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bag_1-17 | 18.01.2017 | 18.01.2017
1/17 - Betriebsratstätigkeit - Arbeitszeit
Ein Betriebsratsmitglied, das zwischen zwei Nachtschichten außerhalb seiner Arbeitszeit tagsüber an einer Betriebsratssitzung teilzunehmen hat, ist berechtigt, die Arbeit in der vorherigen Nachtschicht vor dem Ende der Schicht einzustellen, wenn nur dadurch eine ununterbrochene Erholungszeit von elf Stunden am Tag gewährleistet ist, in der weder Arbeitsleistung noch Betriebsratstätigkeit zu erbringen ist. Nach § 5 Abs. 1 ArbZG ist dem Arbeitnehmer nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von elf Stunden zu gewähren. Es kann dahinstehen, ob die Zeit der Erbringung von Betriebsratstätigkeit Arbeitszeit iSv. § 2 Abs. 1 ArbZG ist und § Abs. 1 ArbZG deshalb Anwendung findet. Jedenfalls ist bei der Beurteilung, ob dem Betriebsratsmitglied in einer solchen Situation die Fortsetzung der Arbeit in der Nachtschicht wegen der bevorstehenden Betriebsratstätigkeit unzumutbar ist, die Wertung des § 5 Abs. 1 ArbZG zu berücksichtigen.
Der Kläger ist Mitglied des im Betrieb der Beklagten gebildeten Betriebsrats und arbeitet im Dreischichtbetrieb. Er war in der Nacht vom 16. Juli auf den 17. Juli 2013 für die Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr bei einer Pause von 2:30 Uhr bis 3:00 Uhr eingeteilt. Am 17. Juli 2013 nahm der Kläger von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr an einer Betriebsratssitzung teil. Mit Rücksicht auf diese Betriebsratssitzung stellte er in der vorherigen Nachtschicht seine Arbeit um 2:30 Uhr ein. Ihm wurde für diese Nachtschicht von der Beklagten nur der Zeitraum bis 3:00 Uhr und von 5:00 Uhr bis 6:00 Uhr auf seinem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger ua. die Gutschrift der beiden weiteren Stunden von 3:00 Uhr bis 5:00 Uhr verlangt. Die Klage hatte vor dem Siebten Senat des Bundesarbeitsgerichts – ebenso wie zuvor beim Landesarbeitsgericht – Erfolg.
Nach § 37 Abs. 2 BetrVG sind Mitglieder des Betriebsrats auch dann von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung ihres Arbeitsentgelts zu befreien, wenn eine außerhalb der Arbeitszeit liegende erforderliche Betriebsratstätigkeit die Arbeitsleistung unmöglich oder unzumutbar gemacht hat. Vorliegend war dem Kläger die Erbringung der Arbeitsleistung am 17. Juli 2013 jedenfalls ab 3:00 Uhr wegen der um 13:00 Uhr beginnenden Betriebsratssitzung unzumutbar, weil ihm bei Fortsetzung seiner Arbeit zwischen den Arbeitsschichten keine durchgehende Erholungszeit von elf Stunden zur Verfügung gestanden hätte.
Über eine weitere Klageforderung konnte der Senat nicht abschließend entscheiden. Insoweit wurde die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Januar 2017 – 7 AZR 224/15 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 20. Februar 2015 – 13 Sa 1386/14 – | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20. Februar 2015 – 13 Sa 1386/14 – unter Zurückweisung der Revision im übrigen – im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es unter teilweiser Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Hagen vom 14. August 2014 – 4 Ca 2022/13 – die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger auf dem individuellen Arbeitszeitkonto 2,5 Stunden für die Zeit der Erbringung von Betriebsratstätigkeit am 17. Juli 2013 von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr gutzuschreiben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Nimmt ein Betriebsratsmitglied an einer außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit stattfindenden Betriebsratssitzung teil und ist es ihm deswegen unmöglich oder unzumutbar, seine vor oder nach der Betriebsratssitzung liegende Arbeitszeit einzuhalten, so hat es insoweit gemäß § 37 Abs. 2 BetrVG einen Anspruch auf bezahlte Arbeitsbefreiung. Bei der Beurteilung, ob und wann einem Betriebsratsmitglied die Fortsetzung der Arbeit wegen einer außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit bevorstehenden Betriebsratssitzung unzumutbar ist, ist die in § 5 Abs. 1 ArbZG zum Ausdruck kommende Wertung zu berücksichtigen. Deshalb ist ein Betriebsratsmitglied, das zwischen zwei Nachtschichten an einer Betriebsratssitzung teilzunehmen hat, berechtigt, die Arbeit in der vorherigen Nachtschicht vor dem Ende der Schicht zu einem Zeitpunkt einzustellen, der eine ununterbrochene Erholungszeit von elf Stunden am Tag ermöglicht, in der weder Arbeitsleistung noch Betriebsratstätigkeit zu erbringen ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Gutschrift von Stunden auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers.
2
Der Kläger ist nicht freigestelltes Mitglied des im Betrieb der Beklagten gebildeten Betriebsrats. Er arbeitet als Anlagenbediener im Rahmen einer 35-Stunden-Woche im Dreischichtbetrieb. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Einheitliche Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen vom 18. Dezember 2003 (EMTV) Anwendung. Dieser bestimmt auszugsweise:
„§ 19
Geltendmachung und Ausschluss von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis / Ausbildungsverhältnis
…
2.
Beschäftigte/Auszubildende haben das Recht, Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis/Ausbildungsverhältnis innerhalb folgender Fristen geltend zu machen:
a)
Ansprüche auf Zuschläge für Mehr-, Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Abrechnung,
b)
alle übrigen Ansprüche innerhalb von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit.
…
4.
Ansprüche, die nicht innerhalb dieser Fristen geltend gemacht werden, sind ausgeschlossen, es sei denn, dass Anspruchsberechtigte trotz Anwendung aller nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert waren, diese Fristen einzuhalten.
…“
3
Die Beklagte führt für den Kläger auf der Grundlage einer „Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung“ (BV Arbeitszeitflexibilisierung) vom 4. Mai 2004 in der Fassung der „Ergänzung zur Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung“ vom 9. Juni 2011 ein Arbeitszeitkonto. In dieses fließt nach Nr. 2 der „Ergänzung zur Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung“ vom 9. Juni 2011 auch die Arbeitszeit, die über die in der Zeitwirtschaft hinterlegte Sollarbeitszeit hinausgeht.
4
Am 16./17. Juli 2013 war der Kläger für die Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr eingeteilt. Normalerweise hätte er bei Abzug von 0,5 Stunden für eine Pause in dieser Schicht insgesamt 7,5 Stunden gearbeitet. Mit Rücksicht auf eine am 17. Juli 2013 ab 13:00 Uhr anstehende Betriebsratssitzung stellte der Kläger um 2:30 Uhr seine Arbeit ein. Er nahm am 17. Juli 2013 in der Zeit von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr an der Betriebsratssitzung teil. Die Beklagte schrieb dem Kläger für die Nachtschicht vom 16. auf den 17. Juli 2013 insgesamt 5,5 Stunden für den Zeitraum von 22:00 Uhr bis 3:00 Uhr (unter Abzug der Pausenzeit von 0,5 Stunden) und für die Zeit von 5:00 Uhr bis 6:00 Uhr auf dem Arbeitszeitkonto gut. Für die Teilnahme an der Betriebsratssitzung zahlte die Beklagte dem Kläger eine pauschale Vergütung in Höhe von 60,00 Euro brutto. In der anschließenden Nachtschicht vom 17. auf den 18. Juli 2013 arbeitete der Kläger wie üblich.
5
Mit seiner am 30. September 2013 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 4. Oktober 2013 zugestellten Klage hat der Kläger zunächst Vergütung für weitere 3,5 Stunden der Nachtschicht vom 16./17. Juli 2013 und für 3,75 Stunden Betriebsratstätigkeit vor und während der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 in Höhe von insgesamt 144,73 Euro brutto nebst Zinsen verlangt. In der Kammerverhandlung vor dem Arbeitsgericht hat der Kläger die Klage in Höhe von 60,00 Euro im Hinblick auf die Zahlung der pauschalen Vergütung für die Betriebsratssitzung zurückgenommen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht hat der Kläger seinen Klageantrag umgestellt. Seither hat er die Gutschrift von insgesamt 5,75 Stunden auf dem Arbeitszeitkonto für zwei Stunden der Nachtschicht und für 3,75 Stunden Betriebsratstätigkeit am 17. Juli 2013 verlangt.
6
Der Kläger hat geltend gemacht, er sei nach § 37 Abs. 2 BetrVG berechtigt gewesen, seine Arbeit während der Nachtschicht vom 16. auf den 17. Juli 2013 ohne Minderung des Arbeitsentgelts vorzeitig zu beenden, um am 17. Juli 2013 ausgeruht seinen Betriebsratsaufgaben nachkommen zu können. Die Arbeitsbefreiung in der Nachtschicht ab 2:30 Uhr sei notwendig gewesen, um die Gesamtbelastung durch Arbeits- und Amtstätigkeit in Grenzen zu halten. Die Zeit der Betriebsratstätigkeit stelle Arbeitszeit iSd. Arbeitszeitgesetzes dar, weshalb er nach § 5 Abs. 1 ArbZG berechtigt gewesen sei, vor der Aufnahme der Betriebsratstätigkeit am 17. Juli 2013 eine elfstündige Ruhezeit einzuhalten. Für die Zeit der Wahrnehmung von Betriebsratstätigkeiten außerhalb der Arbeitszeit am 17. Juli 2013 folge sein Anspruch aus § 37 Abs. 3 BetrVG. Er habe bereits vor Beginn der Betriebsratssitzung ab 11:45 Uhr Betriebsratsaufgaben wahrgenommen.
7
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihm auf dem individuellen Arbeitszeitkonto 5,75 Stunden gutzuschreiben.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
9
Sie hat den Standpunkt eingenommen, der Kläger sei im Hinblick auf die anstehende Betriebsratssitzung lediglich berechtigt gewesen, seine Arbeit in der Nachtschicht vom 16./17. Juli 2013 um 5:00 Uhr, also eine Stunde vor Schichtende, einzustellen. Zwar sei im Fall der Wahrnehmung von erforderlichen Betriebsratstätigkeiten außerhalb der Arbeitszeit eine gewisse Erholungsdauer zu berücksichtigen, die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden nach § 5 ArbZG sei indes nicht einzuhalten. Betriebsratstätigkeit stelle keine Arbeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne dar. Eine Erholungspause von acht Stunden sei angemessen gewesen. Die Ansprüche des Klägers seien im Hinblick auf die begehrte Gutschrift für die außerhalb der Arbeitszeit erbrachte Betriebsratstätigkeit erfüllt. Neben der Zahlung von 60,00 Euro brutto sei zu berücksichtigen, dass der Kläger sich die Zeit der Freistellung in der vorherigen Nachtschicht anrechnen lassen müsse. Vor der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 habe der Kläger keine erforderlichen Betriebsratsaufgaben wahrgenommen.
10
Das Arbeitsgericht hat die Zahlungsklage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des Klägers teilweise stattgegeben und die Beklagte verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers 4,5 Stunden gutzuschreiben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der klageabweisenden Entscheidung des Arbeitsgerichts. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
11
Die Revision der Beklagten ist unbegründet, soweit das Landesarbeitsgericht die Beklagte verurteilt hat, dem Arbeitszeitkonto des Klägers für die Zeit der vorzeitigen Beendigung der Nachtschicht vom 16. auf den 17. Juli 2013 zwischen 3:00 Uhr und 5:00 Uhr zwei Stunden gutzuschreiben. Soweit das Landesarbeitsgericht der Klage auch im Hinblick auf die begehrte Gutschrift von 2,5 Stunden für die Teilnahme des Klägers an der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 stattgegeben hat, ist die Revision der Beklagten begründet. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft nicht geprüft, ob dieser Anspruch nach § 19 EMTV verfallen ist. Der Senat kann dies auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurteilen. Das führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht in diesem Umfang.
12
I. Die Klage ist zulässig.
13
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist noch der auf Gutschrift von 4,5 Stunden auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers gerichtete Antrag. Im Hinblick auf die begehrte Gutschrift von weiteren 1,25 Stunden für die Zeit der vom Kläger behaupteten Betriebsratstätigkeit vor der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 ist die Klage vom Landesarbeitsgericht rechtskräftig abgewiesen worden.
14
2. Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass der Kläger die Gutschrift von 2,5 Stunden für die Zeit der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 erst – nachdem er seine Zahlungsklage insoweit erstinstanzlich zurückgenommen hatte – in der Berufungsinstanz verlangt hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Voraussetzungen einer Klageänderung in der Berufungsinstanz nach § 533 ZPO bejaht und über den Antrag sachlich entschieden. Dies ist in der Revisionsinstanz nicht mehr zu überprüfen (vgl. BAG 19. Mai 2016 – 3 AZR 766/14 – Rn. 16; 25. Juni 2014 – 7 AZR 847/12 – Rn. 20, BAGE 148, 299).
15
3. Der Klageantrag ist streitgegenständlich hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
16
a) Der Antrag, einem Arbeitszeitkonto Stunden „gutzuschreiben“, ist hinreichend bestimmt, wenn der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer ein Zeitkonto führt, auf dem zu erfassende Arbeitszeiten nicht aufgenommen wurden und noch gutgeschrieben werden können, und das Leistungsbegehren konkretisiert, an welcher Stelle des Arbeitszeitkontos die Gutschrift erfolgen soll (BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 617/15 – Rn. 14 mwN, BAGE 155, 310; 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 17 mwN). Weist das Arbeitszeitkonto geleistete Mehr- oder Überarbeit aus oder – allgemeiner ausgedrückt – solche Zeiten, die durch Freistellung von der Arbeitspflicht bei Fortzahlung der Vergütung auszugleichen sind, ist der Streitgegenstand iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinreichend bestimmt, wenn sich der Antrag auf eine „Gutschrift“ von solchen Zeiten in einem genau angegebenen Umfang bezieht (vgl. BAG 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 17 mwN).
17
b) Danach ist der Antrag zulässig. Dem Wortlaut nach richtet sich das Begehren darauf, dem Kläger die bezeichneten 4,5 Stunden auf dem „individuellen Arbeitszeitkonto gutzuschreiben“. Die Beklagte führt für den Kläger auf der Grundlage der BV Arbeitszeitflexibilisierung ein Zeitkonto, auf dem die begehrte Gutschrift noch erfolgen kann. Die Beklagte hat nicht behauptet, dass die Angaben in diesem Arbeitszeitkonto nicht mehr korrigiert werden könnten. An welcher Stelle des Arbeitszeitkontos die Gutschrift erfolgen soll, kommt zwar im Wortlaut des Antrags nicht zum Ausdruck. Insoweit lässt der Antrag aber bei gebotener, auf die Ermöglichung einer Sachentscheidung gerichteten Auslegung (vgl. BAG 23. März 2016 – 5 AZR 758/13 – Rn. 22, BAGE 154, 337; 11. November 2009 – 7 AZR 387/08 – Rn. 11) den Inhalt der vom Kläger begehrten Entscheidung erkennen. Der Kläger macht geltend, dass zwei Stunden der Nachtschicht vom 16./17. Juli 2013 in der Zeit von 3:00 Uhr bis 5:00 Uhr als Arbeitszeit in das Arbeitszeitkonto einzustellen seien. Daneben verlangt der Kläger eine Gutschrift von 2,5 Stunden für die Teilnahme an der Betriebsratssitzung außerhalb seiner Arbeitszeit am 17. Juli 2013 in der Zeit von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr. Damit ist das Verlangen der begehrten Gutschrift für die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft hinreichend bestimmt.
18
II. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Klage begründet ist, soweit der Kläger mit ihr die Gutschrift von zwei Stunden für die Zeit von 3:00 Uhr bis 5:00 Uhr in der Nachtschicht vom 16./17. Juli 2013 verlangt.
19
1. Der Anspruch folgt aus § 611 BGB iVm. § 37 Abs. 2 BetrVG.
20
a) Ein Arbeitszeitkonto hält fest, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer seine Hauptleistungspflicht nach § 611 Abs. 1 BGB erbracht hat oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands (zB § 615 Satz 1 und Satz 3, § 616 Satz 1 BGB, § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 EntgeltFG, § 37 Abs. 2 BetrVG) nicht erbringen musste und deshalb Vergütung beanspruchen kann bzw. in welchem Umfang er noch Arbeitsleistung für die vereinbarte und gezahlte Vergütung erbringen muss (vgl. BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 617/15 – Rn. 17, BAGE 155, 310; 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 20, BAGE 152, 315). Die nachträgliche Gutschrift auf einem Arbeitszeitkonto setzt voraus, dass der Arbeitnehmer Arbeitsstunden erbrachte oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands nicht erbringen musste und diese bisher nicht vergütet und nicht in das Arbeitszeitkonto eingestellt wurden (BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 617/15 – Rn. 17, aaO; 26. Juni 2013 – 5 AZR 428/12 – Rn. 22).
21
b) Danach hat die Beklagte die Zeit der Nachtschicht am 16./17. Juli 2013 von 3:00 Uhr bis 5:00 Uhr dem Arbeitszeitkonto des Klägers als Arbeitszeit gutzuschreiben. Zwar hat der Kläger in dieser Zeit keine Arbeitsleistung erbracht. Hierzu war der Kläger jedoch nach § 37 Abs. 2 BetrVG aufgrund der am 17. Juli 2013 ab 13:00 Uhr bevorstehenden Betriebsratssitzung nicht verpflichtet. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.
22
aa) Nach § 37 Abs. 2 BetrVG sind nicht freigestellte Mitglieder des Betriebsrats von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung ihres Arbeitsentgelts zu befreien, wenn und soweit es nach Umfang und Art des Betriebs zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Diese Vorschrift betrifft nicht nur Fälle, in denen eine während der Arbeitszeit verrichtete Betriebsratstätigkeit unmittelbar den Ausfall der Arbeitsleistung zur Folge hat. § 37 Abs. 2 BetrVG soll vielmehr grundsätzlich verhindern, dass das Betriebsratsmitglied infolge einer erforderlichen Betriebsratstätigkeit eine Entgelteinbuße erleidet. Auch durch eine außerhalb der Arbeitszeit liegende Betriebsratstätigkeit darf daher eine Minderung des Arbeitsentgelts des Betriebsratsmitglieds nicht eintreten, soweit die Betriebsratstätigkeit die Arbeitsleistung unmöglich oder unzumutbar gemacht hat (BAG 7. Juni 1989 – 7 AZR 500/88 – zu 2 der Gründe, BAGE 62, 83). Nimmt ein Betriebsratsmitglied an einer außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit stattfindenden Betriebsratssitzung teil und ist es ihm deswegen unmöglich oder unzumutbar, seine vor oder nach der Betriebsratssitzung liegende Arbeitszeit einzuhalten, so hat es insoweit gemäß § 37 Abs. 2 BetrVG einen Anspruch auf bezahlte Arbeitsbefreiung (BAG 7. Juni 1989 – 7 AZR 500/88 – zu 3 der Gründe, aaO).
23
bb) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dem Kläger sei die Erbringung von Arbeitsleistung in der Nachtschicht am 16./17. Juli 2013 nach 3:00 Uhr aufgrund der am 17. Juli 2013 außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit ab 13:00 Uhr stattfindenden Betriebsratssitzung unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des § 5 Abs. 1 ArbZG unzumutbar gewesen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
24
(1) Nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit steht dem Arbeitnehmer nach § 5 Abs. 1 ArbZG regelmäßig eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden zu. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 ArbZG ist Arbeitszeit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes dienen der Umsetzung der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vom 4. November 2003 (RL 2003/88/EG). Nach Art. 2 Nr. 2 RL 2003/88/EG ist Ruhezeit jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit.
25
(2) Wäre die Zeit, in der der Kläger am 17. Juli 2013 ab 13:00 Uhr an der Betriebsratssitzung teilzunehmen hatte, als Arbeitszeit iSv. § 2 Abs. 1 ArbZG zu betrachten, hätte sie die gesetzlich vorgeschriebene elfstündige Ruhezeit unterbrochen. Dies hätte zur Folge, dass die Einhaltung der Ruhezeit nach § 5 Abs. 1 ArbZG nur im Falle eines vorzeitigen Verlassens des Arbeitsplatzes während der Nachtschicht gewährleistet und dem Kläger die Fortsetzung der Arbeit jedenfalls ab 3:00 Uhr bis zum Schichtende bereits deshalb unzumutbar gewesen wäre. Ob die Zeit der Erbringung von Betriebsratstätigkeit Arbeitszeit iSv. § 2 Abs. 1 ArbZG ist, ist im Schrifttum umstritten (bejahend Buschmann/Ulber ArbZG 8. Aufl. § 2 Rn. 39; Schulze ArbRAktuell 2012, 475, 476 und AiB 2012, 657 ff.; wohl auch DKKW/Wedde 15. Aufl. § 37 Rn. 42, 43; ablehnend zur Arbeitszeitordnung wohl BAG 7. Juni 1989 – 7 AZR 500/88 – zu 3 der Gründe, BAGE 62, 83; Bengelsdorf AuA 2001, 71, 72; BeckOK ArbR/Kock Stand Dezember 2016 ArbZG § 2 Rn. 21; Tillmanns ArbRAktuell 2012, 475, 478; Thüsing in Richardi BetrVG 15. Aufl. § 37 Rn. 13; Schaub/Vogelsang ArbR-HdB 16. Aufl. § 156 Rn. 14; Weber GK-BetrVG 10. Aufl. § 37 Rn. 13; NK-GA/Wichert § 2 ArbZG Rn. 28; Wiebauer NZA 2013, 540, 542).
26
(3) Die Streitfrage bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Auch dann, wenn die Zeit der Erbringung von Betriebsratstätigkeit arbeitszeitrechtlich nicht als Arbeitszeit anzusehen sein sollte, ist bei der Beurteilung, ob und wann einem Betriebsratsmitglied die Fortsetzung der Arbeit wegen einer außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit bevorstehenden Betriebsratssitzung unzumutbar ist, jedenfalls die in § 5 Abs. 1 ArbZG zum Ausdruck kommende Wertung zu berücksichtigen. Deshalb ist ein Betriebsratsmitglied, das zwischen zwei Nachtschichten an einer Betriebsratssitzung teilzunehmen hat, berechtigt, die Arbeit in der vorherigen Nachtschicht vor dem Ende der Schicht zu einem Zeitpunkt einzustellen, der eine ununterbrochene Erholungszeit von elf Stunden am Tag ermöglicht, in der weder Arbeitsleistung noch Betriebsratstätigkeit zu erbringen ist.
27
(a) Das Arbeitszeitrecht bezweckt ua. die Gewährleistung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung (vgl. § 1 Nr. 1 ArbZG). Es bestimmt deshalb ua. in § 5 ArbZG die Mindestruhezeit zwischen zwei Arbeitseinsätzen, die für den Gesundheitsschutz von besonderer Bedeutung ist (vgl. BT-Drs. 12/5888 S. 24). Die im Arbeitszeitgesetz geregelten Schranken beruhen auf arbeitsmedizinischem Erfahrungswissen über die einem Arbeitnehmer zumutbare Belastung. Es geht um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Zeiten, in denen der Arbeitnehmer arbeitet und den Zeiten, in denen er ruht (vgl. BAG 11. Juli 2006 – 9 AZR 519/05 – Rn. 39, BAGE 119, 41). Dem Arbeitnehmer soll ohne Unterbrechung durch Arbeit genügend Zeit zur Erholung, Entspannung und Schlaf zur Verfügung stehen.
28
(b) Die durch § 5 Abs. 1 ArbZG gewährleistete Erholungszeit ist durch Betriebsratstätigkeit – unabhängig davon, ob diese Arbeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne darstellt – in vergleichbarer Weise beeinträchtigt wie durch die Erbringung von Arbeitsleistung. Denn Betriebsratstätigkeit steht regelmäßig hinsichtlich der Anforderungen an Aufmerksamkeit und geistige Leistungsfähigkeit denjenigen bei der Erbringung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit nicht nach (vgl. BAG 7. Juni 1989 – 7 AZR 500/88 – zu 3 der Gründe, BAGE 62, 83).
29
Zwar üben Betriebsratsmitglieder ihre Tätigkeit nach § 37 Abs. 1 BetrVG als Ehrenamt aus. Im Gegensatz zu außerhalb des Arbeitsverhältnisses erbrachtem ehrenamtlichen Engagement, das – gleich wie belastend es ist – nicht den Vorgaben des Arbeitszeitrechts unterliegt (vgl. Hunold NZA 1995, 558; Wiebauer NZA 2013, 540, 541), weist die Mandatsausübung einen unmittelbaren Bezug zum Arbeitsverhältnis auf. Die Mitgliedschaft im Betriebsrat setzt das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraus (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1, § 24 Nr. 3 BetrVG). Die Betriebsratsaufgaben werden im Interesse des Betriebs und der Belegschaft wahrgenommen (vgl. Schaub/Vogelsang ArbR-HdB 16. Aufl. § 156 Rn. 14 und § 8 Rn. 9). Sie bestehen wesentlich in der Regelung betrieblicher Belange und werden in der Regel im Betrieb ausgeübt. Betriebsratsmitglieder sind zur Wahrnehmung der ihnen nach dem BetrVG obliegenden Aufgaben verpflichtet. Das gilt insbesondere für die Teilnahme an Betriebsratssitzungen. Finden diese außerhalb ihrer Arbeitszeit statt, können sie daher nicht frei über ihre Zeit verfügen und ihren eigenen Interessen nachgehen. Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Wahrnehmung seiner gesetzlichen Rechte und Pflichten als Betriebsratsmitglied verrichtet, sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum gesetzlichen Unfallversicherungsschutz den Interessen des Unternehmens zu dienen bestimmt (BSG 20. Februar 2001 – B 2 U 7/00 R – juris-Rn. 16, BSGE 87, 294). Diese Besonderheiten gebieten es, ehrenamtliche Betriebsratstätigkeit durch die Heranziehung der in § 5 Abs. 1 ArbZG enthaltenen Wertungen anders zu behandeln als sonstige in der Freizeit erbrachte ehrenamtliche Tätigkeit.
30
(4) Danach war es dem Kläger nicht zumutbar, seine Arbeitsleistung in der Nachtschicht vom 16. auf den 17. Juli 2013 nach 3:00 Uhr zu erbringen. Nur durch die Einstellung der Arbeit ab diesem Zeitpunkt war am 17. Juli 2013 nach der Nachtschicht wegen der in der Zeit von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr stattfindenden Betriebsratssitzung eine ununterbrochene Erholungszeit von elf Stunden gewährleistet, da der Kläger in der folgenden Nachtschicht wieder ab 22:00 Uhr Arbeitsleistung zu erbringen hatte.
31
2. Der Anspruch auf Gutschrift von zwei Stunden auf dem Arbeitszeitkonto für die Zeit von 3:00 Uhr bis 5:00 Uhr am 17. Juli 2013 ist nicht nach der tariflichen Ausschlussfrist in § 19 Nr. 4 EMTV verfallen. Zur Vermeidung des Erlöschens musste der Kläger den Anspruch nach § 19 Nr. 2 Buchst. b iVm. Nr. 4 EMTV innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit geltend machen. Diese Frist ist jedenfalls mit der Zustellung der vorliegenden Klage bei der Beklagten am 4. Oktober 2013 eingehalten. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger mit der Klage ursprünglich einen auf § 37 Abs. 2 BetrVG gestützten Vergütungsanspruch geltend gemacht hat. Der Anspruch auf eine Zeitgutschrift tritt an die Stelle des ursprünglichen Vergütungsanspruchs aus § 611 BGB (BAG 28. Juli 2010 – 5 AZR 521/09 – Rn. 17, BAGE 135, 197). Das Arbeitszeitkonto drückt nur in anderer Form den Vergütungsanspruch aus (vgl. BAG 22. Januar 2009 – 6 AZR 78/08 – Rn. 15, BAGE 129, 170; 13. Februar 2002 – 5 AZR 470/00 – zu I 2 b bb der Gründe, BAGE 100, 256).
32
III. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob die Klage auch im Hinblick auf die begehrte Gutschrift von 2,5 Stunden für die außerhalb der Arbeitszeit erbrachte Betriebsratstätigkeit am 17. Juli 2013 in der Zeit von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr begründet ist.
33
1. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Kläger nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG iVm. § 611 BGB einen Anspruch auf Gutschrift von 2,5 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto wegen der Erbringung von Betriebsratstätigkeit außerhalb seiner Arbeitszeit erworben hat. Dieser Anspruch ist nicht durch Erfüllung iSv. § 362 BGB erloschen.
34
a) Da das Arbeitszeitkonto den Vergütungsanspruch verbindlich bestimmt, hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf korrekte Führung. Geleistete Arbeit ist gemäß § 611 Abs. 1 BGB in das Konto aufzunehmen. Diese Grundsätze gelten ebenso für Angaben, die ein durch Befreiung von der Arbeitspflicht auszugleichendes Zeitguthaben ausweisen. Auch hinsichtlich dieser Daten hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf korrekte Führung des Arbeitszeitkontos und kann bei fehlerhaften Angaben eine Berichtigung verlangen (BAG 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 20).
35
b) Der Kläger hat aufgrund der Teilnahme an der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG Anspruch auf Arbeitsbefreiung im Umfang von 2,5 Stunden und daher auch auf die erstrebte Berichtigung des Arbeitszeitkontos durch eine entsprechende Gutschrift.
36
aa) Nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG hat ein Betriebsratsmitglied zum Ausgleich für Betriebsratstätigkeit, die aus betriebsbedingten Gründen außerhalb der Arbeitszeit durchzuführen ist, Anspruch auf entsprechende Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts. Betriebsbedingte Gründe liegen nach § 37 Abs. 3 Satz 2 BetrVG auch vor, wenn die Betriebsratstätigkeit wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten der Betriebsratsmitglieder nicht innerhalb der persönlichen Arbeitszeit erfolgen kann. Fällt die Betriebsratstätigkeit eines in Wechselschicht arbeitenden Betriebsratsmitglieds in dessen schichtfreie Zeit, wird sie daher aus betriebsbedingten Gründen außerhalb seiner persönlichen Arbeitszeit durchgeführt (vgl. BAG 16. April 2003 – 7 AZR 423/01 – zu I 1 der Gründe, BAGE 106, 87; zur Tätigkeit eines Wahlvorstands BAG 26. April 1995 – 7 AZR 874/94 – zu I 1 b der Gründe, BAGE 80, 54). Die Arbeitsbefreiung ist gemäß § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 BetrVG vor Ablauf eines Monats zu gewähren. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Freistellungsanspruch zu erfüllen, wobei er aber nicht im Sinn einer Ausschlussfrist an die gesetzliche Monatsfrist gebunden ist (vgl. BAG 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 22; 25. August 1999 – 7 AZR 713/97 – zu II 2 der Gründe, BAGE 92, 241).
37
bb) Hiernach hat der Kläger aufgrund der außerhalb seiner Arbeitszeit erfolgten Teilnahme an der Betriebsratssitzung am 17. Juli 2013 in der Zeit von 13:00 Uhr bis 15:30 Uhr einen Freistellungsanspruch im Umfang von 2,5 Stunden erworben. Zwischen den Parteien ist nicht streitig, dass die Betriebsratstätigkeit erforderlich iSd. § 37 Abs. 2 BetrVG war und wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten der Betriebsratsmitglieder iSv. § 37 Abs. 3 Satz 2 BetrVG aus betriebsbedingten Gründen außerhalb der Arbeitszeit des Klägers durchgeführt werden musste.
38
c) Der Arbeitsbefreiungsanspruch des Klägers ist entgegen der Auffassung der Beklagten durch die Zahlung von 60,00 Euro brutto nicht nach § 362 Abs. 1 BGB durch Erfüllung erloschen.
39
aa) Die Erfüllung des geschuldeten Anspruchs nach § 362 Abs. 1 BGB erfordert die Bewirkung der geschuldeten Leistung an den Gläubiger. Die Erfüllung des Anspruchs nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfolgt durch Freistellung des Arbeitnehmers von seiner Pflicht, Arbeitsleistungen zu erbringen (vgl. BAG 19. März 2014 – 7 AZR 480/12 – Rn. 18; 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 25). Dazu hat der Arbeitgeber das Betriebsratsmitglied von seiner vertraglich bestehenden Pflicht, Arbeitsleistungen zu erbringen, ohne Minderung der Vergütung freizustellen und so im Ergebnis dessen Sollarbeitszeit zu reduzieren (BAG 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 25). Wie bereits der Wortlaut des § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 BetrVG ausdrückt („ist … zu gewähren“), bedarf die Freistellung einer empfangsbedürftigen gestaltenden Erklärung des Arbeitgebers, mit der er zum Zweck der Erfüllung des Arbeitsbefreiungsanspruchs nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG auf sein vertragliches Recht auf Leistung der geschuldeten Dienste in einem bestimmten Umfang verzichtet und die Arbeitspflicht des Betriebsratsmitglieds zum Erlöschen bringt (vgl. BAG 19. März 2014 – 7 AZR 480/12 – Rn. 19; 15. Februar 2012 – 7 AZR 774/10 – Rn. 25).
40
bb) Danach wurde der Freizeitausgleichsanspruch des Klägers durch die Zahlung von 60,00 Euro brutto nicht erfüllt. Mit dieser Entgeltzahlung hat die Beklagte nicht die geschuldete Leistung bewirkt. Der Freizeitausgleichsanspruch hatte sich nicht nach § 37 Abs. 3 Satz 3 BetrVG in einen Abgeltungsanspruch umgewandelt. Eine solche Umwandlung erfolgt weder mit Ablauf der Monatsfrist des § 37 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 BetrVG noch durch eine bloße Untätigkeit des Arbeitgebers. Der Abgeltungsanspruch entsteht vielmehr nur, wenn die Arbeitsbefreiung aus betriebsbedingten Gründen nicht möglich ist. Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist das Betriebsratsmitglied darauf angewiesen, den Freizeitausgleichsanspruch geltend zu machen und notfalls gerichtlich durchzusetzen (BAG 28. Mai 2014 – 7 AZR 404/12 – Rn. 23). Das Betriebsratsmitglied kann also nicht statt des Freizeitausgleichs die Abgeltung verlangen, und auch der Arbeitgeber kann nicht statt des Freizeitausgleichs die Abgeltung gewähren (vgl. Thüsing in Richardi BetrVG 15. Aufl. § 37 Rn. 61). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass der Beklagten die Gewährung der Arbeitsbefreiung aus betriebsbedingten Gründen unmöglich war.
41
d) Entgegen der Auffassung der Beklagten muss sich der Kläger auf den Freistellungsanspruch nach § 37 Abs. 3 BetrVG auch nicht die in der vorausgegangenen Nachtschicht erfolgte Freistellung anrechnen lassen. Da der Freistellungsanspruch nach § 37 Abs. 3 BetrVG erst nach der Nachtschicht entstanden ist, war es der Beklagten nicht möglich, die Freistellung rückwirkend durch Arbeitsbefreiung in der Nachtschicht zu gewähren.
42
2. Der Senat kann nicht entscheiden, ob der Anspruch des Klägers auf die Gutschrift von 2,5 Stunden für die Zeit seiner Teilnahme an der Betriebsratssitzung nach § 19 Nr. 4 EMTV verfallen ist. Dies hat das Landesarbeitsgericht nicht geprüft und auch hierzu keine Feststellungen getroffen. Das wird das Landesarbeitsgericht nachzuholen haben.
43
a) Dem Verfall des Freistellungsanspruchs nach § 19 Nr. 4 EMTV steht nicht entgegen, dass sich die Beklagte erstmals in der Revisionsbegründung auf die Versäumung der tariflichen Ausschlussfrist berufen hat. Eine anzuwendende tarifliche Ausschlussfrist ist als rechtsvernichtende Einwendung von Amts wegen zu beachten, der Schuldner muss sich nicht auf ihre Wirkung berufen (vgl. BAG 24. August 2016 – 5 AZR 853/15 – Rn. 26; 16. März 2016 – 4 AZR 421/15 – Rn. 14 mwN, BAGE 154, 252).
44
b) Der streitgegenständliche Anspruch auf Berichtigung des Arbeitszeitkontos nach § 611 BGB iVm. § 37 Abs. 3 BetrVG wird als solcher aus dem Arbeitsverhältnis (vgl. BAG 16. April 2003 – 7 AZR 423/01 – zu II 1 der Gründe, BAGE 106, 87; vgl. zum Anspruch eines Personalratsmitglieds auf Freizeitausgleich nach § 46 Abs. 2 Satz 2 BPersVG BAG 26. Februar 1992 – 7 AZR 201/91 -) von § 19 Nr. 2 Buchst. b, Nr. 4 EMTV erfasst.
45
c) Zur Vermeidung des Erlöschens musste der Kläger den Anspruch auf Freizeitausgleich nach § 19 Nr. 2 Buchst. b iVm. Nr. 4 EMTV innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit geltend machen. Ohne fristgerechte Geltendmachung ist der Anspruch nach § 19 Nr. 4 EMTV lediglich dann nicht verfallen, wenn der Kläger trotz Anwendung aller nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert war, diese Frist einzuhalten. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen lässt sich nicht beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.
46
aa) Die Geltendmachung der Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis ist nach § 19 Abs. 2 Buchst. b EMTV an keine Form gebunden. Daher genügt es, wenn der Arbeitnehmer die Ansprüche mündlich geltend macht. Nach dem Zweck der tariflichen Ausschlussfrist ist unabhängig von der Einhaltung einer Form aber erforderlich, dass die Erfüllung des streitigen Anspruchs hinreichend konkret vom Arbeitgeber verlangt wird. Ausschlussfristen dienen der Rechtssicherheit (BAG 19. Januar 1999 – 9 AZR 405/97 – zu VI 2 b bb der Gründe). Die Geltendmachung setzt daher regelmäßig voraus, dass der Anspruch seinem Grunde nach hinreichend deutlich bezeichnet wird. Deshalb müssen die Art des Anspruchs sowie die Tatsachen, auf die der Anspruch gestützt wird, erkennbar sein. Eine rechtliche Begründung ist nicht erforderlich (vgl. BAG 22. April 2004 – 8 AZR 652/02 – zu II 1 a der Gründe; 18. Juni 2001 – 8 AZR 145/00 -). Für die Geltendmachung des Freizeitausgleichsanspruchs nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG genügt die bloße Anzeige über die während der Freizeit geleistete Betriebsratstätigkeit nicht (vgl. BAG 16. April 2003 – 7 AZR 423/01 – zu II 1 der Gründe, BAGE 106, 87; 25. August 1999 – 7 AZR 713/97 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 92, 241).
47
bb) Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen ist nicht erkennbar, dass der Kläger den Freizeitausgleichsanspruch gemäß § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, der unmittelbar nach der Betriebsratstätigkeit am 17. Juli 2013 fällig wurde (vgl. BAG 16. April 2003 – 7 AZR 423/01 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 106, 87), innerhalb von drei Monaten, dh. bis zum 17. Oktober 2013, gegenüber der Beklagten geltend gemacht hat. Mit der der Beklagten am 4. Oktober 2013 zugestellten Klage im vorliegenden Verfahren hat der Kläger keinen auf § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG gestützten Freistellungsanspruch, sondern lediglich einen Anspruch auf Vergütung der Zeit der am 17. Juli 2013 erbrachten Betriebsratstätigkeit geltend gemacht. Das genügte zur Geltendmachung des Freistellungsanspruchs nach § 37 Abs. 3 BetrVG nicht.
48
d) Die angefochtene Entscheidung ist daher hinsichtlich des zuerkannten Anspruchs auf Gutschrift von 2,5 Stunden auf dem Arbeitszeitkonto aufzuheben und die Sache in diesem Umfang zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Das Landesarbeitsgericht wird zu prüfen haben, ob der Kläger den Anspruch auf Freizeitausgleich für die Zeit seiner Teilnahme an der Betriebsratssitzung innerhalb der tariflichen Ausschlussfrist geltend gemacht hat oder ob er trotz Anwendung aller nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert war, die Frist einzuhalten.
Gräfl
Kiel
Waskow
R. Gmoser
Jacobi |
bag_1-19 | 22.01.2019 | 22.01.2019
1/19 - Urlaubsabgeltung bei Tod des Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis
Endet das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers, haben dessen Erben nach § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) Anspruch auf Abgeltung des von dem Erblasser nicht genommenen Urlaubs.
Die Klägerin ist Alleinerbin ihres am 20. Dezember 2010 verstorbenen Ehemanns (Erblasser), dessen Arbeitsverhältnis mit der Beklagten durch seinen Tod endete. Nach § 26 des auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) standen dem Erblasser in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage Urlaub zu. Der Erblasser wurde mit Wirkung vom 18. August 2010 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Er hatte danach gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB IX aF für das Jahr 2010 Anspruch auf anteiligen Zusatzurlaub von zwei Arbeitstagen. Die Klägerin verlangt die Abgeltung des Resturlaubs von insgesamt 25 Arbeitstagen, der ihrem verstorbenen Ehemann zum Zeitpunkt seines Todes für das Jahr 2010 noch zustand.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte hat den nicht gewährten Urlaub des Erblassers mit einem Betrag iHv. 5.857,75 Euro brutto abzugelten.
Urlaub, der wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommen werden kann, ist nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Die nach dem europäischen Unionsrecht gebotene Auslegung von §§ 1, 7 Abs. 4 BUrlG ergibt, dass der Resturlaub auch dann abzugelten ist, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass der durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) gewährleistete Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub nicht mit dem Tod des Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis untergehen darf, ohne dass ein Anspruch auf finanzielle Vergütung für diesen Urlaub besteht, der im Wege der Erbfolge auf den Rechtsnachfolger des Arbeitnehmers überzugehen hat (EuGH 6. November 2018 – C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth]). Daraus folgt für die richtlinienkonforme Auslegung von §§ 1, 7 Abs. 4 BUrlG, dass die Vergütungskomponente des Anspruchs auf den vor dem Tod nicht mehr genommenen Jahresurlaub als Bestandteil des Vermögens Teil der Erbmasse wird. Der Abgeltungsanspruch der Erben umfasst dabei nicht nur den Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG von 24 Werktagen, sondern auch den Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF sowie den Anspruch auf Urlaub nach § 26 TVöD, der den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt. Dem TVöD lässt sich nicht entnehmen, dass dem Erben das Verfallrisiko für den tariflichen Mehrurlaub bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des Arbeitnehmers zugewiesen ist.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Januar 2019 – 9 AZR 45/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 3 Sa 21/15 – | Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 15. Dezember 2015 – 3 Sa 21/15 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Endet das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers, haben dessen Erben nach § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG Anspruch auf Abgeltung des von dem Erblasser nicht genommenen Urlaubs.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Abgeltung von Urlaubsansprüchen des verstorbenen Ehemanns der Klägerin aus dem Jahr 2010.
2
Die Klägerin ist Alleinerbin ihres am 20. Dezember 2010 verstorbenen Ehemanns (Erblasser). Dieser war bis zu seinem Tod bei der Beklagten mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden und einer Stundenvergütung iHv. 30,04 Euro brutto in einer Fünftagewoche beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst vom 13. September 2005 (TVöD) Anwendung. In diesem Tarifvertrag heißt es in der für den streitigen Zeitraum maßgeblichen Fassung ua.:
„§ 26
Erholungsurlaub
(1)
1Beschäftigte haben in jedem Kalenderjahr Anspruch auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Entgelts (§ 21). 2Bei Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Kalenderwoche beträgt der Urlaubsanspruch in jedem Kalenderjahr
…
nach dem vollendeten 40. Lebensjahr
30 Arbeitstage.
… 6Der Erholungsurlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und kann auch in Teilen genommen werden.
(2)
Im Übrigen gilt das Bundesurlaubsgesetz mit folgenden Maßgaben:
a)
Im Falle der Übertragung muss der Erholungsurlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres angetreten werden. Kann der Erholungsurlaub wegen Arbeitsunfähigkeit oder aus betrieblichen/dienstlichen Gründen nicht bis zum 31. März angetreten werden, ist er bis zum 31. Mai anzutreten.
b)
Beginnt oder endet das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Jahres, erhält die/der Beschäftigte als Erholungsurlaub für jeden vollen Monat des Arbeitsverhältnisses ein Zwölftel des Urlaubsanspruchs nach Absatz 1; § 5 BUrlG bleibt unberührt.
…“
3
Der Erblasser wurde im Dezember 2010 rückwirkend zum 18. August 2010 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Einschließlich eines zeitanteiligen Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen von zwei Tagen hatte er vor seinem Tod für das Jahr 2010 einen Resturlaubsanspruch von 25 Arbeitstagen. Die Klägerin verlangte von der Beklagten mit einem am 5. Januar 2011 zugegangenen Schreiben vom selben Tage ohne Erfolg, den dem Erblasser vor seinem Tod zustehenden Urlaub abzugelten.
4
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.857,75 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. Januar 2011 zu zahlen.
5
Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und die Rechtsauffassung vertreten, der Erbe eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen Arbeitnehmers könne nicht die Abgeltung des diesem vor seinem Tod zustehenden Urlaubs beanspruchen. Jedenfalls bestehe ein solcher Anspruch nicht in einer den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden Höhe.
6
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr auf Abweisung der Klage gerichtetes Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
7
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Klage ist begründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht erkannt, dass die Klägerin gemäß § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG von der Beklagten die Abgeltung von 25 Arbeitstagen Urlaub mit einem Betrag iHv. 5.857,75 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 6. Januar 2011 beanspruchen kann.
8
I. Dem Erblasser standen nach den getroffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bis zu seinem Tod am 20. Dezember 2010 noch 25 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2010 zu. Dieser setzte sich aus dem gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG), tariflichem Mehrurlaub (§ 26 Abs. 1 TVöD) und anteiligem Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen (§ 125 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 gültigen Fassung – SGB IX aF) zusammen.
9
II. Die Klägerin kann nach § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG die Abgeltung des gegenüber dem Erblasser bis zu dessen Tod nicht erfüllten Urlaubsanspruchs verlangen. Im Zeitpunkt des Todes endete das Arbeitsverhältnis des Erblassers. Zugleich ging sein Vermögen gemäß § 1922 Abs. 1 BGB auf die Klägerin als Alleinerbin über. Der Anspruch auf Vergütung als finanzieller Aspekt des dem Erblasser bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch zustehenden Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ist mit Eintritt des Erbfalls nicht erloschen. Er besteht fort und ist an die Erben abzugelten (§ 7 Abs. 4 BUrlG).
10
1. Für den gesetzlichen Mindesturlaub ergibt dies die richtlinienkonforme Auslegung der §§ 1, 7 Abs. 4 BUrlG (vgl. Arnold/Zeh NZA 2019, 1, 5; ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 1 Rn. 23; Joussen RdA 2015, 305, 321; Kamanabrou RdA 2017, 162, 164 f.; Pötters Anm. EuZW 2014, 590, 592; Ricken NZA 2014, 1361, 1362 f.; Schneider ZESAR 2017, 79, 82 f.; Worm/Thelen NJW 2016, 1764, 1765). Der Senat hält an seiner gegenteiligen Rechtsprechung (zuletzt BAG 18. Oktober 2016 – 9 AZR 45/16 (A) – und – 9 AZR 196/16 (A) – jeweils Rn. 14) nicht weiter fest.
11
a) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats stand den Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers kein Anspruch auf Urlaubsabgeltung nach § 7 Abs. 4 BUrlG zu, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endete (zuletzt BAG 18. Oktober 2016 – 9 AZR 45/16 (A) – und – 9 AZR 196/16 (A) – jeweils Rn. 14 mwN). Dem lag im Wesentlichen die Annahme zugrunde, der Urlaubsanspruch nach § 1 BUrlG gehe als höchstpersönlicher Anspruch des Arbeitnehmers iSd. § 613 Satz 1 BGB mit dessen Tod unter. Der Tod führe nicht nur zum Erlöschen des Freistellungsanspruchs des Arbeitnehmers, sondern auch zum Untergang des Anspruchs auf Zahlung der Vergütung für die Zeit des nicht genommenen Urlaubs. Vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erwerbe der Arbeitnehmer keine Vermögensposition, die als Teil seines Vermögens nach § 1922 Abs. 1 BGB mit dem Erbfall auf die Erben übergehe und sich als Vollrecht, werdendes Recht oder Anwartschaft nach seinem Tod in einen Abgeltungsanspruch iSv. § 7 Abs. 4 BUrlG umwandeln könne (vgl. BAG 12. März 2013 – 9 AZR 532/11 – Rn. 12; 20. September 2011 – 9 AZR 416/10 – Rn. 14 ff. mwN, BAGE 139, 168).
12
b) Mit Beschlüssen vom 18. Oktober 2016 (- 9 AZR 45/16 (A) – und – 9 AZR 196/16 (A) -) hat der Senat den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung ersucht, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG oder Art. 31 Abs. 2 GRC dem Erben eines während des Arbeitsverhältnisses verstorbenen Arbeitnehmers einen Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für den dem Arbeitnehmer vor seinem Tod zustehenden Jahresurlaub einräumt.
13
c) Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 6. November 2018 (- C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth]) in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. dazu insb. EuGH 12. Juni 2014 – C-118/13 – [Bollacke]) erkannt, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers der von ihm erworbene, vor seinem Tod nicht mehr genommene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub untergeht, ohne dass ein Anspruch auf finanzielle Vergütung für diesen Urlaub besteht, der im Wege der Erbfolge auf die Rechtsnachfolger des Arbeitnehmers übergehen könnte (EuGH 6. November 2018 – C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth]).
14
aa) Der Gerichtshof geht davon aus, dass der Tod nicht rückwirkend zum vollständigen Verlust des einmal erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub führt, der gleichbedeutend mit dem Anspruch auf Freistellung den auf Bezahlung umfasst. Unter seinem finanziellen Aspekt betrachtet sei der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub rein vermögensrechtlicher Natur. Dieser Vermögensbestandteil dürfe den Erben des Arbeitnehmers durch dessen Tod nicht rückwirkend entzogen werden. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG sehe vor, dass der bezahlte Mindestjahresurlaub außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden dürfe und stelle damit insbesondere sicher, dass der Arbeitnehmer über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen könne, damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit gewährleistet sei. Ende das Arbeitsverhältnis, sei es aber nicht mehr möglich, den bezahlten Jahresurlaub, der dem Arbeitnehmer zugestanden habe, tatsächlich zu nehmen. Um zu verhindern, dass dem Arbeitnehmer wegen der Unmöglichkeit, den Urlaub nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu nehmen, jeder Genuss dieses Anspruchs, selbst in finanzieller Form, verwehrt werde, bestimme Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage habe. Die Bestimmung stelle für das Entstehen des Anspruchs keine anderen Voraussetzungen auf als diejenigen, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet sei und zum anderen der Arbeitnehmer nicht den gesamten bezahlten Jahresurlaub genommen habe, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte. Der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses spiele für den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung keine Rolle (EuGH 6. November 2018 – C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth] Rn. 42 bis 48).
15
bb) Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass eine nationale Regelung nicht anzuwenden sei, wenn sie nicht in diesem Sinne im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe aber dafür Sorge zu tragen, dass der Rechtsnachfolger des verstorbenen Arbeitnehmers von dem Arbeitgeber eine finanzielle Vergütung für den vom Arbeitnehmer gemäß diesen Bestimmungen erworbenen, vor seinem Tod nicht mehr genommenen bezahlten Jahresurlaub erhalte. Stehe dem Rechtsnachfolger in einem Rechtsstreit ein staatlicher Arbeitgeber gegenüber, folge diese Verpflichtung für das nationale Gericht aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 GRC. Stehe ihm ein privater Arbeitgeber gegenüber, folge sie aus Art. 31 Abs. 2 GRC (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth] Rn. 92).
16
d) Die nationalen Gerichte sind danach gehalten, bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth] Rn. 66 f.).
17
aa) Art. 267 AEUV weist dem Gerichtshof zur Verwirklichung der Verträge über die Europäische Union, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit sowie einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts die Aufgabe der verbindlichen Auslegung der Verträge und Richtlinien zu (vgl. BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 62/12 – Rn. 27, BAGE 158, 121; 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 26, BAGE 142, 371). Daraus folgt, dass die nationalen Gerichte die Unionsvorschrift in dieser Auslegung (grundsätzlich) auch auf andere Rechtsverhältnisse als das dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegende anwenden können und müssen, und zwar auch auf solche, die vor Erlass der auf das Auslegungsersuchen ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs entstanden sind (BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 26).
18
bb) Allerdings unterliegt der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts Schranken. Die Pflicht zur Verwirklichung eines Richtlinienziels im Weg der Auslegung findet ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Sie darf nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen. Besteht jedoch ein Auslegungsspielraum, ist das nationale Gericht verpflichtet, diesen zur Verwirklichung des Richtlinienziels bestmöglich auszuschöpfen (vgl. BVerfG 26. September 2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 – Rn. 46 f.). Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, haben allein die nationalen Gerichte zu beurteilen (BVerfG 26. September 2011 – 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 – Rn. 47; 21. Februar 2017 – 1 ABR 62/12 – Rn. 29, BAGE 158, 121; 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 31, BAGE 142, 371).
19
e) Die Bestimmungen der §§ 1, 7 Abs. 4 BUrlG lassen sich richtlinienkonform auslegen. Damit bedarf es keiner Entscheidung des Senats, ob und inwieweit diese Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-569/16 und C-570/16 – [Bauer und Willmeroth]) wegen Unvereinbarkeit mit Art. 31 Abs. 2 GRC unangewendet bleiben müssten.
20
aa) Der Wortlaut von § 1 und § 7 Abs. 4 BUrlG steht einer richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen, nach der den Erben der Abgeltungsanspruch auch für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des Arbeitnehmers zusteht. Vielmehr ist der finanzielle Aspekt des Anspruchs auf Erholungsurlaub im Bundesurlaubsgesetz unabdingbar angelegt.
21
(1) Nach § 1 BUrlG hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Das Bundesurlaubsgesetz begründet damit nicht nur einen Freistellungsanspruch, sondern auch einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Bezahlung. Das Gesetz verlangt, dass die Zeit der Freistellung von der Arbeitspflicht „bezahlt“ sein muss. § 1 BUrlG entspricht insoweit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG, der den Anspruch auf Freistellung und denjenigen auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt (BAG 10. Februar 2015 – 9 AZR 455/13 – Rn. 21, BAGE 150, 355).
22
(2) § 7 Abs. 4 BUrlG sieht vor, dass der Urlaub abzugelten ist, wenn er wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann. Die Bestimmung knüpft allein an die durch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses verursachte Unmöglichkeit an, den noch bestehenden Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers durch bezahlte Freistellung von der Arbeitspflicht zu realisieren, ohne bestimmte Beendigungstatbestände auszunehmen. Sie trifft keine Unterscheidung zwischen den Beendigungstatbeständen und enthält keine gesonderte Regelung über das rechtliche Schicksal der Vergütungskomponente des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet. § 7 Abs. 4 BUrlG lässt damit seinem Wortlaut nach die Auslegung zu, dass Urlaub abzugelten ist, weil das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet und dadurch unmittelbar („wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses“) die Unmöglichkeit der Urlaubsgewährung eintritt (vgl. Kamanabrou RdA 2017, 162, 165; Schipper/Polzer NZA 2011, 80, 81; aA noch BAG 20. September 2011 – 9 AZR 416/10 – Rn. 22 ff., BAGE 139, 168).
23
bb) Dieses richtlinienkonforme Verständnis entspricht sowohl dem Sinn und Zweck von § 1 und § 7 Abs. 4 BUrlG als auch der Systematik des Bundesurlaubsgesetzes. Die Bestimmungen des § 1 und § 7 Abs. 4 BUrlG sollen gewährleisten, dass jeder Arbeitnehmer in regelmäßigem Rhythmus eine gewisse Zeit der Erholung erhält (vgl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 24, BAGE 142, 371; 26. Juni 1969 – 5 AZR 393/68 – zu 1 der Gründe, BAGE 22, 85) und Urlaubsansprüche nicht über einen langen Zeitraum angesammelt oder allein durch Zahlung von Geld ersetzt werden. Die Vergütungskomponente des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ist daher im bestehenden Arbeitsverhältnis fest mit dem Freistellungsanspruch verbunden. Sie darf aufgrund des sich aus § 7 Abs. 4 BUrlG ergebenden Abgeltungsverbots nicht isoliert erfüllt werden. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses entfällt jedoch die Arbeitspflicht und damit die Möglichkeit, dem Arbeitnehmer durch Freistellung von der Arbeitspflicht Urlaub zu gewähren (vgl. BAG 10. Februar 2015 – 9 AZR 455/13 – Rn. 19, BAGE 150, 355). Die Bindung des Anspruchs auf Bezahlung an den Freistellungsanspruch und seine zeitliche Begrenzung nach Maßgabe von § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG wird aufgelöst. § 7 Abs. 4 BUrlG bestimmt als spezialgesetzliche Regelung des Leistungsstörungsrechts die Rechtsfolgen der Unmöglichkeit der Urlaubsgewährung infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und verdrängt damit die allgemeinen Regelungen der §§ 275 ff. BGB, die ansonsten bei Unmöglichkeit von Leistungen gelten (BAG 20. September 2011 – 9 AZR 416/10 – Rn. 23 mwN, BAGE 139, 168). Während der Freistellungsanspruch infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses untergeht, erhält § 7 Abs. 4 BUrlG die Vergütungskomponente des Urlaubsanspruchs als Abgeltungsanspruch selbstständig aufrecht. Der aus Freistellung von der Arbeitspflicht und Bezahlung zusammengesetzte Urlaubsanspruch wandelt sich in einen Anspruch auf Abgeltung des noch nicht erfüllten Urlaubs. Diese Umwandlung erfolgt, ohne dass der finanzielle Aspekt des originären Urlaubsanspruchs zunächst erlischt. Das Bundesurlaubsgesetz bietet demgegenüber keinen Anhaltspunkt für die Annahme, der Anspruch auf Bezahlung als Bestandteil des Urlaubsanspruchs solle erst zu einem späteren Zeitpunkt als der Freistellungsanspruch entstehen oder der Tod des Arbeitnehmers führe als Sonderfall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses rückwirkend zum Verlust des erworbenen Zahlungsanspruchs.
24
2. Das Landesarbeitsgericht hat mit Recht angenommen, dass nicht nur der gesetzliche Mindesturlaub nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG, sondern auch der dem Erblasser nach § 125 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF (seit dem 1. Januar 2018 § 208 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX) zustehende Urlaub für schwerbehinderte Menschen Bestandteil der Erbmasse geworden ist. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub. Auf diesen Zusatzurlaub sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden (st. Rspr., zB BAG 13. Dezember 2011 – 9 AZR 399/10 – Rn. 40 mwN, BAGE 140, 133). Auch der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen ist daher gegenüber den Erben abzugelten, wenn das Arbeitsverhältnis durch Tod des Arbeitnehmers endet. Der Zusatzurlaubsanspruch nach § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF teilt das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs, es sei denn, tarifliche oder einzelvertragliche Bestimmungen sehen für den Arbeitnehmer günstigere Bestimmungen vor (BAG 13. Dezember 2011 – 9 AZR 399/10 – aaO). Dem Zusatzurlaub liegt mithin derselbe Urlaubsbegriff zugrunde wie der Bestimmung des § 1 BUrlG.
25
3. Die Grundsätze über die Vererbbarkeit des finanziellen Aspekts des gesetzlichen Mindesturlaubs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des Arbeitnehmers gelten ebenso für den tariflichen Mehrurlaub des Erblassers. Die Tarifvertragsparteien haben in § 26 TVöD kein vom Bundesurlaubsgesetz abweichendes, eigenständiges Verständnis über den Urlaubsbegriff zugrunde gelegt, kein vollständiges Erlöschen des tariflichen Urlaubsanspruchs bei Tod des Arbeitnehmers während des Arbeitsverhältnisses angeordnet oder die Vererbbarkeit des tariflichen Mehrurlaubs ausgeschlossen.
26
a) Tarifvertragsparteien können Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln (vgl. EuGH 3. Mai 2012 – C-337/10 – [Neidel] Rn. 34 ff. mwN; BAG 14. Februar 2017 – 9 AZR 386/16 – Rn. 14). Diese Befugnis schließt ein, das Erlöschen des tariflichen Mehrurlaubs bei Tod des Arbeitnehmers während des Arbeitsverhältnisses bzw. den Ausschluss dessen Vererbbarkeit zu bestimmen.
27
b) Für einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, den tariflichen Mehrurlaub einem eigenen, von dem des gesetzlichen Mindesturlaubs abweichenden Regelungsregime zu unterstellen, müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem Gleichlauf des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszugehen (vgl. BAG 14. Februar 2017 – 9 AZR 386/16 – Rn. 15 mwN). Der eigenständige, dem Gleichlauf von Mindest- und Mehrurlaub entgegenstehende Regelungswille muss sich auf den jeweils in Rede stehenden Regelungsgegenstand beziehen (hier das Erlöschen des Anspruchs auf zusätzlichen bezahlten Jahresurlaub bei Tod des Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis bzw. Ausschluss der Vererbbarkeit des tariflichen Mehrurlaubs). Es genügt nicht, wenn in einem Tarifvertrag von Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen wird, die mit den im Streit stehenden Regelungen nicht in einem inneren Zusammenhang stehen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Regelungsregime der Tarifvertragsparteien hinreichend deutlich erkennen lässt, dass der Arbeitnehmer bzw. die Erben für den tariflichen Mehrurlaub das Verfallrisiko bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des Arbeitnehmers tragen sollen (vgl. BAG 12. April 2011 – 9 AZR 80/10 – Rn. 28, BAGE 137, 328).
28
c) Die Tarifvertragsparteien haben in § 26 TVöD hinsichtlich des Urlaubsbegriffs, des Erlöschens von Urlaub bei Tod des Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis oder der Urlaubsabgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des Arbeitnehmers keine vom Bundesurlaubsgesetz abweichende, eigenständige Regelung getroffen. § 26 TVöD lässt sich nicht entnehmen, dass der Vergütungskomponente des kalenderjährlichen „Anspruchs auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Entgelts“ kein Vermögenswert zukommen soll. Die allgemeine Bezugnahme auf die Bestimmungen des BUrlG in § 26 Abs. 2 TVöD deutet vielmehr darauf hin, dass dem TVöD der Urlaubsbegriff des § 1 BUrlG zugrunde liegt. Gesonderte Regelungen über das Schicksal des finanziellen Aspekts des Urlaubsanspruchs im Falle des Versterbens des Arbeitnehmers im laufenden Arbeitsverhältnis enthält der TVöD nicht. Auch hinsichtlich des Urlaubsabgeltungsanspruchs haben die Tarifvertragsparteien nicht zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem tariflichen Mehrurlaub differenziert. Soweit § 26 Abs. 2 TVöD besondere Regelungen zur Übertragung des Urlaubs, der Berechnung des anteiligen Urlaubs, zum Ruhen des Arbeitsverhältnisses und zum Zahlungszeitpunkt des Urlaubsentgelts enthält, stehen diese nicht in einem inneren Zusammenhang mit den vorliegend maßgeblichen Regelungsmaterien und lassen nicht auf einen (auch) darauf bezogenen eigenständigen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien schließen.
29
III. Der Klägerin steht nach § 1922 Abs. 1 BGB iVm. § 7 Abs. 4 BUrlG ein Abgeltungsanspruch iHv. 5.857,75 Euro brutto zu. Einwendungen gegen die Berechnung des Anspruchs hat die Beklagte nicht geltend gemacht.
30
IV. Der Abgeltungsanspruch der Klägerin ist nicht nach § 37 Abs. 1 Satz 1 TVöD verfallen. Er kann als reiner Geldanspruch einer tariflichen Ausschlussfrist unterliegen (vgl. BAG 16. Dezember 2014 – 9 AZR 295/13 – Rn. 28, BAGE 150, 207; 9. August 2011 – 9 AZR 365/10 – Rn. 14 ff., BAGE 139, 1). Der Anspruch der Klägerin auf Abgeltung des dem Erblasser bis zu seinem Tod zustehenden Urlaubs entstand mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 20. Dezember 2010 und wurde gleichzeitig fällig (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 29 mwN). Durch die schriftliche Geltendmachung des Urlaubsabgeltungsanspruchs am 5. Januar 2011 hat die Klägerin die Anschlussfrist des § 37 Abs. 1 Satz 1 TVöD gewahrt.
31
V. Die Zinsentscheidung beruht auf § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Klägerin hat die Beklagte am 5. Januar 2011 zur Abgeltung des dem Erblasser bis zu seinem Tod noch zustehenden Resturlaubs aufgefordert und damit iSd. § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB durch eine Mahnung in Verzug gesetzt. Der Schuldnerverzug trat gemäß § 187 Abs. 1 BGB an dem auf den Zugang der Mahnung folgenden Kalendertag ein.
32
VI. Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.
Kiel
Suckow
Zimmermann
Stang
Matth. Dipper |
bag_10-19 | 20.02.2019 | 20.02.2019
10/19 - Kündigung des Chefarztes eines katholischen Krankenhauses wegen Wiederverheiratung
Ein der römisch-katholischen Kirche verbundenes Krankenhaus darf seine Beschäftigten in leitender Stellung bei der Anforderung, sich loyal und aufrichtig im Sinne des katholischen Selbstverständnisses zu verhalten, nur dann nach ihrer Religionszugehörigkeit unterschiedlich behandeln, wenn dies im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
Die Beklagte ist Trägerin von Krankenhäusern und institutionell mit der katholischen Kirche verbunden. Der katholische Kläger war bei ihr als Chefarzt beschäftigt. Den Dienstvertrag schlossen die Parteien unter Zugrundelegung der vom Erzbischof von Köln erlassenen Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 23. September 1993 (GrO 1993). Nach deren Art. 5 Abs. 2 GrO 1993 handelte es sich ua. beim Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe um einen schwerwiegenden Loyalitätsverstoß, der eine Kündigung rechtfertigen konnte. Der Kläger war nach katholischem Ritus verheiratet. Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau heiratete er im Jahr 2008 ein zweites Mal standesamtlich. Nachdem die Beklagte hiervon Kenntnis erlangt hatte, kündigte sie das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. September 2009. Hiergegen hat sich der Kläger mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage gewandt. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Über ein in diesem Verfahren ergangenes Vorabentscheidungsersuchen des Senats zum Inhalt und zur Auslegung des Unionsrechts hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 11. September 2018 (- C-68/17 -) entschieden.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Kündigung ist nicht durch Gründe im Verhalten oder in der Person des Klägers sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 KSchG). Mit seiner Wiederverheiratung verletzte dieser weder eine wirksam vereinbarte Loyalitätspflicht noch eine berechtigte Loyalitätserwartung der Beklagten. Die Vereinbarung im Dienstvertrag der Parteien, mit der die GrO 1993 in Bezug genommen wurde, ist gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, soweit dadurch das Leben in kirchlich ungültiger Ehe als schwerwiegender Loyalitätsverstoß bestimmt ist. Diese Regelung benachteiligte den Kläger gegenüber nicht der katholischen Kirche angehörenden leitenden Mitarbeitern wegen seiner Religionszugehörigkeit und damit wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ohne dass dies nach § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt ist. Dies folgt aus einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG, jedenfalls aber aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Die Loyalitätspflicht, keine nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültige Ehe zu schließen, war im Hinblick auf die Art der Tätigkeiten des Klägers und die Umstände ihrer Ausübung keine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung.
Nationales Verfassungsrecht (vgl. dazu BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 -) steht dem nicht entgegen. Das Unionsrecht darf die Voraussetzungen, unter denen die der Kirche zugeordneten Einrichtungen ihre Beschäftigten wegen der Religion ungleich behandeln dürfen, näher ausgestalten. Der Europäische Gerichtshof hat mit seiner Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG seine Kompetenz nicht überschritten. Es handelt sich nicht um einen „Ultra-Vires-Akt“ oder einen solchen, durch den die Verfassungsidentität des Grundgesetzes berührt wird.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. Februar 2019 – 2 AZR 746/14 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 1. Juli 2010 – 5 Sa 996/09 – | Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 1. Juli 2010 – 5 Sa 996/09 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Leitsatz
§ 9 Abs. 2 AGG ist aufgrund von unionsrechtlichen Vorgaben dahin auszulegen, dass eine der Kirche zugeordnete Einrichtung nicht das Recht hat, bei einem Verlangen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses Beschäftigte in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedlich zu behandeln, wenn nicht die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Einrichtung wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
2
Die Beklagte betreibt ua. Krankenhäuser. Dabei verfolgt sie vorrangig eine religiöse Zielsetzung in Form der Verwirklichung von Aufgaben der Caritas als Lebens- und Wesensäußerung der römisch-katholischen Kirche. Die Beklagte unterliegt der Aufsicht des Erzbischofs von Köln. Der Kläger ist katholisch und war bei ihr seit dem Jahre 2000 auf der Grundlage eines Dienstvertrags vom 12. Oktober 1999 als Abteilungsarzt mit der Dienstbezeichnung „Chefarzt“ beschäftigt.
