollen Einfluss und Entscheidungsteilhabe. Gegensatz zur dienenden und schweigenden Frau Es war eine Frage der Zeit, bis sich eine Initiative wie Maria 2.0 gründete. Vor genau drei Jahren gingen mit einer Aktionswoche in Münster Katholikinnen auf die Straße und forderten, sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten, Frauen ins Priesteramt zu berufen, homosexuelle Lebensentwürfe anzuerkennen. 2.0 ist der Gegensatz zu Maria 1.0 als Idealbild der dienenden und schweigenden Frau und steht für Neuanfang: Alles auf null stellen! So zumindest formulierte es Lisa Kotter, die Initiatorin von Maria 2.0. Vor einem Jahr haben 150 Katholikinnen ihren Wunsch, Priesterin zu werden, in einem Buch festgehalten, Überschrift: „Schweigen war gestern: Maria 2.0 – Der Aufstand der Frauen in der katholischen Kirche“. Ein lebendiges Plädoyer für einen Aufbruch. Die Frauen drängen darauf, dass das Priesteramt sich endlich für Frauen öffnen möge, eine schreibt sogar dem Papst. Das unterstützen einige Männer, darunter Johannes Eckert, Benediktinerabt von Sankt Bonifaz in München. Im Deutschlandfunk plädierte er im vorigen Sommer klar für die Priesterweihe von Frauen, diese sei „absolut wünschenswert“. Und wann kommt die? Eckert sagt: „Vielleicht in näherer Zeit.“
Simone Schmollack
Wird Deutschlands katholische Kirche nun von synodaler Aufbruchstimmung ergriffen? Die Beharrungskräfte sind groß, doch der Druck der Basis steigt.
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Nach den Anschlägen von Boston: „Jemand weiß, wer das getan hat“ - taz.de
Nach den Anschlägen von Boston: „Jemand weiß, wer das getan hat“ Das FBI fahndet nach den Tätern von Boston, Reste von schwarzen Nylon-Taschen und von Schnellkochtöpfen sind die heißesten Spuren. Die drei Toten wurden inzwischen identifiziert. Was vom Anschlag übrig blieb: Fotos der Spurensicherung in Boston. Bild: reuters BOSTON afp | Nach dem Bombenanschlag auf den Marathon von Boston mit drei Toten haben die Ermittler noch keinen Hinweis auf die Täter. Niemand habe sich zu der Tat bekannt, die Ermittlungen gingen in alle Richtungen, teilte die Bundespolizei FBI am Dienstag mit. „Die Bandbreite der Verdächtigen und der Motive bleibt groß“, sagte der leitende FBI-Agent Rick DesLauriers. Demnach wurden aber erste Spuren gesichert. Im FBI-Labor in Quantico im US-Bundesstaat Virginia würden Metallteile untersucht sowie Reste von schwarzen Nylon-Taschen und von Schnellkochtöpfen. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Bomben aus Schnellkochtöpfen gebaut wurden, die in den Taschen versteckt wurden. Offenbar wurden die Sprengsätze mit zahlreichen Metallteilen wie Nägeln gespickt, um möglichst großen Schaden anzurichten. Ärzte berichteten, dass vielen Verwundeten „kleine metallische Fragmente“ wie Nägel und Kugeln herausoperiert worden seien. Mehreren Patienten hätten die Beine amputiert werden müssen. Die Bundespolizei FBI und die Polizei von Boston baten die Bevölkerung um Mithilfe. Aufnahmen, die unmittelbar vor und unmittelbar nach den Explosionen gemacht worden seien, seien besonders wichtig für die Ermittlungen, sagte der örtliche Polizeichef Ed Davis. DesLauriers rief Mitarbeiter von Restaurants und Geschäften in der Nähe des Anschlagsortes auf, Bilder von Überwachungskameras zur Verfügung zu stellen. „Jemand weiß, wer das getan hat“, sagte er. „Die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit wird eine entscheidende Rolle bei den Ermittlungen spielen.“ Mehr als 2.000 Hinweise Bis Dienstagmittag gingen nach Angaben der Ermittler mehr als 2.000 Hinweise aus der Bevölkerung ein. Laut DesLauriers wurden bereits viele Stunden Filmmaterial und zahlreiche Fotos gesichtet und analysiert. Ein 1.000-köpfiges Team ermittle rund um die Uhr. Zwei Explosionen hatten am Montag den Zielbereich des traditionsreichen Marathonlaufs in Boston erschüttert. Drei Menschen wurden nach Polizeiangaben getötet und 176 weitere verletzt. 17 Verletzte befanden sich am Dienstag in einem „kritischen Zustand“. Unter den Toten ist auch der achtjährige Martin Richard, der seinen Vater an der Ziellinie anfeuern wollte. Seine Schwester verlor bei dem Anschlag ein Bein, die Mutter erlitt Kopfverletzungen. Bei einem weiteren Opfer handelt es sich um die 29-jährige Restaurantangestellte Krystle Campbell. Chinese unter den Opfern Zudem wurde ein chinesischer Staatsbürger getötet, wie die Nachrichtenagentur Xinhua unter Berufung auf das chinesische Konsulat in New York meldete. Die Universität von Boston hatte zuvor mitgeteilt, einer ihrer Studenten sei unter den Todesopfern. Der Name des dritten Opfers wurde zunächst nicht genannt. Am Dienstagabend versammelten sich mehr als 1.000 Menschen, vor allem Angehörige und Freunde, in einem Park nahe Martin Richards Haus zu einer Kerzenwache mit Gebeten. Auch an anderen Orten in Boston kamen Menschen zu Gedenkveranstaltungen mit Gesang, Gebeten und Kranzniederlegungen zusammen. US-Präsident Barack Obama will am Donnerstag in Boston bei einem interkonfessionellen Gottesdienst für die Opfer des Anschlags eine Rede halten, wie das Weiße Haus mitteilte. Unterdessen wurde bekannt, dass an einen US-Senator ein Brief mit dem Gift Rizin adressiert wurde. Unklar war, ob es einen Zusammenhang mit dem Anschlag von Boston gab.
taz. die tageszeitung
Das FBI fahndet nach den Tätern von Boston, Reste von schwarzen Nylon-Taschen und von Schnellkochtöpfen sind die heißesten Spuren. Die drei Toten wurden inzwischen identifiziert.
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Nach Attacke auf Schriftsteller: Rushdie ist wieder ansprechbar - taz.de
Nach Attacke auf Schriftsteller: Rushdie ist wieder ansprechbar Salman Rusdie wird nicht mehr beatmet. Der britische Premier-Kandidat Sunak fordert Sanktionen gegen den Iran. Der PEN ernennt Rushdie zum Ehrenmitglied. Wurde schwer bei einer Messerattacke verletzt: Schriftsteller Salman Rushdie Foto: Rogelio V. Solis/ ap MAYVILLE/LONDON/BERLIN ap/dpa | Der bei einem Angriff schwer verletzte Autor Salman Rushdie ist nach Angaben seines Agenten nicht mehr an ein Beatmungsgerät angeschlossen und spricht wieder. Andrew Wylie nannte am Samstag keine weiteren Details. Wylie hatte am Freitagabend angegeben, der 75-jährige Rushdie sei an der Leber und an Nerven in einem Arm verletzt worden. Zudem werde er ein verletztes Auge wahrscheinlich verlieren. Der mutmaßliche Angreifer, ein 24-Jähriger aus dem US-Staat New Jersey, wies vor Gericht den Vorwurf zurück, er habe am Freitag im US-Staat New York versucht, Rushdie zu töten. Das Gericht ordnete an, dass der Beschuldigte Hadi M. in Untersuchungshaft bleibt. Eine Freilassung gegen Kaution wurde ausgeschlossen. Staatsanwalt Jason Schmidt sagte, M. habe den Angriff auf den Schriftsteller geplant. Er habe sich ein Ticket für die Veranstaltung besorgt, auf der Rushdie sprechen wollte, und sei einen Tag zuvor mit einem gefälschten Ausweis angereist. „Dies war ein gezielter, unprovozierter, im Voraus geplanter Angriff auf Herrn Rushdie“, sagte Schmidt. Es wurde noch ermittelt, ob es nur einen Verdächtigen gibt. Todesdrohungen seit 30 Jahren Gegen Rushdie gibt es seit mehr als 30 Jahren Todesdrohungen wegen seines Romans „Die satanischen Verse“. Der frühere iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini hatte mit einer Fatwa zur Tötung des Autors aufgerufen. Viele Muslime halten es für blasphemisch. Durch den Angriff auf Rushdie stieg das Interesse an dem Buch. Bei Amazon.com lag es am Samstagnachmittag auf Platz 13 der Bestseller-Liste. US-Präsident Joe Biden teilte am Samstag mit, er und seine Frau Jill seien über den Angriff auf Rushdie schockiert. „Salman Rushdie – mit seinen Einblicken in die Menschlichkeit, seinem einzigartigen Gespür für die Erzählung, mit seiner Weigerung, sich einschüchtern oder zum Schweigen bringen zu lassen – steht für essenzielle, universelle Ideale“, gab Biden an. „Wahrheit. Mut. Widerstandskraft. Die Fähigkeit, ohne Angst Ideen zu teilen. Das sind die Bausteine jeder freien und offenen Gesellschaft.“ Forderung nach Sanktionen und Solidarität Der britische Premier-Kandidat Rishi Sunak hat Sanktionen gegen den Iran gefordert. Sunak sagte dem Telegraph (Sonntag), der Angriff müsse ein „Weckruf für den Westen“ sein und spreche dafür, die iranische Revolutionsgarde als Terrororganisation einzustufen. Man müsse sich außerdem fragen, ob eine potentielle Einigung mit Iran im Atomstreit „möglicherweise in einer Sackgasse angekommen“ sei. Auch der Schriftstellerverband PEN in Deutschland hat erneut seine Solidarität mit dem angegriffenen Autor Salman Rushdie bekundet. „Als Zeichen unserer Solidarität mit diesem mutigen Kämpfer für die Freiheit des Wortes ernennt das Präsidium des PEN-Zentrums Deutschland Salman Rushdie zum Ehrenmitglied“, sagte Claudia Guderian, Generalsekretärin des PEN Deutschland, laut Mitteilung vom Sonntag. Auch der 73-jährige Moderator der Veranstaltung mit Rushdie, Henry Reese, wurde bei dem Angriff verletzt. Er erlitt nach Polizeiangaben eine Verletzung im Gesicht und wurde nach einer Behandlung aus dem Krankenhaus entlassen.
taz. die tageszeitung
Salman Rusdie wird nicht mehr beatmet. Der britische Premier-Kandidat Sunak fordert Sanktionen gegen den Iran. Der PEN ernennt Rushdie zum Ehrenmitglied.
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Zerstörung von armenischen Kirchen: Der Offizier auf dem Glockenturm - taz.de
Zerstörung von armenischen Kirchen: Der Offizier auf dem Glockenturm In den von Aserbaidschan beherrschten Regionen werden armenische Kirchen zerstört. So beginnt das Umschreiben der Geschichte. Armenier besuchen Ende 2020 das Kloster Dadiwank, bevor das Gebiet an Aserbaidschan übergeben wird Foto: Sergei Grits/ap Aserbaidschans Regierung hat eine Lösung gefunden, um die Geschichte im Südkaukasus neu zu schreiben. Ende März wurde die armenische Kirche „Heilige Gottesmutter Maria“ in der Stadt Jebrayil dem Erdboden gleichgemacht. Die gleichnamige Region wird seit dem Ende des Krieges um Bergkarabach Mitte November von Aserbaidschan kontrolliert. Keine Kirche, keine Armenier*innen, so einfach ist das für den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew. Schon kurz nach dem Abschluss des Waffenstillstandsabkommens feierten die ersten aserbaidschanischen Soldaten ihren Sieg auf dem Dach der armenischen Kirche in Jebrayil. Im Netz zirkulieren Videos, die zeigen, wie ein aserbaidschanischer Offizier auf der Spitze des Glockenturms steht. Er erhebt seine Hände und ruft minutenlang so laut, wie er kann, „Allahu Akbar“. Seine Soldaten wiederholen das im Chor. Armenien beschuldigt Aserbaidschan der Zerstörung armenischer Gotteshäuser und Kreuzstein-Denkmäler, die die Ar­me­nie­r*in­nen in den nun von Aserbaidschan beherrschten Regionen zurückgelassen haben. Auf zahlreichen Aufnahmen ist zu sehen, wie aserbaidschanische Soldaten armenische Kirchen entweihen. Baku erinnert seinerseits daran, dass es Ar­me­nie­r*in­nen waren, die aserbaidschanische Kulturgüter während des ersten Krieges Anfang der 1990er Jahre beschädigt und zerstört hätten. Damals hatte Armenien sieben Regionen rund um das Gebiet Berg­karabach erobert. Ein leeres Feld, wo die Kirche nicht mehr stand Das Schicksal der Marienkirche in Jebrayil wurde bekannt, weil ein Team der BBC zu Recherchezwecken in die Region gereist war. An der Stelle, wo das Gotteshaus stand, fanden die Jour­na­lis­t*in­nen nur ein leeres Feld vor. Die apostolische Kirche in Jebrayil war relativ neu. Sie wurde vor drei Jahren von armenischen Soldaten für armenische Militärangehörige gebaut. Die armenische Seite hat über 80 armenische Kirchen und Klöster allein in Bergkarabach registriert, die über viele Jahrhunderte hinweg errichtet wurden. Über 4.000 Denkmäler werden in der staatlichen Liste für Denkmalschutz geführt. Sie werden unter anderem bis auf das 9. Jahrhundert nach Christus datiert. Dutzende davon fallen jetzt unter aserbaidschanische Kontrolle, wie der Klosterkomplex Dadiwank. Im März besuchte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew eine armenische Kirche aus dem 12. Jahrhundert im Dorf Hunarli (armenisch: Tsakuri) in der Nähe der Region Hadrut. Diese Region gehört zu dem Teil von Bergkarabach, den die aserbaidschanische Regierung von Baku aus jetzt ebenfalls kontrolliert. Auch diese Kirche ist in ihrer Existenz bedroht, obwohl Kameras Alijews Besuch dokumentierten. Die Wände der Kirche sind mit armenischen Inschriften geschmückt. „All diese Inschriften sind gefälscht – sie sind jüngeren Datums. Armenien hat sich eine falsche Geschichte geschaffen – in einem alten Land, das uns gehört“, sagte Aliijew. „Armenien wollte diese Kirchen armenisieren, aber das ist gescheitert“, sagte Alijew. Die Botschaft: Das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan erhebt generell Anspruch auf armenische Kirchen und Klöster in der gesamten Region. Bakus Begründung lautet wie folgt: Aserbaidschan sei der Nachfahre der alten kaukasischen albanischen Zivilisation. Der Begriff Kaukasisches Albanien bezeichnet einen ehemaligen Staat. Er befand sich in der Antike im Kaukasus, hauptsächlich im heutigen Aserbaidschan. Doch die Aser­bai­dscha­ne­r*in­nen machen auch vor anderen armenischen Gedenkorten nicht Halt. In der Stadt Schuschi ließ Baku ein Genozid-Mahnmal abreißen, das an den türkischen Völkermord an den Ar­me­nie­r*in­nen 1915 erinnerte. Das passt ins Bild: Während des Krieges um Bergkarabach war die Türkei Aserbaidschans treuester Verbündeter.
Tigran Petrosyan
In den von Aserbaidschan beherrschten Regionen werden armenische Kirchen zerstört. So beginnt das Umschreiben der Geschichte.
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Oude Stukje, ein Stoiker mit Stil - taz.de
Oude Stukje, ein Stoiker mit Stil Torwart Edwin van der Sar nennt sich selbst ein „altes Stückchen“, denn er ist 37 Jahre alt und spielt sein siebtes Turnier für Holland. Das Team ist vielleicht nicht mehr so stark wie seine Vorgänger, dafür hält van der Sar inzwischen Elfmeter NIEDERLANDE – ITALIENDie Italiener ohne Abwehrchef Cannavaro könnten ihr Heil in der Offensive suchen, Trainer Donadoni will jedenfalls angeblich drei Stürmer aufbieten; die Niederländer, denen auch einige Spieler fehlen, arbeiten sich wohl an ihrem neuen 4-2-3-1-System ab. Niederlande: van der Sar – Ooijer, Heitinga, Mathijsen, van Bronckhorst – de Zeeuw, Engelaar – Snejder, van der Vaart, Kuyt, – van Nistelrooy Italien: Buffon – Panucci, Barzagli, Materazzi, Zambrotta – Gattuso, De Rossi, Pirlo – Camoranesi, Toni, Di Natale Anstoß: Mo., 20.45 Uhr (ARD) BERLIN taz ■ Hat er tatsächlich gelächelt? Alex Ferguson, Manager von Manchester United, könnte darauf schwören. Wenn man sich die Sekunden vor dem letzten Elfmeter im Finale der Champions League in Moskau in der Aufzeichnung genau betrachte, sagt er, könne man es sehen: einen Torwart, der erst zum Grinsen und dann zum Sprung in die rechte Ecke ansetzt, um den Schuss zu entschärfen. So war es für Ferguson an jenem 21. Mai, als sein Team durch den Sieg im Elfmeterschießen Chelsea bezwang. Und so passt es in sein Bild von Edwin van der Sar, seinem Keeper: Seit er Fußballmanager ist, will der 66-jährige Ferguson keinen unaufgeregteren Menschen zwischen den Pfosten gesehen haben. Der 1,97 Meter große Torhüter aus Voorhout an der Nordsee strahlt durch seine Mimik und Körpersprache so viel Gleichmut aus, dass er bisweilen schon verschlafen wirkt. Der Begriff „Rückhalt“ bekommt durch ihn eine geradezu spirituelle Dimension, auch weil die Dynamik, mit der er im entscheidenden Moment nach den Bällen fischt, nicht mal im Ansatz zu erkennen ist. Diese Portion Stoizismus kann Hollands Auswahl heute gegen Italien gut gebrauchen. Denn der 37-jährige Kapitän mit dem Ballgefühl eines Feldspielers wirkt hinter der Viererkette, jenem Mannschaftsteil, der allgemein als wunder Punkt gilt. Van der Sar ist in seinem 14. Jahr als Nationalkeeper der Souverän auf dem Platz wie drum herum und oberster Troubleshooter der Elftal. Er vermittelte, damit Bondscoach Marco van Basten und sein vergraulter Star Ruud van Nistelrooy nach der WM neu zueinander fanden. Er rettete nicht nur entscheidende Punkte, sondern auch die Außenwirkung der Elf. Im November gegen Luxemburg sicherte seine Glanzparade kurz vor Spielschluss das 1:0 – und damit das Ticket zur EM. Unmittelbar danach griff sich van der Sar mehrere Mitspieler, die sich wegen der Pfiffe grußlos in die Rotterdamer Umkleiden verdünnisieren wollten – und schleppte sie zu den Fans. „Ich wollte Menschen immer helfen“, sagte er kürzlich, „innerhalb wie außerhalb des Spielfelds.“ Mancher Zwist in der Auswahl blieb hinter der freundlichen Miene des zweifachen Vaters verborgen. Natürlich hat ihn genervt, dass hoch gelobte holländische Auswahlen zwischen 1996 und 2000 jeweils nach Elfmeterschießen aus Turnieren ausschieden – auch weil er nicht einen Strafstoß abwehren konnte. Erst bei der EM 2004 wurde er zum Matchwinner, als er im Viertelfinale gegen Schweden einen Elfer abwehrte. Es folgten auch im Verein einige Elfmeterparaden und Titelgewinne. Die sind für ihn späte Genugtuungen für sieben glanz- und titellose Jahre bei Juventus Turin und dem FC Fulham. Zuvor hatte er mit Ajax Amsterdam 1992 den Uefa-Cup, drei Jahre darauf die Champions League gewonnen. Inzwischen ist er nach eigenen Worten ein „oude stukje“ (altes Stückchen) geworden, das gerne mal ein Länderspiel sowie die ein oder andere Trainingsübung auslässt. Umso wichtiger ist ihm der würdige Stil seines wohl unumstößlichen Abgangs als Nationalkeeper. „An Endrunden habe ich genug teilgenommen“, findet van der Sar, „ich würde gerne mal eine gewinnen.“ BERTRAM JOB
BERTRAM JOB
Torwart Edwin van der Sar nennt sich selbst ein „altes Stückchen“, denn er ist 37 Jahre alt und spielt sein siebtes Turnier für Holland. Das Team ist vielleicht nicht mehr so stark wie seine Vorgänger, dafür hält van der Sar inzwischen Elfmeter
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ZWISCHEN DEN RILLEN: Schön, schäbig und charmant - taz.de