3
Die Parteien schlossen den Dienstvertrag unter Zugrundelegung der vom Erzbischof von Köln erlassenen Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993 (Amtsblatt des Erzbistums Köln S. 222; GrO 1993) und der Grundordnung für katholische Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1996 (Amtsblatt des Erzbistums Köln S. 321; GrOK-NRW). Nach Art. 3 Abs. 2 GrO 1993 konnten kirchliche Dienstgeber pastorale, katechetische sowie in der Regel erzieherische und leitende Aufgaben nur einer Person übertragen, die der katholischen Kirche angehört. Zu den in diesem Sinne leitend tätigen Mitarbeitern gehörten Abteilungsärzte (Abschnitt A. 5. Satz 2 GrOK-NRW). Art. 4 Abs. 1 GrO 1993 forderte von den katholischen Mitarbeitern, dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Nach Art. 5 Abs. 2 GrO 1993 handelte es sich beim Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe um einen schwerwiegenden Loyalitätsverstoß, der eine Kündigung rechtfertigen konnte. Die Weiterbeschäftigung war grundsätzlich ausgeschlossen, wenn der Loyalitätsverstoß von einem leitenden Mitarbeiter begangen wurde (Art. 5 Abs. 3 GrO 1993). In § 10 Abs. 4 Nr. 2 des Dienstvertrags der Parteien ist das Leben in kirchlich ungültiger Ehe oder eheähnlicher Gemeinschaft als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung genannt.
4
Eine ungültige Ehe schließt nach katholischem Rechtsverständnis (vgl. Canon [Can.] 1085 § 1 Codex Iuris Canonici [CIC]), wer durch das Band einer früheren Ehe gebunden ist. Eine neue Eheschließung ist auch dann nicht erlaubt, wenn eine frühere Ehe nichtig oder aufgelöst worden ist, die Nichtigkeit bzw. die Auflösung der früheren Ehe aber noch nicht rechtmäßig und sicher feststeht (Can. 1085 § 2 CIC).
5
Der Kläger war mit seiner ersten Ehefrau nach katholischem Ritus verheiratet. Diese trennte sich von ihm im August 2005. Die Ehe wurde im März 2008 geschieden. Aus ihr waren zwei Töchter hervorgegangen. Mit seiner späteren zweiten Ehefrau lebte der Kläger von 2006 bis 2008 unverheiratet zusammen. Im August 2008 heiratete er ein zweites Mal standesamtlich, ohne dass seine erste Ehe kirchenrechtlich für nichtig erklärt worden war. Die Beklagte erfuhr von der erneuten Eheschließung spätestens im November 2008. Nach Anhörung der bei ihr bestehenden Mitarbeitervertretung kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 30. März 2009 fristgerecht zum 30. September 2009.
6
Dagegen hat der Kläger rechtzeitig Kündigungsschutzklage erhoben und die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die erneute Heirat stelle keinen Kündigungsgrund dar. Er habe sich nicht kirchenfeindlich verhalten. Die Kündigung verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Nach der GrO 1993 habe die Wiederheirat eines evangelischen oder konfessionslosen Abteilungsarztes keine Folgen für dessen Arbeitsverhältnis mit der Beklagten gehabt.
7
Der Kläger hat beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 30. März 2009 zum 30. September 2009 nicht beendet worden ist;
2.
für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag die Beklagte zu verpflichten, ihn über den 30. September 2009 hinaus als leitenden Arzt der Abteilung Medizinische Klinik (Innere Medizin) am S-Krankenhaus in D bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses weiterzubeschäftigen.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Der Kläger sei eine ungültige Ehe im Sinne des katholischen Kirchenrechts eingegangen und habe dadurch in erheblicher Weise gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis verstoßen. Soweit sie anderen wiederverheirateten Chefärzten nicht gekündigt habe, handele es sich – abgesehen von aus anderen Gründen mit dem Streitfall ihres Erachtens nicht vergleichbaren Fällen – nicht um katholische Arbeitnehmer, von denen nicht in derselben Weise wie von katholischen Mitarbeitern die Befolgung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verlangt werden könne.
9
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Das ihr Rechtsmittel zurückweisende Senatsurteil vom 8. September 2011 (- 2 AZR 543/10 – BAGE 139, 144) hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) aufgehoben und die Sache an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen. Der Senat hat mit Beschluss vom 28. Juli 2016 (- 2 AZR 746/14 [A] – BAGE 156, 23) den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV um die Beantwortung von Fragen zur Auslegung von Unionsrecht und vorrangig von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG (RL 2000/78/EG) ersucht. Hierüber hat der Gerichtshof mit Urteil vom 11. September 2018 (- C-68/17 -) entschieden.
Entscheidungsgründe
10
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die Kündigung der Beklagten vom 30. März 2009 sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG ist.
11
I. Der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes fand nach § 1 Abs. 1, § 23 Abs. 1 KSchG im Kündigungszeitpunkt auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung.
12
II. Die Kündigung der Beklagten ist weder durch Gründe im Verhalten noch in der Person des Klägers iSv. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt. Es fehlt an einem kündigungsrelevanten Verstoß des Klägers gegen eine vertragliche Loyalitätspflicht. Die Loyalitätserwartung, den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung zu achten, stellt auch keine berechtigte Anforderung der Beklagten an die persönliche Eignung des Klägers dar. Die Vereinbarung im Dienstvertrag der Parteien, mit der Art. 4 Abs. 1 sowie Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 GrO 1993 in Bezug genommen wurden, war jedenfalls im Zeitpunkt der streitbefangenen Kündigung gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, soweit danach – iVm. Abschnitt A. 5. Satz 2 GrOK-NRW – bei Abteilungsärzten der Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültigen Ehe einen Loyalitätsverstoß darstellt, der grundsätzlich eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt. Ebenso gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam ist § 10 Abs. 4 Nr. 2 des Dienstvertrags, soweit danach das Leben in kirchlich ungültiger Ehe einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellt. Es handelt sich um Beschäftigungs- und Entlassungsbedingungen iSd. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG, die den Kläger gem. § 7 Abs. 1 iVm. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG unmittelbar wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligen, ohne dass dies nach § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt ist. Nichts anderes würde gelten, soweit die Beklagte diese Loyalitätserwartungen nicht aus dem schriftlichen Dienstvertrag der Parteien, sondern aus ungeschriebenen nebenvertraglichen Pflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) herleiten wollte.
13
1. Gemäß § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt werden. Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen, sind nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Sie sind auch dann an dieser Bestimmung zu messen, wenn sie zwar – wie hier – vor Inkrafttreten des AGG am 18. August 2006 abgeschlossen wurden, aber noch danach eine benachteiligende Wirkung entfalten (BAG 25. März 2015 – 5 AZR 458/13 – Rn. 24; 20. Juni 2013 – 2 AZR 295/12 – Rn. 37, BAGE 145, 296). § 33 AGG enthält insoweit keine entgegenstehende Übergangsregelung. Die benachteiligende Wirkung der Beschäftigungsbedingung, das Eingehen einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültigen Ehe stelle einen Loyalitätsverstoß dar, dauerte über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des AGG an. Sie sollte fortdauernd eine entsprechende arbeitsvertragliche Pflicht des Klägers begründen, gegen die er durch die erneute Eheschließung im August 2008 verstieß. Die benachteiligende Wirkung der Entlassungsbedingungen, wonach ein entsprechender Loyalitätsverstoß die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen konnte, trat mit der darauf gestützten Kündigung der Beklagten vom 30. März 2009 ein.
14
2. Der Kläger wurde durch die fraglichen Beschäftigungs- und Entlassungsbedingungen wegen seiner Religion iSd. § 1 AGG, nämlich der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, gegenüber nicht der katholischen Kirche angehörenden Abteilungsärzten unmittelbar benachteiligt (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AGG). Das Leben in einer kirchlich ungültigen Ehe war gem. Art. 4 Abs. 1 iVm. Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 der mit dem Dienstvertrag in Bezug genommenen GrO 1993 nur bei katholischen leitenden Arbeitnehmern, zu denen auch Abteilungsärzte gehörten, ein die Weiterbeschäftigung in der Regel nicht zulassender Verstoß gegen die Loyalitätsanforderungen, der eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen konnte. Hingegen hatte die Wiederheirat eines evangelischen oder konfessionslosen Abteilungsarztes nach den Regelungen der GrO 1993 keine Folgen für dessen Arbeitsverhältnis mit der Beklagten.
15
3. Diese Benachteiligung war nicht gem. § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt.
16
a) Nach § 9 Abs. 2 AGG berührt das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung nicht das Recht der in Absatz 1 der Bestimmung genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses zu verlangen. § 9 AGG dient der Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG (BT-Drs. 16/1780 S. 35). Die Zulässigkeit einer unterschiedlichen Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei den Loyalitätsanforderungen gem. § 9 Abs. 2 AGG ist daher, soweit die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden es zulassen, unter Beachtung der Richtlinie und der zu ihrer Auslegung ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu prüfen.
17
b) § 9 Abs. 2 AGG ist aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben, insbesondere von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG, für eine der Kirche zugeordnete Einrichtung – nur über diese hat der Senat vorliegend zu befinden – dahin auszulegen, dass die Einrichtung nicht das Recht hat, bei einem Verlangen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses Beschäftigte in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedlich zu behandeln, wenn nicht die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Einrichtung wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Frage, ob diese Kriterien erfüllt sind, unterliegt einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle.
18
aa) Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG bestimmt, dass die Kirchen und andere öffentliche oder private Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen können, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten, sofern die Bestimmungen der Richtlinie im Übrigen eingehalten werden.
19
bb) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass eine Ungleichbehandlung bei der Anforderung eines loyalen und aufrichtigen Verhaltens im Sinne des Ethos des Arbeitgebers gem. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG, die sich ausschließlich auf die Konfession der Beschäftigten stützt, ua. die in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG genannten Kriterien einzuhalten hat (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 49), was angesichts des sich aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) ergebenden Rechts auf wirksamen gerichtlichen Schutz der sich für die jeweilige Person aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte gegebenenfalls einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen muss (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 59). Eine Kirche oder eine andere öffentliche oder private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, darf daher bei der Anforderung, sich loyal und aufrichtig im Sinne dieses Ethos zu verhalten, ihre Beschäftigten in leitender Stellung nur dann je nach deren Zugehörigkeit zur Religion bzw. deren Bekenntnis zur Weltanschauung dieser Kirche oder dieser anderen Organisation unterschiedlich behandeln, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts dieses Ethos ist (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 55). Maßgeblich ist danach, ob die fragliche Loyalitätspflicht als Teil der betreffenden Religion im Hinblick auf die Art der Tätigkeit oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts dieses Ethos ist (vgl. EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 49 f.). Dies zu beurteilen, ist Sache des nationalen Gerichts (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 56).
20
(1) „Wesentlich“ ist eine berufliche Anforderung iSv. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG, sofern die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation beruht, aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des in Art. 17 AEUV und in Art. 10 GRC anerkannten Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie notwendig erscheinen muss (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 51; vgl. in diesem Sinne auch EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 50, 65).
21
(2) Die Anforderung ist „rechtmäßig“ iSv. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG, wenn sie nicht zur Verfolgung eines sachfremden Ziels ohne Bezug zum Ethos oder zur Ausübung des Rechts der Kirche oder Organisation auf Autonomie dient (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 52; 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 66).
22
(3) Das Erfordernis, die Anforderung müsse „gerechtfertigt“ iSv. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG sein, impliziert nicht nur, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG genannten Kriterien durch ein innerstaatliches Gericht überprüfbar sein muss, sondern auch, dass es der Kirche oder Organisation, die eine berufliche Anforderung aufgestellt hat, obliegt, im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich ist, so dass sich eine solche Anforderung als notwendig erweist (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 53; vgl. in diesem Sinne auch EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 67).
23
(4) Schließlich muss die Anforderung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen, was bedeutet, dass die nationalen Gerichte prüfen müssen, ob die Anforderung angemessen ist und nicht über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgeht (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 54; 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 68).
24
cc) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union obliegt es den nationalen Gerichten, unter Berücksichtigung sämtlicher nationaler Rechtsnormen und der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, ob und inwieweit eine nationale Rechtsvorschrift wie § 9 Abs. 2 AGG im Einklang mit der RL 2000/78/EG ausgelegt werden kann, ohne dass dies zu einer Auslegung contra legem führt (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 63; vgl. in diesem Sinne auch EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung; zum Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vgl. BVerfG 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – Rn. 77, BVerfGE 140, 317). Die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten (EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 30). Die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichte müssen bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachgekommen wird (EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31; in diesem Sinne bereits EuGH 5. Oktober 2004 – C-397/01 bis C-403/01 – [Pfeiffer ua.] Rn. 113 f. sowie 19. Januar 2010 – C-555/07 – [Kücükdeveci] Rn. 48).
25
dd) Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, findet zwar ihre Grenzen in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 32; vgl. auch EuGH 15. April 2008 – C-268/06 – [Impact] Rn. 100; 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 25; 15. Januar 2014 – C-176/12 – [Association de médiation sociale] Rn. 39). Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasst jedoch die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 64; 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 72; dem folgend BAG 5. Dezember 2012 – 7 AZR 698/11 – Rn. 37, BAGE 144, 85; BGH 28. Oktober 2015 – VIII ZR 158/11 – Rn. 37, BGHZ 207, 209; 26. November 2008 – VIII ZR 200/05 – Rn. 21 mwN, BGHZ 179, 27). Eine solche Rechtsfortbildung kann in Betracht kommen, wenn der Gesetzgeber mit der von ihm geschaffenen Regelung eine Richtlinie umsetzen wollte, hierbei aber deren Inhalt missverstanden hat (BGH 28. Oktober 2015 – VIII ZR 158/11 – aaO; 21. Dezember 2011 – VIII ZR 70/08 – Rn. 32 f., BGHZ 192, 148). Ein nationales Gericht darf nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht zu vereinbarenden Sinne ausgelegt worden ist (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 65; 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26
ee) Unter Anwendung dieser Grundsätze ist § 9 Abs. 2 AGG im Einklang mit dem Unionsrecht und insbesondere Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG dahin auszulegen, dass Anforderungen an ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne des jeweiligen Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaft, die zu einer Ungleichbehandlung von Beschäftigten in leitender Stellung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit führen, die in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG genannten Kriterien einhalten müssen, wobei die Frage, ob die danach geforderten Voraussetzungen gegeben sind, einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt.
27
(1) Wortlaut und Gesetzessystematik geben für die Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG kein eindeutiges Ergebnis vor. Die Vorschrift spricht zwar – anders als Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG – nicht von einem „(K)önnen …“, „(s)ofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden“, sondern davon, das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berühre nicht das „Recht“ der Religionsgemeinschaften und der ihnen zugeordneten Einrichtungen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses zu verlangen. Die Regelung nimmt damit – anders als Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG – zumindest explizit nicht Bezug auf andere, dieses Recht näher definierende Bestimmungen. Der normative Begriff des „Rechts“ lässt aber auch ausreichend sprachlichen Raum für eine richtlinienkonforme Lesart, nach der es sich um ein im Einklang mit dem umzusetzenden Unionsrecht stehendes Recht handeln muss.
28
(2) Ein solchermaßen unionsrechtskonformes Verständnis von § 9 Abs. 2 AGG erlauben auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift und der darin zum Ausdruck kommende Wille des deutschen Gesetzgebers, Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG in nationales Recht umzusetzen. Der Gesetzgeber meinte zwar, der Erwägungsgrund 24 der RL 2000/78/EG lasse es zu, dass die Mitgliedstaaten spezifische Bestimmungen entsprechend dem deutschen Verfassungsverständnis auch hinsichtlich von Verhaltensanforderungen beibehalten oder vorsehen, die eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft an ihre Mitarbeiter stelle, und dass es dabei den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften selbst obliege, dementsprechend verbindliche innere Regelungen zu schaffen (BT-Drs. 16/1780 S. 35 f.). Damit hat er aber, wie aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 11. September 2018 (- C-68/17 -) nunmehr feststeht, den Inhalt der RL 2000/78/EG missverstanden, die – anders als das deutsche Verfassungsverständnis – eine tätigkeitsbezogene Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen bei den Loyalitätserwartungen allein aufgrund der Religion verlangt, die überdies einer wirksamen Kontrolle durch die staatlichen Gerichte unterliegen muss. Das ändert indes nichts an der ausdrücklich verlautbarten gesetzgeberischen Grundentscheidung, die Vorgaben der RL 2000/78/EG umzusetzen. Ein unionsrechtskonformes Verständnis von § 9 Abs. 2 AGG respektiert diese und setzt sich damit nicht etwa über einen eindeutig erkennbaren entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers hinweg (zu dieser Schranke vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 73).
29
c) Die demnach in unionsrechtskonformer Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG zu stellenden Anforderungen an die Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber den nicht der katholischen Konfession angehörenden Abteilungsärzten der Beklagten in Bezug auf die ihm auferlegte Loyalitätserwartung, den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung zu achten, sind im Streitfall nicht erfüllt.
30
aa) Dies folgt allerdings nicht schon aus den Hinweisen, die der Gerichtshof der Europäischen Union in seine Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen aufgenommen hat. Nach diesen erscheint dem Gerichtshof die Akzeptanz des Eheverständnisses der katholischen Kirche unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgeübten beruflichen Tätigkeiten für die Bekundung des Ethos der Beklagten nicht notwendig und keine wesentliche Voraussetzung der beruflichen Tätigkeit iSv. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG zu sein (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 58). Die vorgenannten Ausführungen des Gerichtshofs entfalten weder nach Unionsrecht noch nach nationalem Recht für den Senat Bindungswirkung. Sie betreffen nicht die abstrakte Auslegung von Unionsrecht, sondern sind einzelfallbezogen und beschränken sich auf die Anwendung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG auf einen Sachverhalt, für dessen Feststellung dem Gerichtshof die Befugnis fehlt. Sie enthalten lediglich Hinweise, mit denen dieser dem Senat „auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens“ und der vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen und mündlichen Erklärungen eine Entscheidung über den Rechtsstreit ermöglichen möchte (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 56).
31
bb) Zugunsten der Beklagten kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei ihr um eine private Organisation handelt, deren Ethos iSv. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG auf religiösen Grundsätzen beruht (vgl. dazu EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 41). Allerdings hat der Senat in seinem Vorabentscheidungsersuchen die Frage aufgeworfen, ob privatrechtlich verfasste Einrichtungen, die sich in marktüblicher Weise im Gesundheitswesen betätigen, vom Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG erfasst werden. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Fragestellung nur dahingehend beantwortet, dass insoweit Erwägungen zur Rechtsnatur und zur Rechtsform der betreffenden Körperschaft ohne Bedeutung sind und die Bezugnahme auf private Organisationen auch nach Privatrecht gegründete Einrichtungen umfasst (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 40). Zur „Marktüblichkeit“ der Betätigung hat sich der Gerichtshof hingegen nicht verhalten. Einer darauf gestützten Nachfrage des Senats bedarf es indes nicht. Die Revision der Beklagten unterliegt auch dann der Zurückweisung, wenn die beruflichen Tätigkeiten der Arbeitnehmer innerhalb ihrer Einrichtungen von § 9 Abs. 2 AGG in unionsrechtskonformer Auslegung erfasst werden.
32
cc) Eine Ungleichbehandlung bei der Anforderung eines loyalen und aufrichtigen Verhaltens im Sinne des Ethos des Arbeitgebers, die sich – wie hier – ausschließlich auf die Konfession der Beschäftigten stützt, hat aufgrund der unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG ua. die in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2000/78/EG genannten Kriterien (vgl. Rn. 19) einzuhalten (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 49). Danach hängt es von der Art der fraglichen Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung ab, ob die Religion oder Weltanschauung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation im Sinne dieser Vorschrift darstellen kann. Dies setzt einen – objektiv bestehenden – direkten Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit voraus. Ein solcher Zusammenhang kann sich entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben – zB wenn sie mit der Mitwirkung an der Bestimmung des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation oder einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden ist – oder aus den Umständen ihrer Ausübung, zB der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 50; vgl. in diesem Sinne auch EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 62 f.).
33
dd) Unter Anwendung dieser Grundsätze liegen die in unionsrechtskonformer Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG zu fordernden Voraussetzungen für eine Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber den nicht der katholischen Konfession angehörenden Abteilungsärzten in Bezug auf die Loyalitätsanforderung, den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung zu achten, nicht vor. Die Achtung des Gebots, keine nach kanonischem Recht ungültige Ehe einzugehen, war für die Bekundung des Ethos der Beklagten keine im Hinblick auf die Art der beruflichen Tätigkeiten des Klägers oder die Umstände ihrer Ausübung wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung. In Bezug auf diesen Teil ihres Ethos war die Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber den nicht der katholischen Kirche angehörigen Abteilungsärzten nicht durch § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt.
34
(1) Dies gilt zunächst mit Blick auf die Art der vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten.
35
(a) Soweit diese die Beratung und medizinische Pflege in einem Krankenhaus sowie die Leitung der medizinischen Abteilung „Innere Medizin“ als Chefarzt zum Gegenstand haben, wirkte der Kläger dadurch weder an der Bestimmung des Ethos der Beklagten mit noch leistete er einen Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag.
36
(b) Der von der Beklagten zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung angeführte Umstand, die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit lasse sich nicht auf die Ausübung des Heilberufs „Arzt“ im rein praktischen Sinne reduzieren, sondern sei untrennbar mit ihrem karitativen Wirken insgesamt und dessen religiöser Dimension verbunden, vermag eine tätigkeitsbezogene Differenzierung ebenfalls nicht zu begründen. Alle Abteilungsärzte sind in diesem Sinne in das karitative Wirken der Beklagten einbezogen.
37
(c) Ihre Behauptung, der Kläger sei ua. im Bereich der internistischen Onkologie tätig gewesen, was ein besonders hohes Maß an Vertrauen zwischen dem behandelnden Arzt und dem Patienten voraussetze, lässt keinen Zusammenhang mit der Wesentlichkeit, also Notwendigkeit einer beruflichen Anforderung erkennen, im Privatleben den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung zu achten. Die Beklagte macht vielmehr auch mit Blick auf die konkrete Tätigkeit des Klägers letztlich allein geltend, diese sei als karitative Tätigkeit Teil des Sendungsauftrags der römisch-katholischen Kirche. Das trifft indes nach ihrem eigenen Vorbringen auf alle im karitativen Dienst der Beklagten am Mitmenschen zu erfüllenden Tätigkeiten zu.
38
(d) Die Auffassung der Beklagten, die ihres Erachtens gegebene Notwendigkeit, vom Kläger die Beachtung der Gebote der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu fordern, werde nicht dadurch infrage gestellt, dass sie vereinzelt gem. Art. 3 Abs. 2 GrO 1993 auch Personen nicht katholischer Konfession auf Stellen mit medizinischer Verantwortung und Leitungsaufgaben beschäftige, übersieht, dass die Abstufung von Loyalitätsanforderungen je nach Konfessionszugehörigkeit der Beschäftigten zwar nach deutschem Verfassungsrecht zulässig sein mag (so ausdrücklich BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 159 ff., BVerfGE 137, 273), unionsrechtlich aber tätigkeitsbezogen gerechtfertigt sein muss. Soweit die Beklagte geltend macht, die fraglichen Stellen „ähnelten“ sich bloß, lässt dies, wie ausgeführt, keinen relevanten Unterschied in Bezug auf die Forderung nach der Beachtung des kanonischen Eheverständnisses durch die Abteilungsärzte erkennen. Es ist auch unerheblich, ob die Beschäftigung von nicht-katholischen Abteilungsärzten eine bloße Reaktion auf die gesellschaftliche Entwicklung der religiösen Pluralisierung und „Entkirchlichung“ darstellt, wie die Beklagte geltend macht. Sie führt zwar weiter aus, es habe für die Integrität der Dienstgemeinschaft und die Vertrauensbasis der Mitarbeiterschaft, der Patienten und ihrer Angehörigen ein signifikant anderes Gewicht, ob in Ausnahmefällen in leitenden Funktionen auch Personen beschäftigt würden, die aus kirchenrechtlichen Gründen von Beginn an nur verminderten Loyalitätspflichten unterliegen, oder ob katholische Mitarbeiter – wie der Kläger – die ihnen obliegenden Verpflichtungen bewusst brächen. Nach den unionsrechtlichen Anforderungen ist aber die „Integrität der Dienstgemeinschaft“ für sich genommen kein eine Ungleichbehandlung bei den Loyalitätsanforderungen allein aufgrund der Konfession der Beschäftigten rechtfertigender Grund. Auch der Verweis der Beklagten auf die – vom Bundesverfassungsgericht aufgehobene – Senatsentscheidung vom 8. September 2011 (- 2 AZR 543/10 – Rn. 37, BAGE 139, 144) greift insofern zu kurz. Der Senat hatte sich dort nicht mit der Frage befasst, ob nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG Loyalitätsanforderungen auch innerhalb derselben (Leitungs-)Funktion allein nach der Konfessionszugehörigkeit der Beschäftigten abgestuft werden dürfen.
39
(2) Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Umständen der Ausübung der beruflichen Tätigkeiten des Klägers.
40
(a) Soweit die Beklagte geltend macht, der Kläger nehme als leitender Mitarbeiter iSd. GrO Repräsentationsfunktionen wahr, die eine besondere Bedeutung für den Bestand und die Entwicklung der Einrichtung sowie die Glaubwürdigkeit der Kirche auch in der außerkirchlichen Öffentlichkeit hätten, vermag dies nicht die Ungleichbehandlung bei den Loyalitätsanforderungen trotz gleich gelagerter (Leitungs-)Tätigkeit allein aufgrund der Konfessionszugehörigkeit zu rechtfertigen.
41
(b) Die von der Beklagten angeführte Vorbild- und Führungsfunktion des Klägers nach innen hinsichtlich der Erfüllung der an ihn selbst sowie die weiteren Mitarbeiter der Beklagten gestellten Loyalitätsanforderungen kann die unterschiedlichen Loyalitätsanforderungen allein aufgrund der Konfessionszugehörigkeit der Beschäftigten ebenfalls nicht begründen. Die Beklagte unternimmt insoweit den Versuch, die Ungleichbehandlung mit der Ungleichbehandlung – den unterschiedlichen Loyalitätsanforderungen je nach Konfessionszugehörigkeit – und nicht nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung zu rechtfertigen. Dies verkennt erneut die unionsrechtlichen Anforderungen an eine solche Ungleichbehandlung allein aufgrund der Konfessionszugehörigkeit.
42
(c) Auch die Behauptung, das Verhalten des Klägers werde von den Mitarbeitern, den Patienten und ihren Angehörigen ihr zugerechnet, stützt die Beklagte allein darauf, dass ihre ethische Glaubwürdigkeit gerade durch ihr Führungspersonal vermittelt werde. Zum Führungspersonal gehören indes ebenso die von ihr beschäftigten nicht-katholischen Abteilungsärzte. Die Argumentation der Beklagten läuft auch insofern darauf hinaus, die Ungleichbehandlung rechtfertige sich allein aus der unterschiedlichen Konfessionszugehörigkeit der Beschäftigten, was indes nach der maßgeblichen Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union einer Rechtfertigung nach der Art der ausgeübten Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung bedarf.
43
(d) Mit dem Hinweis darauf, ihre Mitarbeiter dürften sich berechtigterweise die Frage stellen, warum sie selbst den jeweiligen Loyalitätsanforderungen Folge leisten sollten, wenn ihnen nicht einmal der Kläger als leitender Mitarbeiter Folge leisten müsse, setzt die Beklagte wiederum die Zulässigkeit unterschiedlicher Loyalitätsanforderungen allein aufgrund der Konfessionszugehörigkeit der Mitarbeiter voraus, anstatt sie nach der Art ihrer Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung zu begründen.
44
4. Kein anderes Ergebnis in Bezug auf die Unwirksamkeit der Kündigung vom 30. März 2009 ergäbe sich, wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG deshalb unzulässig wäre, weil ihr der gesetzgeberische Wille entgegenstünde (vgl. Rn. 28). In diesem Fall hätte die Vorschrift wegen des zu ihr im Widerspruch stehenden Unionsrechts als Grundlage für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung in Bezug auf die Loyalitätsanforderungen aufgrund der Religion gänzlich unangewendet zu bleiben (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 71).
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III. Nationales Verfassungsrecht steht weder der unionsrechtskonformen Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG noch einer Unanwendbarkeit der Norm entgegen.
46
1. Allerdings sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterschiedlich abgestufte Anforderungen der Loyalitätsobliegenheiten nach der Konfession des kirchlichen Arbeitnehmers mit ihrer grundlegenden Kategorisierung nach Katholiken (Art. 4 Abs. 1 GrO 1993), Nichtkatholiken (Art. 4 Abs. 2 GrO 1993) und Nichtchristen (Art. 4 Abs. 3 GrO 1993) verfassungsrechtlich ebenso gerechtfertigt wie die arbeitsrechtliche Sanktionierung von Verstößen aufgrund der Konfession einerseits und der leitenden Stellung andererseits (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 159 ff., BVerfGE 137, 273). Es gehört zum von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, dass die Religionsgemeinschaften autonom eine Abstufung der an die Beschäftigten gerichteten Loyalitätsanforderungen vorsehen und insofern auch bei gleich gelagerter Tätigkeit nach der Religion der Mitarbeiter unterscheiden dürfen (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 145, 151, 159 ff., aaO; 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 1 d der Gründe, BVerfGE 70, 138).
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2. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts geht dieses entgegenstehendem nationalen Recht jedoch vor (grundlegend EuGH 15. Juli 1964 – C-6/64 – [Flaminio Costa/E.N.E.L.]). Dies gilt auch im Verhältnis zu nationalem Verfassungsrecht (EuGH 9. März 1978 – C-106/77 – [Simmenthal] Rn. 17 f.; im Grundsatz ebenso BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 115, BVerfGE 142, 123; 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] zu C I 1 b der Gründe, BVerfGE 126, 286). Diesen Anwendungsvorrang erfordert die wirksame Entfaltung des Rechts der Europäischen Union. Er entspricht der Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG, der insoweit ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen enthält (vgl. BVerfG 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] aaO). Hoheitsakte der Europäischen Union und – soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden – auch Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind daher mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen (BVerfG 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – [Europäischer Haftbefehl] Rn. 36, BVerfGE 140, 317; 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08 – [Investitionszulagengesetz] zu B I 1 a der Gründe, BVerfGE 129, 186). Dies gilt auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG nicht nur für Verordnungen, sondern auch für Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV und an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Beschlüsse der Kommission nach Art. 288 Abs. 4 AEUV (früher: Entscheidungen der Kommission nach Art. 249 Abs. 4 EGV; BVerfG 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08 – [Investitionszulagengesetz] aaO). Auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie oder einen Beschluss in deutsches Recht umsetzt, wird nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, soweit das Unionsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern – wie hier – zwingende Vorgaben macht (BVerfG 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08 – [Investitionszulagengesetz] aaO; vgl. auch BVerfG 13. März 2007 – 1 BvF 1/05 – [Emissionshandel] zu C I 1 d der Gründe, BVerfGE 118, 79; 2. März 2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08 – [Vorratsdatenspeicherung] zu B II der Gründe, BVerfGE 125, 260). Dies gilt jedenfalls solange, wie die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt (BVerfG 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08 – [Investitionszulagengesetz] aaO; vgl. auch BVerfG 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – [Europäischer Haftbefehl] Rn. 43, aaO und 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] BVerfGE 73, 339; 7. Juni 2000 – 2 BvL 1/97 – [Bananenmarktordnung] BVerfGE 102, 147; 13. März 2007 – 1 BvF 1/05 – [Emissionshandel] aaO). Das Bundesverfassungsgericht hat insofern seine ursprünglich angenommene generelle Zuständigkeit, den Vollzug von Gemeinschaftsrecht (jetzt: Unionsrecht) in Deutschland am Maßstab der Grundrechte der deutschen Verfassung zu prüfen (vgl. BVerfG 29. Mai 1974 – 2 BvL 52/71 – [Solange I] BVerfGE 37, 271), im Vertrauen auf die entsprechende Aufgabenwahrnehmung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt: Union) zurückgestellt (BVerfG 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C II 1 b aa (4) (a) der Gründe, BVerfGE 123, 267; vgl. BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] zu B II 1 f der Gründe, aaO; bestätigt in BVerfG 7. Juni 2000 – 2 BvL 1/97 – [Bananenmarktordnung] zu B II 2 a der Gründe, aaO).
48
3. Das hier maßgebliche Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist nicht seinerseits in Deutschland unanwendbar. Es beruht weder auf einem Akt ultra vires noch berührt es die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ob diese ihrerseits mit dem Verständnis des Gerichtshofs vom Vorrang des Unionsrechts (dazu zuletzt etwa EuGH 11. Dezember 2018 – C-493/17 – Rn. 19) im Einklang steht, bedarf daher ebenso wenig einer Entscheidung wie die Frage, wie ein Konflikt zwischen dem Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht bei unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf die Gültigkeit von Unionsrecht gegebenenfalls aufzulösen wäre.
49
a) Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die ultra vires ergehen, verletzen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das im Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 143 und 152, BVerfGE 142, 123). Das Unionsrecht bleibt demnach – auch soweit es als autonome (Teilrechts-)Ordnung verstanden wird – von der vertraglichen Ermächtigung abhängig (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 144, aaO). Nur insoweit kann es am Anwendungsvorrang teilhaben (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 146, aaO). Eine entsprechende Prüfung setzt eine hinreichend qualifizierte Kompetenzüberschreitung voraus. Diese muss offensichtlich und für die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten von struktureller Bedeutung sein (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 147, aaO; 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] zu C I 1 c cc (1) der Gründe, BVerfGE 126, 286). Da hinreichend qualifizierte Kompetenzüberschreitungen zugleich die Identität der Verfassung berühren, stellt die Ultra-vires-Kontrolle einen besonderen, an das Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG anknüpfenden Anwendungsfall des allgemeinen Schutzes der Verfassungsidentität durch das Bundesverfassungsgericht dar (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 153, aaO).
50
aa) Ein Akt liegt offensichtlich außerhalb der übertragenen Kompetenzen, wenn sich die Kompetenz – bei Anwendung allgemeiner methodischer Standards – unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen lässt (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 149, BVerfGE 142, 123; vgl. auch BVerfG 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] zu C I 1 c cc (2) und (3) der Gründe, BVerfGE 126, 286). Dieses Verständnis von Offensichtlichkeit folgt aus dem Gebot, die Ultra-vires-Kontrolle zurückhaltend auszuüben (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO unter Verweis auf Rn. 154 ff.). Bezogen auf den Gerichtshof der Europäischen Union folgt es zudem aus der Unterschiedlichkeit der Aufgaben und Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht einerseits und der Gerichtshof andererseits zu erfüllen oder anzuwenden haben (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz hat (BVerfG 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] zu C I 1 c cc (3) der Gründe, aaO). Eine Grenze findet dieser mit der Aufgabenzuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV notwendig verbundene Spielraum erst bei einer offensichtlich schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren und daher objektiv willkürlichen Auslegung der Verträge. Erst wenn der Gerichtshof diese Grenze überschreitet, soll auch sein Handeln nicht mehr durch Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV gedeckt sein und seiner Entscheidung für Deutschland das gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 iVm. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlen (so BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO). Die Annahme einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung setzt allerdings nicht voraus, dass keine unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu dieser Frage vertreten werden (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 150, aaO). Dass Stimmen im Schrifttum, in der Politik oder den Medien einer Maßnahme Unbedenklichkeit attestieren, hindert die Feststellung einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung grundsätzlich nicht. „Offensichtlich“ kann die Kompetenzüberschreitung auch dann sein, wenn sie das Ergebnis einer sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung ist. Insoweit gelten im Rahmen der Ultra-vires–Kontrolle die allgemeinen Grundsätze (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO).
51
bb) Eine strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen kann nur vorliegen, wenn die Kompetenzüberschreitung ein für das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität erhebliches Gewicht besitzt (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 151, BVerfGE 142, 123). Das ist etwa der Fall, wenn sie geeignet ist, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben und so das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen. Davon ist auszugehen, wenn die Inanspruchnahme der Kompetenz durch das Organ, die Einrichtung oder sonstige Stelle der Europäischen Union eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV oder die Inanspruchnahme einer Evolutivklausel erforderte (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO; vgl. EuGH Gutachten 2/94 vom 28. März 1996 [EMRK-Beitritt] Rn. 30), für Deutschland also ein Tätigwerden des Gesetzgebers, sei es nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, sei es nach Maßgabe des Integrationsverantwortungsgesetzes (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO).
52
b) Im Rahmen der sog. Identitätskontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht überdies, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union berührt werden (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 138, BVerfGE 142, 123; 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – [Europäischer Haftbefehl] Rn. 36, 43, BVerfGE 140, 317; 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C I 2 e bb der Gründe, BVerfGE 123, 267).
53
aa) Das betrifft die Wahrung des Menschenwürdekerns der Grundrechte (Art. 1 GG; BVerfG 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – [Europäischer Haftbefehl] Rn. 48, BVerfGE 140, 317) ebenso wie die Grundsätze, die das Demokratie-, Rechts-, Sozial- und Bundesstaatsprinzip iSd. Art. 20 GG prägen (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 138, BVerfGE 142, 123).
54
bb) Mit Blick auf das Demokratieprinzip ist ua. sicherzustellen, dass dem Deutschen Bundestag bei einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 GG eigene Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischem Gewicht verbleiben (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 138, BVerfGE 142, 123; vgl. auch BVerfG 12. Oktober 1993 – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92 – [Maastricht] zu C I der Gründe, BVerfGE 89, 155; 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu B I 3 a aa und C I 3 der Gründe, BVerfGE 123, 267) und dass er in der Lage bleibt, seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrzunehmen (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] aaO mwN). Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt (BVerfG 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C I 3 a cc der Gründe, aaO). Dies gilt ua. für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu solchen wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören auch Fragen des Umgangs mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis sowie Entscheidungen zum Status von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und der Einbeziehung des Transzendenten in das öffentliche Leben, die als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten (BVerfG 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C I 3 a cc und dd der Gründe, aaO). Für die Beurteilung, ob eine verfassungswidrige Entleerung der Aufgaben des Deutschen Bundestags vorliegt, kommt es nicht auf quantitative Relationen, sondern darauf an, dass der Bundesrepublik Deutschland für zentrale Regelungs- und Lebensbereiche substanzielle innerstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben (BVerfG 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C II 1 c der Gründe, aaO).
55
cc) Soweit Maßnahmen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die in den Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus (vgl. BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 137, BVerfGE 142, 123). Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm. Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge. Die Identitätskontrolle verhindert nicht nur, dass der Europäischen Union Hoheitsrechte jenseits des für eine Übertragung offenstehenden Bereichs eingeräumt werden, sondern auch, dass Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union umgesetzt werden, die eine entsprechende Wirkung entfalten und jedenfalls faktisch einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Kompetenzübertragung gleichkämen (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 139 mwN, aaO). Anders als die Ultra-vires–Kontrolle betrifft die Identitätskontrolle nicht die Einhaltung der Reichweite der übertragenen Zuständigkeit. Vielmehr wird die in Rede stehende Maßnahme der Europäischen Union in materieller Hinsicht an der „absoluten Grenze“ der Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG gemessen (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 153 mwN, aaO).
56
4. Die Prüfung, ob Ultra-vires- oder Identitätskontrolle nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben vorliegend einen Ausschluss des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gebieten, obliegt dem erkennenden Senat insofern, als er – bejahendenfalls – erwägen muss, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen (vgl. BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 162, BVerfGE 142, 123; 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – [Europäischer Haftbefehl] Rn. 43, BVerfGE 140, 317; 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C I 2 e bb der Gründe, BVerfGE 123, 267). Die Feststellung der Unanwendbarkeit von Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland hat sich das Bundesverfassungsgericht vorbehalten (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT-Programm] Rn. 155, aaO; 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – [Europäischer Haftbefehl] aaO; 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] aaO). Ein von diesem für denkbar gehaltenes, speziell auf die Ultra-vires- und Identitätskontrolle zugeschnittenes verfassungsgerichtliches Verfahren zur Absicherung der Verpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschreitende oder identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall in Deutschland unangewendet zu lassen (vgl. dazu BVerfG 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] aaO), ist bislang allerdings weder vom deutschen Gesetzgeber geschaffen worden noch hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, dass und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Durchführung eines solchen – nicht normativ ausgestalteten – (Zwischen-)Verfahrens verfassungsrechtlich geboten ist.
57
5. Unter Anwendung der vorstehenden Grundsätze gebieten es weder die Ultra-vires– noch die Identitätskontrolle, das hier maßgebliche Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union bei der Auslegung oder Anwendung von § 9 Abs. 2 AGG unberücksichtigt zu lassen.
58
a) Der Europäische Rat hat mit dem Erlass der RL 2000/78/EG nicht offensichtlich außerhalb der ihm übertragenen Kompetenzen und damit ultra vires gehandelt. Insbesondere ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht verletzt. Ermächtigungsgrundlage für die Richtlinie ist Art. 19 Abs. 1 AEUV (Ex-Art. 13 EGV aF; EUArbR/Mohr 2. Aufl. RL 2000/78/EG Art. 1 Rn. 2; für das Verbot der Altersdiskriminierung BVerfG 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] zu C I 2 b cc der Gründe, BVerfGE 126, 286).
59
b) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bei der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG seine Kompetenz nicht offensichtlich überschritten. Es kann daher dahinstehen, ob diese Überschreitung anderenfalls eine hinreichend weitreichende Kompetenzverschiebung im Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten bewirkt hätte.
60
aa) Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV). Er entscheidet nach Maßgabe der Verträge im Wege der Vorabentscheidung auf Antrag der einzelstaatlichen Gerichte über die Auslegung des Unionsrechts oder über die Gültigkeit der Handlungen der Organe (Art. 19 Abs. 3 Buchst. b EUV). Dies umfasst – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – die Anwendung der spezifisch unionsrechtlich geprägten Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der „Eigenart“ der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen (BVerfG 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] zu C I 1 c cc (3) der Gründe, BVerfGE 126, 286).
61
bb) Die hier in Rede stehende, auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats erfolgte Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG durch den Gerichtshof der Europäischen Union beruht nicht auf einer objektiv willkürlichen Auslegung der Verträge.
62
(1) Der Begriff des „Status“ der Kirchen in Art. 17 AEUV bzw. in der durch den Erwägungsgrund 24 der Richtlinie in Bezug genommenen Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam (Amsterdamer Kirchenerklärung) lässt nicht offensichtlich allein ein Verständnis entsprechend der teilweise in Deutschland vertretenen Auffassung zu, die nationalen Grundsätze zum Kirchenarbeitsrecht müssten bei der Ausgestaltung von Unionsrecht vollständig gewahrt bleiben (so etwa KR/Fischermeier 12. Aufl. Kirchl. ArbN Rn. 8; ders. ZMV-Sonderheft Tagung 2009 S. 7, 10 f.; Richardi ZfA 2008, 31, 49; Mohr/von Fürstenberg BB 2008, 2122, 2124 f.; Schliemann FS Richardi 2007 S. 959 ff.; ders. in Reichold Loyalitätsobliegenheiten im Umbruch S. 73 ff.; Schoenauer KuR 2012, 30, 35; Steinmeyer FS Wank 2014 S. 587, 591; Joussen NZA 2008, 675, 677 ff.; Thüsing in Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Bd. 46, 129, 148; Thüsing/Fink-Jamann/von Hoff ZfA 2009, 153, 178 ff.; offengelassen BAG 25. April 2013 – 2 AZR 579/12 – Rn. 46, BAGE 145, 90; zu möglichen unionsrechtlichen Auslegungsvarianten vgl. auch Reichegger Die Auswirkungen der Richtlinie 2000/78/EG auf das kirchliche Arbeitsrecht unter Berücksichtigung von Gemeinschaftsgrundrechten als Auslegungsmaxime S. 219 ff.). Das demgegenüber vertretene Verständnis des Gerichtshofs, Art. 17 AEUV bringe zwar die Neutralität der Union demgegenüber zum Ausdruck, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, könne jedoch nicht bewirken, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle entzogen würde (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 48; 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 56 bis 58), ist als Ergebnis einer spezifisch unionsrechtlichen Auslegung nachvollziehbar (dem EuGH zustimmend auch Reichold/Beer NZA 2018, 681, 682). Der Gerichtshof hat insbesondere den Umstand gewürdigt, dass der Wortlaut des Art. 17 AEUV im Kern der Amsterdamer Kirchenerklärung entspricht, auf die jedoch im Erwägungsgrund 24 der RL 2000/78/EG bereits Bezug genommen ist, was deutlich mache, dass der Unionsgesetzgeber sie beim Erlass der Richtlinie berücksichtigt haben müsse. Dieses Verständnis hält sich im Rahmen der Gesamtsystematik des europäischen Rechts (Joussen EuZA 2018, 421, 435; Junker NJW 2018, 1850, 1851 f.; Sagan EuZW 2018, 386; kritisch Greiner NZA 2018, 1289, 1291; Klumpp Anm. AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 42; kritisch hinsichtlich der Begründung des EuGH, dem Ergebnis aber zustimmend Classen EuR 2018, 752, 761). Nach dem Erwägungsgrund 24 ist die Rechtsetzung der Mitgliedstaaten in Bezug auf Ungleichbehandlungen wegen der Religion inhaltlichen Beschränkungen unterworfen („spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen …, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können“). Jedenfalls ist die Grenze der objektiven Willkür nicht erreicht (zweifelnd auch Fremuth EuZW 2018, 723, 730). Dass ein anderes Verständnis von Art. 17 AEUV bzw. der Amsterdamer Kirchenerklärung vertretbar erscheinen mag (vgl. etwa Greiner jM 2018, 233, 235; Schuhmann ZAT 2018, 110, 112 f.; Thüsing/Mathy BB 2018, 2805, 2807), genügt ebenso wenig zur Annahme eines Aktes ultra vires wie der Umstand, dass der Gerichtshof seine Entscheidung nicht ausführlicher begründet hat (so auch Heuschmid/Höller AuR 2018, 587, 588; Jacobs RdA 2018, 263, 267; Klocke/Wolters BB 2018, 1460, 1464; Sagan EuZW 2018, 386, 387; zweifelnd Greiner aaO; Schuhmann ZAT 2018, 110, 115; Thüsing/Mathy RIW 2018, 559, 561).
63
(2) Entgegen der Auffassung von Krimphove (ArbRAktuell 2018, 511, 512) ist es – abgesehen davon, ob dies hinreichend offensichtlich wäre – nicht methodisch verfehlt, wenn der Gerichtshof mangels eines einschlägigen Freiheitsrechts auf ein Gleichheitsrecht „zurückgreift“. Der Schutz vor Diskriminierung ist, worauf der Gerichtshof explizit hinweist (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 69; 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 76), mittlerweile auch durch Art. 21 Abs. 1 GRC gewährleistet (nicht durch Art. 17 AEUV, wie Krimphove an anderer Stelle annimmt: ArbRAktuell 2019, 27, 29) und steht insofern gleichrangig neben dem Schutz etwa der Religionsfreiheit gem. Art. 10 Abs. 1 GRC. Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, nach dem die Charta den gleichen Rang wie die Verträge hat, ergab sich der Grundsatz des Verbots einer Diskriminierung wegen der Religion aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 69).
64
(3) Eine objektiv willkürliche Verletzung der Verträge resultiert auch nicht aus der Annahme des Gerichtshofs, Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG entgegenstehendes nationales Recht habe gegebenenfalls unangewendet zu bleiben, selbst wenn es um einen Sachverhalt vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gehe (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 68 ff.). Die Argumentation des Gerichtshofs, vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon folge der Grundsatz des Verbots einer Diskriminierung wegen der Religion aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, habe auch als solcher allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter und verleihe dem Einzelnen ein Recht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen könne, so dass die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet seien, von der Anwendung mit diesem Verbot nicht im Einklang stehender nationaler Vorschriften abzusehen (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 67 bis 69), hält sich ebenfalls im Rahmen der ihm übertragenen Kompetenz (einen Akt ultra vires nehmen insoweit auch Thüsing/Mathy BB 2018, 2805, 2808 nicht an; kritisch Greiner NZA 2018, 1289, 1291 bzgl. der „gemeinsamen Verfassungstraditionen“ vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in Bezug auf eine konfessionsanknüpfende Ungleichbehandlung bei den Loyalitätsobliegenheiten; dagegen wiederum, dem EuGH zustimmend, Stein ZESAR 2018, 277, 281: für die gemeinsamen Verfassungstraditionen sei nicht der „kleinste gemeinsame Nenner“ entscheidend). Sie entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verbot der Diskriminierung wegen des Alters (vgl. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 36 mwN; 19. Januar 2010 – C-555/07 – [Kücükdeveci] Rn. 51; 22. November 2005 – C-144/04 – [Mangold] Rn. 77; Greiner NZA 2018, 1289, 1290; Thüsing/Mathy aaO; Klocke/Wolters BB 2018, 1460, 1464), die ihrerseits nicht ultra vires ergangen ist (BVerfG 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – [Honeywell] Rn. 77 bis 79, BVerfGE 126, 286). Bereits in der Rechtssache Mangold hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, das grundsätzliche Verbot aller nach der Richtlinie verbotenen Formen der Diskriminierung habe, wie sich aus der ersten und der vierten Begründungserwägung der Richtlinie ergebe, seinen Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten (EuGH 22. November 2005 – C-144/04 – [Mangold] Rn. 74). Dies hat zwischenzeitlich eine Bestätigung in Art. 21 Abs. 1 der von allen Mitgliedstaaten beschlossenen Charta der Grundrechte der Europäischen Union gefunden.
65
(4) Es liegt – ungeachtet der Frage, ob dies einen Ausschluss des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zu begründen vermöchte – auch kein Eingriff in die völkerrechtliche Souveränität des Heiligen Stuhls vor, weil der Gerichtshof der Europäischen Union die nationalen Gerichte aufforderte, dem Unionsrecht entgegenstehendes kirchliches Recht nicht mehr anzuwenden (so aber Krimphove ArbRAktuell 2018, 511, 513; anders Krimphove ArbRAktuell 2019, 27, 29). Unangewendet zu bleiben hat gegebenenfalls allein dem Unionsrecht entgegenstehendes nationales, also staatliches (Verfassungs-)Recht (EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – Rn. 71). Die GrO 1993 findet in Rechtsverhältnissen, die staatlichem Arbeitsrecht unterliegen, nicht autonom als Kirchenrecht Anwendung. Sie ist auch nicht Gegenstand eines Konkordats mit dem Heiligen Stuhl. Sie wurde vielmehr von den deutschen (Erz-)Bischöfen verabschiedet, um in Ausübung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts die in Deutschland verfassungsgerichtlich anerkannten Freiräume durch eine eigene kirchenrechtliche Regelung auszufüllen (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 10, BVerfGE 137, 273; vgl. Dütz NJW 1994, 1369; zum in der Bundesrepublik fortgeltenden Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, Reichsgesetzblatt vom 18. September 1933 II S. 679, vgl. BVerfG 26. März 1957 – 2 BvG 1/55 – [Reichskonkordat] BVerfGE 6, 309).
66
c) Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt nicht die in den Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegte Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland.
67
aa) Der Menschenwürdekern der Grundrechte, insbesondere der Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, ist nicht betroffen. Zwar ist das von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV geschützte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften berührt, an dem auch die Beklagte teilhat (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 146, BVerfGE 137, 273). Dem korporativen Gewährleistungsinhalt der Religionsfreiheit kommt indes kein Menschenwürdekern zu (dies außer Acht lassend Thüsing/Mathy BB 2018, 2805, 2808 f.; sowie dies. RIW 2018, 559, 562; zutreffend dagegen Classen EuR 2018, 752, 765; Fremuth EuZW 2018, 723, 730; auch Klocke/Wolters BB 2018, 1460, 1464). Kapitalgesellschaften, Vereine, Personengesellschaften etc. können die „Menschenwürde“ ihrem Wesen nach nicht für sich in Anspruch nehmen (Art. 19 Abs. 3 GG; vgl. zuletzt BVerfG 13. Juli 2018 – 1 BvR 1474/12, 1 BvR 670/13, 1 BvR 57/14 – Rn. 92). Menschenwürde kommt nur natürlichen Personen zu. Auch der Menschenwürdekern der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 GG betrifft allein den Menschen als sittliche Person, der nur mit der Freiheit bestehen kann, sich eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu bilden, sie zu haben oder nicht zu haben (BeckOK GG/Germann Stand 15. November 2018 Art. 4 Rn. 1). Sind juristische Personen betroffen, kann lediglich die Menschenwürde der hinter ihnen stehenden Individuen tangiert sein (BeckOK GG/Hillgruber Stand 15. November 2018 Art. 1 Rn. 6; vgl. Jarass in Jarass/Pieroth GG 14. Aufl. Art. 1 Rn. 7; Höfling in Sachs GG 8. Aufl. Art. 1 Rn. 66; Hofmann in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke GG 14. Aufl. Art. 1 Rn. 10; Robbers in Umbach/Clemens GG Art. 1 Rn. 21; Herdegen in Maunz/Dürig GG Stand November 2018 Art. 1 Abs. 1 Rn. 72). Diese bleibt von der Entscheidung des Gerichtshofs unberührt (ebenso Fremuth EuZW 2018, 723, 730).
68
bb) Das Demokratieprinzip gem. Art. 20 Abs. 1 GG ist ebenfalls nicht berührt.
69
(1) Das Bundesverfassungsgericht hat zum Stand der Integration nach dem Vertrag von Lissabon entschieden, dass das Legitimationsniveau der Europäischen Union im Hinblick auf den Umfang der übertragenen Zuständigkeiten und den erreichten Grad von Verselbstständigung der Entscheidungsverfahren noch den deutschen verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Mit dem Vertrag von Lissabon ist weder die für die Verfassungsorgane unverfügbare verfassungsgebende Gewalt übertragen noch die staatliche Souveränität der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben worden. Dem Deutschen Bundestag sind vielmehr eigene Aufgaben und Zuständigkeiten von hinreichendem Gewicht verblieben (BVerfG 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 ua. – [Lissabon-Vertrag] zu C II 1 der Gründe, BVerfGE 123, 267).
70
(2) Daran ändert die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG durch den Gerichtshof der Europäischen Union nicht in einer solchen Weise etwas, dass der Bundesrepublik Deutschland in Fragen des Umgangs mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis bzw. mit religiösen Gemeinschaften kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung dieses Lebensbereichs mehr verbliebe (vgl. zu Überlegungen in diese Richtung Fremuth EuZW 2018, 723, 730 f.; Schuhmann ZAT 2018, 110, 115). Die Entscheidung des Gerichtshofs wirkt sich zwar auf das Verhältnis der Kirchen und der ihnen zugeordneten Einrichtungen zu den dort beschäftigten Arbeitnehmern aus. Sie knüpft die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen der Religion an tätigkeitsbezogene Voraussetzungen. Nach deutschem Verfassungsverständnis gehört es dagegen zum garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, den Religionsgemeinschaften auch insoweit ein der Kontrolle durch staatliche Gerichte weitgehend entzogenes Recht zuzugestehen, verbindlich selbst unterschiedliche Loyalitätsanforderungen abhängig allein von der Konfessionszugehörigkeit der Beschäftigten zu stellen. Bei den inhaltlichen Anforderungen an Loyalitätspflichten für Arbeitnehmer, die in einer der Kirchen oder der ihnen zugeordneten Einrichtungen beschäftigt werden, und dem dafür geltenden gerichtlichen Prüfungsmaßstab, handelt es sich aber nicht um einen unverzichtbaren Teil der deutschen Verfassungsidentität (ähnlich Heuschmid/Höller AuR 2018, 587, 588; aA wohl Thüsing/Mathy BB 2018, 2805, 2809 sowie dies. RIW 2018, 559, 562), der einer Ausgestaltung durch Unionsrecht vollständig entzogen wäre. Auch nach Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV ist das kirchliche Selbstbestimmungsrecht vielmehr nur innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes garantiert (vgl. auch Roßbruch PflR 2018, 715, 717). Art. 137 Abs. 3 WRV geht als speziellere Norm insoweit Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG vor (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 85, BVerfGE 137, 273; sog. Schrankenspezialität). Zwar ist nach deutschem Verfassungsrecht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern dem Selbstbestimmungsrecht sowie dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften bei dem Ausgleich der gegenläufigen Interessen besonderes Gewicht zuzumessen ist (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – aaO). Der Bundesrepublik Deutschland verbleibt aber nicht etwa allein deshalb kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung ihrer Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften mehr, weil im Falle eines Konflikts mit dem Recht der Arbeitnehmer auf Schutz vor Diskriminierungen unionsrechtlich eine das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen nicht mehr absolut setzende gerichtliche Kontrolle gefordert ist. Die nach deutschem Verfassungsverständnis tragenden Grundsätze des kirchlichen Arbeitsrechts bleiben vielmehr auch unionsrechtlich unangetastet (ebenso Schneedorf NJW 2019, 177, 179) und sind einer Gestaltung durch den deutschen Gesetzgeber damit nicht entzogen. Auch das Unionsrecht erkennt das Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen an, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 50 f.). Die Vorgaben des Gerichtshofs in der Entscheidung vom 11. September 2018 (- C-68/17 -) sind zudem nur dann von Relevanz, wenn eine Kirche oder eine ihr zugeordnete Einrichtung unterschiedliche Loyalitätsanforderungen an Arbeitnehmer mit vergleichbaren (Leitungs-)Tätigkeiten allein aufgrund ihrer Konfession stellt. Die Bundesrepublik Deutschland verfügt in Fragen des Umgangs mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis bzw. mit religiösen Gemeinschaften weiterhin über ausreichenden Raum zur politischen Gestaltung dieses Lebensbereichs, weil die Kirchen bzw. die ihnen zugeordneten Einrichtungen auch nach Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen der Religion gegenüber anderen privaten oder öffentlichen Arbeitgebern privilegiert sind. Jenseits des Bereichs konfligierenden Diskriminierungsschutzes verbleibt den Religionsgemeinschaften auch unionsrechtlich uneingeschränkt das Recht auf Selbstbestimmung und auf Achtung des Status, den sie in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen (der „Status der Kirchen als solcher“ ist nicht betroffen: Sagan EuZW 2018, 386, 387).
71
6. Die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2000/78/EG durch den Gerichtshof der Europäischen Union erfordert keine Abkehr von der „Solange II“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle von Unionsrecht.
72
a) Dies setzte voraus, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Ergehen der „Solange II“-Entscheidung (BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – BVerfGE 73, 339) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken wäre (zum Erfordernis, dies für eine zulässige Vorlage entsprechend Art. 100 Abs. 1 GG darzulegen, vgl. BVerfG 7. Juni 2000 – 2 BvL 1/97 – [Bananenmarktordnung] zu B I und II 2 d der Gründe, BVerfGE 102, 147). Das Bundesverfassungsgericht wird erst und nur dann im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit wieder tätig, wenn der Gerichtshof den Grundrechtsstandard verlassen sollte, den es in der „Solange II“-Entscheidung festgestellt hat (BVerfG 7. Juni 2000 – 2 BvL 1/97 – [Bananenmarktordnung] zu B II 2 b der Gründe, aaO). Ein deckungsgleicher Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen des Grundgesetzes durch das europäische Gemeinschaftsrecht – heute: Unionsrecht – und die darauf fußende Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nicht gefordert (BVerfG 7. Juni 2000 – 2 BvL 1/97 – [Bananenmarktordnung] zu B II 2 c der Gründe, aaO). Den verfassungsrechtlichen Erfordernissen ist entsprechend den in der „Solange II“-Entscheidung genannten Voraussetzungen genügt, wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften (Union) generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Dies ist bereits im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften der Fall gewesen. Es ist ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten ist (BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] zu B II 1 d der Gründe, aaO). Dieser Grundrechtsstandard ist insbesondere auch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der (damals noch) Europäischen Gemeinschaften inhaltlich ausgestaltet worden, gefestigt und zureichend gewährleistet (BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] zu B II 1 d aa der Gründe, aaO). Dies betrifft auch das Grundrecht der Religionsfreiheit (BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] aaO). Dass sich auf der gemeinschaftsrechtlichen – heute: unionsrechtlichen – Ebene unter Umständen andersartige Fragen bei der Regelung von Grundrechten oder der Konkretisierung ihres Schutzbereichs stellen, vermag der Angemessenheit des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes aus der Sicht des Grundgesetzes keinen generellen Abbruch zu tun (BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] zu B II 1 e der Gründe, aaO). Von Grundgesetzes wegen sind auch Regelungen auf der Ebene der Gemeinschaft ermöglicht, die die Grundrechte im Einklang mit den Zielen und besonderen Strukturen der Gemeinschaft wahren; der Wesensgehalt der Grundrechte und zumal der Menschenrechte andererseits ist unabdingbar und muss auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft Bestand haben (BVerfG 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83 – [Solange II] aaO).
73
b) Die europäische Rechtsentwicklung ist aufgrund der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG durch den Gerichtshof der Europäischen Union nicht unter den demnach erforderlichen Grundrechtsstandard gesunken.
74
aa) Die RL 2000/78/EG trägt in der Auslegung des Gerichtshofs sowohl dem Schutz des Grundrechts der Arbeitnehmer, nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, als auch – durch Art. 4 Abs. 2 – dem in Art. 17 AEUV und in Art. 10 GRC – der Art. 9 der EMRK entspricht – anerkannten Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen öffentlichen oder privaten Organisationen Rechnung, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 50). Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG bezweckt die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits dem Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, und andererseits dem Recht der Arbeitnehmer, nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, falls diese Rechte im Widerstreit stehen sollten (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 51).
75
bb) Der Umstand, dass dem Recht der Arbeitnehmer, nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, – anders als nach deutschem Verständnis, das auch insoweit ein der gerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogenes kirchliches Proprium anerkennt (Fremuth EuZW 2018, 723, 728; Menges ZMV 2018, 292) – ein gerichtlich nachprüfbares Gewicht beigemessen wird, führt nicht dazu, dass der Standard eines wirksamen Schutzes der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union grundsätzlich verlassen würde, dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz nicht mehr im Wesentlichen gleich zu achten oder generell nicht auch weiterhin der Wesensgehalt der Grundrechte verbürgt wäre (ebenso Fremuth EuZW 2018, 723, 730). Der Gestaltungsspielraum der Kirchen wird zwar an tätigkeitsbezogene Merkmale geknüpft und daher in gewisser Weise eingeschränkt (Suttorp/Braun KuR 2018, 270, 274), wodurch umgekehrt das Schutzniveau für die Arbeitnehmer steigt (Fremuth EuZW 2018, 723, 730). Es verletzt aber nicht den Kernbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, wenn diesem im Konflikt mit dem unionsrechtlich verbürgten Diskriminierungsschutz nicht generell der Vorrang eingeräumt wird (aA Greiner NZA 2018, 1289, 1291; Thüsing/Mathy BB 2018, 2805, 2808). Die Religionsgemeinschaften bleiben als Grundrechtsträger vielmehr selbst besonders geschützt, sie können unionsrechtlich lediglich keine Privilegierung im Verhältnis zur gerichtlichen Überprüfbarkeit von Diskriminierungen beanspruchen (Joussen EuZA 2018, 421, 430). Sie dürfen ihren Freiraum auch unionsrechtlich nach eigenen Maßstäben ausfüllen, nur nicht verbindlich selbst über die Reichweite dieses Freiraums im Verhältnis zu den grundrechtlich geschützten Belangen Dritter auf Schutz vor Diskriminierung entscheiden (vgl. Stein ZESAR 2018, 277, 281).
76
cc) Die Legitimität des Ethos der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaft haben die staatlichen Gerichte grundsätzlich auch nach Unionsrecht nicht zu beurteilen (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 61, 64; Menges ZMV 2018, 292, 293). Es trifft daher nicht zu, dass eine Beurteilung des jeweiligen Ethos anhand weltlicher Maßstäbe zu erfolgen hätte (so aber wohl Thüsing/Mathy BB 2018, 2805, 2808; dies. RIW 2018, 559, 562; zutreffend dagegen Schneedorf NJW 2019, 177, 179) bzw. staatliche Gerichte das kirchliche Ethos zu beurteilen hätten. Es bleibt vielmehr die alleinige Angelegenheit der jeweiligen Religionsgesellschaft festzulegen, wie die jeweilige Glaubenslehre zu interpretieren ist und welcher Angebote und Dienste es zur Verwirklichung dieser Glaubenslehre bedarf sowie in welcher Organisationsform die konkrete Umsetzung erfolgt (zutreffend Schneedorf aaO). Bedienen sich kirchliche Einrichtungen – wie insbesondere in Diakonie und Caritas – für die Ausgestaltung ihrer Beschäftigungsverhältnisse des staatlichen Rechts, führt dies auch unionsrechtlich nicht etwa automatisch zu einer Nichtanwendbarkeit der Grundsätze des kirchlichen Arbeitsrechts (Schneedorf aaO). Es hat lediglich ein Ausgleich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts mit dem Recht der Arbeitnehmer stattzufinden, vor Diskriminierung geschützt zu werden. Ein mit dem Grundgesetz deckungsgleicher Schutz in den einzelnen Grundrechtsbereichen ist dagegen nicht erforderlich (vgl. BVerfG 7. Juni 2000 – 2 BvL 1/97 – [Bananenmarktordnung] zu B II 2 c der Gründe, BVerfGE 102, 147). Deshalb kann ein Ausschluss des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts entgegen der Auffassung von Thüsing/Mathy (RIW 2018, 559, 562) auch nicht allein damit begründet werden, die Religionsfreiheit sei „im umfassenden Sinne“ zu schützen. Wäre dies der Fall, müsste eine Ausgestaltung des Schutzes vor Benachteiligungen wegen der Religion im Bereich der Kirche und der ihr zugeordneten Einrichtungen im gesamten Bereich der Europäischen Union trotz der in Art. 4 RL 2000/78/EG enthaltenen Vorgaben unterbleiben.
77
IV. Der Senat konnte nicht offenlassen, ob die in unionsrechtskonformer Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG geltenden Voraussetzungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen der Religion (vgl. Rn. 32) in Bezug auf die Anforderung, den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung zu achten, erfüllt sind. Bliebe das Recht des Klägers auf Schutz vor Diskriminierung nach der vorgenannten Vorschrift außer Betracht, wäre die Revision der Beklagten begründet. Das Berufungsurteil wäre aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Es bedürfte ergänzender Feststellungen zu den nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) bei der Interessenabwägung auf Seiten des Klägers zu beachtenden Umständen (ebenso schon der Aussetzungsbeschluss des Senats vom 28. Juli 2016 – 2 AZR 746/14 [B] – Rn. 2 ff.).
78
1. Der Kläger hätte gegen eine Loyalitätsanforderung verstoßen, die ihm nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zulässigerweise auferlegt war und an die er sich freiwillig durch den Abschluss des Arbeitsvertrags mit der Beklagten gebunden hatte. Dies wöge bei ihm als iSd. § 5 Abs. 3 GrO 1993 leitendem Mitarbeiter nach dem zu beachtenden Selbstbestimmungsrecht der römisch-katholischen Kirche besonders schwer. Es handelte sich nicht um ein bloß einmaliges – überwundenes – Fehlverhalten, sondern die Beklagte wäre bei einer Weiterbeschäftigung des Klägers voraussichtlich dauerhaft mit seinem illoyalen Verhalten, dem Leben in einer kirchlich ungültigen Ehe, konfrontiert gewesen (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 182,BVerfGE 137, 273). Demgegenüber könnte allein die Dauer der Beschäftigung des Klägers bei der Beklagten von gut neun Jahren im Zeitpunkt der Kündigung keine Interessenabwägung zu seinen Gunsten rechtfertigen. Es sind bislang auch keine Umstände festgestellt, aufgrund derer das Lebensalter des Klägers bereits eine besondere Schutzbedürftigkeit begründet hätte. Dies gilt auch für die Beurteilung seiner Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt.
79
2. Soweit der Kläger die Vertragsgestaltung hinsichtlich der Geltung der in der GrO 1993 bestimmten Loyalitätsanforderungen für unklar hält, vermöchte dies nicht zu einer abweichenden Beurteilung zu führen. Ungeachtet der Frage, welche Rechtsfolge sich daraus ergäbe, liegt keine „unklare“ Vertragsgestaltung vor.
80
a) Der Kläger macht nicht geltend, die Unklarheit ergebe sich aus seinem Dienstvertrag selbst. Dafür gibt es auch objektiv keine Anhaltspunkte.
81
b) Soweit er darauf abstellt, die Unklarheit folge daraus, dass die Beklagte vom Wortlaut her identische Chefarztverträge ebenso mit evangelischen Chefärzten abgeschlossen, diesen aber im Falle einer Wiederheirat nicht gekündigt habe, sind zum einen zum Inhalt anderer Chefarztverträge keine Feststellungen getroffen. Eine zulässige Verfahrens(gegen-)rüge hat der Kläger nicht erhoben. Zum anderen bleibt sein Vorbringen auch im Revisionsverfahren unsubstanziiert. Es ist – bis auf den Fall des schon bei seiner Einstellung durch die Beklagte zum zweiten Mal verheirateten Dr. H – weder dargelegt, um die Verträge welcher Chefärzte es sich handeln soll, noch behauptet, er, der Kläger, habe bereits bei seinem eigenen Vertragsschluss Kenntnis vom Inhalt der fraglichen Verträge und ihrer praktischen Handhabung in anderen Fällen gehabt. Im Übrigen wäre bei identischem Vertragswortlaut auch jeweils die GrO 1993 in Bezug genommen, die für den Loyalitätsverstoß durch Wiederverheiratung gerade zwischen katholischen und nicht-katholischen Mitarbeitern unterscheidet.
82
3. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wie ihn das Landesarbeitsgericht zugunsten des Klägers bei der Interessenabwägung berücksichtigt hat, läge ebenfalls nicht vor. Die Beklagte durfte – § 9 Abs. 2 AGG in unionsrechtskonformer Auslegung ausgeklammert – an Katholiken auch bei gleich gelagerter (Leitungs-)Tätigkeit nach deutschem Verfassungsrecht weiter gehende Loyalitätsanforderungen als an Angehörige anderer Konfessionen oder konfessionslose Arbeitnehmer stellen. Ebenso durfte sie das Leben in einer nach kirchlichem Recht ungültigen Ehe als gegenüber dem Zusammenleben in nichtehelicher Gemeinschaft schwerer wiegenden Verstoß werten (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 172 ff., BVerfGE 137, 273) und musste daher nicht schon das eheähnliche Zusammenleben des Klägers mit seiner künftigen zweiten Ehefrau zum Anlass für eine Kündigung seines Arbeitsverhältnisses nehmen. Es sind auch keine Umstände festgestellt oder objektiv ersichtlich, aus denen sich ergäbe, die Beklagte hätte ihr Kündigungsrecht dadurch verwirkt, dass sie die Kündigung erst im März 2009 erklärte, obwohl sie bereits im November 2008 Kenntnis von der zweiten Eheschließung des Klägers erlangte. Das gilt sowohl für das Zeit- als auch für das Umstandsmoment. Die Beklagte musste nicht nur das in der GrO 1993 vorgeschriebene beratende Gespräch mit dem Kläger führen, sondern auch den Aufsichtsrat beteiligen und eine Stellungnahme des Generalvikars einholen. Angesichts der – auch für die Beklagte und das Krankenhaus – weitreichenden Folgen des Kündigungsentschlusses ist es nicht zu beanstanden, dass sie dabei umsichtig und ohne Hast vorging (so bereits BAG 8. September 2011 – 2 AZR 543/10 – Rn. 13, BAGE 139, 144).
83
4. Der Senat könnte die erforderliche Bewertung der nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bei der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu beachtenden Interessen des Klägers auf der Basis der bisherigen Feststellungen nicht selbst vornehmen. Dafür bedürfte es weiterer Sachaufklärung.
84
a) Dies gilt zunächst für die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Bewertung, ob die Rechtspositionen des Klägers und seiner zweiten Ehefrau aus Art. 6 Abs. 1 GG und den Wertungen aus Art. 8 Abs. 1 sowie Art. 12 EMRK in einem Maße tangiert sind, das es rechtfertigen würde, den Interessen des Klägers den Vorrang vor den Interessen der Beklagten einzuräumen (vgl. dazu BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 180, BVerfGE 137, 273).
85
aa) Soweit der Kläger im Personalgespräch am 25. November 2008 mitgeteilt haben soll, mit Rücksicht auf seine beiden Kinder von einer kirchlichen Annullierung der ersten Ehe abgesehen zu haben, bevor er standesamtlich die zweite Ehe geschlossen habe, wäre dies nicht geeignet, besondere Interessen an seiner Wiederheirat zu begründen. Nach dem kirchlichen Selbstverständnis wäre es – solange die Annullierung nicht feststeht – vielmehr unerheblich, ob diese bereits beantragt war oder aus welchen Gründen zunächst nicht. Zudem ist weder vom Kläger dargelegt noch objektiv ersichtlich, dass die kirchenrechtlichen Voraussetzungen für eine Annullierung seiner ersten Ehe gegeben gewesen wären.
86
bb) Dass die Schließung der zweiten Ehe nach dem Vorbringen des Klägers möglicherweise kein öffentliches Ärgernis ausgelöst hat, wäre nach der hier noch maßgeblichen GrO 1993 für die kündigungsrechtliche Sanktion eines leitenden Mitarbeiters ebenfalls unerheblich.
87
cc) Soweit der Kläger behauptet hat, er sei von seiner ersten Ehefrau böswillig verlassen worden, ist zwar nicht ausgeschlossen, dass dies – gegebenenfalls unter Berücksichtigung weiterer Umstände – für ein besonderes Interesse am Eingehen einer zweiten Ehe sprach. Ein solcher Sachverhalt ist aber bislang ebenfalls nicht festgestellt.
88
dd) Soweit das Landesarbeitsgericht ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen hat, könnten sich zwar auch aus dem damit in Bezug genommenen Vorbringen besondere Interessen des Klägers an der zweiten Eheschließung ergeben haben. Indes fehlt es auch insoweit bislang an Feststellungen.
89
b) Ebenfalls an ausreichenden Feststellungen mangelt es mit Blick auf die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts etwaig nach dem Gedanken des Vertrauensschutzes zugunsten des Klägers zu berücksichtigenden Umstände.
90
aa) Das Bundesverfassungsgericht hat im Streitfall die Berücksichtigung des Gedankens des Vertrauensschutzes in Bezug darauf für möglich gehalten, dass § 10 Abs. 4 Nr. 2 des Dienstvertrags in Abweichung von der GrO 1993 unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich von Verstößen gegen kirchliche Grundsätze – Verstoß gegen das Verbot des Lebens in kirchlich ungültiger Ehe einerseits und Verstoß gegen das Verbot des Lebens in nichtehelicher Gemeinschaft andererseits – nicht vorsehe und die individualvertragliche Abrede besonderes Vertrauen des Klägers ausgelöst haben könnte (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 181, BVerfGE 137, 273).
91
bb) Es ist jedoch nicht festgestellt, dass der Kläger Kenntnis davon gehabt hätte, zur Kündigung berechtigte Vertreter der Beklagten hätten von dem eheähnlichen Zusammenleben mit seiner späteren zweiten Ehefrau gewusst. Dies wäre Voraussetzung dafür, dass sich bei ihm ein schützenswertes Vertrauen dahingehend hätte bilden können, die Beklagte werde einen solchen Verstoß gegen die Loyalitätsanforderungen und – wegen der gleichgeordneten Aufzählung beider Verstöße als Kündigungsgründe im Arbeitsvertrag – möglicherweise auch eine Wiederheirat nicht zum Anlass für eine Kündigung nehmen. Soweit der Kläger erstmalig im Revisionsverfahren behauptet, ihm sei bekannt gewesen, dass der Geschäftsführung der Beklagten Anhaltspunkte dafür vorlagen, er sei eine nichteheähnliche Lebensgemeinschaft eingegangen, hat die Beklagte diesen – zudem substanzlosen – Vortrag ausdrücklich bestritten.
92
cc) Die tatrichterliche Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Beklagte habe jedenfalls „seit Herbst 2006 von der nichteheähnlichen Lebensgemeinschaft mit der neuen Lebensgefährtin des Klägers Kenntnis“ gehabt, wird im Übrigen nicht vom wiedergegebenen Ergebnis der Beweisaufnahme getragen. Die diesbezüglich von der Beklagten erhobene Rüge einer Verletzung von § 286 Abs. 1 ZPO wäre begründet. Das Berufungsgericht hat die Kenntnis der Beklagten aus der Aussage eines der ehemaligen Geschäftsführer geschlossen, er sei gegen Ende seiner Dienstzeit von dem weiteren Geschäftsführer „über das Gerücht informiert worden, dass der Kläger eine neue Lebensgefährtin habe“. Dies ist logisch nicht nachvollziehbar. Wer ein Gerücht kennt, weiß deshalb noch nicht, dass die mit ihm verbreiteten Tatsachen wahr sind. Das Landesarbeitsgericht hat seine Schlussfolgerung auch nicht mit weiteren Indizien begründet. Soweit es auf die Angabe des Zeugen verwiesen hat, man habe sich entschlossen gehabt, „diesen Gerüchten nachzugehen, was letztlich dann wohl doch unterblieben sei“, ergibt sich auch daraus nicht, die Beklagte müsse positive Kenntnis von den tatsächlichen Umständen eines eheähnlichen Zusammenlebens des Klägers mit seiner Lebensgefährtin gehabt haben.
93
V. Der Weiterbeschäftigungsantrag fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an. Er ist auf eine Beschäftigung für die Dauer des Kündigungsrechtsstreits gerichtet. Dieser ist mit der Entscheidung des Senats rechtskräftig abgeschlossen.
94
VI. Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.
Koch
Schlünder
Rachor
B. Schipp
Talkenberg |
bag_11-18 | 22.02.2018 | 22.02.2018
11/18 - Annahmeverzugsvergütung als Neumasseverbindlichkeit wegen fehlender bzw. unwirksamer Kündigung des Arbeitsverhältnisses
Kündigt der Insolvenzverwalter in einer masseunzulänglichen Insolvenz das Arbeitsverhältnis rechtzeitig, dh. spätestens zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit, gelten Annahmeverzugsansprüche, die im Fall der Unwirksamkeit der Kündigung für die Zeit nach diesem Termin entstehen, gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2, § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten.
Die Klägerin war seit 1996 bei dem Schuldner, der bundesweit zahlreiche Drogeriegeschäfte betrieb, zuletzt als Filialleiterin mit einem Entgelt von 2.680,60 Euro brutto beschäftigt. Am 28. März 2012 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 31. August 2012 zeigte dieser die drohende Masseunzulänglichkeit an. Bereits zuvor war das Arbeitsverhältnis vom Beklagten am 28. März zum 30. Juni 2012 sowie am 23. August zum 30. November 2012 gekündigt worden. Diese Kündigungen wurden durch arbeitsgerichtliche Urteile, die nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ergingen, rechtskräftig für unwirksam erklärt. Nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hätte das Arbeitsverhältnis rechtswirksam frühestens zum 31. Dezember 2012 gekündigt werden können. Das Arbeitsverhältnis endete tatsächlich erst nach einer weiteren Kündigung des Beklagten vom 16. Mai 2013 durch einen arbeitsgerichtlichen Vergleich mit dem 31. August 2013. Die Klägerin begehrt die Zahlung der Annahmeverzugsvergütung für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 2013. Sie hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei verpflichtet gewesen, das Arbeitsverhältnis nach der Anzeige durch eine weitere, spätestens zum 31. Dezember 2012 wirkende Kündigung zu beenden. Weil er eine solche Kündigung unterlassen habe, seien die eingeklagten Entgeltansprüche Neumasseverbindlichkeiten.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision des Beklagten hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO legt den Termin fest, bis zu dem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis spätestens beendet haben muss, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. Dafür ist nicht zwingend erforderlich, dass er nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigt. Er kann auch an einer bereits zuvor erklärten Kündigung festhalten, die das Arbeitsverhältnis im Falle ihrer Wirksamkeit spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorgegebenen Termin beendet. Er trägt dann jedoch das Risiko, dass sich diese Kündigung als unwirksam erweist und folglich Neumasseverbindlichkeiten begründet werden. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter erstmals nach der Anzeige rechtzeitig kündigt und diese Kündigung unwirksam ist.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Februar 2018 – 6 AZR 868/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. Juli 2016 – 6 Sa 23/16 –
Der Sechste Senat hat im Parallelverfahren – 6 AZR 95/17 – die Revision des Beklagten ebenfalls zurückgewiesen. | Tenor
1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Juli 2016 – 6 Sa 23/16 – wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Erweist sich eine Kündigung, die das Arbeitsverhältnis spätestens zum ersten Termin beenden würde, zu dem der Verwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, als rechtsunwirksam, gelten die Ansprüche aus Annahmeverzug für die Zeit nach diesem Termin gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die insolvenzrechtliche Einordnung von Annahmeverzugsansprüchen.
2
Die Klägerin war seit 1996 bei dem späteren Schuldner, der bundesweit zahlreiche Drogeriegeschäfte betrieb, zuletzt als Filialleiterin zu einem Bruttomonatsentgelt von 2.680,60 Euro beschäftigt. Über das Vermögen des Schuldners wurde am 28. März 2012 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser stellte die Klägerin spätestens am 1. Juli 2012 von der Arbeitsleistung frei.
3
Der Beklagte zeigte am 31. August 2012 die drohende Masseunzulänglichkeit an. Bereits zuvor hatte er das Arbeitsverhältnis der Klägerin ordentlich mit Schreiben vom 28. März zum 30. Juni 2012 und ein weiteres Mal mit Schreiben vom 23. August zum 30. November 2012 gekündigt. Diese Kündigungen wurden ebenso wie eine noch vom Schuldner erklärte Kündigung vom 25. November 2011 zum 31. Mai 2012 rechtskräftig für unwirksam erklärt. Die Rechtskraft der die Kündigungen vom 28. März und 23. August 2012 betreffenden Urteile trat nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ein. Das Arbeitsverhältnis endete am 31. August 2013 nach einer weiteren, am 16. Mai zum 31. August 2013 erklärten Kündigung des Beklagten aufgrund eines im dagegen angestrengten Kündigungsschutzprozess geschlossenen Vergleichs.
4
Mit ihrer am 1. Juni 2015 erhobenen Klage verlangt die Klägerin Vergütung wegen Annahmeverzugs für die Zeit vom 1. Januar bis 31. August 2013 abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds in rechnerisch unstreitiger Höhe.
5
Sie hat die Ansicht vertreten, der Beklagte sei rechtlich nicht gehindert gewesen, nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit bis Mitte September 2012 die formalen Voraussetzungen für eine wirksame Kündigung, die zum 31. Dezember 2012 hätte erklärt werden können, herbeizuführen. Er habe diese Möglichkeit versäumt, so dass die vom 1. Januar 2013 an bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstandenen Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO seien.
6
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 21.444,80 Euro brutto abzüglich auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangener Ansprüche iHv. 8.620,80 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
7
Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags geltend gemacht, § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO zwinge den Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten nur, ein zum erstmöglichen Termin nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige noch nicht gekündigtes Arbeitsverhältnis zu diesem Termin zu kündigen. Eine rechtzeitige Kündigung könne bereits vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit erfolgen. Es bestehe dann kein ungekündigtes Arbeitsverhältnis mehr. Auf die Wirksamkeit dieser Kündigung könne sich der Insolvenzverwalter verlassen.
8
Die Vorinstanzen haben der Zahlungsklage stattgegeben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Beklagte unter Vertiefung seiner rechtlichen Argumentation weiterhin Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
9
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben mit Recht angenommen, dass die geltend gemachten Annahmeverzugsansprüche als Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO zu berichtigen sind.
10
I. Die Klage ist zulässig. Ihr liegt die Annahme zugrunde, die streitbefangenen Ansprüche seien Neumasseverbindlichkeiten iSv. §§ 53, 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO, die nicht den Vollstreckungsverboten des § 210 InsO und des § 123 Abs. 3 Satz 2 InsO unterfallen. Ergibt die rechtliche Prüfung, dass die erhobene Forderung tatsächlich im Rang einer Altmasseverbindlichkeit steht, ist die Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet (zuletzt BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 13 mwN, BAGE 158, 376). Auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis besteht. Der Beklagte hat den Einwand der Neumasseunzulänglichkeit, bei dem auch die Neumassegläubiger ihre Ansprüche nur noch im Weg der Feststellungsklage verfolgen können, nicht erhoben (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – aaO).
11
II. Die Klage ist begründet. Die streitbefangenen, rechnerisch unstreitigen Ansprüche auf Zahlung des Entgelts vom 1. Januar bis 31. August 2013 aus §§ 611, 615 BGB sind für die Zeit nach dem 31. Dezember 2012 als dem ersten Termin, zu dem der Beklagte nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, entstanden. Sie sind daher so zu behandeln, als wären sie vom Beklagten nach der Anzeige neu begründet worden. Unerheblich ist, dass der Beklagte mit den Kündigungen vom 28. März und 23. August 2012 vergeblich versucht hat, das Arbeitsverhältnis vor dem Ablauf des 31. Dezember 2012 zu beenden. Diese Kündigungen waren zwar rechtzeitig iSv. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO erklärt. Gleichwohl gelten die Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach diesem Termin bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstanden sind, gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO, weil die Kündigungen unwirksam waren.
12
1. Ungeachtet der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hat der Insolvenzverwalter gemäß § 208 Abs. 3 InsO die noch vorhandene Masse weiter zu verwalten und zu verwerten. Er muss darum die Möglichkeit haben, Ansprüche von Gläubigern, deren Leistung für die Fortführung des Verfahrens unerlässlich ist, auch dann in vollem Umfang zu erfüllen, wenn diese Ansprüche von ihm erst nach der Anzeige begründet worden sind. Anderenfalls würden diese Geschäfte nicht zustande kommen. Die Masse dient darum nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit vorrangig der Befriedigung der vom Insolvenzverwalter eingegangenen neuen Verbindlichkeiten (MüKoInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 209 Rn. 3), die er benötigt, um die Masse weiter zu verwalten. Darum hat sich der Gesetzgeber für die Einführung einer in Alt- und Neumasseverbindlichkeit „gespaltenen“ Rangordnung entschieden (KPB/Pape InsO Stand März 2004 § 209 Rn. 3a; MüKoInsO/Hefermehl aaO). Die Anzeige führt danach zu einer Neuordnung der insolvenzrechtlichen Rangfolge der Masseverbindlichkeiten. Die bereits vor der Anzeige begründeten, „drängenden“ Masseverbindlichkeiten werden auf den Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO zurückgestuft. Dem Verwalter wird so der Handlungsspielraum gegeben, den er benötigt, um die Verwertung auch bei Masseunzulänglichkeit zum Abschluss zu bringen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 23, 37, BAGE 158, 376).
13
2. Nach der Grundregel des § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO sind Neumasseverbindlichkeiten die Verbindlichkeiten, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet worden sind, aber nicht zu den Kosten des Verfahrens gehören. Es handelt sich dabei um Ansprüche, die dem Verwalter nicht aufgezwungen (oktroyiert) worden sind (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 37, BAGE 158, 376), sondern die die Fortführung der Verwaltung der Masse mit sich bringt und zu denen sich der Verwalter deshalb noch nach der Anzeige „bekannt“ hat (vgl. Windel in Jaeger InsO § 209 Rn. 34; HK-InsO/Landfermann 8. Aufl. § 209 Rn. 16). Für Dauerschuldverhältnisse wie das Arbeitsverhältnis, bei denen keine Erfüllungswahl nach § 103 InsO möglich ist, sondern die nach § 108 InsO zu Lasten der Masse fortbestehen und die zu ihrer Beendigung einer Kündigung bedürfen, präzisieren und konkretisieren § 209 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 InsO die Abgrenzung zwischen Alt- und Neumasseverbindlichkeiten (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 220; Windel aaO Rn. 35): Leistet der Gläubiger zur Neumasse, weil der Insolvenzverwalter ihn zur Leistung herangezogen hat, sind die dadurch entstandenen, vom Insolvenzverwalter begründeten Entgeltansprüche Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO. Unterbleibt die Gegenleistung, zB weil ein Arbeitnehmer vom Insolvenzverwalter freigestellt worden ist, bestimmt § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO, welche Verbindlichkeiten aus dem ohne Gegenleistung fortbestehenden Dauerschuldverhältnis im Rang einer Altmasseverbindlichkeit und welche im Rang einer Neumasseverbindlichkeit stehen. Aus dem Dauerschuldverhältnis entstehende Verbindlichkeiten sollen nach dem Willen des Gesetzgebers den vom Insolvenzverwalter nach der Anzeige neu begründeten Verbindlichkeiten nur und so lange gleichstehen, wie er das Dauerschuldverhältnis trotz der erkannten und angezeigten Masseunzulänglichkeit aufrechterhält. Ist wie vorliegend im Arbeitsverhältnis monatliche Entgeltzahlung vereinbart und kündigt der Insolvenzverwalter rechtzeitig, dh. zum ersten Termin, zu dem er nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit „kündigen konnte“, ist das Entgelt für die Monate bis zum Ablauf der Kündigungsfrist Altmasseverbindlichkeit. Kündigt er nicht rechtzeitig, sind die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten. Der Insolvenzverwalter hat die rechtliche Möglichkeit nicht genutzt, durch eine rechtzeitige Kündigung diese Ansprüche zu verhindern. Sie sind deshalb wie von ihm neu begründete Ansprüche zu behandeln (BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 12, BAGE 118, 222; 21. Juli 2005 – 6 AZR 592/04 – zu II 2 b der Gründe, BAGE 115, 225; BT-Drs. 12/2443 S. 220).
14
3. Die Revision nimmt im Ausgangspunkt zutreffend an, dass nach diesen Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO (zu dieser Begrifflichkeit Windel in Jaeger InsO § 209 Rn. 50) der Insolvenzverwalter nicht gezwungen ist, zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten stets auch dann nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit noch eine weitere (vorsorgliche) Kündigung zum erstmöglichen Kündigungstermin zu erklären, wenn er oder der Schuldner das Arbeitsverhältnis bereits vor der Anzeige zum selben oder einem früheren Beendigungszeitpunkt gekündigt hat (vorzeitige Kündigung). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die frühere Kündigung bereits rechtskräftig für wirksam erklärt worden ist, ob die Frist des § 4 KSchG bereits verstrichen ist oder ob kein Bestandsschutz besteht. In den letztgenannten Fällen wird der Insolvenzverwalter allerdings schon im Interesse der Masseschonung idR von einer erneuten Kündigung absehen müssen. Auch wenn wie hier materieller Kündigungsschutz nach § 1 KSchG oder formeller Bestandsschutz, etwa nach § 102 BetrVG oder § 168 SGB IX, besteht und ein Kündigungsschutzprozess noch möglich oder bereits rechtshängig ist, kann der Insolvenzverwalter von einer weiteren Kündigung absehen, wenn er davon ausgeht, die bereits erklärte Kündigung werde das Arbeitsverhältnis zum selben oder einem früheren Zeitpunkt beenden, als es eine nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erstmögliche Kündigung könnte.
15
4. Die Revision berücksichtigt jedoch nicht, dass der Insolvenzverwalter bei einem solchen Vorgehen das Risiko trägt, dass die vorzeitige Kündigung unwirksam ist. Dann sind die Annahmeverzugsansprüche, die nach Ablauf der Kündigungsfrist der erstmöglichen Kündigung entstanden sind, die nach der Anzeige hätte erklärt werden können, Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO. Dieses Risiko hat sich vorliegend verwirklicht.
16
a) § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO legt nur den Termin fest, bis zu dem das Arbeitsverhältnis spätestens beendet worden sein muss, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. Dieser Termin berechnet sich nach dem fiktiven Ablauf der Frist der erstmöglichen Kündigung nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit. Nach dieser gesetzlichen Ausgestaltung ist es nicht zwingend erforderlich, dass der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigt. Ist bereits eine wirksame vorzeitige Kündigung erklärt worden, kommen die Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO nicht zum Tragen, weil diese Kündigung das Arbeitsverhältnis spätestens zum Zeitpunkt des fiktiven Ablaufs der Kündigungsfrist einer rechtzeitig nach der Anzeige erklärten Kündigung beendet. Der Anwendungsbereich des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist in dieser Konstellation nicht eröffnet. Die bis zum fiktiven Ablauf der Kündigungsfrist entstehenden Annahmeverzugsansprüche sind nach der Verteilungsordnung des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO Altmasseverbindlichkeiten (vgl. ohne weitere Problematisierung für den Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubsentgelt BAG 15. Juni 2004 – 9 AZR 431/03 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 111, 80; für die Kündigung eines gewerblichen Mietverhältnisses BGH 3. April 2003 – IX ZR 101/02 – zu III 1 c der Gründe, BGHZ 154, 358). Gleiches gilt, wenn ein befristetes Arbeitsverhältnis vor oder mit dem Zeitpunkt des fiktiven Ablaufs der Kündigungsfrist ausläuft. Der Insolvenzverwalter ist durch § 90 Abs. 2 Nr. 2 InsO bzw. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur gehalten, Dauerschuldverhältnisse, die bereits vor der Eröffnung bzw. Anzeige der Masseunzulänglichkeit gekündigt worden sind, ein weiteres Mal zu kündigen, wenn dies wegen der kurzen Kündigungsfrist des § 113 InsO eine frühere Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Folge hat (vgl. Breitenbücher in Graf-Schlicker InsO 4. Aufl. § 90 Rn. 2).
17
b) Ist die vorzeitige Kündigung dagegen unwirksam, sind nach den Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach dem Termin entstehen, zu dem das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit frühestmöglich hätte beendet werden können, Neumasseverbindlichkeiten. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter erstmals nach der Anzeige rechtzeitig kündigt und diese Kündigung unwirksam ist. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO fingiert für Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach dem ersten Termin entstehen, zu dem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit „kündigen konnte“, den Rang einer Neumasseverbindlichkeit. Aus dieser gesetzlichen Formulierung folgt, dass der Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten Dauerschuldverhältnisse, die er für die weitere Verwertung und Verwaltung der Masse nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht mehr benötigt, frühestmöglich beenden muss (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (1) der Gründe). Zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten genügt es darum nicht, dass eine Kündigung zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erklärt wird. Die Kündigung muss auch wirksam sein. Das Arbeitsverhältnis muss spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegten Termin tatsächlich beendet sein (Ries NZI 2002, 521, 523; Ries/Berscheid ZInsO 2008, 1233, 1238 f.; Uhlenbruck/Ries 14. Aufl. § 209 InsO Rn. 24, 32).
18
aa) Der Gesetzgeber hat bereits dadurch, dass er eine Kündigung verlangt, sobald der Insolvenzverwalter kündigen „kann“, deutlich gemacht, dass Neumasseverbindlichkeiten nur ausgeschlossen sind, wenn das Dauerschuldverhältnis spätestens zum ersten Termin, zu dem der Insolvenzverwalter nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige kündigen konnte, rechtswirksam beendet worden ist.
19
(1) Mit dem Begriff des „Könnens“ stellt § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO auf das rechtliche Können ab (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (2) der Gründe). Der Insolvenzverwalter darf – und muss – deshalb zunächst die formellen Voraussetzungen für die Kündigungserklärung schaffen. Vorher „kann“ er nicht kündigen. Insbesondere darf er rechtliche Hindernisse, die wie das Erfordernis der Anhörung des Betriebsrats (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – aaO) oder eine erforderliche behördliche Zustimmung (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 114, 13) einer wirksamen Kündigung entgegenstehen, beseitigen. Der dafür erforderliche Zeitaufwand hindert ihn rechtlich an der Kündigung des Arbeitsverhältnisses und schiebt den Termin der erstmöglichen Kündigung hinaus.
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(2) Dagegen begründet der Insolvenzverwalter nach der gesetzgeberischen Wertung des § 209 InsO Neumasseverbindlichkeiten, wenn er nach der Beseitigung der formalen Hindernisse noch keine Kündigung erklärt, weil er die Voraussetzungen für eine materiell-rechtlich wirksame Kündigung noch nicht geschaffen hat. Der von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegte Termin wird dadurch nicht hinausgeschoben. Verhandelt er zum Beispiel noch mit einem potentiellen Betriebserwerber und sieht vorerst von einer Kündigung ab, weil es noch an einem Kündigungsgrund nach § 1 KSchG fehlt, besteht kein originär rechtliches Hindernis für die Kündigung mehr. Der Umstand, dass noch keine materiell-rechtlich wirksame Kündigung möglich ist, ist allein Folge des Willens des Insolvenzverwalters, noch nicht zu entscheiden, ob er auf die Arbeitskraft des Arbeitnehmers endgültig verzichten will. In einem solchen Schwebezustand kann er Neumasseverbindlichkeiten nicht vermeiden. Nach der gesetzlichen Wertung des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO hätte er kündigen „können“ (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 114, 13). Tut er das nicht, entstehen Neumasseverbindlichkeiten, weil er nicht gekündigt hat. Kündigt er, wird eine dagegen erhobene Kündigungsschutzklage regelmäßig Erfolg haben. Die dann für die Zeit nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche sind Neumasseverbindlichkeiten (BAG 31. März 2004 – 10 AZR 253/03 – zu B III 1 d cc der Gründe, BAGE 110, 135).
21
(3) Der Insolvenzverwalter begründet auch dann Neumasseverbindlichkeiten, wenn sich seine Einschätzung, er habe die formellen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die wirksame Kündigung eines von der Masse nicht mehr benötigten Arbeitsverhältnisses herbeigeführt, im Kündigungsschutzprozess als unzutreffend erweist. Das Arbeitsverhältnis besteht dann über den ersten Termin, zu dem es der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hätte kündigen „können“, fort. Damit sind die für die Zeit nach diesem Termin entstehenden Annahmeverzugsansprüche nach den Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO Neumasseverbindlichkeiten. Konsequenz der gesetzlichen Verteilungsordnung ist es, dass der Insolvenzverwalter, der kündigen „kann“, auch dafür zu sorgen hat, dies rechtswirksam zu tun. Es fällt in seinen Verantwortungsbereich, für eine wirksame Umsetzung der Vorgaben des gesetzlichen Kündigungsschutzes zu sorgen (vgl. BAG 21. Juli 2005 – 6 AZR 592/04 – zu II 2 e der Gründe, BAGE 115, 225). Die Neumasse trägt das Risiko, dass ihm das nicht gelingt.
22
bb) Der Gesetzgeber hat darüber hinaus für die Abgrenzung von Alt- und Neumasseverbindlichkeiten an die „Kündigung“ des Dauerschuldverhältnisses angeknüpft. Auch damit hat er deutlich gemacht, dass eine wirksame Kündigung Voraussetzung ist, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden.
23
(1) Nach dem juristischen Sprachgebrauch ist die Kündigung eine einseitige rechtsgeschäftliche empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die ein Dauerschuldverhältnis nach dem Willen des Kündigenden mit Wirkung für die Zukunft beendet wird (Staudinger/Oetker (2016) Vorbem zu §§ 620 ff. Rn. 100; MüKoBGB/Hesse 7. Aufl. Vor § 620 Rn. 1; Tilch/Arloth Deutsches Rechts-Lexikon 3. Aufl. Stichwort: Kündigung eines Arbeitsverhältnisses; für das Arbeitsverhältnis: BAG 17. Dezember 2015 – 6 AZR 709/14 – Rn. 31, BAGE 154, 40; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 123 Rn. 1; KR/Griebeling/Rachor 11. Aufl. § 1 KSchG Rn. 151). Die Kündigung hat rechtsvernichtenden Charakter (BAG 21. März 2013 – 6 AZR 618/11 – Rn. 15; APS/Preis 5. Aufl. Grundlagen D. Rn. 3). Dieses Begriffsverständnis deckt sich mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, wonach die Kündigung die Lösung eines Vertrags ist (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Stichwort: Kündigung).
24
(2) Nach dem Wortsinn des Begriffs der „Kündigung“ und der Gesetzessystematik genügt es zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten nicht, nur eine Kündigung zu erklären. Voraussetzung für die Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten ist vielmehr auch der Erfolg dieser Kündigungserklärung und damit die Beendigung des Dauerschuldverhältnisses spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegten Termin. Der Insolvenzverwalter muss sich deshalb nicht nur entscheiden, ob er das Dauerschuldverhältnis mit Wirkung für die Neumasse fortsetzen will. Es muss ihm auch gelingen, diese Entscheidung durch eine wirksame Kündigung oder einen anderen Beendigungstatbestand spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gesetzten Termin umzusetzen. Anderenfalls tritt die von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorausgesetzte Beendigung des Dauerschuldverhältnisses nicht ein. Das hat die Begründung von Neumasseverbindlichkeiten zur Folge.
25
(a) Bei Dauerschuldverhältnissen, die wie zum Beispiel Mietverhältnisse über Gewerberäume (vgl. dazu BGH 3. April 2003 – IX ZR 101/02 – BGHZ 154, 358) keinen Bestandsschutz aufweisen, hat die Kündigung regelhaft den vom Gesetzgeber vorausgesetzten Beendigungserfolg.
26
(b) Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO dem Begriff der Kündigung für bestandsgeschützte Dauerschuldverhältnisse, wie es das Arbeitsverhältnis ist, einen von dieser Grundregel abweichenden Bedeutungsgehalt geben und den durch die Kündigungserklärung dokumentierten bloßen Beendigungswillen zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten genügen lassen wollte. Im Gegenteil hat er in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO jegliche Differenzierung nach der Art der Dauerschuldverhältnisse unterlassen, obwohl er den besonderen arbeitsrechtlichen Bestandsschutz erkannt hat und diesem in §§ 113 und 125 ff. InsO Rechnung getragen hat (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 c der Gründe, BAGE 114, 13).
27
cc) Dieses Auslegungsergebnis wird dadurch bestätigt, dass sich die Rechtsfolgen einer Kündigung, die der Insolvenzverwalter zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit unterlassen, also nicht erklärt hat, und einer von ihm zum erstmöglichen Termin erklärten, aber unwirksamen Kündigung nicht unterscheiden. In beiden Fällen besteht das Arbeitsverhältnis aufgrund eines Verhaltens des Insolvenzverwalters über den erstmöglichen Kündigungstermin hinaus zu Lasten der Neumasse fort (vgl. Ries NZI 2002, 521, 523). Sie hat daher in beiden Fällen gleichermaßen für die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche einzustehen.
28
c) Nach dem Willen des Gesetzgebers ist damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gesetzten Beendigungstermin Voraussetzung für die Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten. Eine Kündigung, die nach § 1 KSchG oder nach § 134 BGB unwirksam ist, verhindert auch im Fall ihrer Rechtzeitigkeit die Einordnung von Annahmeverzugsansprüchen für die Zeit nach diesem Beendigungstermin als Neumasseverbindlichkeiten nicht.
29
5. Der Beklagte hätte deshalb das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis spätestens zum 31. Dezember 2012 wirksam kündigen müssen, um zu vermeiden, dass für die Folgezeit Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO entstehen. Dies ist ihm nicht gelungen. Die Unwirksamkeit der Kündigungen vom 25. November 2011, 28. März und 23. August 2012 ist rechtskräftig festgestellt. Ob das Urteil vom 7. März 2013 (- 4 Ca 1304/12 -), mit dem das Arbeitsgericht Trier die Kündigung vom 23. August 2012 für unwirksam erklärt hat, inhaltlich grob falsch ist, wie der Beklagte vorgetragen hat, ist für die insolvenzrechtliche Verteilungsordnung in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ebenso unerheblich wie der Umstand, dass dieses Urteil rechtskräftig geworden ist, weil der Beklagte die Berufungsfrist versäumt hat.
30
6. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht die Freistellung der Klägerin der Einordnung der streitbefangenen Annahmeverzugsansprüche als Neumasseverbindlichkeiten nicht entgegen. Hat wie hier der Insolvenzverwalter nicht rechtzeitig (wirksam) gekündigt, gelten die Annahmeverzugsansprüche aus der Zeit nach dem ersten möglichen Kündigungstermin auch dann als Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO, wenn der Verwalter den Arbeitnehmer freigestellt hat. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO wäre überflüssig, wenn Neumasseverbindlichkeiten in einem Dauerschuldverhältnis nur entstehen sollten, soweit der Verwalter gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO die Gegenleistung in Anspruch nimmt (BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 c der Gründe, BAGE 114, 13).
31
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Fischermeier
Spelge
Heinkel
D. Knauß
Augat |
bag_11-20 | 27.02.2020 | 27.02.2020
11/20 - Kündigungen des Cockpit-Personals von Air Berlin wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige unwirksam - Die Frage eines etwaigen Betriebs(teil)übergangs kann offen bleiben
Die Massenentlassungsanzeige nach der Bestimmung des § 17 Abs. 1 KSchG, die im Einklang mit Art. 3 der Richtlinie 98/59/EG auszulegen ist, ist bei der Agentur für Arbeit zu erstatten, in deren Bezirk die Auswirkungen der Massenentlassung auftreten.
Die Fluggesellschaft Air Berlin unterhielt an mehreren Flughäfen sog. Stationen. Diesen war Personal für die Bereiche Boden (soweit vorhanden), Kabine und Cockpit zugeordnet. Der Kläger war bei der Air Berlin als Flugkapitän beschäftigt und der Station Köln zugeordnet. Die Arbeitsverhältnisse des gesamten Cockpit-Personals – einschließlich das des Klägers – wurden nach der am 1. November 2017 erfolgten Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung wegen Stilllegung des Flugbetriebs Ende November 2017 gekündigt. Air Berlin erstattete die Massenentlassungsanzeige für den angenommenen „Betrieb Cockpit“ bezogen auf das gesamte bundesweit beschäftigte Cockpit-Personal bei der für ihren Sitz zuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord. Dieses Betriebsverständnis entsprach den bei der Air Berlin tarifvertraglich getrennt organisierten Vertretungen für das Boden-, Kabinen- und Cockpit-Personal (vgl. § 117 Abs. 2 BetrVG) und trug der zentralen Steuerung des Flugbetriebs Rechnung.
Der Kläger hat die Stilllegungsentscheidung bestritten und die fehlende soziale Rechtfertigung der Kündigung geltend gemacht. Der Flugbetrieb werde durch andere Fluggesellschaften (teilweise) fortgeführt, darunter auch das sog. Wet Lease für eine andere Fluggesellschaft. Angesichts dessen habe eine Sozialauswahl nach dem KSchG durchgeführt werden müssen. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft. Die Vorinstanzen haben die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg.
Wie bereits der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts entschieden hat, handelte es sich ausgehend von dem durch die Richtlinie 98/59/EG determinierten Betriebsbegriff bei den Stationen der Air Berlin um Betriebe iSd. § 17 Abs. 1 KSchG (vgl. Pressemitteilung Nr. 7/20). Folglich hätte die Massenentlassungsanzeige für das der Station Köln zugeordnete Cockpit-Personal bei der dafür zuständigen Agentur für Arbeit in Köln erfolgen müssen. Die Anzeige hätte zudem nicht auf Angaben zum Cockpit-Personal beschränkt sein dürfen. Die nach § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG zwingend erforderlichen Angaben hätten vielmehr auch das der Station Köln etwa zugeordnete Boden-Personal und das dieser Station zugeordnete Kabinen-Personal erfassen müssen. Die Anzeige bei der örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord, die zudem nicht die erforderlichen Angaben enthielt, bewirkt die Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung nach § 17 Abs. 1 KSchG, § 134 BGB.
Die Frage eines etwaigen Betriebs(teil)übergangs nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB, der im Einklang mit der Richtlinie 2001/23/EG auszulegen ist, sowie die sich ggf. anschließende Frage einer etwa erforderlichen Sozialauswahl nach dem KSchG kann deshalb offen bleiben. Allerdings ist nach den bisher vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen und dem unstreitigen Parteivorbringen im Übrigen nicht auszuschließen, dass die Kündigung auch mangels sozialer Rechtfertigung unwirksam ist. Es spricht zwar nichts dafür, dass die sog. Stationen „wirtschaftliche Einheiten“ iSv. § 613a BGB und der Richtlinie 2001/23/EG waren. Anderes könnte jedoch für das sog. Wet Lease für eine andere Fluggesellschaft in Betracht kommen, das von einer weiteren Fluggesellschaft fortgesetzt wurde.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. April 2019 – 6 Sa 1641/18 – | Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. April 2019 – 6 Sa 1641/18 – im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Klägers gegen die Abweisung des Kündigungsschutzantrags zurückgewiesen worden ist.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 15. August 2018 – 29 Ca 1204/18 – teilweise abgeändert und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG vom 28. November 2017 nicht aufgelöst worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten der ersten und zweiten Instanz haben der Kläger 25 % und der Beklagte 75 % zu tragen.
Der Beklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
Für die Frage, ob ein Betriebs(teil)übergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit iSv. § 613a BGB stattgefunden hat, ist im Bereich des Luftverkehrs der Übergang von Material als eines der wesentlichen Kriterien der Beurteilung anzusehen. Weitere bedeutsame Kriterien sind daneben insbesondere eine Übernahme von Ausrüstungsgegenständen, ein Eintritt in bestehende Charterflugverträge, eine Ausweitung von Flügen auf vom etwaigen Veräußerer bediente Routen sowie eine Reintegration von Beschäftigten und deren Einsatz für Tätigkeiten, die mit ihren bisherigen Aufgaben übereinstimmen. Ob und ggf. inwieweit sich dabei im Bereich des Luftverkehrs ein Einsatz wechselnden bzw. rotierenden Personals auf die rechtliche Beurteilung auswirkt, ist eine in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ungeklärte Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG (Art. 267 AEUV).
Tatbestand
1
Die Parteien streiten noch darüber, ob zwischen ihnen über den 28. Februar 2018 hinaus ein Arbeitsverhältnis besteht.
2
Der Kläger war seit Januar 1996 bei der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden Schuldnerin) und deren Rechtsvorgängerin als Flugkapitän zu einem monatlichen Bruttoentgelt iHv. zuletzt durchschnittlich 13.253,42 Euro beschäftigt. Nach § 9 des Ausbildungs- und Arbeitsvertrags für Kapitäne Airbus vom 13. Januar 2017 finden auf das Arbeitsverhältnis die jeweils einschlägigen gültigen tariflichen und betrieblichen Bestimmungen für das Cockpitpersonal der airberlin und diese ergänzende und ersetzende Regelungen Anwendung.
3
Der Beklagte ist seit dem 17. Januar 2018 der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin.
4
Die Schuldnerin mit Sitz in Berlin war bis Ende des Jahres 2017 die zweitgrößte deutsche Fluggesellschaft. Im Oktober 2017 hatte sie insgesamt etwa 6.050 Beschäftigte, davon etwa 1.300 Beschäftigte im Bereich Cockpit, etwa 3.500 Beschäftigte im Bereich Kabine und etwa 1.250 Beschäftigte im Bereich Boden. Bei der Schuldnerin waren mehrere Beschäftigtenvertretungen gebildet: Für das Cockpitpersonal war nach § 117 Abs. 2 BetrVG (in der bis zum 30. April 2019 geltenden Fassung) durch den „Tarifvertrag Personalvertretung (TVPV) für das Cockpitpersonal der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“ (TVPV) eine Personalvertretung (PV Cockpit) mit Sitz in Berlin gebildet. Für das Kabinenpersonal wurde aufgrund eines eigenständigen Tarifvertrags die Personalvertretung Kabine (PV Kabine) errichtet. Für die Beschäftigten des Bereichs Boden bestanden drei regionale Betriebsräte und ein Gesamtbetriebsrat.
5
Neben ihrem Sitz in Berlin am Saatwinkler Damm unterhielt die Schuldnerin Stationen (sog. Bases) an den Flughäfen Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Hamburg, Köln, Paderborn, Nürnberg und Leipzig.
6
Im Oktober 2017 verfügte die Schuldnerin über etwa 130 Flugzeuge, sämtlich geleast. Ihr Flugbetrieb auf Kurz- und Mittelstrecken wurde von allen Stationen aus und im Wesentlichen mit Flugzeugen der Airbus A320-Familie (A319, A320 und A321) durchgeführt. Der Flugbetrieb auf Langstrecken erfolgte von den Stationen Berlin-Tegel und Düsseldorf (sog. „Drehkreuze“) aus mit Flugzeugen des Typs Airbus A330.
7
Die Schuldnerin war daneben Alleingesellschafterin der österreichischen Fluggesellschaft Niki Luftfahrt GmbH (NIKI) mit Sitz in Wien, die 21 Flugzeuge des Typs Airbus A320 auf Kurz- und Mittelstrecken betrieb.
8
Das in englischer Sprache verfasste Betriebshandbuch („Operations Manual Part A“, im Folgenden OM/A), welches die Organisationsstruktur des Flugbetriebs abbildete, sah bezüglich des Cockpitpersonals die Funktion des „Area Manager Cockpit“ vor. Hierbei handelte es sich um Piloten, die im regulären Flugbetrieb eingesetzt waren und daneben administrative Aufgaben wahrnahmen. Insgesamt gab es vier Area Manager Cockpit, die jeweils für mehrere Stationen zuständig und dem Flottenmanagement unterstellt waren. Mit Stand 28. Dezember 2016 enthielt das OM/A unter Ziff. 1.3.2.2.1 eine Aufgabenbeschreibung für die Funktion Area Manager Cockpit, die in der deutschsprachigen Übersetzung – die vom Kläger eingereicht und vom Beklagten nicht beanstandet worden ist und auf deren Berücksichtigung in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2020 hingewiesen worden ist – wie folgt lautet:
„Zuständigkeiten und Position
Der Area Manager Cockpit ist für alle organisatorischen und administrativen Angelegenheiten für die Außenstationen zuständig, für die er verantwortlich ist.
Er ist in diesen Angelegenheiten der Vorgesetzte für das zugewiesene Personal. Er wird vom NPFO ernannt und berichtet an das Airbus-Flottenmanagement. Während der Abwesenheit eines Area Managers handeln die weiteren Area Manager stellvertretend für ihn.
Aufgaben und Verantwortungsbereiche
•
Leitung des Flugpersonals an der Station
•
Motivation und persönliche Entwicklung des Cockpit-Personals
•
Interviews/Aufsicht/Verwarnungen, wie vom Flottenmanagement angewiesen
•
Erstellung von Stationsberichten für das Flottenmanagement
•
Erkennung und Lösung von Problemen zur Sicherstellung einheitlicher Prozesse
•
Erteilung notwendiger Anweisungen im Rahmen der Führungsaufgaben
•
Bekanntgabe von Regelungen
•
Deeskalation von Konfliktsituationen innerhalb des Cockpitpersonals und zwischen Cockpit- und Kabinenpersonal in enger Abstimmung mit der für das Kabinenpersonal zuständigen Abteilung
•
Beitrag zur Beurteilung des Flugpersonals
•
Personalgespräche gemäß Anweisung durch das Flottenmanagement
•
Teilnahme an Stationssitzungen
•
Organisation und Erstellung der Tagesordnung der Stationssitzungen
•
Verwaltung von Berichten über Verbesserungen
•
Sicherstellung der Corporate ldentity an den Stationen
•
Er/sie ist ein ansprechbares, sichtbares Rollenvorbild für das Cockpitpersonal und repräsentiert auf positive Art die Abteilung Flugbetrieb
•
Sicherstellung der Kommunikation innerhalb der Organisation mit dem Management des Kabinenpersonals (e.g. Manager Business Support)
•
Aktive Nutzung der von airberlin bereit gestellten Kommunikationsmittel
•
Schaffung einer guten Kommunikation mit den Behörden des Flughafens
…“
9
Laut Schreiben der Schuldnerin vom 11. April 2017 wurde der Kläger wunschgemäß mit Wirkung vom 15. April 2017 von der Station Düsseldorf zur Station Köln versetzt. Für die Station Köln war zuletzt B als Area Manager Cockpit bestellt, dieser war auch für die Stationen auf den Flughäfen Hamburg, Frankfurt am Main und Stuttgart zuständig.
10
Der Flugbetrieb der Schuldnerin erfolgte auf der Grundlage des ihr von der zuständigen Genehmigungsbehörde erteilten Luftverkehrsbetreiberzeugnisses (AOC – „air operator certificate“, vgl. dazu Art. 2 Nr. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008). Nach Maßgabe der Luftverkehrsbestimmungen für den Flugbetrieb – insbesondere nach der Verordnung (EU) Nr. 965/2012 sowie nach der Verordnung (EU) Nr. 1321/2014 – beschäftigte die Schuldnerin am Sitz in Berlin das für den Erhalt des AOC erforderliche Leitungspersonal, darunter den verantwortlichen Betriebsleiter und sog. „verantwortliche Personen“ (Nominated Persons) für die Bereiche Flugbetrieb, Besatzungsschulung, Bodenbetrieb und Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit. Am Sitz in Berlin wurden die Umlaufpläne für die Flugzeuge – die im Rahmen einer saisonalen Umlaufplanung wechselnd eingesetzt wurden – und für die Besatzungen erstellt. Dort wurden auch die Dispositionen bei erforderlichen Änderungen von Flugzeug- und/oder Personaleinsätzen getroffen und die monatlichen Dienstpläne für die Beschäftigten des Bereichs Cockpit erstellt, und zwar durch die dort ansässige Abteilung Crew Planning unter Beteiligung der ebenfalls dort ansässigen PV Cockpit. Dabei wurden die Einsätze der Beschäftigten unabhängig von ihren Stationierungsorten je nach Bedarf geplant. Die Beschäftigten des Bereichs Cockpit wurden auf unterschiedlichen Flugzeugen, wechselnden Strecken und in wechselnder Zusammensetzung eingesetzt.
11
Die Schuldnerin betrieb nicht ausschließlich eigenwirtschaftliche Flüge, sondern – seit Anfang des Jahres 2017 – auch Flüge im sog. Wet Lease, auch als ACMIO (Aircraft, Crew, Maintenance, Insurance + Operation) bezeichnet. Dabei stellt der Betreiber eines Flugzeugs dieses nebst Besatzung, Wartung und Versicherung für den Flugbetrieb und auf der Flugstrecke einer anderen Fluggesellschaft zur Verfügung, wobei Flugzeug und Besatzung nach außen wahrnehmbar, etwa durch die Lackierung des Flugzeugs und die Uniformen des Kabinenpersonals, dem Auftraggeber zugeordnet sind und lediglich ein Hinweis auf den im Wet Lease operierenden Dienstleister erfolgt.
12
Die Schuldnerin setzte 33 ihrer geleasten Flugzeuge nebst Besatzungen im Wet Lease für die Eurowings GmbH (im Folgenden Eurowings) und 5 der geleasten Flugzeuge nebst Besatzungen im Wet Lease für Austrian Airlines auf von diesen angebotenen Flugstrecken der Kurz- und Mittelstrecke ein. 15 der von der Schuldnerin im Wet Lease eingesetzten Flugzeuge hatte die Deutsche Lufthansa erworben und diese entsprechend der in dem von der Schuldnerin und der Lufthansa Group/Lufthansa-Gruppe geschlossenen, auf sechs Jahre angelegten Vertrag zum Wet Lease getroffenen Vereinbarung zum Zweck des Wet Lease für ihre Tochtergesellschaften an die Schuldnerin verleast.
13
Zu diesem Vertrag heißt es in dem öffentlich über die Homepage des Bundeskartellamts zugänglichen Fallbericht des Bundeskartellamts vom 30. Januar 2017, Aktenzeichen: B9-190/16 unter der Überschrift „Lufthansa darf Flugzeuge von Air Berlin leasen“ auszugsweise:
„Das Bundeskartellamt hat den am 30. Dezember 2016 vorsorglich als Zusammenschluss angemeldeten Wetlease-Vertrag über 38 Passagierflugzeuge zwischen der Lufthansa Group (‚Lufthansa‘) und der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (‚Air Berlin‘) am 30. Januar 2017 fusionskontrollrechtlich freigegeben. Der Wetlease-Vertrag sieht die Gebrauchsüberlassung von 38 Flugzeugen des Typs Airbus A319 und A320 mitsamt Cockpit-Crew und Kabinenpersonal an deutschen und österreichischen Flughäfen im Rahmen einer sechsjährigen Laufzeit mit bestimmten Verlängerungsoptionen zwischen Lufthansa und Air Berlin vor.
●
Wie beim Wetlease üblich verbleibt die operative Verantwortung für Flugbetrieb, Crewplanung, Wartung, Schäden Dritter sowie für die Versicherung von Flugzeugen beim Wetlease-Geber (‚ACMIO-Vertrag‘), d.h. bei Air Berlin. Air Berlin ist selbst nicht Eigentümerin der 38 Flugzeuge, sondern hat diese ihrerseits von verschiedenen Leasinggesellschaften (Leasinggebern) ‚dry‘ also ohne zusätzliche Dienstleistungen wie Besatzung und Wartung, geleast.
●
Fünf der 38 Flugzeuge sollen innerhalb des Lufthansa-Konzerns der Austrian Airlines zum Gebrauch überlassen werden, 32 Flugzeuge – also der ganz überwiegende Teil – der Eurowings, die als konzerneigener Low-Cost-Carrier vornehmlich im point-to-point-Verkehr außerhalb der Lufthansa-Hubs operiert. Mindestens 19 der 38 Flugzeuge sollen älteres Fluggerät der Eurowings und Austrian Airlines ersetzen; dieses ältere Fluggerät soll teilweise an anderer Stelle im Lufthansa-Konzern eingesetzt werden. Ein Flugzeug soll als Reserveflugzeug bereitstehen. Die Flugzeuge sollen gestaffelt ab dem 5. Februar 2017 an den Basen Stuttgart, Hamburg, Düsseldorf, Wien, München, Köln/Bonn und Palma de Mallorca stationiert werden. Mit der Ausnahme von Palma de Mallorca und Wien werden die Crews an den jeweiligen Basen stationiert. …
●
Hinzu kommt, dass Lufthansa die Übernahme von insgesamt bis zu 25 Flugzeugen von diesen 38 Flugzeugen der Air Berlin und von verschiedenen Dryleasinggebern beabsichtigt. Dies soll durch den Abschluss von Drylease-Verträgen über bis zu zehn Flugzeuge und durch den Kauf von bis zu 15 Flugzeugen erfolgen. In diesen Fällen wird die Lufthansa gegenüber der Air Berlin als (Sub-)Drylease-Geberin auftreten und die entsprechenden Flugzeuge im Wege des beschriebenen Wetlease-Vertrages zurückleasen.
…
●
In Deutschland gibt es mit Berlin-Tegel, Berlin-Schönefeld, Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf, München und Stuttgart sieben koordinierte Flughäfen, an denen die Start- und Landerechte knapp sind und beim Flughafenkoordinator Deutschlands beantragt werden müssen. …
…
●
… Hinsichtlich der Laufzeit der Verträge ist zu berücksichtigen, dass es sich bei einer sechsjährigen Vertragsdauer um eine für den Luftverkehr außergewöhnlich lange Laufzeit handelt, die den konkreten Streckenplanungshorizont typischer Fluggesellschaften bei weitem übersteigt. Zudem handelt es sich bei den 38 Flugzeugen um einen bedeutenden Teil – fast ein Viertel – der aktuellen Flotte der Air Berlin. …
●
Der Übergang der Marktstellung auf dem hier relevanten Gesamtmarkt wird durch die angestrebten Zusatzvereinbarungen mit Dritten abgesichert (Abschluss von Drylease-Verträgen über bis zu zehn Flugzeuge und durch den Kauf von bis zu 15 Flugzeugen, siehe oben). Dies gilt für ca. zwei Drittel der betroffenen Flugzeuge.“
14
Am 14. Februar 2017 schlossen die Schuldnerin und die PV Cockpit den „Rahmen-Interessenausgleich zur Umstrukturierung der Air Berlin für das Cockpitpersonal“. Darin heißt es auszugsweise:
„PRÄAMBEL
Die airberlin muss wegen der derzeitigen Ertragslage die Organisationsstruktur des Flugbetriebs ändern. Insbesondere erfolgt die Ausgliederung des Touristikgeschäfts, die Bereederung von Flugzeugen im Rahmen der mit der Deutsche Lufthansa Group (Deutsche Lufthansa AG, Eurowings GmbH und Austrian Airlines AG) getroffenen Wetlease-Vereinbarung (ACMIO-Operation) und eine Neuausrichtung der verbleibenden Kapazitäten im Rahmen des Programms ‚New airberlin‘.
…
Aus Anlass bevorstehender Umstrukturierungsmaßnahmen – Wetleases, Einbringung des touristischen Geschäfts mit der NIKI in ein von airberlin unabhängiges, europäisches Airline Joint Venture und Herausbildung der New airberlin – vereinbaren die Parteien auf der Grundlage dieser Vereinbarung zusammenzuwirken, um Wachstum für die airberlin in ihren neuen Märkten und Beschäftigung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Cockpit zu sichern.
§ 1 Gegenstand des Rahmen-Interessenausgleichs
(1) Mit der Umsetzung der geplanten Maßnahmen sind Veränderungen für das Cockpitpersonal verbunden. Insbesondere sollen die vorhandenen Personalkapazitäten zukünftig der ‚New airberlin‘ und der ‚ACMIO-Operation‘ zugeordnet werden. Zudem wird die Stationierungsstruktur dem sich ergebenden Personalbedarf angepasst, sodass es zu Stationsschließungen, -neueröffnungen und -wechseln kommen wird.
(2) Bereits zum jetzigen Zeitpunkt bestehen gemeinsam mit der Lufthansa-Group Überlegungen, im Laufe des sechsjährigen Wetleases einige Flugzeuge in einem separaten AOC zusammenzufassen. In diesem Zusammenhang soll ein neues AOC durch ein anderes Unternehmen innerhalb der airberlin-Group beantragt werden.
…
§ 5 Sozialplan
Zum Ausgleich oder zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Mitarbeitern infolge von Betriebsänderungen entstehen, wird zwischen airberlin und der PV-Cockpit jeweils ein Sozialplan vereinbart.“
15
In der Anlage 1 zum Rahmen-Interessenausgleich vom 14. Februar 2017 heißt es auszugsweise:
„§ 1
Die Zuordnung zur ACMIO-Operation ergibt sich bei ausschließlichen ACMIO-Stationen aus der entsprechenden Stationierung. An ‚gemischten Stationen‘ erfolgt eine individuelle Zuordnung erst, sobald die ‚dedicated crew‘ Operation aufgenommen wird. Mitarbeiter, die vor diesem Zeitpunkt an einer ‚gemischten Station‘ stationiert sind, werden bis dahin in beiden Operationen eingesetzt. Dies gilt auch für Mitarbeiter, die bis zu diesem Zeitpunkt noch der Station zugeordnet werden.
…
§ 6
Auch nach der Zuordnung der Mitarbeiter zur ausschließlichen Operation (ACMIO-Operation bzw. ‚New airberlin‘) verbleiben alle Mitarbeiter im einheitlichen Flugbetrieb der airberlin. Die Durchlässigkeit zwischen ‚New airberlin‘ und der ‚ACMIO-Operation‘ wird gewährleistet, z.B. durch Ausschreibungen von Stellen und Umschulungen sowie die weiterhin gültige einheitliche Betriebszugehörigkeits-, Senioritäts- und Wechselwunschliste. …
§ 7
Kommt es im Hinblick auf ‚New airberlin‘ oder ‚ACMIO-Operation‘ zu einem Übergang von Arbeitsplätzen auf ein anderes Unternehmen (…), so werden die Betriebspartner rechtzeitig zuvor Verhandlungen über eine Neuregelung der Zuordnung der Mitarbeiter des Cockpitpersonals zu den übergehenden Arbeitsplätzen unter Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte im Rahmen einer Auswahlrichtlinie aufnehmen.“
16
Nach Aufnahme des Flugbetriebs im Wet Lease führte die Schuldnerin diesen an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart ausschließlich durch, an den Standorten München und Düsseldorf befanden sich sog. gemischte Stationen, an den übrigen Standorten erfolgte kein Flugbetrieb im Wet Lease. Ein separates AOC im Rahmen des Wet Lease wurde nicht beantragt.
17
Im Mai/Juni 2017 kaufte die Komplementärin der Schuldnerin – die Air Berlin PLC – im Wege des Anteilserwerbs die Luftfahrtgesellschaft Walter mbH (im Folgenden LGW) mit Sitz in Dortmund, die ihrerseits mit 20 von der Schuldnerin geleasten und ihr, der LGW, im Wege des Subleasing zur Verfügung gestellten Flugzeugen des Typs Bombardier Dash-Q-400 Zubringer-Flüge für die Schuldnerin im Wet Lease durchführte. Die dafür erforderlichen Slots, dh. Zeitnischen auf sog. „koordinierten“ (stark frequentierten) Flughäfen, die einer Fluggesellschaft zum Starten oder Landen zugewiesen worden sind, hielt die Schuldnerin.
18
Unter dem 15. August 2017 beantragten sowohl die Schuldnerin als auch ihre Komplementärin beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg als zuständigem Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr jeweiliges Vermögen bei Eigenverwaltung. Das Gericht ordnete für die Schuldnerin antragsgemäß die vorläufige Eigenverwaltung an. Mit Beschluss vom 16. August 2017 wurde der Beklagte zum vorläufigen Sachwalter bestellt. Die Schuldnerin eröffnete ein Bieterverfahren für die Übernahme des Geschäftsbetriebs insgesamt bzw. in wesentlichen Teilen oder zur Übernahme einzelner Vermögensgegenstände mit einer Angebotsfrist bis zum 15. September 2017.
19
Nachdem die og. Angebotsfrist abgelaufen war, kam der vorläufige Gläubigerausschuss zu der Auffassung, dass kein annahmefähiges Angebot zur Fortführung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin im Ganzen oder in wesentlichen Teilen vorliege. Er traf die Entscheidung, weitere Verhandlungen nur mit zwei Interessenten – mit der Lufthansa-Gruppe und der Fluggesellschaft easyJet – bezogen auf einzelne Vermögenswerte und Beteiligungen zu führen.
20
Unter dem 12. Oktober 2017 unterzeichneten der Executive Director der Komplementärin der Schuldnerin W, der Generalbevollmächtigte der Schuldnerin Rechtsanwalt Dr. K und der Beklagte als vorläufiger Sachwalter für die Schuldnerin eine Erklärung. Darin heißt es auszugsweise wie folgt:
„Erklärung der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG
…
Der Gläubigerausschuss hat in seiner 2. Sitzung eine Betriebsfortführung bis 31. Oktober 2017 genehmigt. Es ist beabsichtigt, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 26. Oktober 2017 beim Insolvenzgericht anzuregen.
I.
Die Liquiditäts- und Fortführungsplanung hat ergeben, dass eine Fortführung des Geschäftsbetriebs im Rahmen des eröffneten Insolvenzverfahrens nicht möglich ist. Vor diesem Hintergrund haben die Geschäftsführung, der Generalbevollmächtigte das Management Board sowie die Board of Directors der Air Berlin PLC die Entscheidung getroffen, die erforderliche Betriebsänderung (Stilllegung) – vorbehaltlich der Zustimmung des Gläubigerausschusses und unter Wahrung der Beteiligungsrechte des Wirtschaftsausschusses sowie des Betriebsrates/Gesamtbetriebsrats bzw. der Personalvertretungen – durchzuführen.
Im Einzelnen:
1.
Die im Verfahren der vorläufigen Eigenverwaltung aufgestellte Liquiditäts- und Fortführungsplanung hat vorgesehen, dass unter Berücksichtigung des durch einen mit Bundesbürgschaft abgesicherten Übergangskredit in Höhe von 150 Mio. € der Flugbetrieb bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens (voraussichtlich Ende Oktober 2017) aufrecht erhalten werden kann.
2.
Eine Fortführung des Geschäftsbetriebs im eröffneten Insolvenzverfahren ist nur möglich, sofern das Unternehmen bzw. Teile des Unternehmens im Rahmen einer übertragenden Sanierung auf einen oder mehrere Erwerber zum Stichtag der Eröffnung des Insolvenzverfahrens übertragen wird. Ein entsprechendes Angebot liegt nicht vor, sodass eine übertragende Sanierung des Unternehmens bzw. von Teilen des Unternehmens nicht erfolgt. Eine kostendeckende Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren ist somit nicht möglich und wäre unzulässig. Dies ergibt sich aus der fortgeschriebenen Liquiditäts- und Fortführungsplanung ab dem 15. August 2017. Vor diesem Hintergrund ist die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG gezwungen, zum Stilllegungszeitpunkt die für sämtliche Flugzeuge bestehenden Leasingverträge durch Kündigung bzw. Abschluss von Aufhebungsverträgen zu beenden und die Flugzeuge zurückzugeben.
3.
Die Geschäfts- und Betriebsgrundlage für eine Fluggesellschaft wird damit zum Stilllegungszeitpunkt wegfallen.
II.
Die Unterzeichner dieses Beschlusses stimmen daher darin überein, dass beabsichtigt ist, den Geschäftsbetrieb der Air Berlin Flüge einzustellen. Die Einstellung und Stilllegung des Geschäftsbetriebs der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG soll wie folgt umgesetzt werden:
1.
Beendigung der Flugzeug-Leasingverträge der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG als Leasingnehmer durch Kündigung bzw. Abschluss von Aufhebungsverträgen und Rückgabe der Flugzeuge sukzessive bis zum 31.01.2018.
2.
Einstellung des operativen Geschäftsbetriebs der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG. Dabei wird mit Ablauf des 28. Oktober 2017 der operative Flugverkehr im Namen und auf Rechnung der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG eingestellt. Flugbuchungen für Flüge nach dem 28. Oktober 2017 sind nicht mehr möglich.
3.
Erbringung der Dienstleistungen gegenüber Eurowings im Rahmen des sog. ‚Wet Lease‘ für den Zeitraum bis maximal zum 31. Januar 2018. Dies betrifft 13 Flugzeuge.
4. a)
Derzeit verfügen 6.054 Arbeitnehmer/-innen über ein Arbeitsverhältnis und 8 Auszubildende (nachfolgend Arbeitnehmer1) über ein Ausbildungsverhältnis mit der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG. Die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG beabsichtigt, sämtliche Arbeitsverhältnisse unter Einhaltung der individuell maßgeblichen Kündigungsfrist, begrenzt auf die maximale Frist von drei Monaten zum Monatsende gemäß § 113 Satz 1 InsO, soweit gesetzlich zulässig, nach Durchführung der Interessenausgleichs- sowie Massenentlassungsanzeigeverhandlungen (§ 17 KSchG) und nach Durchführung der Anhörungsverfahren mit den Mitbestimmungsgremien (Betriebsräte/Personalvertretungen) zu kündigen. Die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG wird – soweit erforderlich – eine Zustimmung für Arbeitnehmer mit etwaigem Sonderkündigungsschutz (z.B. SGB IX, BEEG, MuSchG) beantragen und auch diese Arbeitsverhältnisse zeitnah kündigen. Es werden auch Sozialplanverhandlungen geführt werden.
…
5.
Dauerschuldverhältnisse (Leasingverträge, Gewerbemietverträge, Versorger etc.) werden unter Berücksichtigung der Abwicklungsplanung durch Abschluss von Aufhebungsverträgen beendet bzw. unter Berücksichtigung bestehender Kündigungsfristen gekündigt, sofern die Vertragspartner nicht selbst kündigen bzw. die Verträge bereits gekündigt sind.
…
7.
Die Gesamtabwicklung des Geschäftsbetriebs der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG soll nach derzeitiger Planung zum 31. Januar 2018 abgeschlossen sein, so dass im Anschluss daran die Stilllegung erfolgt.“
21
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 – am 13. Oktober 2017 zugegangen – wandte sich die Schuldnerin unter dem Betreff „… Hier: Einleitung des Konsultationsverfahrens gem. § 17 KSchG“ an die PV Cockpit. Im Anschluss an Ausführungen unter A., die in wesentlichen Teilen der vorstehend wiedergegebenen Erklärung vom selben Tag entsprechen, heißt es in diesem Schreiben unter B.:
„Da die umzusetzende Stilllegung des Geschäftsbetriebs eine Entlassung von mehr als 10 v.H. der Arbeitnehmer darstellt, handelt es sich um eine anzeigepflichtige Entlassung i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KSchG. Aus diesem Grund leiten wir hiermit ergänzend zu unseren persönlichen Erörterungen das schriftliche Verfahren zur Konsultation des Betriebsrates gem. § 17 Abs. 2 KSchG ein. Hierzu möchten wir Ihnen rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte erteilen und Sie schriftlich insbesondere unterrichten über
1.
die Gründe für die geplanten Entlassungen,
2.
die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
3.
die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
4.
den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
5.
die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
6.
die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
Zu den vorstehend genannten Punkten möchten wir Sie folgend unterrichten:
1.
Gründe für die geplanten Entlassungen
Wie bereits einleitend mitgeteilt, ist beabsichtigt, den Geschäftsbetrieb unverzüglich (unter Berücksichtigung der Aufrechterhaltung der Wet-Lease – Dienstleistungen für Eurowings), spätestens mit Ablauf des 31.01.2018 stillzulegen. Hintergrund ist die vorstehend unter A. ausgeführte Sachlage. Die vor dem Hintergrund der dauerhaften Generierung von Verlusten zwingend gebotene Entscheidung der dauerhaften Stilllegung ist Grund für die beabsichtigten Entlassungen.
2.
Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden Mitarbeiter/innen
Übersichten über die Zahl und die Berufsgruppen der potentiell zu entlassenden Mitarbeiter/innen einschließlich des bisherigen und möglichen Einsatzgebietes erhalten Sie als Anlage 1 anbei.
3.
Zahl und Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Mitarbeiter/innen
Übersichten über die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Mitarbeiter/innen entnehmen Sie ebenfalls der o.g. Personalliste.
4.
Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen
Gegenüber den von der unternehmerischen Entscheidung betroffenen Beschäftigten sollen unmittelbar nach Abschluss des Interessenausgleichsverfahrens gem. §§ 80 ff. TVPV, des Konsultationsverfahrens gem. § 17 KSchG und der Anhörungsverfahren gem. § 74 TVPV (bzw. den entsprechenden Bestimmungen in den Tarifverträgen Personalvertretung) i.V.m. § 123 InsO betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. Soweit der potentielle Investor die hierfür erforderlichen Mittel bereitstellt, werden die Betriebsparteien im Zuge der Sozialplanverhandlungen auch über den Abschluss eines Transfersozialplans beraten, der die Errichtung einer Transfergesellschaft zum Inhalt haben könnte.