ZWISCHEN DEN RILLEN: Schön, schäbig und charmant Karen O: „Crush Songs“ (Cult Records/ Rough Trade) Die Bühne ist in tiefes Schwarz getaucht. Licht spendet einzig der auf eine Leinwand gezogene Mond, er leuchtet die beiden Protagonisten aus. Barfüßig und in einer knallroten Robe haucht Karen O die Zeilen von „The Moon Song“ ins Mikrofon. Begleitet wird sie dabei von Vampire-Weekend-Sänger Ezra Koenig, der die Saiten seiner Gitarre sanft anspielt. Erst am Textende finden ihre beiden Stimmen zueinander: „Making sure that I’m okay / And we’re a million miles away / A million miles away / A million miles away“: Zerbrechlich und schaurig schön ist dieser romantische Moment, der die Oscar-Verleihung in Los Angeles Anfang März veredelte. Karen O, bürgerlich Karen Lee Orzolek, erhielt für „The Moon Song“, ihren Beitrag zum Soundtrack von Spike Jonzes’ romantischem Science-Fiction-Drama „Her“, eine Nominierung in der Kategorie „Beste Filmmusik“. Und wie sich nun herausstellt, hat die gebürtige Südkoreanerin dafür nicht zum ersten Mal ihr schrilles, exzentrisches Auftreten als Sängerin der Yeah Yeah Yeahs mit feinsinniger Melancholie substituiert. Kreuzzug der Liebe Jetzt erscheint auch Karen Os Solo-Debütalbum „Crush Songs“: 14 Lieder, die zwischen 2006 und 2007 in ihrem Schlafzimmer entstanden sind. Bei der 27-jährigen Musikerin wird daraus ein „ganz persönlicher Kreuzzug der Liebe“. Einen günstigeren Zeitpunkt zum Launch ihrer Solokarriere hätte sich Karen O nicht aussuchen können. Die Yeah Yeah Yeahs verloren im vergangenen Jahr ihren Plattenvertrag – Karen O hatte die „Crush Songs“ derweil schon im Kasten. Ursprünglich war es nur Ventil für Liebeskummer. „Ich war unsicher, ob ich mich jemals wieder verlieben könnte“, schreibt sie im Booklet lakonisch. Die Songs sind für Orzolek gleichzeitig das Vakuum der Vergangenheit und ein Aufbruch nach vorne. Ihr Portfolio hat sich in den letzten Jahren enorm erweitert: Soundtracks („Where the wild Things are“), Theaterstücke („Stop The Virgins“ – eine Rock-Oper, uraufgeführt 2011 in Brooklyn), nicht zuletzt gilt sie auch als übersprudelnde Ideengeberin ihrer Band. Nicht zu blumig „Crush Songs“ ist ein Konzeptalbum über die Liebe. Dabei verherrlicht die Musik weder allzu blumig das Thema, noch weist sie überladenes Pathos auf. Dem Wahnsinn des Moments gilt auf „Crush Songs“ Karen Os ganze Aufmerksamkeit. Die widrigen Umstände sind der Musik auch deutlich anzuhören. Erfreulicherweise. Denn Orzoleks Debüt erinnert mehr an ein Demotape eines unentdeckten Talents als an ein sorgfältig ausformuliertes Soloprojekt eines Superstars. Einige Lieder sind nicht mehr als Skizzen: ein Gedanke, ein Akkord, ein Verblassen. Aber, wie schon bei „The Moon Song“, beweist Karen O die Fähigkeit, rohe Emotionen zu transportieren. Sei es Liebe, Einsamkeit oder Willensstärke. Genauso reduziert wie die Produktion ist auch das eingesetzte Instrumentarium: Akustische Gitarre, Piano und Orzoleks introvertierter, gebrochener Gesang. Ihre Stimme flüstert die Songs oft, tut dies aber genauso intensiv wie es der jeweilige Track verlangt. Das Album derart simpel zu produzieren, ist gewagt, gleichzeitig scheint es aber die geeignete Methode, um Intimität und Rohheit beizubehalten. Jene dezenten Gedanken, die auf der Oberfläche geistlos poetisch wirken, in Wahrheit aber Allegorie für alle sind, die sich in der Utopie der Liebe schon mal verloren haben, waren es auch, die Strokes-Sänger Julian Casablancas davon überzeugten, das Material auf seinem eigenen Label Cult zu veröffentlichen. „Crush Songs“ klingt nicht nach dem, was man sich von einem Debüt erwartet hätte, doch gerade der schäbig-schöne Charme, diese gewaltige Unkonstruiertheit des Albums, machen Karen O so wunderbar vollkommen. NADJA NEQQACHE ■ Live: 7. 10., Heimathafen, Berlin
NADJA NEQQACHE
Karen O: „Crush Songs“ (Cult Records/ Rough Trade)
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Neues Buch „Kanaillen-Kapitalismus“: Kleinode der Erkenntnis auf LSD - taz.de
Neues Buch „Kanaillen-Kapitalismus“: Kleinode der Erkenntnis auf LSD Literatur und Katastrophen: César Rendueles nimmt uns mit auf einen Assoziationstrip ins Herz des mörderischen Kapitalismus. Kongo, 1892. Bau der Eisenbahn unter belgischer Herrschaft. Joseph Conrad, Autor von „Herz der Finsternis“, kannte die dortigen Zustände aus eigener Anschauung Foto: Prisma Archiv/picture alliance Das Buch mit dem Titel „Kanaillen-Kapitalismus“, der Beschimpfung, Anklage und Kampfansage anklingen lässt, ist ein Werk, das sich nicht so ohne Weiteres dem Leser erschließt. Schon im Prolog des spanischen Soziologen César Rendueles erfährt man zwar viele interessante Dinge, aber wie sich diese in die eher assoziative Vorgehensweise des Autors einfügen lassen, wie er sein Buch gerne verstanden wissen will, worauf er hinaus will, was seine These ist, all das also, was man vom Autor in der Vorbemerkung erwartet, wird man nicht wirklich finden. Stattdessen die im Hintergrund mitschwingende Ansage, dass eine ausgefeilte theoretische Kritik am Kasinokapitalismus nutzlos ist, wenn wir uns nicht von der uns „lähmenden Unterwürfigkeit befreien“. Vielleicht weil die Bedingung der Nützlichkeit nur unzureichend gegeben ist, wendet er sich einer Art Experiment zu, nämlich „mit Fragmenten der Fiktion die Spuren realer Prozesse zu rekonstruieren, die sich im LSD-Rausch des zeitgenössischen Kapitalismus verflüchtigt haben“. Aber nicht nur die Wortwahl (Fragmente, Spuren, verflüchtigen) weist darauf hin, dass hier etwas verhandelt wird, das alles andere als gesicherte Erkenntnis ist, auch die Interpretation der benutzten literarischen Texte ist „rein subjektiv“ und die autobiografischen Fakten spiegeln laut Autor nur das wider, was sich in seinem Kopf zugetragen hat. Damit zumindest gaukelt der Autor mit Sicherheit nichts vor, was er möglicherweise nicht einhalten könnte, und tatsächlich bleibt manchmal unklar, wie sich seine autobiografischen Anekdoten in die „fiktive Chronik der politischen Dilemmata unserer Zeit“ einfügen lassen. Dennoch ist sein Ansatz, wie sich in Romanen, Lyrik und Theaterstücken – wenngleich die Auswahl willkürlich und subjektiv ist – die kapitalistische Evolution widerspiegelt, nicht nur aufschlussreich und spannend, sondern man entdeckt immer wieder verstreut umherliegende Kleinode der Erkenntnis, und das ist manchmal ja vielversprechender als eine kohärente Theorie. „Herz der Finsternis“ Rendueles versteht es immer wieder, den Blick auf brisante und unerwartete Zusammenhänge zu lenken, wobei er nie den geringsten Zweifel daran aufkommen lässt, dass er leidenschaftlich einen Kapitalismus ablehnt, der in all seinen diversen Ausformungen Elend und Mord hervorgerufen hat, verantwortet häufig von Herrschenden, die sich nicht nur von Habgier und Macht leiten ließen, sondern die mit einem gewissen historischen Abstand nur als schwachsinnig eingestuft werden konnten. Das klassische und gut dokumentierte Beispiel ist Leopold II., dessen Herrschaft mehr als zehn Millionen Kongolesen das Leben kostete, weil die imperialen Mächte 1884 auf der Berliner Konferenz Afrika unter sich aufteilten und der Freistaat Kongo als persönliches Eigentum des belgischen Königs anerkannt wurde. Und die zunächst harmlose Anekdote von einem schottischen Tierarzt, der für das Dreirad seines Sohnes luftgefüllte Gummischläuche erfand, damit das Gefährt nicht so einen Krach machte, ebnete den Weg in die Katastrophe. taz am wochenendeDieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Der Name des Erfinders war John Dunlop und seine Schläuche lösten einen Kautschukboom aus mit dramatischen Folgen für Millionen Menschen nicht nur im Kongo, wo Leopold II. das Land in eine Monokultur verwandelte, und das auf äußerst brutale Weise. Die Saturday Review berichtete damals unter Berufung auf Augenzeugen von einem „System der Peinigung“ und davon, wie ein „gewisser Kapitän Rom … seine Blumenbeete mit Köpfen ermordeter und enthaupteter Eingeborener zu schmücken pflegte“. Für den polnischen Schiffskapitän Józef Korzeniowski war das nichts Neues, denn er hatte zehn Jahre zuvor bei einem auf die Förderung von Kautschuk und Elfenbein spezialisierten Unternehmen angeheuert. Acht Monate lang war er mit einem Boot auf dem Kongo gefahren und im Urwald mit einer gespenstischen, irrealen Welt konfrontiert, die er dann unter dem Namen Joseph Conrad in dem Roman „Herz der Finsternis“ beschrieb. Er machte in Europa eine Geisteshaltung aus, wie sie in Mr. Kurtz zum Ausdruck kam: „Rottet sie alle aus, die Tiere!“ Erkennen, was uns quält Auf ähnliche Weise spürt Rendueles der Realität in Célines „Reise ans Ende der Nacht“ nach, er lässt Ilja Ehrenburg in seinem Roman „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito“ die wachsende Unordnung in Europa erzählen, es tauchen Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ auf, Remarques „Im Westen nichts Neues“ (es fehlt allerdings Amblers „Die Maske des Dimitrios“) und er geht der Frage nach, warum der unglaublich dröge Roman „On the Road“ von Jack Kerouac so großen Erfolg hatte. Das BuchCésar Rendueles: „Kanaillen-Kapitalismus“ Übers. v. R. Zelik. Suhrkamp, Berlin 2018, 300 S., 18 Euro Auch Sue Townsends „Adrian Mole“ kommt vor, der uns deshalb so komisch erscheint, weil er sich als Versager auf absurd lächerliche Weise die Anforderungen des im Thatcher-England gepflegten neoliberalen Lebensstils anzueignen versucht. Und hier wird vielleicht besonders deutlich, wie im Prozess der neoliberalen Globalisierung „99 Prozent von uns freiwillig die Kontrolle über unser Leben an Fanatiker abgetreten haben, die einer wahnhaften Wahrnehmung der sozialen Realität unterliegen“. Angesichts des Klimawandels und der Flüchtlingsströme fällt es einem schwer, dieser Diagnose zu widersprechen. Was große Literatur, die hier von Rendueles verhandelt wird, von den im üblichen Strickmuster fabrizierten Bestsellern unterscheidet: dass wir in ihr mehr oder weniger bewusst erkennen, was uns quält, weil sie beim Leser eine Saite zum Schwingen bringt, deren Klang wir so schnell nicht vergessen.
Klaus Bittermann
Literatur und Katastrophen: César Rendueles nimmt uns mit auf einen Assoziationstrip ins Herz des mörderischen Kapitalismus.
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Bewaffneter Konflikt im Kongo: Uno zieht in den Krieg - taz.de
Bewaffneter Konflikt im Kongo: Uno zieht in den Krieg Die UN-Blauhelmtruppe beginnt bei Goma eine langerwartete Offensive gegen die M23-Rebellen. Sie haben offenbar mehrfach die Stadt beschossen. Gegen M23 und Uno: Demonstration in Goma. Bild: ap BERLIN taz | Seit Monaten warten die Kongolesen darauf – jetzt scheint es soweit zu sein: Die neue „Interventionsbrigade“ der UN-Mission im Kongo (Monusco), die anders als die normalen Blauhelme offensiv gegen bewaffnete Gruppen vorgehen soll, zieht bei Goma in den Krieg gegen die Rebellenbewegung M23 (Bewegung des 23. März). Bei Angriffen der neuen tansanisch-südafrikanischen UN-Sondereinheit auf M23-Positionen bei Kibati rund 15 Kilometer nördlich der ostkongolesischen Provinzhauptstadt Goma wurde am Samstag nach südafrikanischen Angaben „eine Maschinengewehrstellung“ der Rebellen zerstört und nach anderen Berichten auch der einzige funktionsfähige Panzer der M23. Es gab auch Angriffe aus UN-Hubschraubern. Die Rebellen warfen den UN-Truppen vor, bei Luftangriffen auf die Orte Buvumba, Kibumba und Katale im M23-Gebiet 16 Zivilisten getötet zu haben, darunter mehrere kleine Kinder. Ein UN-Sprecher bestätigte, dass zwei Soldaten aus Tansania und einer aus Südafrika durch den Beschuss einer UN-Stellung verwundet worden seien. Es ist das erste Mal seit acht Jahren, dass UN-Truppen im Kongo dermaßen offensiv gegen bewaffnete Gegner der Regierung vorgehen. Die Monusco steigt damit in einen Krieg ein, der in der vergangenen Woche abrupt eskaliert ist und auch das Nachbarland Ruanda hineinzieht. Da Ruanda sich mit dem UN-Kriegsteilnehmer Tansania in separaten Streitigkeiten befindet, ist das regionale Eskalationspotential sehr hoch. Kämpfe seit Mittwoch Seit Ende 2012 stehen sich im Ostkongo M23-Rebellen und Regierungstruppen in den Hügeln nördlich von Goma gegenüber. Mehrfach hat es hier kurze, aber heftige Scharmützel gegeben, die meist mit kleinen Geländegewinnen durch die Regierung endeten. Die jüngsten Kämpfe begannen am vergangenen Mittwoch. Seitdem sind mehrmals Raketen mitten in Goma gelandet; die M23 verfügt über Artillerie mit einer Reichweite von 15 Kilometern und hat bereits bei früheren Gelegenheiten Goma beschossen. Es gab Tote und Verletzte – fünf am Donnerstag nach Angaben der kongolesischen Regierung, drei weitere am frühen Samstag, als erneut Geschosse einschlugen. In Reaktion auf den erneuten Beschuss gingen am Samstag früh Tausende Menschen in Goma auf die Straße, warfen den UN-Truppen Untätigkeit vor und verlangten ein entschlossenes Eingreifen gegen die M23. In extrem aufgebrachter Stimmung entwickelten sich Straßenschlachten mit der Polizei sowie mit UN-Einheiten. Mindestens zwei Demonstranten wurden unter unklaren Umständen getötet. Unbestätigten Berichten gab es auch Übergriffe gegen Angehörige der Tutsi-Minderheit, aus der sich die M23-Armee hauptsächlich rekrutiert. Westliche Journalisten, die über die Proteste berichten wollten, wurden von den Demonstranten bedroht und verjagt. Am Nachmittag beruhigte sich die Stimmung wieder, aber internationale Organisationen wiesen ihre Mitarbeiter an, zuhause zu bleiben. Das britische Außenministerium, das in Goma eine Außenstelle der britischen Botschaft unterhält, ordnete sein Personal an, die Stadt zu verlassen. Radikale zivilgesellschaftliche Gruppen Die Demonstrationen gehen von radikalen zivilgesellschaftlichen Gruppen aus, die weder mit den Rebellen noch mit Kongos Regierung sympathisieren und beide verdächtigen, miteinander unter einer Decke zu stecken und dabei von der internationalen Gemeinschaft geschützt zu werden. Sie ziehen aber auch normale Bewohner an, die einfach vom Krieg genug haben. Dass Kongos Regierung kaum etwas zur explosiven Lage im Osten sagt, dafür aber in Goma regelmäßig Oppositionsaktivisten verhaftet, heizt die Empörung weiter an. Die neuen Bombardierungen und die Massenproteste ereigneten sich, während der neue UN-Chef im Kongo, der Deutsche Martin Kobler, gerade in Goma weilte. In Reaktion auf die neuen Bombardierungen, die laut UNO durch die M23 verübt wurden, erklärte Kobler, er habe die UN-Truppen angewiesen, „auf diese schrecklichen und unbeschreiblichen Verbrechen in der stärkstmöglichen Weise zu reagieren“. Am Abend betonte Monusco in einer zweiten Erklärung, man unterstützte Kongos Armee „mit allen verfügbaren Mitteln“. Frühere UN-Bedenken an der Disziplin und Kampffähigkeit der notorisch schlecht organisierten und zu Übergriffen an der Bevölkerung neigenden Regierungstruppen scheinen erst einmal verschwunden zu sein. Unabhängige Untersuchung gefordert Keine Reaktion seitens der UNO gab es auf Vorwürfe Ruandas, wonach Kongos Armee mehrmals „absichtlich“ ruandisches Gebiet beschossen hätte. Ruandas Verteidigungsministerium nannte mehrere Dörfer, in die Raketen aus dem Kongo eingeschlagen sein sollen, und warnte, man werde nicht endlos untätig bleiben. Außerdem verlangte Ruanda eine unabhängige Untersuchung durch den regionalen Überprüfungsmechanismus der Geheimdienste Kongos, Ruandas, Ugandas und Kenias. Eine solche Untersuchung verlangen manche Beobachter in Goma auch in Bezug auf den Beschuss der Stadt. Dieser wird von offizieller kongolesischer Seite verschiedentlich entweder der M23 oder Ruanda zugeschrieben. Die M23 selbst weist jede Verantwortung zurück und sagt, Kongos Armee würde selber Goma beschießen, um die UNO in den Krieg zu ziehen.
Dominic Johnson
Die UN-Blauhelmtruppe beginnt bei Goma eine langerwartete Offensive gegen die M23-Rebellen. Sie haben offenbar mehrfach die Stadt beschossen.
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Kosten des Gesundheits-Systems: Kassen sollen Pillen-Preise verhandeln - taz.de
Kosten des Gesundheits-Systems: Kassen sollen Pillen-Preise verhandeln Gesundheitsminister Rösler will Preise für neue Arzneien verhandeln lassen. Experten wollen mehr: Positivlisten wie in Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz. Details will Rösler demnächst vorstellen. Bild: Shutr – Lizenz: CC-BY KASSEL taz | Bei neuen Medikamenten ist Deutschland ein Lieblingsmarkt der Pharmaindustrie. Im Gegensatz zu anderen Ländern nämlich darf hier jedes neu zugelassene Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden. Bei rund 70 Millionen Versicherten eröffnet das enorme Absatzchancen. Und den Preis für das neue Präparat bestimmt der Hersteller. Doch damit soll nun angeblich bald Schluss sein. Etliche Zeitungen berichten über ein Konzept von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), mit dem die Arzneiausgaben gedrückt werden sollen. So sollten künftig die Kassen mit den Herstellern über die Preise neuer Medikamente verhandeln, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Gebe es binnen eines Jahres keine Einigung, solle das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) eine Kosten-Nutzen-Bewertung vornehmen. Anschließend werde dann ein Höchstpreis festgelegt. Wenn die Preisverhandlungen kommen, sollen andere Sparinstrumente fallen, schreibt die Zeitung weiter. So würden Strafzahlungen für Ärzte gestrichen, die Medikamente zu teuer verordnen. Ähnliches hatte auch der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie vorgeschlagen. Der allerdings wünscht sich fünf Jahre Zeit für eine Einigung mit den Kassen. Stefan Greß, Professor für Gesundheitsökonomie in Fulda, bewertet die Vorschläge aus Berlin als Mischung aus "Zuckerbrot" und "Peitsche". Eine Frist von einem Jahr bis zur Kosten-Nutzen-Prüfung werde den Druck auf die Hersteller "ein Stück weit verstärken", sagt er. Allerdings frage er sich, wie sehr die Industrie die Prüfungen künftig fürchten müsse, nachdem der Vertrag für IQWiG-Chef Peter Sawicki nicht verlängert worden sei. "Man könnte sich auch sehr viel weitgehendere Schritte vorstellen", sagt Greß weiter. In Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz etwa gebe es Positivlisten. Nur was darauf steht, zahlt die öffentliche Krankenversicherung. Bevor ein Medikament auf die Liste gelangt, wird es mit anderen Mitteln verglichen, die schon auf dem Markt sind. Hat es einen zusätzlichen Nutzen? Und wenn ja - was darf der kosten? Der Preis werde mit den Herstellern verhandelt, sagt Greß. Was keinen wirklichen Zusatznutzen habe, werde dabei rasch billiger. Auch in Deutschland ist die Positivliste immer wieder Thema gewesen. Durchgesetzt wurde sie bislang nie. In Sachen Kosten-Nutzen-Prüfungen sei Deutschland fünf bis sechs Jahre später dran als zum Beispiel Großbritannien, sagt Greß. Auch dort gebe es zwar keine Positivliste. Mittel ohne Zusatznutzen würden aber viel flotter von der Erstattung ausgeschlossen. International für Eindruck sorgen laut Greß allerdings Rabattverträge, mit denen deutsche Krankenkassen bei Generika kräftig sparen. Die Arzneimittelausgaben insgesamt hat allerdings auch das nicht gesenkt. Große Hersteller konnten ihre Verluste bei den Generika bislang mit höheren Preisen für neue, patentgeschützte Arzneien wieder ausgleichen, hat Greß beobachtet. Von 18,5 Milliarden Euro im Jahr 1999 sind die Arzneiausgaben der gesetzlichen Kassen auf rund 30 Milliarden Euro im Jahr 2009 gestiegen. Das entspricht etwa einem Fünftel der Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen insgesamt. Bundesgesundheitsminister Rösler will die Details seines Konzepts in einigen Tagen vorstellen. Bisher weiß selbst der Koalitionspartner noch nichts Genaues. "Wir haben dieses Papier bis heute nicht", sagte der Gesundheitsexperte der CDU/CSU-Fraktion, Jens Spahn, und warnte Rösler vor einem Alleingang. "Das gab es selbst zu Zeiten der großen Koalition nicht."
Katja Schmidt
Gesundheitsminister Rösler will Preise für neue Arzneien verhandeln lassen. Experten wollen mehr: Positivlisten wie in Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz.