Aufgrund der in diesen Beteiligungsverfahren geltenden Fristen ist beabsichtigt, Kündigungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Laufe des Monates Oktober 2017, voraussichtlich ab 26.10.2017, auszusprechen und zuzustellen. Die Kündigungen sollen unter Beachtung der individuell einschlägigen Kündigungsfrist, die jedoch aufgrund des dann geltenden § 113 InsO auf höchstens 3 Monate zum Monatsende begrenzt ist, ausgesprochen werden. …
5.
Vorgesehene Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Mitarbeiter/innen
Die Betriebsparteien werden vor Ausspruch der Kündigungen zu prüfen haben, ob eine Sozialauswahl entsprechend den Vorgaben des Kündigungsschutzgesetzes (§ 1 Abs. 3 KSchG) sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte durchgeführt werden muss. Hierbei gehen wir nach derzeitigem Stand davon aus, dass eine solche aufgrund der vollständigen Stilllegung des Geschäftsbetriebs und der Beendigung aller Arbeitsverhältnisse nicht erforderlich sein wird.
…“
22
In einer als intern bezeichneten „Mitteilung von W (Executive Director and CEO) und Dr. K (Generalbevollmächtigter)“ vom 12. Oktober 2017 heißt es unter der Überschrift „Stand der Dinge und aktuelle Information des Bieterverfahrens“:
„Liebe airberliner,
heute haben wir uns mit der Lufthansa-Group über den Verkauf von Teilen der airberlin geeinigt. Die Lufthansa-Group wird unsere Tochtergesellschaften Luftverkehrsgesellschaft Walter (LGW), die österreichische Ferienfluggesellschaft NIKI sowie 20 weitere Flugzeuge übernehmen.
Unser Aufsichtsrat hat am Mittwoch, 11. Oktober 2017, diesem Verkauf bereits zugestimmt. Dieser Abschluss eröffnet Perspektiven für mehrere tausend airberliner und garantiert den Erhalt aller Arbeitsplätze bei unseren Tochtergesellschaften NIKI und LGW.
Es geht um 54 Flugzeuge, die sich wie folgt aufteilen:
●
20 Bombardier DHC-8-400 der LGW
●
21 Airbusse der A320 Familie der NIKI
●
13 Airbusse A320 aus der airberlin-Flotte
Hinzu kommt:
●
15 im Wet Lease fliegende Airbusse A320 Familie hat die Lufthansa-Gruppe bereits erworben
●
Für 5 weitere im Wet Lease fliegende Airbusse hat die Lufthansa Kaufoptionen
●
Lufthansa wird sieben Boeing 737 der TUIfly betreiben, die auch von TUIfly bereedert werden
Der Kauf steht zwar noch unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch den Gläubigerausschuss, den Sachwalter im Insolvenzverfahren der Air Berlin sowie der europäischen Wettbewerbsbehörde in Brüssel. …
Mit easyJet dauern die Verhandlungen noch an. easyJet hatte ein Angebot zur Übernahme eines Teils der airberlin Flotte abgegeben. …
Bereits am Freitag dieser Woche stellt sich die Lufthansa-Tochter Eurowings bei einer Jobmesse an unserem Berliner Standort am Saatwinkler Damm vor. Ihr seid dazu herzlich eingeladen.
Morgen ab 09:30 Uhr haben alle airberliner hier die Chance den Arbeitgeber Eurowings und zahlreiche Stellenangebote für Cockpit-, Kabinen- und Bodenmitarbeiter kennenzulernen. Nutzt diese Chance. Hier die Daten der Jobmesse, die Ihr auch im Intranet findet:
Wann: Freitag, 13. Oktober 2017
Zeitraum: 09:30 bis 14:00 Uhr (Pünktlich um 10:00 Uhr wird es im Kaminzimmer auch eine Präsentation von Eurowings geben)
Wo: Saatwinkler Damm, Hinterer Bereich der Kantine und Kaminzimmer
Wir werden Euch über die aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden halten.“
23
Am 13. Oktober 2017 schloss die Schuldnerin einen Anteilskauf- und Übertragungsvertrag über die Geschäftsanteile der LGW mit der Lufthansa Commercial Holding GmbH – einer Tochtergesellschaft der Deutschen Lufthansa – ab, der zum 9. Januar 2018 vollzogen werden sollte. Die Vereinbarung sah vor, dass bis zum Vollzugstermin 17 der Bombardier Dash-Q-400-Flugzeuge der LGW im Wet Lease für Eurowings fliegen sollten. Zudem wurde vereinbart, dass die Schuldnerin – nach Erwerb eines AOC für den Betrieb von Flugzeugen des Typs Airbus A320 durch die LGW – das Wet Lease durch die LGW für Eurowings um 13 Flugzeuge des Typs Airbus A320 erweitern sollte, für die die LGW 13 Crews einstellen sollte. Bis zum Vollzugstermin sollte die Schuldnerin zudem Slots auf die LGW übertragen. Weiter vereinbarte die Schuldnerin mit der Deutschen Lufthansa, dass diese für die von der LGW betriebenen Flugzeuge den Headlease-Vertrag anstelle der Schuldnerin übernehmen und einen Sublease-Vertrag mit der LGW schließen sollte. In der Folge schrieben die LGW und Eurowings Stellen für Piloten und Co-Piloten für Flugzeuge des Typs Airbus A320 aus, wobei ausdrücklich „Ready Entries“ gesucht wurden, dh. Personen, die über die erforderliche Lizenz und Flugerfahrung mit diesem Flugzeugtyp verfügten.
24
Im Anteilskauf- und Übertragungsvertrag vom 13. Oktober 2017 war zudem die Option des Kaufs von Anteilen der NIKI durch ein Unternehmen der Lufthansa Gruppe vereinbart.
25
In einer an die Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Berlin Nord gerichteten E-Mail vom 13. Oktober 2017 stellte die Schuldnerin folgende Anfrage:
„Wir beabsichtigen nächste Woche eine Massenentlassungsanzeige für das gesamte Personal der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG zu stellen. Wie besprochen, bitte ich um Mitteilung an welche Agentur für Arbeit wir die Massenentlassungsanzeige richten müssen. Folgendes daher zum Hintergrund:
Die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG hat ihren Sitz in Berlin, …
Wir haben drei Mitarbeitergruppen: das Bodenpersonal, das Cockpitpersonal und das Kabinenpersonal. Allen Mitarbeitergruppen soll die betriebsbedingte Beendigungskündigung ausgesprochen werden.
Für das Bodenpersonal haben wir einen Tarifvertrag gem. § 3 BetrVG abgeschlossen, wonach es den Betrieb Nord (Berlin, Hamburg ca. 1100 MA), den Betrieb West (Düsseldorf und Köln = 42 MA) und den Betrieb Süd (München, Nürnberg = 15 MA) gibt.
Die Team- und Abteilungsleitung ist in den einzelnen Betrieben vor Ort ansässig, die strategische Leitung erfolgt von der Zentrale in Berlin.
Für das Cockpit- und Kabinenpersonal erfolgt die Leitung sämtlichst von Berlin heraus. Es existieren nur Crewräume an den Flughäfen für das Check-in Verfahren. In den Arbeitsverträgen sind die Homebases benannt. Wie besprochen, ist dieser Ort z.B. für Ruhezeitberechnungen etc. maßgeblich.
Ich bitte Sie mir, uns vor dem Hintergrund der vorstehenden Informationen mitzuteilen, bei welcher(n) Agentur(en) für Arbeit die Massenentlassungsanzeige gestellt werden muss. …“
26
Die Agentur für Arbeit Berlin Nord antwortete mit E-Mail vom 16. Oktober 2017:
„… Sie stellen dar, dass das Unternehmen in 3 Gruppen gegliedert ist und knüpfen dabei an Mitarbeitergruppen/Betriebsablaufstrukturen an: Bodenpersonal, Cockpitpersonal und Kabinenpersonal. Danach könnten diese in der ersten Grobgliederung als drei unabhängige Betriebe zu betrachten sein, wenn diese Strukturen so gelebt und in der Unternehmensrealität auch so abgebildet wurden, z.B. mit eigenen Betriebsnummern. Sollte dies der Fall sein und Sie diese Strukturen als abgegrenzte Betriebe bewerten, wäre für jeden Betrieb unter dem einheitlichen Unternehmen ein Antrag zu stellen.
…
Für die Bereiche Cockpit und Kabinenpersonal wäre nach bisher mitgeteilter Sachverhaltslage von einem Betrieb mit Sitz in Berlin auszugehen und damit von einer einheitlichen Antragstellung gegenüber der Agentur für Arbeit Berlin Nord für alles Personal, wenn sich solch getrennte Betriebsstrukturen tatsächlich bestätigen.
…“
27
Am 24. Oktober 2017 beschloss der vorläufige Gläubigerausschuss die vollständige Betriebseinstellung zum 31. Januar 2018 und wies die Eigenverwaltung an, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen.
28
Mit Schreiben vom 27. Oktober 2017 erstattete der Beklagte gegenüber dem Insolvenzgericht ein Gutachten, in dem es auszugsweise heißt:
„Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Eigenverwaltung die probate Verfahrensart jedenfalls bis zum Vollzug des Verkaufs der Betriebsteile und Beteiligungen oder aber auch nach einer bis zum Vertragsvollzug nicht auszuschließenden Betriebsstilllegung nach einer etwaigen Versagung der Genehmigung durch die Kartellbehörden ist. Es ist nicht zu erwarten, dass die Eigenverwaltung zu nachteiligen Veränderungen für die Gläubiger führen wird. …
…
Potentielle Kaufgegenstände sind insbesondere die Beteiligungen an der NIKI Luftfahrt GmbH, der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH und der Leisure Cargo GmbH sowie immaterielle Vermögenswerte. Besprochen wurde zudem die Übernahme von geleasten Flugzeugen.
Am 12. und 13. Oktober 2017 konnte ein Kaufvertrag mit Gesellschaften der Lufthansa-Gruppe als Käufern beurkundet werden. Kaufgegenstände sind insbesondere die mittelbare Beteiligung der Schuldnerin an der NIKI Luftfahrt GmbH, der Schuldnerin erteilte Slots und die von der Komplementärin gehaltenen Geschäftsanteile an der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH. Ferner wird die Lufthansa-Gruppe neben den von der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH und der NIKI Luftfahrt GmbH betriebenen Flugzeugen weitere 20 Flugzeuge von Leasinggebern übernehmen. Bei der NIKI Luftfahrt GmbH und der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH sind rund 1.700 Arbeitnehmer der airberlin group beschäftigt. Neben diesen Arbeitnehmern sollen mindestens 1.300 bisher bei der Schuldnerin beschäftigten Mitarbeiter eine Neuanstellung bei Gesellschaften der Lufthansa-Gruppe erhalten.
Im Kaufvertrag ist unter anderem die Zustimmung der vorläufigen Gläubigerausschüsse der beteiligten insolventen Rechtsträger, des vorläufigen Sachwalters und die Genehmigung der europäischen Wettbewerbsbehörde in Brüssel als aufschiebende Bedingung (Closing Bedingungen) enthalten. …
Die Verhandlungen mit dem Interessenten easyJet Airline Company Limited, London (England), konnten in dem zunächst vorgegebenen Zeitraum bis zum 12. Oktober 2017 nicht beendet werden. Die Gespräche gestalteten sich überaus schwierig, wurden mehrfach unterbrochen und erst am 13. Oktober 2017 wieder aufgenommen. Mit Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses wurde die Exklusivität mit der easyJet Airline Company Limited hinsichtlich einer Übernahme von Slots insbesondere in Berlin-Tegel, bis zu 25 Airbus A 320 Flugzeuge und die Neuanstellung von bis zu 1.000 Mitarbeitern der Schuldnerin verlängert. Die Gespräche dauern an.
…“
29
Am 27. Oktober 2017 schloss die Schuldnerin mit easyJet einen Vertrag (Asset Purchase Agreement) mit Vollzugsdatum 15. Dezember 2017 über die Übernahme von Slots, Flugbuchungen, Bezügen von Flugzeugsitzen und eines auf dem Rollfeld des Flughafens Berlin-Tegel befindlichen Crew Containers (Aufenthaltsraum für die Flugzeugbesatzung). EasyJet vereinbarte am 27. Oktober 2017 in einem englischsprachigen Vertrag mit der Gewerkschaft ver.di Regelungen über die Aufnahme von insgesamt 1.003 Arbeitnehmern des fliegenden Personals der Schuldnerin für den Flugbetrieb in Berlin-Tegel im Zeitraum von Januar bis September 2018 und schrieb entsprechende Stellen für „Ready Entries“ aus.
30
Am (Abend des) 27. Oktober 2017 landete der letzte im Namen der Schuldnerin durchgeführte Flug auf dem Flughafen Berlin-Tegel. Die Schuldnerin stellte damit ihren eigenwirtschaftlichen operativen Flugverkehr ein. Das Wet Lease für Eurowings wurde – nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts – mit (zuletzt) 13 Flugzeugen des Typs Airbus A320 von den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart aus von der Schuldnerin „unter Aufrechterhaltung“ ihrer Start- und Landeerlaubnisse (Slots) bis zum 31. Dezember 2017 fortgesetzt.
31
Unter dem 30. Oktober 2017 heißt es in einer als intern bezeichneten Mitteilung von N (airberlin, „CPO“) und F (K Rechtsanwälte) unter der Überschrift „CPO Update …“:
„Liebe airberliner,
…
Damit steht das Ergebnis des strukturierten Investorenprozesses fest, der unter den ungünstigen Rahmenbedingungen der Insolvenzanmeldung für die PLC, die Luftverkehrs KG und die airberlin technik durchgeführt werden musste:
●
Wir konnten über 2.000 Arbeitsplätze bei der LGW, NIKI, der Leisure Cargo und der airberlin technik retten.
●
1.300 Stellen schreibt die Lufthansa Group aus. Für airberlin Mitarbeiter gibt es ein vereinfachtes Bewerbungsverfahren. An den Stationen Hamburg, Düsseldorf, Köln und Stuttgart wird die Eurowings Deutschland neue First Officer, Kapitäne, Flugbegleiter und Purser unter Berücksichtigung der relevanten Vorerfahrungen der airberliner einstellen.
●
Rund 1.000 Stellen entstehen bei easyJet am Standort Berlin. Hier läuft seit Montag der vergangenen Woche das Bewerbungsverfahren.
●
Für 1.200 Beschäftigte in der Verwaltung und 550 Mitarbeiter der airberlin technik besteht die Möglichkeit, in eine Transfergesellschaft zu gehen.
…
Die Luftfahrtgesellschaft Walter (LGW) sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt Piloten und Flugbegleiter … für die Standorte Berlin und Stuttgart. Für das Cockpit werden Kapitäne und First Officer der A-320-Familie gesucht. Die Vorerfahrung der Piloten wird berücksichtigt. Bewerben können sich außerdem Ready Entry Cabin Crew Member und Ready Entry Senior Cabin Crew Member. Alle neuen Mitarbeiter werden im Streckennetz der LGW eingesetzt. Dies beinhaltet den innerdeutschen Verkehr sowie Ziele in Europa.
Bewerbungen können unter www.career.aero eingereicht werden. Für aktives Flugpersonal der airberlin wird ein verkürztes Auswahlverfahren durchgeführt. Bewerber anderer Airlines absolvieren das LGW Assessment Center.
Die LGW freut sich, alle Bewerber, welche sich für eine Stelle als Flugbegleiter interessieren, bei einem der Cabin Crew Castings in Berlin und Stuttgart persönlich kennenzulernen. Hierfür stehen noch folgende Termine zur Auswahl:
…“
32
Am 31. Oktober 2017 erfolgte die Anmeldung eines Zusammenschlusses nach der EG-Fusionskontrollverordnung (Verordnung (EG) Nr. 139/2004) betreffend die LGW und NIKI bei der Europäischen Kommission. Dazu heißt es im Amtsblatt der Europäischen Union vom 10. November 2017 (ABl. EU C 379 S. 14):
„Vorherige Anmeldung eines Zusammenschlusses
(Sache M.8633 – Lufthansa/certain Air Berlin assets)
(Text von Bedeutung für den EWR)
(2017/C 379/08)
1.
Am 31. Oktober 2017 ist die Anmeldung eines Zusammenschlusses nach Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates (1) bei der Kommission eingegangen.
Diese Anmeldung betrifft folgende Unternehmen:
–
Deutsche Lufthansa AG (‚Lufthansa‘, Deutschland),
–
NIKI Luftfahrt GmbH (‚NIKI‘, Österreich), Teil der Air-Berlin-Gruppe,
–
Luftfahrtgesellschaft Walter mbH (‚LGW‘, Deutschland), ebenfalls Teil der Air-Berlin-Gruppe.
Lufthansa erwirbt im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b der Fusionskontrollverordnung die Kontrolle über Teile der Air-Berlin-Gruppe, d.h. über die Gesamtheit von NIKI und LGW.
Der Zusammenschluss erfolgt durch Erwerb von Anteilen.
2.
Die beteiligten Unternehmen sind in folgenden Geschäftsbereichen tätig:
–
Lufthansa: Holdinggesellschaft einer Gruppe von Luftfahrtunternehmen, die insbesondere im Fluggastverkehr und auf Plattformen in Frankfurt, München, Brüssel, Zürich und Wien tätig sind;
–
NIKI: ist ein Direktfluganbieter mit Schwerpunkt auf Urlaubsreisenden. Er operiert von deutschen, österreichischen und schweizerischen Flughäfen aus und bedient hauptsächlich touristische Reisezeile im und rund um das Mittelmeer (wie die Balearen, griechische Inseln) sowie die Kanarischen Inseln;
–
LGW: Bis zum 28. Oktober 2017 betrieb LGW im Rahmen von Wet-Lease-Vereinbarungen an Air Berlin vermietete Luftfahrzeuge für Kurzstreckenlinien nach Düsseldorf und Berlin, in erster Linie als Zubringer für die Air-Berlin-Tätigkeiten. LGW soll als Zweckgesellschaft für die Fortsetzung des gegenwärtig von Air Berlin betriebenen Flugplans im Rahmen einer Wet-Lease-Vereinbarung mit der Lufthansa-Gruppe vom Dezember 2016 dienen. Vor dem Zusammenschluss soll ein Zeitnischen-Paket für die Wintersaison 2017/2018 sowie für die Sommersaison 2018 (einschließlich Zeitnischen für die Flughäfen Berlin-TXL, DUS, FRA und MUC) auf LGW zur Nutzung durch die Lufthansa-Gruppe übertragen werden.
3.
Die Kommission hat nach vorläufiger Prüfung festgestellt, dass das angemeldete Rechtsgeschäft unter die Fusionskontrollverordnung fallen könnte. Die endgültige Entscheidung zu diesem Punkt behält sie sich vor.
4.
Alle betroffenen Dritten können bei der Kommission zu diesem Vorhaben Stellung nehmen.
Die Stellungnahmen müssen bei der Kommission spätestens 10 Tage nach dieser Veröffentlichung eingehen. …“
33
Unter dem 1. November 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin durch Beschluss des Insolvenzgerichts eröffnet. Es wurde Eigenverwaltung angeordnet und der Beklagte zum Sachwalter bestellt. Dieser zeigte noch am gleichen Tage gegenüber dem Insolvenzgericht gemäß § 208 Abs. 1 Satz 2 InsO eine drohende Masseunzulänglichkeit an.
34
Die Schuldnerin stellte ab dem 1. November 2017 ihre im Flugbetrieb tätigen Beschäftigten – mit Ausnahme derjenigen, die als Crew der 13 im Wet Lease für Eurowings noch weiter eingesetzten Flugzeuge tätig waren – widerruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei.
35
Am 7. November 2017 erfolgte die Anmeldung eines Zusammenschlusses nach der sog. Fusionskontrollverordnung (Verordnung (EG) Nr. 139/2004) betreffend „Certain Air Berlin Assets“ bei der Europäischen Kommission. Dazu heißt es im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14. November 2017 (ABl. EU C 383 S. 11):
„Vorherige Anmeldung eines Zusammenschlusses
(Sache M.8672 – easyJet/Certain Air Berlin Assets)
(Text von Bedeutung für den EWR)
(2017/C 383/10)
1.
Am 7. November 2017 ist die Anmeldung eines Zusammenschlusses nach Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates (1) bei der Kommission eingegangen.
Diese Anmeldung betrifft folgende Unternehmen:
–
easyJet (VK),
–
Certain Air Berlin Assets (‚Zielunternehmen‘, Deutschland).
EasyJet übernimmt im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe b der Fusionskontrollverordnung die Kontrolle über Teile von Air-Berlin.
Der Zusammenschluss erfolgt durch Erwerb von Vermögenswerten.
2.
Die beteiligten Unternehmen sind in folgenden Geschäftsbereichen tätig:
–
easyJet: preisgünstige Direktflüge im europäischen Fluggastverkehr;
–
Zielunternehmen: Vermögenswerte, die zuvor zur Geschäftstätigkeit von Air Berlin am Flughafen Berlin Tegel gehörten, so u. a. Zeitnischen und Nachtabstellplätze.
3.
Die Kommission hat nach vorläufiger Prüfung festgestellt, dass das angemeldete Rechtsgeschäft unter die Fusionskontrollverordnung fallen könnte. Die endgültige Entscheidung zu diesem Punkt behält sie sich vor.
4.
Alle betroffenen Dritten können bei der Kommission zu diesem Vorhaben Stellung nehmen.
Die Stellungnahmen müssen bei der Kommission spätestens 10 Tage nach dieser Veröffentlichung eingehen. …“
36
Im Interessenausgleich vom 17. November 2017 zwischen der Schuldnerin und der PV Cockpit heißt es ua.:
„A. Ausgangslage
…
Im Ergebnis, so erklärt es der Arbeitgeber, habe sich kein Investor gefunden, der bereit sei, das Unternehmen im ganzen oder in wesentlichen Teilen fortzuführen. Vielmehr haben zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Interessenausgleichs Unternehmen der Deutschen Lufthansa Group (Deutsche Lufthansa AG/Eurowings GmbH/ÖLH Österreichische Luftverkehrs Holding GmbH/Lufthansa Commercial Holding GmbH) Start- und Landerechte, Beteiligungen an den der Air Berlin Gruppe zugehörigen Gesellschaften (Luftfahrtgesellschaft Walter mbH und NIKI Luftfahrt GmbH) erworben sowie Luftfahrzeuge übernommen, die bisher aufgrund entsprechender Leasingverträge im Besitz der Air Berlin LV KG waren. Zum anderen hat mit der easyJet Airline Company Limited ein weiteres Unternehmen Start- und Landerechte der Air Berlin LV KG sowie Luftfahrzeuge übernommen, die bisher aufgrund entsprechender Leasingverträge im Besitz der Air Berlin LV KG waren.
Die Air Berlin LV KG wird die Leasingverträge für Luftfahrzeuge in ihrem Besitz nach der Insolvenzeröffnung fristgerecht kündigen bzw. die Vertragsverhältnisse beenden, soweit die Luftfahrzeuge nicht für den weiteren Einsatz im ‚wet lease‘ benötigt werden. Insoweit werden die Leasingverhältnisse bis spätestens 31.01.2018 beendet.
… Seit Ablauf des 27.10.2017 ist der operative Flugverkehr im Namen und auf Rechnung der Air Berlin LV KG eingestellt worden; für einen Zeitraum bis maximal 31. Januar 2018 werden voraussichtlich auf zunächst 13, ab Dezember 2017 neun im Besitz der Air Berlin LV KG verbleibenden Luftfahrzeugen lediglich Flüge und Dienstleistungen im Rahmen des sog. ‚Wet Lease‘ für die Eurowings GmbH von den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart aus erbracht. Ein eigenwirtschaftlicher Flugverkehr erfolgt nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 01.11.2017 nicht mehr.
Da die vorstehenden Maßnahmen nach Auffassung des Arbeitgebers eine Betriebsänderung gem. § 80 S. 4 Nr. 1 TVPV darstellen, hat Air Berlin LV KG zu Interessenausgleichsverhandlungen aufgefordert.
Die Personalvertretung hat diesbezüglich erhebliche Bedenken und nimmt zur Kenntnis, dass der Arbeitgeber der Ansicht ist, dass trotz der vorgenannten Veräußerungen an die beiden Erwerbergruppen eine Betriebsstilllegung durch die Air Berlin LV KG und nicht ein Betriebsübergang nach § 613a BGB erfolgt.
Die Personalvertretung ist in dieser Frage anderer Auffassung. Aus diesem Grund regelt dieser Interessenausgleich die nähere Ausgestaltung dieser Betriebsänderung ohne jedes Präjudiz für die Frage, ob es sich bei den zukünftigen Folgen des Veräußerungsprozesses um einen Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB handelt.
…
C. Betriebsänderung
I. [Stilllegung des Geschäftsbetriebs]
Die wirtschaftliche Betätigung der AIR BERLIN LV KG soll unverzüglich, spätestens zum 31.01.2018 aufgegeben werden. Im Zuge dessen wird Air Berlin LV KG die bestehenden Geschäftsbeziehungen beenden, die bestehenden Dauerschuldverhältnisse, hier insbesondere die Leasingverträge über die Flugzeuge beenden und zur Vermeidung weiterer Verluste und einer insolvenzrechtlich unzulässigen Schmälerung der Masse keinen Flugbetrieb mehr aufrecht erhalten. Die werbende Geschäftstätigkeit wird ebenfalls vollständig aufgegeben.
Der reguläre Flugbetrieb auf eigene Rechnung und im eigenen Namen der Air Berlin LV KG ist bereits seit dem 28.10.2017 eingestellt. Ein Verkauf von Flugtickets erfolgt nicht mehr.
Im Rahmen des Phase-Out ab dem 28.10.2017 werden noch ausschließlich diejenigen Flugleistungen erbracht, die der Überführung bzw. Rückgabe der Flugzeuge oder dem Aufrechterhalten des ‚Wet Lease‘ sowie dem Erhalt der erforderlichen Lizenzen und Start- und Landeerlaubnisse (‚Slots‘) dienen. Mit Beendigung der von diesem Interessenausgleich umfassten und betroffenen Arbeitsverhältnisse wird keinerlei wirtschaftliche Betätigung, kein Flugbetrieb in eigenem oder auf fremden Namen und keine Betriebstätigkeit mehr stattfinden. Das Phase-Out soll bis spätestens 31.01.2018 beendet sein. Ab diesem Zeitpunkt erfolgt auch keine Durchführung von Flugleistungen mehr im Rahmen des Wet Lease und das Luftverkehrsbetreiberzeugnis (AOC) der Air Berlin LV KG wird nicht weiter genutzt.
II. [Freistellungen]
Im Rahmen des Phase-Out wird der Arbeitgeber die Arbeitnehmer des Cockpitpersonals an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart zur Durchführung des Wet Lease insgesamt auch über den 28.10.2017 bis zum 31.01.2018 weiterbeschäftigen. Cockpitmitarbeiter anderer Stationen werden wegen der Einstellung des Flugbetriebs im Übrigen und weil ihr Proceeding an die weiterhin beflogenen Stationen auf Kosten der Air Berlin LV KG erfolgen würde und damit eine Masseschmälerung zur Folge hätte, mit Inkrafttreten dieses Interessenausgleichs unverzüglich unwiderruflich freigestellt.
…
III. [Betriebsbedingte Kündigungen]
Air Berlin LV KG wird allen Arbeitnehmern des Cockpitpersonals unter Beachtung der jeweils maßgeblichen individuellen Kündigungsfrist unverzüglich eine betriebsbedingte Kündigung unter Einhaltung der individuell maßgeblichen Kündigungsfrist, begrenzt auf die Maximalfrist von 3 Monaten zum Monatsende gem. § 113 S. 2 InsO, soweit gesetzlich zulässig, aussprechen. …
IV. [Sozialauswahl]
Aufgrund der Kündigung aller Arbeitnehmer entfällt das Erfordernis, unter den betroffenen Arbeitnehmern eine Sozialauswahl in Bezug auf den Ausspruch der Kündigungen durchzuführen.
D. [Beteiligung der Personalvertretung Cockpit
I. [Konsultationsverfahren]
Der Arbeitgeber hat das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG gegenüber der PV Cockpit mit Schreiben vom 13.10.2017 eingeleitet. Der PV Cockpit ist vorab eine Personalliste mit allen für die Beurteilung der Betriebsänderung und der Kündigungen notwendigen Informationen vorgelegt worden. Gleichzeitig erfolgte die Information der PV Cockpit und eine Konsultation gemäß § 17 KSchG. Die Betriebsparteien haben ausführlich die Gründe für die vorzunehmenden Entlassungen, die Zahl und Berufsgruppen der zu kündigenden und der insgesamt beschäftigten Mitarbeiter, die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer und die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien erörtert, beraten und insbesondere überlegt, welche Möglichkeiten zur Vermeidung eines Arbeitsplatzverlustes bestehen. Mit Abschluss dieser Vereinbarung ist das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen. Diese Vereinbarung wird als alleinige Stellungnahme der PV Cockpit nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG der Agentur für Arbeit übersandt; eine darüber hinausgehende Stellungnahme ist nicht beabsichtigt.
…
E. Verhandlungsverpflichtung
[I. Änderung der Sachlage]
Der Arbeitgeber verpflichtet sich, bei einer Änderung der Sachlage im Hinblick auf die unter A. geschilderte Ausgangslage und die unter C. beschriebene Betriebsänderung bis zur – aus Sicht des Arbeitgebers – vollständigen Stilllegung des Betriebs mit der PV Cockpit unverzüglich in Verhandlungen über eine Änderung dieses Interessenausgleichs einzutreten, mit dem Ziel, Arbeitsplätze zu erhalten.
[II. Nachverhandlungsklausel]
Sollte der Arbeitgeber im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen mit den Beschäftigtengruppen Boden oder Kabine gegenüber diesem Interessenausgleich inhaltlich abweichende Regelungen vereinbaren, ist er bis zur – aus Sicht des Arbeitgebers – vollständigen Stilllegung des Betriebs verpflichtet, mit der PV Cockpit unverzüglich über eine entsprechende Anpassung dieses Interessenausgleichs in Verhandlungen einzutreten.
[III. Etwaige Wiedereinstellung]
…“
37
Mit Schreiben vom 20. November 2017, das der PV Cockpit am selben Tag zuging, hörte die Schuldnerin die PV Cockpit zur beabsichtigten betriebsbedingten Kündigung sämtlicher in einer zugehörigen Anlage 2 benannten Beschäftigten – sämtliche Cockpit-Beschäftigte, darunter der Kläger – an. Zur Begründung führte sie ua. die im Interessenausgleich vom 17. November 2017 dargestellte Situation an.
38
Ab dem 21. November 2017 stellte die Schuldnerin die zuvor widerruflich freigestellten Beschäftigten unwiderruflich von der Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung frei.
39
Mit Schreiben und Formular vom 24. November 2017 erstattete die Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord eine Massenentlassungsanzeige betreffend das Cockpitpersonal. Beigefügt waren im Anlagenkonvolut – neben dem ausgefüllten Formular der Entlassungsanzeige nebst Anlagen – der Stilllegungsbeschluss vom 12. Oktober 2017 und der Interessenausgleich mit der PV Cockpit vom 17. November 2017. Die Schuldnerin gab die Zahl der in der Regel im Cockpit tätigen und zu entlassenden Beschäftigten mit „1301“ an. Der Zeitraum der voraussichtlichen Entlassungen wurde auf die Zeit vom 27. November 2017 bis zum 26. Dezember 2017 bestimmt.
40
Mit Schreiben vom 27. November 2017, in dem es im Betreff heißt: „Anhörung gemäß § 74 TVPV zu den beabsichtigten ordentlichen Kündigungen der Arbeitsverhältnisse im Cockpit aufgrund Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“, erhob die PV Cockpit unter Bezugnahme auf § 74 Abs. 2 Satz 1 TVPV Bedenken gegen die beabsichtigten Kündigungen und stimmte diesen ausdrücklich nicht zu. Zur Begründung führte sie aus, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass mit den Erwerbungen durch Unternehmen der Deutschen Lufthansa Group (Deutsche Lufthansa AG/Eurowings GmbH/ÖLH Österreichische Luftverkehrs Holding GmbH/Lufthansa Commercial Holding GmbH) bzw. easyJet auch die Übernahme einer bestehenden Arbeitsorganisation verbunden sei und die bestehende wirtschaftliche Einheit iSv. § 613a BGB fortgeführt werde, folglich die Kündigungen nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB unwirksam seien. Werde ein Teil des Betriebs fortgeführt, sei jedenfalls eine Sozialauswahl vorzunehmen.
41
Mit Schreiben vom 28. November 2017 bestätigte die Agentur für Arbeit Berlin Nord der Schuldnerin den vollständigen Eingang der Entlassungsanzeige am 24. November 2017.
42
Mit Schreiben vom 28. November 2017, dem Kläger am 29. November 2017 zugegangen, kündigte die Schuldnerin – mit Zustimmung des Beklagten in seiner Funktion als Sachwalter – das Arbeitsverhältnis des Klägers unter Hinweis auf die dreimonatige Kündigungsfrist gemäß § 113 InsO zum 28. Februar 2018. Zeitgleich kündigte sie die Arbeitsverhältnisse sämtlicher anderer Beschäftigten des Bereichs Cockpit mit Ausnahme der unter besonderem Kündigungsschutz stehenden Beschäftigten.
43
Am 12. Dezember 2017 entschied die Europäische Kommission, bezüglich der am 7. November 2017 angemeldeten beabsichtigten Transaktionen mit easyJet betreffend „Certain Air Berlin Assets“ keine Einwände zu erheben.
44
Am 13. Dezember 2017 trat die Lufthansa Gruppe von der im Anteilskauf- und Übertragungsvertrag vom 13. Oktober 2017 vereinbarten Option des Kaufs von Anteilen der NIKI durch ein Unternehmen der Lufthansa Gruppe wegen wettbewerbsrechtlicher Bedenken zurück.
45
Am 21. Dezember 2017 entschied die Europäische Kommission, keine Einwände zu erheben bezüglich des am 31. Oktober 2017 angemeldeten Zusammenschlusses betreffend die LGW. In der Entscheidung heißt es nach der vom Kläger eingereichten beglaubigten Übersetzung auszugsweise:
„3.
DER BETRIEB
(9)
Am 13. Oktober 2017 schloss die Lufthansa einen Vertrag über den Kauf sämtlicher Anteile an der LGW und an der NIKI sowie weiterer Vermögenswerte und Rechte von Air Berlin. Wie in Absatz 2 erklärt wurde der Umfang der Akquisition am 13. Dezember 2017 geändert, mit dem Ergebnis, dass die Transaktion auf den Erwerb sämtlicher Anteile an der LGW sowie der zusätzlichen Flugzeuge, Besatzungsmitglieder und Flughafenslots, die vor Abschluss auf die LGW übertragen werden würden, durch die Lufthansa beschränkt war.
(10)
Vor Abschluss der Akquisition würde die Air Berlin bis zu […] Flugzeuge vom Typ A320 inklusive der entsprechenden Besatzung sowie Flughafenslots, insbesondere in den Flughäfen Düsseldorf, Hamburg, München, Berlin Tegel und Zürich, wie im nächsten Absatz genauer beschrieben, auf die LGW übertragen. Im Zuge der Transaktion würde die Lufthansa die somit auf die LGW übertragenen Flugzeuge, Besatzungsmitglieder und Flughafenslots ebenfalls erwerben.
(11)
Die Slots, die von der Air Berlin auf die LGW übertragen werden würden, beziehen sich auf die IATA-Winterflugplanperiode 2017/2018 sowie auf die IATA-Sommerflugplanperiode 2018. Diese bestehen aus zwei verschiedenen Slot-Arten. Eine Gruppe besteht aus den Slots, die zwar der Air Berlin gehörten, jedoch von der LGW für Flüge mit dem Turboprop-Flugzeug Dash 8 Q400 genutzt wurden, bevor die Air Berlin am 28. Oktober 2017 den Betrieb eingestellt hat (die ‚LGW-Slots‘). Die zweite Gruppe besteht aus einigen der Slots, die der Air Berlin gehörten und von dieser (nicht von LGW) für verschiedene Routen genutzt wurden, einschließlich insbesondere, Slots in den Flughäfen Düsseldorf und Berlin Tegel, bevor die Air Berlin den Betrieb eingestellt hat (die ‚zusätzlichen Slots‘).
(12)
Laut Lufthansa dient der Erwerb der LGW dem Zweck, die Fortführung der Kooperation zwischen der Air Berlin und der Lufthansa sicherzustellen (über ihre Tochtergesellschaften Eurowings und Austrian) auf Basis des im Dezember 2016 abgeschlossenen Wetlease-Vertrags (der ‚Roof Wetlease‘). Die Air Berlin vermietet gemäß dem Roof Wetlease insgesamt […] Flugzeuge mit Besatzung an Eurowings ([…] Flugzeuge) und Austrian ([…] Flugzeuge). Zudem vermietet die Air Berlin […] Ersatzflugzeuge an Eurowings. Im Rahmen des Roof Wetlease wurden in Verbindung mit diesen […] Flugzeugen keine Slots oder sonstigen Vermögenswerte auf die Lufthansa übertragen. Das Roof Wetlease wurde ursprünglich für eine Gesamtlaufzeit von bis zu […] Jahren geschlossen. Im Rahmen der Transaktion wird die LGW als Vehikel fungieren, welches den derzeit aktuellen Flugplan gemäß dem Roof Wetlease weiter bedienen wird.
4.
DER ZUSAMMENSCHLUSS
(13)
Im Zuge der Transaktion würde die Lufthansa die alleinige Kontrolle über die LGW und die auf sie übertragenen Flugzeuge, Besatzungsmitglieder und Flughafenslots erwerben. Die LGW ist eine Rechtsperson, die Flugzeuge betreibt und über eine Betriebserlaubnis verfügt, einschließlich eines Luftverkehrsbetreiberzeugnisses (Air Operator`s Certificate, AOC), womit sie zum Betrieb dieser Flugzeuge berechtigt ist. Die LGW selbst besaß keine Slots, sondern nutzte die Slots von Air Berlin für ihren Betrieb. Die von Air Berlin auf die LGW übertragenen Slots würden jedoch zusammen mit den anderen übertragenen Vermögenswerten und Ressourcen Teil des Unternehmens sein, das die Lufthansa vorbehaltlich der Einhaltung der Slot Regulation erwerben würde. Zusammengenommen stellt die Rechtsperson LGW mit den vor Abschluss auf sie übertragenen Vermögenswerten, Ressourcen und Rechten ein Unternehmen mit Marktpräsenz dar, dem ein Umsatz auf dem Markt eindeutig zugeordnet werden kann. Die LGW und die zusätzlichen Flugzeuge, Besatzungsmitglieder und Slots, die auf sie übertragen werden würden, stellen somit ein Unternehmen bzw. den Teil eines Unternehmens im Sinne der Fusionskontrollverordnung (Merger Regulation) dar.
(14)
Die Transaktion stellt somit einen Zusammenschluss im Sinne des Artikels 3(1)(b) der Fusionskontrollverordnung dar.
(15)
Am 10. Oktober 2017 beantragte die Lufthansa gemäß Artikel 7(3) der Fusionskontrollverordnung eine Ausnahme von der hemmenden Bestimmung des Artikels 7(1) der Fusionskontrollverordnung. Im Einzelnen beantragte die Lufthansa, dass sie die Erlaubnis erhalten solle, die Air Berlin als dry lessee mehrerer Flugzeuge zu ersetzen (bzw. diese zu kaufen), um zu vermeiden, dass die Vermieter dieser Flugzeuge diese wieder in Besitz nehmen würden, wenn die Air Berlin die gemäß den Mietverträgen fälligen Beträge nicht bezahlen kann. Zudem beantragte die Lufthansa, dass sie die Erlaubnis erhalten solle, Wetlease-Verträge mit der LGW und der NIKI als Vermieter und der Lufthansa als Mieterin abzuschließen. Dies würde es der LGW und der NIKI ermöglichen, die von Air Berlin gemäß dem Roof Wetlease erbrachten Leistungen selbst zu erbringen.
(16)
Am 27. Oktober 2017 erteilte die Kommission eine Ausnahme auf Basis von Artikel 7(3) der Fusionskontrollverordnung unter Auflagen, die sicherstellen sollten, dass die von der Lufthansa ergriffenen Maßnahmen keine negativen Auswirkungen auf die NIKI und die LGW haben würden bzw. dass der Verkauf der NIKI und der LGW, als Gesamtes oder in Teilen, an andere Käufer nicht erschwert wird, sollte dies künftig geschehen.
5.
EU-WEITE BEDEUTUNG
(17)
Die betreffenden Unternehmen haben zusammengenommen einen weltweiten Gesamtumsatz von mehr als EUR 5 000 Millionen (Lufthansa: EUR 31 660 Millionen; LGW und NIKI zusammen: EUR […] Millionen.
…
6.
BESCHREIBUNG DER TÄTIGKEITEN DER LGW
(22)
Laut Lufthansa werden mit dem geplanten Erwerb der LGW verschiedene Ziele verfolgt: (I) die Einstellung der Leistungen, die die LGW gegenüber der Air Berlin erbracht hat, und der Austausch von Air Berlin mit LGW im Rahmen des zwischen der Air Berlin und der Lufthansa bestehenden RoofWetlease; (II) die dauerhafte Integration der gemäß dem Roof Wetlease eingesetzten Flugzeuge und Besatzungsmitglieder in das Unternehmen der Lufthansa; und (III) die Übernahme eines zusätzlichen Slot-Pakets (die LGW-Slots und die zusätzlichen Slots).
(23)
Die LGW war vor der Transaktion als Wetlease-Dienstleister für die Air Berlin tätig und agierte somit hauptsächlich als Produktionsplattform innerhalb der Air Berlin Gruppe. Die für den Flugbetrieb genutzten Slots gehörten der Air Berlin und die Tickets für diese Flüge wurden von ihr vermarktet und verkauft. Das heißt, dass die Air Berlin eine Position auf den Märkten (Routen) für Passagierdienstleistungen im Luftverkehr einnahm, während die LGW auf dem Markt für das Wetleasing von Flugzeugen tätig war, wenn auch lediglich auf konzerninterner Grundlage.
(24)
Nach der Betriebseinstellung der Air Berlin-Flotte am 28. Oktober 2017 hat die Air Berlin ihre Stellung auf den Märkten für Passagierdienstleistungen im Luftverkehr verloren. Die LGW hat zwar ihre Tätigkeiten als interner Wetlessor für die Air Berlin eingestellt, agierte aber weiterhin als Wetlessor am Handelsmarkt, wobei sie die Air Berlin als Lufthansas Wetlessor ersetzte. Die LGW führte somit Eurowings-Flüge aus, die zuvor von der Air Berlin gemäß dem Roof Wetlease ausgeführt worden waren. Zu diesem Zweck hat die Lufthansa eine Ausnahme von der Stillhaltezeit gemäß Artikel 7(3) der Fusionskontrollverordnung beantragt, welche die Kommission am 27. Oktober 2017 gewährte, einen Tag vor der Betriebseinstellung der Air Berlin. Die Ausnahme wurde unter den Auflagen gewährt, dass die NIKI und die LGW im Falle eines vollständigen bzw. teilweisen Erwerbs der NIKI oder der LGW durch einen anderen Käufer als der Lufthansa erhalten bleiben.
(25)
Vor diesem Hintergrund ist die Kommission der Ansicht, dass die Air Berlin und die LGW ihren Betrieb auf den Märkten für Passagierdienstleistungen im Flugverkehr bzw. das Wetleasing von Flugzeugen vor und unabhängig von der Transaktion eingestellt haben. Des Weiteren hat der Abschluss des Wetlease-Vertrags zwischen der Lufthansa und der LGW nur geringen Einfluss auf diese zwei Märkte, insofern als dass hierdurch das bereits zwischen der Lufthansa und der Air Berlin bestehende Roof Wetlease ersetzt wird.“
46
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts fand nach dem 31. Dezember 2017 kein Flugbetrieb der Schuldnerin mehr statt, zudem wurde am 9. Januar 2018 der am 13. Oktober 2017 vereinbarte Anteilserwerb an der LGW durch die Deutsche Lufthansa-Tochtergesellschaft Lufthansa Commercial Holding GmbH (sog. Closing) vollzogen.
47
Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 17. Januar 2018 wurde die Eigenverwaltung aufgehoben und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestimmt.
48
Mit Ablauf des 31. Januar 2018 erloschen die für die Aufrechterhaltung des Flugbetriebs der Schuldnerin erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen, darunter insbesondere das AOC der Schuldnerin. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Schuldnerin die Mietverträge und sonstige den Geschäftsbetrieb betreffenden Verträge beendet. Sie verfügte zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr über Flugzeuge und auch nicht mehr über Flugzeug-Leasingverträge. Sämtliche Arbeitsverhältnisse – mit Ausnahme derjenigen, für deren Kündigung behördliche Erlaubnisse erforderlich waren und noch nicht vorlagen – hatte die Schuldnerin gekündigt.
49
Mit der am 18. Dezember 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen, zunächst noch gegen die Schuldnerin gerichteten Kündigungsschutzklage hat der Kläger die ihm am 29. November 2017 zugegangene Kündigung vom 28. November 2017 angegriffen.
50
Er hat gemeint, die Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil sie sozial nicht gerechtfertigt sei. Insoweit fehle es bereits an einem Kündigungsgrund. Die Schuldnerin habe zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nicht die Absicht gehabt, den Betrieb stillzulegen. Gegen eine Stilllegungsabsicht spreche bereits, dass dem Kabinenpersonal nicht zeitgleich gekündigt worden sei. Vielmehr seien, wie sich aus den Verhandlungen, Verträgen, Ankündigungen und Anmeldungen ergebe, der Übergang des Betriebs der Schuldnerin auf die Erwerberin Lufthansa-Gruppe – insbesondere auf die Eurowings und die übertragene LGW – bzw. auf den Erwerber easyJet und die Fortführung des Betriebs beabsichtigt gewesen. Im Kündigungszeitpunkt sei die Übernahme von wesentlichen Vermögenswerten, insbesondere von Flugzeugen, von vielen Slots (teilweise im Wege einer Übertragung auf die als „Vehikel“ dienende LGW), des Wet Lease-Auftrags für die Eurowings und von Nachtparkplätzen geplant gewesen. Auch habe man schon damals die Übernahme von Personal der Schuldnerin geplant. Dies betreffe die Übernahme von Personal im Wege der Einstellung sog. „Ready Entries“, die mit Unterstützung der Schuldnerin geplant, beworben und letztlich durchgeführt worden sei und die vereinbarte Einstellung von 13 Besatzungsäquivalenten bei der LGW. Auch seien Beschäftigte mit besonderer Sachkunde übernommen worden. So habe die LGW den bisherigen Flight Safety-Trainer sowie vier sog. Trainer/Checker der Schuldnerin, die bisher für die Schuldnerin in Düsseldorf tätig waren, eingestellt. Diese Mitarbeiter hätten alle von der LGW übernommenen Piloten der Schuldnerin sodann im Rahmen des erforderlichen „Operator Conversion Course [OCC]“ geschult, der seinerseits mit Zustimmung des Luftfahrtbundesamts für ehemaliges Personal der Schuldnerin verkürzt gewesen sei. Zum Kündigungszeitpunkt sei auch die Übernahme weiterer Betriebsmittel etc. geplant gewesen, was sich an deren späterer Übernahme zeige. So sei das Kundenbuchungssystem nebst den bestehenden Buchungen von easyJet übernommen worden und die LGW, die zuvor kein System zur Planung des Personaleinsatzes gehabt habe, habe die Software „AIMS“ für die Personal-, Flug- und Flugzeugplanung sowie die für die Wartung der Flugzeuge wichtige Software „AMOS“ von der Schuldnerin übernommen. Im Prinzip seien alle geplanten Übertragungen bzw. Übernahmen – mit Ausnahme der Übertragung der NIKI – durchgeführt worden.
51
Auch aus dem Gutachten des Beklagten vom 27. Oktober 2017 für das Insolvenzgericht ergebe sich, dass ein Betriebs(teil)übergang vorliege und dass der Beklagte davon im Kündigungszeitpunkt Kenntnis gehabt habe. Zuletzt sei ab November 2017 der Bereich Wet Lease der einzige Betriebszweck und Betrieb(steil) der Schuldnerin gewesen; dieser sei im Dezember 2017 von der LGW übernommen worden und dann mit dieser zur Lufthansa-Gruppe gewechselt.
52
Weitere Betriebe bzw. jedenfalls Betriebsteile innerhalb des Luftfahrtunternehmens der Schuldnerin seien die einzelnen Flugzeuge. Die Lufthansa-Gruppe habe 2/3 davon übernommen. Betriebe bzw. Betriebsteile seien aber auch die Stationen zusammen mit den ihnen zugeordneten Slots und den dort stationierten Piloten, jedenfalls die Stationen auf den Flughäfen Berlin und Düsseldorf, die über ausreichend Personal verfügt hätten und nicht auf „Proceedings“, dh. die Beförderung von fliegendem Personal als Passagier von oder zu einem Einsatzort angewiesen gewesen seien. Eurowings habe den Betrieb Düsseldorf, der über den Crew Contact, den Stationskapitän und den Stationsleiter sowie den weisungsbefugten Area Manager Cockpit eigenständig gewesen sei – was sich auch aus der gegenüber der Europäischen Kommission abgegebenen Information ergebe – einschließlich der Mehrzahl der Langstreckenflüge von diesem Flughafen aus übernommen. Den Betriebsteil am Flughafen Berlin habe easyJet im Wege des Betriebsteilübergangs übernommen. Weitere Betriebsteile seien die verschiedenen Strecken (Lang-, Kurz- und Mittelstrecke) und die Flugzeugtypen (wie Airbus A319, A320, A321, A330 oder Bombardier Dash-Q-400).
53
Er, der Kläger, sei den Betriebsteilen „Flugzeuge der Typen A 319/320/321“, Kurz- und Mittelstrecke, Wet Lease für Eurowings und Flughafen Köln zugeordnet, die auf die LGW bzw. auf Eurowings übergegangen seien. Insoweit verstoße die Kündigung gegen § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB. Sie sei allerdings auch dann unwirksam, wenn er, der Kläger keinem der übergegangenen Betriebe bzw. Betriebsteile zuzuordnen sei, da im Hinblick auf einen erfolgten Betriebsteilübergang eine Sozialauswahl entsprechend den Vorgaben des Kündigungsschutzgesetzes hätte durchgeführt werden müssen.
54
Die PV Cockpit sei nicht ordnungsgemäß iSv. § 74 TVPV zur Kündigung angehört worden. Zudem sei das Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG mit der PV Cockpit nicht ordnungsgemäß erfolgt.
55
Die Massenentlassungsanzeige sei wegen der Angabe unzutreffender Zahlen an mehreren Stellen objektiv falsch. Dies führe auch dann zur Unwirksamkeit der Kündigung des Klägers, wenn sich die einzelnen Fehler nicht auf ihn bezögen. Insoweit hätte ua. bei der Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer auch das Kabinenpersonal angegeben werden müssen. Dafür spreche auch § 24 KSchG. Die Massenentlassungsanzeige hätte schon aufgrund der räumlichen Entfernung für jede Station einzeln abgegeben werden müssen. Es hätten bei einem Betriebsteilübergang zudem Angaben zur Sozialauswahl gemacht werden müssen. Die Agentur für Arbeit habe die Fehlerhaftigkeit der Angaben nicht erkennen können. Im Übrigen sei durch die Unterzeichnung von Frau N und die Mitunterzeichnung des Sachwalters die Schriftform für die Massenentlassungsanzeige nicht gewahrt.
56
Der Kläger hat zuletzt – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – sinngemäß beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung der Schuldnerin vom 28. November 2017, zugegangen am 29. November 2017, nicht aufgelöst worden ist.
57
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei wegen beabsichtigter Betriebsstilllegung sozial gerechtfertigt. Das Bieterverfahren habe nicht zur Übernahme des Betriebs im Ganzen oder in wesentlichen Teilen geführt, potentielle Investoren hätten nur Interesse an einzelnen Vermögenswerten gezeigt. Die weiteren Verhandlungen mit nur zwei Bietern – der Lufthansa Gruppe und der Fluggesellschaft easyJet – seien dann nur über einzelne Vermögenswerte geführt worden. Die am 12. Oktober 2017 getroffene, wirtschaftlich und insolvenzrechtlich unabdingbare Entscheidung zur Stilllegung des gesamten Betriebs sei der Grund für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Die so beabsichtigte Stilllegung habe zum Zeitpunkt der Kündigung auch greifbare Formen angenommen gehabt und sei schließlich durchgeführt worden. Unter anderem seien die Geschäftsräume aufgegeben, die Stilllegungsentscheidung öffentlich gemacht und alle Leasingverträge über Flugzeuge und alle Dauerschuldverhältnisse beendet worden. Ein Interessenausgleich und Sozialplan sei verhandelt und geschlossen und alle Arbeitsverhältnisse seien gekündigt worden. Seit Ende 2017 seien keine Flüge mehr durchgeführt worden. Alle für einen Flugbetrieb erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen seien zum 31. Januar 2018 erloschen. Da der gesamte Betrieb stillgelegt worden sei, habe es einer Sozialauswahl nicht bedurft.
58
Soweit der Kläger einen Betriebs- bzw. Betriebsteilübergang behaupte, habe er diesen – obgleich ihn insoweit die Darlegungs- und Beweislast treffe – nicht dargetan. Ein solcher habe auch nicht stattgefunden. Bei der Schuldnerin habe es nur einen einheitlichen Flugbetrieb gegeben, der Ende 2017/Anfang 2018 insgesamt stillgelegt worden sei. Selbständige Betriebsteile, insbesondere die vom Kläger behaupteten Betriebsteile iSv. § 613a BGB habe es nicht gegeben. Die Flugzeuge seien nicht einer bestimmten Station, einer bestimmten Crew oder bestimmten Slots zugeordnet gewesen. Sämtliche Dienst-, Einsatz- und Bereitstellungspläne seien zentral in der durchgehend besetzten Unternehmenszentrale in Berlin erstellt bzw. entschieden worden. Dort seien auch die eilbedürftigen Entscheidungen wie Umplanungen bei Havarien oder Crewplanungen bei kurzfristigen Ausfällen getroffen worden. Dasselbe gelte ua. für die unter Beteiligung der dort ansässigen Personalvertretungen des Cockpit- und Kabinenpersonals durchgeführte saisonale Umlaufplanung, die monatliche Dienstplanung, die Jahresurlaubsplanung und Personalgespräche. In Düsseldorf hätten lediglich untergeordnete administrative Bereiche existiert. Die insgesamt vier Area Manager Cockpit hätten dezentral für das gesamte Bundesgebiet als Bindeglieder zwischen dem Führungspersonal in Berlin und dem Cockpitpersonal vor Ort agiert, ohne jedoch über eigene Weisungsbefugnisse zu verfügen.
59
Es seien lediglich einzelne Vermögenswerte an mehrere Erwerber im Rahmen der Verwertung und unter Zerschlagung des Betriebs übertragen worden. Soweit unterstellt werde, es habe bei der Schuldnerin überhaupt einen übertragbaren Betriebsteil gegeben – was nicht der Fall sei – habe jedenfalls kein Erwerber einen solchen erworben und fortgeführt. So sei beim Wet Lease in Anbetracht des Einsatzes von 38 Flugzeugen bei der Schuldnerin, davon 33 für Eurowings und 5 für Austrian Airlines, eine Übernahme von lediglich 13 Flugzeugen durch LGW nicht als Betriebs(teil)übergang zu qualifizieren. Zudem könne das Wet Lease vor dem Hintergrund, dass die Flüge in den Monaten November und Dezember 2017 im Rahmen der Abwicklung durchgeführt worden seien, schon mangels Dauerhaftigkeit keinen Betriebsteil darstellen.
60
Die Anhörung der PV Cockpit zu der beabsichtigten Kündigung, das Konsultationsverfahren und die Massenentlassungsanzeige seien ordnungsgemäß durchgeführt worden, was sich aus den eingereichten Unterlagen ergebe. Etwa fehlerhafte Angaben beruhten offensichtlich auf einem Übertragungsfehler und seien durch die beigefügte anonymisierte Liste sowie durch eine Korrekturmitteilung vom 28. November 2017 an die Agentur für Arbeit korrigiert worden und wirkten sich im Übrigen nicht auf den Kläger aus. Die Massenentlassungsanzeige sei ordnungsgemäß durch die Prokuristin unterzeichnet worden, während der Beklagte als Sachwalter lediglich seine Zustimmung erklärt habe.
61
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Feststellungsbegehren weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
62
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte die Berufung des Klägers gegen die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts über den Feststellungsantrag nicht zurückweisen. Die Kündigungsschutzklage ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die Kündigung der Schuldnerin vom 28. November 2017 nicht aufgelöst. Die Kündigung ist – anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat – nach § 17 Abs. 1 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam, da die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erstattet wurde (dazu unter B).
63
A. Allerdings begegnet aus Sicht des Senats auch die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung der Schuldnerin vom 28. November 2017 sei sozial gerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 KSchG und auch nicht nach § 613a Abs. 4 BGB unwirksam, erheblichen revisionsrechtlichen Bedenken. Nach den vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen und dem übrigen unstreitigen Parteivorbringen spricht nämlich viel dafür, dass die Schuldnerin ihren Betrieb nicht vollständig, sondern nur teilweise stillgelegt hat und dass es im Übrigen zu einem Betriebsteilübergang iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB bzw. iSd. Richtlinie 2001/23/EG gekommen ist.
64
Zwar teilt der Senat die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass ein Übergang des gesamten Betriebs der Schuldnerin auf einen anderen Inhaber im Zeitpunkt der Kündigung nicht geplant war und dass ein solcher auch nicht stattgefunden hat. Auch teilt der Senat im Ergebnis die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass weder die Slots, noch die (Abflug-)Stationen, einzelne Flugzeuge oder Flugzeugtypen oder der Lang-, Mittel- bzw. Kurzstreckenflugbetrieb – für sich betrachtet – nach der betrieblichen Arbeitsorganisation bei der Schuldnerin übergangsfähige wirtschaftliche Einheiten iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB bzw. iSd. Richtlinie 2001/23/EG darstellten. Zudem spricht nichts für einen im Zeitpunkt der Kündigung geplanten oder letztlich erfolgten Betriebsteilübergang auf easyJet oder Eurowings (dazu unter A II, Rn. 159 ff.). Ebenso stellt der Erwerb von Anteilen an der NIKI durch ein Unternehmen der Lufthansa Gruppe keinen Betriebs(teil)übergang dar.
65
Nach den vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen und dem übrigen unstreitigen Parteivorbringen spricht – entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts – allerdings einiges dafür, dass das Wet Lease für Eurowings als wirtschaftliche Einheit iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB bzw. iSd. Richtlinie 2001/23/EG auf die LGW übergegangen ist. Ob dies der Fall ist und ob und ggf. welche Auswirkungen dies auf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers hätte, der der Station Köln zugeordnet war, ließe sich jedoch erst nach Durchführung eines Vorabentscheidungsersuchens (Art. 267 AEUV) an den Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) entscheiden. Insoweit stellen sich eine Reihe klärungsbedürftiger Fragen die Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG betreffend (dazu unter A I 3, Rn. 92 ff.).
66
Obgleich die Kündigung der Schuldnerin nach § 17 Abs. 1 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam ist und es danach für die Frage ihrer Wirksamkeit nicht darauf ankommt, ob sie sozial gerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 KSchG und nicht nach § 613a Abs. 4 BGB unwirksam ist, sieht sich der Senat vor dem Hintergrund, dass vor den Instanzgerichten noch weitere vergleichbare Verfahren anhängig sind, die sich zum Teil auch gegen angebliche Übernehmer richten, zu den nachfolgenden rechtlichen Hinweisen zum Verhältnis von § 613a BGB zu den kündigungsschutzrechtlichen Bestimmungen und den in diesem Zusammenhang durch den Gerichtshof zu klärenden Fragen die Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG betreffend veranlasst (dazu unter A I, II und III).
67
I. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung vom 28. November 2017 sei sozial gerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 KSchG und auch nicht nach § 613a Abs. 4 BGB unwirksam, begegnet erheblichen revisionsrechtlichen Bedenken.
68
1. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist die Kündigung ua. sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.
69
a) Diese Bestimmung findet – wie sämtliche Vorschriften des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes – auf die Kündigung vom 28. November 2017 Anwendung, die der Kläger rechtzeitig iSv. § 4 Satz 1 KSchG angegriffen hat. Bei der Schuldnerin werden sämtliche in § 23 Abs. 1 KSchG genannten Mindestbeschäftigtenzahlen – im Fall des seit 1996 beschäftigten Klägers in der Regel mindestens fünf – erreicht bzw. weit übertroffen. Das Arbeitsverhältnis des Klägers hat auch ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden, § 1 Abs. 1 KSchG.
70
b) Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung ist der Zeitpunkt der Kündigungserklärung (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 2 AZR 61/16 – Rn. 33; 23. Februar 2010 – 2 AZR 659/08 – Rn. 27, BAGE 133, 249).
71
c) Dringende betriebliche Erfordernisse, die iSv. § 1 Abs. 2 KSchG geeignet sind, eine Kündigung zu bedingen, liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen (Organisations-)Entscheidung spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt (vgl. etwa BAG 16. Mai 2019 – 6 AZR 329/18 – Rn. 39, BAGE 166, 363; 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 32). Eine hinreichend begründete Prognose zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit reicht als Kündigungsgrund aus (BAG 26. Januar 2017 – 2 AZR 61/16 – Rn. 33). Diese Prognose muss schon im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv berechtigt sein (BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 32 mwN).
72
aa) Die unternehmerischen Entscheidungen des Arbeitgebers sind von den Gerichten nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur darauf, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich sind (vgl. etwa BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 33 mwN). Ohne Einschränkung nachzuprüfen ist hingegen, ob die fragliche Entscheidung tatsächlich umgesetzt wurde und dadurch das Beschäftigungsbedürfnis für einzelne Arbeitnehmer wirklich entfallen ist (vgl. etwa BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – aaO).
73
bb) Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils zählt zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG (vgl. etwa BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 64, BAGE 157, 1; 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 51; 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – Rn. 47). Unter einer Betriebs(teil)stilllegung ist die Auflösung der Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu verstehen. Sie besteht darin, dass der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, den bisherigen Betriebs(teil)zweck dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiterzuverfolgen (vgl. etwa BAG 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – aaO; 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 – Rn. 37; 8. November 2007 – 2 AZR 554/05 – Rn. 17 mwN).
74
(1) Der Arbeitgeber ist allerdings nicht gehalten, eine Kündigung wegen Betriebs(teil)stilllegung erst nach Durchführung der Stilllegung auszusprechen. Er kann die Kündigung auch wegen beabsichtigter Betriebs(teil)stilllegung aussprechen.
75
(a) Soweit eine Kündigung nicht wegen bereits erfolgter Stilllegung, sondern wegen beabsichtigter Stilllegung ausgesprochen wird, ist es allerdings erforderlich, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb bzw. Betriebsteil endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen (vgl. etwa BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 52; 20. Juni 2013 – 6 AZR 805/11 – Rn. 47, BAGE 145, 249). Darüber hinaus muss die künftige Entwicklung der betrieblichen Verhältnisse im Kündigungszeitpunkt bereits greifbare Formen angenommen haben (vgl. etwa BAG 15. Dezember 2016 – 2 AZR 867/15 – Rn. 14, BAGE 157, 273; 14. März 2013 – 8 AZR 153/12 – Rn. 27 mwN). Solche greifbaren Formen liegen vor, wenn im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten vernünftigen, betriebswirtschaftlichen Betrachtung davon auszugehen ist, zum Zeitpunkt des Kündigungstermins sei mit einiger Sicherheit der Eintritt des die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes gegeben (vgl. etwa BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – aaO; 13. Februar 2008 – 2 AZR 543/06 – Rn. 22).
76
(b) Der Ernsthaftigkeit der Stilllegungsabsicht steht dabei nicht entgegen, wenn sich der Arbeitgeber entschlossen hat, die gekündigten Arbeitnehmer in der jeweiligen Kündigungsfrist für die Abarbeitung vorhandener Aufträge einzusetzen, statt die fraglichen Arbeiten sofort einzustellen. Der Arbeitgeber erfüllt damit gegenüber den tatsächlich eingesetzten Arbeitnehmern lediglich seine auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Beschäftigungspflicht (BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 52; 20. Juni 2013 – 6 AZR 805/11 – Rn. 53, BAGE 145, 249; 8. November 2007 – 2 AZR 554/05 – Rn. 20). Bei einem unternehmerischen Stilllegungskonzept mit der sofortigen und gleichzeitigen Kündigung aller Arbeitnehmer entfällt auch das Erfordernis einer sozialen Auswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG (vgl. etwa BAG 8. November 2007 – 2 AZR 554/05 – Rn. 20 mwN).
77
(c) An einem endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehlt es allerdings, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in ernsthaften Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebs steht oder sich noch um neue Aufträge bemüht (vgl. etwa BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 52; 13. Februar 2008 – 2 AZR 543/06 – Rn. 23 mwN), wenn dem Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung ein Konzept für die Übernahme des Betriebs(teils) vorliegt und er dieses nicht mit einer Absage wegen endgültiger Stilllegung beantwortet, sondern – womöglich auch erst nach Ausspruch der Kündigung – konkrete Verhandlungen aufnimmt, die zum Erfolg führen (vgl. BAG 29. September 2005 – 8 AZR 647/04 – zu II 2 a der Gründe), oder wenn eine Weiterveräußerung von Geschäftsanteilen und damit ein Gesellschafterwechsel in Betracht kommt, der mit der Aussicht auf Betriebsfortführung verbunden ist (vgl. BAG 10. Oktober 1996 – 2 AZR 477/95 – zu II 1 b (2) (b) der Gründe).
78
(2) Die Veräußerung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils und die Stilllegung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils schließen sich jedoch systematisch aus (st. Rspr., vgl. etwa BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 33; 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 – Rn. 39). Dabei kommt es auf das tatsächliche Vorliegen des Kündigungsgrundes und nicht auf die vom Arbeitgeber gegebene Begründung an. Eine vom Arbeitgeber mit einer Stilllegungsabsicht begründete Kündigung ist nur dann sozial gerechtfertigt, wenn sich die geplante Maßnahme objektiv als Betriebsstilllegung und nicht als Betriebs(teil)veräußerung darstellt, weil etwa die für die Fortführung des Betriebs wesentlichen Betriebsmittel usw. einem Dritten überlassen werden, der Veräußerer diesen Vorgang aber rechtlich unzutreffend als Betriebsstilllegung wertet (BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – aaO; 28. Mai 2009 – 8 AZR 273/08 – Rn. 30).
79
Ist andererseits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Betriebs(teil)stilllegung endgültig geplant und bereits eingeleitet, behält sich der Arbeitgeber aber eine Betriebs(teil)veräußerung vor, falls sich eine Chance bietet, und gelingt dann später doch noch eine Betriebs(teil)veräußerung, bleibt es nach dem Kündigungsschutzgesetz bei der sozialen Rechtfertigung der Kündigung (BAG 29. September 2005 – 8 AZR 647/04 – zu II 2 a der Gründe mwN), es kommt jedoch ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht (BAG 29. September 2005 – 8 AZR 647/04 – aaO mwN). Dass es bei der sozialen Rechtfertigung der Kündigung iSd. Kündigungsschutzgesetzes bleibt, schließt allerdings nicht aus, dass sich bei einem Verstoß gegen das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB (bzw. des Art. 4 der Richtlinie 2001/23/EG) andere Rechtsfolgen ergeben können (dazu unter A I 2, Rn. 89 ff.).
80
2. Ein Betriebs(teil)übergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG sowie iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB setzt laut Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2001/23/EG voraus, dass der Übergang eine auf Dauer angelegte, ihre Identität bewahrende wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit betrifft (vgl. etwa EuGH 11. Juli 2018 – C-60/17 – [Somoza Hermo und Ilunión Seguridad] Rn. 29; 26. November 2015 – C-509/14 – [Aira Pascual und Algeposa Terminales Ferroviarios] Rn. 31; 19. September 1995 – C-48/94 – [Rygaard] Rn. 21; BAG 28. Februar 2019 – 8 AZR 201/18 – Rn. 26 mwN, BAGE 166, 54). Entscheidend für einen Betriebs(teil)übergang ist daher, dass die betreffende Einheit ihre – vorhandene – Identität „bewahrt“. Auch die Verwendung des Wortes „behält“ in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und Unterabs. 4 der Richtlinie 2001/23/EG zeigt, dass die betreffende Einheit in jedem Fall vor dem Übergang als solche bestanden haben muss (vgl. EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 34). Rechtsfolge eines Betriebs(teil)übergangs ist, dass die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus den zum Zeitpunkt des Übergangs im Rahmen der wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnissen (vgl. EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 41) von Gesetzes wegen auf den Erwerber übergehen. Der Übergang hängt nicht vom Willen des Veräußerers oder des Übernehmers ab, sondern erfolgt ipso iure, also „automatisch“ (vgl. nur EuGH 14. November 1996 – C-305/94 – [Rotsart de Hertaing] Rn. 16 ff.).
81
a) Um in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/23/EG – sowie den des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB – zu fallen, muss beim Betriebsteil- bzw. Unternehmensteilübergang der Übergang einen Teil des veräußernden Unternehmens betreffen, der eine wirtschaftliche Einheit ist, die als eine hinreichend strukturierte und selbständig organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck verstanden wird (vgl. etwa EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 60 mwN; 29. Juli 2010 – C-151/09 – [UGT-FSP] Rn. 26 mwN). Nach den vom Gerichtshof zum Begriff der wirtschaftlichen Einheit entwickelten Vorgaben – von denen der Senat in ständiger Rechtsprechung ausgeht (vgl. etwa BAG 13. August 2019 – 8 AZN 171/19 – Rn. 10; 25. Januar 2018 – 8 AZR 309/16 – Rn. 49 mwN, BAGE 161, 378; 18. September 2014 – 8 AZR 733/13 – Rn. 18) – ergibt sich die Identität einer wirtschaftlichen Einheit aus mehreren untrennbar zusammenhängenden Merkmalen wie dem Personal der Einheit, ihren Führungskräften, ihrer Arbeitsorganisation, ihren Betriebsmethoden und ggf. den ihr zur Verfügung stehenden Betriebsmitteln (vgl. etwa EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 62; 20. Juli 2017 – C-416/16 – [Piscarreta Ricardo] Rn. 43; 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 41 mwN; 11. März 1997 – C-13/95 – [Süzen] Rn. 15). Diese Aufzählung ist nicht abschließend, sondern beispielhaft, wie die Aufzählung „kennzeichnender Tatsachen“ zeigt, die für die Prüfung, ob eine wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt, ua. zu beachten sind (vgl. ua. EuGH 11. Juli 2018 – C-60/17 – [Somoza Hermo und Ilunión Seguridad] Rn. 30 mwN; 26. November 2015 – C-509/14 – [Aira Pascual und Algeposa Terminales Ferroviarios] Rn. 32 mwN).
82
b) Die Identität einer wirtschaftlichen Einheit setzt zwangsläufig unter anderen Merkmalen eine funktionelle Selbständigkeit voraus. Dabei ist es nicht notwendig, dass es sich um eine völlige Selbständigkeit handelt. Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2001/23/EG geht nämlich ausdrücklich hervor, dass diese nicht nur für den Übergang von Unternehmen, sondern auch dann gilt, wenn ein Teil eines Unternehmens bzw. Betriebs übertragen wird (vgl. EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 62 ff. mwN).
83
Erforderlich ist demnach eine ausreichende funktionelle Autonomie, wobei sich der Begriff Autonomie auf die Befugnisse bezieht, die der Leitung der betreffenden Gruppe von Arbeitnehmern eingeräumt sind, um die Arbeit dieser Gruppe relativ frei und unabhängig zu organisieren und insbesondere Weisungen zu erteilen und Aufgaben auf die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer zu verteilen, ohne dass andere Organisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei dazwischengeschaltet sind (EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 32 mwN; vgl. auch EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 62 f.: „funktionelle Selbständigkeit“ ist zwangsläufig erforderlich). Darauf, ob es sich dabei um ein „Unternehmen“, einen „Betrieb“ oder einen „Unternehmens-“ oder „Betriebsteil“ – auch iSd. jeweiligen nationalen Rechts – handelt, kommt es nicht an (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25; 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 29 f.; BAG 25. Januar 2018 – 8 AZR 338/16 – Rn. 28 mwN). Entscheidend ist nur, dass der Übergang eine wirtschaftliche Einheit im og. Sinn betrifft (vgl. auch BAG 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 30 f.).
84
Soweit eine übertragene Einheit vor ihrem Übergang über keine ausreichende funktionelle Autonomie verfügt, fällt diese Übertragung nicht unter die Richtlinie 2001/23/EG. Unter solchen Umständen besteht keine Verpflichtung aus dieser Richtlinie, die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer zu wahren (vgl. EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 35).
85
c) Bei der Prüfung, ob eine wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich die Art des Unternehmens oder Betriebs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten, denen je nach der Art des betroffenen Unternehmens oder Betriebs, je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden unterschiedliches Gewicht zukommt. Diese Aspekte sind im Rahmen einer Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls zu würdigen und dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden (vgl. zu den Voraussetzungen: ua. EuGH 11. Juli 2018 – C-60/17 – [Somoza Hermo und Ilunión Seguridad] Rn. 30 mwN; 26. November 2015 – C-509/14 – [Aira Pascual und Algeposa Terminales Ferroviarios] Rn. 32 mwN; BAG 28. Februar 2019 – 8 AZR 201/18 – Rn. 27 mwN, BAGE 166, 54). Dass eine Einheit ihre Identität bewahrt ist namentlich dann zu bejahen, wenn der Betrieb tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen und dabei praktisch nicht unterbrochen wird (vgl. etwa EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25 mwN, 31).
86
d) Im Luftverkehrssektor ist der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens eines Betriebs(teil)übergangs iSd. Richtlinie 2001/23/EG anzusehen (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 29 ff.). Insoweit ist das Eintreten in Miet- bzw. Leasingverträge über Flugzeuge und deren tatsächliche Nutzung von besonderer Bedeutung. Damit kann – je nach den Umständen des jeweiligen Falls – die Übernahme unerlässlicher Teile zur Fortsetzung einer zuvor ausgeübten Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens belegt sein (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 30). Von Bedeutung ist auch eine etwaige Übernahme weiterer Ausrüstungsgegenstände, ein etwaiger Eintritt in bestehende Charterflugverträge mit Reiseveranstaltern, was zum Ausdruck bringt, dass die Kundschaft übernommen wurde, eine etwaige Ausweitung von Flügen auf Routen, die zuvor von dem bisherigen Inhaber der Miet- bzw. Leasingverträge bedient wurden, was die Fortsetzung der zuvor ausgeübten Tätigkeit widerspiegelt, die etwaige Reintegration von Arbeitnehmern und deren Beschäftigung mit Tätigkeiten, die mit ihren bisherigen Aufgaben übereinstimmen, was die Übernahme eines Teils des Personals belegt. Wenn ein Teil einer beispielsweise Mitte Februar von einem Unternehmen eingestellten Tätigkeit bereits Anfang Mai von dem Unternehmen, das in die Miet- bzw. Leasingverträge eingetreten ist, übernommen wird, sind die übertragenen Tätigkeiten praktisch nicht unterbrochen worden (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 31).
87
e) Nicht relevant ist unter solchen Umständen, dass eine Einheit, von der Material und ein Teil des Personals übernommen wurde, ohne Beibehaltung ihrer eigenständigen Organisationsstruktur in die Struktur des übernehmenden Luftfahrtunternehmens eingegliedert wird, da eine Verbindung zwischen dem übergegangenen Material und Personal einerseits und der Fortführung der zuvor von dem bisherigen Luftfahrtunternehmen ausgeübten Tätigkeiten andererseits besteht. Bei dieser Sachlage ist es auch unerheblich, wenn beispielsweise das betreffende Material nach dem Übergang nicht nur für Charterflüge verwendet wird, sondern auch für die Durchführung anderer Flüge – beispielsweise Linienflüge -, soweit es sich jedenfalls um Lufttransporte handelt und die bereits bestehenden vertraglichen Verpflichtungen bezüglich der Charterflüge weiter erfüllt werden (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 32). Denn nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren stellt das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität der übertragenen Einheit dar (vgl. EuGH 12. Februar 2009 – C-466/07 – [Klarenberg] Rn. 46 und 47). So erlaubt es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen (EuGH 12. Februar 2009 – C-466/07 – [Klarenberg] Rn. 48).
88
f) Die Anwendbarkeit der Richtlinie 2001/23/EG – wie auch die von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB, der insoweit nicht über die Richtlinie hinausgehende Rechte für den Arbeitnehmer enthält – setzt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass eine auf Dauer angelegte wirtschaftliche Einheit übergegangen ist, deren Tätigkeit nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt ist (vgl. etwa EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 31; 13. September 2007 – C-458/05 – [Jouini ua.] Rn. 31). Ein kurzfristig abzuarbeitendes Projekt führt nicht zur Anwendbarkeit der Richtlinie bzw. von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Wird beispielsweise ein einzelner Bauauftrag fertiggestellt, der von einem anderen Bauunternehmen begonnen worden war, und werden (nur) dafür die bisher eingesetzten Arbeitnehmer sowie das Material übernommen, liegt kein Übergang iSd. Richtlinie vor (vgl. EuGH 19. September 1995 – C-48/94 – [Rygaard]). Der Übergang muss dem Erwerber die dauerhafte Fortsetzung der Tätigkeiten oder bestimmter Tätigkeiten des Veräußerers erlauben, um unter die Richtlinie 2001/23/EG zu fallen. Es ist jedoch nicht Voraussetzung, dass die Verfolgung der Tätigkeit zeitlich unbegrenzt ist. Das Erfordernis der Dauerhaftigkeit ist als Hinweis auf eine kohärente Gesamtheit von verschiedenen (Produktions-)Faktoren, insbesondere von materiellen und immateriellen Betriebsmitteln, und dem erforderlichen Personal zu verstehen, die es der übertragenen Einheit erlaubt, eine wirtschaftliche Tätigkeit fortzuführen (EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 38, 54 f. mwN; vgl. auch ebenda Rn. 56 f.).
89
g) Im Einzelfall können sich bei einem Verstoß gegen das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 BGB (und des Art. 4 der Richtlinie 2001/23/EG) – je nach den Umständen des Falls – weitergehende Rechtsfolgen ergeben als bei einer fehlenden sozialen Rechtfertigung der Kündigung iSv. § 1 Abs. 2 KSchG.
90
aa) Nach § 613a Abs. 4 BGB ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch den bisherigen Arbeitgeber oder durch den neuen Inhaber wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils unwirksam. Das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen bleibt unberührt. Diese Bestimmung dient der Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG, wonach der Übergang eines Unternehmens, Betriebs oder Unternehmens- bzw. Betriebsteils als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung darstellt. Etwaige Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, sind davon ausgenommen. Eine auf (tatsächliche) Betriebsstilllegung gestützte Kündigung gehört zu den Kündigungen „aus anderen Gründen“ iSv. § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB (BAG 9. Februar 1994 – 2 AZR 666/93 – zu II 2 a der Gründe mwN) und zu den Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen iSv. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG (vgl. etwa EuGH 16. Oktober 2008 – C-313/07 – [Kirtruna und Vigano] Rn. 43, 45 ff.).
91
bb) Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus den zum Zeitpunkt des Übergangs im Rahmen der wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnissen (vgl. EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 41) gehen von Gesetzes wegen auf den Erwerber über (vgl. Rn. 80). Werden etwa Arbeitsverhältnisse vor dem Übergang unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG beendet, sind diese Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Übergangs als immer noch bei dem Unternehmen beschäftigt anzusehen, was vor allem zur Folge hat, dass die ihnen gegenüber bestehenden Arbeitgeberpflichten ohne Weiteres vom Veräußerer auf den Erwerber übergehen (vgl. nur EuGH 7. August 2018 – C-472/16 – [Colino Sigüenza] Rn. 52; 12. März 1998 – C-319/94 – [Dethier Équipement] Rn. 35 mwN). Diese Rechtsfolge kann unter bestimmten Umständen im Einzelfall über den Schutz hinausgehen, den § 1 Abs. 2 KSchG gewährt, denn Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG und mit ihm § 613a Abs. 4 BGB stellen anders als § 1 Abs. 2 KSchG (vgl. Rn. 79) nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ab, sondern auf den Zeitpunkt des Übergangs des Betriebs(teils) bzw. Unternehmens(teils).
92
3. Nach den dargestellten Vorgaben spricht – entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts – viel dafür, dass das Wet Lease für Eurowings als wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit auch iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB entweder noch im Dezember 2017 oder spätestens im Januar 2018 auf die LGW übergegangen ist. Ohne Weiteres ersichtlich ist, dass nicht allein der Dienstleistungsvertrag über das Wet Lease für Eurowings von der LGW übernommen worden ist, sondern auch andere Ressourcen, die damit bei der Schuldnerin verbunden waren, wie ua. Flugzeuge und Slots. Eine Bewertung als Fortführung der „bloßen“ Tätigkeit durch einen anderen (sog. – bloße – Funktionsnachfolge bzw. Auftragsnachfolge) scheidet deshalb aus. Viel spricht dafür, dass die LGW mit der Weiterführung des Dienstleistungsvertrags über das Wet Lease für Eurowings und der Übernahme bestimmter Ressourcen eine organisierte Zusammenfassung der mit diesem Vertrag bei der Schuldnerin verbundenen Ressourcen als wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit auch iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übernommen hat.
93
In diesem Zusammenhang stellen sich vor einer abschließenden Entscheidung darüber, ob ein solcher Betriebsteilübergang stattgefunden hat oder nicht, sowie ob und ggf. welche Auswirkungen sich daraus für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers ergeben, der der Station Köln zugeordnet war, vor dem Hintergrund der Besonderheiten eines speziellen Sachverhalts im Luftverkehrssektor neue, bisher vom Gerichtshof nicht beantwortete, entscheidungserhebliche Grundsatzfragen der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG. Dabei sind sowohl die generellen Auslegungsschwierigkeiten des Begriffs „Betriebsübergang“ iSd. Richtlinie 2001/23/EG (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 43) zu berücksichtigen als auch die Besonderheiten im Luftverkehrssektor, in dem der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens eines Betriebs(teil)übergangs im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG anzusehen ist (EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 29; vgl. Rn. 86). Die Antworten auf diese Grundsatzfragen lassen sich im Hinblick auf die Besonderheiten des speziellen Sachverhalts, der andere Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG aufwirft als bisher dem Gerichtshof vorgelegt wurden, nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten. Die jeweiligen Antworten liegen auch nicht als sog. „acte clair“ (zu den umfangreichen Prüfungsanforderungen für die Annahme des „acte clair“: vgl. etwa EuGH 28. Juli 2016 – C-379/15 – [Association France Nature Environnement] Rn. 48 bis 50; 6. Oktober 1982 – 283/81 – [Cilfit ua.] Rn. 16 bis 20) derart offenkundig auf der Hand, dass für einen vernünftigen Zweifel an der Antwort kein Raum mehr bliebe (vgl. etwa EuGH 28. Juli 2016 – C-379/15 – [Association France Nature Environnement] Rn. 48; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38). Zur Beantwortung durch den Senat bedürfte es im Gegenteil eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV, insbesondere soweit eine Entscheidung zu Ungunsten der durch die Richtlinie 2001/23/EG geschützten Arbeitnehmerseite in Betracht kommt, da das durch diese Richtlinie gegebene Schutzniveau nicht durch nationales Recht bzw. nationale höchstrichterliche Rechtsprechung unterlaufen werden darf.
94
a) Es spricht bereits einiges dafür, dass das Wet Lease für Eurowings bei der Schuldnerin schon vor Ende Oktober 2017 – nämlich seit seinem Beginn Anfang des Jahres 2017 – eine übergangsfähige wirtschaftliche Einheit mit ausreichender funktioneller Autonomie war. Dies abschließend zu verneinen oder ggf. zu bejahen ist nur nach vorheriger Klärung von Fragen der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG möglich.
95
aa) Beim Wet Lease für Eurowings handelt es sich um eine wirtschaftliche Tätigkeit mit eigenem Zweck. Die Schuldnerin betrieb seit Anfang des Jahres 2017 auf der Grundlage des zwischen ihr und der Lufthansa Gruppe geschlossenen Vertrags (Roof Wetlease) (vgl. Rn. 45) neben eigenwirtschaftlichen Flügen auch Flüge im sog. Wet Lease, auch als ACMIO bezeichnet (vgl. Rn. 11 f.). Der Wet Lease-Vertrag betrifft die Erbringung von Dienstleistungen gegenüber Eurowings (und Austrian Airlines) im Rahmen des vertraglich vereinbarten Wet Lease (vgl. auch Rn. 20, Erklärung der Schuldnerin vom 12. Oktober 2017). Vereinbart ist die Gebrauchsüberlassung von 38 der von der Schuldnerin geleasten Flugzeuge des Typs Airbus A319 und A320 mitsamt Cockpit-Crew und Kabinenpersonal an deutschen und österreichischen Flughäfen im Rahmen einer sechsjährigen Laufzeit mit bestimmten Verlängerungsoptionen, wobei 33 Flugzeuge nebst Besatzungen im Wet Lease für Eurowings und 5 der geleasten Flugzeuge nebst Besatzungen im Wet Lease für Austrian Airlines auf von diesen angebotenen Flugstrecken der Kurz- und Mittelstrecke eingesetzt wurden. Dies ergibt sich ua. aus dem in Rn. 13 aufgeführten Fallbericht des Bundeskartellamts vom 30. Januar 2017 (Aktenzeichen: B9-190/16), der über die Homepage des Bundeskartellamts öffentlich zugänglich ist und auf dessen Verwertung im Sachbericht in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden ist. Es handelt sich um eine offenkundige Tatsache iSv. § 291 ZPO.
96
bb) Viel spricht dafür, dass der Dienstleistungsvertrag über das Wet Lease für Eurowings, der zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit dient (zu dieser Anforderung vgl. Rn. 80), von der Schuldnerin in organisierter Zusammenfassung damit verbundener Ressourcen durchgeführt wurde, nämlich insbesondere unter Nutzung bestimmter Strecken zwischen bestimmten Flughäfen, unter Nutzung bestimmter Slots auf diesen Flughäfen, unter Nutzung der auf diesen Flughäfen befindlichen Stationen der Schuldnerin sowie mit – ggf. im Wesentlichen – zugeordneten Flugzeugen und ggf. mit durch Zugehörigkeit zu bestimmten Stationen im Wesentlichen zugeordnetem Personal im Bereich der Besatzungen.
97
(1) Im Wet Lease für Eurowings wurden 33 Flugzeuge nebst Besatzungen auf von Eurowings angebotenen Flugstrecken der Kurz- und Mittelstrecke eingesetzt. Viel spricht dafür, dass diese Flugzeuge – jedenfalls im Wesentlichen – dem Wet Lease für Eurowings zugeordnet waren und dass im Bereich der Besatzungen im Wesentlichen oder zumindest in einem sehr erheblichen Umfang bestimmtes Personal bestimmter, dem Wet Lease für Eurowings zugeordneter Stationen eingesetzt wurde.
98
(a) Im Wet Lease sind Flugzeug und Besatzung regelmäßig nach außen wahrnehmbar – etwa durch die Lackierung des jeweiligen Flugzeugs und durch die Uniformen des Kabinenpersonals – dem Auftraggeber zugeordnet. Dies ist dem „Geschäftsmodell Wet Lease“ in der Regel immanent, also Teil der (vertraglichen) Umstände. Deshalb spricht viel dafür, dass die eingesetzten Flugzeuge schon wegen der auf den Auftraggeber Eurowings abgestimmten Lackierung konstant dem Wet Lease für Eurowings zugeordnet waren. In diese Richtung deutet auch der im Fallbericht des Bundeskartellamts vom 30. Januar 2017 (vgl. Rn. 13) aufgeführte Umstand der Stationierung der für das Wet Lease für Eurowings genutzten Flugzeuge an den Stationen Stuttgart, Hamburg, Düsseldorf, München und Köln/Bonn.
99
Soweit ggf. substantiierter Vortrag der Beklagtenseite mit entsprechendem Beweisangebot ergäbe, dass weder eine solche Lackierung noch eine anderweitige Zuordnung von Flugzeugen zum Wet Lease für Eurowings erfolgt ist, sondern wechselnde Maschinen aus einem allgemeinen Pool von Flugzeugen der Schuldnerin benutzt wurden, müsste zur Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG geklärt werden, ob es unter Umständen wie hier für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit erforderlich ist, dass die Flugzeuge fest zugeordnet sind (Art. 267 AEUV, vgl. auch Rn. 93).
100
(b) Dem Wet Lease für Eurowings waren bei der Schuldnerin bestimmte Stationen zugeordnet. Bereits seit Anfang des Jahres 2017 gab es Stationen, von denen aus ausschließlich Wet Lease-Flüge für Eurowings durchgeführt wurden, nämlich die Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart. Zudem gab es die sog. gemischten Stationen München und Düsseldorf, von denen aus zudem der eigenwirtschaftliche Flugbetrieb stattfand. Hingegen waren die Stationen der Schuldnerin auf den Flughäfen Berlin-Tegel, Frankfurt am Main, Paderborn, Nürnberg und Leipzig nicht in das Wet Lease für Eurowings eingebunden.
101
(c) Betreffend die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, wonach die Einsätze der Beschäftigten unabhängig von ihren Stationierungsorten je nach Bedarf geplant wurden, spricht im Hinblick auf das Wet Lease für Eurowings ab Anfang 2017 von den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart aus manches dafür, dass diese Feststellung sich nicht darauf bezieht und dieses Wet Lease im Bereich der Besatzungen vorwiegend mit dem an diesen Stationen stationierten Personal durchgeführt wurde. Bezogen auf die sog. gemischten Stationen – München und Düsseldorf – kommt in Betracht, dass das dort stationierte Personal wechselnd im eigenwirtschaftlichen Flugbetrieb und im Wet Lease für Eurowings eingesetzt wurde. Für beides stellen sich vor einer abschließenden Entscheidung – insbesondere bei einer Entscheidung zu Ungunsten der durch die Richtlinie 2001/23/EG geschützten Arbeitnehmerseite – entscheidungserhebliche Grundsatzfragen zur Auslegung dieser Richtlinie. Soweit die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, die Beschäftigten seien unabhängig von ihren Stationierungsorten eingesetzt worden, auch auf das gesamte Wet Lease für Eurowings ab Anfang 2017 bezogen sein sollte, stellt sich ebenfalls eine entscheidungserhebliche Grundsatzfrage zur Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG.
102
(aa) Nicht geklärt ist bereits, ob unter Umständen wie hier im Bereich des Luftverkehrs überhaupt die Zuordnung bestimmten Personals erforderlich ist, um eine wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG annehmen zu können, oder ob insgesamt wechselndes bzw. rotierendes Personal ausreichen kann. Dies ist eine Grundsatzfrage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG (zu der ggf. weiter zu beantwortenden Rechtsfolgenfrage, welche Arbeitsverhältnisse unter solchen Umständen zum etwaigen neuen Inhaber übergehen vgl. später unter A I, Rn. 153 ff. sowie Rn. 156 ff.).
103
(bb) Im Übrigen sprechen für die Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart, an denen ausschließlich Wet Lease für Eurowings durchgeführt wurde, manche Anhaltspunkte für eine erfolgte faktische Zuordnung von – jedenfalls im Wesentlichen – bestimmtem Besatzungspersonal. Der Kläger hat ua. mit seiner Berufungsbegründung unter Beweisantritt vorgetragen, dass im Wet Lease stets und durchgängig das gleiche fliegende Personal eingesetzt worden sei und dass 66 Piloten zu der extra für das Wet Lease reaktivierten Station Köln versetzt worden seien. Dem hat der Beklagte nicht widersprochen, sondern ist für die ausschließlich im Wet Lease operierenden Stationen selbst von einer (entsprechenden) „Konzentration der dort stationierten Piloten“ ausgegangen. Auch soweit die im Rahmen-Interessenausgleich vom 14. Februar 2017 und dessen Anlage 1 aufgeführten Zuordnungsbestimmungen in der Praxis bei der Schuldnerin nicht zur Anwendung gekommen sind, ergibt sich allerdings aus dem späteren Interessenausgleich vom 17. November 2017, dass jedenfalls für die Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart offenbar eine faktische Konzentration und damit faktische Zuordnung von Personal erfolgt ist. Dafür spricht die Passage im Interessenausgleich vom 17. November 2017 (vgl. Rn. 36), wonach im Rahmen des sog. Phase-Out der Arbeitgeber die Arbeitnehmer des Cockpitpersonals an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart zur Durchführung des Wet Lease insgesamt auch über den 28. Oktober 2017 bis zum 31. Januar 2018 „weiterbeschäftigen“ werde. Im Übrigen war der hauptsächliche Einsatz des an diesen Stationen stationierten Personals im Wet Lease für Eurowings seit dessen Beginn bereits aus wirtschaftlichen Gründen naheliegend, da das sog. Proceeding – die Passagier-Beförderung von Besatzungspersonal von oder zu einem Einsatzort – Mehrkosten verursacht, die nach Möglichkeit vermieden werden. In diesem Sinne heißt es beispielsweise im Interessenausgleich vom 17. November 2017 bezogen auf den Zeitraum ab dem 28. Oktober 2017, dass ein Proceeding von Cockpitmitarbeitern anderer Stationen an die weiterhin beflogenen Stationen nicht erfolge, weil die Schuldnerin die Kosten dafür zu tragen habe und damit eine Masseschmälerung einhergehe. Für eine faktische Zuordnung des an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart stationierten Personals spricht im Übrigen auch der im Fallbericht des Bundeskartellamts vom 30. Januar 2017 (vgl. Rn. 13) aufgeführte Umstand, wonach für das Wet Lease für Eurowings die Crews – mit der Ausnahme von Palma de Mallorca und Wien – an den jeweiligen Basen (Stationen) stationiert wurden.
104
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nicht, dass die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG – und damit auch iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB – eine (formelle) Zuordnungsentscheidung – hier zum Wet Lease für Eurowings – voraussetzt. Eine faktische Zuordnung – hier des an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart stationierten Besatzungspersonals – dürfte ausreichen. Soweit gleichwohl das Erfordernis einer formellen Zuordnung in Betracht gezogen würde, wäre dies eine Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG und bedürfte der Durchführung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV.
105
(cc) Die Frage, ob Besatzungspersonal der sog. gemischten Stationen München und Düsseldorf dem Wet Lease für Eurowings seit dessen Beginn Anfang 2017 als zugeordnet betrachtet werden kann, löst weitere vor abschließender Entscheidung zu klärende Grundsatzfragen der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG aus. Soweit zwar auch an gemischten Stationen vorwiegend dort stationiertes Personal im Wet Lease eingesetzt wurde – so ua. der Fallbericht des Bundeskartellamts vom 30. Januar 2017 (vgl. Rn. 13) -, das Besatzungspersonal dieser Stationen aber bis Ende Oktober 2017 ohne eine individuelle Zuordnung zum Wet Lease teilweise im eigenwirtschaftlichen Flugverkehr und teilweise im Wet Lease für Eurowings eingesetzt war, ist zu klären, ob es der Annahme einer faktischen Zuordnung von Personal unter Umständen wie hier grundsätzlich entgegensteht, wenn die fragliche Tätigkeit mit teils wechselndem und ggf. rotierendem Personal durchgeführt wird (zu der im Fall der Bejahung zu beantwortenden Rechtsfolgenfrage, welche Arbeitsverhältnisse unter solchen Umständen zum etwaigen neuen Inhaber übergehen vgl. Rn. 153 ff. sowie Rn. 156 ff.). Damit einhergehend ist ggf. auch zu klären, ob es einer ausdrücklichen (formellen) Entscheidung der organisatorischen Zuordnung von bestimmtem Personal zu einer wirtschaftlichen Einheit bedarf (vgl. auch Rn. 104).
106
Bezogen auf das „Personal“ als Teilaspekt der Identität einer wirtschaftlichen Einheit enthält die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine ausdrückliche Entscheidung der organisatorischen Zuordnung von bestimmtem Personal zu einer wirtschaftlichen Einheit Voraussetzung der Annahme einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG wäre. Ein Anhaltspunkt für eine solche Voraussetzung ergibt sich auch nicht implizit aus einem der bisherigen Urteile des Gerichtshofs. Im Gegenteil spricht manches dafür, dass eine solche Voraussetzung in einem Fall wie hier nicht mit der Richtlinie 2001/23/EG vereinbar wäre.
107
(aaa) Unter Umständen wie hier spricht einiges dafür, dass ein wechselnder und ggf. rotierender Einsatz von Personal wegen der Schutzrichtung der Richtlinie 2001/23/EG der Annahme einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie nicht entgegensteht. Es steht nämlich außer Frage und kann aus Sicht des Senats nicht außer Betracht bleiben, dass auch an den gemischten Stationen im Rahmen des Wet Lease für Eurowings Flugzeuge tatsächlich gestartet, geflogen und gelandet sind, und zwar mit den erforderlichen Besatzungen einschließlich Pilot(inn)en und diese Besatzungen jeweils durch organisatorische Entscheidungen der Abteilung Crew Planning eingesetzt worden sind.
108
(bbb) In der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs wird bezogen auf die Frage, ob eine ausreichende funktionelle Autonomie einer Einheit gegeben ist (vgl. Rn. 83 f.), auf „die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer“ Bezug genommen (vgl. etwa EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 32; 6. September 2011 – C-108/10 – [Scattolon] Rn. 51 mwN). Dieser Urteilspassage liegt jedoch keine Frage zugrunde, die sich auf das Erfordernis einer formellen Zuordnungsentscheidung oder auf einen wechselnden und ggf. rotierenden Personaleinsatz bezieht.
109
(ccc) Ersichtlich ist bisher, dass auf der Rechtsfolgenseite das Personal erfasst ist und mit übergeht, das bisher beim Arbeitgeber für die Durchführung derselben Tätigkeit „eingesetzt“ worden ist (vgl. etwa EuGH 7. August 2018 – C-472/16 – [Colino Sigüenza] Rn. 33; 26. November 2015 – C-509/14 – [Aira Pascual und Algeposa Terminales Ferroviarios] Rn. 41; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 31; 20. November 2003 – C-340/01 – [Abler ua.] Rn. 37). Danach kann nicht ausgeschlossen werden, dass der tatsächliche „Einsatz“ auch im Hinblick auf das Personal als Teilaspekt der Identität einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG von Bedeutung ist und es keiner formellen Zuordnungsentscheidung zum Wet Lease für Eurowings als zwingende Voraussetzung bedarf. Geklärt ist diese Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG allerdings nicht.
110
(ddd) Soweit – ebenfalls im Hinblick auf die Rechtsfolgen eines Übergangs – ausgeführt worden ist, der Schutz gelte im Fall der Übertragung eines Teils des Betriebs/Unternehmens für die in diesem Betriebs-/Unternehmensteil beschäftigten Arbeitnehmer, da das Arbeitsverhältnis inhaltlich durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betriebs-/Unternehmensteil gekennzeichnet werde, dem er zur Erfüllung seiner Aufgabe angehöre (vgl. EuGH 12. November 1992 – C-209/91 – [Watson Rask und Christensen] Rn. 16; 7. Februar 1985 – 186/83 – [Botzen ua.] Rn. 15), kann daraus keine Klärung für die Frage der Zuordnung von Personal als Teilaspekt der Identität einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG abgeleitet werden. Die Frage der Rechtsfolgen eines Übergangs ist eine andere als die Frage der Zuordnung von Personal als Teilaspekt der Identität einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG.
111
(eee) Dies gilt ebenso, soweit in der Entscheidung Colino Sigüenza (EuGH 7. August 2018 – C-472/16 – Rn. 42 sowie dort zitierte Rechtsprechung) ein „Fehlen von Beschäftigten“ bezogen auf den „Zeitpunkt des Übergangs“ erwähnt wird. Ungeklärt ist insbesondere, ob eine wirtschaftliche Einheit, die ua. mit wechselndem oder rotierendem Personal betrieben wird, keine wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG sein kann (vgl. Rn. 102). Ein solches Ausschlusskriterium kann nicht – zu Ungunsten der Beschäftigten – ohne Vorabentscheidungsersuchen angenommen werden. Bisher ist dem Gerichtshof eine entsprechende Auslegungsfrage nicht vorgelegt worden. Ungeklärt ist zudem, ob – und ggf. wie – sich diesbezüglich grundsätzlich auswirkt, dass im Luftverkehrssektor der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens eines Betriebs(teil)übergangs iSd. Richtlinie 2001/23/EG anzusehen ist (vgl. Rn. 86).
112
(fff) Da sich aus den bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorliegenden Entscheidungen des Gerichtshofs zur Richtlinie 2001/23/EG – bzw. zur Vorgänger-Richtlinie 77/187/EWG – nicht ergibt, dass die og. Grundsatzfragen geklärt sind und da die Antworten auch nicht als sog. „acte clair“ (vgl. Rn. 93) offenkundig und ohne vernünftige Zweifel auf der Hand liegen, dürfte der Senat die genannten Fragen nicht ohne vorheriges Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV zu Ungunsten der Beschäftigten beantworten.
113
(d) Es spricht zudem viel dafür, dass das Wet Lease für Eurowings bei der Schuldnerin – vertragsgemäß – mit bestimmten Flugstrecken der Kurz- und Mittelstrecke verknüpft war. Es ist allerdings nicht erkennbar, ob dies – je nach Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG – als relevanter Umstand zu berücksichtigen ist oder ob zu bedienende Strecken als Vertragsgegenstand grundsätzlich unbeachtlich sind (insoweit ggf. übertragbar: EuGH 29. Juli 2010 – C-151/09 – [UGT-FSP] Rn. 31).
114
(2) Es spricht auch viel dafür, dass die Schuldnerin für das Wet Lease für Eurowings bestimmte Slots auf bestimmten Flughäfen benutzte. Soweit diese später von der LGW für das Wet Lease für Eurowings genutzt worden sind, spricht viel dafür, dass sie bei der Beantwortung der Frage, ob eine wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit auch iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB vorliegt und ggf. zu einem neuen Inhaber übergegangen ist, als Teilaspekt zu berücksichtigen sind.
115
(a) Zeitlich „bestimmte“ Wet Lease-Flüge, die in einen bestimmten Flugplan eingebunden sind, benötigen „zeitlich bestimmte“, nämlich der (laut Flugplan vorgesehenen) Abflugzeit/Landezeit entsprechende Zeitnischen (Slots). Denn zugewiesen werden Zeitnischen auf Flughäfen im Hinblick auf die Nutzung der für den Betrieb eines Luftverkehrsdienstes erforderlichen Flughafeninfrastruktur eines koordinierten Flughafens zum Starten oder Landen an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Uhrzeit.
116
Nach § 27a Abs. 1 LuftVG wird die Flughafenkoordinierung nach Maßgabe des Rechts der Europäischen Union vorgenommen. Auf Ebene der EU enthält die Verordnung (EWG) Nr. 95/93, zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 545/2009 nach ihrem Titel gemeinsame Regeln für die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft (bzw. in der englischsprachigen Fassung: „common rules for the allocation of slots at Community airports“). Nach Art. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 95/93 ist eine „Zeitnische“ (bzw. „slot“ in der englischsprachigen Fassung von Art. 2 Buchst. a der Verordnung) die von einem Koordinator gemäß dieser Verordnung gegebene Erlaubnis, die für den Betrieb eines Luftverkehrsdienstes erforderliche Flughafeninfrastruktur eines koordinierten Flughafens an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Uhrzeit, die von einem Koordinator nach dieser Verordnung zugewiesen wurden, in vollem Umfang zum Starten oder Landen zu nutzen. Ein „koordinierter Flughafen“ ist nach Art. 2 Buchst. g der Verordnung (EWG) Nr. 95/93 ein Flughafen, auf dem ein Luftfahrtunternehmen oder ein anderer Fluggerätebetreiber zum Starten oder Landen eine vom Koordinator zugewiesene Zeitnische benötigt. An koordinierten Flughäfen (auch „Level 3“-Flughäfen genannt) übersteigt die Nachfrage der Luftfahrtunternehmen die Kapazität des Flughafens. Daher ist zum Starten und Landen ein vom Koordinator zugewiesener Slot erforderlich. „Level 3“-Flughäfen in Deutschland sind die Flughäfen Düsseldorf, Frankfurt Rhein-Main, Hannover, Hamburg, München, Stuttgart, Berlin-Schönefeld und Berlin-Tegel. Soweit der Flughafen Köln, dem der Kläger stationsbezogen zugewiesen war, nicht dazu gehört, ist dieser Umstand für die Betrachtung des Wet Lease als Einheit, die mehrere Flughäfen betraf, nicht von Bedeutung.
117
(b) Soweit der Kläger anführt, die Schuldnerin sei im Wet Lease für Eurowings auf Slots der Eurowings geflogen, dürfte es unerheblich sein, wem die betreffenden Slots offiziell zugeteilt wurden. Die tatsächliche Nutzung erfolgte jedenfalls durch die Schuldnerin. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es bei § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ebenso wie für die Richtlinie 2001/23/EG nicht auf eine Übertragung von Eigentum ankommt, und zwar weder bezogen auf den Betrieb als solchen (st. Rspr., ua. EuGH 15. Dezember 2005 – C-232/04 und C-233/04 – [Güney-Görres und Demir] Rn. 37; 17. Dezember 1987 – 287/86 – [Ny Mølle Kro] Rn. 12), noch bezogen auf Aktiva wie ua. Betriebsmittel und Vermögensgegenstände (st. Rspr., EuGH 7. August 2018 – C-472/16 – [Colino Sigüenza] Rn. 28; 26. November 2015 – C-509/14 – [Aira Pascual und Algeposa Terminales Ferroviarios] Rn. 28 mwN, 36 ff.; 15. Dezember 2005 – C-232/04 und C-233/04 – [Güney-Görres und Demir] Rn. 37 mwN; 2. Dezember 1999 – C-234/98 – [Allen ua.] Rn. 16 mwN, 30 mwN). Es kommt darauf an, ob Vermögenswerte ua. tatsächlich zur Erbringung der Tätigkeit verwendet werden (vgl. etwa EuGH 29. Juli 2010 – C-151/09 – [UGT-FSP] Rn. 31). Danach kommt es auch nicht darauf an, wem Slots vom Slot-Koordinator offiziell zugewiesen wurden bzw. ob die Slots gemäß Art. 8a der Verordnung (EWG) Nr. 95/93 auf ein anderes Flugunternehmen übertragen worden sind (und werden durften), sondern wem sie „bisher“ und „nach Übergang“ zur operativen Nutzung zur Verfügung standen/stehen, wer sie also tatsächlich nutzt/nutzte. Die Nutzung bestimmter Slots unabhängig von deren offizieller Zuteilung durch den Slot-Koordinator ist demnach als Teilaspekt der Beurteilung der Frage des „Ob“ eines Betriebs(teil)übergangs zu berücksichtigen.
118
cc) Das Wet Lease für Eurowings war bei der Schuldnerin auf Dauer angelegt (zu den Vorgaben vgl. Rn. 80, 88).
119
Das Wet Lease für Eurowings basiert auf einem Dienstleistungsvertrag von sechsjähriger Dauer mit bestimmten Verlängerungsoptionen. Ein Zeitraum von sechs – bzw. bei Verlängerung mehr – Jahren für eine wirtschaftliche Tätigkeit genügt dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit, wobei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nichts darauf hindeutet, dass die Verfolgung der Tätigkeit zeitlich unbegrenzt sein muss (vgl. Rn. 88). Zudem sind die Besonderheiten des Luftverkehrssektors zu berücksichtigen. Diesbezüglich heißt es in dem og. Fallbericht des Bundeskartellamts (vgl. Rn. 13), dass es sich bei einer sechsjährigen Vertragsdauer um eine für den Luftverkehr außergewöhnlich lange Laufzeit handelt, die den konkreten Streckenplanungshorizont typischer Fluggesellschaften bei weitem übersteigt.
120
dd) Zudem spricht manches dafür, dass die Einheit Wet Lease für Eurowings schon in der Zeit von Anfang des Jahres 2017 bis Ende Oktober 2017 die erforderliche funktionelle Autonomie bzw. funktionelle Selbständigkeit aufwies.
121
(1) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist für einen Betriebsteil iSd. Richtlinie 2001/23/EG nicht völlige Selbständigkeit vorauszusetzen (vgl. dazu Rn. 82). Die Richtlinie kommt auch zur Anwendung, wenn ein Teil eines Betriebs bzw. Unternehmens übertragen wird. In diesem Sinne ist davon auszugehen, dass beispielsweise nicht eine umfassende Personalkompetenz der Führungskräfte erforderlich ist, beispielsweise keine disziplinarische. Entsprechende Kompetenzen liegen bei größeren Betrieben bzw. Unternehmen in der Regel konzentriert in den Personalabteilungen, was für einzelne betriebliche Tätigkeitsbereiche die Annahme eines Betriebsteils als wirtschaftliche Einheit nicht ausschließt. Anderes anzunehmen bedürfte, da es sich zu Ungunsten der durch die Richtlinie geschützten Arbeitnehmerseite auswirken würde, zuvor der Durchführung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV.
122
(2) Erforderlich sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs allerdings Befugnisse, die der Leitung der betreffenden Gruppe von Arbeitnehmern eingeräumt sind, um die Arbeit dieser Gruppe relativ frei und unabhängig zu organisieren und insbesondere Weisungen zu erteilen und Aufgaben auf die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer zu verteilen, ohne dass andere Organisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei dazwischengeschaltet sind (vgl. dazu Rn. 83 f.). Dabei spricht viel dafür, diese Voraussetzungen nicht überzogen zu verstehen. So reicht bei einem Dienstleistungsauftrag mit genau festgelegten vertraglichen Verpflichtungen eine „gewisse“ – wenn auch eingeschränkte – Freiheit in der Organisation und Durchführung der fraglichen Tätigkeit (EuGH 10. Dezember 1998 – C-173/96 und C-247/96 – [Hidalgo ua.] Rn. 27). Ebenso dürfte es der Annahme einer wirtschaftlichen Einheit auch nicht entgegenstehen, wenn arbeitsvertraglich Festlegungen zur Tätigkeit der Einzelnen getroffen wurden, die der Organisationskompetenz der jeweiligen Führungskräfte als Leitung der betreffenden Gruppe von Arbeitnehmern Grenzen setzen.
123
(3) Im Zeitraum bis Ende Oktober 2017 hatte das Wet Lease für Eurowings eine Leitung, auch wenn diese nicht allein für das Wet Lease für Eurowings zuständig war, sondern daneben auch die Leitung anderer Geschäftsfelder (eigenwirtschaftlicher Flugbetrieb, Wet Lease für Austrian Airlines) innehatte. Die Einsatzplanung für den gesamten Flugbetrieb der Schuldnerin einschließlich des Wet Lease erfolgte zentral in Berlin. Dort wurden sämtliche Entscheidungen die Arbeit betreffend getroffen. Es ist eine Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG, ob eine solche Leitung unter Umständen wie hier im Grundsatz ausreichen kann, oder ob die Leitung einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG grundsätzlich allein der jeweiligen Einheit vorstehen darf. Dies darf vom Senat nicht zu Ungunsten der durch die Richtlinie geschützten Arbeitnehmerseite entschieden werden, sondern bedarf zuvor der Durchführung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV.
124
b) Jedenfalls spricht viel dafür, dass das Wet Lease für Eurowings bei der Schuldnerin zumindest ab dem Ende des Monats Oktober 2017 die erforderliche funktionelle Autonomie bzw. funktionelle Selbständigkeit erlangt hat und damit jedenfalls zu diesem Zeitpunkt eine übergangsfähige wirtschaftliche Einheit geworden ist, die später auf die LGW übergegangen ist. Dies abschließend zu verneinen oder ggf. zu bejahen ist nur nach Klärung von Fragen der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG möglich.
125
aa) Nachdem am 27. Oktober 2017 der letzte im Namen der Schuldnerin durchgeführte Flug auf dem Flughafen Berlin-Tegel gelandet und der eigenwirtschaftliche operative Flugverkehr der Schuldnerin eingestellt war, wurde – jedenfalls ab dem 28. Oktober 2017 – das Wet Lease für Eurowings mit zunächst 13 – so die Feststellung des Landesarbeitsgerichts – und ggf. ab Dezember 2017 – wie im Interessenausgleich vom 17. November 2017 erwähnt – 9 Flugzeugen des Typs Airbus A320 von den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart aus von der Schuldnerin fortgesetzt. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die Anzahl der eingesetzten Flugzeuge bereits ab November 2017 sukzessive vermindert wurde. So hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat behauptet, Anfang November 2017 seien nur noch 6 oder 7, später noch 3 oder 4 Flugzeuge im Wet Lease für Eurowings eingesetzt gewesen (zur Bewertung einer etwaigen sukzessiven Verminderung vgl. unten Rn. 135, 145).
126
bb) Es spricht viel dafür, dass das Wet Lease für Eurowings ab Ende des Monats Oktober 2017 über die für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB erforderliche funktionelle Autonomie verfügte. Am Geschäftssitz in Berlin mussten (allein) dafür sämtliche arbeitsorganisatorisch und luftfahrtrechtlich erforderlichen Funktionen besetzt bleiben. Ersichtlich waren diese Koordinierungs- und Leitungskräfte ab Ende Oktober 2017 ausschließlich und spezifisch für das Wet Lease für Eurowings tätig.
127
(1) Infolge der Einstellung des eigenwirtschaftlichen Flugbetriebs bestand für diesen kein Bedarf mehr an Umlaufplänen für Flugzeuge und Besatzungen. Insoweit bestand auch kein Bedarf mehr am Erhalt des AOC der Schuldnerin bis Ende Januar 2018 und an der tatsächlichen weiteren Beschäftigung des nach Maßgabe der Luftverkehrsbestimmungen für den Flugbetrieb erforderlichen Leitungspersonals, darunter der verantwortliche Betriebsleiter und die sog. verantwortlichen Personen (Nominated Persons).
128
(2) Hingegen war es für das Wet Lease für Eurowings ab Ende des Monats Oktober 2017 bis zur vollständigen Übernahme des Wet Lease für Eurowings durch die LGW im Dezember 2017 oder Januar 2018 erforderlich, Umlaufpläne für Flugzeuge und Besatzungen zu erstellen und das AOC der Schuldnerin zu erhalten, was die Beschäftigung des nach Maßgabe der Luftverkehrsbestimmungen für den Flugbetrieb erforderlichen og. Leitungspersonals voraussetzte. Dieses war im genannten Zeitraum offensichtlich allein für das Wet Lease für Eurowings tätig und war damit allein noch diesem zugeordnet. Auf eine örtliche Nähe dürfte es dabei nicht ankommen. Zu Ungunsten der Beschäftigten anderes anzunehmen und unter den vorliegenden Umständen eine örtliche Nähe der Leitung zu verlangen, bedarf – als Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG – zuvor der Durchführung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV.
129
cc) Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass das Wet Lease für Eurowings, sofern es erst ab Ende des Monats Oktober 2017 über die für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB erforderliche funktionelle Autonomie verfügte, entgegen den Vorgaben der Richtlinie 2001/23/EG nicht „auf Dauer angelegt“ (vgl. Rn. 80, 88) gewesen sei, da eine solche Einheit bei der Schuldnerin lediglich für einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten (ab Ende Oktober 2017 bis eventuell Dezember 2017 oder spätestens Ende Januar 2018) bestanden habe und dann abgewickelt worden sei.
130
(1) Anders als das Berufungsgericht angenommen hat, wurde die Dienstleistung Wet Lease für Eurowings nicht „abgewickelt“, denn sie wurde nicht beendet. Im Gegenteil wurde sie – unstreitig – fortgeführt, nämlich von der LGW. Ein Wechsel in der die Tätigkeit ausführenden Person ist einem Betriebs(teil)- bzw. Unternehmens(teil)übergang immanent und kann nicht durch die Bezeichnung als „Abwicklung“ dem Prüfprogramm des § 613a BGB bzw. dem der Richtlinie 2001/23/EG entzogen werden.
131
(2) Es spricht viel dafür, dass die Voraussetzung „auf Dauer angelegt“ auch bezogen auf den Zeitraum ab Ende des Monats Oktober 2017 erfüllt ist, schon an sich (vgl. Rn. 118 ff.) und jedenfalls im Hinblick auf einen Zukunftsbezug.
132
(a) Zwar ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht letztlich geklärt, wie die Formulierung „Übergang einer auf Dauer angelegten wirtschaftlichen Einheit“, die aus dem Urteil Rygaard (EuGH 19. September 1995 – C-48/94 – Rn. 20) hervorgegangen ist und in der französischsprachigen Urteilsfassung (Beratungssprache des Gerichtshofs) „entité économique organisée de manière stable“ lautet, tatsächlich in all ihren Facetten zu verstehen ist. Es spricht allerdings viel dafür, dass es weniger darauf ankommt, wie lange die Einheit bereits bestanden hat, sondern dass es auf die „Übertragung einer organisierten Gesamtheit von Faktoren …, die eine dauerhafte Fortsetzung der Tätigkeiten“ erlaubt (EuGH 19. September 1995 – C-48/94 – [Rygaard] Rn. 21), also (auch auf) einen Zukunftsbezug ankommt. Aus diesem Grund könnte hier eine subsumierende Verneinung des Kriteriums „auf Dauer angelegt“ durch das Revisionsgericht nicht ohne vorheriges Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV erfolgen.
133
(b) Das Wet Lease für Eurowings, das bisher von der Schuldnerin betrieben wurde, wurde auf die LGW übertragen. Insoweit erfolgte „der Austausch von Air Berlin mit LGW im Rahmen des zwischen der Air Berlin und der Lufthansa bestehenden Roof Wetlease“ (so heißt es in der Entscheidung der Europäischen Kommission vom 21. Dezember 2017 in der Sache M.8633, „LUFTHANSA/CERTAIN AIR BERLIN ASSETS“, (C(2017)9118 final), vgl. Rn. 45). Das Wet Lease für Eurowings bei der Schuldnerin im Zeitraum ab Ende Oktober 2017 bis spätestens Ende Januar 2018 war nach dem Anteilskauf- und Übertragungsvertrag vom 13. Oktober 2017 darauf angelegt, bei der LGW fortgesetzt zu werden.
134
dd) Es spricht auch viel dafür, dass die Tätigkeit einer etwa erst Ende des Monats Oktober 2017 bei der Schuldnerin entstandenen wirtschaftlichen Einheit Wet Lease für Eurowings der oben beschriebenen im Zeitraum ab Anfang des Jahres 2017 (vgl. Rn. 95 ff.) entspricht.
135
(1) Dabei dürfte es unerheblich sein, dass bei der Schuldnerin im Rahmen des Wet Lease für Eurowings ab Ende des Monats Oktober 2017 nicht mehr – wie zuvor – 33 Flugzeuge der Airbus A320-Familie zum Einsatz kamen, sondern zunächst nur noch 13 und später ggf. sukzessive eine geringere Anzahl von Flugzeugen (vgl. Rn. 125). Es dürfte nämlich nicht darauf ankommen, mit wie vielen Flugzeugen welchen Typs der mit Eurowings bestehende Wet Lease-Vertrag zeitweise und vorübergehend erfüllt wurde, soweit die Tätigkeit im Wesentlichen die des Wet Lease-Vertrags mit der Eurowings war. Für eine solche Betrachtungsweise könnten die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Ferreira da Silva e Brito ua. (EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – Rn. 30 ff.) sprechen. Dabei wirkt sich auch aus, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Übergangszeit selbst eine kurze – je nach den Umständen mehrmonatige – vollständige Unterbrechung der Tätigkeit (vgl. nur EuGH 7. August 2018 – C-472/16 – [Colino Sigüenza] Rn. 43; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 31) unschädlich wäre. Unter diesem Blickwinkel dürfte erst recht eine hier höchstens drei Monate andauernde Übergangszeit (ohne vollständige Unterbrechung) unschädlich sein, in der bei der Schuldnerin sukzessive weniger Flugzeuge eingesetzt wurden, dafür durch die insoweit bereits mit der Schuldnerin kooperierende LGW einige von deren Bombardier Dash-Q-400.
136
(2) Zeitweise sind nämlich zur Erfüllung des mit Eurowings bestehenden Wet Lease-Vertrags offenbar nicht allein Flugzeuge der Airbus A320-Familie eingesetzt worden, sondern sowohl Flugzeuge der Airbus A320-Familie als auch einige Bombardier Dash-Q-400. So war im Anteilskauf- und Übertragungsvertrag vom 13. Oktober 2017 vorgesehen, dass bis zum Vollzugstermin dieses Vertrags am 9. Januar 2018 17 der Dash-Q-400-Flugzeuge der LGW im Wet Lease für Eurowings fliegen sollten. Aus der Erklärung der Schuldnerin vom 12. Oktober 2017 geht hervor, dass nach der Einstellung des eigenwirtschaftlichen operativen Flugverkehrs am 27. Oktober 2017 die Erbringung der Dienstleistungen gegenüber Eurowings im Rahmen des Wet Lease für den Zeitraum bis maximal zum 31. Januar 2018 fortgesetzt werden sollte und dies 13 Flugzeuge betraf. Nach dem Interessenausgleich vom 17. November 2017 kamen ab Dezember 2017 bei der Schuldnerin im Rahmen des Wet Lease für Eurowings nur noch 9 Flugzeuge zum Einsatz. Dafür wurden die Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart genutzt sowie das diesen Stationen zugeordnete Flugpersonal – unter Freistellung der übrigen Beschäftigten – eingesetzt. Es mag auch sein, dass sukzessive eine geringere Anzahl von Flugzeugen eingesetzt worden ist (vgl. Rn. 125).
137
(3) Damit war auch im Zeitraum von Ende Oktober 2017 bis Dezember 2017 oder spätestens bis zum 31. Januar 2018 die Erfüllung des Wet Lease-Vertrags mit Eurowings Inhalt der dafür fortbestehenden Einheit. Der Wet Lease-Vertrag mit Eurowings wurde offenbar übergangsweise in Kooperation zwischen der Schuldnerin und der zu dieser Zeit noch zur Air Berlin Gruppe zugehörigen LGW – erkennbar noch unter der Regie der Schuldnerin – erfüllt. Zudem war vereinbart worden, dass die Schuldnerin – nach Erwerb eines AOC für den Betrieb des Flugverkehrs mit Flugzeugen des Typs Airbus A320 durch die LGW – das Wet Lease durch die LGW für Eurowings um 13 Flugzeuge des Typs Airbus A320 erweitern sollte, für die die LGW 13 Crews einstellen sollte. Dies war erkennbar darauf gerichtet, die zunächst von der Schuldnerin eingesetzten 13 Flugzeuge zu ersetzen.
138
ee) Zudem spricht viel dafür, dass aus Gründen des Flugplans wie bisher die Slots von Eurowings – also bestimmte Slots auf bestimmten Flughäfen – benutzt wurden (vgl. Rn. 114 ff.).
139
c) Es spricht auch viel dafür, dass die übergangsfähige wirtschaftliche Einheit Wet Lease für Eurowings unter Bewahrung ihrer Identität auf die LGW übergegangen ist, und zwar – womöglich – zum Vollzugstermin des Anteilskauf- und Übertragungsvertrags vom 13. Oktober 2017, also zum 9. Januar 2018, oder zu einem damit im Zusammenhang stehenden früheren oder späteren Zeitpunkt.
140
Eine bloße Fortführung der Tätigkeit durch einen anderen (sog. – bloße – Funktionsnachfolge bzw. Auftragsnachfolge) liegt jedenfalls nicht vor, denn es ist nicht die „bloße Tätigkeit“ übernommen worden.
141
aa) Dass die LGW das Wet Lease für Eurowings übernommen hat, wird von keiner Seite bestritten und ergibt sich inhaltlich aus den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts. Insoweit geht zudem aus der Anmeldung vom 31. Oktober 2017 in der Sache M.8633, „Lufthansa/certain Air Berlin assets“ (vgl. Rn. 32) hervor: „LGW soll als Zweckgesellschaft für die Fortsetzung des gegenwärtig von Air Berlin betriebenen Flugplans im Rahmen einer Wet-Lease-Vereinbarung mit der Lufthansa-Gruppe vom Dezember 2016 dienen“. Aus der Entscheidung der Europäischen Kommission vom 21. Dezember 2017 in der Sache M.8633, „LUFTHANSA/CERTAIN AIR BERLIN ASSETS“ (vgl. Rn. 45) ergibt sich, dass laut Lufthansa der Erwerb der LGW dem Zweck dient, die Fortführung der Kooperation zwischen der Air Berlin und der Lufthansa sicherzustellen (über ua. ihre Tochtergesellschaft Eurowings) auf Basis des im Dezember 2016 abgeschlossenen Roof WetLease-Vertrags. Es heißt darin zudem, die LGW werde als Vehikel fungieren, „welches den derzeit aktuellen Flugplan gemäß dem Roof Wetlease weiter bedienen wird“. Weiter heißt es, im Zuge der Transaktion werde die Lufthansa die alleinige Kontrolle über die LGW und die auf sie übertragenen Flugzeuge, Besatzungsmitglieder und Flughafenslots erwerben. Ein Wet Lease-Vertrag mit der LGW als Vermieter und der Lufthansa als Mieterin solle abgeschlossen werden, um es der LGW zu ermöglichen, die von Air Berlin gemäß dem Roof WetLease erbrachten Leistungen selbst zu erbringen. Es gehe um den „Austausch von Air Berlin mit LGW im Rahmen des zwischen der Air Berlin und der Lufthansa bestehenden Roof Wetlease“ und die „dauerhafte Integration der gemäß dem Roof Wetlease eingesetzten Flugzeuge und Besatzungsmitglieder in das Unternehmen der Lufthansa“. Ferner heißt es, dass die LGW Eurowings-Flüge ausführe, die zuvor von der Air Berlin gemäß dem Roof WetLease ausgeführt worden seien. Zu diesem Zweck habe die Lufthansa eine Ausnahme von der Stillhaltezeit gemäß Artikel 7 Abs. 3 der EG-Fusionskontrollverordnung beantragt, welche die Kommission am 27. Oktober 2017 gewährte, einen Tag vor der Betriebseinstellung der Air Berlin.
142
bb) Die LGW hat nicht allein den Auftrag des Wet Lease für Eurowings von der Schuldnerin übernommen. Hinzu kommt ua. die Nutzung von Flugzeugen, die zuvor die Schuldnerin nutzte und die Nutzung von Slots, die zuvor die Schuldnerin nutzte. Viel spricht dafür, dass eine organisierte Zusammenfassung von Ressourcen im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit übernommen worden ist und damit ein Betriebsteilübergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG stattgefunden hat.
143
Jedenfalls scheidet eine Bewertung als Fortführung der „bloßen“ Tätigkeit (vgl. EuGH 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 41; 11. März 1997 – C-13/95 – [Süzen] Rn. 15; 10. Dezember 1998 – C-127/96, C-229/96 und C-74/97 – [Hernández Vidal ua.] Rn. 30; 10. Dezember 1998 – C-173/96 und C-247/96 – [Hidalgo ua.] Rn. 30) durch einen anderen (sog. – bloße – Funktionsnachfolge bzw. Auftragsnachfolge) aus. Nur soweit allein der Auftrag des Wet Lease für Eurowings von der LGW übernommen worden wäre, könnte eine Übernahme der „bloßen“ Tätigkeit angenommen werden. Hier blieb es jedoch nicht bei der Übernahme der bloßen Tätigkeit.
144
(1) Es ist eine wesentliche Anzahl von Flugzeugen übertragen worden. Dies betrifft einerseits, wie bereits ausgeführt, 13 der zuvor von der Schuldnerin geleasten Flugzeuge der Airbus A320-Familie. Zudem spricht einiges dafür, dass die 15 Flugzeuge der Airbus A320-Familie, die zuvor von der Schuldnerin im Wet Lease eingesetzt waren, von der Deutsche Lufthansa von den Leasinggebern erworben worden waren und sodann – nach Erwerb des erforderlichen AOC durch die LGW – zum Zwecke der Erfüllung des auf sechs Jahre angelegten Wet Lease-Vertrags zum Einsatz kamen. Für 5 weitere im Wet Lease fliegende Airbusse hatte die Lufthansa Kaufoptionen.
145
Dass im Zeitraum ab Oktober 2017 von der Schuldnerin nur noch 13 bzw. ggf. zuletzt nur noch 9 oder möglicherweise weniger Flugzeuge der Airbus A320-Familie eingesetzt wurden statt der ursprünglich 33 (vgl. Rn. 125), dürfte schon deshalb nicht gegen einen identitätswahrenden Übergang des Wet Lease für Eurowings auf die LGW sprechen, weil nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst eine kurze – je nach den Umständen mehrmonatige – vollständige Unterbrechung der Tätigkeit unschädlich ist (vgl. Rn. 85, 135). Umso weniger schadet es, wenn es – wie hier – nicht zu einer Unterbrechung der Tätigkeit kommt, weil der Wet Lease-Vertrag mit Eurowings durchgehend weiter erfüllt wurde, wenn auch für eine Übergangszeit ab Ende Oktober 2017 für maximal drei Monate teilweise in Kooperation der Schuldnerin mit der LGW bei einer sukzessiven Verringerung der von der Schuldnerin selbst eingesetzten Anzahl von Flugzeugen (vgl. Rn. 125, 135). Nach dieser Übergangszeit, nämlich offensichtlich mit Erwerb des insoweit erforderlichen AOC durch die LGW, sollte das Wet Lease für Eurowings – wie zuvor – mit 33 Flugzeugen (der Airbus A320-Familie) vollständig bei der LGW weitergeführt werden, was ersichtlich auch erfolgt ist.
146
(2) Auch ist davon auszugehen, dass aus Gründen des Flugplans wie bisher die Slots von Eurowings – also bestimmte Slots auf bestimmten Flughäfen – benutzt wurden (vgl. Rn. 114 ff.).
147
(3) Darüber hinaus ist in erkennbarer Quantität Personal eingestellt – und damit letztlich womöglich übernommen – worden, das zuvor bei der Schuldnerin tätig war. Ausdrücklich und aktiv wurden unter den von der Schuldnerin freigestellten Beschäftigten „Ready Entries“ – Kapitäne und First Officer der A320-Familie – zum umgehenden Einstieg gesucht, deren Vorerfahrung berücksichtigt werden sollte. Aus der internen Mitteilung vom 30. Oktober 2017 (vgl. Rn. 31) geht hervor, dass für aktives Flugpersonal der Schuldnerin ein verkürztes Auswahlverfahren angekündigt wurde, während Bewerber anderer Airlines das LGW Assessment Center absolvieren sollten.
148
In der erfolgten „Neuanstellung“ bisherigen Personals liegt grundsätzlich eine „Übernahme“ von Personal iSv. § 613a BGB und der Richtlinie 2001/23/EG. Soweit Arbeitnehmer für Tätigkeiten eingesetzt werden, die mit ihren vorherigen Aufgaben übereinstimmen, kann darin auch bei anders bezeichneter rechtlicher Gestaltung eine Übernahme von Personal liegen, beispielsweise bei einer einseitigen Entscheidung des früheren Inhabers, die Arbeitsverträge des übergegangenen Personals zu kündigen, gefolgt von einer einseitigen Entscheidung des neuen Inhabers, im Wesentlichen dasselbe Personal zur Erfüllung derselben Aufgaben einzustellen (vgl. nur EuGH 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 37; vgl. auch EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 31 zur Reintegration von Personal).
149
(4) Zudem können weitere Umstände in der vorzunehmenden Gesamtbewertung für einen Betriebsteilübergang sprechen. So hat die LGW nach dem Vortrag des Klägers die Software „AIMS“ – „Crew Management and Operations Control airline software“ – für die Personal-, Flug- und Flugzeugplanung von der Schuldnerin übernommen. Dieser Umstand geht auch aus dem Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts vom 15. August 2018 (- 29 Ca 1204/18 – S. 7) hervor. Dort heißt es, dass „die LGW von der Schuldnerin die Berechtigung zur Nutzung der Homepage der Schuldnerin und eine Software (AIMS)“ erhalten hat. Der Kläger führt weiter an, die LGW habe zudem die für die Wartung der Flugzeuge wichtige Software „AMOS“ übernommen.
150
cc) Die Tätigkeit des Wet Lease für Eurowings wurde von der LGW – ersichtlich – ohne (nennenswerte) Unterbrechung fortgeführt.
151
dd) Ferner wirkt sich aus, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Annahme eines Betriebsteilübergangs auch in Betracht kommt, wenn eine Einheit, von der Material und ein Teil des Personals übernommen wurde, ohne Beibehaltung ihrer eigenständigen Organisationsstruktur in die Struktur des übernehmenden Luftfahrtunternehmens eingegliedert wird, da eine Verbindung zwischen dem übergegangenen Material und Personal einerseits und der Fortführung der zuvor von dem bisherigen Luftfahrtunternehmen ausgeübten Tätigkeiten andererseits besteht (vgl. Rn. 86 f., dabei insbesondere EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 32). Denn nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren stellt das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität der übertragenen Einheit dar. So ermöglicht die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen.
152
d) Danach spricht einiges dafür, dass sich die Kündigung vom 28. November 2017 mangels sozialer Rechtfertigung iSv. § 1 Abs. 2 KSchG und/oder ggf. auch nach § 613a Abs. 4 BGB als unwirksam erweist. Auch diesbezüglich sieht sich der Senat – wie bereits ausgeführt (vgl. Rn. 66) – im Hinblick auf weitere anhängige Verfahren vor den Instanzgerichten, bei denen – gerichtsbekannt – einige Pilot(inn)en nicht nur die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses im Wege der Kündigungsschutzklage gegenüber dem Beklagten angegriffen haben, sondern zudem mit einer gegen die LGW gerichteten Klage die Feststellung begehren, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt zwischen ihnen und der LGW ein Arbeitsverhältnis zu den Bedingungen des mit der Schuldnerin bestehenden Arbeitsvertrags besteht, zu rechtlichen Hinweisen zu § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB und zum damit einhergehenden Kündigungsschutzrecht veranlasst:
153
aa) Der Kläger war zuletzt der Station Köln zugeordnet, von der aus ausschließlich Wet Lease für Eurowings durchgeführt wurde. Das dürfte dafür sprechen, dass der Kläger im Zeitpunkt eines etwaigen Übergangs einer etwa bestehenden wirtschaftlichen Einheit Wet Lease für Eurowings auf die LGW dieser Einheit angehörte und sein Arbeitsverhältnis ggf. von Gesetzes wegen zu dieser übergegangen ist. Eine gleichwohl ausgesprochene Kündigung verstieße gegen das Kündigungsverbot „wegen des Übergangs“, § 613a Abs. 4 BGB. Soweit im Kündigungszeitpunkt bezogen auf das Wet Lease für Eurowings keine Stilllegungsabsicht vorlag, weil sich die geplante Maßnahme objektiv nicht als Betriebsteilstilllegung, sondern als Betriebsteilveräußerung darstellt, mangelt es zudem an der sozialen Rechtfertigung iSv. § 1 Abs. 2 KSchG. Bezogen auf die Kündigung vom 28. November 2017 wirkt sich diesbezüglich ua. aus, dass ausweislich der am 31. Oktober 2017 erfolgten Anmeldung eines Zusammenschlusses nach der sog. EG-Fusionskontrollverordnung (Verordnung (EG) Nr. 139/2004) betreffend ua. die LGW bei der Europäischen Kommission (vgl. Rn. 32) bereits zu diesem Zeitpunkt die Weiterführung der Wet Lease-Vereinbarung durch die LGW geplant war. Auch die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zum Abschluss des Anteilskauf- und Übertragungsvertrags am 13. Oktober 2017 (vgl. Rn. 23) – also vor Ausspruch der Kündigung – deuten darauf hin.
154
(1) Nach der Richtlinie 2001/23/EG bzw. der Vorgänger-Richtlinie 77/187/EWG hängt der Übergang der Arbeitsverträge – wie bereits ausgeführt (vgl. Rn. 80, 91) – nicht vom Willen des Veräußerers oder des Übernehmers ab, sondern erfolgt ipso iure. Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus den zum Zeitpunkt des Übergangs im Rahmen der wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnissen gehen von Gesetzes wegen auf den Erwerber über. Wie ebenfalls bereits ausgeführt (vgl. Rn. 91), sind im Fall der Beendigung von Arbeitsverhältnissen unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG bzw. unter Verstoß gegen § 613a Abs. 4 BGB vor dem Übergang die betroffenen Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Übergangs als immer noch bei dem Unternehmen beschäftigt anzusehen, was vor allem zur Folge hat, dass die ihnen gegenüber bestehenden Arbeitgeberpflichten ohne Weiteres vom Veräußerer auf den Erwerber übergehen.
155
(2) Danach wäre unter Umständen wie hier, sofern eine identitätswahrende Übernahme einer wirtschaftlichen Einheit Wet Lease für Eurowings iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB und iSd. Richtlinie 2001/23/EG durch die LGW und damit ein Betriebsteilübergang zu bejahen wäre, davon auszugehen, dass die Arbeitsverhältnisse aller Pilot(inn)en, deren Tätigkeit das Wet Lease für Eurowings mit 33 Flugzeugen ausmachte, ipso iure (zu den Grundsätzen vgl. Rn. 80, 91) im Zeitpunkt des Betriebsteilübergangs auf die LGW übergegangen sind. Dazu dürfte das Arbeitsverhältnis des Klägers gehört haben, der der Station Köln zugeordnet war, von der aus ausschließlich Wet Lease für Eurowings durchgeführt wurde. Soweit die Schuldnerin in der kurzen Übergangszeit ab Ende Oktober 2017 für einen Zeitraum für bis zu drei Monaten nicht 33 Flugzeuge der Airbus A320-Familie, sondern aufgrund einer zeitweiligen Kooperation mit der LGW weniger Flugzeuge eingesetzt hat, ändert dies nichts an der tatsächlichen Größe der (etwa bestehenden) wirtschaftlichen Einheit (vgl. auch Rn. 135, 145 im Vergleich zu einer unschädlichen Unterbrechung).