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Ägypten wirbt um „Einheit im Niltal“ - taz.de
Ägypten wirbt um „Einheit im Niltal“ Im benachbarten Sudan schürt die Regierung Beshir Stimmungen gegen die US-freundliche Politik Mubaraks/ Sudans Regierung und Nationale Islamische Front Seite an Seite/ Ägyptischer Wirtschaftsminister auf Goodwill-Tour im Sudan  ■ Von K. El-Gawahary/I. Luebben Kairo (taz) — „Bei einem Angriff auf den Assuan-Staudamm oder auf irgendeinen Quadratmeter ägyptischen Bodens nehmen wir uns das Recht heraus, innerhalb von 24 Stunden entsprechend zu antworten“, drohte der ägyptische Präsident Husni Mubarak letzten Mittoch auf einer Pressekonferenz. Diese Erklärung ist der vorläufige Höhepunkt der seit Monaten sich verschlechternden Beziehungen zwischen Sudan und Ägypten. Dem vorausgegangen war wenige Tage zuvor eine Demonstration in der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Unter den wohlwollenden Augen der sudanesischen Sicherheitskräfte wurden ägyptische Fahnen verbrannt und die Bombardierung des Assuan-Staudammes gefordert. Die Demonstranten warfen Ägypten vor, sich voreilig der amerikanischen Position im Krieg gegen das arabische und islamische Brudervolk Iraks unterworfen zu haben. Die ägyptische Regierung antwortete mit einer Kette von Maßnahmen. Die Pforten der ägyptischen Botschaft sind seit einigen Tagen ebenso geschlossen wie die Tore einer Außenstelle der Kairoer Universität in Khartum. Eine angekündigte Buchmesse und ein Fußballspiel zwischen der ägyptischen und der sudanesischen Auswahl im nächsten Monat wurden kurzerhand abgesagt. Die ägyptische Fluggesellschaft Egypt Air unterbrach ihre Linienflüge in den Sudan und schloß ihr Büro in Khartum. Der gesamte von Sudan kommende Flugverkehr hat seitdem weiträumig den Assuan- Staudamm zu umfliegen. Auch die in Ägypten lebenden Sudanesen sind von den Maßnahmen betroffen. Der ägyptische Innenminister verkündete vor fünf Tagen die Ausweisung von 500 Sudanesen im Rahmen der Golfkrise. Eine Gruppe von 172 aus der Golfregion in Sinai ankommenden Sudanesen wurde kurzerhand in Busse gepackt, nach Kairo abtransportiert und per Luftweg in den Sudan abgeschoben. Sudanesen werden seit einigen Tagen an den Grenzen zurückgeschickt. Spannungen zwischen beiden Regierungen gab es schon lange vor der Golfkrise. Im Juni 1989 stürzte Brigadegeneral Beshir die gewählte Regierung Al-Mahdi im Sudan, verbot Parteien und Zeitungen und rief den Ausnahmezustand im Lande aus. In offiziellen ägyptischen Kreisen wurde mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß der Sudan nun endlich wieder „von den korrupten demokratischen Elementen gesäubert“ in die Stabilität zurückgeführt werde. Kuwaitische Zeitungen mutmaßten gar, die ägyptische Regierung selbst stünde hinter dem Putsch. Kurz zuvor hatte der Vorgänger Bashirs Verhandlungen mit der aufständischen sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA im Süden Sudans geführt. Eine der Forderungen der SPLA, die Lockerung der Beziehungen zu Ägypten, um ein starkes islamisches Übergewicht in der sudanesischen Innen- wie Außenpolitik zu vermeiden, war nicht nach dem Geschmack der Regierung in Kairo. Doch die Flitterwochen waren kurz. Die harte Reaktion der sudanesischen Regierung auf unmittelbar nach dem Putsch auftretende Demonstrationen und Streiks schürten in Kairo die Sorge um die Stabilität des Landes an den Quellen des Nils. Bei einem Besuch Beshirs in Kairo im Februar letzten Jahres rief Mubarak diesen auf, wieder zur Demokratie zurückzukehren. Eine Forderung, die Beshir als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Sudans zurückwies. Kurz nach diesem Besuch überreichte die sudanesische Opposition, die Demokratische Sammlung, dem ägyptischen Präsidenten ein Memorandum, in dem sie für gute Beziehungen zu Ägypten eintrat, allerdings unter der Bedingung des Sturzes Beshirs. In Khartum suchte unterdessen Beshir aus Sorge um den völligen Verlust seiner Massenbasis neue Partner im Land. Ein Schulterschluß mit der Nationalen Islamischen Front unter Führung Hassan Turabis bot sich an. Ähnlich wie die sudanesische demokratische Opposition ihr Hauptquartier in der ägyptischen Hauptstadt Kairo aufschlug, wurde Khartum zur Basis der islamischen Opposition Ägyptens. 182 Gihad- Mitglieder, die bei der ägyptischen Polizei auf den Fahndungslisten standen, fanden Asyl im Sudan. Der Gihad wird unter anderem für die Ermordung Sadats verantwortlich gemacht. Deren Führer, Scheich Doktor Omar Abdel Rahman, rief kurz vor Ausbruch der Golfkrise im sudanesischen Fernsehen zur „islamischen Einheit“ zwischen Ägypten und Sudan auf. Am 18. Juli enthüllte der sudanesische Journalist Mohammad Naim, daß der Gihad in der Nähe Khartums militärische Trainingslager eröffnet habe und gemeinsam mit Hassan Turabis Islamischer Front Terroranschläge in Ägypten vorbereite. Je schlechter die Beziehungen zu Ägypten wurden, umso besser gestalteten sie sich zum Irak. Der Bürgerkrieg war wieder aufgeflammt. Die Volksbefreiungsarmee SPLA, angeblich von israelischen Spezialisten beraten, kontrolliert inzwischen wieder die Grenzgebiete zu den afrikanischen Nachbarn im Süden. In dieser Situation bot der Irak Waffenlieferungen und Militärhilfe an. Gemeinsamer Feind: Israel, Konkurrent: Ägypten. Das rief die neuen „Freunde“ auf den Plan. Vor Ausbruch des Golfkrieges hatte sich die politische Achse Bagdad-Khartum herausgebildet. Mit der Golfkrise bekam diese Achse auch militärische Bedeutung. Im September kursierten bislang weder bestätigte noch dementierte Gerüchte, wonach der Irak im Sudan Raketen stationiert hätte. Falls sich Ägypten an einem Angriff auf den Irak beteiligt, könnten diese Raketen jederzeit gegen den Assuan- Staudamm eingesetzt werden. Ein Damoklesschwert, das über Ägyptens neuralgischem Punkt schwebt. Trotzdem sind die Ägypter bemüht, nicht alle Brücken nach Khartum abzubrechen. Der ägyptische Botschafter im Sudan, der nach den antiägyptischen Demonstrationen letzter Woche zur Berichterstattung nach Kairo zitiert worden war, will so schnell wie möglich nach Khartum zurückkehren — in Begleitung des Wirtschaftsministers Jusri Mustapha und einer hochkarätigen Wirtschaftsdelegation. Die Ausweitung des Handels und der Joint-ventures im Landwirtschaftsbereich stehen auf dem Programm. Die „Einheit des Niltals“ war schon immer erste Priorität der ägyptischen Sicherheitspolitik.
k.el-gawhary/i.lübben
Im benachbarten Sudan schürt die Regierung Beshir Stimmungen gegen die US-freundliche Politik Mubaraks/ Sudans Regierung und Nationale Islamische Front Seite an Seite/ Ägyptischer Wirtschaftsminister auf Goodwill-Tour im Sudan  ■ Von K. El-Gawahary/I. Luebben
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Flüchtlingsprotest in Berlin: Wie ein Ort viele Orte wurde - taz.de
Flüchtlingsprotest in Berlin: Wie ein Ort viele Orte wurde Viele Aktivisten vom Oranienplatz engagieren sich weiter, doch ihre Kämpfe sind aufgesplittert wie nie – nur manchmal gibt es noch Momente der Verbindung. Der Oranienplatz vor seiner Räumung. Foto: Foto: dpa Oumar ist noch etwas müde - gestern hatte das Theaterstück, in dem der 28-Jährige mitspielt, am Ballhaus Naunynstraße Premiere. „One day I went to *IDL“, heißt es, 13 junge Flüchtlinge und migrantische Jugendliche erzählen darin ihre Geschichten. Es ist nicht das erste Stück, an dem er mitwirkt. „Es gibt unzählige Theater- und Kunstprojekte mit Leuten, die früher am Oranienplatz gewohnt waren oder dort aktiv waren“, sagt Oumar. Er hat selbst zwei Jahre lang im Protestcamp gelebt, bevor dieses im April 2014 geräumt wurde. Jan Watzig, der den Oranienplatz-Protest von Anfang an als Unterstützer begleitet hat, beschreibt die Theaterprojekte als einen der vielen Orte, in denen sich die Oranienplatz-AktivistInnen jetzt engagieren - nachdem es den einen, zentralen Ort nicht mehr gibt. „Es gibt die Kunstsachen, die Kochprojekte, die Schlafplatzorga, die Mediengruppe, den International Women Space, das Schul-Umfeld, Gruppen wie die Chad Youth in Germany oder die African Refugees Union“, zählt Watzig auf, und man merkt, dass diese Liste noch weitergeführt werden könnte. Denn insofern hat sich die Parole vom letzten Sommer - „Eine Bewegung lässt sich nicht räumen“ - bewahrheitet: Viele derjenigen, die damals am Oranienplatz aktiv waren, sind es auch heute noch. „Es gibt auch Menschen, die man nicht mehr sieht, die zumindest aus den politischen Zusammenhängen verschwunden sind, aber die allermeisten sind noch da“, sagt Watzig, und Oumar nickt. Viel zu wenig Schlafplätze Gleichzeitig sagen beide deutlich: Ohne den O-Platz ist nichts mehr so, wie es war. „Für uns alle, die wir früher dort gewohnt haben, hat sich die Situation deutlich verschlechtert“, sagt Oumar. Er selbst hat sogar noch Glück: Er gehört zu den etwa 100 Menschen, die momentan über die Evangelische Kirche untergebracht sind - keine Dauerlösung und keine Sicherheit, aber immerhin halbwegs verlässliche Strukturen. „Andere freuen sich schon, wenn sie für zwei Wochen in einem Zimmer bleiben können, viele ziehen alle drei Tage“, sagt er. Am O-Platz in Zelten zu wohnen sei nicht immer schön gewesen, aber wenigstens habe man dort morgens gewusst, wo man am abend schlafen wird. Demo am SamstagAuf der Demonstration „Europa. Anders. Machen“ soll es am Samstag nicht nur um die europäische Krisenpolitik, sondern auch um die Flüchtlingsfrage gehen. Insbesondere wenden sich die Organisatoren gegen die geplante Asylrechtsverschärfung, die der Bundestag möglicherweise noch vor der Sommerpause verabschieden will. Los geht es um 13 Uhr auf dem Oranienplatz, von dort führt die Route zum Brandenburger Tor. Das „Bündnis für bedingungsloses Bleiberecht“ organisiert die Abschlusskundgebung mit großem Konzert. (mgu) Neulich erst hat die Kirche gemeinsam mit den Flüchtlingen vor der Innenverwaltung protestiert, mit einem großen selbtsgebauten Boot auf das Schlafplatzproblem aufmerksam gemacht. „Es ist gut, dass die Kirche jetzt auch Druck auf den Senat ausübt - aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es viele ehemalige O-Platz-Bewohner gibt, für die sich niemand einsetzt“, sagt Watzig. Über 500 Menschen standen damals auf der Liste der BewohnerInnen, die die MitarbeiterInnen von Integrationssenatorin Dilek Kolat erstellt hatten. Ein zentraler Ort fehlt Fast niemand von ihnen ist heute noch in einer regulären Berliner Flüchtlingsunterkunft untergebracht - in ihre Heime in der Provinz oder gar nach Italien aber sind ebenfalls nur die Wenigsten zurückgekehrt. Wer die E-Mail-Verteiler des Berliner Flüchtlingsprotest verfolgt, bekommt den Eindruck, dass die Organisation von Schlafplätzen mittlerweile für viele UnterstützerInnen zur einzigen Beschäftigung geworden ist, ununterbrochen braucht es neue Zimmer. Aber der Oranienplatz fehlt längst nicht nur als Ort zum Schlafen: „Die Leute sind noch aktiv, aber die Bewegung ist aufgesplittert wie nie“, sagt Watzig, der im Protestcamp und danach kontinuierlich und unablässig aktiv war. Das habe nicht nur Nachteile: „Natürlich kann man auch sagen, dass der Protest dadurch gewachsen ist, dass er sich ausdifferenziert hat und dass jetzt viel mehr Dinge gleichzeitig möglich sind“, sagt er. Aber trotzdem sei der eine, physische Ort eben auch von großem Wert gerade für diese Bewegung gewesen, die ja nicht nur aus Menschen besteht, die seit Jahrzehnten in politischen Gruppen aktiv sind. „Hier am O-Platz konnten die Leute langsam darein wachsen, sich politisch zu engagieren, sie konnten Leute kennenlernen und sich zusammentun“, sagt Oumar. Außerdem war es, ganz einfach, der Ort zum Ankommen. „Hier sind die Leute direkt nach ihrer Ankunft hingegangen und wurden aufgenommen.“ Gruppen, die sich vielleicht einmal in der Woche treffen, können diese Funktion nicht übernehmen. Vor seiner Ankunft in Deutschland lag in Oumars Leben eine Geschichte, deren Eckdaten er mit vielen anderen Flüchtlingen gemeinsam hat: Von seinem Heimatland Niger aus war er zum Arbeiten nach Libyen gegangen, von wo aus er nach Ausbruch des Krieges fliehen musste. Zwei Tage habe er auf dem Mittelmeer verbracht, bevor er auf der italienischen Insel Lampedusa ankam. Von Italien aus kam er schließlich nach Deutschland, nach Berlin, auf den Oranienplatz. „Das war ein sehr wichtiger Ort für mich, hier habe ich zum ersten Mal Unterstützung erlebt“, sagt Oumar, der einen zurückhaltenden, fast etwas verträumten Eindruck macht. Am Oranienplatz kamen Essens- und Kleiderspenden an, hier sammelten sich Unterstützer und Übersetzer, es gab Informationen zu Beratungsstellen, Besuche von Anwälten oder Ärzten und natürlich die große, oft internationale Aufmerksamkeit. Heute suchen Aktivisten nach einer Möglichkeit, politisches Engagement und Geldverdienen zu verbinden, oder sie sind längst nur noch mit der Suche nach einem Job statt der Planung für die nächste Demo beschäftigt. „Klar gab es damals auch viele Konflikte unter den Bewohnern und Unterstützern“, sagt Watzig. „Aber die Tatsache, dass diese unterschiedlichen Menschen alle Politik im Namen des gleichen Ortes gemacht haben, hat sie quasi dazu gezwungen, diese Differenzen immer wieder zu überwinden.“ Einen solchen Anlass gibt es heute nicht mehr, „auch wenn der Oranienplatz sicher auf Jahre ein verbindendes Erlebnis bleiben wird“, sagt er. Rückschau und Reflektion Die Geschichte dieses Ortes wollen einige der AktivistInnen jetzt in einer Ausstellung in Kooperation mit dem Kreuzberg-Museum in der Adalbertstraße erzählen. Mit einer Chronologie des Protestes, gesammelten Foto- und Videoaufnahmen, eigenen Texten und einem umfangreichen Archiv der Medienberichte soll die Ausstellung auch zur Reflektion dienen: „Es ist eine Ausstellung von der Bewegung nicht nur, aber auch für die Bewegung, die auch ermöglichen soll, über die eigenen Erfahrungen und auch die vielen Konflikte rund um den Oranienplatz nachzudenken und sich auszutauschen“, so Watzig. Am 6. August soll die Ausstellungseröffnung im Kreuzberg-Museum stattfinden. Hier die Rückschau, dort der tägliche Kampf um den Schlafplatz. Hier der symbolische Bootsbau, dort die Suche nach einem Job: Was die ehemaligen Oranienplatz-BewohnerInnen beschäftigt, ist häufig unterschiedlich und ungleichzeitig geworden. Dennoch gibt es immer wieder verbindende Momente: Bei der Demonstration „Europa Anders Machen“ zum Weltflüchtlingstag am kommenden Samstag, die ganz selbstverständlich am Oranienplatz beginnt, werden sie viele bekannte Gesichter sehen, sind sich die beiden Aktivisten sicher. Eine wichtige Rolle wird auf der Demo die geplante bundesweite Asylrechtsverschärfung spielen - ein Thema, das momentan viele ehemalige O-Platz-AktivistInnen zusammenbringt, weil es fast alle von ihnen betrifft: Kommt das Gesetz durch, wird es künftig möglich sein, Flüchtlinge nur deswegen zu inhaftieren, weil sie aus einem anderen EU-Staat eingereist sind. Den Oranienplatz und seine vielfältigen Nachfolger-Kämpfe hätte es mit diesem Gesetz vielleicht nie gegeben - weil die Protagonisten dieser Kämpfe längst im Knast säßen.
Malene Gürgen
Viele Aktivisten vom Oranienplatz engagieren sich weiter, doch ihre Kämpfe sind aufgesplittert wie nie – nur manchmal gibt es noch Momente der Verbindung.
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Soundcheck - taz.de
Soundcheck Heute: Triston Palma und Courtney Melody. Irgendwann einmal müssen sie eine Maus verschluckt haben. Denn irgendwoher muss dieser seltsam nasale Gesangsstil ja kommen. Und beide tragen reichlich Reggae-Geschichte auf dem Buckel. Beide gehören zu der Generation von Musikern, die um 1980 zum ersten Mal die Back-to-Africa-Rhetorik des Roots-Reggae hinter sich ließen, um das zu prägen, was man bis beute als Dancehall bezeichnet. Die Zeiten wurden härter, die Riddims auch. Was ohne die Heilserwartung blieb, feierte Palma in einem Song: „Entertainment“. Wo er sich als Sänger stimmlich an Barrington Levy orientiert, klingt Courtney Melody genauso wie Eißfeldt von den Beginnern gerne klingen würde. Noch immer ziemlich modern, also. tob 21 Uhr, Markthalle
tob
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Bamf-Prozess vorm Bremer Landgericht: Den wahren Skandal erkennen - taz.de
Bamf-Prozess vorm Bremer Landgericht: Den wahren Skandal erkennen Der Prozess um den vermeintlichen Bremer Bamf-Skandal braucht eine große Bühne. Nur auf ihr wird anschaulich, wie grotesk das Verfahren ist. Im Konzerthaus „Die Glocke“ tagt das Gericht. Draußen erinnern Demonstrierende an den wahren Skandal Foto: Michael Bahlo (dpa) Kurz blitzte am Donnerstag die Frage auf, ob das Landgericht nicht eine Nummer zu groß sei für die Verhandlung des vermeintlichen Bremer Bamf-Skandals. „Sie hätten ja auch“, sagte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, Silke Noltensmeier von-Osten, in Richtung der Vorsitzenden, „runtereröffnen können.“ Sprich: Die Verhandlung an das Amtsgericht verweisen. Rechtlich wäre das korrekt gewesen. Aber trotzdem ist es so besser, und nicht nur aus verfahrens­ökonomischen Gründen. Den juristisch stichhaltigen Bodensatz aus der Anklageschrift rauszusieben, war personal- und zeitintensiv – und das noch einmal einer überlasteten Einzelrichterin überzuhelfen, hätte niemandem genützt. Aber wichtiger ist, dass nur die große Bühne der politisch-gesellschaftlichen Dimension der Affäre gerecht wird. So zeigt sich erst im riesigen Konzertsaal, in dem sich eine Handvoll Zu­schaue­r*in­nen verliert, wie grotesk dieses Verfahren ist – und der vorherige Aufruhr war. Dazu passt, dass die Staatsanwaltschaft ausgerechnet das Delikt „Verletzung des Dienstgeheimnisses“ ins Feld führen muss: Sie hatte sich während der Ermittlungen als eigenständiges Klatsch-und-Tratsch-Organ zu profilieren versucht, bis ihr das vom Verwaltungsgericht ausdrücklich verboten wurde. Die Lüge vom massenhaften Asylmissbrauch war lange vor dem Prozessauftakt zerstoben. Daran hat Nazanin Ghafouri vom Bremer Flüchtlingsrat vor Beginn der Verhandlung erinnert. Beim Getöse von 2018 sei es darum gegangen, „das Recht auf Asyl selbst zu untergraben“. Dieser Verdacht kann sich darauf stützen, dass mit Ulrike B. eine Frau ins Fadenkreuz geriet, die in der Behörde für die mittlerweile verwaltungsrechtlich als richtig erkannte Rechtsauffassung gekämpft hatte. Sprich: Sie hat menschenrechtswidrige Abschiebungen verhindert. Dass diese unbeirrbare Treue zu den fundamentalen Normen nicht belobigt, sondern verfolgt wird, ist ein Skandal. Ihn sichtbar zu machen, kann keine Bühne zu groß sein. Zu hoffen bleibt, dass auch das Gericht ihn erkennt.
Benno Schirrmeister
Der Prozess um den vermeintlichen Bremer Bamf-Skandal braucht eine große Bühne. Nur auf ihr wird anschaulich, wie grotesk das Verfahren ist.
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Zukunft der Friedensbewegung: „Ein Versuch, der gescheitert ist“ - taz.de
Zukunft der Friedensbewegung: „Ein Versuch, der gescheitert ist“ Wie geht es weiter mit dem Projekt Friedenswinter? Der Aktivist Monty Schädel fordert, dass man sich klar von rechts abgrenzt. Keine Friedensdemo ohne Monty Schädel. Er ist Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft. Bild: dpa taz: Am Wochenende findet in Frankfurt eine große Konferenz der Friedensbewegung statt. Gibt es da Hauen und Stechen? Monty Schädel: Das weiß ich nicht, wir sind ja immerhin friedensbewegt. Wir werden über Strategien reden, wie wir etwa auf die Konfrontation zwischen Russland und Nato und die Sicherheitslage in der Welt reagieren können. Nett gesagt. Vor allem werden Sie sich mit sich selbst beschäftigen. Es gibt ordentlich Zoff. Ja. Es wird auch darum gehen, wie der sogenannte Friedenswinter, um diesen Propagandabegriff zu verwenden, zu bewerten ist. Da gibt es sehr unterschiedliche Positionen, von totaler Zustimmung bis hin zu radikaler Ablehnung. In diesem Spektrum diskutieren wir, ob das, was unter diesem Label gelaufen ist, so weitergehen sollte. Und? Sollte es? Ganz klar: Nein. Der Grundkonsens der Friedensbewegung war immer, dass sie internationalistisch, antimilitaristisch und antifaschistisch ist. Das muss wieder Konsens werden. Es gibt im Bundesgebiet eine Reihe von Aktivisten in der Friedensbewegung, die mit Leuten auf die Straße gehen, die sich zumindest nach rechts offen verhalten. In Halle standen vor zwei Wochen Redner auf der Bühne, die nationalistische Terroristen hochloben und Reichsbürgerpropaganda betreiben. Es ist indiskutabel, so etwas zu tolerieren. Der Friedenswinter war ein Versuch, der gescheitert ist. Kritik an der Kooperation gab es von Anbeginn. Haben die Befürworter sich selbst belogen? Nein. Es war vor allem der Wunsch, die Bewegung breiter aufzustellen. Die Mahnwachen, die man versuchte mit dem Friedenswinter direkter anzubinden, haben dafür bestimmte Vorleistungen erbracht. im Interview:Monty Schädel45, ist einer der profiliertesten Friedensaktivisten Deutschlands. Der Totalverweigerer ist seit 2007 Politischer Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Zum Beispiel? Sie haben sich in Erklärungen klar von Rechtsextremisten distanziert. Erklärungen beweisen sich aber in der Realität. Die zeigt: Immer wieder waren Redner beteiligt, die, mindestens, nach rechts sehr offen waren. Damit muss jetzt Schluss sein. Oft liegen Entgleisungen auch im Grenzbereich. Wo genau muss jetzt Schluss sein? Die Friedensbewegung ist nie ein homogener linker Block gewesen. Man kann auch nicht verhindern, dass sich auf Demonstrationen Einzelne mit fragwürdigen Positionen untermischen. Wenn es aber organisiert ist, muss man einschreiten. Das gilt natürlich bei allen rechten und antisemitischen Positionen. Das Einschreiten wird nicht dadurch leichter, dass man sich zunächst vergeschwistert hat. Es gab keine Vergeschwisterung mit Rechten. Es gab aber Akzeptanz gegenüber äußerst fragwürdigen Positionen und Personen. Hat dieser Konflikt auch innerhalb der Friedensbewegung zu Vertrauensverlusten geführt? Ja. Ich musste in den letzten Monaten viel Kraft dafür aufbringen, Erläuterungen, Reden und Papiere viel intensiver zu lesen als bislang. Das gilt auch für Beiträge von einigen Menschen, denen ich zuvor jahrelang blind vertraut hatte. Das ist heute nicht mehr so. Jetzt wünsche ich mir, dass wir uns rasch wieder unseren eigentlichen Aufgaben zuwenden können.
Martin Kaul
Wie geht es weiter mit dem Projekt Friedenswinter? Der Aktivist Monty Schädel fordert, dass man sich klar von rechts abgrenzt.