156
bb) Es ist eine Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG, ob und ggf. nach welchen Grundsätzen bei erfolgtem Betriebsteilübergang bezogen auf das Wet Lease für Eurowings Arbeitsverhältnisse des an den sog. gemischten Stationen (München und Düsseldorf) stationierten Besatzungspersonals davon erfasst sind. Anzunehmen ist, dass auch insofern Arbeitsverhältnisse ipso iure übergehen, wenn auch ungeklärt ist, welche Gesichtspunkte dafür maßgeblich sind.
157
(1) Soweit der Senat in der Vergangenheit allerdings davon ausgegangen ist, dass unter Umständen wie denen des vorliegenden Rechtsstreits, in dem (ggf.) ein Unternehmens-/Betriebsteilübergang stattfindet und der Betrieb im Übrigen stillgelegt wird, nicht unbedingt die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten mit übergehen, die bislang für diesen Unternehmens-/Betriebsteil tatsächlich tätig geworden sind, sondern dass grundsätzlich – jedenfalls bei Ausspruch der Kündigung vor Betriebsteilübergang – eine Sozialauswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmern durchgeführt werden muss (BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 57 ff. mwN; 14. März 2013 – 8 AZR 153/12 – Rn. 37; 28. Oktober 2004 – 8 AZR 391/03 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 112, 273), ist zweifelhaft, ob daran festgehalten werden kann. Es spricht manches dafür, dass diese Rechtsprechung nicht ohne Weiteres mit der bereits aufgezeigten Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar ist, wonach der Schutz der Richtlinie 2001/23/EG im Fall der Übertragung eines Teils des Betriebs/Unternehmens den in diesem Betriebs-/Unternehmensteil beschäftigten Arbeitnehmern gilt, da das Arbeitsverhältnis inhaltlich durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betriebs-/Unternehmensteil gekennzeichnet wird, dem er zur Erfüllung seiner Aufgabe angehört (vgl. Rn. 110) und die Arbeitsverhältnisse – wie bereits ausgeführt (vgl. Rn. 80, 91, 155) – ipso iure auf den Erwerber/neuen Inhaber übergehen.
158
(2) Wie ebenfalls bereits ausgeführt (vgl. Rn. 102, 105), ist es eine Frage der Auslegung der Vorgaben der Richtlinie 2001/23/EG, ob im Fall einer Tätigkeit mit teils wechselndem und ggf. rotierendem Personal überhaupt ein Betriebsteilübergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG angenommen werden kann. Damit verbunden ist es eine Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG, welche Rechtsfolge sich in solch einem Fall bei Bejahung eines Betriebsteilübergangs für die betroffenen Arbeitsverhältnisse ergibt.
159
II. Mit dem Landesarbeitsgericht geht der Senat davon aus, dass – abgesehen vom Wet Lease für Eurowings – im Übrigen kein Betriebs(teil)übergang ersichtlich ist.
160
1. Bei einer Gesamtbewertung der Umstände unter wertender Berücksichtigung sämtlicher Teilaspekte (vgl. Rn. 85) ist – entgegen der Auffassung des Klägers – für einen Übergang der wirtschaftlichen Einheit „gesamter Betrieb der Schuldnerin“ auf einen neuen Inhaber oder einen identitätswahrenden Übergang auf mehrere neue, gemeinsam fortführende Erwerber (vgl. EuGH 20. Juli 2017 – C-416/16 – [Piscarreta Ricardo] Rn. 46 und Tenor) nichts ersichtlich. Auch stellen entgegen der Auffassung des Klägers nach der betrieblichen Arbeitsorganisation bei der Schuldnerin weder einzelne Flugzeuge noch die Gesamtheit der eingesetzten Flugzeuge oder Slots, einzelne Flugzeugtypen und der Lang-, Mittel- und Kurzstreckenflugbetrieb jeweils – für sich betrachtet – übergangsfähige wirtschaftliche Einheiten iSv. § 613a BGB bzw. iSd. Richtlinie 2001/23/EG dar. Insoweit fehlt es jeweils an jeglichen greifbaren Anhaltspunkten für das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit.
161
2. Auch die Stationen, darunter auch die besonders vom Kläger hervorgehobenen Stationen Düsseldorf und Berlin, stellen nach der betrieblichen, die Tätigkeit des fliegenden Personals betreffenden Arbeitsorganisation bei der Schuldnerin keine übergangsfähigen wirtschaftlichen Einheiten iSv. § 613a BGB bzw. iSd. Richtlinie 2001/23/EG dar. Darüber hinaus ist ein identitätswahrender Übergang einer etwa gleichwohl bestehenden wirtschaftlichen Einheit „Station“ auf einen anderen Inhaber bzw. Erwerber nicht ersichtlich.
162
a) Nach der Richtlinie 2001/23/EG, deren Begriffe, Vorgaben und Zweck nicht mit denen der Richtlinie 98/59/EG(zur Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG später unter B, Rn. 169 ff.) übereinstimmen, ist nach der betrieblichen Arbeitsorganisation bei der Schuldnerin schon nicht im Ansatz erkennbar, dass die Tätigkeit des fliegenden Personals Bestandteil eines etwa bestehenden eigenen Zwecks der Stationen im Sinne einer Einbindung in den stationsbezogenen Arbeitsprozess gewesen ist. Die Tätigkeit des fliegenden Personals war nicht als solche stationsbezogen und erkennbar auch nicht in die Arbeitsorganisation der Stationen eingebunden.
163
b) Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass es zu einem identitätswahrenden Übergang einer etwa doch bestehenden wirtschaftlichen Einheit „Station“, soweit es um die Tätigkeit des fliegenden Personals geht, auf einen anderen Inhaber bzw. Erwerber gekommen ist. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die funktionelle Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen den Faktoren, die eine solche Einheit ausmachen könnten, beibehalten worden wäre.
164
c) Soweit der Kläger rügt, das Landesarbeitsgericht verkenne die Wertung des Gesetzgebers aus § 24 KSchG, kann er daraus nichts zu seinen Gunsten ableiten.
165
Bei der Frage eines Betriebs(teil)übergangs iSd. Richtlinie 2001/23/EG sowie iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB kommt es nicht auf einen Betriebsbegriff iSd. jeweiligen nationalen Rechts an (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25; 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 30), also auch nicht auf eine etwaige Begriffsbestimmung in § 24 KSchG. Entscheidend ist nur, dass der Übergang eine wirtschaftliche Einheit im og. Sinne der Richtlinie 2001/23/EG und damit iSv. § 613a BGB betrifft (vgl. auch BAG 25. Januar 2018 – 8 AZR 338/16 – Rn. 28 mwN; 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 30 f. mwN).
166
3. Nach den vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen und dem unstreitigen Parteivorbringen im Übrigen spricht nichts für einen Betriebsteilübergang auf easyJet. Zwar hat easyJet eine Reihe von Vermögenswerten der Schuldnerin übernommen und es liegen weitere Umstände vor, die bei einer Gesamtbewertung unter wertender Berücksichtigung sämtlicher Teilaspekte grundsätzlich für einen Betriebsteilübergang sprechen könnten. Aber nichts spricht dafür, dass easyJet eine zuvor bei der Schuldnerin bestehende wirtschaftliche Einheit übernommen hat.
167
4. Auch soweit der Kläger geltend macht, es sei zu einem Betriebs(teil)übergang auf Eurowings gekommen, und dies damit begründet, Eurowings habe mehr als 70 Flugzeuge übernommen, bediene in etwa gleiche Flugstrecken und habe 200 Piloten bzw. 3.000 Beschäftigte übernommen, ist nicht ersichtlich, welche zuvor bei der Schuldnerin bestehende wirtschaftliche Einheit übernommen worden sein könnte. Ersichtlich handelt es sich um die Übernahme von Faktoren, die zuvor bei der Schuldnerin nicht einen Betriebsteil ausmachten, der eine wirtschaftliche Einheit im Sinne einer hinreichend strukturierten und selbständig organisierten Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck war.
168
III. Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, für einen erfolgten Betriebs(teil)übergang liege die Darlegungs- und Beweislast beim Kläger, weist der Senat darauf hin, dass diesbezüglich Anlass zu Zweifeln besteht. Zwar ist das Bundesarbeitsgericht in früherer Rechtsprechung davon ausgegangen, bei einer gegen den bisherigen Arbeitgeber oder den (vermeintlichen) neuen Inhaber gerichteten Feststellungsklage obliege die Darlegungs- und Beweislast dem Arbeitnehmer, soweit die Unwirksamkeit der Kündigung allein davon abhänge, ob das Kündigungsverbot des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB eingreift (BAG 5. Dezember 1985 – 2 AZR 3/85 – zu B II 2 a der Gründe) bzw. dass der Arbeitnehmer die für die Wahrung der Identität einer wirtschaftlichen Einheit relevanten Umstände im Einzelnen vortragen und unter Beweis stellen müsse (BAG 16. Februar 2006 – 8 AZR 204/05 – Rn. 24, 26 f.). Jedoch ist es aus Sicht des Senats fraglich, ob und ggf. inwieweit diese Rechtsprechung mit den Vorgaben des Unionsrechts, zu deren Umsetzung § 613a Abs. 4 BGB dient, vereinbar ist. Es könnte nämlich einiges dafür sprechen, dass angesichts der zwingenden Regelungen der Richtlinie 2001/23/EG, von denen nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers abgewichen werden darf (vgl. etwa EuGH 11. Juni 2009 – C-561/07 – [Kommission/Italien] Rn. 46), sowie angesichts der zwingenden Vorschriften der Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer gegen eine wegen des Übergangs erfolgte Kündigung im Besonderen (vgl. etwa EuGH 7. August 2018 – C-472/16 – [Colino Sigüenza] Rn. 50; 15. September 2010 – C-386/09 – [Briot] Rn. 28; 15. Juni 1988 – C-101/87 – [Bork International ua.] Rn. 17; 17. Dezember 1987 – 287/86 – [Ny Mølle Kro] Rn. 25) und angesichts der Verpflichtung, die praktische Wirksamkeit der Regeln zum Kündigungsverbot des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG zu gewährleisten, die Darlegungs- und Beweislast nicht bzw. nicht hauptsächlich auf Seiten des Arbeitnehmers liegt. Auch diese Frage der Auslegung der Richtlinie 2001/23/EG – die im Hinblick auf weitere anhängige Verfahren vor den Instanzgerichten von Bedeutung sein kann – kann letztentscheidend nur durch den Gerichtshof beantwortet werden.
169
B. Die Kündigungsschutzklage ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die Kündigung der Schuldnerin vom 28. November 2017 nicht aufgelöst. Die Kündigung ist – anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat – nach § 17 Abs. 1 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam, da die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erstattet wurde. Diese ist nicht bei der zuständigen Behörde erstattet worden und sie enthält zudem nicht die nach den Vorgaben des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG erforderlichen Angaben.
170
I. Die Anzeige- und Konsultationspflichten des Arbeitgebers nach § 17 Abs. 1 bis Abs. 3 KSchG knüpfen ebenso wie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Unterabs. i der Richtlinie 98/59/EG, auf dessen Umsetzung § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG gerichtet ist, an den Betrieb an. Zentraler Bezugspunkt des Massenentlassungsschutzes ist damit der Betriebsbegriff. Diesen hat die Schuldnerin, wie bereits der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts am 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – entschieden hat, vorliegend verkannt.
171
1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der in der Richtlinie 98/59/EG selbst nicht definierte Begriff „Betrieb“ ein unionsrechtlicher Begriff. Sein Inhalt kann nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden (vgl. EuGH 13. Mai 2015 – C-182/13 – [Lyttle ua.] Rn. 26; 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 42; 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 45; in diesem Sinne schon EuGH 7. Dezember 1995 – C-449/93 – [Rockfon] Rn. 25). Er ist daher in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich (vgl. nur EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 42) vom Gerichtshof und losgelöst von den nationalen Begrifflichkeiten auszulegen. Für die Definition des Betriebs im Bereich des Massenentlassungsschutzes kann darum nicht auf den Gehalt des Betriebsbegriffs des Kündigungsschutzgesetzes oder des Betriebsverfassungsgesetzes abgestellt werden. Deshalb ist es für den Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG nicht von Bedeutung, wenn nach der Vorstellung des Arbeitgebers Organisationseinheiten bestehen, die sich an betriebsverfassungsrechtlich geprägten Arbeitnehmervertretungsstrukturen orientieren, wie sie bspw. nach § 117 BetrVG möglich sind.
172
2. Der Begriff „Betrieb“ ist dahin auszulegen, dass er nach Maßgabe der Umstände die Einheit bezeichnet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören (EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 44; 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 47; 7. Dezember 1995 – C-449/93 – [Rockfon] Rn. 31 f.). Es muss sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt (EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 45; 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 49; 15. Februar 2007 – C-270/05 – [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 27). Da die Richtlinie 98/59/EG die sozioökonomischen Auswirkungen betrifft, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können, muss die fragliche Einheit weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als „Betrieb“ iSd. Richtlinie 98/59/EG qualifiziert werden zu können (EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 47; 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 51; 15. Februar 2007 – C-270/05 – [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 28). Der Betrieb iSd. Richtlinie 98/59/EG muss darum auch keine Leitung haben, die selbständig Massenentlassungen vornehmen kann (EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 44 mwN). Vielmehr reicht es aus, wenn eine Leitung besteht, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung (EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 50) sicherstellt (EuGH 15. Februar 2007 – C-270/05 – [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 31). Eine bestimmte räumliche Entfernung ist – anders als bei § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG – nach diesem Betriebsverständnis nicht erforderlich (EuGH 15. Februar 2007 – C-270/05 – [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 29).
173
3. Ebenso wie der Sechste Senat am 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – für die Station der Schuldnerin am Flughafen Düsseldorf entschieden hat, stellte die Station der Schuldnerin am Flughafen Köln nach diesen Grundsätzen für den Kläger den Betrieb iSd. Richtlinie 98/59/EG und damit iSv. § 17 KSchG dar.
174
a) Die Station in Köln war nicht nur vorübergehend eingerichtet. Sie wies die erforderliche zeitliche Kontinuität und organisatorische Stabilität auf, um in der Gesamtstruktur der Schuldnerin von anderen Einheiten unterscheidbar wahrgenommen zu werden. Sie war zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben, nämlich dazu bestimmt, den Flugbetrieb der Schuldnerin an diesem Flughafen zu ermöglichen. Sie diente als Start- und Landebasis.
175
b) Die Station in Köln verfügte ferner über eine „Gesamtheit von Arbeitnehmern“ iSd. Begriffsbestimmung des Gerichtshofs zur Richtlinie 98/59/EG. Zentrales Element ist die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und der Einheit (vgl. EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 44; 7. Dezember 1995 – C-449/93 – [Rockfon] Rn. 32; Brams Unionsrechtliche Impulse für das Recht der Massenentlassung S. 61). Die im Rahmen des Massenentlassungsschutzes erforderliche Verbindung zum jeweiligen Stationierungsort war beim fliegenden Personal gegeben. Von dieser Basis aus gingen die Besatzungsmitglieder ihrer Arbeit nach und an dieser begann sowie endete ihre Arbeitszeit. Der Senat schließt sich insofern der Entscheidung des Sechsten Senats vom 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – an.
176
c) Die Station in Köln verfügte auch über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung ihrer Aufgaben. So waren ausweislich der E-Mail der Schuldnerin an die Agentur für Arbeit vom 13. Oktober 2017 an den jeweiligen Stationen zum Beispiel Crewräume für das Check-in Verfahren vorhanden. Dabei kommt es nicht auf die Eigentumslage an. Eine Leitung, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellte, war für das Cockpitpersonal mit den Kompetenzen des Area Managers Cockpit gegeben.
177
aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 98/59/EG (vgl. Rn. 172) ist eine Leitung ausreichend, die einen reibungslosen Betriebsablauf vor Ort gewährleisten kann. Es genügt eine stabile organisatorische Struktur, ohne dass darüber hinausgehende Anforderungen an den Grad der Verselbständigung zu stellen sind. Dabei sind an die erforderliche Leitungsstruktur keine hohen Anforderungen zu stellen. Insbesondere müssen sich die Entscheidungsbefugnisse der Leitung nicht auf mitbestimmungsrechtliche Angelegenheiten erstrecken, so dass der Begriff der „Leitungsmacht“ iSd. Richtlinie 98/59/EG deutlich offener und weiter ist als der des nationalen betriebsverfassungsrechtlichen Verständnisses. Die Anforderungen an eine örtliche Leitung iSd. Richtlinie 98/59/EG korrespondieren auch nicht mit den Anforderungen an die Leitung einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG. Die für Letztere erforderliche funktionelle Autonomie der Leitung (vgl. dazu Rn. 83 f.) muss bei einer Leitung iSd. Richtlinie 98/59/EG nicht gegeben sein. Die Begriffe und Vorgaben der beiden genannten Richtlinien stimmen nicht überein (vgl. auch Rn. 162). Die Leitung iSd. Richtlinie 98/59/EG muss weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen (vgl. Rn. 172). Ausgehend davon, dass die Richtlinie 98/59/EG die sozioökonomischen Folgen von Massenentlassungen im örtlichen Kontext und der dort vorhandenen sozialen Umgebung berücksichtigt, steht für den Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Frage im Vordergrund, ob vor Ort eine objektiv und örtlich unterscheidbare Einheit vorliegt. Ausgehend von diesem Betriebsverständnis muss eine Einheit auch nicht eigenständig den ihr zugewiesenen Teilzweck erfüllen können, um einen Betrieb iSd. Richtlinie 98/59/EG darstellen zu können.
178
bb) Wie bereits der Sechste Senat am 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – entschieden hat, genügten die Befugnisse in der Funktion des Area Managers Cockpit den Anforderungen an eine örtliche Leitung iSd. Richtlinie 98/59/EG. Area Manager Cockpit stellten – ggf. gemeinsam mit entsprechenden parallelen Funktionen für das Kabinen- und ggf. Bodenpersonal – vor Ort den ordnungsgemäßen Arbeitsablauf sicher und lösten dort etwaige arbeitsorganisatorische Probleme.
179
II. Die Verkennung des Betriebsbegriffs durch die Schuldnerin hat zur Folge, dass diese die Massenentlassungsanzeige bei der unzuständigen Arbeitsagentur Berlin Nord erstattet hat. Eine Anzeige bei der zuständigen Arbeitsagentur Köln erfolgte hingegen nicht.
180
1. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG hat der Arbeitgeber der „zuständigen“ Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen. In Deutschland ist das die für den Betriebssitz örtlich zuständige Agentur für Arbeit. Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG.
181
Der deutsche Gesetzgeber hat in § 17 Abs. 1 KSchG festgelegt, dass der Arbeitgeber „der Agentur für Arbeit“ die Anzeige zu erstatten hat. Hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit ist in § 17 KSchG selbst keine ausdrückliche Regelung enthalten. Aus dem Zweck des Anzeigeverfahrens folgt aber, dass die Anzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten ist, bei der es zu den innerhalb der Sperrfrist zu bewältigenden sozioökonomischen Auswirkungen kommt. Der zuständigen Behörde soll ermöglicht werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 47). Diese treten nach der der Richtlinie 98/59/EG zugrunde liegenden Vorstellung typischerweise am Sitz des Betriebs auf, dessen örtliche Gemeinschaft von der Massenentlassung betroffen ist und in dessen räumlicher Nähe die Arbeitnehmer in der Regel wohnen, die sich arbeitsuchend melden.
182
2. Mit der vor Zugang der Kündigung bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord erstatteten Massenentlassungsanzeige vom 24. November 2017 hat die Schuldnerin ihre Anzeigepflicht nicht erfüllt.
183
a) Insoweit ist unerheblich, dass die Schuldnerin der Agentur für Arbeit Berlin Nord im Vorfeld der Anzeige und im dazu erstellten Begleitschreiben den aus ihrer Sicht für die Frage der örtlichen Zuständigkeit relevanten Sachverhalt subjektiv umfassend und korrekt dargestellt und damit vermeintlich alles ihrerseits Erforderliche getan hatte. Entsprechend dem Zweck der Anzeige, die sozioökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen dort zu mildern, wo sie typischerweise auftreten, nämlich am Betriebssitz, verlangt § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG in richtlinienkonformer Auslegung iSv. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 98/59/EG, dass die beabsichtigten Entlassungen bei der nach nationalem Recht tatsächlich und nicht nur vermeintlich „zuständigen“ Behörde angezeigt werden.
184
b) Wie auch der Sechste Senat am 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – entschieden hat, kommt es insoweit nicht darauf an, ob eine unzuständige Agentur für Arbeit verpflichtet ist, die Anzeige an die zuständige Agentur weiterzuleiten (vgl. § 16 Abs. 2 SGB I; siehe auch die Fachlichen Weisungen KSchG zu § 1 Ziff. 2.2.3. Abs. 3). Denn auch bei einer solchen – hier nicht erfolgten – Weiterleitung wird die Anzeige erst mit ihrem Eingang bei der zuständigen Agentur wirksam. Ist die Kündigung zu diesem Zeitpunkt dem Arbeitnehmer bereits zugegangen, ist sie unwirksam (vgl. BAG 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 33).
185
c) Die bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord erstattete Massenentlassungsanzeige vom 24. November 2017 ist auch nicht als sog. Sammelanzeige wirksam erstattet worden. Vielmehr hat die Schuldnerin – ausgehend von ihrem unzutreffenden Verständnis des insoweit maßgeblichen Betriebs – am 24. November 2017 eine Einzelanzeige für den nach dem Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG nicht existierenden „Betrieb Cockpit“ – bestehend aus dem Cockpitpersonal der Gesamtheit aller Stationen – erstatten wollen.
186
III. Darüber hinaus hat die Schuldnerin aufgrund der Verkennung des Betriebsbegriffs eine inhaltlich nicht den Vorgaben des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG entsprechende Anzeige erstattet. Auch insoweit schließt sich der Senat der Entscheidung des Sechsten Senats vom 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – an.
187
Im Hinblick auf den Kläger war die Station Köln der maßgebliche Betrieb. Demgegenüber bezog sich die Anzeige vom 24. November 2017 regional auf einen zu weiten Bereich (deutschlandweit) und der Sache nach zu eng allein auf den Bereich Cockpit, wie sich aus den Angaben der Schuldnerin im Formularblatt der Agentur für Arbeit unter Nr. 16 und Nr. 21 iVm. den beigefügten Anlagen und dem Begleitschreiben vom 24. November 2017 ergibt. Dort führt die Schuldnerin unter Nr. 3 ua. aus, das Cockpitpersonal umfasse in der Regel 1.301 Mitarbeiter. Das waren sämtliche Arbeitnehmer dieser Beschäftigtengruppe. Die Aufschlüsselung der Angaben zu den Entlassungen nach Stationen in der Anlage zur Massenentlassungsanzeige ändert nichts daran, dass die Schuldnerin eine Anzeige für den gesamten Bereich Cockpit erstatten wollte und auch erstattet hat. Den bei der Agentur für Arbeit eingereichten Unterlagen lassen sich zudem keine hinreichenden Angaben in Bezug auf das Kabinen- und das etwaige Bodenpersonal entnehmen.
188
Da die Massenentlassungsanzeige richtigerweise für die Station Köln hätte erstattet werden müssen, enthält sie darüber hinaus mit der Angabe „1301“ eine unzutreffende Mitteilung der Anzahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer. Sowohl die Richtlinie 98/59/EG als auch § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG verlangen die Angabe der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer. Unabhängig von der Frage, wie die regelmäßige Beschäftigtenzahl zu bestimmen ist, waren in der Station Köln nicht die in der Anzeige vom 24. November 2017 angegebenen 1.301 Arbeitnehmer beschäftigt. Diese Zahl gab das in der Regel deutschlandweit in allen Stationen beschäftigte Cockpitpersonal an. Es fehlten Angaben zu dem in der Station Köln beschäftigten weiteren Personal.
189
IV. Diese Fehler im Anzeigeverfahren haben gemäß § 134 BGB die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge.
190
1. Wie auch der Sechste Senat am 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – entschieden hat, führt es unter Beachtung des unionsrechtlichen Grundsatzes des „effet utile“ zur Unwirksamkeit der Kündigung als Rechtsgeschäft, wenn bei ihrer Erklärung eine wirksame Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG nicht vorliegt. In der Erklärung der Kündigung liegt dann ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB (vgl. im Übrigen ua. BAG 22. November 2012 – 2 AZR 371/11 – Rn. 31, 37 ff., BAGE 144, 47; 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 22).
191
2. Die Fehler im Anzeigeverfahren sind nicht dadurch geheilt worden bzw. der gerichtlichen Kontrolle entzogen, dass die Agentur für Arbeit diese nicht – insbesondere nicht in dem Schreiben vom 28. November 2017 – beanstandet hat. Auch besteht kein Vertrauensschutz aufgrund der E-Mail-Korrespondenz vom 13. und 16. Oktober 2017 mit der Agentur für Arbeit vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige.
192
a) Dies ergibt sich bereits daraus, dass aufgrund der Anforderungen des Unionsrechts eine nach § 17 Abs. 1 KSchG in richtlinienkonformer Auslegung unwirksame Anzeige nicht durch nationale Maßnahmen „geheilt“ werden kann. Eine staatliche Stelle wie die Agentur für Arbeit ist nicht befugt, das durch das Unionsrecht gewährte Schutzniveau zu unterschreiten, auch nicht im Vorfeld durch Auskünfte. Die zeitliche Wirkung der sich aus dem Unionsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen kann nur der Gerichtshof selbst beschränken (vgl. nur EuGH 1. April 2008 – C-267/06 – [Maruko] Rn. 77; 6. März 2007 – C-292/04 – [Meilicke ua.] Rn. 32 ff.). Die Gewährung etwaigen Vertrauensschutzes in das Verständnis des Betriebsbegriffs obliegt nicht den nationalen Gerichten, sondern allein dem Gerichtshof (vgl. auch BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 27 f.).
193
b) Eine Heilung scheidet zudem aus inhaltlichen Gründen aus. Unabhängig davon, dass das Schreiben der Agentur für Arbeit vom 28. November 2017 mangels eines Regelungscharakters schon kein Verwaltungsakt war (zu den Voraussetzungen eines Verwaltungsakts BAG 28. Juni 2012 – 6 AZR 780/10 – Rn. 65 ff., BAGE 142, 202), sondern nur eine Eingangsbestätigung, hindert auch ein bestandskräftiger Bescheid der Arbeitsverwaltung nach § 18 Abs. 1, § 20 KSchG die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht daran, die Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige festzustellen (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 33, BAGE 157, 1; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 66). Ob die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß erstattet ist, ist lediglich Vorfrage für einen Bescheid der Arbeitsverwaltung nach § 18 Abs. 1, § 20 KSchG, gehört nicht zum Regelungsinhalt eines solchen Verwaltungsakts und wird deshalb von dessen Bestandskraft nicht erfasst. Auch insoweit schließt sich der Senat der Entscheidung des Sechsten Senats vom 13. Februar 2020 in dem Verfahren – 6 AZR 146/19 – an.
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F. Rojahn |
bag_12-19 | 12.03.2019 | 12.03.2019
12/19 - Unterrichtung des Betriebsrats über Arbeitsunfälle von Fremdpersonal
Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber verlangen, über Arbeitsunfälle unterrichtet zu werden, die Beschäftigte eines anderen Unternehmens im Zusammenhang mit der Nutzung der betrieblichen Infrastruktur des Arbeitgebers erleiden.
Die Arbeitgeberin erbringt Zustelldienste. Auf ihrem Betriebsgelände sind im Rahmen von Werkverträgen auch Arbeitnehmer anderer Unternehmen tätig. Nachdem sich zwei dieser Beschäftigten bei der Beladung von Paletten infolge wegrutschender Überladebleche verletzten, hat der Betriebsrat von der Arbeitgeberin die Vorlage von Kopien der Unfallanzeigen erbeten. Zudem will er künftig über entsprechende Arbeitsunfälle des Fremdpersonals informiert werden. Außerdem verlangt er, ihm jeweils die Unfallanzeigen zur Gegenzeichnung vorzulegen und in Kopie auszuhändigen.
Die Vorinstanzen haben die darauf gerichteten Anträge des Betriebsrats abgewiesen. Seine Rechtsbeschwerde hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Nach § 89 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz muss der Betriebsrat vom Arbeitgeber bei allen im Zusammenhang mit dem Arbeitsschutz und der Unfallverhütung stehenden Fragen hinzugezogen werden. Hiermit korrespondiert ein entsprechender Auskunftsanspruch des Betriebsrats. Dieser umfasst im Streitfall auch Unfälle, die Arbeitnehmer erleiden, die weder bei der Arbeitgeberin angestellt noch deren Leiharbeitnehmer sind. Aus den Arbeitsunfällen des Fremdpersonals können arbeitsschutzrelevante Erkenntnisse für die betriebszugehörigen Arbeitnehmer, für die der Betriebsrat zuständig ist, gewonnen werden. Die auf die Unfallanzeigen bezogenen Begehren des Betriebsrats waren dagegen nicht erfolgreich.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 12. März 2019 – 1 ABR 48/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juli 2017 – 21 TaBV 15/16 – | Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats wird – unter ihrer Zurückweisung im Übrigen – der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juli 2017 – 21 TaBV 15/16 – teilweise aufgehoben und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird – unter ihrer Zurückweisung im Übrigen – der Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 6. Dezember 2016 – 7 BV 206/16 – teilweise abgeändert.
Der Arbeitgeberin wird aufgegeben, den Betriebsrat unverzüglich über jeden Arbeitsunfall eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma der Arbeitgeberin (Kurierfahrer oder Hallendienst) im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin zu unterrichten unter Angabe des Datums, der Uhrzeit des Unfalls, der Unfallstelle, des Unfallhergangs sowie über erlittene Verletzungen.
Leitsatz
Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber verlangen, über Arbeitsunfälle unterrichtet zu werden, welche Beschäftigte eines anderen Unternehmens im Zusammenhang mit der Nutzung der betrieblichen Infrastruktur des Arbeitgebers erleiden.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über Unterrichtungs- und Vorlageansprüche des Betriebsrats im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen von Fremdpersonal.
2
Die Arbeitgeberin erbringt deutschlandweit an mehreren Standorten Kurier- und Expressdienste. Für ihre Niederlassungen in S, N und H (bei F) – der sog. Area S – ist auf der Grundlage eines Zuordnungstarifvertrags der antragstellende Betriebsrat gebildet. Dieser schloss im Juli 2007 mit der Arbeitgeberin die Betriebsvereinbarung „Regelung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes“ (BV Gesundheitsschutz). Nach deren Nr. 1 umfasst ihr „Geltungsbereich … alle Betriebe und Betriebsteile, einschließlich der ‚Inhouser‘, der Area S der DHL und gilt für alle Beschäftigten, einschließlich aller dort beschäftigten Leiharbeitnehmer, ausgenommen der leitenden Angestellten, gemäß § 5 Abs. 3, 4 BetrVG“.
3
Auf den Betriebsgeländen und in den Betriebsgebäuden der Arbeitgeberin arbeiten neben ca. 1.300 bei ihr angestellten Arbeitnehmern etwa 2.500 Beschäftigte anderer Unternehmen, im Wesentlichen als Kurierfahrer und im Hallendienst (sog. Fremdpersonal). Mit diesen Unternehmen hat die Arbeitgeberin Servicepartnerverträge geschlossen.
4
Auf dem Betriebsgelände der Niederlassung H kam es am 25. Januar 2016 und am 18. Februar 2016 zu Arbeitsunfällen von Arbeitnehmern eines Servicepartnerunternehmens. Die betroffenen Beschäftigten arbeiteten in der Halle und nutzten Betriebsmittel der Arbeitgeberin. Beim Beladen von Paletten mit einem Handhubwagen rutschte das Überladeblech weg; ein Arbeitnehmer geriet dadurch in den entstehenden Spalt zwischen Halle und Transporter und schlug sich das Schienbein auf (Unfall am 25. Januar 2016), ein anderer zog sich einen Muskelfaserriss zu (Unfall am 18. Februar 2016). Nachdem der Betriebsrat die Arbeitgeberin aufgefordert hatte, ihm die entsprechenden Unfallanzeigen vorzulegen, teilte diese ihm mit, dass sie die Unfälle nicht angezeigt habe, hierfür unfallversicherungsrechtlich nicht zuständig sei und ihr Servicepartnerunternehmen solche Anzeigen nicht zur Verfügung stelle.
5
Der Betriebsrat hat daraufhin von der Arbeitgeberin die Vorlage von Kopien der die beiden Unfälle betreffenden Anzeigen verlangt. Daneben hat er geltend gemacht, künftig über Arbeitsunfälle des Fremdpersonals auf dem Betriebsgelände oder in der Betriebshalle unter Angaben näherer Daten unterrichtet zu werden und die entsprechenden Unfallanzeigen zur Gegenzeichnung vorgelegt sowie in Kopie ausgehändigt zu bekommen.
6
Der Betriebsrat hat zuletzt sinngemäß beantragt,
1.
der Arbeitgeberin aufzugeben, ihm die Unfallanzeigen gem. § 193 SGB VII an die zuständige Berufsgenossenschaft betreffend die beiden Arbeitsunfälle auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin am 25. Januar 2016 und 18. Februar 2016 betreffend die Arbeitnehmer B und C, beide im Arbeitsverhältnis zur Fa. W GmbH („Servicepartnerfirma“ der Arbeitgeberin), diese vertreten durch ihren Geschäftsführer Herrn D, in Kopie vorzulegen,
2.
der Arbeitgeberin aufzugeben, ihn unverzüglich über jeden Arbeitsunfall mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma der Arbeitgeberin (Kurierfahrer oder Hallendienst) im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin zu unterrichten unter Angabe mindestens des Namens des betroffenen Arbeitnehmers und der Servicepartnerfirma, bei der er beschäftigt ist, und deren Anschrift, des Datums und der Uhrzeit des Unfalls, des genauen Orts des Unfalls im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände, des Unfallhergangs, der ggf. erlittenen Verletzungen und ggf. des Eintritts von Arbeitsunfähigkeit und der Namen von Unfallzeugen und dem Betriebsrat unverzüglich die zum Unfall ggf. erstellten Unterlagen vorzulegen, insbesondere bei Unfällen gem. § 6 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz die diesbezüglichen Dokumentationen zu übermitteln, sowie Kopien der Unfallanzeigen an die zuständige Berufsgenossenschaft gem. § 193 SGB VII zu übersenden bzw. auszuhändigen,
3.
der Arbeitgeberin aufzugeben, ihm bei jedem gegenüber der zuständigen Berufsgenossenschaft meldepflichtigen Arbeitsunfall mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma der Arbeitgeberin im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin unverzüglich die jeweiligen Arbeitsunfallanzeigen an die zuständige Berufsgenossenschaft vor deren Erstattung zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung vorzulegen.
7
Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Bei Arbeitsunfällen von Mitarbeitern eines Servicepartnerunternehmens sei sie weder verpflichtet, eine Unfallanzeige zu erstatten, noch sich diese in Kopie vom anzeigepflichtigen Unternehmen zu beschaffen. Ebenso bestehe der geltend gemachte Unterrichtungsanspruch nicht.
8
Das Arbeitsgericht hat die Anträge abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat die Anträge weiter.
9
B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie die Abweisung der Anträge zu 1. und zu 3. betrifft. Hinsichtlich des Antrags zu 2. ist sie begründet, soweit die Vorinstanzen das Unterrichtungsverlangen vollumfänglich abgewiesen haben. Der Betriebsrat hat einen Anspruch, über Arbeitsunfälle von Beschäftigten der Servicepartnerunternehmen unterrichtet zu werden, die diese im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H erleiden. Der Informationsanspruch umfasst allerdings nicht alle Daten, auf die sich der Antrag zu 2. bezieht. Die Rechtsbeschwerde war deshalb auch insoweit zurückzuweisen. Das betrifft gleichfalls die mit dem Antrag zu 2. geltend gemachten Vorlageansprüche.
10
I. Der – in der gebotenen Auslegung – zulässige Antrag zu 1. ist unbegründet.
11
1. Mit ihm begehrt der Betriebsrat die Vorlage von Kopien der Unfallanzeigen iSv. § 193 SGB VII, welche zwei in der Vergangenheit liegende, konkrete Unfallereignisse betreffen. In der Beschwerdeinstanz hat der Betriebsrat klargestellt, dass es ihm um Unfallanzeigen eines namentlich benannten Servicepartnerunternehmens geht, deren Vorlage in Kopie er von der Arbeitgeberin verlangt. Mit diesem Inhalt ist der Antrag zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
12
2. Der Betriebsrat hat keinen Anspruch gegen die Arbeitgeberin auf Vorlage von (Kopie-)Exemplaren der die Unfallereignisse am 25. Januar 2016 und am 18. Februar 2016 betreffenden Anzeigen.
13
a) Ein solcher Anspruch folgt nicht aus § 89 Abs. 6 BetrVG.
14
aa) Nach § 89 Abs. 6 BetrVG hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat eine Durchschrift der von diesem nach § 193 Abs. 5 SGB VII zu unterschreibenden Unfallanzeige auszuhändigen. § 193 Abs. 5 Satz 1 SGB VII legt fest, dass die Unfallanzeige vom Betriebsrat mit zu unterzeichnen ist. Wird die Anzeige mittels Datenübertragung erstattet, ist anzugeben, welches Mitglied des Betriebsrats vor der Absendung von ihr Kenntnis genommen hat. Sowohl die unfallversicherungsrechtliche Mitunterzeichnungspflicht durch den Betriebsrat als auch die ihm gegenüber betriebsverfassungsrechtlich bestehende Aushändigungsverpflichtung der unterschriebenen Anzeige knüpfen an die Pflicht des Arbeitgebers iSv. § 193 Abs. 1 SGB VII an. Nach dessen Satz 1 haben „die Unternehmer … Unfälle von Versicherten in ihren Unternehmen dem Unfallversicherungsträger anzuzeigen, wenn Versicherte getötet oder so verletzt sind, dass sie mehr als drei Tage arbeitsunfähig werden“. Die Verpflichtung des § 89 Abs. 6 BetrVG bezieht sich damit auf erstattete Unfallanzeigen; sie ist nicht auf die Durchsetzung der – ausschließlich unfallversicherungsrechtlich festgelegten – Pflicht zur Anzeigenerstattung gerichtet. Bei deren Verletzung greifen ausschließlich die Bußgeldvorschriften des SGB VII ein. Das vorsätzliche oder fahrlässige Unterlassen einer Unfallanzeige nach § 193 Abs. 1 Satz 1 (oder Satz 2 iVm. Satz 1) SGB VII stellt eine Ordnungswidrigkeit iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 3 SGB VII dar, deren Verfolgung und Ahndung gemäß § 210 SGB VII in der Verantwortung des örtlich zuständigen Unfallversicherungsträgers liegt.
15
bb) Hiervon ausgehend trägt § 89 Abs. 6 BetrVG den streitbefangenen Anspruch nicht. Die Arbeitgeberin hat keine diese Unfälle betreffenden Anzeigen erstattet. Es kann auch offenbleiben, ob die Arbeitgeberin von ihrem Servicepartnerunternehmen Kopien der Anzeigen zu den im Antrag zu 1. angeführten Unfällen – sollte dieses die Unfälle gemeldet haben – verlangen kann. Selbst wenn die Arbeitgeberin hierzu berechtigt wäre – was vor dem Hintergrund des Servicepartnervertrags zweifelhaft ist -, bezöge sich ihre Aushändigungsverpflichtung nach § 89 Abs. 6 BetrVG nicht auf diese, von ihr nicht erstellten Unfallanzeigen.
16
b) Die erstrebte Vorlageverpflichtung ergibt sich auch nicht aus § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG iVm. § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 9, § 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. Das Begehren des Betriebsrats ist auf etwas Unmögliches gerichtet. Die Arbeitgeberin hat beide Unfälle unstreitig weder angezeigt noch sind ihr Kopien entsprechender Anzeigen ihres Servicepartnerunternehmens zur Verfügung gestellt worden.
17
c) Der zur Entscheidung gestellte Anspruch folgt auch nicht aus der BV Gesundheitsschutz. Ungeachtet ihres Geltungsbereichs und der Frage einer Regelungskompetenz des Betriebsrats für das auf dem Betriebsgelände und in den -gebäuden tätige Fremdpersonal enthält die BV Gesundheitsschutz keine Festlegungen zu Unfallanzeigen nach § 193 SGB VII und deren Vorlage.
18
II. Der – auslegungsbedürftige – zulässige Antrag zu 2. ist dagegen teilweise begründet; zum Teil haben ihn die Vorinstanzen zu Recht abgewiesen.
19
1. Der Antrag ist zulässig.
20
a) Er umfasst drei Verfahrensgegenstände. Ausgehend vom Wortlaut des Antrags und unter Hinzuziehung seiner Begründung geht es dem Betriebsrat zunächst um die Unterrichtung über Arbeitsunfälle „mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma“ im Betriebsgebäude und in dem örtlich näher benannten Betriebsgelände unter Angabe näher bezeichneter Daten („Antrag 2a“). Zudem begehrt er die Vorlage „ggf.“ hierzu erstellter Unterlagen und die Übermittlung „insbesondere“ der Dokumentation bei einem Unfall nach § 6 Abs. 2 ArbSchG („Antrag 2b“) sowie die „Übersendung bzw. Aushändigung“ von Kopien der Unfallanzeigen iSv. § 193 SGB VII („Antrag 2c“). Beim letztgenannten Verfahrensgegenstand kann zwar dem Wortlaut des Antrags nicht entnommen werden, ob sich das Verlangen des Betriebsrats auf von der Arbeitgeberin oder von den Servicepartnerunternehmen erstellten Unfallanzeigen bezieht. Seine Ausführungen in der Beschwerde zeigen aber, dass er die von den Fremdfirmen erstatteten Unfallanzeigen meint. Er hat sein Begehren ausdrücklich damit begründet, dieses setze keine eigene Pflicht der Arbeitgeberin zur Erstattung von Anzeigen nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGB VII voraus, sondern konkretisiere ihre Pflicht zur Unterrichtung über alle Arbeitsunfälle mit Beteiligung von Arbeitnehmern eines Servicepartners.
21
b) Die Antrag zu 2. begegnet trotz seiner ausfüllungsbedürftigen Begrifflichkeiten keinen Zulässigkeitsbedenken. Sein Inhalt ist hinsichtlich aller Verfahrensgegenstände hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Passus „mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma“ beschreibt ausreichend klar, dass ausschließlich solche Arbeitsunfälle gemeint sind, die das im Betriebsgebäude und auf dem Betriebsgelände tätige Fremdpersonal erleidet. Das Verständnis der im „Antrag 2a“ verwendeten Rechtsbegriffe „Arbeitsunfall“ und „unverzüglich“ steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Der im „Antrag 2b“ enthaltene Zusatz „ggf.“ verdeutlicht, dass alle Unterlagen, die die Arbeitgeberin für unfallrelevant hält und die ihr vorliegen, auch dem Betriebsrat übermittelt werden sollen. Die „insbesondere“ vorzulegende Unterlage bezeichnet der Betriebsrat – hinreichend klar – mit einer aus seiner Sicht zu erstellenden Dokumentation iSv. § 6 Abs. 2 ArbSchG.
22
2. Dem Betriebsrat steht der mit dem „Antrag 2a“ geltend gemachte Unterrichtungsanspruch zu, allerdings nicht in dem geforderten Umfang.
23
a) Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu unterrichten. Anspruchsvoraussetzung ist zum einen, dass überhaupt eine Aufgabe des Betriebsrats gegeben ist, und zum anderen, dass die begehrte Information zur Wahrnehmung dieser Aufgabe im Einzelfall erforderlich ist. Dies hat der Betriebsrat darzulegen (vgl. BAG 8. November 2016 – 1 ABR 64/14 – Rn. 19).
24
b) Die mit dem „Antrag 2a“ beanspruchten Auskünfte haben einen hinreichenden Bezug zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Aufgabe des Betriebsrats und sind – soweit sie sachbezogene Daten betreffen – auch erforderlich. Das hat der Betriebsrat hinsichtlich seiner den Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitsunfällen betreffenden Aufgaben ausreichend aufgezeigt.
25
aa) Allerdings kann der Betriebsrat sein Begehren nicht mit Erfolg aus dem von ihm herangezogenen § 8 Abs. 1 und Abs. 2 ArbSchG – der die Zusammenarbeit mehrerer Arbeitgeber bei der Durchführung von Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen betrifft – ableiten. Zwar gehören zu seinen Aufgaben die in § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG aufgezeigten Überwachungspflichten (BAG 20. März 2018 – 1 ABR 15/17 – Rn. 16 mwN), die sich auf die Durchführung ua. der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze iSv. konkreten Ge- oder Verboten beziehen. Ob es sich bei dieser Vorschrift um solche handelt, bedarf keiner Entscheidung. Die vom Betriebsrat von der Arbeitgeberin geforderten Angaben zu Arbeitsunfällen des Fremdpersonals lassen keinen Rückschluss auf eine Einhaltung sich ggf. aus § 8 Abs. 1 und Abs. 2 ArbSchG ergebender Pflichten der Arbeitgeberin zu.
26
bb) Hingegen hat der Betriebsrat zutreffend auf seine ua. Maßnahmen des Arbeitsschutzes betreffende Förderpflicht des § 80 Abs. 1 Nr. 9 BetrVG sowie seine – diese Aufgabe verstärkende (vgl. BAG 3. Juni 2003 – 1 ABR 19/02 – zu B II 2 a aa der Gründe, BAGE 106, 188) – besondere Pflicht gemäß § 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, sich für die Durchführung ua. der Vorschriften über die Unfallverhütung im Betrieb einzusetzen, verwiesen. Außerdem kommt ihm nach § 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG eine – mit der dort geregelten Verpflichtung des Arbeitgebers korrespondierende – Berechtigung zu, bei allen im Zusammenhang mit der Unfallverhütung stehenden Fragen hinzugezogen zu werden.
27
(1) Diese Aufgaben stellen sich für den Betriebsrat nicht (auch) in Bezug auf die Arbeitnehmer der Servicepartnerunternehmen. Etwas anders folgt – entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde – nicht aus § 80 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BetrVG, wonach die Unterrichtung des Arbeitgebers sich auf die Beschäftigung von Personen erstreckt, die nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen, und diesbezüglich „insbesondere den zeitlichen Umfang des Einsatzes, den Einsatzort und die Arbeitsaufgaben dieser Personen“ umfasst.
28
(a) § 80 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BetrVG erfasst zwar jegliches Fremdpersonal, also auch im Betrieb eingesetzte Erfüllungsgehilfen von Werk- und Dienstleistungsunternehmen (Fitting 29. Aufl. § 80 Rn. 49 mwN). Die Vorschrift dient aber allein der Klarstellung des Personenkreises, auf den sich die Unterrichtungsverpflichtung bezieht. Mit ihr werden weder die Voraussetzungen für den allgemeinen Auskunftsanspruch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BetrVG relativiert noch die Zuständigkeit des Betriebsrats auf das im Betrieb eingesetzte Fremdpersonal erweitert. Das folgt nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus der Gesetzesbegründung. Sie stellt ausdrücklich klar, dass sich lediglich die Unterrichtungspflicht des Betriebsarbeitgebers auf das im Betrieb eingesetzte Fremdpersonal erstrecken soll. Dazu wird auf die st. Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 15. Dezember 1998 – 1 ABR 9/98 -) verwiesen, wonach ein Betriebsrat im Stande sein muss zu prüfen, ob die in Bezug auf Fremdpersonal zu erteilenden Auskünfte erforderlich sind, um betriebsverfassungsrechtliche Beteiligungsrechte hinsichtlich der von ihm repräsentierten betriebszugehörigen Arbeitnehmer ausüben zu können (BT-Drs. 14/5741 S. 46). Damit verlangt auch der auf Fremdpersonal bezogene Unterrichtungsanspruch, dass ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats hinsichtlich der betriebszugehörigen Arbeitnehmer in Betracht kommt.
29
(b) Für die betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben des Betriebsrats im Bereich des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung gilt nichts anderes (aA Julius Arbeitsschutz und Fremdfirmenbeschäftigung Diss. S. 174; diff. Karthaus/Klebe NZA 2012, 417 ff.; Schulze-Doll/Paschke Arbeitsschutz für Fremdpersonal im Rahmen von Werkverträgen und unter besonderer Berücksichtigung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in: Gesellschaftliche Bewegungen – Recht unter Beobachtung und in Aktion, S. 506 ff.; DKKW-Buschmann 16. Aufl. § 80 Rn. 7). Diese Aufgaben beziehen sich auf die betriebszugehörigen Arbeitnehmer. Damit erstrecken sie sich zwar regelmäßig auch auf in den Betrieb eingegliederte Leiharbeitnehmer. So obliegt etwa die Wahrnehmung allgemeiner arbeitsplatzbezogener Überwachungsaufgaben nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG dem Betriebsrat des Entleiherbetriebs (dazu BAG 15. Oktober 2014 – 7 ABR 74/12 – Rn. 29, BAGE 149, 286). Ähnliches gilt für den Mitbestimmungstatbestand des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (dazu BAG 7. Juni 2016 – 1 ABR 25/14 – Rn. 10 ff., BAGE 155, 215). Für einen nicht auf Arbeitnehmerüberlassung gründenden Drittpersonaleinsatz gilt das aber nicht. Für diesen greift gerade nicht die explizit geregelte Verantwortlichkeit hinsichtlich des Arbeitsschutzes gemäß § 11 Abs. 6 AÜG, nach dessen Satz 1 die Tätigkeit des Leiharbeitnehmers bei dem Entleiher den für den Betrieb des Entleihers geltenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Arbeitsschutzrechts unterliegt und die sich hieraus ergebenden Pflichten für den Arbeitgeber dem Entleiher unbeschadet der Pflichten des Verleihers obliegen.
30
(c) Die auf die Richtlinie des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (Richtlinie 89/391/EWG) gestützten unionsrechtlichen Erwägungen des Betriebsrats tragen keine andere Sichtweise. Für die Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG kommt es nicht auf den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 89/391/EWG an. Entscheidend ist der Bezug zu Aufgaben des Betriebsrats. Dessen spezifische Unfallverhütungsaufgaben sind auf den Betrieb und die von ihm repräsentierten Beschäftigten begrenzt.
31
(2) Hingegen bedingen die auf die betriebszugehörigen Arbeitnehmer bezogenen gesetzlichen Aufgaben des Betriebsrats zum Unfallschutz und zur Unfallverhütung nach § 80 Abs. 1 Nr. 9, § 89 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BetrVG vor dem Hintergrund der Zusammenarbeit der Arbeitgeberin mit den Servicepartnerunternehmen dessen Unterrichtung über Arbeitsunfälle von auf dem Betriebsgelände und im Betriebsgebäude tätigen Arbeitnehmern, welche weder bei der Arbeitgeberin angestellt noch ihr zur Arbeitsleistung überlassen sind.
32
(a) Der Betriebsrat hat sich ua. für die Durchführung der Vorschriften über den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung im Betrieb „einzusetzen“ (§ 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Entsprechend ist sein Hinzuziehungsrecht nach § 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG umfassend ausgestaltet; es bezieht sich – neben den Unfalluntersuchungen – auf „allen im Zusammenhang mit … der Unfallverhütung“ stehende „Besichtigungen“ und „Fragen“. Die letztgenannte Formulierung zeigt, dass unabhängig von konkreten Besichtigungen und Unfalluntersuchungen die Beteiligung des Betriebsrats im Bereich der Unfallverhütung weitreichend gewährleistet sein soll.
33
(b) Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben einschließlich des spezifischen Konsultationsrechts sind in Anbetracht der vorliegenden Gegebenheiten Informationen des Betriebsrats über Arbeitsunfälle des Fremdpersonals auf dem Betriebsgelände oder in der Betriebshalle unerlässlich. Hieraus können unfallverhütungsrelevante Erkenntnisse für die betriebszugehörigen Arbeitnehmer gewonnen werden. Die bei Servicepartnerunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer nutzen mit der Betriebshalle und dem Betriebsgelände dieselbe betriebliche Infrastruktur, innerhalb derer sich Unfallgefahren verwirklichen können und bereits verwirklicht haben. Sie setzen überdies dieselben sächlichen Betriebsmittel (etwa Überladebleche) ein wie die vom Betriebsrat repräsentierten betriebszugehörigen Arbeitnehmer. Auf deren Zusammenarbeit oder Zusammenwirken mit dem Fremdpersonal kommt es nicht an. Die von der Rechtsbeschwerde gegen die entsprechenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts erhobenen Rügen sind deshalb nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist, dass die Arbeitnehmer der Servicepartner ihre Arbeitsleistung in den Räumlichkeiten und mit den Arbeitsmitteln erbringen wie auch die Arbeitnehmer der Arbeitgeberin. Kommt es dabei zu Arbeitsunfällen, sind das Unfallgeschehen und die Ursachensuche Angelegenheiten der Unfallverhütung („Lernen aus dem Unfall“) auch für die „eigenen“ Arbeitnehmer der Arbeitgeberin.
34
(c) Zur Aufgabenwahrnehmung sind aber nicht sämtliche vom Betriebsrat beanspruchte Angaben erforderlich.
35
(aa) Die verlangten sachbezogenen Daten (Angabe des Datums, der Uhrzeit des Unfalls, der Unfallstelle, des Unfallhergangs sowie über erlittene Verletzungen) lassen ohne weiteres unfallverhütungsrelevante Rückschlüsse zu. So vermögen Unfallzeitpunkt und Unfallstelle besondere Gefahrenquellen – wie etwa Lichtverhältnisse oder Witterungseinflüsse – erkennen zu lassen. Der Unfallhergang kann ebenso wie erlittene Verletzungen Aufschlüsse über technische, organisatorische und verhaltensbedingte Unfallursachen geben, die für die Unfallverhütung von Belang sind.
36
(bb) Das gilt aber nicht für die weitergehend verlangten Daten (Name des betroffenen Arbeitnehmers und der Servicepartnerfirma, bei der er beschäftigt ist, sowie deren Anschrift; Eintritt von Arbeitsunfähigkeit und Namen von Unfallzeugen). Anhand des Vorbringens des Betriebsrats sind deren Erforderlichkeit für die Aufgabenwahrnehmung nicht ersichtlich. Soweit er annimmt, er müsse auch eigenständige Aufklärungsmaßnahmen wie die Befragung der verunfallten Arbeitnehmer sowie von Zeugen ergreifen, verkennt er, dass er nach § 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG bei Unfalluntersuchungen „hinzuzuziehen“ ist. Das betrifft zwar die Konsultation bei allen – vom Betriebsrat ggf. auch anzuregenden – Aufklärungsmaßnahmen, also etwa bei der Befragung des Verunfallten, bei Zeugenvernehmungen, bei der Anhörung von Sachverständigen und bei einer Begehung des Unfallorts (ErfK/Kania 19. Aufl. § 89 BetrVG Rn. 7). Die Hinzuziehungsberechtigung begründet aber – ebenso wenig wie § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 9 und § 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG – keine autarke und separierte Ermittlungsobliegenheit des Betriebsrats.
37
c) Einen weitergehenden Informationsanspruch vermag der Betriebsrat nicht auf die von ihm herangezogene Aufgabe der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG oder auf die BV Gesundheitsschutz zu stützen. Der Betriebsrat übersieht, dass allgemeine Verweise auf Mitbestimmungsrechte oder auf gesetzliche bzw. aus einer Betriebsvereinbarung folgende Aufgaben und Rechte untauglich sind, die Erforderlichkeit der beanspruchten Auskünfte zu begründen. Es muss sich aus seinem Vorbringen vielmehr ergeben, aus welchen Gründen er die verlangten Angaben und Daten zur Erfüllung einer sich stellenden Aufgabe benötigt (vgl. dazu auch BAG 20. März 2018 – 1 ABR 11/17 – Rn. 39, BAGE 162, 115).
38
3. Der mit dem Antrag zu 2. auf „ggf.“ erstellte Unterlagen und „insbesondere“ die Dokumentation iSv. § 6 Abs. 2 ArbSchG bezogene Vorlageanspruch besteht nicht. Der Betriebsrat kann nicht „ins Blaue hinein“ eine Vorlage von Unterlagen beanspruchen, von denen er selbst nicht behauptet, dass sie die Arbeitgeberin erstellt. Außerdem lässt er jeglichen Vortrag dahingehend vermissen, inwieweit es sich – neben der geltend gemachten Unterrichtung – um ein auf erforderliche Unterlagen gerichtetes Verlangen handeln soll (vgl. zu diesem Erfordernis etwa BAG 20. März 2018 – 1 ABR 74/16 – Rn. 30).
39
4. Der auf Kopien der Unfallanzeigen nach § 193 SGB VII bezogene Antrag zu 2. ist gleichfalls unbegründet. Der Aushändigungsanspruch nach § 89 Abs. 6 BetrVG besteht für von der Arbeitgeberin und nicht für von deren Servicepartnerunternehmen erstatte Unfallanzeigen. Für einen auf § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG gestützten Vorlageanspruch fehlt es an Vorbringen zur Erforderlichkeit der begehrten Kopien für die Aufgabendurchführung. Ungeachtet dessen hat der Betriebsrat nicht einmal behauptet, die Servicepartnerunternehmen würden die von ihnen gefertigten Unfallanzeigen der Arbeitgeberin im Abdruck überlassen oder zur Verfügung stellen.
40
III. Schließlich ist auch der Antrag zu 3. zulässig, aber unbegründet.
41
1. Mit diesem Antrag fordert der Betriebsrat für alle bei der zuständigen Berufsgenossenschaft meldepflichtigen Arbeitsunfälle des Fremdpersonals im Betriebsgebäude oder auf dem näher bezeichneten Betriebsgelände die Vorlage einer Unfallanzeige zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung. Dieses Begehren bezieht sich – anders als bei den Anträgen zu 1. und zu 2. – nicht auf die Kopien, sondern die Originale von unfallversicherungsrechtlichen Unfallanzeigen. Zwar kann dem Antragswortlaut nicht entnommen werden, wessen Unfallanzeige der Betriebsrat zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung vorgelegt verlangt. Aus seinem Vorbringen ergibt sich jedoch, dass er sein Begehren auf Unfallanzeigen „der Arbeitgeberin“ bezieht.
42
2. Der so verstandene Antrag ist zulässig. Es genügt den Bestimmtheitserfordernissen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Über die inhaltliche Reichweite der verwandten Rechtsbegriffe („zuständige Berufsgenossenschaft“; „meldepflichtiger Arbeitsunfall“; „unverzüglich“) bestehen keine Meinungsverschiedenheiten der Beteiligten.
43
3. Der erstrebte Anspruch besteht nicht. Ein solcher käme allein nach § 193 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VII in Betracht, wonach eine Unfallanzeige vom Betriebsrat mit zu unterzeichnen ist. Das gilt aber nur für Anzeigen, die nach § 193 Abs. 1 bis Abs. 3 SGB VII erstattet werden. Die Arbeitgeberin zeigt Unfälle des Fremdpersonals in ihrem Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände nicht an. Entsprechend kann und muss sie auch dem Betriebsrat keine Unfallanzeige „zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung“ vorlegen. Sollte sie in Verkennung einer unfallversicherungsrechtlichen Pflichtenlage die Unfallanzeigen unterlassen, handelte sie ggf. ordnungswidrig. Der Betriebsrat vermag die Arbeitgeberin aber nicht durch die Geltendmachung einer Unterzeichnungsberechtigung bei der Unfallanzeige zur Erstellung einer solchen anzuhalten.
Schmidt
Ahrendt
K. Schmidt
Dr. Klebe
Benrath |
bag_12-20 | 18.03.2020 | 18.03.2020
12/20 - Vergütung von Fahrtzeiten - Außendienstmitarbeiter
Regelungen in einer Betriebsvereinbarung, welche die vergütungspflichtigen Fahrtzeiten eines Außendienstmitarbeiters verkürzen, sind wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG* unwirksam, wenn die betreffenden Zeiten nach den Bestimmungen des einschlägigen Tarifvertrags uneingeschränkt der entgeltpflichtigen Arbeitszeit zuzurechnen und mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten sind.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Servicetechniker im Außendienst tätig. Die Beklagte ist aufgrund Mitgliedschaft im vertragschließenden Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Kraft dynamischer Bezugnahme im Arbeitsvertrag finden diese Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. In einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2001 (BV) ist zu § 8 geregelt, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht zur Arbeitszeit zählen, wenn sie 20 Minuten nicht überschreiten. Sofern An- und Abreise länger als jeweils 20 Minuten dauern, zählt die 20 Minuten übersteigende Fahrtzeit zur Arbeitszeit. In das für den Kläger geführte Arbeitszeitkonto hat die Beklagte Reisezeiten von dessen Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause bis zu einer Dauer von jeweils 20 Minuten nicht als Zeiten geleisteter Arbeit eingestellt. Sie leistete hierfür auch keine Vergütung.
Mit seiner Klage hat der Kläger verlangt, seinem Arbeitszeitkonto Fahrtzeiten für März bis August 2017 im Umfang von 68 Stunden und 40 Minuten gutzuschreiben, hilfsweise an ihn 1.219,58 Euro brutto nebst Zinsen zu zahlen. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, ein solcher Anspruch sei durch § 8 BV wirksam ausgeschlossen. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Mit den Fahrten von seiner Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück erfüllt der Kläger seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung. Ein daraus resultierender Vergütungsanspruch wird durch § 8 BV nicht ausgeschlossen. Die Bestimmung regelt die Vergütung der Arbeitszeit, indem sie die An- und Abfahrtszeiten zum ersten bzw. vom letzten Kunden – soweit sie 20 Minuten nicht übersteigen – von der Vergütungspflicht ausschließt. § 8 BV betrifft damit entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts einen tariflich geregelten Gegenstand. Nach dem einschlägigen Manteltarifvertrag (MTV) sind sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringt, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten. Dazu gehört bei Außendienstmitarbeitern die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Da der MTV keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen enthält, ist § 8 BV wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Arbeitsentgelte, die durch Tarifvertrag geregelt sind, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist nicht wegen des Eingreifens eines Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 BetrVG aufgehoben. Auf Grund der Bindung der Beklagten an die fachlich einschlägigen Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen, welche die Vergütung für geleistete Arbeit auch in Bezug auf Fahrtzeiten der Außendienstmitarbeiter abschließend regeln, besteht insoweit schon nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG** kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.
Der Kläger kann somit von der Beklagten die Gutschrift der umstrittenen Fahrtzeiten verlangen, soweit unter ihrer Berücksichtigung die vertraglich geschuldete regelmäßige Arbeitszeit überschritten wurde. Ob dies der Fall ist, konnte der Senat mangels hinreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend entscheiden. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen worden. Die vom Berufungsgericht erörterte Frage der Betriebsvereinbarungsoffenheit der arbeitsvertraglichen Vereinbarung stellt sich nicht, da die Betriebs-parteien mit der Regelung zur Vergütung der Fahrtzeiten in der BV die Binnenschranken der Betriebsverfassung nicht beachtet haben und die BV aus diesem Grunde insoweit unwirksam ist.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. März 2020 – 5 AZR 36/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 14. Dezember 2018
– 10 Sa 96/18 –
Hinweis: In einem weiteren, dieselben Rechtsfragen betreffenden Verfahren hatte die Revision ebenfalls im Sinne einer Zurückverweisung weitgehend Erfolg.
*§ 77 Abs. 3 BetrVG lautet:
(3) Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.
**§ 87 Abs. 1 BetrVG lautet auszugsweise:
(1) Der Betriebsrat hat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in folgenden Angelegenheiten mitzubestimmen:(…) | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 14. Dezember 2018 – 10 Sa 96/18 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Regelungen in einer Betriebsvereinbarung, welche die vergütungspflichtigen Fahrtzeiten eines Außendienstmitarbeiters verkürzen, sind wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam, wenn die betreffenden Zeiten nach den Bestimmungen des einschlägigen Tarifvertrags uneingeschränkt der entgeltpflichtigen Arbeitszeit zuzurechnen und mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten sind.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Vergütung von Fahrtzeiten.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten als Servicetechniker im Außendienst beschäftigt. Sein Bruttomonatsverdienst belief sich zuletzt auf 2.864,00 Euro. Die Beklagte, die ihren Sitz in H hat, ist aufgrund Mitgliedschaft im zuständigen Arbeitgeberverband an die Tarifverträge für den Groß- und Außenhandel Niedersachsen gebunden. Kraft dynamischer Bezugnahme im Arbeitsvertrag finden diese Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung.
3
Das Einsatzgebiet des Klägers ist dem „Business & Service Center“ D – einem von zehn Service- und Direktvertriebsstandorten, die von der Beklagten bundesweit unterhalten werden – zugeordnet. Soweit der Kläger dort keine Aufgaben zu erledigen hat, fährt er arbeitstäglich, wie bei Außendienstmitarbeitern der Beklagten üblich, von seiner Wohnung zum ersten Kunden und kehrt vom letzten Kunden wieder dorthin zurück. Die Serviceaufträge werden ihm am Vortag zentral über die Abteilung „Dispatch“ in H zugewiesen.
4
In einer bei der Beklagten geltenden „Betriebsvereinbarung über die Ein- und Durchführung von flexibler Arbeitszeit für Servicetechniker“ (im Folgenden BV) vom 27. Juni 2001 heißt es ua.:
„§ 1
Geltungsbereich
Diese Vereinbarung gilt für alle Servicetechniker der Business & Service Center …
§ 2
Gegenstand der Betriebsvereinbarung
Die Betriebsvereinbarung regelt die Ein- und Durchführung von flexibler Arbeitszeit für die Servicetechniker der Business & Service Center.
…
§ 3
Arbeitszeit
Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 37,5 Stunden.
§ 4
Flexible Arbeitszeit
Im Rahmen der flexiblen Arbeitszeit ist zu unterscheiden zwischen der Kernarbeitszeit und der Gleitzeit. Kernarbeitszeit ist die Zeit, während der eine Anwesenheitspflicht besteht. Gleitzeit ist die Zeit, innerhalb der der Mitarbeiter seinen Arbeitsbeginn sowie sein Arbeitsende in vorheriger Abstimmung mit dem Dispatch festlegen kann. …
Die Arbeitszeit ist dabei folgende:
Montag – Donnerstag
07:00 – 18:00 Uhr,
Kernzeit: 09:00 – 16:00 Uhr
Freitag
07:00 – 17:00 Uhr,
Kernzeit: 09:00 – 14:00 Uhr
…
§ 5
Pausenregelung
Die tägliche Pausenzeit beträgt insgesamt 45 Minuten. …
…
§ 7
Überstundenausgleich
Überstunden sind durch Inanspruchnahme von Freizeit innerhalb desselben Monats auszugleichen.
Der Freizeitausgleich ist mit dem Dispatch abzustimmen. Stehen dienstliche Belange der Gewährung des Freizeitausgleichs innerhalb desselben Monats entgegen, so kann der Freizeitausgleich auf den nächsten Kalendermonat übertragen werden. Im Zeitraum von 12 Monaten sollten die Überstunden in Form von Freizeit ausgeglichen werden. In 2002 erstmals zum 31.12.2002. Vom zum 31.12. bestehenden Stundenüberhang können in das jeweilige Folgejahr bis zu 10 Std. übertragen werden und bis maximal 10 Stunden zur Auszahlung gelangen. Sollte aus dringenden betrieblichen Gründen der Überhang größer als 20 Stunden sein, so ist dieser mit dem Januargehalt auszuzahlen.
§ 8
An- und Abfahrtszeiten
Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn sie 20 Minuten nicht überschreiten. Sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert, zählt die 20 Minuten übersteigende Reisezeit zur Arbeitszeit. Insoweit sind für den Kundendiensttechniker jeweils 20 Minuten Fahrzeit für An- und Abreise zumutbar.
§ 9
Vergütung
Die Vergütung erfolgt unabhängig von der Anzahl der geleisteten Stunden jeweils in Höhe eines Bruttomonatsgehalts. Darüber hinaus erhält er die Vergütung gem. § 7.
Davon unberührt bleibt die Vergütung für Zeiten der Rufbereitschaft (= Zeiten der Erreichbarkeit und Telefonsupport).
…
§ 12
Zeiterfassung
Die Zeiterfassung erfolgt anhand der vom Mitarbeiter auszufüllenden und beim Vorgesetzten abzugebenden FTRs, der Spesenabrechnung und der Stundenzettel durch das Dispatch und den Vorgesetzten. Unzulässige Manipulationen können zur fristlosen Kündigung führen.