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Paralympics in Olympia integrieren?JA - taz.de
Paralympics in Olympia integrieren?JA SPORT Am Mittwoch beginnen die Paralympics. Die große Olympia-Party fand schon ohne die Behindertensportler statt Nächste FrageDie sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune Gesine Lötzsch, 51, ist seit 2005 stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion Das olympische Wettrüsten muss beendet werden. Der Gigantismus stößt an seine physischen und finanziellen Grenzen. Nur übermenschliche Höchstleistungen verlieren auf lange Sicht ihren Reiz. Die Olympischen Spiele müssen sich ändern, wenn sie attraktiv bleiben wollen. Die Gleichzeitigkeit von Olympischen Spielen und Paralympics könnte ein lebensnäheres Bild des Sports zeichnen. Ich glaube nicht, dass sich durch die Gleichzeitigkeit eine Konkurrenz ergeben würde. Das Interesse wäre eher größer und vielfältiger. Noch besser wäre es natürlich, wenn auch die Special Olympics Teil dieses sportlichen Weltereignisses werden könnten, damit auch Athleten mit geistiger Behinderung eine Chance bekommen, ihr Können einer breiten Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen. Sie gehören dazu, beim Sport und überall. Andreas Onea, 20, einarmiger österreichischer Schwimmer, studiert in Wien Wirtschaft Nach der derzeitigen Entwicklung wäre das der nächste logische Schritt. Seit Jahren versucht man, die Paralympics den Medien schmackhaft zu machen und mit mehr TV-Zeit zu punkten. Die Erfolgskurve zeigt zwar stetig nach oben, jedoch gibt es immer noch viele Länder, in denen die Paralympic Games der breiten Masse nicht bekannt sind oder mit den Special Olympics verwechselt werden: „Ist doch alles das Gleiche, oder?“ Alldem könnte man entgegenwirken, wenn man Olympische und Paralympische Spiele zur gleichen Zeit abhielte. Die Medien wären schon da, und so könnte man in der paralympischen Bewegung von zusätzlicher Aufmerksamkeit profitieren. Eine Integration würde das Zusammenleben im olympischen Dorf bereichern. Man stelle sich vor, dass nicht nur Menschen aus aller Welt und vielen verschiedenen sozialen Schichten, sondern auch Nichtbehinderte und Menschen mit Handicap auf engstem Raum zusammenleben! Wo kann man den Umgang mit paralympischen Athleten besser erlernen? Ralf Bächle, 42, Softwareentwickler, kommentierte unsere Frage per E-Mail Ich kenne seit Jahren Alexander Spitz, einen Skifahrer aus unserer Gegend, der früh durch Knochenkrebs ein Bein verlor. Kurz darauf war er wieder zurück im Wettkampfsport. Ich habe ihn oft aus Spaß Skirennen gegen Nichtbehinderte fahren sehen. Verloren hat er nie. Ich habe ihn von der damaligen Jugendschanze in seinem Heimatort bis zum kritischen Punkt der Schanze (die Landung fühlt sich an, als würde man als Klavier aus dem dritten Stock geworfen werden) beobachtet. Ich habe ihn einen Steilhang von 110 Prozent Steigung auf vollen Angriff herunterfahren sehen. Alexander hat den Wettkampfsport aufgegeben, aber jemand wie er kann nur als Vorbild dienen. Und langweilig? Keine Spur. Es ist Zeit, den Paralympioniken den Platz zu geben, den sie verdient haben. Udo Lindenberg, 66, deutsche Rock-Ikone, wohnhaft im Hamburger Hotel Atlantic ja kla, is supercharmant, dass so nah beieinanderzuhaben, schafft mehr aufmerksamkeit fuer die Betroffenen, die es ja nich soooo leicht haben in life und überhaupt … NEIN Michael Vesper, 60, ist Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes Olympische Spiele faszinieren, nur hier treffen sich derart viele Nationen und Kulturen. Also zieht es auch die Paralympics zu Olympia. Deshalb vergibt das IOC Sommer- und Winterspiele gezielt nur an Bewerber, die beides ausrichten. Zeitgleiche Events streben weder das IOC noch das Internationale Paralympische Komitee (IPC) an, weil die Spiele an ihre Grenzen stoßen und wegen der ökonomischen und ökologischen Folgen für die Städte gedeckelt sind: 10.500 Athleten waren die Obergrenze in London, 4.200 sind es bei den Paralympics. Letztere entwickelten sich in der Vergangenheit zudem zu einer eigenen Marke. Das IPC hat deshalb die Vereinbarung mit dem IOC, Olympia und Paralympics nacheinander am selben Ort durchzuführen, bis 2020 verlängert. Dagmar Freitag, 59, SPD, ist Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestages Um deutlich zu machen, dass Spitzensport von Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen wertgeschätzt wird, müssen Olympische und Paralympische Spiele nicht gleichzeitig ausgetragen werden. Allein der logistische Aufwand wäre bei einer Zusammenlegung enorm: ein größeres olympisches Dorf, mehr Sportstätten, höhere Transport-, Hotel- und Verpflegungskapazitäten – und all das in Zeiten, in denen der Gigantismus Olympischer Spiele kritisiert wird. Die Berichterstattung würde sich vermutlich eher auf die olympischen denn auf die paralympischen Athleten konzentrieren. Mir sind zwei eigenständige Veranstaltungen lieber: zwei großartige Sportfeste für Sportlerinnen und Sportler, die sich jahrelang auf diesen Moment vorbereitet haben. Rainer Schmidt, 47, gewann bei sieben Paralympics sieben Medaillen im Tischtennis Nein, denn die Olympischen und Paralympischen Spiele sind für mich gleichwertige Sportveranstaltungen. Sie finden am selben Ort, in denselben Sportstätten, mit derselben professionellen Durchführung vor begeistertem Publikum statt. Am wichtigsten aber: Die da laufen, spielen und wettkämpfen sind gleichermaßen leidenschaftliche Athlet/Innen. Die Spiele bieten in verschiedenen Startklassen, für unterschiedliche Hochbegabungen faszinierende Wettkämpfe an. Bleibt die Frage, ob wir den Leistungen hier wie dort dieselbe Aufmerksamkeit und Bedeutung geben? Die Antwort jedenfalls ist unabhängig vom Zeitpunkt der jeweiligen Spiele. Kirsten Bruhn, 42, Behindertensportlerin, will in London wieder Gold im Schwimmen Das geht in die Richtung der utopischen Vorstellungen. Logistisch ist es wohl nicht umsetzbar. Zudem glaube ich, dass wir Paralympioniken das Nachsehen hätten. Der Mensch vergleicht immer alles mit dem Optimum und dem Perfekten. Es wäre schon ein enormer Fortschritt, wenn man in den jeweiligen Sportarten die Europa- und Weltmeisterschaften parallel ausrichten würde. Die Medien wären sowieso schon vor Ort, und es würden beide voneinander lernen, partizipieren und Nutzen ziehen können. Das wäre doch mal ein Ziel, das wirklich anstrebsam und umsetzbar ist!
Gesine Lötzsch / Andreas Onea / Ralf Bächle / Udo Lindenberg / Michael Vesper / Dagmar Freitag / Rainer Schmidt / Kirsten Bruhn
SPORT Am Mittwoch beginnen die Paralympics. Die große Olympia-Party fand schon ohne die Behindertensportler statt
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Berliner Wahlkreise: Einbruch bei der CDU - taz.de
Berliner Wahlkreise: Einbruch bei der CDU Die überraschenden Verluste der Christdemokraten gehen mit Niederlagen in den Berliner Wahlkreisen einher. Ganz vorne: die Linkspartei. Selbst Frank Steffel, Erststimmenkönig von 2013, verliert wie viele CDUler im Wahlkreis stark Foto: dpa Der Gedanke ist an diesem Abend in den Köpfen vieler CDUler. Wär' die Wahl doch schon vor zwei, drei Wochen gewesen. Da lag ihre Partei noch zwei, drei Punkte besser in den Umfragen, nun sorgt ihr Absacken dazu, dass auch in den Wahlkreisen die Chancen deutlich sanken. Gleich in drei umkämpften Berliner Wahlkreisen – Spandau, Neukölln und Charlottenburg-Wilmersdorf – läuft es jeweils auf einen SPD-Erfolg hinaus. Allein in Charlottenburg-Wilmersdorf scheint CDU-Kandidat Klaus-Dieter Gröhler mit einem Rückstand von 0,7 Prozentpunkten auf SPD-Mann und Ex-Kulturstaatssekretär Tim Renner noch echte Chancen zu haben. Wie stark die CDU bei den Erststimmen, die über den Wahlkreissieg entscheiden, gegenüber der Wahl von 2013 verliert, zeigt das Beispiel Reinickendorf: Selbst dort, in ihrer absoluten Hochburg, müssen die Christdemokraten mit ihrem mehrfachen Wahlkreissieger Frank Steffel herbe Verluste hinnehmen. Er wird den Wahlkreis zwar wieder deutlich gewinnen – aber während er 2013 noch über 45 Prozent erhielt, so viel wie kein anderer Direktkandidat in Berlin, sind es dieses Mal möglicherweise nur rund 36 Prozent. Die CDU gewinnt nach jetzigem Stand so nur noch drei der zwölf Berliner Wahlkreise (bislang fünf), für die SPD liefe es auf vier hinaus. Vorne könnte die Linkspartei mit mindestens vier, im besten Fall fünf Siegen liegen: Neben ihren Hochburgen in Marzahn, Lichtenberg und Treptow-Köpenick konnte auch Stefan Liebich in Pankow sein Erfolg von vor vier Jahren deutlich ausbauen. Und für das fünfte Direktmandat der Linkspartei kann noch Pascal Meiser in Friedrichshain-Kreuzberg sorgen, der Kopf an Kopf mit der Grünen-Kandidatin Canan Bayram liegt. Bayram hatte bei den Grünen als Direktkandidatin Hans-Christian Ströbele beerbt, der mit inzwischen 78 Jahren nicht erneut antreten mochte. Er hatte den Wahlkreis vier Mal in Folge gewonnen, 2013 mit über 20 Prozentpunkten Vorsprung.
Stefan Alberti
Die überraschenden Verluste der Christdemokraten gehen mit Niederlagen in den Berliner Wahlkreisen einher. Ganz vorne: die Linkspartei.
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Kulturinstitute gegen Anti-BDS-Beschluss: „Gefährliche Logik des Boykotts“ - taz.de
Kulturinstitute gegen Anti-BDS-Beschluss: „Gefährliche Logik des Boykotts“ Zentrale Kulturinstitutionen lehnen den BDS-Beschluss des Bundestags ab. Der Israelboykott sei zwar falsch, der Beschluss verenge jedoch den Diskurs. AnhängerInnen der BDS-Bewegung vor dem Berliner Reichstag im Mai 2019 Foto: F.Boillot/imago BERLIN taz | Das Deutsche Theater, unweit des Bundestages gelegen, ist ein Art Haustheater der Berliner Republik. Auf dem Spielplan stehen oft Stücke wie von Schirachs Politdrama „Terror“, über das nach der Aufführung auch mal Minister diskutieren. Man spielt hier gern der Politik ihre eigene Melodie vor. Die Initiative „GG 5.3. Weltoffenheit“ hat diesen Ort nicht zufällig gewählt. Am Donnerstagmorgen stehen VertreterInnen zentraler Kulturinstitutionen der Republik auf der Bühne und melden Protest gegen den Anti-BDS-Beschluss des Bundestags an: LeiterInnen und IntendantInnen unter anderem vom Goethe-Institut, vom Humboldt Forum im Berliner Schloss, vom Wissenschaftskolleg sowie des Hauses der Kulturen der Welt. In ihrem Plädoyer schreiben sie: „Die Anwendung der BDS-Resolution des Bundestags bereitet uns große Sorge.“ Man lehne „den Boykott Israels durch den BDS ab“, halte aber „die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestags ausgelöst hat, für gefährlich“. Zudem warnen die UnterzeichnerInnen vor der „missbräuchlichen Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs“. Und sie kritisieren, dass die demokratische Öffentlichkeit leide, „wenn wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen, wie im Falle der Debatte um Achille Mbembe zu beobachten war“. Gegen den Boykott Israels, gegen die BDS-Resolution Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, sieht durch das faktische Verbot, global mit BDS-AnhängerInnen kooperieren zu dürfen, die Grundlage der Arbeit des Instituts bedroht. Das Institut öffne im Sinne „kultureller Realpolitik“ Gesprächskanäle auch und gerade zu missliebigen Auffassung. Ebert fordert daher eine Überprüfung des Bundestagsbeschlusses. Hartmut Dorferloh, Chef des Humboldt Forums, betont, dass seine Arbeit global offen und ohne Selbstzensur stattfinden müsse und bringt das Interesse der Institutionen praktisch auf den Punkt: „Wir wissen nicht, wen wir noch einladen dürfen.“ Hortensia Völckers, Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, sekundiert mit dem Argument, dass der Bundestag mit dem BDS-Beschluss eine „rechtliche Grauzone“ geschaffen habe, die die Arbeit behindere. Selbstzensur in seinem Institut beobachte zudem Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Der BDS-Beschluss des Bundestags von 2019 sei ein Zeichen, dass „die deutsche Vergangenheit den Blick auf die israelische Gegenwart“ zu verstellen drohe, denkt Susan Neiman, amerikanische Jüdin und Leiterin des Einstein Forums. Amelie Deuflhard, Leiterin vom Kampnagel, sieht ein wachsendes „Klima von Misstrauen und Angst“. Und der Rechtsprofessor Christoph Möllers warnt vor einem Missbrauch des Antisemitismusvorwurfes. „Klima von Misstrauen und Angst“ entstehe, so Deuflhard Es ist äußerst ungewöhnlich, dass Institutionen, die nicht nur staatlich finanziert werden sondern, wie das Goethe-Institut, die Bundesrepublik auch repräsentieren, einmütig einen Beschluss des Bundestags kritisieren. Die Institutionen, die sich zu der Initiative bekennen, wollen künftig die eigene Arbeit für jene durch den Anti-BDS-Beschluss eingeschränkten Diskurse öffnen. Realpolitisch setzt man auf Dialog mit der Politik. Barbara Stollberg-Rilinger, Leiterin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, sieht darin inzwischen gute Chancen. Gespräche hätten gezeigt, dass manche PolitikerInnen heute zweifeln würden, ob der Beschluss richtig war. Die Initiative sei auch mit einem energischen Fürsprecher des Anti-BDS-Beschlusses in Kontakt: Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Am Mittwoch debattieren Barbara Stollberg-Rilinger und Felix Klein im Deutschlandradio über das Thema. Auch bei Klein, so die Hoffnung, gebe es inzwischen Bewegung.
Stefan Reinecke
Zentrale Kulturinstitutionen lehnen den BDS-Beschluss des Bundestags ab. Der Israelboykott sei zwar falsch, der Beschluss verenge jedoch den Diskurs.
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Streit um Garnisonkirche: Potsdam hat einen an der Glocke - taz.de
Streit um Garnisonkirche: Potsdam hat einen an der Glocke Der Streit über die Potsdamer Garnisonkirche ist wieder aufgeflammt. Oberbürgermeister Mike Schubert hat ihr Glockenspiel abgeschaltet. Diese Glocken sollen nun nicht mehr läuten, bis sie untersucht wurden Foto: dpa Fast 30 Jahre ist er nun alt, der Streit über die Garnisonkirche in Potsdam. Doch geht man davon aus, dass eine Lösung in Sicht kommen könnte, wenn ein Streit an seine Wurzeln zurückkehrt, man könnte direkt Hoffnung schöpfen. Angestoßen hat die neue Kontroverse ein offener Brief von Künstlern und Wissenschaftlern um den Architekten und Professor für Architekturtheorie in Kassel, Philipp Oswalt, der bereits am 19. August an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke ging. In diesem wird ein Umdenken beim Wiederaufbau der Kirche gefordert. Am 4. September folgte der Donnerschlag: Mike Schubert (SPD), Potsdams Oberbürgermeister seit November 2018, sprach statt des bislang anvisierten Versöhnungszentrums in der wie auch immer wiederaufgebauten Kirche von einer internationalen Jugendbegegnungsstätte. Vor allem aber kündigte er an, dass das Glockenspiel der Garnisonkirche drei Tage später abgeschaltet werde. Schubert sagte, Potsdam brauche einen „Neuanfang“, die Inschriften der Glocken müssten wissenschaftlich ausgewertet werden. Die Garnisonkirche, 1701 bis 1703 von Friedrich I. gebaut, ist das Symbol schlechthin für die Vermählung preußischer Eliten mit der braunen Revolution. Sie ist der Ort, an dem 1933 Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler die Hand reichte. Als die Stadt die Reste der im Krieg bombardierten Kirche 1968 sprengen ließ, da sahen große Teile der DDR-Bevölkerung dies als überfällige Giftmüllbeseitigung. Dann kamen die Neupotsdamer Doch dann kam die Wende, und mit ihr viele Neupotsdamer, die mit der verschwundenen Garnisonkirche alles andere als Giftmüll assoziierten. Einigen von ihnen mag es bis heute um den Wiederaufbau der historischen Potsdamer Mitte gehen, um die Kirche als Teil eines schön anzusehenden Ensembles mit den längst wiederaufgebauten Prunkbauten Stadtschloss und Museum Barberini. Anderen geht es um mehr, um Preußens Glanz und Gloria, um einen zentralen Identitätsort der NS-Zeit auch. Entsprechend groß sind die Proteste der Gegner, die immer wieder und zuletzt 2014 in einem Bürgervotum mit 14.000 Unterschriften die Frage stellten, ob man eine Kirche bauen muss, um die Ideologie, die sie repräsentiert, zu widerlegen. Das Bürgervotum scheiterte. Seit zwei Jahren wird am Wiederaufbau des Turms gearbeitet, gefördert unter anderem mit 12 Millionen Euro Steuergeldern vom Bund. Auch die evangelische Kirche hat ihren Segen dazu gegeben – allerdings unter der Voraussetzung, dass nicht das historische Kirchenschiff wiederhergestellt wird, sondern ein Versöhnungszentrum, das auch äußerlich einen Bruch mit der Tradition markieren soll. Doch nun könnte ein anderer Wind aufkommen. Frank-Walter Steinmeier, der Schirmherr des Wiederaufbauprojekts ist, hat den Vorstoß Schuberts unterstützt. Und am Sonntag rief bereits zum zweiten Mal die Bürgerinitiative Mitteschön zum Protestsingen am stillen Glockenspiel. Ulrich Zimmermann von Mitteschön sagt der taz, die Entscheidung, ein Kirchenlied, noch bevor es überhaupt wissenschaftlich untersucht sei, abzuschalten, gehe „an der Bevölkerung vorbei“, die Religion werde aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Seine Initiative hält dem Plädoyer der Kirche zum Trotz auch am Wiederaufbau des historischen Kirchenschiffs fest: „Üb immer Treu und Redlichkeit.“ Aber was bedeutet das Glockenspiel für den Wiederaufbau der Kirche, das 200 Meter nördlich von der Baustelle steht? Eigentlich ist es nur ein Nachbau des historischen Glockenspiels. Es wurde 1987 auf dem Paradeplatz der Winkelmannkaserne der Bundeswehr in Iserlohn errichtet und 1991 der Stadt Potsdam geschenkt, und zwar von einem gewissen Max Klaar, den man bedenkenlos als Vater der Idee, die Garnisonkirche wiederaufzubauen, bezeichnen kann. Untersuchungen unnötig Klaar, ein rechtskonservativer Ex-Bundeswehroberst, war Vorsitzender des Verbands deutscher Soldaten, der bis zu seiner Selbstauflösung für die Amnestierung von wegen Kriegsverbrechen verurteilten Angehörigen der Wehrmacht kämpfte. Als die evangelische Kirche entschied, sie wolle aus der Kirche ein Versöhnungszentrum machen, zog sich Klaar aus dem Projekt Garnisonkirche zurück. „Ich denke, da braucht es keine Untersuchungen, der Fall liegt klar auf der Hand“, sagt Mitinitiator des offenen Briefes Philipp Oswalt der taz in Bezug auf die nun geforderte wissenschaftliche Untersuchung des Glockenspiels. Vor wenigen Jahren trat er mit seiner Entscheidung an die Öffentlichkeit, wegen der Haltung der Kirche zu den Wiederaufbauplänen aus ihr ausgetreten zu sein. Als Mitinitiator der kulturellen Zwischennutzung des Palasts der Republik 2004 und 2005 sagt er, dass das Stadtschloss im Vergleich zur Garnisonkirche „geradezu ein linksliberales Projekt“ gewesen sei. In einer Pressemitteilung hat er darauf hingewiesen, dass eine der Glocken des nun abgeschalteten Glockenspiels dem besagten Verband deutscher Soldaten gewidmet sei, eine andere dem Kyffhäuserbund, eine dritte dem Wehrmacht-Luftwaffenoffizier Joachim Helbig, der selbst nach Hitlers Tod noch für die Regierung Dönitz flog. Oswalt und die Mitverfasser des offenen Briefes an Steinmeier – darunter Gerd Bauz von der Martin-Niemöller-Stiftung –, sie haben viel erreicht bislang. Die Fans der Garnisonkirche, darunter der Vorstand der Garnisonkirchen-Stiftung Peter Leinemann, reagieren brüskiert und sagen, sie lassen „sich nicht in eine rechte Ecke schieben“. Andere – selbst Mitstreiter von Mitteschön – haben begonnen, sich von der „erinnerungspolitischen Wende“, wie sie Björn Höcke und Konsorten seit einigen Jahren propagieren, abzugrenzen. Jene wohlhabenden wie einflussreichen Neupotsdamer, die sich bislang monetär oder politisch zur Garnisonkirche bekannten, darunter Günther Jauch, Wolfgang Joop, Christian Thielemann und Lea Rosh: Sie werden sich künftig mehr Gedanken über ihr Image machen müssen, wenn sie die Garnisonkirche unterstützen. „Ich denke, die Potsdamer müssen sich jetzt sortieren“, freut sich Philipp Oswalt über den bisherigen Erfolg seiner Initiative.
Susanne Messmer
Der Streit über die Potsdamer Garnisonkirche ist wieder aufgeflammt. Oberbürgermeister Mike Schubert hat ihr Glockenspiel abgeschaltet.