…
§ 14
Ausscheiden eines Mitarbeiters
…
Sollte ein Mitarbeiter bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses die monatliche Sollarbeitszeit durch eigenes Verschulden nicht erreichen, so werden zu wenig geleistete Arbeitsstunden mit der letzten Gehaltsabrechnung verrechnet.“
5
Die Beklagte führt für den Kläger auf der Grundlage der BV und einer regelmäßigen Arbeitszeit von 37,5 Stunden ein Arbeitszeitkonto, in das ausschließlich Zeitguthaben oder Zeitschuld eingestellt werden. Dabei berücksichtigte sie, soweit der Kläger im Außendienst tätig war, Fahrtzeiten von dessen Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause bis zu einer Dauer von jeweils 20 Minuten nicht als Zeit geleisteter Arbeit. Sie leistete hierfür auch keine Vergütung.
6
Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung verlangt der Kläger mit der vorliegenden Klage, in der Zeit von März bis August 2017 für An- und Abfahrten zum ersten bzw. vom letzten Kunden geleistete Fahrtzeiten von jeweils bis zu 20 Minuten, die nicht in sein Arbeitszeitkonto eingestellt wurden, seinem Zeitkonto gutzuschreiben, hilfsweise die Zeiten mit der vereinbarten Grundvergütung abzugelten. Er hat die Auffassung vertreten, im Rahmen seiner Außendiensttätigkeit seien sämtliche Fahrten zu und von Kunden Bestandteil seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht. Die hierfür aufgewendete Zeit sei deshalb uneingeschränkt vergütungspflichtig. Die Regelungen in § 8 BV schlössen den sich daraus ergebenden Anspruch auf Gutschrift nicht aus.
7
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, ihm 68 Stunden und 40 Minuten auf seinem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben;
2.
hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.219,58 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat behauptet, vor Inkrafttreten der BV seien bei allen Außendienstmitarbeitern und insoweit auch beim Kläger jeweils 40 Minuten für die An- und Abfahrt zum ersten bzw. letzten Kunden nicht auf die geschuldete Arbeitszeit angerechnet und auch nicht vergütet worden. Gegenüber dieser betriebseinheitlichen Regelung, die zumindest konkludent Vertragsbestandteil geworden sei, seien die Bestimmungen in der BV nicht ungünstiger, sondern bedeuteten eine Besserstellung der Außendienstmitarbeiter. Letztlich komme es hierauf nicht an. Die arbeitsvertraglichen Vereinbarungen seien, soweit es sich hiernach bei den umstrittenen Fahrtzeiten um vergütungspflichtige Arbeitszeit handele, betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet. Für die Zeit ab Inkrafttreten der BV seien deshalb allein die Regelungen in § 8 BV maßgeblich.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Revision ist begründet. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts, § 8 BV schließe einen vertraglichen Anspruch des Klägers auf Vergütung der für Fahrten zum ersten und vom letzten Kunden aufgewendeten Zeit wirksam aus, kann die Klage nicht abgewiesen werden. Vielmehr handelt es sich bei den umstrittenen Zeiten entgegen der Annahme des Berufungsgerichts um vergütungspflichtige Arbeitszeit, die aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahmeregelung mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten ist. In welchem Umfang ein Anspruch auf Gutschrift der bislang unberücksichtigt gebliebenen Fahrtzeiten als Arbeitszeiten auf dem für den Kläger geführten Arbeitszeitkonto besteht, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
11
I. Die Klage ist im Hauptantrag zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
12
Der Antrag ist zu Recht auf die nachträgliche Gutschrift von Arbeitsstunden auf das für den Kläger geführte Arbeitszeitkonto gerichtet. Es geht dem Kläger um die Korrektur des aktuellen Saldos durch Gutschrift der im Antrag bezeichneten Arbeitsstunden (BAG 10. November 2010 – 5 AZR 766/09 – Rn. 11, BAGE 136, 152). Der Antrag, einem Arbeitszeitkonto Stunden „gutzuschreiben“, ist hinreichend bestimmt, wenn der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer ein Zeitkonto führt, auf dem zu erfassende Arbeitszeiten nicht aufgenommen wurden, und das Leistungsbegehren konkretisiert, an welcher Stelle des Arbeitszeitkontos die Gutschrift erfolgen soll (st. Rspr., vgl. BAG 15. Mai 2019 – 7 AZR 397/17 – Rn. 11). So liegt es hier. Nach dem übereinstimmenden Parteivorbringen führt die Beklagte zur Umsetzung der Vorgaben in der BV ein Arbeitszeitkonto als „allgemeines Stundenkonto“, in das sie „Plus- und Minusstunden“ einstellt. Unter Berücksichtigung dessen verlangt der Kläger, die umstrittenen Zeiten als Zeitgutschrift in das fortlaufend geführte Zeitkonto einzustellen. Der Antrag ist zukunftsbezogen, so dass die begehrte Gutschrift noch erfolgen kann (vgl. BAG 12. Dezember 2018 – 5 AZR 124/18 – Rn. 14 mwN).
13
II. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts, ein Anspruch auf Gutschrift der für die umstrittenen Fahrten aufgewendeten Zeit als Arbeitszeit auf dem Arbeitszeitkonto werde durch die BV verdrängt, kann die Klage nicht abgewiesen werden. § 8 BV ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam, weil hierdurch vergütungspflichtige Arbeitszeit von der Entgeltzahlungspflicht ausgenommen wird. Ob die Auffassung des Landesarbeitsgerichts zutrifft, die vertraglichen Vereinbarungen seien hinsichtlich der Zuordnung der Fahrtzeiten zur Arbeitszeit betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet, bedarf keiner Entscheidung.
14
1. Die Anfahrtszeiten des Klägers von seinem Wohnsitz zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nach Hause sind vergütungspflichtige Arbeitszeiten iSv. § 611 Abs. 1 BGB bzw. seit dem 1. April 2017 iSv. § 611a Abs. 2 BGB.
15
a) Zu den versprochenen Diensten iSd. § 611 BGB bzw. zu der im Dienste eines anderen erbrachten Arbeitsleistung iSv. § 611a Abs. 1 BGB zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Synallagma verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Der Arbeitgeber verspricht die Vergütung aller Dienste, die er dem Arbeitnehmer aufgrund seines arbeitsvertraglich vermittelten Weisungsrechts abverlangt (vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 5 AZR 355/12 – Rn. 17). „Arbeit“ im Sinne dieser Bestimmungen ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient (st. Rspr., vgl. nur BAG 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 – Rn. 13, BAGE 164, 57).
16
b) Mit dem eigennützigen Zurücklegen des Wegs von der Wohnung zur Arbeitsstelle und zurück erbringt der Arbeitnehmer regelmäßig keine Arbeit für den Arbeitgeber (BAG 22. April 2009 – 5 AZR 292/08 – Rn. 15; MHdB/ArbR/Reichold 4. Aufl. § 40 Rn. 68). Anders ist es jedoch, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Betriebs zu erbringen hat. In diesem Falle gehört das Fahren zur auswärtigen Arbeitsstelle zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten (ebenso AR/Kamanabrou 9. Aufl. § 611a BGB Rn. 358; ErfK/Preis 20. Aufl. BGB § 611a Rn. 516d; HWK/Thüsing 8. Aufl. § 611a Rn. 483). Das wirtschaftliche Ziel der Gesamttätigkeit ist darauf gerichtet, verschiedene Kunden aufzusuchen – sei es, um dort wie im Streitfall Dienstleistungen zu erbringen, sei es, um Geschäfte für den Arbeitgeber zu vermitteln oder abzuschließen. Dazu gehört zwingend die jeweilige Anreise. Nicht nur die Fahrten zwischen den Kunden, auch die zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück bilden mit der übrigen Tätigkeit eine Einheit und sind insgesamt die Dienstleistung iSd. §§ 611, 611a BGB und als solche vergütungspflichtig. Das ist unabhängig davon, ob Fahrtantritt und -ende vom Betrieb des Arbeitgebers oder von der Wohnung des Arbeitnehmers aus erfolgen (BAG 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 – Rn. 14, BAGE 164, 57; 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 18; 22. April 2009 – 5 AZR 292/08 – Rn. 15; ebenso Freyler BB 2019, 1397, 1401 f.; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. § 612 Rn. 24; Preis/Schwarz Dienstreisen als Rechtsproblem 2020, 57 f.; Salamon/Groffy NZA 2020, 159, 160 f.; Stöhr/Stolzenberg NZA 2019, 505, 509; zusammenfassend Volk JbArbR Bd. 56 [2019] 47, 60 ff.).
17
c) Hiernach sind die Fahrtzeiten des Klägers von seiner Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause vergütungspflichtige Arbeitszeit. Diese Fahrtzeiten bilden mit seiner Tätigkeit als Servicetechniker im Außendienst eine Einheit.
18
2. Mit der Einordnung der Fahrten als Teil der iSv. § 611 Abs. 1 BGB „versprochenen Dienste“ bzw. der im Dienste eines anderen erbrachten Arbeitsleistung iSv. § 611a BGB ist allerdings noch nicht geklärt, wie die dafür vom Arbeitnehmer aufgewendete Zeit zu vergüten ist. Durch Arbeits- oder Tarifvertrag kann für Fahrtzeiten, die der Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglich geschuldeten Hauptleistungspflicht erbringt, eine andere Vergütungsregelung als für die „eigentliche“ Tätigkeit getroffen werden (zu Reisezeiten bei Auslandsentsendung vgl. BAG 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 – Rn. 18, BAGE 164, 57; zu Fahrten zur auswärtigen Baustelle BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 23; 12. Dezember 2012 – 5 AZR 355/12 – Rn. 18). Dabei kann eine Vergütung für Wegezeiten auch ganz ausgeschlossen werden, sofern mit der getroffenen Vereinbarung nicht der jedem Arbeitnehmer für tatsächlich geleistete vergütungspflichtige Arbeit nach § 1 Abs. 1 MiLoG zustehende Anspruch auf den Mindestlohn unterschritten wird (vgl. BAG 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 – aaO). Für Regelungen in einer Betriebsvereinbarung sind die Binnenschranken der Betriebsverfassung zu beachten. Das Unionsrecht steht einer gesonderten Regelung der Vergütung nicht entgegen, denn die Richtlinie 2003/88/EG regelt mit Ausnahme des bezahlten Jahresurlaubs nicht Fragen des Arbeitsentgelts für Arbeitnehmer. Somit sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, Entgeltansprüche entsprechend den Definitionen der Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ in Art. 2 der Richtlinie festzulegen (EuGH 21. Februar 2018 – C-518/15 – [Matzak] Rn. 49 f.).
19
3. Die Vergütungspflicht der vom Kläger für An- und Abfahrten zum ersten bzw. vom letzten Kunden aufgewendeten Zeit wird durch § 8 BV nicht bis zu einer Grenze von je 20 Minuten ausgeschlossen. Der in dieser Bestimmung geregelten Verkürzung der vergütungspflichtigen Fahrtzeiten der Servicetechniker steht die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen. Ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil die Vergütung von Arbeitszeit durch einen Tarifvertrag abschließend geregelt ist, an den die Beklagte gebunden ist. Die BV ist damit in Bezug auf § 8 teilnichtig (§ 139 BGB).
20
a) Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt (st. Rspr., zB BAG 15. Januar 2019 – 1 AZR 64/18 – Rn. 13 mwN). Eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen liegt vor, wenn diese in einem nach seinem räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich einschlägigen Tarifvertrag enthalten ist und der Betrieb in den Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fällt (BAG 12. März 2019 – 1 AZR 307/17 – Rn. 32 mwN). Auf die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers kommt es nicht an (vgl. BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 65/17 – Rn. 16 ff., BAGE 161, 305). Ein Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG liegt nicht erst dann vor, wenn ein Tarifvertrag insgesamt zum Inhalt einer Betriebsvereinbarung gemacht wird. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG soll vielmehr verhindern, dass auch einzelne Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend – und sei es inhaltsgleich – in Betriebsvereinbarungen geregelt werden (BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 65/17 – Rn. 17, aaO). Die Vorschrift soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisten. Dazu räumt sie den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei der Regelung von Arbeitsbedingungen ein (BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 20). Ein Verstoß gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der entsprechenden Regelung in der Betriebsvereinbarung (vgl. BAG 15. Mai 2018 – 1 ABR 75/16 – Rn. 29, BAGE 162, 379). Die Tarifwidrigkeit einzelner Regelungen einer Betriebsvereinbarung führt nicht notwendig zur Unwirksamkeit der gesamten Betriebsvereinbarung. Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist eine Betriebsvereinbarung nur teilunwirksam, wenn der verbleibende Teil auch ohne die unwirksame Bestimmung eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung enthält. Das folgt aus dem Normcharakter der Betriebsvereinbarung, der es gebietet, im Interesse der Kontinuität eine einmal gesetzte Ordnung aufrechtzuerhalten, soweit sie ihre Funktion auch ohne den unwirksamen Teil noch entfalten kann (BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 84, BAGE 165, 168; 16. August 2011 – 1 AZR 314/10 – Rn. 20).
21
b) Die Betriebsparteien haben in § 8 BV bestimmt, dass die Zeit, die ein Servicetechniker für Anfahrten zum ersten sowie für Abfahrten vom letzten Kunden aufwendet, arbeitstäglich bis zur Dauer von je 20 Minuten nicht zu vergüten ist. Das ergibt die Auslegung der BV.
22
aa) Die Auslegung einer Betriebsvereinbarung richtet sich wegen ihrer normativen Wirkung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) nach den Grundsätzen der Tarifvertrags- und Gesetzesauslegung. Ausgehend vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn kommt es auf den Gesamtzusammenhang, die Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung an. Der tatsächliche Regelungswille der Betriebsparteien ist zu berücksichtigen, soweit er in der Betriebsvereinbarung seinen Niederschlag gefunden hat (st. Rspr., zB BAG 22. Oktober 2019 – 1 ABR 17/18 – Rn. 25).
23
bb) Hiernach ergibt die Auslegung des § 8 BV, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht zu vergüten sein sollen, wenn sie 20 Minuten nicht überschreiten.
24
(1) Im Wortlaut der Regelung ist zwar die Vergütungspflicht nicht ausdrücklich angesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat deshalb angenommen, § 8 BV bestimme ausschließlich, unter welchen Voraussetzungen eine Fahrtätigkeit des Außendienstmitarbeiters als Erfüllung seiner vertraglich geschuldeten Hauptleistungspflicht gelte und deshalb die dafür aufgewendete Zeit als zu vergütende Arbeitszeit anzusehen sei. Sie regele hingegen nicht, wie die Arbeitgeberin die Arbeitsleistungen des Außendienstmitarbeiters zu vergüten habe.
25
(2) Das überzeugt nicht. Indem die Betriebsparteien geregelt haben, dass jeweils 20 Minuten der An- und Abreise zum ersten und vom letzten Kunden nicht als Erfüllung der vertraglichen Hauptleistungspflicht gelten, haben sie diese Zeiten dem Synallagma von Leistung und Gegenleistung und damit einem Vergütungsanspruch nach § 611 Abs. 1 bzw. § 611a Abs. 2 BGB entzogen (ebenso im Ergebnis Stöhr/Stolzenberg NZA 2019, 505, 512). Dass dies Regelungsziel der Betriebsparteien war, verdeutlicht § 8 Satz 3 BV, wonach dem Kundendiensttechniker jeweils 20 Minuten Fahrzeit für An- und Abreise zumutbar sind, und Satz 2 der Regelung, wonach die 20 Minuten übersteigende Reisezeit als Arbeitszeit zählt, sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert. Die Bestimmung, welche die mit der „Herausnahme“ der betreffenden Fahrtzeiten aus der Arbeitszeit verbundenen Belastungen als „zumutbar“ bezeichnet, wäre inhaltsleer, wenn die Betriebsparteien an dieser Stelle nicht Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne hätten regeln wollen. Dieses im Wortlaut der BV angelegte Verständnis der Regelung entspricht schließlich der jahrelang geübten Praxis. Die Arbeitgeberin hat über Jahre hinweg den Außendienstmitarbeitern die genannten Zeiten nicht auf dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Dass dies gegen den Willen des Betriebsrats erfolgte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
26
(3) Dieser Beurteilung steht § 9 Abs. 1 Satz 1 BV nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift erhält der Arbeitnehmer zwar eine verstetigte monatliche Vergütung unabhängig von der Anzahl der geleisteten Stunden in Höhe des geschuldeten Bruttomonatsgehalts. Damit wird er aber, wie § 14 Abs. 2 BV belegt, nicht seiner Pflicht enthoben, die geschuldete Sollarbeitszeit zu leisten. Sollte er diese durch eigenes Verschulden nicht erreichen, ist ein im Zeitpunkt seines Ausscheidens bestehender negativer Saldo auszugleichen. Darüber hinaus nehmen Fahrtzeiten, soweit sie nach § 8 BV nicht zur Arbeitszeit zählen, nicht an dem „Überstundenausgleich“ gemäß § 7 BV teil und verkürzen auch insoweit – je nach den Umständen – die dem Servicetechniker nach § 9 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 7 BV zustehende „Vergütung“.
27
(4) Die Annahme, in § 8 BV sei nur eine Regelung über Beginn und Ende der Arbeitszeit iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG getroffen worden, ist ausgeschlossen. Hiergegen spricht, dass Arbeitszeit iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG die Zeit ist, während derer der Arbeitnehmer die von ihm in einem konkreten zeitlichen Umfang geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich zu erbringen hat. Dieser richtet sich nach der vertraglichen oder tarifvertraglichen Vereinbarung. Der Umfang des zu verteilenden Arbeitszeitvolumens unterliegt dagegen nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats. Ebenso wenig ist die rechtliche Bewertung von Zeitspannen oder bestimmten Tätigkeiten als Arbeitszeit möglicher Gegenstand betrieblicher Regelungen (BAG 22. Oktober 2019 – 1 ABR 11/18 – Rn. 22 f. mwN; 22. Juli 2003 – 1 ABR 28/02 – zu B II 2 b aa der Gründe, BAGE 107, 78). In § 8 BV wird jedoch gerade ein bestimmter Umfang der Arbeitszeit – jeweils bis zu 20 Minuten der Anfahrts- und Abfahrtszeiten zum ersten bzw. vom letzten Kunden – nicht als Arbeitszeit bewertet. § 8 BV enthält damit keine Regelung über Beginn und Ende der Arbeitszeit iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG (ebenso Boemke jurisPR-ArbR 9/2019 Anm. 7).
28
c) Die als Arbeitsleistung zu behandelnden Fahrtzeiten des Klägers zu den Kunden sind nach den Regelungen des einschlägigen Tarifvertrags ausnahmslos vergütungspflichtig. Der Tarifvertrag lässt ergänzende Regelungen durch Betriebsvereinbarungen nicht zu.
29
aa) Im Betrieb der Beklagten gilt der zwischen dem Groß- und Außenhandelsverband Niedersachsen e.V. sowie der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft – beide zwischenzeitlich verschmolzen auf die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) – abgeschlossene Manteltarifvertrag vom 19. Juni 1997 (iF MTV), der weiterhin Gültigkeit hat. Die Beklagte ist nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ein Groß- und Außenhandelsunternehmen mit Sitz in Niedersachsen, das aufgrund Mitgliedschaft im vertragschließenden Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des betreffenden Wirtschaftszweigs gebunden ist. Der räumliche und fachliche Geltungsbereich nach § 1 MTV ist eröffnet. Er bezieht sich auf das Land Niedersachsen und dortige Groß- und Außenhandelsunternehmen einschließlich der Hilfs- und Nebenbetriebe und gilt auch für Groß- und Außenhandelsunternehmen, die im Rahmen ihres Handelsgeschäfts Nebenleistungen erbringen, wie zB Montage, Instandhaltung und Instandsetzung. Nach seinem persönlichen Geltungsbereich gilt der Tarifvertrag für alle Arbeitnehmer.
30
In dem MTV heißt es ua.:
„§ 4
Arbeitszeit
1.
Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen beträgt 38,5 Stunden.
Eine von Abs. 1 abweichende Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ist für einen Zeitraum bis zu 52 Wochen (Planungszeitraum) mit Zustimmung des Betriebsrats bzw. in Betrieben ohne Betriebsrat durch Einzelvereinbarungen zuschlagsfrei bis 45 Stunden in der Woche zulässig, wenn gleichzeitig die abweichende Arbeitszeit im Voraus geregelt wird.
In Betrieben, Betriebsteilen und für Beschäftigungsgruppen kann maximal befristet für 3 Monate durch freiwillige Betriebsvereinbarung die regelmäßige Monatsarbeitszeit bis zu 5 % herabgesetzt werden. …
…
§ 7
Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
…
2.
Mehrarbeit ist jede über die in § 4 festgelegte regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit.
Zuschlagspflichtige Arbeit ist jede über 40 Stunden in der Woche hinaus geleistete Arbeitszeit.
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit im Planungszeitraum gem. § 4 Ziff. 1 Abs. 2 ist Arbeitszeit, die die im voraus geregelte wöchentliche Arbeitszeit um mehr als 1,5 Stunden überschreitet.
Im Planungszeitraum anfallende Arbeitszeit von mehr als 45 Stunden in der Woche wird wie zuschlagspflichtige Mehrarbeit behandelt.
…
§ 8
Vergütung der Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
1.
Die Vergütung für geleistete Mehrarbeit beträgt je Stunde 1/167 des tatsächlichen Monatsgehalts bzw. Monatslohns.
…
2.
Im Übrigen sind folgende Zuschläge zu zahlen:
…
3.
Abgeltungen von Mehr-, Nacht-, Sonn- oder Feiertagsarbeit und die entsprechenden Zuschläge können im gegenseitigen Einvernehmen auch durch entsprechende Pauschalen oder Freizeit erfolgen.
4.
Für Außendienstmitarbeiter, bei denen regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft anfällt und eine bestimmte Arbeitszeit nicht festgelegt ist sowie für Reisende gilt die vorstehende Zuschlagsregelung nicht.
§ 9
Allgemeine Entgeltbestimmungen
1.
Bei Angestellten ist das Arbeitsentgelt das Monatsgehalt, bei gewerblichen Arbeitnehmern der Monatslohn. Das Entgelt für eine Arbeitsstunde beträgt 1/167.
2.
Die Gehaltsgruppen, die Tarifgehälter und Ausbildungsvergütungen werden in einem besonderen Gehaltstarifvertrag, die Lohngruppen und die Tariflöhne in einem besonderen Lohntarifvertrag vereinbart.
…
12.
Bei Arbeitszeit im Planungszeitraum gem. § 4 Ziff. 1 Abs. 2 wird für die Gehalts- und Lohnabrechnung die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden zugrunde gelegt.
…“
31
bb) Wortlaut und Gesamtzusammenhang der tarifvertraglichen Regelungen bringen hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass der Tarifvertrag die Vergütung von Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer abschließend regelt. Die Zeiten, die ein Außendienstmitarbeiter in Erfüllung seiner vertraglich geschuldeten Arbeitspflicht für Fahrten zu und von Kunden aufwendet, sind uneingeschränkt der entgeltpflichtigen Arbeitszeit zuzurechnen und mit der tariflichen Grundvergütung zu vergüten.
32
(1) Ausgehend von einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden gemäß § 4 Nr. 1 MTV beträgt nach den „Allgemeinen Entgeltbestimmungen“ in § 9 Nr. 1 MTV das Entgelt für eine Arbeitsstunde 1/167 des tariflichen Monatsentgelts, dessen konkrete Höhe im Entgelttarifvertrag geregelt ist. Eine Einschränkung für bestimmte Arten der Arbeitsleistung enthält diese Bestimmung nicht.
33
(2) Sonderformen der Arbeit haben die Tarifvertragsparteien spezifischen Vergütungsregelungen unterworfen. Das betrifft etwa die in § 8 MTV vorgesehene Vergütung für Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit iSv. § 7 MTV. § 8 Nr. 4 MTV sieht eine spezifische Regelung für Außendienstmitarbeiter, bei denen regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft anfällt, und für Reisende vor. Für diesen Personenkreis gilt die in der Tarifnorm enthaltene Zuschlagsregelung nicht.
34
(3) § 4 MTV enthält eine Reihe von Öffnungsklauseln zugunsten der Betriebsparteien. So kann nach § 4 Nr. 1 Abs. 3 MTV durch freiwillige Betriebsvereinbarung die regelmäßige Monatsarbeitszeit befristet für drei Monate um bis zu 5 % herabgesetzt werden. Nach § 4 Nr. 4 MTV kann bei Arbeitnehmern, in deren Arbeitszeit regelmäßig oder in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft anfällt, die regelmäßige Arbeitszeit unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen auf bis zu 44 oder 50 Stunden je Arbeitswoche ohne Mehrarbeitszuschlag ausgedehnt werden.
35
(4) Die Gesamtschau dieser Bestimmungen belegt, dass die Tarifvertragsparteien die Arbeitszeit und das für geleistete Arbeit zu zahlende Arbeitsentgelt im MTV umfassend und abschließend geregelt haben. Der MTV enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien Sonderregelungen für die Vergütung von Fahrtzeiten der Außendienstmitarbeiter durch Betriebsvereinbarungen zugelassen haben. Aus dem Fehlen einer tarifvertraglichen Bestimmung über die Behandlung von Fahrt-/Wegezeiten als Arbeitszeit und deren Vergütungspflicht kann deshalb nicht geschlossen werden, die Tarifvertragsparteien hätten insoweit keine Regelung treffen wollen.
36
d) Der in § 8 BV geregelte Ausschluss der Vergütung für jeweils 20 Minuten der Fahrtzeit zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause betrifft die tariflich abschließend geregelte Vergütung für geleistete Arbeit. Die BV verstößt damit gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG und ist deshalb insoweit (teil-)unwirksam (im Ergebnis ebenso Preis/Schwarz Dienstreisen als Rechtsproblem 2020, 107; in diese Richtung auch Boemke jurisPR-ArbR 9/2019 Anm. 7). Nach Streichung des § 8 BV verbleibt eine in sich geschlossene sinnvolle Regelung.
37
e) Die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Regelungsgegenstand des § 8 BV einer Angelegenheit der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegt (dazu BAG 3. Dezember 1991 – GS 2/90 – zu C I 4 der Gründe, BAGE 69, 134; 17. Mai 2011 – 1 AZR 473/09 – Rn. 30, BAGE 138, 68). Ein solches Mitbestimmungsrecht setzt nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG voraus, dass keine zwingende tarifliche Regelung besteht, an die der Arbeitgeber gebunden ist. Einer normativen Bindung der betriebszugehörigen Arbeitnehmer (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) bedarf es hierfür nicht. Das gilt auch dann, wenn es sich bei der das Mitbestimmungsrecht verdrängenden tariflichen Regelung um eine Inhaltsnorm handelt (BAG 18. Oktober 2011 – 1 ABR 25/10 – Rn. 21 mwN, BAGE 139, 332). § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt daher auch im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 BetrVG zur Unwirksamkeit einer betrieblichen Regelung, soweit dieser eine zwingende tarifliche Regelung entgegensteht (BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 21). Das ist hier – wie oben ausgeführt – der Fall. Die Tarifvertragsparteien haben die Vergütung geleisteter Arbeit umfassend und abschließend geregelt und keine Öffnungsklausel für betriebliche Regelungen zur Vergütung der Fahrtzeiten von Außendienstmitarbeitern vereinbart. Es bedarf deshalb keiner weiteren Erörterung, ob und inwieweit die getroffene Regelung der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegt.
38
f) Die Auslegung des § 8 BV und die Annahme, diese betriebliche Regelung sei wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam, steht nicht in Widerspruch zu dem Urteil des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 10. Oktober 2006 (- 1 ABR 59/05 -). Zwar hat der Erste Senat dort Bestimmungen in einer Gesamtbetriebsvereinbarung über die Festlegung eines Wegezeit-Eigenanteils für An- und Abreise zum ersten bzw. vom letzten Kunden/Einsatzstelle, der „zulasten“ eines Außendienstmitarbeiters gehen soll, für wirksam erachtet und dabei angenommen, die Bestimmungen enthielten keine Regelung der Arbeitsvergütung und beträfen insoweit auch keinen tariflich geregelten Gegenstand. Der Entscheidung lagen jedoch eine andere Betriebsvereinbarung und ein anderer Tarifvertrag zugrunde.
39
III. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Die Beklagte hat nicht schlüssig dargelegt, dass sie mit dem Kläger individualvertraglich einen Ausschluss der streitgegenständlichen Ansprüche vereinbart hat. Diese sind auch nicht verfallen.
40
1. Die Behauptung der Beklagten, vor Geltung der BV seien den Servicetechnikern – so auch dem Kläger – jeweils 40 Minuten für die Anfahrt zum ersten und Abfahrt vom letzten Kunden „abgezogen worden“, schließt die Vergütungspflicht der umstrittenen Fahrtzeiten nicht aus. Die Beklagte hat damit lediglich ihre Abrechnungspraxis geschildert, nicht jedoch schlüssig das Zustandekommen einer entsprechenden Vereinbarung mit dem Kläger dargelegt. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger im Hinblick auf die Regelungen in der BV es für längere Zeit hingenommen hat, dass seine in die „Stundennachweise für Servicetechniker“ eingetragenen Wegezeiten im Umfang der für das Fahren zum ersten und vom letzten Kunden aufgewendeten Zeit bis zu jeweils 20 Minuten nicht in das Arbeitszeitkonto eingestellt wurden. Das bloße Unterlassen eines sofortigen Widerspruchs stellt nicht die konkludente Erklärung einer Zustimmung dar (vgl. BAG 22. April 2009 – 5 AZR 292/08 – Rn. 22).
41
2. Der geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Zeitgutschrift ist nicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 MTV verfallen.
42
a) Gemäß dieser arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Bestimmung sind gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer beiderseitigen Ausschlussfrist von drei Monaten seit Fälligkeit schriftlich geltend zu machen; wird der Anspruch abgelehnt, ist innerhalb einer Frist von vier Monaten nach der Ablehnung Klage zu erheben. Nach Satz 2 der Bestimmung gilt dies nicht für Schadensersatzforderungen aus unerlaubten Handlungen und Verkehrsunfällen sowie für Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung.
43
b) Unstreitig hat der Kläger durch außergerichtliches Schreiben vom 21. Juni 2017 gegenüber der Beklagten geltend gemacht, ihm für von März bis Mai 2017 geleistete Fahrten zwischen seiner Wohnung zum ersten Kunden bzw. vom letzten Kunden dorthin zurück insgesamt 36 Stunden und 40 Minuten als Arbeitszeit „gutzuschreiben“. Mit seiner am 21. September beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 28. September 2017 zugestellten Klage hat er dieses Begehren weiterverfolgt und zugleich die Gutschrift weiterer 32 Stunden Arbeitszeit für in den Monaten Juni bis August 2017 entsprechend geleistete Fahrzeiten verlangt. Hiervon ausgehend ist die Ausschlussfrist des § 17 Abs. 2 Satz 1 MTV ersichtlich gewahrt.
44
IV. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf nachträgliche Gutschrift der Fahrtzeiten als Arbeitszeit auf dem für ihn geführten Arbeitszeitkonto. Ob der Anspruch in der vom Kläger behaupteten Höhe besteht, lässt sich auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht beurteilen. Der Senat kann deshalb nicht selbst in der Sache entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO), weshalb die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen ist (§ 563 Abs. 1 ZPO).
45
1. Ob die Klage mit dem Hauptantrag begründet ist, kann der Senat nicht entscheiden, weil das Landesarbeitsgericht keine widerspruchsfreien Feststellungen zu der bei der Beklagten geltenden regelmäßigen Arbeitszeit getroffen hat.
46
a) Ein Anspruch auf Gutschrift der für die umstrittenen Fahrten aufgewendeten Zeit besteht nur, wenn der Kläger die betreffende Fahrtzeit über die von ihm geschuldete regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistet hat. Das folgt aus § 9 Abs. 1 iVm. § 7 BV. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 BV erhält der Arbeitnehmer unabhängig von der Anzahl der geleisteten Stunden eine verstetigte Vergütung jeweils in Höhe eines Bruttomonatsgehalts. Darüber hinaus erhält er nach Satz 2 der Bestimmung die „Vergütung“ gemäß § 7 BV, wobei diese Bestimmung den gegebenenfalls vorzunehmenden „Überstundenausgleich“ betrifft. Auf dieser Grundlage bildet das Arbeitszeitkonto des Klägers lediglich ab, in welchem Umfang der Kläger Arbeitsleistungen über die geschuldete Sollarbeitszeit hinaus geleistet hat bzw. seine Arbeitsleistung dahinter zurückgeblieben ist.
47
b) Bei der Führung des Arbeitszeitkontos hat die Beklagte eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden zugrunde gelegt und als „Plusstunden“ solche Zeiten eingestellt, aufgrund derer – nach ihrer Bewertung – eine arbeitstägliche „Sollarbeitszeit“ von 7 Stunden und 30 Minuten überschritten wurde. Im Rahmen seiner Klagebegründung hat sich der Kläger diese Berechnungstatsachen zu eigen gemacht.
48
c) Dass im Arbeitsverhältnis der Parteien eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden gilt, steht indes nicht fest.
49
aa) Nach § 4 Nr. 1 Abs. 1 MTV beträgt die regelmäßige Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen 38,5 Wochenstunden. Soweit § 3 BV demgegenüber eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden vorsieht, ist die BV wegen Verstoßes gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam. Ergänzende Betriebsvereinbarungen zur abweichenden Bestimmung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit lässt der MTV nicht zu. Nach § 4 Nr. 1 Abs. 2 MTV kann nur eine von Abs. 1 abweichende Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit in einem Planungszeitraum von bis zu 52 Wochen vereinbart werden und nach § 4 Nr. 1 Abs. 3 MTV kann die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit befristet für maximal drei Monate um bis zu 5 % herabgesetzt werden. Solche Sachverhalte betrifft § 3 BV erkennbar nicht.
50
bb) Die unwirksame Regelung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit in § 3 BV kann nicht entsprechend § 140 BGB in eine Gesamtzusage umgedeutet werden. Dafür bedürfte es besonderer, außerhalb der Betriebsvereinbarung liegender Umstände, welche die Annahme rechtfertigen, der Arbeitgeber habe sich unabhängig von der Betriebsvereinbarung auf jeden Fall vertraglich verpflichten wollen, seinen Arbeitnehmern die in dieser vorgesehenen Leistungen zu gewähren. Ein hypothetischer Wille des Arbeitgebers, sich unabhängig von der Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung auf Dauer einzelvertraglich zu binden, kann nur in Ausnahmefällen angenommen werden. Ein solcher Rechtsbindungswille vermag vor allem nicht aus den in der Betriebsvereinbarung selbst getroffenen Regelungen geschlossen werden. Er muss sich aus außerhalb der Betriebsvereinbarung liegenden Umständen ergeben und auf einen Verpflichtungswillen des Arbeitgebers losgelöst von der Betriebsvereinbarung und gegenüber allen oder einer Gruppe von Arbeitnehmern gerichtet sein (st. Rspr., zB BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 65/17 – Rn. 27 mwN, BAGE 161, 305). Solche besonderen Umstände ergeben sich aus dem bisherigen Parteivorbringen nicht.
51
cc) Ebenso wenig bestehen derzeit Anhaltspunkte für die Annahme, aufgrund betrieblicher Übung betrage die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 37,5 Stunden.
52
(1) Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen (vgl. BAG 19. Februar 2020 – 5 AZR 189/18 – Rn. 15; 27. April 2016 – 5 AZR 311/15 – Rn. 27). Erbringt der Arbeitgeber die Leistungen für den Arbeitnehmer erkennbar aufgrund einer anderen Rechtspflicht, kann der Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, ihm solle eine Leistung auf Dauer unabhängig von dieser Rechtspflicht gewährt werden (BAG 19. März 2014 – 5 AZR 954/12 – Rn. 43). Dabei trägt nicht der Arbeitgeber die Darlegungslast dafür trägt, dass er für den Arbeitnehmer erkennbar irrtümlich glaubte, die betreffenden Leistungen in Erfüllung tarifvertraglicher oder sonstiger Pflichten erbringen zu müssen. Vielmehr ist es Sache der klagenden Partei, die Anspruchsvoraussetzungen darzulegen. Dazu gehört im Falle der betrieblichen Übung auch die Darlegung, dass das Verhalten des Arbeitgebers aus Sicht des Empfängers ausreichende Anhaltspunkte dafür bot, der Arbeitgeber wolle Leistungen erbringen, ohne hierzu bereits aus anderen Gründen – etwa aufgrund eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung – verpflichtet zu sein (vgl. BAG 11. November 2014 – 3 AZR 849/11 – Rn. 55; 29. August 2012 – 10 AZR 571/11 – Rn. 20).
53
(2) Dem bisherigen Parteivorbringen kann nicht entnommen werden, dass die Beklagte unabhängig von der Wirksamkeit der BV den bei ihr beschäftigten Servicetechnikern eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden bei voller tariflicher Vergütung angeboten hat. Beide Parteien haben sich hierzu bislang allerdings nicht geäußert. Da die Beklagte offenbar von der Wirksamkeit der BV ausgeht, liegt es nahe, dass sie aufgrund der Regelung in § 3 BV von einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden ausging.
54
2. Nachdem weder das Landesarbeitsgericht noch die Parteien bislang diesen Gesichtspunkt in den Blick genommen haben, gebieten der Anspruch auf rechtliches Gehör und der Grundsatz der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (dazu BAG 7. Februar 2019 – 6 AZR 84/18 – Rn. 30; 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 20, BAGE 160, 57), den Parteien und hierbei zunächst dem darlegungs- und beweisbelasteten Kläger im Rahmen des fortgesetzten Berufungsverfahrens Gelegenheit zu geben, zum Umfang der maßgeblichen regelmäßigen Arbeitszeit weiteren Sachvortrag zu halten. Dabei wird der Kläger auch zu berücksichtigen haben, dass ausgehend von einer Sollarbeitszeit von 38,5 Wochenstunden als maßgeblicher Bezugsgröße bisher nicht zu erkennen ist, in welchem Umfang eine Gutschrift noch in Betracht kommt. Soweit das Landesarbeitsgericht einen Saldo von 68 Stunden und 40 Minuten festgestellt hat, bezieht dieser sich auf eine Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden.
55
3. Sollte sich im fortgesetzten Berufungsverfahren erweisen, dass ein Anspruch des Klägers auf Gutschrift von Fahrtzeiten als Arbeitszeit – ganz oder teilweise – entstanden ist, wird das Landesarbeitsgericht davon auszugehen haben, dass die Gutschrift ungeachtet der Regelungen in § 9 Abs. 1 Satz 2, § 7 BV noch erfolgen kann.
56
a) Hat der Arbeitgeber „Guthabenstunden“ einem Zeitkonto zu Unrecht nicht zugeführt und wird das Konto weiterhin geführt, hat der Arbeitnehmer grundsätzlich Anspruch auf Korrektur des aktuellen Saldos.
57
b) Aus den Regelungen in der BV ergibt sich nichts Gegenteiliges. Zwar sieht § 7 Abs. 2 Satz 5 BV vor, dass von einem zum 31. Dezember eines jeweiligen Kalenderjahres bestehenden, nicht durch Freizeit ausgeglichenen „Stundenüberhang“ lediglich bis zu zehn Stunden in das Folgejahr übertragen werden können und bis zu maximal zehn Stunden – in Ausnahmefällen auch darüber hinaus geleistete „Überstunden“ – zur Auszahlung gelangen können. Doch bezieht sich die Regelung bei zutreffendem Verständnis nicht auf solche Zeiten, die der Arbeitgeber zu Unrecht nicht in ein Arbeitszeitkonto eingestellt hat.
58
aa) Nach § 7 Satz 1 BV sind „Überstunden“ grundsätzlich durch Freizeit innerhalb desselben Monats auszugleichen. Soweit dem dienstliche Belange entgegenstehen, kann nach § 7 Abs. 2 Sätze 2 und 3 BV der Freizeitausgleich auf den nächsten Kalendermonat übertragen werden und sollen die „Überstunden“ in einem Zeitraum von 12 Monaten ausgeglichen sein. Dabei ist der Begriff der „Überstunden“ erkennbar nicht so zu verstehen, dass es den Betriebsparteien auf die Anspruchsvoraussetzungen „echter“ Überstundenvergütung ankäme. „Überstunden“ im Sinne der Bestimmung sind vielmehr, wie das Zusammenspiel mit § 9 Abs. 1 BV zeigt, sämtliche Zeiten vergütungspflichtiger Arbeit, die der Arbeitnehmer über die geschuldete regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistet hat.
59
bb) Die Regelungen in § 7 BV machen deutlich, dass der Ausgleich von „Überstunden“ vorrangig unterjährig durch bezahlte Freistellung von der Arbeit erfolgen soll. Nur ausnahmsweise soll nach § 7 Abs. 2 Satz 5 BV unter bestimmten Voraussetzungen ein zum 31. Dezember bestehender „Stundenüberhang“ zur Auszahlung gelangen. Diesem Regime ist angemessen Rechnung zu tragen, wenn der Arbeitgeber Arbeitszeit, die der Arbeitnehmer über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistet hat, zu Unrecht nicht in das Arbeitszeitkonto eingestellt hat. In einem solchen Fall ist die Gutschrift in das aktuell geführte Arbeitszeitkonto einzustellen. Ein Auszahlungsanspruch nach § 7 Abs. 2 Satz 5 BV ist nach dem Regelungswillen der Betriebsparteien ersichtlich auf einen solchen „Überstundenüberhang“ beschränkt, der sich zum 31. Dezember eines jeweiligen Jahres unmittelbar aus dem Arbeitszeitkonto ergibt. Es muss sich also – nach dem Sprachgebrauch der Parteien – um „Plusstunden“ handeln, die vom Arbeitgeber bis zum Stichtag in das Konto eingestellt wurden.
60
4. Der Zurückverweisung unterliegt auch der hilfsweise erhobene Zahlungsantrag. Über diesen ist nur zu entscheiden, wenn sich die Klage mit dem Hauptantrag als unbegründet erweist. Allerdings kann der Antrag allenfalls Erfolg haben, wenn das Arbeitsverhältnis im weiteren Verlauf des Rechtsstreits enden sollte. Sollte sich erweisen, dass der Kläger die umstrittenen Fahrtzeiten nicht über die geschuldete regelmäßige Arbeitszeit hinaus erbracht hat, und scheidet ein Anspruch auf Gutschrift aus diesem Grund aus, kommt im betreffenden Umfang im laufenden Arbeitsverhältnis auch kein Zahlungsanspruch in Betracht.
61
5. Da die Verkürzung von vergütungspflichtigen Fahrtzeiten eines Außendienstmitarbeiters durch § 8 BV unwirksam ist, kann offenbleiben, ob – wie das Landesarbeitsgericht gemeint hat – die vertraglichen Vereinbarungen hinsichtlich der Zuordnung von Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zur Arbeitszeit und zu deren Vergütung betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet sind (zur Betriebsvereinbarungsoffenheit vertraglicher Einheitsregelungen vgl. nur BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 60 mwN, BAGE 165, 168).
62
V. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird das Landesarbeitsgericht auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben.
Linck
Volk
Berger
P. Hepper
Zorn |
bag_13-18 | 20.03.2018 | 20.03.2018
13/18 - Übergangszuschuss - Leistung der betrieblichen Altersversorgung
Erhält ein ehemaliger Arbeitnehmer während der ersten sechs Monate des Renten-bezugs sein monatliches Entgelt unter Anrechnung der Betriebsrente als „Über-gangszuschuss“ weiter, handelt es sich um eine Leistung der betrieblichen Altersver-sorgung, die der Insolvenzsicherung durch den Pensions-Sicherungs-Verein (PSV) unterliegt.
Bei der früheren, inzwischen insolventen Arbeitgeberin des Klägers galt eine Be-triebsvereinbarung über die Gewährung eines Übergangszuschusses. Dieser sollte während der ersten sechs Monate des Rentenbezugs gezahlt werden, wenn der Versorgungsberechtigte im unmittelbaren Anschluss an die aktive Dienstzeit bei der Arbeitgeberin pensioniert wird. Seit Januar 2015 bezieht der Kläger neben der gesetzlichen Rente eine Betriebsrente vom PSV. Dieser ist der Auffassung, er müsse nicht für den Übergangszuschuss eintreten, weil es sich nicht um eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung handele. Es fehle am erforderlichen Versorgungszweck.
Der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat – ebenso wie das Landesarbeitsgericht – der Klage überwiegend stattgegeben. Der Übergangszuschuss knüpft an ein vom Betriebsrentengesetz erfasstes Risiko an. Er dient nicht der Überbrückung von Zeiträumen bis zum Eintritt des Versorgungsfalls. Vielmehr bezweckt er, den Lebensstandard des Arbeitnehmers mit Eintritt in den Ruhestand zu verbessern. Damit hat der Übergangszuschuss – auch wenn er lediglich vorübergehend gewährt wird – Versorgungscharakter.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 20. März 2018 – 3 AZR 277/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil vom 26. November 2015 – 7 Sa 534/15 –
Hinweis: Der Senat hat am heutigen Tag über drei weitere gleichgelagerte Verfahren entschieden. | Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 26. November 2015 – 7 Sa 534/15 – teilweise aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 27. März 2015 – 17 Ca 9163/14 – teilweise abgeändert und insgesamt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 27.765,24 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 4.627,54 Euro seit dem 2. Februar 2015, dem 2. März 2015, dem 2. April 2015, dem 4. Mai 2015, dem 2. Juni 2015 und dem 2. Juli 2015 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten der ersten Instanz haben der Beklagte zu 83 vH und der Kläger zu 17 vH zu tragen.
Die Kosten der Berufung und der Revision hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung verpflichtet ist, dem Kläger einen Übergangszuschuss zu zahlen.
2
Der im August 1951 geborene Kläger war – unter Berücksichtigung von Vordienstzeiten – seit dem 7. November 1971 als Tarif-Mitarbeiter bei der S AG beschäftigt. Bei dieser galt die zum 1. Januar 1982 in Kraft getretene „Vereinbarung zum Übergangszuschuß bei Pensionierung im Tarifkreis“ vom 22. Dezember 1981 (im Folgenden GBV 1981). Diese Gesamtbetriebsvereinbarung enthält ua. folgende Regelungen:
„Mitarbeiter des Tarifkreises erhalten nach ihrer Pensionierung einen Übergangszuschuß. Damit soll den Mitarbeitern der Übertritt in den Ruhestand wirtschaftlich erleichtert werden
Im einzelnen gilt folgendes:
1.
Die S AG räumt ihren Mitarbeitern einen Rechtsanspruch auf den Übergangszuschuß ein.
2.
Voraussetzung ist, daß der Mitarbeiter
–
mindestens 10 Dienstjahre (ohne Ausbildungszeiten) nach Vollendung des 18. Lebensjahres bei der S AG abgeleistet hat u n d
–
im unmittelbaren Anschluß an die aktive Dienstzeit bei der S AG pensioniert wird.
3.
Die Höhe des Übergangszuschusses, der für 6 Monate gezahlt wird, entspricht der Differenz zwischen dem zuletzt bezogenen Brutto-Monatsentgelt bei regelmäßiger tariflicher oder abweichend vereinbarter Arbeitszeit (ohne einmalige Zuwendungen, tariflicher vermögenswirksamer Leistungen, Vergütungen für Mehrarbeit, zusätzliches Urlaubsgeld, Krankenlohn sowie Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit) und dem SAF-Ruhegeld.“
3
Nachdem die S AG die GBV 1981 zum 30. September 1983 gekündigt hatte, vereinbarte sie mit dem Gesamtbetriebsrat am 29. Juli 1983 die zum 1. Oktober 1983 in Kraft getretene Gesamtbetriebsvereinbarung zum „Übergangszuschuß bei Pensionierung im Tarifkreis“ (im Folgenden GBV 1983). Danach bleibt es für Mitarbeiter, die bis zum 30. September 1983 in ein Arbeitsverhältnis eingetreten sind, bei der bisherigen Regelung.
4
Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging am 1. Januar 1997 aufgrund eines Betriebsübergangs auf die SR GmbH über.
5
Bei der SR GmbH gilt die „Betriebsvereinbarung zur Vereinbarung allgemeiner Rahmenbedingungen für die BEITRAGSORIENTIERTE S ALTERSVERSORGUNG (BSAV SR) für Mitarbeiter im Tarifkreis der SR“ vom 21. September 2005 (im Folgenden BSAV SR) mit ihren Anlagen. Die BSAV SR bestimmt ua.:
„1
Einführung, Anwendung der AVB und AZB, Bezeichnung BSAV
Unternehmen und Betriebsrat vereinbaren für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Tarifkreis (Mitarbeiter) die betrieblichen Altersversorgung nach den Allgemeinen Versorgungsbedingungen zur BEITRAGSORIENTIERTEN S ALTERSVERSORGUNG TARIFKREIS SR (AVB BSAV SR Tarifkreis, Anlage 1) sowie nach den Allgemeinen Auszahlungsbedingungen Tarifkreis zur BSAV SR (AZB BSAV SR Tarifkreis, Anlage 2).
Eine besitzstandswahrenden Integration und Ablösung der nach der Altregelung bislang bestehenden Versorgungsanwartschaften erfolgt nach den für die Altregelung jeweils geltenden Allgemeinen Überleitungsbedingungen zur BEITRAGSORIENTIERTEN S ALTERSVERSORGUNG SR (AÜB) (3).
Soweit in dieser Betriebsvereinbarung einschließlich der einzelnen Anlagen AVB, AZB und AÜB jeweils die Bezeichnung BEITRAGSORIENTIERTE S ALTERSVERSORGUNG bzw. die Abkürzung BSAV verwendet wird, ist damit – soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt wurde – jeweils ausschließlich die BEITRAGSORIENTIERTE S ALTERSVERSORGUNG SR (BSAV SR) in Bezug genommen.
…
2.2
Mitarbeiter im Tarifkreis
2.2.1
…
Sie gilt ferner für Mitarbeiter, die vor Inkrafttreten (4) bereits in einem Arbeitsverhältnis zum Unternehmen gestanden haben und auf Grund der Erklärung zur Anwendbarkeit Allgemeiner Überleitungsbestimmungen (3) in diese Betriebsvereinbarung einbezogen werden.
…
3
Anwendung Allgemeiner Überleitungsbedingungen (hier: AÜB SAF)
Für Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnis zum Unternehmen am 01.10.2005 (Ablösungsstichtag) besteht und die als Mitarbeiter im Tarifkreis Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach den Richtlinien der S-Af GmbH vom 01.10.19831 erworben haben (im Folgenden: SAF-Zusage, Altregelung) und die vom Unternehmen – insbesondere gemäß Ziffer 10 der Überleitungsvereinbarung für die Beschäftigungsbedingungen der Mitarbeiter des Werkes D der S AG in die SR GmbH vom 14.10.1996 bzw. gemäß Ziffer 10 der Änderung der Beschäftigungsbedingungen für die Mitarbeiter der SR GmbH vom 10.12.1999 sowie gemäß der Überleitungsvereinbarung für die Beschäftigungsbedingungen der Mitarbeiter Regional Logistic Center D der S AG in der SR GmbH vom 10.12.1999 – fortgeführt werden, wird mit Wirkung zum 01.10.2005 die Anwendung der Allgemeinen Bedingungen zur Überleitung SAF in die BEITRAGSORIENTIERTE S ALTERSVERSORGUNG TARIFKREIS vereinbart (AÜB SAF, Anlage 3).
Die Anwendung der AÜB SAF nach Satz 1 gilt entsprechend für Mitarbeiter nach 2.2.1 Satz 1, denen vom Unternehmen vor Unterzeichnung dieser Betriebsvereinbarung noch Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach der Altregelung zugesagt wurden.
4
Schlussvorschriften
Diese Betriebsvereinbarung tritt … zum 01.10.2005 in Kraft. …“
6
Die Anlage 1 zur BSAV SR – „ALLGEMEINE VERSORGUNGSBEDINGUNGEN BEITRAGSORIENTIERTE S ALTERSVERSORGUNG TARIFKREIS (AVB BSAV TARIFKREIS)“ – regelt auszugsweise:
„2
Geltungsbereich
Diese Allgemeinen Versorgungsbedingungen gelten, sofern sie in eine betriebliche Versorgungszusage (Zusage) einbezogen werden wie z.B. im Rahmen einer Betriebsvereinbarung oder eines Einzelvertrages.
…
2.2
Mitarbeiter im Tarifkreis
Der Geltungsbereich ist in der Zusage (2) geregelt.
…
4.6
Versorgungsfall
4.6.1
Der Versorgungsfall tritt ein mit Erwerb eines Anspruchs nach 4.6.2 bis 4.6.4.
4.6.2
Der Mitarbeiter erwirbt im Erlebensfall Anspruch auf die Auszahlung des Versorgungsguthabens nach Maßgabe der Auszahlungsrichtlinie
·
als Alterskapital, wenn das Arbeitsverhältnis mit oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres (feste Altersgrenze) endet, oder
·
als vorzeitiges Alterskapital auf Antrag des Mitarbeiters und mit Zustimmung des Unternehmens, wenn das Arbeitsverhältnis mit oder nach Vollendung des 60. Lebensjahres vor Erreichen der festen Altersgrenze endet, oder
·•
als Invalidenkapital, wenn das Arbeitsverhältnis vor Erreichen der festen Altersgrenze endet und von da an unbefristete Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch genommen wird.
…
6
Schlussvorschriften
Das Inkrafttreten der AVB BSAV TARIFKREIS ist in der Zusage (2) geregelt.“
7
Die Anlage 3 zur BSAV SR – „ALLGEMEINE ÜBERLEITUNGSBEDINGUNGEN SAF zum Übergang von Versorgungsanwartschaften nach SAF in die BEITRAGSORIENTIERTE S ALTERSVERSORGUNG TARIFKREIS (AÜB SAF)“ – bestimmt auszugsweise:
„1
Einführung
Diese Allgemeinen Überleitungsbedingungen gelten, sofern sie in eine betriebliche Versorgungszusage (Zusage) einbezogen werden wie z.B. im Rahmen einer Betriebsvereinbarung oder eines Einzelvertrages.
2
Geltungsbereich
Der Geltungsbereich ist in der Zusage (1) geregelt.
…
6
Zahlungen außerhalb der betrieblichen Altersversorgung und Anrechnung
6.1
Grundsatz
Die bestehenden Regelungen im Zusammenhang mit der Gewährung von befristeten Übergangszuschüssen, Beihilfen, tariflicher Sterbefallunterstützung sowie zur befristeten Rentenfortzahlung (befristete Übergangsgelder) an den Mitarbeiter bzw. an den hinterlassenen Ehegatten werden im bisherigen Umfang fortgeführt11.
6.2
Anrechnungen auf befristete Übergangsgelder
Die Leistungen aus dem integrierten Besitzstand (3 und 4) sowie aus dem Versorgungskonto nach den AVB BSAV TARIFKREIS werden auf die befristeten Übergangsgelder12 angerechnet. …“
8
Durch Beschluss des Amtsgerichts Kempten vom 26. September 2012 wurde über das Vermögen der SR GmbH (im Folgenden Insolvenzschuldnerin) das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung eröffnet. Der Insolvenzverwalter kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers betriebsbedingt zum 31. Dezember 2012. Das Monatsentgelt des Klägers betrug zuletzt 5.582,93 Euro brutto. Der Kläger war vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2014 arbeitslos. Seit dem 1. Januar 2015 bezieht er eine Rente für besonders langjährig Versicherte aus der gesetzlichen Rentenversicherung und vom Beklagten eine Betriebsrente iHv. monatlich 439,41 Euro brutto.
9
Mit seiner Klage hat er die Zahlung des Übergangszuschusses begehrt und die Auffassung vertreten, dieser sei eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung.
10
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 27.880,40 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
11
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
12
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das erstinstanzliche Urteil auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert und den Beklagten zur Zahlung eines Übergangszuschusses iHv. 27.880,40 Euro brutto nebst Zinsen seit dem 1. Januar 2015 verurteilt. Mit der Revision verfolgt der Beklagte sein Ziel einer vollständigen Klageabweisung weiter. Der Kläger begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
13
Die Revision bleibt im Wesentlichen erfolglos. Die Klage ist überwiegend begründet. Der Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger einen Übergangszuschuss iHv. 27.765,24 Euro brutto zuzüglich Zinsen zu zahlen.
14
I. Der Beklagte ist als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung nach § 7 Abs. 2 BetrAVG verpflichtet, für die Zahlung des Übergangszuschusses einzutreten, nachdem über das Vermögen der ehemaligen Arbeitgeberin des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet wurde und damit ein Sicherungsfall eingetreten ist. Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BetrAVG haben Personen, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine nach § 1b BetrAVG unverfallbare Versorgungsanwartschaft haben, einen Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung, wenn die Anwartschaft auf einer unmittelbaren Versorgungszusage des Arbeitgebers beruht. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
15
1. Dem Kläger wurde durch die GBV 1981 idF der GBV 1983 von seiner damaligen Arbeitgeberin eine unmittelbare Versorgungszusage auf Gewährung eines Übergangszuschusses erteilt.
16
2. Der Übergangszuschuss ist eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung.
17
a) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG liegt betriebliche Altersversorgung vor, wenn dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung zugesagt sind. Die Zusage muss einem Versorgungszweck dienen und die Leistungspflicht muss nach dem Inhalt der Zusage durch ein im Gesetz genanntes biologisches Ereignis, nämlich Alter, Invalidität oder Tod ausgelöst werden. Erforderlich und ausreichend ist, dass durch die vorgesehene Leistung ein im Betriebsrentengesetz genanntes biometrisches Risiko teilweise übernommen wird. Die Altersversorgung deckt einen Teil der „Langlebigkeitsrisiken“, die Hinterbliebenenversorgung einen Teil der Todesfallrisiken und die Invaliditätssicherung einen Teil der Invaliditätsrisiken ab. Die Risikoübernahme muss in einer Versorgung bestehen. Dabei ist der Begriff der Versorgung weit auszulegen. Versorgung sind alle Leistungen, die den Lebensstandard des Arbeitnehmers oder seiner Hinterbliebenen im Versorgungsfall verbessern sollen. Außer Zusagen auf rentenförmige Leistungen können auch einmalige Kapitalzuwendungen die Merkmale der betrieblichen Altersversorgung erfüllen. Es genügt, dass der Versorgungszweck die Leistung und deren Regelung prägt (vgl. BAG 20. September 2016 – 3 AZR 411/15 – Rn. 15 mwN, BAGE 156, 196).
18
b) Danach handelt es sich bei dem Übergangszuschuss nach der GBV 1981 um eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG.
19
aa) Der Übergangszuschuss dient der Versorgung des Arbeitnehmers bei Eintritt in den Ruhestand.
20
(1) Nach dem Eingangssatz der GBV 1981 und dem zweiten Spiegelstrich seiner Nr. 2 erhalten Mitarbeiter den Übergangszuschuss nach ihrer Pensionierung. Der Zuschuss soll danach für einen Zeitraum von sechs Monaten die Differenz zwischen dem zuletzt bezogenen Brutto-Monatsentgelt und dem Ruhegeld ausgleichen, um den Mitarbeitern den Übertritt in den Ruhestand wirtschaftlich zu erleichtern. Der Umfang der Zuwendung ist geeignet, den Lebensstandard des Arbeitnehmers im Versorgungsfall zu verbessern und dient damit dem Versorgungszweck. Etwas anderes folgt – entgegen der Ansicht des Beklagten – nicht daraus, dass der Übergangszuschuss nur zeitlich befristet geleistet wird. Dies gilt unabhängig davon, ob während dieser Zeit typischerweise ein erhöhter Versorgungsbedarf besteht. Für die Versorgungsfunktion einer Leistung kommt es nicht darauf an, wie lange diese gewährt wird. Selbst einmalige Kapitalleistungen können Versorgungscharakter haben (vgl. BAG 28. Oktober 2008 – 3 AZR 317/07 – Rn. 27 mwN, BAGE 128, 199).
21
Der Umstand, dass die Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht angerechnet wird, und dadurch nach Ansicht des Beklagten eine für die betriebliche Altersversorgung untypische „Überversorgung“ eintritt, gibt ebenfalls keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung. Dem Arbeitgeber bleibt es unbenommen, seinen Arbeitnehmern eine auch über ihrem letzten Entgelt liegende Altersversorgung zu gewähren.
22
(2) Da der Übergangszuschuss voraussetzt, dass der Arbeitnehmer in den Ruhestand getreten ist, bezweckt er weder die Überbrückung einer Arbeitslosigkeit noch zielt er darauf ab, einen Wechsel des Arbeitsplatzes zu erleichtern. Anders als der Beklagte meint, ist der Übergangszuschuss auch nicht mit dem Zweck eines Sterbegeldes vergleichbar. Denn während ein Sterbegeld typischerweise einen anlassbedingten erhöhten Aufwand wie etwa Bestattungskosten ausgleichen soll (vgl. hierzu etwa BAG 10. Februar 2009 – 3 AZR 653/07 – Rn. 19; 19. September 2006 – 1 ABR 58/05 – Rn. 24; 10. August 1993 – 3 AZR 185/93 – zu 2 c der Gründe), trägt der Übergangszuschuss dazu bei, finanzielle Verluste, die aus dem Wegfall des bisherigen Einkommens aus dem Arbeitsverhältnis entstehen, für den Arbeitnehmer zu verringern und ihm den Übergang in den Ruhestand wirtschaftlich zu erleichtern. Schon deshalb dient er trotz seiner zeitlichen Beschränkung dazu, die finanzielle Lage des Betriebsrentners zu verbessern und hat daher Versorgungscharakter (vgl. BAG 28. Oktober 2008 – 3 AZR 317/07 – Rn. 29, BAGE 128, 199).
23
bb) Der rechtlichen Einordnung des Übergangszuschusses als eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung steht weder seine Bezeichnung als „Übergangszuschuss“ noch der Umstand entgegen, dass dieser nicht im Versorgungswerk der Insolvenzschuldnerin bzw. ihrer Rechtsvorgängerin geregelt ist, sondern in einer eigenen (Gesamt)Betriebsvereinbarung. Zwar lassen Wortlaut und Systematik Rückschlüsse auf die Vorstellungen der Betriebsparteien zur Einordnung der Leistungen zu. Jedoch sind weder ihre Einschätzung noch ihr Regelungswille entscheidend, da die zwingenden Bestimmungen des Betriebsrentenrechts nicht umgangen werden können (vgl. BAG 28. Oktober 2008 – 3 AZR 317/07 – Rn. 33 mwN, BAGE 128, 199).
24
cc) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es unerheblich, dass der Übergangszuschuss an einen Eintritt in den Ruhestand im unmittelbaren Anschluss an die aktive Dienstzeit bei der Arbeitgeberin geknüpft ist. Eine solche Bedingung ändert am Rechtscharakter der Leistung nichts. Liegt eine Leistung der betrieblichen Altersversorgung vor, ist die Zulässigkeit einer solchen Voraussetzung an den Vorgaben des Betriebsrentengesetzes zu messen. Gegebenenfalls ist die Bedingung nach § 19 Abs. 3 BetrAVG unwirksam (vgl. BAG 28. Oktober 2008 – 3 AZR 317/07 – Rn. 34, BAGE 128, 199; 18. Februar 2003 – 3 AZR 81/02 – zu I 1 c bb der Gründe).
25
dd) Gegen die rechtliche Einordnung des Übergangszuschusses als betriebliche Altersversorgung spricht schließlich nicht, dass Hinterbliebene keinen Anspruch auf diese Leistung haben. Ein Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, eine Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Deshalb ist er grundsätzlich auch berechtigt, Hinterbliebene von einzelnen Versorgungsleistungen auszunehmen, ohne dass dies den Versorgungscharakter der Leistung für die Versorgungsberechtigten berührt.
26
3. Die dem Kläger in der GBV 1981 idF der GBV 1983 erteilte Zusage einer Leistung der betrieblichen Altersversorgung in Form des Übergangszuschusses bestand auch noch bei Eintritt des Sicherungsfalls am 26. September 2012.
27
Der Übergangszuschuss war bei der Rechtsvorgängerin der Insolvenzschuldnerin durch Gesamtbetriebsvereinbarung – die GBV 1981 – geregelt und durch eine weitere Gesamtbetriebsvereinbarung – die GBV 1983 – für Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnis, wie beim Kläger, vor dem 1. Oktober 1983 begonnen hatte, aufrechterhalten worden. Die Regelungen der GBV 1981 idF der GBV 1983 wurden jedenfalls aufgrund des Betriebsübergangs auf die spätere Insolvenzschuldnerin nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in das Arbeitsverhältnis des Klägers transformiert. An deren Geltung für das Arbeitsverhältnis des Klägers hat sich auch durch das Inkrafttreten der BSAV SR zum 1. Oktober 2005 nichts geändert. Nr. 1 Abs. 2 BSAV SR iVm. Nr. 6.1 Anlage 3 zur BSAV SR ordnen für diejenigen Arbeitnehmer, die – wie der Kläger – bereits vor dem 1. Oktober 1983 in einem Arbeitsverhältnis zur Insolvenzschuldnerin standen, die Fortgeltung der bestehenden Regelungen über die Gewährung des Übergangszuschusses ausdrücklich an (vgl. Nr. 2.2.1 Abs. 2 und Nr. 3 Abs. 1 BSAV SR iVm. Nr. 1 der Anlage 3 zur BSAV SR).
28
4. Der im August 1951 geborene Kläger hatte bei Eintritt des Sicherungsfalls am 26. September 2012 auch eine nach § 1b iVm. § 30f Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BetrAVG unverfallbare Anwartschaft erworben. Er hatte sein 30. Lebensjahr vollendet und die Zusage für den Übergangszuschuss bestand ab dem 1. Januar 2001 mehr als fünf Jahre.
29
5. Der Kläger erfüllt – entgegen der Auffassung des Beklagten – die Leistungsvoraussetzungen nach Nr. 2 GBV 1981 idF der GBV 1983. Er ist zwar nicht im unmittelbaren Anschluss an seine aktive Dienstzeit in den Altersruhestand getreten. Dies führt jedoch nicht zu einem Anspruchsausschluss, da die Regelung in Nr. 2 Spiegelstrich 2 GBV 1981 idF der GBV 1983 nach § 19 Abs. 3 BetrAVG iVm. § 134 BGB nichtig ist. Denn die Anwartschaft des Klägers auf Gewährung des Übergangszuschusses war unverfallbar.
30
II. Dem Kläger steht für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 30. Juni 2015 ein Übergangszuschuss iHv. 4.627,54 Euro brutto monatlich, also insgesamt 27.765,24 Euro brutto zu.
31
1. Der Umfang der Eintrittspflicht des Beklagten für den Übergangszuschuss bestimmt sich nach § 7 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 und Satz 6 iVm. § 2 Abs. 1 BetrAVG (vgl. zur Anwendung von § 7 Abs. 2 BetrAVG in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung ausführlich BAG 20. Februar 2018 – 3 AZR 239/17 – Rn. 13 mwN). Dabei verweist § 7 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 BetrAVG auf die Berechnungsmethode in § 2 Abs. 1 BetrAVG, mit der im Fall des Ausscheidens des Arbeitnehmers mit gesetzlich unverfallbarer Betriebsrentenanwartschaft deren Höhe ermittelt wird. Jedoch tritt der Zeitpunkt des die Eintrittspflicht des Beklagten auslösenden Sicherungsfalls – hier der Insolvenzeröffnung (§ 7 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG) – an die Stelle des Zeitpunkts des Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis, wenn dieses zumindest bis zum Zeitpunkt des Sicherungsfalls fortgedauert hat (vgl. BAG 20. Februar 2018 – 3 AZR 239/17 – Rn. 18).
32
2. Die Höhe der insolvenzgeschützten Anwartschaft ist danach zeitratierlich zu berechnen. Diese Berechnung erfolgt dergestalt, dass die Dauer des Arbeitsverhältnisses von dessen Beginn bis zum Sicherungsfall in das Verhältnis gesetzt wird zur möglichen Betriebszugehörigkeit vom Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen der festen Altersgrenze. Insolvenzgeschützt ist der diesem Verhältnis entsprechende Teil der bei einer Betriebszugehörigkeit bis zur festen Altersgrenze nach der maßgeblichen Versorgungsordnung erreichbaren „fiktiven“ Vollrente (vgl. BAG 19. Juli 2011 – 3 AZR 434/09 – Rn. 17 mwN, BAGE 138, 346).
33
Die mögliche Betriebszugehörigkeit ist die Zeit vom Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zur festen Altersgrenze, sofern die Versorgungsordnung eine solche bestimmt. Regelt die Versorgungsordnung keine feste Altersgrenze, umfasst die mögliche Betriebszugehörigkeit die Zeit vom Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG). Bei der Berechnung der insolvenzgeschützten Anwartschaft gelten nach § 7 Abs. 2 Satz 6 Halbs. 1 BetrAVG die Grundsätze der Veränderungssperre und des Festschreibeeffekts. Danach bleiben Veränderungen der Versorgungsregelung und der Bemessungsgrundlagen, die nach dem Sicherungsfall eintreten, außer Betracht.