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Theaterstück über Flüchtlinge: Illegale Helfer - taz.de
Theaterstück über Flüchtlinge: Illegale Helfer Sie wollen alles andere als Helden sein. Aber sie wollen auch Flüchtlingen helfen und begeben sich dafür selbst in Gefahr. Auszug aus einem Theaterstück. Zivilcourage ist heute notwendiger denn zuvor – Migrant an der auf dem Pfahl eines Grenzzauns in Spanien. Bild: ap Es sind politisch engagierte Menschen, die die Grenzen, die das Gesetz festlegt, nicht akzeptieren, die damit auch nicht die Marginalisierung, Kriminalisierung und eben Illegalisierung von Menschen ohne legalen Status akzeptieren. Es sind Leute, deren politischer Protest im Helfen besteht. Die damit eine intakte Zivilgesellschaft repräsentieren, die Verantwortung übernimmt auch oder besonders dann, wenn der eigene Staat und die europäischen Staaten versagen. Sie tun es auch mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit. Dass sie sich selbst in Gefahr begeben oder straffällig werden, ihren Beamtenstatus riskieren, nehmen sie in Kauf, sie legen es aber nicht darauf an. Und sie verlieren keine Zeit damit, darüber nachzudenken, was man bloß tun kann – sie tun was. Und sie retten dabei Leben. Ich habe vier Jahre lang – in Zusammenarbeit mit Lars Studer – in vier europäischen Ländern recherchiert und mit den Menschen gesprochen, die in der verborgenen Welt des menschlichen Handels zu Hause sind. Sie setzen viel Zeit, Energie und Fantasie ein, ein halbes Leben, ein Doppelleben, das sie führen. 1. Szene Genner, Mitte 60: Zivilcourage ist heute notwendiger denn zuvor, denn es kann ja gelingen, Abschiebungen zu verhindern! Wenn ein Asylwerber Asyl eingebracht hat, wenn er von der Deportation bedroht ist, untertaucht und 18 Monate nicht auftaucht, dann tritt für ihn die Dublin-Verordnung außer Kraft. Aber 18 Monate sind eine lange Zeit. Wo soll er hin in dieser Zeit? taz.am wochenendeJedes Kind kann es nach oben schaffen. Wenn es sich bildet. Das pflanzte die SPD einst in die Köpfe der Menschen. Heute studieren in Deutschland so viele wie nie zuvor. Doch die Abbrecher-Quote ist hoch. Ob und was da falsch läuft, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 25./26. April 2015. Linke Grüne verstehen ihre Partei nicht mehr: Die huscht so beflissen in die Mitte, dass sich selbst gestandene CDU-Profis wundern. Und: Die Pferdestaffel der Münchner Polizei. Eine Einsatzbegleitung. Außerdem: Hymnen auf die Komplizenschaft der Liebe – das neue Album von Tocotronic. Plus: Hausbesuch im Magdeburger Hundertwasserhaus. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Lukas, um die 40: Ich hatte mit meinen Kindern eine Zeit auf der Alp bei meinem Freund Jonas verbracht. Er bewirtschaftet einen Wald und mehrere Wiesen in den südlichsten Ausläufern der Schweizer Alpen im Tessin, direkt an der Grenze zu Italien. Ein groß gewachsener, kräftiger Mann von vielleicht Mitte 20 kam den Saumpfad herunter, gestützt auf zwei Stöcke. Er sprach uns freudig an, in einem fast unverständlichen Englisch, strahlte und fragte er, ob er hier in der Schweiz sei. Wir bejahten. Der Mann war dankbar, begeistert eigentlich, die Schweiz! Der Traum geht in Erfüllung, und er fragte weiter, ob, wenn er diesem Weg ins Tal folgen würde, er zu einem Dorf käme. Ja, sagten wir. Ich spürte, wie es mich freute, ihm auf diese Weise helfen zu können. Er überbot sich mit Segnungen. God bless you, sagte er, ich glaube, er nahm meine Hand, ich glaube auch, er berührte meinen Kopf. Genner: Die Zivilbevölkerung ist verpflichtet, Schutzräume zur Verfügung zu stellen, wo Schutzbedürftige und Schutzwürdige, Traumatisierte, Gefolterte untertauchen können, so lange, bis die 18 Monate um sind. Bis dahin müssen die Menschen irgendwo bleiben, und es gibt ja auch Menschen guten Willens, Privatpersonen, Klöster, Kirchen, Bauern, es gibt ja viele! Lukas: Ja, er hat sich gefreut, gestrahlt. Er hat uns umarmt. Er hat immer wieder Schweiz gesagt. Das ist der Weg ins Dorf, haben wir gesagt. Genner: Vor jedem ehrlichen Schlepper, der saubere Arbeit macht, der seine Kunden sicher aus dem Land des Elends und Hungers, des Terrors und der Verfolgung herausführt, der sie sicher hereinbringt, den Grenzkontrollen zum Trotz, habe ich Achtung. Lukas: Ja. Wir schickten ihn womöglich direkt ins Verderben. Denn im Dorf unten wachen die Nachbarn über die Straße, in großer Angst vor den Flüchtlingen. Früher war dieser Weg die Hauptroute der Schmuggler und Flüchtlinge. Eine solche Angst hatten die Leute im Dorf, dass sie die unteren Fenster vergittert und sich Schrotflinten angeschafft haben. Als er weg war, fuhr es mir wie ein Blitz durch die Knochen. Wir hätten ihn dabehalten sollen, auf der Alp! Ihn schützen. Wir hätten ihm drei Tage schenken sollen, ihn in Decken wickeln und ihm eine Suppe machen können. Mit ihm diese unglaublich genauen Schweizer Karten studieren und mit meiner Tante Ulrike telefonieren, die seit über 20 Jahren Flüchtlingen hilft. Wir hätten ihm einfach helfen können. War das nicht unterlassene Hilfeleistung? Gesetzgeber: Richtlinie zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt. 1) Eines der Ziele der Europäischen Union ist der schrittweise Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; dies bedeutet u. a., dass die illegale Einwanderung bekämpft werden muss. Der Rat der EU hat folgende Richtlinie erlassen: Artikel 1: Allgemeiner Tatbestand: Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest, die: a) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen. Genner: Menschen verschwinden in die Schubhaft. Und wir wissen nichts. Wir erfahren es nur, wenn ein Mensch, ein Freund, ein Bruder, ein Vater, ein Onkel zu uns kommt und sagt: Mein Bruder wurde abgeholt. Genner: Wir gehen dann ins Gefängnis, wir lassen uns eine Vollmacht erteilen und vertreten sie dann. Wir haben auch schon wieder welche zurückgebracht, die mitten im Abschiebevollzug waren. Lukas: Genner, was für ein Mensch bist du eigentlich? Genner: Ich berate und vertrete Asylwerber im Asylverfahren. Ich schreibe für sie Berufungen. Begleite sie zu den Einvernahmen. Ich bringe ihre Fälle an die Öffentlichkeit. Ich decke die Missstände auf. Lukas: Ja, aber abgesehen davon: Warum machst du das? Genner: Ich bin seit meinem 18. Lebensjahr politisch tätig. Lukas: Aber warum machst du das? Genner: Ich war in der 68er-Bewegung, ich war bei der Jugendorganisation Spartakus, die den Kampf gegen die Heime und Erziehungsanstalten geführt hat. Lukas: Und persönlich? Oder privat? Genner: Die Arbeit, die ich jetzt mache, ist der wichtigste Teil meines politischen Lebensweges. Ich komme aus einer Familie, die in der Nazizeit politisch und auch rassisch verfolgt wurde, das hat mich geprägt. Ist das ein Anlass, oder ein Funke, den du suchst? Lukas: Oder leidest du am Helfersyndrom? Genner: Ich freue mich über jeden Flüchtling, der durch mich Asyl erhalten hat. Ich freue mich auch über die wenigen Schweine, die wir aus dem Apparat herausschießen konnten. Sind viel zu wenige, aber manche sind es doch. 2. Szene Ulrike, 84: Ich muss vielleicht der Reihe nach anfangen: Der Allererste kam aus Bangladesch, Mamun, ein noch nicht volljähriger, knapp 16-jähriger junger Mann, der zweite junge Mann, Tarek, kam aus Afghanistan, der hatte ein abgeschlossenes Studium, dann kam der Dritte, das war ein Eritreer aus einer Volksgruppe, die verfolgt wurde, ein großer Sportler mit zum Teil hohen Gewinnen, früher, der Dehab. Sie waren alle drei allein gereist. Dann kam über den Dehab sein Freund Salem hinzu. Als fünfte Person kam die Lebensgefährtin vom Afghanen hinzu, die Malika, das war so der Anfang. Lukas: Wie kamt ihr darauf, das zu tun? Ulrike: Man kann sagen, sie haben uns einfach gefallen, ich fand sie sympathisch, ein bisschen verloren auch, der kleine Mamun, der Junge, das war ja fast noch ein Kind. Lukas: Eigentlich ein sehr einfacher Einstieg in eine Geschichte. Ulrike: Ja, und es sind alles große Geschichten geworden und sind’s immer noch. Da ging’s um die harten Kämpfe der Aufenthaltsbewilligungen, wir haben Anwälte eingesetzt oder grad je nachdem kirchliche Stellen gesucht. Wir kamen so richtig hinter die Kulissen dieser Asylpolitik, wie zufällig da vieles ist und wie machtlos man ist. Das war schlimm, manchmal schlimm. Also der Mamun, der Bangladeschi, der hatte das zehnte Schuljahr gemacht, davor noch ein Vorbereitungsjahr aufs zehnte Schuljahr, das zehnte Schuljahr, dann die Aufnahmeprüfung an die Berufsschule als Schreiner, und als er nach dem ersten Jahr so richtig integriert und drin war, kam der Negativbescheid. Da ist er untergetaucht. Jetzt ist er in guten Händen, jetzt ist er sicher und gut, aber davon erzähl ich besser nicht zu viel. Lukas: Ihr habt wegen der Gesetze beschlossen, etwas zu tun? Ulrike: Das mit dem Helfen ist immer viel komplizierter. Es ist mehr das Selbstverständliche, dass wenn man in die Situation kommt und sieht, hier könnte ich, wenn ich wollte, etwas tun, und dann tust du’s, eher so. Lukas: Du bist Lehrerin, dein Freund verbeamtet, war das nicht gefährlich? Ulrike: Ungewollt wurde es oft gefährlich, es geht nicht anders, es gibt Situationen, wo wir aufgrund der Menschenrechte mit der Wahrheit locker umgehen mussten. Ja. Es geht zum Beispiel darum, und das ist so eine häufige Frage, woher du kommst, und du sagst, ich kam aus Italien in die Schweiz, dann wirst du nach Italien ausgeschafft, das ist das erste Land, wo du ankommst, da wirst du wieder hingeschickt. Also darfst du nicht sagen, ich kam aus Italien, sondern „aus irgendeinem Land, ich weiß nicht genau, in Europa“. Mein Mann und ich waren uns immer einig, wo und wie wir helfen wollen, und aus diesen Beziehungen ist so eine Art Adoptivfamilie geworden für uns. Und ist’s heute noch. So gesehen ist es eine Entwicklung, sind es Beziehungen, die gehen ja auch nicht irgendwann planbar zu Ende, die gehen schon manchmal zu Ende, aber nicht unbedingt geplant.
Maxi Obexer
Sie wollen alles andere als Helden sein. Aber sie wollen auch Flüchtlingen helfen und begeben sich dafür selbst in Gefahr. Auszug aus einem Theaterstück.
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Hat die EU den Friedensnobelpreis wirklich verdient? - taz.de
Hat die EU den Friedensnobelpreis wirklich verdient? EHRUNG Am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte und Todestag Alfred Nobels, wird der EU der Friedensnobelpreis 2012 verliehen nächste frageDie sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessanteAntwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune Ja Wolfgang Grenz, 65, ist deutscher Generalsekretär von Amnesty International Die EU hat den Friedensnobelpreis verdient, wenn sie ihn als Verpflichtung für die Zukunft versteht. Der Preis muss Ansporn sein, die Menschenrechtspolitik, insbesondere die Asyl- und Flüchtlingspolitik, konsequent zu betreiben. Die EU könnte mit ihrer Antirassismusrichtlinie die Diskriminierung der Roma in den Mitgliedstaaten entschlossen bekämpfen. Für die Außenpolitik hat die EU eine beeindruckende Menschenrechtsstrategie beschlossen. Die muss sie jetzt konsequent umsetzen. Denn bisher geben die EU-Staaten ihre menschenrechtlichen Ziele zu schnell auf, wenn Wirtschafts- oder Sicherheitsinteressen im Spiel sind. Rebecca Harms, 56, Die Grünen, ist Mitglied des Europäischen Parlaments Die Entscheidung scheint überraschend und gewagt, gerade in diesen Zeiten, in denen das Europäische Projekt – zu Unrecht – zum Synonym von Krise wird. Das Komitee hat groß gedacht und die Bürgerinnen und Bürger der EU und die Politik gefordert und ermutigt, sich den europäischen Weg zu vergegenwärtigen. Nie würde ich behaupten, diese Europäische Union sei perfekt. Aber der Europäische Weg ist von Beginn an ein einzigartiger Einigungs- und Friedensprozess! Wir sollten den Preis ernst nehmen auch zur Vergewisserung: Der Europäische Weg ist begründet in dem Ziel, nationale Grenzen und Begrenzungen zu überwinden. Presley Antoine, 53, Taxiunternehmer, ist Botschafter der Initiative „Ich will Europa“ Seit über 33 Jahren lebe ich als Europäer in Deutschland. Ich habe den Kalten Krieg miterlebt, die Mauer, die deutsche Wiedervereinigung, die Einführung des Euro und die Erweiterung der EU um zehn Mitgliedstaaten. Es war immer friedlich. Wenn ich über politische Unruhen und Kriege in anderen Ländern der Welt lese, sage ich: Ja, die EU hat es verdient, so eine bedeutende internationale Auszeichnung zu erhalten. Der Nobelpreis für die EU ist ein Zeichen: Sie ist Vorbild für den Frieden und den Zusammenhalt der Welt. Christoph Schmidt, 50, ist einer der „Fünf Wirtschaftsweisen“ Deutschlands Wenngleich man darüber diskutieren kann, ob man einer so komplexen Institution und nicht einzelnen Personen den Friedensnobelpreis verleihen sollte, beantworte ich die Frage mit einem klaren „Ja“. Denn die europäische Integration hat großen Anteil daran, dass meine Generation Krieg eigentlich nur vom Hörensagen und vom Geschichtsunterricht her kennt. Zudem können wir durch das gemeinsame Auftreten der ganzen Welt europäische Werte, europäische Vorstellungen von Menschenrechten und von einem friedlichen Zusammenleben demonstrieren. Deshalb hat die EU auch den Friedensnobelpreis verdient. Philipp Klein, 24, Biologiestudent, kommentierte unsere Frage per E-Mail Ich finde, dass die EU eine tolle Sache ist. Was war denn Europa früher anderes als ein einziges Schlachtfeld, wo sich größenwahnsinnige Monarchen gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben – so wie heute im Nahen Osten? Und die ganzen Leute, die jetzt über die Auszeichnung meckern, nehmen einfach den Frieden als selbstverständlich an. Natürlich hat die EU den Friedensnobelpreis verdient. Nein Sahra Wagenknecht, 43, ist Stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke Die EU ist der größte Waffenexporteur der Welt. Sie verpflichtet ihre Mitglieder zur Aufrüstung und führt Militär- und Kriegseinsätze. Sie profitiert von der Ausplünderung von Rohstoffen und schottet sich gegen die Opfer ihrer Politik ab: Allein 2011 ertranken 1.500 Flüchtlinge im Mittelmeer. Die EU ist ein Projekt der Reichen und Konzerne: Bankenrettungen und soziale Kürzungsorgien sorgen für Umverteilung von unten nach oben. Die EU als „Friedensprojekt“ zu ehren führt die Idee des Friedensnobelpreises ad absurdum. Fredrik Heffermehl, 73, norwegischer Jurist, schrieb „The Nobel Peace Price“ Einen Friedenspreis für die EU? Gern. Den Friedensnobelpreis? Eine andere Frage. Die EU ist keiner der „Friedensverfechter“, die Alfred Nobel in seinem Testament beschrieb. Die EU setzt sich nicht für Alfred Nobels Ideal einer entmilitarisierten „Völkerverbrüderung“ ein. Stattdessen fördert sie Waffenproduktion und militärische Stärke, den Gegensatz zur Friedensbewegung, die Nobel unterstützen wollte. Das Parlament Norwegens missbraucht Nobels Namen, Geld und Prestige. Es ist schlicht rechtswidrig, die von Nobel genau beschriebene Friedensvision zu ignorieren und den Preis in einen generellen Friedenspreis umzudefinieren. Tanja Ostojić, 40, ist Künstlerin und bekannt für ihr Foto „EU-Unterhose“ Nobelpreis wofür? Dafür, dass Frankreich jährlich 10.000 Roma, EU-Bürger, abschiebt? Oh nein, das kann nicht sein. Dafür, dass Deutschland 20.000 Roma, keine EU-Bürger, nach Serbien und in den Kosovo abschiebt? Oh nein, das kann nicht sein. Für all die in die Illegalität gedrängten, ausgebeuteten Nicht-EU-Bürger hier? Oh nein, das kann nicht sein. Dafür, dass Deutschland und Frankreich Waffen für mehr als drei Millionen Euro an Griechenland verkaufen, als „Deal“ dafür, dass sie dem Land Geld geliehen haben? Oh nein, das kann nicht sein. Das klingt wie ein schlechter Scherz. Swetlana Gannuschkina, 70, russische Aktivistin, engagiert sich für Flüchtlinge Die EU ist mittlerweile unübersichtlich geworden. Das Niveau der Menschenrechte unterscheidet sich in den einzelnen Mitgliedstaaten stark. Es ist nicht gelungen, ein einheitliches Rechtssystem zu etablieren. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben eine Reihe – für meine Begriffe unzulässigen – Militäroperationen auf dem Gewissen, die zum Tod von Tausenden Menschen geführt haben. Den Friedensnobelpreis sollte man gezielter an Menschen und Organisationen für deren konkrete Wirkung oder Taten verleihen. Der diesjährige Preis ist an nichts und niemanden gegangen. Bernd Kasparek, 32, ist im Netzwerk Kritische Grenzregimeforschung aktiv Das Komitee begründet den Nobelpreis für die EU vor allem mit dem Frieden in Europa. Das hat einen eurozentrischen Beigeschmack. Es gab keinen echten Bruch mit dem Erbe des Kolonialismus. Das zeigt sich auch am Umgang mit den postkolonialen ProtagonistInnen der Migration. Das Sterben an den Grenzen Europas ist nur die offensichtliche Tragödie. Die kommenden BürgerInnen Europas betreten einen Raum der hierarchisierten Rechte, der Grenzen und der Ausgrenzung. Obama, EU: In Oslo ist Krieg Frieden.
Wolfgang Grenz / Rebecca Harms / Presley Antoine / Christoph Schmidt / Philipp Klein / Sahra Wagenknecht / Fredrik Heffermehl / Tanja Ostojic / Swetlana Gannuschkina / Bernd Kasparek
EHRUNG Am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte und Todestag Alfred Nobels, wird der EU der Friedensnobelpreis 2012 verliehen
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Schwelende Konflikte: Nicht alles Gold was glänzt - taz.de
Schwelende Konflikte: Nicht alles Gold was glänzt Der Streit schwelt in der Max-Planck-Gesellschaft schon seit längerem. Streitpunkte sind Führungsdefizite und Mobbing­vorwürfe. Konflikte an der Basis, Glanz an der Spitze: Nobelpreisträger Benjamin List und Klaus Hasselmann Foto: Tobias Schwarz/afp Pool/ap BERLIN taz | „Noblesse oblige“. Den beiden Nobelpreisträgern der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), Klaus Hasselmann für Physik und Benjamin List für Chemie, wurde die Wissenschaftsauszeichnung in dieser Woche im Berliner Harnack-Haus festlich überreicht. Die traditionelle Übergabe durch den schwedischen König in Stockholm hat die Coronapandemie im zweiten Jahr in Folge verhindert. Wissenschaft ist ein scharfes Schwert, aber nicht immer siegreich. Während es oben funkelt, ist an der Basis der renommierten Forschungsorganisation nicht alles Gold was glänzt. Seit Jahren schwelen in den Instituten Konflikte um Mitarbeitermobbing und Führungsdefizite des Leitungspersonals, die jetzt erneut wieder aufgebrochen sind. Der aktuelle Fall spielt am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, wo die kanadische Archäologin Nicole Boivin Ende Oktober von MPG-Präsident Martin Stratmann von ihrem Direktorenposten abgesetzt wurde. In dieser Funktion hatte sie fünf Jahre lang grundlegende Forschungen über die Evolution des Menschen durchgeführt und unter anderem mit ihrem Team herausgefunden, dass die negativen Umwelteinflüsse des Homo sapiens schon vor der Sesshaftwerdung im Neolithikum stattfanden. So wurde bereits im späten Pleistozän etwa in Neuguinea bewusst der Regenwald verbrannt oder abgeholzt – Spuren eines frühen „Geoengineering“, was heute mit dem Begriff „Anthropozän“ verbunden wird. Die wissenschaftlichen Leistungen Boivins spielten für die Degradierung keine Rolle, sondern der Umgang mit ihren Untergebenen. Schlechte Behandlung junger Wissenschaftler und die Aneignung wissenschaftlicher Ideen von Kollegen, so lauteten die Vorwürfe, die zunächst mehrjährige interne Untersuchungen der MPG-Zentrale in München auslösten. Boivin ihrerseits bestritt alle Vorwürfe und wehrte sich gerichtlich gegen die Herabstufung. Der Fall zog schnell internationale Kreise. In einem offenen Brief protestierten 145 Wissenschaftlerinnen gegen das Verfahren und forderten die MPG auf, „ihren Umgang mit weiblichen Führungskräften zu überprüfen“. Es sei ungerecht, wenn Frauen in Leitungspositionen kritischer beurteilt würden als Männer und dementsprechend Vorwürfe von Fehlverhalten gegenüber weiblichen Führungskräften viel häufiger bekannt gemacht und geahndet würden als bei ihren männlichen Kollegen, so das Protestschreiben. Damit wurde der Führungskonflikt um einen „Gender-Bias“ aufgeladen, der sich auch in Berichterstattungen der international führenden Wissenschaftsmagazine Science und Nature fortsetzte. Konflikte mit Be­treue­r*in­nen Die MPG-Zentrale widersprach zwar dieser Darstellung. „Wir können nicht bestätigen, dass mehr Frauen als Männer belastet werden“, erklärte Max-Planck-Sprecherin Christina Beck. „In den vergangenen zehn Jahren wurde genau zwei Di­rek­to­r*in­nen wegen nichtwissenschaftlichen Fehlverhaltens ihre Leitungsfunktion entzogen – dies betraf einen Mann und eine Frau“, äußerte sich die Sprecherin gegenüber dem Wiarda-Wissenschaftsblog. Aber das Doktorandennetzwerk der MPG „PhDnet“ hielt mit einer eigenen Erhebung dagegen. „Innerhalb der MPG mussten sich in den letzten Jahren vier von 54 Direktorinnen offiziellen und öffentlichen Mobbingberichten und ihren Folgen stellen“, fassten die Nachwuchsforscher zusammen. „Bei den männlichen Direktoren traf dies nur auf einen von 250 zu.“ Nach einer neueren Umfrage unter den 5.000 Doktoranden gaben 13 Prozent an, dass sie „Konflikte mit ihren direkten Betreuenden (nur Direktor*innen) erlebt“ hätten, und dies sowohl bei weiblichen wie auch bei männlichen Betreuenden. „Erstaunlich ist“, so das Max-Planck-PhDnet weiter, „dass 8,7 Prozent der Promovierenden den Konflikt melden, wenn es sich um eine Direktorin handelt, während dies nur auf 3,4 Prozent der Promovierenden mit männlichen Betreuenden zutrifft“. Anfang der Woche ist die Causa Boivin auch vor Gericht angekommen. Das Landgericht Berlin gab dem Antrag der Wissenschaftlerin auf einstweilige Verfügung statt. Danach darf die MPG „die Entscheidung des Präsidenten über die Abberufung von Frau Boivin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht vollziehen“, heißt es in dem Urteil. Das habe sich ausschließlich auf „Verfahrensfragen“ bezogen, betont die MPG. Die inhaltlichen Vorwürfe kommen später zur Verhandlung.
Manfred Ronzheimer
Der Streit schwelt in der Max-Planck-Gesellschaft schon seit längerem. Streitpunkte sind Führungsdefizite und Mobbing­vorwürfe.
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„Sozial nicht konsensfähiges Verhalten“ - taz.de
„Sozial nicht konsensfähiges Verhalten“ Okkultismus im Wendland: Der Gründer der satanistischen Thelema-Gruppe, Michael Eschner, macht seine Anhängerinnen mit Vergewaltigungen und Nötigungen gefügig Bislang war es kaum möglich, Näheres über die so genannte Thelema-Gemeinschaft zu erfahren. Schon 1986 hatte deren geistiger Führer, Michael Eschner, das kleine Bergen im Wendland zum Hauptsitz seiner satanistischen Organisation erklärt. Aber erst jetzt sind ehemalige Thelema-AnhängerInnen bereit, auch öffentlich über ihre erniedrigenden Erlebnisse in der Gruppe zu berichten. Dieser Tage gelang es der „Arbeitsgemeinschaft Sekten“ erstmals, eine Informationsveranstaltung zum Thema anzubieten. Der Saal des „Schützenhauses“ des Örtchens war prall gefüllt. „Es geht mir nicht darum, Okkultismus oder Spiritualität an sich zu kritisieren“, so der Politologe Rainer Fromm, der den Abend mit vorbereitet hatte. „Aber Eschner verbreitet unter dem Pseudoziel der Suche nach dem wahren Willen, der Liebe und dem Erlangen von Unsterblichkeit eine Ideologie der Selbstvergottung, die als höchst gefährlich einzustufen ist.“ Was das bedeutet, berichtete unter anderem die Aussteigerin Bea K.: „Wie alle neuen weiblichen Anhänger, wurde ich am Anfang meiner Thelema-Zugehörigkeit per Telefon zu Eschner zitiert“, erzählte sie. „Dort zwang er mich zum Sex, biss mich in Zehen und Brustwarze.“ Auch in der Folgezeit sei sie, wenn sie nicht vollständig Eschners Willen folgte, von ihm geschlagen und getreten und zu sexuellen Praktiken genötigt worden, die ihr widerlich waren. Kein Einzelfall, sondern Teil einer systematischen Umprogrammierung: Gruppeninterne Handzettel für so genannte Ausbildungsfeten weisen darauf hin, dass es im Sinne der Ausbildung „zu allen Arten“ von „sozial nicht konsensfähigem Verhalten kommen“ könne. Das Spektrum reiche „von Beschimpfungen bis zum Geschlechtsverkehr“. Wie Rechtsanwalt Reiner Fuellmich aus Göttingen berichtet, sind nur wenige seiner Aussteigerinnen bereit, Anzeige zu erstatten. Zu groß sei der psychische Druck, der noch danach auf ihnen laste. Trotzdem gelang es ihm mit Unterstützung einer Psychologin des örtlichen Frauenhauses, Strafverfahren einleiten zu lassen. 1992 wurde Eschner wegen Vergewaltigung zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, 2002 erging ein Strafbefehl über 7.500 Euro wegen sexueller Nötigung. Zwei weitere Mitglieder der Gruppe wurden inzwischen ebenfalls zu hohen Geldstrafen wegen Nötigung und Körperverletzung verurteilt. Direkte Gefahr für Außenstehende gehe von Thelema allerdings kaum aus, war in Bergen zu erfahren. Die Gruppe habe ihr Haupttätigkeitsfeld aufs Internet verlegt, so Fromm. Bedenklich: Über 5.000 „Bewohner“ seien in Eschners virtueller Stadt „new aeon city“ registriert. Eschner ist nicht der erste Guru, der auch in linken Kreisen für Unruhe sorgt. So hatte Anfang der 1970er-Jahre Otto Mühl seine „Aktionsanalytische Gemeinschaft“ gegründet, deren Lehre vor allem links gefiel. Die von Otto Mühl praktizierte „freie Liebe“ degenerierte allerdings zusehends zum Herrschaftsrecht des Übervaters: 1991 wurde Mühl verhaftet und wegen Unzucht mit Minderjährigen und Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses zu sieben Jahren Haft verurteilt. Angelika Blank
Angelika Blank
Okkultismus im Wendland: Der Gründer der satanistischen Thelema-Gruppe, Michael Eschner, macht seine Anhängerinnen mit Vergewaltigungen und Nötigungen gefügig
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Die Nachhaltigkeit geht zu oft baden - taz.de
Die Nachhaltigkeit geht zu oft baden ÜBERFISCHUNG Greenpeace hat das Fischsortiment in Supermärkten getestet. Das Ergebnis: mangelhaft BERLIN taz | Über drei Viertel aller Fischprodukte stammen nicht aus nachhaltiger Fischerei und Aquakultur. Dies hat die Umweltschutzorganisation Greenpeace in einer am Montag veröffentlichten Studie festgestellt. In bundesweit 91 Filialen des Lebensmitteleinzelhandels wurde dabei das Fischsortiment untersucht. Die rund 15.000 Produkte umfassende Stichprobe zeigt zwar Verbesserungen: Aktuell stammen 22 Prozent des Angebots aus nachhaltigem Fischfang – 2010 waren es nur 16 Prozent. Doch das reicht nicht, um die Meeresbestände zu schützen. Wirtschaft contra Ökologie Im Mittelmeer sind 82 Prozent der Bestände überfischt. Im Atlantik und der Ostsee beträgt der Anteil jeweils 60 Prozent, fand die Organisation „Ocean2012“ Die Ursache dafür liegt in einem „jahrelangen Fehlverhalten“, erklärt Iris Menn, Meeresexpertin bei Greenpeace. Die Gesetzgebung biete Lücken, die Überfischung zulassen. Zum einen ist die europäische Flotte so groß, dass sie innerhalb eines Jahres mehr fischen könnte, als überhaupt in den Meeren schwimmt. Die erlaubten Fangquoten übersteigen meist die wissenschaftlichen Empfehlungen. 2012 lag sie etwa für den Kabeljau um 100 Prozent darüber. Zudem profitierten Europas Fischer bisher von hohen Subventionen. Laut einer Schätzung von Greenpeace fließen bisher knapp 150 Millionen Euro jährlich in die nicht nachhaltige Fischerei. Dies übersteigt die Erlöse der Fischanlandungen um das 1,5-fache. Der Verbraucher zahlt also doppelt für die Dezimierung der Bestände – erst durch Steuern, dann im Supermarkt. Unzureichend ist auch die Kennzeichnung der Produkte hinsichtlich der Nachhaltigkeit. Es müsse das spezifische Fanggebiet und die Fangmethode ersichtlich sein, um die Käufer über den ökologischen Aspekt aufzuklären, fordert Greenpeace. Nur bei 24 Prozent der Produkte ist das derzeit der Fall. Aktuell entscheiden die Fischereiminister über die Zukunft der Meeresbewohner. 2014 sollen die Quoten erstmals innerhalb der wissenschaftlichen Empfehlungen liegen. Auch soll mehr in nachhaltigen Fang investiert werden. Iris Menn bleibt skeptisch, bis die „Worte auch konsequent in die Tat umgesetzt worden sind“. LENA SCHNEIDER
LENA SCHNEIDER
ÜBERFISCHUNG Greenpeace hat das Fischsortiment in Supermärkten getestet. Das Ergebnis: mangelhaft
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Deutsche Frauen-Nationalmannschaft: Riesinnen in Spiellaune - taz.de
Deutsche Frauen-Nationalmannschaft: Riesinnen in Spiellaune Trotz vieler Ausfälle siegt Deutschland mit 4:0 gegen Brasilien. Die Präzision im Passspiel macht Hoffnung für die WM in zwei Monaten. Rebecca Knaak, Madeline Gier und Felicitas Rauch bejubeln das dritte Tor für Deutschland. Bild: imago/foto2press Es war das letzte Testspiel der deutschen Nationalmannschaft, bevor Mitte Mai die Vorbereitungsphase für die Weltmeisterschaft in Kanada beginnt. Mit 4:0 (2:0) haben die Deutschen am Mittwochabend in ihren nagelneuen, sehr weißen Turniertrikots gegen Brasilien gewonnen. Das Spiel macht das deutsche Team vielleicht noch nicht zum absoluten Titelfavoriten – dafür waren die Brasilianerinnen zu schwach – und doch hat es sich in einer Laune präsentiert, die gezeigt hat: Die Lust am Spiel hat Einzug gehalten ins deutsche Team, für die Celia Sasic (26.), Simone Laudehr (35.), Melanie Leupolz (60.) und Dzsenifer Marozsan (86.) trafen. Denn da war etwas zu beobachten, was trotz aller Erfolge des Dauereuropameisterteams bisweilen zu selten zu sehen war: Präzision im Passspiel. Bis zum Ende versuchten die Brasilianerinnen den Spielaufbau der DFB-Elf früh zu stören, und immer wieder gelang es den Deutschen, sich spielerisch aus der Bedrängnis zu befreien. Wo waren sie, diese unkontrollierten Befreiungsschläge, an die wir uns beinahe schon gewöhnt hatten? Es war eine Spielkultur zu beobachten, mit der vielleicht selbst Bundestrainerin Silvia Neid nicht gerechnet hatte. Acht Spielerinnen, mit denen sie geplant hatte, meldeten sich kurz vor dem Spiel wegen diverser Verletzungen ab. Mit den schon länger Verletzten Luisa Wensing, Lena Lotzen und Nadine Keßler fehlte ihr also eine komplette Mannschaft. Und dann das! Ein Spiel, das nach nervösem Beginn zum absoluten Hingucker wurde, das ganz einfach die Mannschaft gewonnen hat, die besser Fußball spielte. Die Ätzereien, die Marta Vieira da Silva, Brasiliens immer noch beste Spielerin, vor dem Spiel abgeladen hatte und mit denen sie es zumindest ganz unten in die Meldungsspalten diverser Publikationen geschafft hatte, waren da schnell vergessen. „Manchmal ist es so, dass wir wie ein kleines Mädchen im Gegensatz zur zwei Meter großen Frau dastehen, sie simuliert, und die Fans stellen sich gegen uns“, hatte Marta Kryptisches von sich gegeben: „Das sind eben die negativen Methoden, um eine Partie für sich zu entscheiden.“ Gedöns-tazGedöns ist Umwelt, ist, was wir essen, wie wir reden, uns kleiden. Wie wir wohnen, lernen, lieben, arbeiten. Kinder sind Gedöns, Homos, Ausländer, Alte. Tiere sowieso. Alles also jenseits der „harten Themen“. Die taz macht drei Wochen Gedöns, jeden Tag vier Seiten. Am Kiosk, eKiosk oder direkt im Probe-Abo. Und der Höhepunkt folgt dann am 25. April: der große Gedöns-Kongress in Berlin, das taz.lab 2015. Wahrscheinlich hat die 29-Jährige nicht schlecht gestaunt an diesem Abend vor gut 15.000 Zuschauern in Fürth. Die deutschen Riesinnen können kicken. Natürlich haben sie auch ihre körperliche Überlegenheit ausgespielt. Die an diesem Tag herausragende Simone Laudehr vom 1. FFC Frankfurt darf da getrost als beispielhaft bezeichnet werden. Dass sie es schafft, im arg unregelmäßigen Spielbetrieb der Bundesliga, zu dem die Einsätze in der Champions League und die Termine mit der Nationalmannschaft nicht wirklich gut passen, ihre Fitness zu erhalten, kommt wohl nicht von ungefähr. Die Spielerinnen sind angehalten, ein eigenes Fitnessprogramm zu absolvieren, das die Bundestrainerin mit den Klubtrainern abgesprochen hat. Bis zum 18. Mai müssen die Auswahlspielerinnen sich noch neben dem Klubtraining selbständig fithalten. Dann trifft sich die Mannschaft zum Vorbereitungstrainingslager in der Schweiz, wo am 24. Mai das nächste Testspiel ansteht. Gegen die Schweiz wird dann auf Kunstrasen gespielt, jenem ungeliebten Belag, der auch in Kanadas WM-Stadien ausgelegt wird. Abschreckende Bilder von Abschürfungen und Verbrennungen werden von vielen Weltklassespielerinnen über die sozialen Netzwerke verbreitet, und ein naheliegender Verdacht liegt in der Luft: Den Männern würde die Fifa so einen Belag wohl nie und nimmer zumuten. Womit wir wieder bei einem Frauenfußballmeckerthema wären. Aber meckern wollen wir heute ja nicht.
Andreas Rüttenauer
Trotz vieler Ausfälle siegt Deutschland mit 4:0 gegen Brasilien. Die Präzision im Passspiel macht Hoffnung für die WM in zwei Monaten.
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PR durch die Blume - taz.de
PR durch die Blume Wenn die Industrie „Journalistenpreise“ auslobt, wird Berichterstattung schnell mal zur Hofberichterstattung Nachhaltigkeit ist ein Begriff aus der Forstwirtschaft. Dort meint er, verkürzt gesagt, dass nicht mehr Holz geschlagen werden darf, als nachwachsen kann. Damit soll ein knappes Gut in seiner Quantität und Qualität bewahrt werden. Journalistenpreise sind auch so ein Gut, wenn auch kein knappes mehr. Wodurch die Funktion dieser Preise, eigentlich ein Mittel der Qualitätssicherung, ausgehöhlt wird. Den aktuellen Beitrag hierzu liefert das Forum für Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft, econsense. Mit BMW nach Südafrika Man hätte sich gewünscht, dass econsense sich der ursprünglichen Bedeutung von Nachhaltigkeit bei der Auslobung ihres Journalistenpreises erinnert hätte. Ja, liebe Leute von econsense, so etwas wie Nachhaltigkeit gibt es auch im Journalismus. Der Verein, in dem etliche deutsche Unternehmen eingetragen sind, hatte einen Preis ausgeschrieben „zur Förderung der Berichterstattung über Nachhaltigkeit in deutschen Unternehmen“. Hört sich diese Formulierung ohnehin schon etwas unglücklich an, so wird es erst recht zweifelhaft, wenn man sich die Rolle des Automobilkonzerns BMW anschaut: Ein Gesandter von BMW saß in der Jury und die Firma spendierte zudem einen der Preise: eine Informationsreise nach Südafrika. Brisant wird es vor allem deshalb, weil ein Artikel ausgezeichnet wurde, der sich mit dem Münchener Autobauer auseinander setzt. Und das eher belobigend als kritisch. Bei „econsense“ findet man diese Interessenvermischung nicht so schlimm. Auf die Frage, ob Nachhaltigkeit im Journalismus nicht auch etwas mit Unabhängigkeit zu tun habe, wiegelt die Pressesprecherin Carolin Boßmeyer ab, „das sei kein Problem“. Und rein „zufällig“ sei ein Text ausgezeichnet worden, der sich einem Mitgliedsunternehmen widmet: „Die Jury war keineswegs tendenziös“, bemüht sich Boßmeyer den Vorfall herunterzuspielen. Den Gewinnern dürfte das egal sein, die befinden sich möglicherweise schon auf ihrer Reise, die zusätzlich zum Preisgeld spendiert wurde. Dass diese Flüge in Richtung Südafrika (gesponsert von BMW) und die Tschechische Republik (VW) starteten, ist sicher auch nur Zufall. Sind ja beides schöne Länder. Mit VW nach Tschechien Oder wo haben die Autokonzerne noch mal Niederlassungen? Da lässt sich doch vor Ort noch eine Recherche nachlegen. Wenn Unternehmen ihre Produktionen ins Ausland verlagern, dann betonen sie gerne, dass der „hohe Stand der Qualität“ gewahrt bleibt. Journalistische Qualitäten wie etwa die Unabhängigkeit gelangen bei solchen „Auszeichnungen“ allerdings unter die Räder. MICHAEL LÜNSTROTH
MICHAEL LÜNSTROTH
Wenn die Industrie „Journalistenpreise“ auslobt, wird Berichterstattung schnell mal zur Hofberichterstattung
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Anwältin über DSK-Prozess: "Der Täter profitiert" - taz.de
Anwältin über DSK-Prozess: "Der Täter profitiert" Die Anklage gegen Strauss-Kahn wurde zu Recht fallengelassen, sagt Anwältin Theda Giencke. Auch wenn die eigentliche Tat damit keineswegs bestritten ist. Wann sagte sie die Wahrheit und wann nicht? Nafissatou Diallo. Bild: dapd taz: Frau Giencke, das New Yorker Gericht hat das Verfahren gegen Dominique Strauss-Kahn eingestellt. Ist das für Sie plausibel? Theda Giencke: Ja, es gibt wohl gute Gründe, warum die Anklage fallen gelassen wird. Kann man wirklich mit dem Hinweis, Diallo habe unter anderem bei der Einwanderung gelogen, ihre Glaubwürdigkeit insgesamt infrage stellen? Das nicht, aber das hat die Staatsanwaltschaft auch nicht getan. Es ging vor allem um die Art und Weise, wie Diallo mit diesen Aussagen umgegangen ist. Die Fähigkeit, etwas sehr emotional und stringent darzustellen, was sich dann als Unwahrheit erweist, zeugt von einer hohen Konfabulationsfähigkeit, wie man das nennt: der Fähigkeit, Geschichten zu erfinden. Man konnte nicht erkennen, wann sie die Wahrheit sagt, weil sie so gut schauspielern konnte. Das beweist doch nicht, dass ihre Aussage zur Tat falsch ist. Theda Giencke42, ist Anwältin für Strafrecht und im Vorstand des Vereins Nebenklage e. V., der für die Wahrung von Opferinteressen in Strafverfahren eintritt. Aber auch in der Aussage zur Tat gibt es Inkonsistenzen: Hat sie nach der Tat noch ein Zimmer geputzt oder dort Putzzeug geholt oder im Flur gestanden? Da gibt es drei Versionen. Vielleicht dachte sie zuerst, man glaubt ihr nicht, und hat deshalb dramatisiert? Wohin sie gelaufen ist, ist doch Randgeschehen. Der Kern der Aussage über die Tat blieb dagegen unverändert. Nein, wie man aus einer solchen Situation herauskommt, gehört mit in den Kernbereich der Tat. Das ist kein Randgeschehen. Das heißt, Sie glauben Frau Diallo nun auch nicht mehr? Das nicht. Vor allem finde ich bei Diallo kein Motiv dafür, so etwas zu erfinden. Die Situation ist so zufällig entstanden, dass Diallo sie nicht geplant haben kann. Tatsache ist auch, dass sie unglaublich oft vernommen wurde. Sie kann auch psychisch am Ende gewesen sein und deshalb keine stabile Aussage mehr gemacht haben. Aber es lässt sich so eben nicht mehr klären, ob Zwang im Spiel war oder nicht. Strauss-Kahn hat den sexuellen Kontakt zunächst geleugnet. Da ist er auch nicht so glaubwürdig, oder? Der Angeklagte darf lügen, um sich zu schützen. Da ist in unserem Rechtssystem so geregelt. Sitzt der Beschuldigte letztendlich am längeren Hebel? Na ja, gerade Prominente erfahren eine extreme Rufschädigung durch Anschuldigungen. Sie haben aber die finanziellen Mittel, um immer noch neue Gegengutachten erstellen zu lassen. Generell ist aber der Nachweis einer Vergewaltigung einfach schwierig. Da profitiert ein Täter von der Unschuldsvermutung. Ist Diallo auch unglaubwürdig, weil sie sich mehr hätte wehren müssen? "Zubeißen beim Oralverkehr" hat zum Beispiel Peter Scholl-Latour gefordert. Ich hatte gerade einen Fall, in dem das Opfer zugebissen hat. Das machte den Beschuldigten noch aggressiver. Also lieber gar nicht wehren? Das ist leider nicht eindeutig zu beantworten. Wenn Frau Diallo nicht laut genug Nein gebrüllt hat, dann kann das schon bedeuten, dass die Tat nicht mehr als Vergewaltigung gilt. Andererseits rät die Kripo, sehr, sehr vorsichtig zu sein, um den Täter nicht noch zu provozieren. Man verschiebt aber mit dem Vorwurf der Untätigkeit die Verantwortung vom Täter auf das Opfer. Das wird der Situation nicht gerecht, es verschlimmert sie: In 95 Prozent der Fälle werfen die Frauen sich selbst vor, dass sie nicht mehr unternommen haben. Dabei sind viele schlicht wie gelähmt und stellen sich quasi tot. Herr Scholl-Latour verharmlost die Not des Opfers. Welches Signal sendet das Verfahren an die Gesellschaft? Ein widersprüchliches: Zum einen zeigt es, wie frustrierend es sein kann, eine Anklage wegen Vergewaltigung zu erheben. Der Druck auf die Zeugin war immens. Zum anderen aber auch, dass auch Prominente Vergewaltiger sein können und dass man auch die anzeigen darf.
Heide Oestreich
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Russlands Intervention in Syrien: Die Angst vor dem IS - taz.de
Russlands Intervention in Syrien: Die Angst vor dem IS Moskaus Luftschläge könnten den Terror im Kaukasus wieder anheizen. Dort sind es wirtschaftliche Probleme, die die Jugend radikalisieren. Die Ruhe könnte trügerisch sein: Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow bei einer Fahrrad-Rallye in Grozny. Foto: ap MOSKAU taz | Türkische Jagdflieger haben am Wochenende einen russischen Kampfjet abgedrängt, der in der Region von Hatay in den türkischen Luftraum vorgedrungen war. Der Vorfall soll sich bereits am Samstag ereignet haben, teilte das Außenministerium in Ankara mit. Russlands Botschafter sei einbestellt worden, um ihm den „scharfen Protest“ der türkischen Regierung zu übermitteln. Deren Außenbeauftragter, Hadi Sinirlioglu, habe seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow auch bereits telefonisch vor einer Wiederholung ähnlicher Vorfälle gewarnt. Präsident Recep Erdogan sprach von einem „schweren Fehler“, den Moskau mit den Luftschlägen begehe und warnte Russland vor der Gefahr einer „Vereinsamung in der Region“. Aus dem Kreml verlautete zunächst lapidar, man werde den Vorwurf der Luftraumverletzung prüfen. Schon am Nachmittag jedoch war die russische Botschaft überraschend geständig. Laut Angaben der russischen Nachrichtenagentur RIA seien auch mehrere tausend Kämpfer des IS, der Al-Nusra-Front und anderer Gruppen vor den russischen Luftangriffen nach Jordanien geflohen. Russland unterscheidet nicht zwischen dem IS und anderen Gruppierungen, die ebenfalls Syriens Präsidenten Baschar–al Assad bekämpfen. Dass diese Formationen nicht dem IS angehören oder ihn sogar bekämpfen, verschweigt Moskau. Darunter sind auch solche, die in Tschetschenien im Kampf mit der russischen Armee Erfahrung gesammelt haben. Offiziell nimmt Russlands Luftwaffe in Syrien Stützpunkte des Islamischen Staates (IS) ins Visier. Tatsächlich galten die ersten Schläge aber Stellungen der gemäßigten Opposition gegen Baschar al-Assad. Sicherheit gefährdet Russland sehe seine Sicherheit gefährdet, sagte der Präsidialamts-Chef Sergei Iwanow zur Begründung der Intervention. Rückkehrer aus den Reihen des IS könnten den Terror zu Hause wieder anheizen. Seit den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi ist es in Russland ruhiger geworden. Nach Schätzungen des Onlineportals „Kawkaski Usel“ (Kaukasischer Knoten) wurden bei Terroranschlägen 2013 noch 1149 Personen getötet oder verletzt. 2014 sank die Opferzahl auf 525. In diesem Jahr dürften es noch weniger werden. Seit dem Bürgerkrieg in Syrien nahmen die Aktivitäten des kaukasischen Untergrunds merklich ab. Das bestätigen Sicherheitskräfte ebenso wie Menschenrechtler. Für den Rückgang gibt es viele Gründe: Vor den Olympischen Spielen ging der Kreml mit äußerster Härte gegen Islamisten vor und zerstörte lebenswichtige Strukturen des Kaukasischen Emirats (KE). Das Terrornetzwerk war seit 2007 für die meisten Anschläge in Russland verantwortlich. Auch dessen selbsternannter Emir, der Tschetschene Doku Umarow, wurde vom russischen Geheimdienst getötet. Seither ist das KE geschwächt. Nicht nur eine anerkannte Führungsfigur fehlt, auch das Geld wurde knapp. Noch wichtiger indes: die Jugend folgt anderen Vorbildern. Der Kampf des KE gegen das ungläubige Russland reizt sie weniger als die globale Mission der Terrormiliz IS. Mit dem Krieg in Syrien haben sich viele auf den Weg in den Nahen Osten aufgemacht. Emir Umarow hatte schon zu Lebzeiten gewarnt, die erfolgreiche Anwerbung durch den IS könne zu einem Nachwuchsproblem für den Heiligen Krieg im Kaukasus führen. Korruption und Rechtlosigkeit Der Terror hat sich unterdessen nur nach Syrien verlagert. Seine sozialen und gesellschaftlichen Ursachen wurden im Nordkaukasus nicht beseitigt. Korruption, Rechtlosigkeit und mangelnde Aufstiegschancen bestimmen weiterhin den Alltag und radikalisieren die Jugend. Nur wächst inzwischen der Zuspruch zum IS. Die Behörden sind nicht der Illusion erlegen, dass sie den Terror zu Hause bezwungen haben. Im Gegenteil. Wer nach Syrien ausreisen möchte, kann auf wohlwollende Unterstützung russischer Geheimdienste bauen. „Die russischen Sonderdienste kontrollieren den Prozess vom ersten Moment an. Sie stören auch nicht, sondern sind beim Absetzen noch behilflich“, schrieb die oppositionelle Nowaja Gaseta Ende Juli. 22 Einwohner eines Dorfes in Dagestan, rund 1 Prozent der Bevölkerung, hatten sich auf den Weg in den Nahen Osten gemacht. Wer weder Reisepass noch Geld besaß, dem wurde staatliche Hilfe zuteil. Das Kalkül schien zu sein: Sie gehen, um zu sterben. Unterdessen kehrten 17 Gotteskrieger enttäuscht zurück, die anderen sind gefallen. Den Heimkehrern wird jetzt der Prozess gemacht. Auch der desolate Zustand des KE verleiht dem IS Auftrieb. Viele Kommandanten wechselten seit letztem Jahr die Seite und schworen dem IS Gefolgschaft. Erst im Juni gab die Terrorgruppe auch die Gründung einer eigenen „IS-Kaukasus-Provinz“ bekannt. Sie hält die Rebellen aus dem Nordkaukasus für eine schlagkräftige Truppe, nicht jeder Treueschwur einer Terrorzelle wird vom IS auch angenommen. Den Rebellen eilt der Ruf voraus, hervorragende Kämpfer zu sein, die auf dem Schlachtfeld sehr begehrt sind. Die meisten stammen aus Tschetschenien und der Nachbarrepublik Dagestan. Einer der IS-Führer ist Omar Schischani, ein Tschetschene aus dem Pankisi-Tal in Georgien. Beobachter vermuten, die Kampferfahrungen seien auch der Grund, warum der IS das Augenmerk verstärkt nach Russland richte. Geheimdienst geht von 5.000 Kämpfern aus Deshalb ist Russisch nach Englisch auch zur zweit wichtigsten Sprache aufgerückt, in der im Internet für Nachwuchs geworben wird. Die jungen Kräfte des IS stammen jedoch nicht nur aus dem muslimischen Nordkaukasus. Auch Studentinnen aus besten Kreisen sind den Werbern schon verfallen und sorgten im sommerlichen Moskau für Aufregung. Im August wurde daraufhin eine psychologische Hotline eingerichtet. Eltern erhielten den Rat, ihre Sprösslinge aufmerksamer zu beobachten und Verhaltensauffälligkeiten an Hand einer Checkliste zu überprüfen. Verlässliche Zahlen, wie viele russische Bürger aufseiten des IS kämpfen, gibt es nicht. Angaben variieren je nach politischer Großwetterlage, Quelle und Adressat. Der Präsidialamts-Chef Sergej Iwanow spricht von 2.000 Kämpfern, Kollegen vom Geheimdienst gingen unterdessen schon von 5.000 aus. Im August fühlten sich nur 13 Prozent der Bevölkerung vom IS bedroht. Nach der Intervention in Syrien könnte sich das ändern. Der Kaukasus-Experte Alexei Malaschenko vermutet, der IS werde mit Gegenmaßnahmen in Russland nicht lange auf sich warten lassen. Zu befürchten ist, dass die Gefahr für Russland wächst, je erfolgreicher der Kampf gegen die Terrormiliz im Nahen Osten geführt wird.
Klaus-Helge Donath
Moskaus Luftschläge könnten den Terror im Kaukasus wieder anheizen. Dort sind es wirtschaftliche Probleme, die die Jugend radikalisieren.
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Kerry-Trommeln in Deutschland - taz.de
Kerry-Trommeln in Deutschland Rein rechnerisch könnten die in Deutschland lebenden US-Demokraten die Präsidentschaftswahl entscheiden. Die Schwester des Präsidentschaftskandidaten John Kerry soll ihnen dabei in München helfen. Und eine neue Internet-Website AUS MÜNCHEN THILO KUNZEMANN Diane Kerry kann sich nicht entscheiden. Mal ist sie die kleine Schwester des Präsidentschaftskandidaten und sagt stolz: „Mein Bruder hat das drauf.“ Dann erinnert sie sich wieder an ihre Wahlkampfmission und preist die „großartigen Fähigkeiten von Senator John Kerry“. Wobei sie selten John Kerry sagt, sondern seinen Vize gleich mit erwähnt: „JohnKerryandJohnEdwards“. Genau so, ohne Pause. Zwei Männer, eine Aufgabe. „Mit eurer Unterstützung werden JohnKerryandJohnEdwards die Wahl zurückholen, die uns gestohlen wurde“, sagt die 57-jährige grau gelockte Dame, und der Saal johlt. Nur knapp 200 Exilamerikaner hat der berühmte Name ins Münchner Wirtshaus in der Au gelockt. Die Wahl wird das kaum entscheiden. Dass Diane Kerry trotzdem gekommen ist, liegt am amerikanischen Wahlsystem und an Susan Dziedusky-Suinat. Die in München lebende Amerikanerin hat eine Website entwickelt, auf der sich US-Bürger weltweit für die Wahl am 2. November anmelden können. Anders als in Deutschland gibt es in den USA kein zentrales Wahlregister. Wer abstimmen will, muss sich Wochen vorher in seinem Bundesstaat registrieren lassen. Der US-Präsident wird nicht direkt gewählt. Jeder Staat wählt einzeln und schickt je nach Bevölkerungsgröße eine bestimmte Anzahl Wahlmänner nach Washington. Diese Delegierten ernennen später den Präsidenten. Erhält ein Kandidat in einem Bundesstaat die Mehrheit, so werden alle Wahlmänner dieses Staats für ihn votieren. Die Stimmen für die Gegenseite verfallen. „Jede Stimme zählt“, sagte sich Diane Kerry deshalb und gründete vor einem Jahr die Wahlkampforganisation „Americans Overseas for Kerry“. In Deutschland leben 210.000 US-Amerikaner. Sie gelten als weltoffener und liberaler als ihre Mitbürger an der Heimatfront, potenzielle Kerry-Wähler also. Doch bisher wählten nur wenige. Mit Unterstützung von „Americans Overseas for Kerry“ entwickelte Susan Dziedusky-Suinat www.overseasvote2004.com. Seit drei Wochen ist die Internetseite online. Doch in Deutschland haben sich nur knapp 900 Wählern registriert. Diane Kerrys berühmter Name soll das ändern. „Es ist großartig wieder hier zu sein“, sagt Mrs. Kerry. Anfang der 70er-Jahre arbeitete sie für das Olympische Komitee in München. „Es war toll, doch dann kam dieser schreckliche Anschlag auf die Spiele.“ Diane Kerry zog es nach dem Attentat weiter. Bis zur islamischen Revolution im Februar 1979 lebte sie in Iran. Dann verschlug es sie nach Bangkok, später in die indonesische Hauptstadt Jakarta. Die Wahlkampfstrategen der Republikaner hätten sie wohl als unpatriotischen Althippie dargestellt. Bei den Expatriots, wie sich die Auslandsamerikaner nennen, sorgt ihre Weltläufigkeit aber für Anerkennung. „Es ist mir egal, wann ihr das letzte Mal gewählt habt“, sagt sie zum Abschluss ihrer Rede. In der Dominikanischen Republik habe sie mit einem Amerikaner gesprochen, der das letzte Mal für Dwigth D. Eisenhower gestimmt hatte. „Kein Problem, Hauptsache, er wählt diesmal. Denn dies wird die wichtigste amerikanische Wahl unseres Lebens.“ Und nun klingt sie nicht mehr wie eine kleine Schwester und auch nicht wie eine professionelle Wahlkämpferin, sondern wie eine echte Weltbürgerin.
THILO KUNZEMANN
Rein rechnerisch könnten die in Deutschland lebenden US-Demokraten die Präsidentschaftswahl entscheiden. Die Schwester des Präsidentschaftskandidaten John Kerry soll ihnen dabei in München helfen. Und eine neue Internet-Website
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Die Symbolik des Erinnerns - taz.de
Die Symbolik des Erinnerns ■ Mißtrauen und dunkle Vorahnungen am nationalen Trauertag in Ruanda Berlin (taz) – Es ist wohl alles symbolisch, was ein Jahr nach dem Beginn des Völkermordes in Ruanda geschieht. Mit schlichten Holzkreuzen geschmückt sind gestern 6.000 aus Massengräbern geborgene Leichen feierlich auf einem Hügel beigesetzt worden: Gedenken an den Tod von Hunderttausenden und gleichzeitig Symbol für die materielle Armut in dem leergeplünderten Land. Der erste Völkermordprozeß in Kigali wurde zwar eröffnet, aber nach 45 Minuten wegen schlechter Vorbereitung der Verteidigung abgebrochen: Ein erster Schritt zur Vergangenheitsbewältigung und gleichzeitig der schlagendste Beweis dafür, wie schwer Ruanda es mit seiner Geschichte noch hat. Sechs Völkermordangeklagte standen am Donnerstag abend vor dem Gericht von Kigali, fünf beteuerten ihre Unschuld. Einer nicht: „Ich habe 900 Menschen umgebracht und erwarte, daß ich hingerichtet werde“, sagte Musoro Ndura. Wie viele Mörder er wohl kennt, die am Leben bleiben werden? Viele Schuldige laufen frei herum, viele Gefängnisinsassen trifft keine Schuld – selbst François-Xavier Nsanzuwera, Oberstaatsanwalt in Kigali, sagt: Ein Fünftel der wegen Völkermord Inhaftierten ist wohl unschuldig. Aber welches Fünftel? Es gibt fünf Untersuchungsrichter in Kigali und zehn aktive Rechtsanwälte. Und es gibt Tausende Mörder. Wie soll es da Gerechtigkeit geben? „Wenn der Richter ein Tutsi ist, bin ich tot. Wenn er Hutu ist, bin ich okay“, sagte der jüngste der Angeklagten, der 17jährige Ngomayuba, vor seiner Fahrt ins Gericht. Nicht Schuld, sondern ethnische Zugehörigkeit entscheidet – eine vielleicht begründete, aber perfide Überzeugung vieler Ruander, die die Saat für den nächsten Bürgerkrieg legen könnte. Ngomayuba – der seine Unschuld beteuert – hat sogar einen Anwalt: Er wird von der UNO gestellt. Die UNO ist in Ruanda zur Zeit sehr rührig. 5.500 Blauhelmsoldaten und zivile Mitarbeiter hat sie entsandt, zum Beispiel 34 ehrenamtliche Menschenrechtsbeobachter. Da kommen böse Gedanken auf. Ein UN-Anwalt verteidigt Völkermordangeklagte in Kigali – das UN-Völkermordtribunal aber ist immer noch nicht funktionsfähig. Beobachter achten auf die Menschenrechte im heutigen Ruanda, aber die Opfer des Völkermordes genossen vor einem Jahr keine UN-Verteidigung, obwohl damals Blauhelme in Ruanda standen. Sie evakuierten die Weißen und ließen die Schwarzen, die bei ihnen um Schutz nachsuchten, zurück. Nun attackieren Tutsi-Medien in Ruanda die UNO und fordern sie zum Abzug auf, mit kaum verhüllter Regierungsunterstützung. Damals habe die Welt weggeguckt, heute sorge sie sich um die Täter, heißt es. Das stimmt. Und es vergiftet das Klima. Die aufgeladene Gegenwart überschattet die Vergangenheit. Es findet Gedenken statt, aber getrennt. In Ruanda wurden gestern Tote begraben. Der UN-Sicherheitsrat befolgte gestern eine Schweigeminute. Trauerfeiern gab es auch unter den nach Zaire geflohenen Ruandern. Aber die exilierten Soldaten des alten ruandischen Regimes, die sich in den letzten Wochen mit ganzen Flugzeugladungen von Waffen hochgerüstet haben, gedachten nicht des von ihnen mitverübten Völkermordes, sondern ihres geliebten toten Präsidenten Habyarimana. Vielleicht dachten sie auch noch mehr. Nächstes Jahr in Kigali? Dominic Johnson
Dominic Johnson
■ Mißtrauen und dunkle Vorahnungen am nationalen Trauertag in Ruanda
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Provenienzforscherin über Raubkunst: „Haben so einiges aufzuarbeiten“ - taz.de
Provenienzforscherin über Raubkunst: „Haben so einiges aufzuarbeiten“ Ute Haug hat als Provenienz­forscherin in Hamburg mit Raubkunst zu tun. Schwierig wird es, wenn die eine NS- und koloniale Vergangenheit hat. Sie schaut, ob da eventuell auch Blut an den Bildern klebt: Ute Haug in der Hamburger Kunsthalle Foto: Miguel Ferraz Araújo wochentaz: Frau Haug, sind Sie eigentlich aus autobiografischen Gründen zu Ihrem Beruf als Provenienzforscherin gekommen? Ute Haug: Nein, das hat sich eher so ergeben. Schon in der Schule habe ich mich für Geschichte und NS-Geschichte interessiert, allerdings eher unter wirtschaftlichen Aspekten. Außerdem liegt es ein bisschen in der Familie: Bei meiner Generation gibt es wohl in jeder Familie Ungereimtheiten. In einem Familienzweig hat zum Beispiel jemand bei meiner Großmutter ein Zimmer gemietet, der ein Straflager für Kriegsgefangene leitete. Im anderen Teil der Familie gab es jemanden, der Menschen aus genau diesem Lager zur Flucht verhalf. Die ganze Bandbreite war da – und viele Fragezeichen. Denn in dieser Generation gab es wenig Kommunikation und aus meiner Generation wenig Fragen. Und wenn wir Enkel mal gefragt haben, kamen eher vage Äußerungen, in denen allenfalls Atmosphärisches mitschwang. wochentazDieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo. Niemand hatte konkrete Erinnerungen? Doch. Mein Vater hatte noch einige Bilder im Kopf. Die Familie wohnte damals in Memmingen nahe am Bahnhof, und sie haben Waggons gesehen, in denen Juden deportiert wurden. Mein Vater war damals noch ein Kind, aber er hat es so geschildert, dass ich davon ausgehe, dass er es wirklich so gesehen hat. Meine Großmutter wiederum hat bei einer von Jüdinnen geleiteten Drogerie gelernt und erwähnte manchmal im Nebensatz: „Plötzlich waren sie weg.“ Wir Enkel haben nachgefragt, aber mehr war nicht zu erfahren. Solche Lücken haben mein Interesse an der NS-Zeit sicherlich befördert, so erkläre ich mir das im Nachhinein. Gab es in Ihrer Familie der Raubkunst verdächtige Gegenstände? Nein, da bin ich mir ziemlich sicher. Das Haus meiner Großmutter wurde in den frühen 1930er Jahren von meinem Großvater gebaut. Er war Architekt und hat alle Möbel selbst entworfen und fertigen lassen. Darüber hinaus gibt es zwar einige Gemälde, aber man kann genau zuweisen, woher sie stammen. Ich habe es im Nachhinein mal geprüft, um zu wissen, ob in meiner Familie etwas Unrechtmäßiges liegt. Aber das war für mich nicht erkennbar. im Interview:Ute Haug Die Forscherin Ute Haug, 55, geboren in München und aufgewachsen in Erftstadt, studierte Kunstgeschichte, Baugeschichte und Geschichte in Aachen und Florenz. Im Jahr 2005 war sie Deutschlands erste fest angestellte Provenienzforscherin an der Hamburger Kunsthalle. Von 2015 bis 2020 war sie Mitglied im Kuratorium der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. Heute leitet sie die Abteilung Provenienzforschung und Sammlungsgeschichte an der Hamburger Kunsthalle. 2000 war Ute Haug Mitgründerin des Arbeitskreises Provenienzforschung, eines weltweit einzigartigen internationalen Netzwerks, dem über 400 Forschende angehören. 2022 erhielt sie für ihre Arbeit den Bundesverdienstorden. Die Provenienzforschung Dieser kunsthistorische Wissenschaftszweig befasst sich mit der Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern in öffentlichen Museen und Sammlungen. Wichtige Basis war die 1998 verfasste „Washingtoner Erklärung“. 44 Unterzeichnerstaaten, auch Deutschland, verpflichten sich darin, Kunstwerke, die während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmt wurden, in ihren Beständen ausfindig zu machen, deren rechtmäßige Eigentümer zu suchen und faire und gerechte Lösungen zu finden. Denn die den meist jüdischen Opfern zwischen 1933 und 1945 geraubten Kunstwerke waren inzwischen oft im Besitz öffentlicher und privater Sammlungen. Seit einigen Jahren wird zudem über Provenienz und Restitution afrikanischer Kulturgüter aus einstigen europäischen Kolonien debattiert und geforscht. Wie gelang es, dass Sie Deutschlands erste fest angestellte Provenienzforscherin an der Hamburger Kunsthalle wurden? So etwas gelingt, wenn Kulturverantwortliche und Kulturpolitiker das wirklich wollen und am selben Strang ziehen. In diesem Fall waren es der damalige Kunsthallendirektor Uwe M. Schneede und Hamburgs Kultursenatorin Christina Weiß. Was hat Herrn Schneede bewegt, was bewegt Sie? Von Herrn Schneede hat man immer wieder gehört: Er möchte nicht, dass da Werke hängen, die unrechtmäßig gehandelt wurden und – so formulierte er es – Blut an sich haften haben. Das war ihm zuwider, und das wollte er bereinigt wissen. Er hat am Anfang wie viele andere gedacht: Nach einem Jahr ist diese Arbeit erledigt. Aber das war nicht so, und nach fünf Jahren ist meine Stelle entfristet worden. Die Phase dazwischen war nicht immer leicht für mich, weil es eine prekäre Situation ist, wenn man nie weiß, wie es weitergeht. In der Provenienzforschung kein Einzelfall. In der Tat ist das ein bis heute ungelöstes Problem: dass viele dieser Stellen und Arbeiten, die eigentlich einen langen Atem brauchen, derart kurz und befristet sind, dass immer wieder dieses wichtige fundamentale Wissen verloren geht: Wo liegen welche Akten, wer weiß vielleicht noch etwas. Das kann man nicht alles für die Person, die vielleicht die nächste Projektstelle bekommt, dokumentieren. Die Expertise, die sich jemand erarbeitet, ist unbezahlbar, und es ist sehr unökonomisch, diese Leute immer wieder ziehen zu lassen. Ist die Hamburger Kunsthalle immer noch das einzige Museum mit einer unbefristeten Stelle? Nein, das gibt es inzwischen unter anderem auch in München, Berlin, Dresden und Leipzig. Aber bei Weitem noch nicht in allen Häusern, die es nötig hätten. Welche Mentalität braucht man als Pro­ve­nienz­for­sche­rIn: DetektivIn, BuchhalterIn? So pauschal kann man es nicht sagen. Aber man braucht schon einen gewissen Instinkt, ein Gespür für sensible Punkte. Wenn man sich ein Kunstwerk und seine Geschichte anschaut, muss man die richtigen Fragen stellen. Und die sind sehr speziell: Wir ProvenienzforscherInnen stellen zwar auch die klassischen Fragen der Ethnologie oder der Kunstgeschichte, aber auch andere Fragen, weil wir den gesamten historischen Kontext im Blick haben. Da wir aber mit vielen Personen und Institutionen in Kontakt treten, brauchen wir angesichts des immer noch emotional besetzten Themas auch Diplomatie und Einfühlungsvermögen. Es geht auch darum, Ängste zu nehmen, weil die Adressaten sich vielleicht angegriffen fühlen, wenn man sie mit Raubkunst in Verbindung bringt. Und was das Fachliche betrifft, brauchen wir viel Wissen zur NS-Zeit, jüdischer Geschichte, Kolonialgeschichte, zu Wirtschaftsgeschichte und Jura. Außerdem müssten wir DatenverarbeitungsexpertInnen sein – am besten alles in einem. Erzählen Sie mal von einer Recherche, die Sie persönlich gepackt hat. Generell entwickelt man natürlich eine gewisse Routine. Denn man kann diese belastenden Familiengeschichten nicht immer an sich heranlassen. Aber ein Fall hat mich gleich zu Beginn meiner Arbeit an der Hamburger Kunsthalle sehr umfänglich berührt. Es geht um die Sammlung des jüdischen Unternehmers Max Silberberg aus Breslau. Neben seiner Sammlung hat ihm der NS-Staat damals auch seinen Wagen geraubt. Als ich den Fall damals bearbeitete, habe ich mir über diesen Wagen keine Gedanken gemacht. Heute frage ich mich: Was war das für ein Autotyp, gibt es noch Quellen? Inzwischen gibt es ja auch an manchen Technikmuseen ProvenienzforscherInnen und man könnte das recherchieren. Besonders ist auch, dass Silberberg noch 1934 Kunstwerke kaufte, obwohl er hoch verschuldet war. Woher hatte er das Geld? Damals konnten wir das nicht genauer recherchieren, weil ich noch nicht in Breslauer Archive fahren konnte, aber heute ginge das. In anderen Fällen ergab sich eine spannende Lösung. Ja. Da gab es ein niederländisches Renaissancegemälde, das dem Kreis um Tobias Verhaecht zugeschrieben wurde, die „Landschaft mit der Flucht nach Ägypten“, ein religiöses Motiv also. Die Erben des jüdischen Berliner Kunsthistorikers und Sammlers Curt Glaser erhoben Anspruch auf das Bild. Glaser, der 1933 als Leiter der Berliner Kunstbibliothek entlassen wurde, emigrierte erst in die Schweiz und 1941 in die USA, wo er 1943 starb. Das erwähnte Bild wurde – neben vielen anderen – vor seiner Emigration auf einer Auktion versteigert. Aber Glasers andere Werke auf dieser Auktion entstammten einer ganz anderen Epoche – der Klassischen Moderne. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Ich hatte immer das Gefühl, das Verhaecht-Bild gehöre nicht dazu. Gemeinsam mit einer Kollegin habe ich also weitergeforscht und herausgefunden, dass es wirklich nicht Glaser gehörte, sondern Hanns Fischer. Er war Glasers Rechtsbeistand, und als er im NS-Staat als jüdischer Anwalt immer stärkeren Repressalien ausgesetzt war, beschloss auch er zu fliehen, und er gab das Bild mit in die Auktion. Wie reagierten Glasers Erben? Als wir ihren Anwälten unsere Erkenntnisse mitteilten, suchten sie nach den Erben Hanns Fischers beziehungsweise besorgten sich dafür ihr Mandat. Mit ihnen konnte die Kunsthalle dann eine Vereinbarung treffen. Das sind kleine Erfolge, bei denen man sich freut, dass man die Geschichte differenzierter wieder ans Tageslicht bringt und auch – ein großes Anliegen von uns ProvenienzforscherInnen – für viele Familien eine andere Art der Erinnerung schafft. Denn auf der Suche nach rechtmäßigen Erben ermitteln wir Daten, die auch für die Nachfahren, die bis in die heutige Generation ein gewisses Trauma tragen, wichtige Lücken schließen. Mit denen sie ihre Herkunft klären, ihre Identität näher bestimmen können. Die Information ist also das Wichtigste für die Nachfahren? Das kann man so generell nicht sagen. Das ist in jeder Familienkonstellation anders und hängt davon ab, wie die Geschichte verlaufen ist. Wie verstreut sie zum Beispiel waren in der Familie. Dann können die betreffenden Kunstwerke für die Familien ein Anlass, vielleicht auch Ort sein, wieder zusammenzukommen. Wir haben tatsächlich manchmal Familien, die untereinander keinen Kontakt mehr hatten oder nicht voneinander wussten, zusammengebracht. Vermerke auf der Rückseite der Bilder geben erste Hinweise Foto: Miguel Ferraz Araújo Können Sie kurz erklären, wie Sie konkret vorgehen bei Ihrer Arbeit zur Erforschung der Provenienz? Ich sehe das Werk und sammle erst mal, als „Warm-up“, alle Informationen, die ich hier im Haus bekommen kann: in unserer Datenbank, in der Werkakte, sofern vorhanden. Vieles findet sich auch in der Museumsmanagement-Datenbank MuseumPlus. Mit diesen Informationen im Hinterkopf gucke ich mir das Motiv des Bildes an, auch die Rückseite und den Rahmen: Gehört er zum Bild oder ist er neu? Damit beginnt die eigentliche Recherche zur Werkgeschichte: In den hausinternen Archivalien lese ich die Ankaufskorrespondenzen und anderen Schriftverkehr und prüfe zudem das Inventarbuch. Daraus ergeben sich meist weitere Forschungsansätze: Es tauchen Namen von GaleristInnen, anderen BesitzerInnen, AuktionatorInnen, KunsthändlerInnen auf. Dann muss ich schauen: Wo hat die Person gelebt, in welchem Kontext, von wann bis wann, gibt es noch einen Nachlass, wo finde ich den? Dafür frage ich andere Archive an. Das kann – je nachdem wie alt das Werk ist – vom Zeitpunkt des Ankaufs bis ins 14. Jahrhundert zurückgehen. Manchmal gehe ich auch in der Zeitleiste nach vorn – je nachdem welche Lücke ich schließen muss. All das dokumentiere ich, jeden Schritt der Provenienzkette, auch den Status: „geklärt und unbedenklich“ oder „ungeklärt und bedenklich“. Welche Rolle spielte der von Ihnen mitinitiierte Arbeitskreis Provenienzforschung dabei? Er ist ein für uns WissenschaftlerInnen unglaublich wichtiges Netzwerk. Wir unterstützen einander in der Forschungsarbeit und wissen, dass wir unsere Informationen sehr vertrauensvoll weitergeben können. Wir wissen auch, dass wir das alles für eine „gute Sache“ tun – für die gesellschaftlich relevante Aufarbeitung dieser Epoche. Andererseits versuchen wir uns auf unseren Tagungen auch öffentlich Gehör zu verschaffen und feste Stellen einzufordern. Und das betrifft nicht nur die NS-Zeit. Bei der Provenienzforschung zum Kolonialismus wiederholt sich dieses strukturelle Problem: Es entstehen derzeit viele Projektstellen. Dabei braucht man ForscherInnen, die langfristig wichtige Grundlagenarbeit leisten und zum Beispiel die Archive aufarbeiten. Berührt Ihre Recherche auch den Kolonialismus? Da ich auch den Bereich Sammlungsgeschichte betreue, trenne ich das ohnehin nicht. Und wir haben in der Hamburger Kunsthalle im kolonialen Kontext so einiges aufzuarbeiten. Denn unsere GeldgeberInnen haben in der Kolonialzeit gelebt und ihr Geld in Übersee verdient. Bei unserem Mäzen Alfred Beit, einem 1906 verstorbenen deutsch-britisch-südafrikanischen Gold- und Diamantenmagnaten, liegt es zum Beispiel auf der Hand. Bei anderen sieht man es nicht auf den ersten Blick. Deshalb haben wir schon vor einiger Zeit mit der Aufarbeitung der Geschichte auch dieser StifterInnen begonnen. Wie verfahren Sie mit Werken, die eine NS- und dazu eine Kolonialgeschichte haben? So einen Fall hatten wir noch nicht, aber grundsätzlich ist das nicht ausdiskutiert: Wie geht man damit um, wenn man weiß: Eine Familie ist in der NS-Zeit geschädigt worden, aber es gibt auch eine koloniale Kontaminierung. Das ist in den ethnologischen Museen eine noch größere Problematik, weil dort ja tatsächlich Artefakte aus Ursprungsgesellschaften lagern. Das haben wir in der Kunsthalle nicht. Aber wenn ich ein Objekt aus einer geschädigten Ursprungsgesellschaft hätte, das in der NS-Zeit bei einem geschädigten jüdischen Sammler war, wird es schwierig: Man kann ja schlecht ein Geschichtsranking machen nach dem Motto: „Wer ist der Geschädigtere?“ Das ist dann ein ethisches Problem, das über unseren Forschungsbereich hinausgeht. Wir liefern die Fakten. Die Frage: „Gibt es jemanden oder eine Gruppe, die einen größeren Anspruch hat?“, muss dann vielleicht eine Ethikkommission oder eine gesamtgesellschaftliche Debatte klären. Bezweifelt eigentlich noch jemand die Notwendigkeit von Provenienzforschung? Selten. „Schlussstrich“-Äußerungen hört man zwar immer wieder, aber es gibt zum Glück genug andere Menschen, denen bewusst ist, dass Provenienzforschung weit über die faktische Klärung der Geschichte eines Kunstwerks hinausgeht. Wir generieren sehr viel Wissen für die kunsthistorische Forschung, aber auch in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen, Geschichte, Erinnerungsarbeit und so weiter. Wir erhellen Kontexte. Denn die ausschließlich ästhetische Wahrnehmung und Bewunderung eines Objekts reichen nicht. Wenn ich heute in ein Museum gehe und keinen Kontext mitgeliefert bekomme, ist das nicht mehr zeitgemäß. Die BesucherInnen wollen nicht nur wissen, was dargestellt ist und welche Bedeutung es in den verschiedenen Epochen hatte. Sie wollen auch erfahren, woher das Werk kam, wie es herkam, welche Geschichte es hat.
Petra Schellen
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Dokumente zum Mord an JFK: 2.800 Kennedy-Akten veröffentlicht - taz.de
Dokumente zum Mord an JFK: 2.800 Kennedy-Akten veröffentlicht Eine Verjährungsfrist für Dokumente ist abgelaufen, die im Zusammenhang mit dem Mord an Kennedy stehen. Nicht alle wurden veröffentlicht. Wikileaks stinkt das an. Die Kennedys am Tag des Mordanschlags in Dallas Foto: ap WASHINGTON/BERLIN ap/taz | Noch vor wenigen Tagen hatte der amtierende US-Präsident Donald Trump per Twitter erklärt, dass er die bislang unveröffentlichten Dokumente zum Mord von John F. Kennedy freigeben werde. Zum Kriminalfall um den Todestag des früheren demokratischen US-Präsidenten am 22. November 1963 gibt es Fragen, darum kreisen auch viele Verschwörungstheorien: Steckte der Todeschütze Lee Harvey Oswald mit dem kubanischen oder mit dem sowjetischen Geheimdienst unter einer Decke? Oder gar mit einem US-amerikanischen? Gab es mehrere Schützen? Historiker hoffen, offene Fragen aufzuklären und konspirative Theorien zu entkräften. Am Donnerstag lief eine 25-jährige Verjährungsfrist aus, die einen Teil der noch verbliebenen Kennedy-Akten unter Verschluss hielt. Diese sind ab sofort über das Nationalarchiv der USA für jedermann einsehbar. Bisher waren 30.000 Akten teils mit Schwärzungen publik gemacht worden, nun sind 2.800 weitere Akten veröffentlicht. 300 Dokumente werden auf Verlangen der Geheimdienstbehörden weiter zurückgehalten. Die CIA erklärte dazu am Donnerstagabend, keine der noch ausstehenden Akten über den Mord an JFK solle vollständig zurückgehalten werden. Die Schwärzungen seien aber notwendig und beträfen beispielsweise Namen von Informanten oder ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern. Ebenfalls nicht einsehbar seien spezielle Geheimdienstmethoden, hieß es. Die anderen sollten sechs weitere Monate überprüft und danach gegebenenfalls herausgegeben werden, erklärte das Weiße Haus. Trump sagte, er hätte keine andere Wahl gehabt. Wikileaks lobt Prämie aus Die Zurückhaltung der Akten ruft Misstrauen etwa bei der Enthüllungsplattform Wikileaks hervor. Per Twitter ruft sie dazu auf, die potenziell brisanten Akten öffentlich zu machen. Sie bietet dafür eine finanzielle Belohnung von 100.000 US-Dollar, falls die Dokumente Rechtsbrüche und weiteres brisantes Material beinhalten sollten. Wikileaks-Gründer Julian Assange bezeichnet auf Twitter das Zurückhalten gar als „unentschuldbar“. Dass nun die Veröffentlichung der 2.800 Dokumente genehmigt wurde, ist kein besonderer Verdienst des US-Präsidenten, eher die Blockade. Der US-Kongress hatte 1992 beschlossen, dass das Nationalarchiv alle mit der Ermordung Kennedys im Zusammenhang stehenden Information sichern und diese innerhalb von 25 Jahren veröffentlichen muss. Ausnahmen könne nur der Präsident machen, wurde damals verfügt. Um sich einen Überblick über den dennoch verbleibenen Berg an Material zu verschaffen, rufen mehrere Medien wie beispielsweise die New York Times zur Mithilfe ihrer Leser*innen auf.
taz. die tageszeitung
Eine Verjährungsfrist für Dokumente ist abgelaufen, die im Zusammenhang mit dem Mord an Kennedy stehen. Nicht alle wurden veröffentlicht. Wikileaks stinkt das an.
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Der blau-weiße Easy Rider - taz.de
Der blau-weiße Easy Rider ■ Bayerns Max Streibl erhielt auch BMW-Motorräder „zu Testzwecken“/ Versorgung der Ministerien mit Firmenfahrzeugen war „übliche Praxis“ München (taz/dpa) – Bürgerinnen und Bürger von München, Obacht! Braust Euch auf den Straßen der bayerischen Landeshauptstadt ein tollkühner Motorradfahrer etwas rüde über den Weg, seht künftig erst einmal von deftigen Flüchen und obszönen Gesten ab. Es könnte sich um den Landesvater persönlich handeln. Mehrfach, so bestätigte gestern eine Sprecherin des Ministerpräsidenten, habe Max Streibl (CSU) von BMW neue Motorräder „zu Testzwecken“ erhalten. Es sei „übliche Praxis“, daß Hersteller den Ministerien Fahrzeuge zur Verfügung stellten, erläuterte der Ministerrat der bayerischen Staatsregierung gestern vor Beginn einer Kabinettssitzung. Übliche Praxis war es offenbar auch, daß die Würdenträger außerhalb ihrer Dienstzeit mit den PS-starken Schmuckstücken Staat machten. Das Kabinett stellte in seiner Erklärung ausdrücklich fest, daß die Dienstfahrzeuge von Regierungsmitgliedern auch privat genutzt werden könnten. Der geldwerte Vorteil sei nach den gesetzlichen Bestimmungen zu versteuern. Die Süddeutsche Zeitung hatte berichtet, daß Ministerpräsident Max Streibl nach BMW-Angaben über Jahre hinweg zu „einem besonderen Kundenkreis“ gehört habe, für den der entsprechende Service gelte, und äußerte den Verdacht, es gebe einen Zusammenhang zwischen den Leihfahrzeugen und der Entscheidung der CSU gegen ein Tempolimit auf Autobahnen. Erst am Freitag hatte Innenminister Edmund Stoiber eingeräumt, daß er für Urlaubsfahrten kostenlos Autos von großen Herstellern bekommen hatte. Der Ministerrat wies ein Ultimatum der SPD zurück, die der Staatsregierung und den CSU-Abgeordneten eine Frist bis heute gesetzt hatte, um alle Urlaubsreisen auf Kosten Dritter ans Licht zu bringen. Finanzminister Georg von Waldenfels sagte, er werde nicht von sich aus wegen angeblicher Abgeordneten-Reisen auf Kosten eines Münchner Reiseunternehmens tätig werden: „Ich sehe nicht ein, daß ich aufgrund von anonymen Hinweisen die ganze Wucht des Staates auf Politiker oder Journalisten losschicken soll.“ In einem Punkt konnte der Ministerrat die Bevölkerung immerhin beruhigen: „Lediglich der guten Ordnung halber“ werde darauf hingewiesen, daß „kein Mitglied der Staatsregierung Flugzeuge von MBB zu privaten Zwecken genutzt hat“. In der Luft sind die bayerischen Landeskinder also vor ihrem höchsten Testpiloten Streibl noch sicher.
taz. die tageszeitung
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Hochhaus verdrängt Kugelkino - taz.de
Hochhaus verdrängt Kugelkino Neues Hochhausprojekt in der City-West: An der Budapester Straße gegenüber dem Europacenter soll Panoramakino einem Hotelturm weichen. Erweiterung des „Zoo-Palasts“ geplant  ■ Von Oliver G. Hamm In der City-West am Tauentzien und Breitscheidplatz geht die Verdichtung unvermindert weiter. Auf dem Dreieck zwischen Kant-, Joachimsthaler- und Hardenbergstraße wurde schon im vergangenen Jahr mit der Bauvorbereitung für das „Zoofenster“ begonnen, obwohl das weitere Schicksal von Teppich Kibek noch immer nicht geklärt ist; inzwischen ist die planerische Verantwortung von der Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen wieder an den Bezirk Charlottenburg zurückgegangen. In der Schwebe ist auch die umstrittene Bebauung auf dem Victoria-Areal. Zwar hat das Abgeordnetenhaus im September 1995 einen Bebauungsplan beschlossen, doch möglicherweise wird dieser schon bald korrigiert werden müssen. Denn die Bürgervertreter hatten dem Plan trotz großer Bedenken bezüglich der Baumasse nur deshalb zugestimmt, weil die Victoria-Versicherung in Aussicht gestellt haben soll, dort ihre Zentrale für die neuen Bundesländer einzurichten. Inzwischen hat die Versicherung bekanntlich das Areal an die Deutsche Immobilien Fonds AG verkauft, die ihrerseits an der bisherigen Planung festhalten will. Nun versucht die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, den Bau über eine Änderung des Bebauungsplans nachträglich zu stutzen und einen Wohnanteil von 30 Prozent festzuschreiben. Am 28. Februar wird darüber im Abgeordnetenhaus entschieden. Ähnlich dem Victoria-Areal bieten noch weitere Bauensembles, vor allem aus den fünfziger und sechziger Jahren Potentiale für umfassende Nachverdichtungen in der City-West. Zum Beispiel das „Zentrum am Zoo“, der Büro- und Geschäftshauskomplex von Paul Schebes und Hans Schoszberger aus den Jahren 1955-57. Das Ensemble aus zwei unterschiedlich hohen Scheibenhäusern, dem sogenannten „Bikini-Haus“, einem Parkhaus und dem größten Kino Berlins („Zoo-Palast“) war seinerzeit der erste Versuch, das Leitbild der aufgelockerten, begrünten Stadt – wie es zur Interbau 1957 nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt im Hansaviertel seinen baulichen Ausdruck fand – auch im kriegsbeschädigten Zentrum West-Berlins umzusetzen. Unbestritten ist, daß das denkmalwürdige Ensemble und sein Umfeld stadträumliche Defizite aufweisen. Seit 1977 haben die Internationalen Filmfestspiele Berlin (IFB) ihren Sitz im Bikini-Haus. Im Jahr 1978 ließ die Messegesellschaft Berlin im damaligen Luftgeschoß (2. Obergeschoß) – welchem das Haus seinen Namen verdankt – eine Studio-Etage einrichten, um dort erstmals auch eine Filmmesse veranstalten zu können. Seitdem waren die Büros der IFB, der Filmmarkt mit Vorführstudios, das Filmlager, Presseeinrichtungen und Besucherservice unter einem Dach – nahe den rund 15 Festivalkinos und den wichtigsten Hotels. Vor sechs Jahren mußte das gesamte Presse- und Medienzentrum aus Platzgründen ins Haus der Kulturen der Welt verlegt werden. Nun sucht die IFB nach einer Möglichkeit, die Medienvertreter wieder in unmittelbarer Nähe des Festival-Stammsitzes im Zentrum am Zoo (ZaZ) unterzubringen. Bereits 1992/93 hatte Sony der IFB einen Umzug an den Potsdamer Platz angeboten: Dort werden mehrere Großkinos, Hotels und Büros entstehen. Die Zentrum am Zoo AG als Eignerin des ZaZ war also im Zugzwang und beauftragte die Berliner Architekten Hans Kollhoff und Helga Timmermann, ein Erweiterungskonzept auszuarbeiten. Die IFB hat ihren Flächenbedarf für einen Zeitraum von rund sechs Wochen im Jahr mit 12.000 Quadratmetern und den Bedarf ganzjährig benötigter Büroflächen – für die Berliner Festspiele GmbH und das Filmlager – mit weiteren 4.000 Quadratmetern beziffert. Bislang verfügt sie, einschließlich der Räume der 1994 geschlossenen Staatlichen Kunsthalle, aber ohne das Pressezentrum, nur über 9.450 Quadratmeter. Die Zentrum am Zoo AG will den Filmfestspielen zusätzlich rund 9.000 qm für Konferenzeinrichtungen und rund 2.500 qm für neue Kinosäle anbieten. Da die von der IFB bloß sechs Wochen jährlich beanspruchten Konferenzeinrichtungen nur ganzjährig wirtschaftlich zu betreiben wären, ist eine Verbindung mit einem Kongreßhotel mit mindestens 300 Zimmern geplant. Eine erste Variante der Architekten für einen kompakten Neubau am östlichen Ende des Baukomplexes, an der Grenze zum Zoologischen Garten, hätte den Abriß des kleineren Hochhauses zur Folge gehabt. In der gemeinsamen Sitzung des Charlottenburger Bau- und Stadtplanungsausschusses am 31. Januar stellten Kollhoff und Timmermann erstmals ihre aktuelle Planung vor: Sie schlagen als Ergänzung des ZaZ-Ensembles eine Erweiterung des Bikini-Hauses im Bereich des rückwärtigen Tiefhofs vor, dort sollen Räume für den Filmmarkt entstehen. Die Läden an der Vorderfront sollen bis zur Budapester Straße vorgezogen werden – zu diesem Zweck würden die Arkaden verglast. Als neuer westlicher Kopfbau des Bikini- Hauses ist – schräg gegenüber dem Zoo-Palast – ein weiteres Kino mit vier Sälen geplant. Das Kongreßhotel soll als schlankes Hochhaus auf einem breiten Fuß den östlichen Abschluß des ZaZ am Haupteingang des Zoologischen Gartens bilden. Ihm müßten das Kugelkino und das Parkhaus weichen. „Die Turmlösung findet die Zustimmung der Denkmalpflege, da sie das Solitär- Konzept des Fünfziger-Jahre- Städtebaus aufgreift und das Ensemble durch einen schlanken Baukörper erweitert“, sagen die Architekten. Der Zoologische Garten steht der Planung ablehnend gegenüber, weil er u.a. eine zu starke Verschattung des Zoos und einen „Domino-Effekt“ in Form möglicher weiterer Hochhäuser entlang der Budapester Straße befürchtet. Auch die Charlottenburger Baustadträtin Beate Profé (Bündnis 90/Die Grünen) ist skeptisch: „In der BVV wird das Hochhaus in dieser Form nicht gewünscht.“ Sie lehnt außerdem die Verglasung der Arkaden des Bikini-Hauses ab. Kollhoff und Timmermann argumentieren vor allem stadträumlich: „Die während des Wiederaufbaus gekappte Fortsetzung des Kurfürstendamms in die Budapester Straße bedingt die einseitige Abzweigung in die Tauentzienstraße und behindert eine nach dem Fall der Mauer naheliegende Ausrichtung auf die (östliche) Berliner Stadtmitte.“ Daher schlagen sie die Schließung des Straßentunnels und die Wiederherstellung der Gabelung des Ku'damm in Tauentzien- und Budapester Straße vor. Erst dadurch würde das Bikini- Haus als breit lagernder Mittelteil des Zentrums am Zoo zur räumlich erlebbaren Kante des Breitscheidplatzes.
Oliver G. Hamm
Neues Hochhausprojekt in der City-West: An der Budapester Straße gegenüber dem Europacenter soll Panoramakino einem Hotelturm weichen. Erweiterung des „Zoo-Palasts“ geplant  ■ Von Oliver G. Hamm
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Gemeinsame Ost-West-Ermittlungen? - taz.de
Gemeinsame Ost-West-Ermittlungen? ■ Werden die Begrüßungsgeldbetrüger in der DDR verpetzt?/Senat und Westberliner Polizei ist davon "nichts bekannt"/Aufwand der Erfassung hätte in keinem Verhältnis zum Erfolg gestanden
rei
■ Werden die Begrüßungsgeldbetrüger in der DDR verpetzt?/Senat und Westberliner Polizei ist davon "nichts bekannt"/Aufwand der Erfassung hätte in keinem Verhältnis zum Erfolg gestanden
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