34
3. Für die Berechnung der insolvenzgeschützten Anwartschaft des Klägers auf einen Übergangszuschuss ist bei der möglichen Betriebszugehörigkeit ein Lebensalter von 65 Jahren und fünf Monaten zugrunde zu legen.
35
a) Zwar benennt die GBV 1981 selbst keinen Zeitpunkt, zu dem im Regelfall – und zwar unabhängig von den Voraussetzungen des § 6 BetrAVG – mit einer Inanspruchnahme der Betriebsrente und einem altersbedingten Ausscheiden aus dem Berufs- und Erwerbsleben zu rechnen ist. Da der Übergangszuschuss aber nach der Pensionierung gezahlt werden muss, ist die in Nr. 4.6.2 Anlage 1 zur BSAV SR geregelte Altersgrenze der Vollendung des 65. Lebensjahres maßgeblich. Mit dieser haben die Betriebsparteien – wie der Klammerzusatz in Nr. 4.6.2 Spiegelstrich 1 zeigt – eine feste Altersgrenze bestimmt.
36
b) Gemäß Nr. 6 und Nr. 2 Anlage 1 zur BSAV SR iVm. Nr. 3 und Nr. 4 BSAV SR ist die Regelung am 1. Oktober 2005 und somit deutlich vor Inkrafttreten des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) am 1. Januar 2008 vereinbart worden. Insoweit tritt anstelle der ausdrücklich genannten Grenze des 65. Lebensjahres die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (ausführlich hierzu vgl. BAG 15. Mai 2012 – 3 AZR 11/10 – Rn. 48 bis 52 mwN, BAGE 141, 259) und damit im Fall des im August 1951 geborenen Klägers ein Lebensalter von 65 Jahren und fünf Monaten (§ 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
37
4. Bei einer tatsächlichen Betriebszugehörigkeit vom 7. November 1971 bis zum 26. September 2012 und damit von (aufgerundet) 491 Monaten und einer möglichen Betriebszugehörigkeit vom 7. November 1971 bis zum 10. Januar 2017 und damit (abgerundet) 541 Monaten beträgt der Zeitwertfaktor 0,907579. Ausgehend von einem monatlichen Entgelt iHv. 5.582,93 Euro brutto ergibt dies 5.066,95 Euro brutto (5.582,93 Euro x 0,907579). Davon ist die – bereits zeitratierlich gekürzte – monatliche SAF-Rente iHv. 439,41 Euro brutto abzuziehen, sodass sich ein monatlicher Übergangszuschuss von 4.627,54 Euro brutto errechnet.
38
III. Der Anspruch auf Verzugszinsen folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 BGB iVm. § 614 Satz 2 BGB. Die monatlichen Übergangszuschüsse sind jeweils ab dem zweiten Tag des Folgemonats mit einem Zinssatz von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.
39
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Zwanziger
Spinner
Wemheuer
Lohre
Rau |
bag_13-19 | 14.03.2019 | 14.03.2019
13/19 - Insolvenzrechtlicher Rang eines Abfindungsanspruchs nach §§ 9, 10 KSchG
Macht erst der Insolvenzverwalter einen Antrag auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 KSchG rechtshängig und löst das Gericht das Arbeitsverhältnis daraufhin auf, ist der Anspruch auf Abfindung nach § 10 KSchG eine Masseverbindlichkeit, die nach § 53 InsO vorweg zu berichtigen, also wie geschuldet in voller Höhe zu erfüllen ist. Das gilt auch dann, wenn die der Auflösung zugrunde liegende Kündigung noch vom späteren Insolvenzschuldner erklärt worden ist.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2014 kündigte die spätere Insolvenzschuldnerin das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 15. Januar 2015. Während des erstinstanzlichen Kündigungsschutzverfahrens kündigte sie in einem an den Klägeranwalt vom Arbeitsgericht formlos übersandten Anwaltsschriftsatz vom 26. Januar 2015 den Hilfsantrag an, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. April 2015 hat der Kläger das unterbrochene Verfahren gegen den zum Insolvenzverwalter bestellten Beklagten aufgenommen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 9. Juni 2016 hat der Beklagte auch den Auflösungsantrag „vom 26.01.2015“ gestellt. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben und das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 1.558,75 Euro aufgelöst, die „zur Insolvenztabelle festgestellt wird“. Das Landesarbeitsgericht hat die auf die insolvenzrechtliche Einordnung des Abfindungsanspruchs beschränkte Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger weiterhin die Zahlung des Abfindungsanspruchs als Masseverbindlichkeit. Die Antragstellung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung stelle die maßgebliche Handlung dar, auf der die Auflösung des Arbeitsverhältnisses und damit der Abfindungsanspruch beruhten. Demgegenüber hat der Beklagte den Standpunkt vertreten, sowohl die Kündigungserklärung als auch die erstmalige Einführung des Auflösungsantrags in den Prozess als maßgebliche Handlungen seien durch die Insolvenzschuldnerin erfolgt.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Mangels Zustellung hat nicht schon der Schriftsatz der späteren Insolvenzschuldnerin vom 26. Januar 2015, in dem der Auflösungsantrag angekündigt war, zu dessen Rechtshängigkeit geführt. Diesbezüglich war auch keine Heilung eingetreten. Den Auflösungsantrag als die für die insolvenzrechtliche Einordnung maßgebliche Handlung hat erstmals der beklagte Insolvenzverwalter in der mündlichen Verhandlung des Arbeitsgerichts vom 9. Juni 2016 rechtshängig gemacht (§ 261 Abs. 2 1. Alt. ZPO).
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. März 2019 – 6 AZR 4/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. April 2017 – 4 Sa 329/16 – | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. April 2017 – 4 Sa 329/16 – aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern – Auswärtige Kammern Pirmasens – vom 9. Juni 2016 – 6 Ca 572/15 – unter Ziffer 3 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine Abfindung in Höhe von 1.558,75 Euro als Neumasseverbindlichkeit zu zahlen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger 25 % und der Beklagte 75 % zu tragen. Die Kosten der Berufung sowie der Revision hat der Beklagte zu tragen.
Leitsatz
Eine durch Auflösungsurteil zuerkannte Abfindung ist immer dann eine Masseverbindlichkeit iSd. § 55 Abs. 1 Satz 1 InsO, wenn der Insolvenzverwalter das durch § 9 Abs. 1 KSchG eingeräumte Gestaltungsrecht selbst ausübt, indem er erstmals den Auflösungsantrag stellt oder diesen erstmals prozessual wirksam in den Prozess einführt. Um eine bloße Insolvenzforderung iSd. § 38 InsO handelt es sich demgegenüber, wenn der Insolvenzverwalter lediglich den von ihm vorgefundenen, bereits rechtshängigen Antrag des Schuldners weiterverfolgt und an dem so schon von diesem gelegten Rechtsgrund festhält.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten nach gerichtlicher Auflösung des Arbeitsverhältnisses noch über den insolvenzrechtlichen Rang des im Auflösungsurteil zugesprochenen Abfindungsanspruchs.
2
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2014 kündigte die spätere Schuldnerin, die K GmbH & Co. KG, das Arbeitsverhältnis des Klägers, der leitender Angestellter war, zum 15. Januar 2015. Während des erstinstanzlichen Kündigungsschutzverfahrens beantragte die spätere Schuldnerin in einem an den Klägeranwalt vom Arbeitsgericht formlos übersandten Anwaltsschriftsatz vom 26. Januar 2015 hilfsweise, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Im Insolvenzantragsverfahren über das Vermögen der Schuldnerin erließ das Amtsgericht Zweibrücken am 29. Januar 2015 (- 1 IN 4/15 -) einen Beschluss, wonach Verfügungen der späteren Schuldnerin nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam waren. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. April 2015 hat der Kläger das zwischenzeitlich unterbrochene Verfahren gegen den zum Insolvenzverwalter bestellten Beklagten aufgenommen. Mit Schriftsatz vom 8. April 2016 hat der Beklagte erklärt, an dem Auflösungsantrag festzuhalten, wobei ein Abfindungsanspruch allenfalls zur Insolvenztabelle aufzunehmen sei. Der Kläger ist dem Auflösungsantrag entgegengetreten. Das Arbeitsgericht hat, nachdem der Beklagte die Masseunzulänglichkeit angezeigt hatte, mit Urteil vom 9. Juni 2016 der Kündigungsschutzklage stattgegeben und das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung von 1.558,75 Euro aufgelöst, die „zur Insolvenztabelle festgestellt wird“. Ausschließlich diese insolvenzrechtliche Einordnung des Abfindungsanspruchs hat der Kläger mit seiner Berufung angegriffen.
3
Er hat die Auffassung vertreten, bei der Abfindung handele es sich um eine Masseverbindlichkeit. Der Beklagte habe den bereits anhängigen Kündigungsschutzprozess weiter betrieben und an dem angekündigten Auflösungsantrag festgehalten. In der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2016 habe er diesen sodann iSd. § 137 Abs. 1 ZPO gestellt. Das sei die maßgebliche Handlung für die insolvenzrechtliche Einordnung des Abfindungsanspruchs. Unerheblich sei, dass die Kündigung noch von der Insolvenzschuldnerin vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erklärt worden sei. Die streitgegenständliche Abfindung könne auch deswegen keine Insolvenzforderung sein, weil der anspruchsbegründende Tatbestand vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht abgeschlossen gewesen sei. Davon sei im Falle des bei gerichtlicher Auflösung des Arbeitsverhältnisses festgesetzten Abfindungsanspruchs erst mit Erlass des konstitutiv wirkenden Auflösungsurteils auszugehen.
4
Der Kläger hat, soweit für die Revision relevant, beantragt,
die Abfindung in Höhe von 1.558,75 Euro als Masseverbindlichkeit zu zahlen.
5
Der Beklagte hat an seiner Ansicht festgehalten, der Abfindungsanspruch stelle eine Insolvenzforderung dar. Er beruhe nicht auf einer Handlung seinerseits. Vielmehr habe bereits die Schuldnerin den Rechtsgrund gelegt, indem sie die Kündigung erklärt habe. Zudem habe diese bereits im Schriftsatz vom 26. Januar 2015 den Auflösungsantrag gestellt.
6
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger weiterhin die Zahlung des Abfindungsanspruchs als Masseverbindlichkeit.
Entscheidungsgründe
7
Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts sowie zur teilweisen Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts. Der Beklagte ist verpflichtet, die vom Arbeitsgericht aufgrund der Auflösung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2, § 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG festgesetzte Abfindung an den Kläger zu zahlen. Bei ihr handelt es sich um eine Neumasseverbindlichkeit.
8
I. Die Revision ist zulässig. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigte Auslegung seines Vorbringens ergibt, dass er im Rahmen seines Rechtsmittels einen gegen die Masse durchsetzbaren Zahlungsanspruch erstreiten will (vgl. zur Auslegung von Klageanträgen zuletzt BAG 2. August 2018 – 6 AZR 188/17 – Rn. 17 mwN). Er macht damit im Hinblick auf die Abfindung geltend, dass es sich um eine Neumasseverbindlichkeit iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO handelt. Eine solche unterliegt keinem Vollstreckungsverbot (vgl. §§ 89, 90, 123 Abs. 3 Satz 2, § 210 InsO), sondern ist vorweg aus der Insolvenzmasse zu befriedigen, § 53 InsO.
9
Ob es sich bei der Abfindung materiell um eine Insolvenzforderung, Altmasse- oder Neumasseverbindlichkeit handelt, wirkt sich auf die Zulässigkeit eines dem Kläger als Gegner des Auflösungsantrags zustehenden Rechtsmittels nicht aus. Ebenso wie im Falle einer im Rahmen eines Aktivprozesses geführten Zahlungsklage (vgl. dazu BAG 22. Februar 2018 – 6 AZR 868/16 – Rn. 10, BAGE 162, 58; 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 13 mwN, BAGE 158, 376) ist das Rechtsmittel, sofern sich der Arbeitnehmer auf eine vorweg zu berichtigende Masseverbindlichkeit iSd. §§ 53, 55 InsO oder eine Neumasseverbindlichkeit nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO beruft, nicht unzulässig, sondern unbegründet, wenn es sich in Wirklichkeit um eine Insolvenzforderung oder eine Altmasseverbindlichkeit handelt.
10
II. Die Revision ist begründet. Der Beklagte hat die Abfindung in Höhe von 1.558,75 Euro aus der Insolvenzmasse zu zahlen.
11
1. Die als Prozessfortsetzungsbedingung vom Senat von Amts wegen zu prüfende Zulässigkeit der Berufung (vgl. zuletzt BAG 14. März 2017 – 9 AZR 633/15 – Rn. 9) ist gegeben. Der Kläger ist durch die entgegen seines Abweisungsantrags vom Arbeitsgericht getroffene „Feststellung der Abfindung zur Insolvenztabelle“ beschwert. Mit seiner Berufung hat er sich hiergegen gewandt und darüber hinaus geltend gemacht, die vom Arbeitsgericht aufgrund der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zuerkannte Abfindung stelle eine Neumasseverbindlichkeit dar, deren Zahlung er beanspruchen könne.
12
2. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Unzutreffend hat das Landesarbeitsgericht die vom Arbeitsgericht getroffene Feststellung der Abfindung zur Insolvenztabelle bestätigt. Dabei ist es rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass es sich bei der nach § 9 Abs. 1 Satz 2, § 10 Abs. 1, § 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG ausgeurteilten Abfindung im vorliegenden Fall um eine Insolvenzforderung gemäß § 38 InsO handelt. Sie stellt vielmehr eine Neumasseverbindlichkeit iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO dar. Das kann der Senat selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO).
13
a) Insolvenzforderungen sind zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Forderungen des Gläubigers gegen den Schuldner (§ 38 InsO). Der Zeitpunkt der Entstehung der Forderung sowie deren Fälligkeit sind für diese Einordnung unmaßgeblich. Entscheidend ist, dass ihr Rechtsgrund zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bereits gelegt war bzw. der den Anspruch begründende Tatbestand bereits vor der Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen war (BAG 25. Januar 2018 – 6 AZR 8/17 – Rn. 12, BAGE 161, 368; BGH 22. September 2011 – IX ZB 121/11 – Rn. 3; Uhlenbruck/Sinz 15. Aufl. Bd. 1 § 38 InsO Rn. 26). Wurde der anspruchsbegründende Tatbestand vor Insolvenzeröffnung abgeschlossen, ist eine Forderung mithin auch dann Insolvenzforderung, wenn sie sich erst nach Beginn des Insolvenzverfahrens ergibt bzw. tituliert wird (KPB/Holzer InsO Stand November 2017 § 38 Rn. 7).
14
Korrespondierend zu § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sind Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO solche Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören (BAG 22. Februar 2018 – 6 AZR 868/16 – Rn. 13, BAGE 162, 58; BGH 29. April 2004 – IX ZR 141/03 – zu II 2 a der Gründe). Der Gesetzgeber wollte mit dieser Formulierung in Abgrenzung zu § 59 Abs. 1 Nr. 1 KO verdeutlichen, dass es auf die „Begründung“ der Verbindlichkeit und nicht auf ihre möglicherweise später liegende „Entstehung“ ankommt (vgl. Amtliche Begründung zum Regierungsentwurf einer Insolvenzordnung BT-Drs. 12/2443 S. 126). Nur dann, wenn der Insolvenzverwalter durch seine Handlung, die auch in einem Unterlassen liegen kann (BAG 27. April 2006 – 6 AZR 364/05 – Rn. 17, BAGE 118, 115; vgl. Amtliche Begründung zum Regierungsentwurf einer Insolvenzordnung BT-Drs. 12/2443 S. 126), die Grundlage der Verbindlichkeit schafft, begründet er eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO bzw. – nach angezeigter Masseunzulänglichkeit – eine Neumasseverbindlichkeit nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO (vgl. BAG 27. April 2006 – 6 AZR 364/05 – Rn. 15, aaO). In der Praxis werden Masseverbindlichkeiten vom Insolvenzverwalter durch „Handlungen“ vorrangig durch für die Masse abgeschlossene Rechtsgeschäfte begründet (MünchKommInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 55 Rn. 21; vgl. für § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO Giesen in Jaeger InsO Vor § 113 Rn. 266), die grundsätzlich das Ziel haben, der Masse etwas zuzuführen (BAG 6. September 2018 – 6 AZR 367/17 – Rn. 18; 25. Januar 2018 – 6 AZR 8/17 – Rn. 19, BAGE 161, 368).
15
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist eine Abfindung nur dann als (Neu-)Masseverbindlichkeit zu qualifizieren, wenn sie durch ein Verhalten des Insolvenzverwalters nach Verfahrenseröffnung bzw. nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit – etwa durch Abschluss eines gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs – begründet wird (zu §§ 57, 59 Abs. 1 Nr. 1 KO BAG 12. Juni 2002 – 10 AZR 180/01 – zu II 2 der Gründe, BAGE 101, 307). In diesem Fall werden nicht nur alte, vom Schuldner begründete Verbindlichkeiten abgewickelt (Altgeschäft, vgl. dazu: BAG 25. Januar 2018 – 6 AZR 8/17 – Rn. 19, BAGE 161, 368; Uhlenbruck/Sinz 15. Aufl. Bd. 1 § 55 InsO Rn. 8), sondern es liegt ein Neugeschäft iSd. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor. Zwar fließt dadurch der Masse kein Vermögen zu. Der Insolvenzverwalter schafft aber eine neue, bisher nicht bestehende Rechtsgrundlage für die Abfindung. Dies führt in dem nach § 108 Abs. 1 InsO fortbestehenden Arbeitsverhältnis zu einer neuen, nicht bereits vom Schuldner begründeten Verbindlichkeit (vgl. RFJK/Fanselow/Kreplin 2. Aufl. § 4 Rn. 154), die mit der zugleich vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses Planungssicherheit schafft und die Masse entlastet. In der Folge steht die Abfindung im Rang einer Masseverbindlichkeit (vgl. Uhlenbruck/Sinz aaO; aA Windel Anm. AP KO § 59 Nr. 47 zu II 2). Das gilt insbesondere dann, wenn die Abfindung durch einen (gerichtlichen) Vergleich begründet wird. Unabhängig davon, ob mit dem Vergleich eine Schuldumschaffung (Novation) beabsichtigt war, verändert dieser das ursprüngliche Rechtsverhältnis, soweit dadurch streitige oder ungewisse Punkte geregelt werden (BAG 27. August 2014 – 4 AZR 999/12 – Rn. 31, BAGE 149, 60). Insoweit stellt der Vergleich keine bloße Nebenabrede zum bereits bestehenden Arbeitsverhältnis dar, sondern tritt als selbständiges Rechtsverhältnis neben dieses (BGH 5. Juli 2018 – IX ZR 167/15 – Rn. 11).
16
c) Individual- oder kollektivvertragliche Abfindungsklauseln, die zwischen dem Schuldner und Arbeitnehmern bzw. zwischen dem Schuldner und dem Betriebsrat oder der Gewerkschaft vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vereinbart werden, beruhen dagegen nicht auf einer Handlung des Insolvenzverwalters. Abfindungsansprüche aus solchen Klauseln sind daher Insolvenzforderungen. Es handelt sich um Ansprüche, deren Grund schon vor der Eröffnung des Verfahrens gelegt worden ist. Auch wenn der konkrete Anspruch regelmäßig erst mit Kündigung oder Ausscheiden des Arbeitnehmers entsteht, wurde bereits vor Verfahrenseröffnung mit Abschluss der individual- oder kollektivvertraglichen Regelung eine durch den Kündigungsfall aufschiebend bedingte Forderung begründet. Diese steht darum grundsätzlich im Rang einer Insolvenzforderung nach § 38 InsO. Die Erstarkung des Anwartschaftsrechts auf eine Abfindung zum Vollrecht führt selbst dann, wenn die Bedingung erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. Anzeige der Masseunzulänglichkeit eintritt und der Anspruch erst in diesem Zeitpunkt entsteht oder fällig wird, nicht zur Begründung einer (Neu-)Masseverbindlichkeit. In diesen Fällen besteht der „Schuldrechtsorganismus“ insolvenzrechtlich betrachtet bereits vor Verfahrenseröffnung, selbst wenn sich eine Forderung daraus erst nach diesem Zeitpunkt ergibt (vgl. BAG 25. Januar 2018 – 6 AZR 8/17 – Rn. 12, BAGE 161, 368; 12. September 2013 – 6 AZR 980/11 – Rn. 35, BAGE 146, 64; 27. September 2007 – 6 AZR 975/06 – Rn. 21, BAGE 124, 150; 27. April 2006 – 6 AZR 364/05 – Rn. 15, BAGE 118, 115; 31. Juli 2002 – 10 AZR 275/01 – zu II 1 b der Gründe, BAGE 102, 82; 25. Februar 1981 – 5 AZR 922/78 – BAGE 35, 98; vgl. auch BGH 15. September 2016 – IX ZR 250/15 – Rn. 17).
17
d) Entscheidend für den insolvenzrechtlichen Rang einer durch Auflösungsurteil zuerkannten Abfindung ist nach diesen Grundsätzen, zu welchem Zeitpunkt die Grundlage für den Abfindungsanspruch geschaffen worden ist.
18
aa) Das ist entgegen der Annahme des Klägers nicht erst im Zeitpunkt des Erlasses des Urteils, mit welchem das Arbeitsgericht den Abfindungsanspruch endgültig zuerkennt, oder dessen Rechtskraft der Fall. Zwar entsteht der Abfindungsanspruch (auflösend bedingt) erst mit der Festsetzung im Urteil und wird frühestens zum Zeitpunkt des festgesetzten Endes des Arbeitsverhältnisses fällig (BAG 9. Dezember 1987 – 4 AZR 561/87 – juris-Rn. 16, BAGE 57, 120; aA APS/Biebl 5. Aufl. KSchG § 10 Rn. 41). Das Auflösungsurteil an sich ist jedoch insolvenzrechtlich betrachtet nicht der anspruchsbegründende Tatbestand. Als Gestaltungsurteil (vgl. BAG 20. August 1980 – 5 AZR 227/79 – zu III 2 c der Gründe, BAGE 34, 128) ist es lediglich die Folge eines gestellten Auflösungsantrags im Falle einer sozialwidrigen Kündigung. Ihm liegt der materiell-rechtliche Anspruch des Antragstellers auf Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Zahlung einer Abfindung zugrunde. Sofern dessen Voraussetzungen vorliegen, hat das Arbeitsgericht das Arbeitsverhältnis aufzulösen, ohne dass – auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG – insoweit ein Ermessen besteht (vHH/L/Linck 15. Aufl. § 9 Rn. 5). Im Interesse der Rechtssicherheit hat der Gesetzgeber jedoch angeordnet, dass dieser Anspruch, anders als es bei Gestaltungsrechten regelmäßig der Fall ist, nicht durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt werden darf (vgl. dazu BAG 21. März 2013 – 6 AZR 618/11 – Rn. 15). Vielmehr ist der Berechtigte zur Durchsetzung seines Anspruchs auf Rechtsgestaltung auf eine Klage verwiesen (vgl. BAG 15. Januar 1980 – 6 AZR 361/79 – zu II 4 der Gründe, BAGE 32, 285; Stein/Jonas/Roth ZPO 23. Aufl. vor § 253 Rn. 88, 103). Korrelierend dazu sind die Arbeitsgerichte nicht berechtigt, das Arbeitsverhältnis ohne entsprechenden Antrag von Amts wegen aufzulösen (vgl. BAG 28. Januar 1961 – 2 AZR 482/59 – zu II 3 der Gründe; KR/Spilger 11. Aufl. § 9 KSchG Rn. 18). Grundlage für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses unter Begründung eines Abfindungsanspruchs ist also die Ausübung des dem Antragsteller unter den Voraussetzungen der § 9 Abs. 1, § 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG eingeräumten Gestaltungsrechts.
19
Dem steht die Entscheidung des Landgerichts Detmold vom 12. Februar 1997 (- 2 T 440/96 -) nicht entgegen. Im dort zu entscheidenden Fall ging es im Rahmen eines im Vollstreckungsverfahren eingelegten Rechtsmittels lediglich um die Auslegung eines Urteilstenors. Eine inhaltliche Überprüfung des gerichtlichen Urteils als Vollstreckungstitel erfolgte indes nicht.
20
bb) Auch die Entstehung der Auflösungsgründe stellt kein geeignetes Abgrenzungsmerkmal dar (so aber Arnold in Thüsing/Rachor/Lembke KSchG 4. Aufl. § 10 Rn. 35). Mit ihrem Vorliegen allein besteht aus insolvenzrechtlicher Sicht noch nicht einmal zwingend der „Schuldrechtsorganismus“ für den Abfindungsanspruch. Dazu bedarf es, wie ausgeführt, der gerichtlichen Geltendmachung des von § 9 Abs. 1, § 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG eingeräumten Gestaltungsrechts. Erst im Zusammenspiel von sozialwidriger Kündigung und Auflösungsantrag kommen eine gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses und damit ein Abfindungsanspruch überhaupt in Betracht. Auf das Entstehen der Auflösungsgründe kann es in Fällen wie dem vorliegenden ohnehin nicht ankommen, weil der Auflösungsantrag des Arbeitgebers aufgrund der Eigenschaft des Arbeitnehmers als leitender Angestellter nach § 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG keiner Begründung bedarf und daher Auflösungsgründe nicht vorliegen (müssen).
21
cc) Entgegen einer im insolvenzrechtlichen Schrifttum weit verbreiteten Ansicht (Gottwald/Bertram Insolvenzrechts-Handbuch 5. Aufl. § 107 Rn. 39; Braun/Bäuerle/Schneider InsO 7. Aufl. § 55 Rn. 66; Henckel in Jaeger InsO § 55 Rn. 68; KPB/Pape/Schaltke InsO Stand November 2010 § 55 Rn. 183; MAH ArbR/Boewer 4. Aufl. § 48 Rn. 386; MünchKommInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 55 Rn. 189 aE; im Ergebnis ebenso Windel Anm. AP KO § 59 Nr. 47 zu II 2; in diesem Sinne wohl auch KR/Spilger 11. Aufl. § 10 KSchG Rn. 23 f.) kommt es für die Abgrenzung zwischen Insolvenzforderungen und (Neu-)Masseverbindlichkeiten auch nicht darauf an, ob die Kündigung noch vom Schuldner (dann Insolvenzforderung) oder vom Insolvenzverwalter (dann Masseverbindlichkeit) erklärt worden ist. Abfindungsansprüche nach §§ 9, 10 KSchG sind vielmehr immer dann Masseverbindlichkeiten, wenn erstmals der Insolvenzverwalter den Auflösungsantrag stellt (L/S/S/W/Spinner KSchG 11. Aufl. § 10 Rn. 25; Giesen in Jaeger InsO Vor § 113 Rn. 62; Däubler/Deinert/Zwanziger/Zwanziger/Callsen KSchR 10. Aufl. § 10 KSchG Rn. 34 mit der zusätzlichen Voraussetzung, dass der Insolvenzverwalter einen bereits anhängigen Kündigungsschutzprozess weiter betreibt – unter Verweis auf LG Detmold 12. Februar 1997 – 2 T 440/96 -; in diesem Sinne für § 59 Abs. 1 Nr. 1 KO bereits BAG 12. Juni 2002 – 10 AZR 180/01 – zu II 2 b cc der Gründe, BAGE 101, 307).
22
Der Anspruch auf eine Abfindung nach §§ 9, 10 KSchG wird nicht schon durch und mit der sozialwidrigen Kündigung abschließend begründet. Insoweit unterscheidet sich dieser Anspruch von den Fällen einer individualvertraglichen oder tariflichen Abfindungsvereinbarung, die durch den Schuldner vor Insolvenzeröffnung geschlossen wird und unter der aufschiebenden Bedingung einer nachfolgenden Kündigungserklärung steht. Bei derartigen Vereinbarungen ist der rechtsbegründende Akt vollständig vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeschlossen. Die spätere Kündigung durch den Insolvenzverwalter ist daher keine Handlung iSd. § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO, sondern bloße Abwicklung einer bereits vom Schuldner begründeten Verbindlichkeit. Die Abfindung steht darum im Rang einer Insolvenzforderung. Für die nach §§ 9, 10 KSchG in einem Auflösungsurteil festgesetzte Abfindung ist die Kündigung allein jedoch nicht abschließend rechtsbegründend. Bei dem Anspruch auf Aufhebung des Arbeitsverhältnisses handelt es sich vielmehr, wie ausgeführt (Rn. 18), um ein Gestaltungsrecht, das zu seiner Durchsetzung des Stellens eines Auflösungsantrags bedarf. Wird dieses Gestaltungsrecht noch vom späteren Schuldner dadurch ausgeübt, dass er vor Insolvenzeröffnung die erforderliche Gestaltungsklage erhebt, handelt es sich bei der nach Verfahrenseröffnung im Auflösungsurteil festgesetzten Abfindung um eine Insolvenzforderung. Verfolgt der Insolvenzverwalter nach Aufnahme des Kündigungsschutzprozesses lediglich den von ihm vorgefundenen Antrag weiter und hält damit an dem bereits vom Schuldner gelegten Rechtsgrund fest, liegt ein „Altgeschäft“ vor. Hält der Insolvenzverwalter den Auflösungsantrag nicht aufrecht, stellt sich das Problem der insolvenzrechtlichen Einordnung eines Abfindungsanspruchs nicht. Übt dagegen der Insolvenzverwalter selbst das Gestaltungsrecht aus, indem er erstmals den Auflösungsantrag stellt oder diesen erstmals prozessual wirksam in den Prozess einführt, begründet er durch dieses Neugeschäft eine Masseverbindlichkeit iSv. § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO.
23
e) Danach handelt es sich vorliegend um eine Neumasseverbindlichkeit iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Den Auflösungsantrag als rechtsbegründende Handlung, auf dessen Grundlage das Arbeitsgericht das Arbeitsverhältnis aufgelöst hat, hat aufgrund der prozessualen Besonderheiten des vorliegenden Falls erstmals der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 9. Juni 2016 wirksam in den Prozess eingeführt. Erst durch die in diesem Termin erfolgte Antragstellung ist die Gestaltungsklage rechtshängig und damit das dem Arbeitgeber von § 9 Abs. 1, §§ 10, 14 Abs. 2 Satz 2 KSchG eingeräumte Gestaltungsrecht prozessual wirksam ausgeübt worden.
24
aa) Das folgt allerdings entgegen der Annahme der Revision nicht bereits aus dem Umstand, dass aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Zweibrücken vom 29. Januar 2015 (- 1 IN 4/15 -) Verfügungen der Insolvenzschuldnerin nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam waren. Verfügungen iSd. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO sind nur Rechtshandlungen, die unmittelbar auf das Vermögen des Schuldners einwirken (BGH 25. Oktober 2007 – IX ZR 217/06 – Rn. 19, BGHZ 174, 84; vgl. auch BGH 18. Juli 2002 – IX ZR 195/01 – zu III 2 c bb der Gründe, BGHZ 151, 353). An einer solchen Unmittelbarkeit fehlt es im Falle des Auflösungsantrags.
25
bb) Zwar hat die Schuldnerin bereits mit Schriftsatz vom 26. Januar 2015 die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses begehrt. Mangels Zustellung dieses Schriftsatzes an den Kläger ist die damit nur anhängige Gestaltungsklage aber nicht rechtshängig geworden. Auch eine Heilung nach § 189 ZPO kommt nicht in Betracht.
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(1) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist der Senat nicht gehindert, die fehlende Rechtshängigkeit des im Schriftsatz vom 26. Januar 2015 enthaltenen Auflösungsantrags zu berücksichtigen. Im Revisionsverfahren sind die Prozessvoraussetzungen und die Prozessfortsetzungsbedingungen von Amts wegen zu prüfen, die – wie die Rechtshängigkeit – „echte Sachurteilsvoraussetzungen“ (Voraussetzungen für eine Sachentscheidung über die in Anspruch genommene Rechtsfolge) bilden. Das gilt zumindest dann, wenn diese Sachurteilsvoraussetzungen im öffentlichen Interesse liegen (vgl. BGH 21. Juni 1976 – III ZR 22/75 – zu II 2 der Gründe). Das bedeutet nicht nur, dass eine Rüge des Revisionsklägers entbehrlich ist. Vielmehr heißt das auch, dass das Revisionsgericht insoweit an den vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt nicht gebunden ist. Das Revisionsgericht muss daher die Prozessvoraussetzung (Prozessfortsetzungsbedingung) in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht prüfen; es ist befugt, selbst Beweise zu erheben und zu würdigen, also die zur Entscheidung erforderlichen Tatsachen für den entscheidungserheblichen Zeitpunkt festzustellen (vgl. BGH 21. Juni 1976 – III ZR 22/75 – zu II 3 der Gründe mwN; für die Rechtshängigkeit RG 17. Mai 1939 – II 200/38 – RGZ 160, 338, 348; für die Zulässigkeit der Berufung zuletzt BAG 14. März 2017 – 9 AZR 633/15 – Rn. 9).
27
(2) Der Schriftsatz vom 26. Januar 2015 ist dem Kläger bzw. dessen damaliger Prozessbevollmächtigter nicht zugestellt worden. In der Gerichtsakte findet sich kein den Vorgaben der §§ 166 ff. ZPO genügender Zustellvermerk. Vielmehr weist das Original des Schriftsatzes vom 26. Januar 2015 nur einen Abvermerk vom 4. Februar 2015 auf, wonach die Abschrift formlos an die Prozessbevollmächtigte des Klägers übersandt worden ist. Darauf hat der Senat mit Schreiben vom 4. Dezember 2018 hingewiesen. Der Beklagte hat nicht geltend gemacht, dass entgegen der Aktenlage eine förmliche Zustellung erfolgt sei.
28
(3) Im vorliegenden Fall scheidet auch eine Heilung nach § 189 ZPO aus. Eine solche setzt voraus, dass das Gericht mit Zustellwillen gehandelt hat (vgl. BAG 28. Februar 2008 – 3 AZB 56/07 – Rn. 9 mwN; Zöller/Schultzky ZPO 32. Aufl. § 189 Rn. 2). Ausweislich des in der Gerichtsakte befindlichen Abvermerks vom 4. Februar 2015 hat das Arbeitsgericht nur die formlose Übersendung des Schriftsatzes vom 26. Januar 2015 an den Kläger verfügt. Aus diesem Grund kommt es entgegen der Ansicht des Beklagten nicht darauf an, dass und wann dieser Schriftsatz dem Kläger tatsächlich zugegangen ist (vgl. BGH 17. Mai 2001 – IX ZR 256/99 – Rn. 21 ff.).
29
cc) Ungeachtet der Frage, ob der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 8. April 2016 vor dem Hintergrund der Formulierung, er halte an dem Auflösungsantrag fest, einen solchen eigenständig überhaupt stellen wollte, war zu diesem Zeitpunkt aus den in Rn. 25 ff. ausgeführten Gründen noch keine Rechtshängigkeit eingetreten. Das Arbeitsgericht hat auch hier ausweislich des Abvermerks vom 21. April 2016 lediglich eine formlose Übersendung veranlasst.
30
dd) Der Auflösungsantrag ist nach alledem erst durch die Antragstellung des Beklagten im Kammertermin des Arbeitsgerichts vom 9. Juni 2016 rechtshängig geworden (§ 261 Abs. 2 Alt. 1 ZPO). Erst in dieser Verhandlung ist der mit der Gestaltungsklage verfolgte, während des laufenden Prozesses erhobene Anspruch auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung durch Verlesen aus dem vorbereitenden Schriftsatz des Schuldners vom 26. Januar 2015 „geltend gemacht“ worden (§ 297 Abs. 1 Satz 1 ZPO; BGH 17. Mai 2001 – IX ZR 256/99 – Rn. 21 ff.; Zöller/Greger ZPO 32. Aufl. § 261 Rn. 6). Zu diesem Zeitpunkt war das Insolvenzverfahren bereits eröffnet. Auch hatte der Beklagte nach den von keiner Seite angegriffenen und damit den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 ZPO) zuvor die Masseunzulänglichkeit gemäß § 208 InsO angezeigt. Der Abfindungsanspruch stellt aus diesem Grund eine Neumasseverbindlichkeit dar.
31
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Spelge
Krumbiegel
Heinkel
M. Jostes
M. Werner |
bag_13-20 | 13.05.2020 | 13.05.2020
13/20 - "Große Station" iSd. Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA
Eine „große Station“ iSd Tätigkeitsmerkmals des TVöD/VKA liegt regelmäßig vor, wenn der Stationsleitung mehr als 12 Vollzeitkräfte fachlich unterstellt sind. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände kann bei einer solchen Anzahl unterstellter Beschäftigter das Tarifmerkmal „große Station“ verneint werden. Umgekehrt leitet eine Stationsleitung bei einer geringeren Anzahl unterstellter Vollzeitbeschäftigter regelmäßig keine „große Station“. Ausnahmen kommen in Betracht, wenn sich die Station ihrer Struktur nach aus anderen Gründen als „groß“ im Tarifsinn darstellt.
Die Beklagte, ein Kommunalunternehmen des öffentlichen Rechts, betreibt eine Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Die Klägerin ist dort als Stationsleitung der Station Soziotherapie und Schizophrenie tätig. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes (TVöD) im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) Anwendung. Die Klägerin wird nach Entgeltgruppe P 12 der Anlage 1, Teil B Abschnitt XI 2 zum TVöD/VKA* vergütet. Ihr sind nach den Annahmen des Landesarbeitsgerichts nicht mehr als 12 Vollzeitbeschäftigte unterstellt. Mit ihrer Klage begehrt sie für die Zeit ab dem 1. Januar 2017 eine Vergütung nach Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen.
Die Revision der Klägerin vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte Erfolg. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung konnte die Klage nicht abgewiesen werden. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts gibt es bei der tariflichen Unterscheidung zwischen einer Station und einer „großen Station“ keine feste Grenze einer bestimmten Anzahl von unterstellten Beschäftigten. Zwar handelt es sich regelmäßig um eine „große Station“, wenn der Stationsleitung umgerechnet mehr als 12 Vollzeitkräfte im Sinne der Vorbemerkung Nr. 9 zur Anlage 1 Entgeltordnung (VKA) zum TVöD/VKA fachlich unterstellt sind. Da Teilzeitbeschäftigte nach dieser Vorbemerkung entsprechend dem Verhältnis ihrer Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten zu berücksichtigen sind, ist dies ab 12,01 Vollzeitäquivalenten der Fall. Mangels starren Grenzwerts („in der Regel“) kann bei Vorliegen besonderer Umstände im Einzelfall aber auch bei umgerechnet mehr als 12 unterstellten Vollzeitbeschäftigten das Tarifmerkmal „große Station“ verneint werden. Gleiches gilt im umgekehrten Fall: Sind einer Stationsleitung nur bis zu 12,00 Vollzeitbeschäftigte unterstellt, leitet diese regelmäßig keine „große Station“. Ausnahmen kommen im Einzelfall in Betracht, wenn sich die Station aus anderen Gründen, beispielsweise aufgrund einer hohen Anzahl unterstellter Teilzeitbeschäftigter, einer großen Anzahl von zu pflegenden Patienten oder aufgrund der räumlichen Lage und Größe als „groß“ im Tarifsinn darstellt.
Der Senat konnte mangels hinreichender Feststellungen zu den tatsächlichen Gegebenheiten in der Klinik der Beklagten nicht selbst entscheiden, ob die Station trotz Unterstellung von nicht mehr als 12 Vollzeitbeschäftigten aufgrund anderer Umstände ausnahmsweise als große Station im Tarifsinn anzusehen ist. Darüber hinaus steht noch nicht fest, ob die Klägerin bei der von ihr auszuübenden Tätigkeit ein höheres Maß von Verantwortlichkeit iSd. Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA trägt. Dies führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Mai 2020 – 4 AZR 173/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 10. April 2019 – 11 Sa 798/18 –
*Die tariflichen Vorschriften lauten auszugsweise:
„2. Leitende Beschäftigte in der Pflege
Vorbemerkungen
1. 1Die Tarifvertragsparteien legen dem Aufbau der Tätigkeitsmerkmale für Leitungskräfte in der Pflege folgende regelmäßige Organisationsstruktur zu Grunde:
…
b) 1Die Station ist die kleinste organisatorische Einheit. 2Einer Stationsleitung sind in der Regel nicht mehr als zwölf Beschäftigte unterstellt.
…
2Die Beschäftigten müssen fachlich unterstellt sein.
…
Entgeltgruppe P 12
Beschäftigte als Stationsleiterinnen oder Stationsleiter.
Beschäftigte als ständige Vertreterinnen oder Vertreter von Stations-
leiterinnen oder Stationsleitern der Entgeltgruppe P 13 oder von Bereichsleiterinnen oder Bereichsleitern oder Abteilungsleiterinnen oder Abteilungsleitern.<br< li=““></br<>
Entgeltgruppe P 13
Beschäftigte als Stationsleiterinnen oder Stationsleiter mit einem höheren Maß von Verantwortlichkeit oder von großen Stationen.“ | Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 10. April 2019 – 11 Sa 798/18 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Beschäftigte in der Pflege leiten im Regelfall dann eine „große Station“ iSd. Entgeltgruppe P 13 der Anlage 1 – Entgeltordnung (VKA) zum TVöD/VKA, wenn ihnen als Stationsleitung mehr als zwölf Beschäftigte (Vollzeitäquivalente) fachlich unterstellt sind. Mit dem Begriff „in der Regel“ haben die Tarifvertragsparteien aber zu erkennen gegeben, dass im Ausnahmefall neben der Zahl fachlich unterstellter Beschäftigter auch andere Faktoren für die Bewertung maßgeblich sein können, ob eine Station als „groß“ im Tarifsinn anzusehen ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die zutreffende Eingruppierung der Klägerin und daraus resultierende Differenzvergütungsansprüche.
2
Die Beklagte betreibt eine Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Dort ist die Klägerin seit 1995 beschäftigt und leitet die Station B2, Soziotherapie und Schizophrenie. Als Stationsleiterin sind ihr die im Pflegedienst der Station tätigen Mitarbeiter unterstellt. Im Stellenplan 2018 sind für die Station – umgerechnet auf Vollzeitbeschäftigte – zehn Pflegekräfte und eine Stationsassistentin ausgewiesen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVöD/VKA) Anwendung. Ab dem 1. Januar 2017 wurde die Klägerin zunächst nach Entgeltgruppe P 10 Teil B Abschnitt XI Ziffer 2 der Anlage 1 – Entgeltordnung (VKA) zum TVöD/VKA (nachfolgend TVöD/VKA), später rückwirkend zum 1. Januar 2017 nach Entgeltgruppe P 12 TVöD/VKA vergütet. Eine von ihr mit Schreiben vom 8. August 2017 weiter gehend unter Berufung auf § 29b TVÜ-VKA begehrte rückwirkende Höhergruppierung nach Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA lehnte die Beklagte ab.
4
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts werden auf der Station B2 unter anderem Patienten betreut, die nach dem Betreuungsgesetz, dem Unterbringungsgesetz oder nach § 63 StGB eingewiesen wurden. Diese Patienten bedürfen einer ständigen Beaufsichtigung, da bei ihnen die Gefahr der Entweichung grundsätzlich höher ist als bei anderen Patienten. Es handelt sich jedoch um eine offene Station, auf der die Patienten nicht mithilfe von physischen Barrieren daran gehindert werden, diese zu verlassen. Bei den anderen dort untergebrachten Patienten handelt es sich zum Teil um Patienten mit schwerer Schizophrenie, die einer intensiven Betreuung bedürfen.
5
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie sei nach Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA zu vergüten, da sie eine „große Station“ im Tarifsinn leite. Bei einer Station als kleinster organisatorischer Einheit seien deren Leitung in der Regel nicht mehr als zwölf Beschäftigte unterstellt. Dies sei im Regelfall als Obergrenze anzusehen. Bei einer Beschäftigtenanzahl im oberen Drittel von zwölf Beschäftigten müsse bereits von einer großen Station ausgegangen werden. Darüber hinaus habe sich die Anzahl der ihr unterstellten Beschäftigten auf 12,96 Mitarbeiter erhöht. Weiterhin trage die Klägerin ein erhöhtes Maß an Verantwortlichkeit iSd. Tätigkeitsmerkmals der Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA. Dies ergebe sich aus ihrer Stellenbeschreibung sowie aus dem Umstand, dass sie als Stationsleitung eine besondere Verantwortung für die Patienten trage. Bei den der Station B2 zugeordneten Patienten ergäben sich wegen der Art der Erkrankungen eine höhere Beaufsichtigungspflicht, eine intensivere Betreuung und größere Haftungsrisiken, insbesondere weil eine erhöhte Fluchtgefahr bestehe.
6
Die Klägerin hat zuletzt beantragt:
1.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ab dem 1. Januar 2017 eine Vergütung nach Entgeltgruppe P 13 der Entgeltordnung des TVöD/VKA zu bezahlen.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für die Monate Januar 2017 bis Februar 2019 Differenzvergütung iHv. 5.640,64 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz in gestaffelter Höhe zu bezahlen.
7
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Klägerin seien auch unter Berücksichtigung von zwei in Teilzeit beschäftigten Stationsassistentinnen nie mehr als zwölf Vollzeitbeschäftigte in der Pflege unterstellt. Die Klägerin habe zudem unzutreffend zwei Reinigungskräfte berücksichtigt, die bei einem Drittunternehmen beschäftigt und ihr daher nicht unterstellt seien. Gleiches gelte hinsichtlich einer Auszubildenden, die nur zeitweise als Praktikantin auf der Station tätig gewesen sei, aber keinen Ausbildungsvertrag mit der Beklagten besitze. Das Maß der Verantwortlichkeit der Klägerin sei nicht höher als dasjenige anderer Stationsleitungen bei der Beklagten. Im Übrigen liege die maßgebende Verantwortlichkeit für die Patienten beim ärztlichen Personal.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
9
Die zulässige Revision ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
10
I. Die Vorinstanzen gehen zutreffend davon aus, dass für die Eingruppierung die §§ 12 und 13 TVöD/VKA iVm. der Anlage 1 zum TVöD/VKA maßgebend sind. Zwar erfolgt die Überleitung der Beschäftigten zum 1. Januar 2017 grundsätzlich unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit. Die Klägerin hat jedoch mit Schreiben vom 8. August 2017 fristgemäß einen Antrag nach § 29b Abs. 1 TVÜ-VKA gestellt (zu diesem Erfordernis BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 19, BAGE 162, 81 [zu § 26 TVÜ-Bund]).
11
Die danach maßgeblichen Tätigkeitsmerkmale im Teil B Abschnitt XI „Beschäftigte in Gesundheitsberufen“ der Anlage 1 zum TVöD/VKA lauten:
„2.
Leitende Beschäftigte in der Pflege
Vorbemerkungen
1.
1Die Tarifvertragsparteien legen dem Aufbau der Tätigkeitsmerkmale für Leitungskräfte in der Pflege folgende regelmäßige Organisationsstruktur zu Grunde:
a)
1Die Gruppen- bzw. Teamleitung stellt die unterste Leitungsebene dar. 2Einer Gruppen- bzw. einer Teamleitung sind in der Regel nicht mehr als neun Beschäftigte unterstellt.
b)
1Die Station ist die kleinste organisatorische Einheit. 2Einer Stationsleitung sind in der Regel nicht mehr als zwölf Beschäftigte unterstellt.
c)
1Ein Bereich bzw. eine Abteilung umfasst in der Regel mehrere Stationen. 2Einer Bereichs- bzw. Abteilungsleitung sind in der Regel nicht mehr als 48 Beschäftigte unterstellt.
2Die Beschäftigten müssen fachlich unterstellt sein.
2.
Soweit für vergleichbare organisatorische Einheiten von den vorstehenden Bezeichnungen abweichende Bezeichnungen verwandt werden, ist dies unbeachtlich.
3.
Diese Regelungen gelten auch für Leitungskräfte in der Entbindungspflege.
…
Entgeltgruppe P 12
1.
Beschäftigte als Stationsleiterinnen oder Stationsleiter.
2.
Beschäftigte als ständige Vertreterinnen oder Vertreter von Stationsleiterinnen oder Stationsleitern der Entgeltgruppe P 13 oder von Bereichsleiterinnen oder Bereichsleitern oder Abteilungsleiterinnen oder Abteilungsleitern.
Entgeltgruppe P 13
Beschäftigte als Stationsleiterinnen oder Stationsleiter mit einem höheren Maß von Verantwortlichkeit oder von großen Stationen.“
12
Die Vorbemerkung Nr. 9 zur Anlage 1 zum TVöD/VKA lautet auszugsweise:
„9. Unterstellungsverhältnisse
…
3Bei der Zahl der unterstellten oder in der Regel unterstellten bzw. beaufsichtigten oder der in dem betreffenden Bereich beschäftigten Personen zählen Teilzeitbeschäftigte entsprechend dem Verhältnis der mit ihnen im Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit einer/eines Vollzeitbeschäftigten. 4Für die Eingruppierung ist es unschädlich, wenn im Organisations- und Stellenplan zur Besetzung ausgewiesene Stellen nicht besetzt sind.“
13
II. Die Berufungsentscheidung unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, weil das Landesarbeitsgericht keine Arbeitsvorgänge iSv. § 12 Abs. 2 TVöD/VKA bestimmt hat.
14
1. Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 TVöD/VKA ist der Beschäftigte in der Entgeltgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht. Das ist der Fall, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen. Grundlage für die Bewertung der auszuübenden Tätigkeit ist danach der Arbeitsvorgang.
15
2. Der Begriff des „Arbeitsvorgangs“ ist ein feststehender, abstrakter, von den Tarifvertragsparteien vorgegebener Rechtsbegriff. Seine Anwendung durch die Tatsachengerichte ist revisionsgerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar. Dabei kann das Revisionsgericht bei Vorliegen der erforderlichen Tatsachenfeststellungen die Arbeitsvorgänge auch selbst bestimmen (st. Rspr., zuletzt zB BAG 16. Oktober 2019 – 4 AZR 284/18 – Rn. 18).
16
Für die Bestimmung eines Arbeitsvorgangs ist das Arbeitsergebnis maßgebend. Bei der Zuordnung zu einem Arbeitsvorgang können wiederkehrende und gleichartige Tätigkeiten zusammengefasst werden. Dabei kann die gesamte vertraglich geschuldete Tätigkeit einen einzigen Arbeitsvorgang ausmachen. Einzeltätigkeiten können jedoch dann nicht zusammengefasst werden, wenn die verschiedenen Arbeitsschritte von vorneherein auseinandergehalten und organisatorisch voneinander getrennt sind. Dafür reicht die theoretische Möglichkeit nicht aus, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben verwaltungstechnisch isoliert auf andere Beschäftigte übertragen zu können, solange sie nach der tatsächlichen Arbeitsorganisation des Arbeitgebers als einheitliche Arbeitsaufgabe einer Person real übertragen sind. Tatsächlich getrennt sind Arbeitsschritte nicht, wenn sich erst im Laufe der Bearbeitung herausstellt, welchen tariflich erheblichen Schwierigkeitsgrad der einzelne Fall aufweist. Zur Tätigkeit rechnen dabei auch die Zusammenhangstätigkeiten. Das sind solche, die aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit bestimmten Aufgaben eines Beschäftigten bei der tariflichen Bewertung zwecks Vermeidung tarifwidriger „Atomisierung“ der Arbeitseinheiten nicht abgetrennt werden dürfen, sondern diesen zuzurechnen sind. Die tarifliche Wertigkeit der verschiedenen Einzeltätigkeiten oder Arbeitsschritte bleibt bei der Bestimmung der Arbeitsvorgänge außer Betracht. Erst nachdem der Arbeitsvorgang bestimmt ist, ist dieser anhand des in Anspruch genommenen Tätigkeitsmerkmals zu bewerten (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 24 f. mwN, BAGE 162, 81).
17
3. Das Landesarbeitsgericht hat selbst keine Arbeitsvorgänge bestimmt, sondern gemeint, die Klägerin hätte Arbeitsvorgänge aufzeigen und die Tatsachen vortragen müssen, aus denen sich dann bezogen auf diese die Erfüllung der Tarifmerkmale ableiten lasse. Insoweit verkennt das Landesarbeitsgericht die Reichweite der Darlegungslast der Klägerin. Im Eingruppierungsrechtsstreit umfasst die Darlegungslast eines Beschäftigten nicht, seine Tätigkeit nach Arbeitsvorgängen gegliedert darzulegen. Er hat lediglich neben der Darstellung der Arbeitsinhalte Angaben insbesondere zu den Arbeitsergebnissen, zu den Zusammenhangstätigkeiten und zu der Abgrenzbarkeit der verschiedenen Einzelaufgaben zu machen, die dem Gericht die Bestimmung von Arbeitsvorgängen ermöglichen. Diese Anforderungen hat die Klägerin im Grundsatz erfüllt. Die Bestimmung der Arbeitsvorgänge selbst ist eine Rechtsfrage und damit Aufgabe des Gerichts (st. Rspr., vgl. nur BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 745/00 – zu II 2 f bb der Gründe). Bleiben dabei tatsächliche Umstände unklar, hat das Gericht ggf. im Rahmen seiner Hinweispflicht nach § 139 ZPO auf eine Ergänzung des Vortrags der Parteien hinzuwirken.
18
4. Der Senat kann die Arbeitsvorgänge mangels hinreichender Feststellungen durch das Landesarbeitsgericht nicht selbst bestimmen (§ 563 Abs. 3 ZPO). Bereits dies führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
19
a) Es spricht vieles dafür, dass es sich bei der Tätigkeit der Klägerin als Stationsleiterin um einen einheitlichen Arbeitsvorgang iSv. § 12 Abs. 2 TVöD/VKA handelt (vgl. dazu zB BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 8/18 – Rn. 31). Es ließe sich zwar bei einer solchen Funktion zwischen unmittelbaren Leitungstätigkeiten und anderen Tätigkeiten unterscheiden, aber letztlich dienen alle Tätigkeiten dem Arbeitsergebnis Leitung der Station. Wenn die Leiterin einer Organisationseinheit selbst Aufgaben wahrnimmt, die innerhalb des von ihr betreuten Bereichs anfallen, gehören diese Tätigkeiten als Zusammenhangsarbeiten zur einheitlich bewerteten Leitungstätigkeit (vgl. schon BAG 15. Februar 2006 – 4 AZR 66/05 – Rn. 14 mwN zur Tätigkeit als Stationsschwester iSd. BAT).
20
b) Die Beklagte hatte jedoch mit ihrer Berufungserwiderung vorgetragen, dass der Klägerin eine 0,25-Stelle in der Ambulanz „auch untersteht“. In dem als Anlage dazu vorgelegten Stellenplan der Station B2 ist die Ambulanz mit einem Wert von „- 0,25“ ebenfalls erwähnt. Hierzu hat das Landesarbeitsgericht keine unmittelbaren Feststellungen getroffen. Deshalb bleibt unklar, ob die Ambulanz zur Station B2 gehört oder es sich um eine eigene Organisationseinheit handelt. Ebenfalls wird nicht deutlich, ob die Klägerin auch die Ambulanz leitet und dies Teil eines einheitlichen Arbeitsvorgangs „Stationsleitung“ ist oder ob es sich um einen eigenständigen Arbeitsvorgang handelt.
21
III. Es steht auch noch nicht fest, ob es sich bei der Station B2 um eine „große Station“ iSd. Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA handelt. Die Auslegung des Tarifbegriffs der „großen Station“ durch das Landesarbeitsgericht ist unzutreffend.
22
1. Das Landesarbeitsgericht ist unausgesprochen davon ausgegangen, dass die Klägerin das Tätigkeitsmerkmal der Entgeltgruppe P 12 Fallgruppe 1 TVöD/VKA erfüllt, also eine Station im Tarifsinn leitet (vgl. dazu BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 8/18 – Rn. 17 ff.). Dies entspricht dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien und dürfte – auch wenn die Arbeitsvorgänge noch nicht abschließend bestimmt werden können – zutreffend sein.
23
2. Eine „große Station“ im Tarifsinn liegt regelmäßig dann vor, wenn der Stationsleitung mehr als zwölf Vollzeitäquivalente iSd. Vorbemerkung Nr. 9 zur Anlage 1 zum TVöD/VKA fachlich unterstellt sind. Da Teilzeitbeschäftigte nach dieser Vorbemerkung anteilig zu berücksichtigen sind, ist dies ab einer Unterstellung von 12,01 Vollzeitäquivalenten der Fall. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen stellt die Zahl von zwölf unterstellten Vollzeitäquivalenten aber keine starre Grenze zwischen den Entgeltgruppen P 12 und P 13 TVöD/VKA dar, sondern bestimmt lediglich „in der Regel“ die Abgrenzung zu einer „großen Station“. Andere Abgrenzungsfaktoren können ebenfalls eine Rolle spielen. Dies ergibt die Auslegung der Tarifnorm.
24
a) Der Tarifvertrag definiert nicht ausdrücklich, was unter einer „großen Station“ zu verstehen ist. Bei der Wortlautauslegung, von der zunächst auszugehen ist (vgl. zuletzt BAG 20. Juni 2018 – 4 AZR 339/17 – Rn. 19), ist anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien den Begriff in dem Sinne gebraucht haben, der dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem der beteiligten Kreise entspricht, wenn nicht sichere Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung gegeben sind (BAG 19. September 2018 – 10 AZR 496/17 – Rn. 28; 25. Februar 2009 – 4 AZR 41/08 – Rn. 21, BAGE 129, 355). Weder der allgemeine Sprachgebrauch noch derjenige der beteiligten Verkehrskreise gibt aber eine feste Zahl vor, wann etwas als „groß“ zu verstehen ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Adjektiv „groß“ benutzt, um zu beschreiben, dass etwas den Durchschnitt oder einen Vergleichswert übertrifft (Duden Deutsches Universalwörterbuch 8. Aufl. Stichwort „groß“). Der Vergleich kann quantitativer, aber auch qualitativer Natur sein. Stets notwendig ist jedoch ein Bezugsobjekt. Daher kann das Adjektiv „groß“ allein ohne Betrachtung des Kontextes keinen Aufschluss darüber geben, was die Tarifvertragsparteien unter einer „großen Station“ verstanden haben. Allerdings lässt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm entnehmen, dass für die Abgrenzung der Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppen P 12 und P 13 TVöD/VKA nur das Begriffspaar „Station – große Station“ maßgeblich ist. Die von der Klägerin verwendeten Begriffe „kleine“ oder „mittlere Station“ finden sich im Tarifvertrag nicht und sind für die Zuordnung zu den Entgeltgruppen irrelevant.
25
b) Systematik und Tarifzusammenhang machen das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der Zuordnung der Stationsgrößen und der Bedeutung der Anzahl der unterstellten Beschäftigten deutlich.
26
aa) Nach der Vorbemerkung Nr. 1 zum Teil B Abschnitt XI Ziffer 2 der Anlage 1 zum TVöD/VKA sind die Tarifvertragsparteien hinsichtlich des Aufbaus der Tätigkeitsmerkmale für Leitungskräfte in der Pflege von einer bestimmten Organisationsstruktur ausgegangen. Unterste Leitungsebene ist danach die „Gruppen- bzw. Teamleitung“, während die Station die kleinste organisatorische Einheit darstellt. Ein „Bereich bzw. eine Abteilung“ umfasst in der Regel mehrere Stationen. Der Begriff der Stationsleitung in den Entgeltgruppen P 12 und P 13 TVöD/VKA knüpft insoweit an der (kleinsten) organisatorischen Einheit „Station“ an. Aus dem Aufbau der Tätigkeitsmerkmale für die Leitenden Beschäftigten in der Pflege wird weiterhin deutlich, dass die Eingruppierung von einem mehrstufigen, hierarchischen Organisations- und Leitungsmodell ausgeht. Dieses besteht in den Entgeltgruppen P 9 bis P 14 TVöD/VKA aus den drei Ebenen Gruppe/Team, Station und Bereich/Abteilung. Innerhalb der Ebenen wird weiter nach deren Größe oder nach dem Maß der Verantwortlichkeit bzw. dem Umfang und der Bedeutung des Aufgabengebiets sowie dem Maß an Selbständigkeit unterschieden. Allen Ebenen ist gemeinsam, dass dort Leitungsaufgaben ausgeübt werden (BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 8/18 – Rn. 24 f.).
27
bb) Satz 2 der Vorbemerkung Nr. 1 Buchst. b zum Teil B Abschnitt XI Ziffer 2 der Anlage 1 zum TVöD/VKA bestimmt dabei, dass einer Stationsleitung in der Regel nicht mehr als zwölf Beschäftigte – genauer: Vollzeitäquivalente iSd. Vorbemerkung Nr. 9 zur Anlage 1 zum TVöD/VKA – unterstellt sind. Daraus wird zunächst erkennbar, dass vorrangig die Anzahl der unterstellten Beschäftigten maßgeblich ist. Darüber hinaus sind die Tarifvertragsparteien von der typischen Struktur einer Station im Rahmen der üblichen Organisation ausgegangen, bei der einer Stationsleitung – umgerechnet – maximal zwölf Beschäftigte fachlich unterstellt sind. Gleichzeitig zeigt dies, dass eine Station, die diese Beschäftigtenanzahl übersteigt, mangels anderer Kategorien im Regelfall als „große Station“ iSd. Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA angesehen werden muss. Eine Station, bei der dies nicht der Fall ist, ist hingegen im Regelfall keine „große Station“ im Tarifsinn. Soll der Nennung der regelmäßig unterstellten Beschäftigten eine Bedeutung zukommen, kann dies nur Bedeutung für die Abgrenzung zwischen Normalstation und „großer Station“ haben. Für die Annahme der Revision, die Nennung der regelmäßig unterstellten Beschäftigten sei als Obergrenze für jede Station zu verstehen, finden sich in der Tarifsystematik keinerlei Anhaltspunkte.
28
cc) Da Teilzeitbeschäftigte nach Satz 3 der Vorbemerkung Nr. 9 zur Anlage 1 zum TVöD/VKA entsprechend dem Verhältnis der mit ihnen im Arbeitsvertrag vereinbarten Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten zu berücksichtigen sind, zählen auch Stellenanteile. Sobald damit die Zahl von 12,00 Vollzeitäquivalenten überschritten ist – und sei es auch nur um geringfügige Stellenanteile – ist regelmäßig die Kategorie „große Station“ erfüllt. Für die Auffassung, eine große Station könne nur dann vorliegen, wenn die Anzahl von zwölf unterstellten Beschäftigten „deutlich“ überschritten wird (so Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TVöD Stand Januar 2020 Teil IIIb EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 528) finden sich weder im Wortlaut noch in der Systematik des Tarifvertrags Anhaltspunkte.
29
dd) Allerdings macht die Begrifflichkeit „in der Regel“ deutlich, dass es sich bei der Anzahl der unterstellten Beschäftigten lediglich um „Richtgrößen“ (so Breier/Dassau/Faber/Hoffmann TVöD Entgeltordnung VKA Stand März 2020 EntgO (VKA) Teil B XI 2 D 1.3.11.2 Erl. 3.1.2 Rn. 25) handelt, nicht um starre Schwellenwerte (ebenso Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 527). „In der Regel“ bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch „regelmäßig, fast ausnahmslos geübte Gewohnheit oder das Übliche, üblicherweise Geltende“ (Duden aaO Stichwort „Regel, die“). Mit einem solchen Begriffsverständnis ist notwendigerweise verbunden, dass Ausnahmen von der Regel bestehen können. Andernfalls wäre die Verwendung dieser Begrifflichkeit im Tarifvertrag ohne Bedeutung und ohne Anwendungsbereich.
30
ee) Der Begriff „in der Regel“ findet sich auch in vielen gesetzlichen Vorschriften, in denen es auf Beschäftigtenzahlen ankommt (so etwa in § 23 Abs. 1 KSchG, § 99 Abs. 1 Satz 1, § 106 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Dort bringt er zum Ausdruck, dass es nicht auf die (zufällige) tatsächliche Anzahl der Beschäftigten zu einem bestimmten Zeitpunkt ankommt, sondern auf diejenige, die für das Bezugsobjekt Betrieb oder Unternehmen kennzeichnend ist (vgl. zu § 23 KSchG etwa BAG 24. Januar 2013 – 2 AZR 140/12 – Rn. 24, BAGE 144, 222; zu § 9 BetrVG 12. September 2012 – 7 ABR 37/11 – Rn. 12; zu § 111 Satz 1 BetrVG 18. Oktober 2011 – 1 AZR 335/10 – Rn. 21, BAGE 139, 342). Wird in einem Tarifvertrag ohne eigene Definition ein Begriff übernommen, der in einem Gesetz verwandt wird, mit dem ein Sachzusammenhang besteht, so ist grundsätzlich die fachspezifische gesetzliche Bedeutung zugrunde zu legen (BAG 19. April 2016 – 3 AZR 341/14 – Rn. 12; weiter gehend unter Verzicht auf einen Sachzusammenhang 25. Februar 1987 – 4 AZR 209/86 -). Vorliegend fehlt es aber bereits an jedem Sachzusammenhang zwischen der tariflichen Regelung von Unterstellungsverhältnissen im Hinblick auf die Zuordnung zu Entgeltgruppen und einer der genannten gesetzlichen Bestimmungen. Gegen ein solches Verständnis spricht vor allem, dass es nach Satz 4 der Vorbemerkung Nr. 9 zur Anlage 1 zum TVöD/VKA für die Eingruppierung unschädlich ist, wenn im Organisations- und Stellenplan ausgewiesene Stellen nicht besetzt sind. Auf die tatsächliche Stellenbesetzung kommt es gerade nicht an (Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – 0 – Vorbemerkungen Rn. 335). Da der Organisations- und Stellenplan regelmäßig längerfristig angelegt ist, sind Schwankungen in der tatsächlichen Stellenbesetzung deshalb bereits hierüber abgebildet. Ein Verständnis der Begrifflichkeit „in der Regel“ aus der Vorbemerkung Nr. 1 Buchst. b zum Teil B Abschnitt XI Ziffer 2 der Anlage 1 zum TVöD/VKA wie in den genannten gesetzlichen Bestimmungen wäre deshalb ohne sinnvollen Anwendungsbereich.
31
ff) Aus dem Begriff „in der Regel“ lässt sich vielmehr entnehmen, dass es neben der Zahl fachlich unterstellter Beschäftigter andere Faktoren geben kann, die im Ausnahmefall zu einer abweichenden Bewertung führen können und die Station ihrer Struktur nach als „groß“ im Tarifsinn erscheinen lassen. Dabei muss es sich um Faktoren handeln, die an die Leitungsfunktion anknüpfen und quantitativ größere Anforderungen an diese stellen. Dies kann beispielsweise ein aus einer besonders großen Anzahl von unterstellten Teilzeitbeschäftigten resultierender besonders hoher Koordinierungsaufwand sein (vgl. zu diesem Aspekt zB BAG 26. Januar 2005 – 4 AZR 6/04 – zu I 2 a bb (2) (c) (dd) der Gründe, BAGE 113, 291). Weitere Aspekte könnten die Größe der Station nach der Anzahl der Betten und der zu pflegenden Patienten (vgl. die Wertung in BAG 12. Dezember 2012 – 4 AZR 199/11 – Rn. 25) oder deren räumliche Größe sein (Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 529). Gleiches gilt im umgekehrten Fall. Auch eine nach der Anzahl unterstellter Beschäftigter „große Station“ kann ausnahmsweise aufgrund anderer Faktoren dieses Attribut verlieren. Keine Berücksichtigung können dabei allerdings jeweils Umstände finden, die mit dem weiteren Qualifikationsmerkmal „höheres Maß von Verantwortlichkeit“ (Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA) im Zusammenhang stehen, da dieses nach der Tarifsystematik gesondert bewertet wird.
32
c) Ein solches Verständnis entspricht Sinn und Zweck der Tarifregelung. Mit der Beseitigung der starren Unterstellungsgrenzen, wie sie noch in der Anlage 1b zum BAT vorgesehen waren, sollte ua. eine stärkere Anpassung der Eingruppierungsregeln an die unterschiedlichen Strukturen der verschiedenen Krankenhäuser ermöglicht werden (Breier/Dassau/Faber/Hoffmann aaO Erl. 1 Rn. 3). Soweit dieses Tarifverständnis mangels – im Vergleich zur früheren Tariflage – einfacher Abgrenzungskriterien zu Schwierigkeiten in der Anwendung führen kann, ist dies im Tarifvertrag angelegt und kann nicht aus Praktikabilitätserwägungen unbeachtet bleiben. Anders als noch in der Anlage 1b zum BAT wird gerade nicht mehr auf „harte“ Unterstellungszahlen abgestellt (Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 470).
33
3. Der Stationsleitung müssen die Beschäftigten nach Satz 2 der Vorbemerkung Nr. 1 zum Teil B Abschnitt XI Ziffer 2 der Anlage 1 zum TVöD/VKA „fachlich“ unterstellt sein. Das umfasst etwa die Befugnis, in der Pflege fachliche Weisungen zu erteilen, Arbeitsinhalte festzulegen und das Recht, Arbeitsergebnisse zu überprüfen (BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 8/18 – Rn. 26; vgl. Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 475). Typischerweise handelt es sich bei den fachlich unterstellten Beschäftigten um Pflegekräfte iSd. Ziffer 1 des Teils B Abschnitt XI der Anlage 1 zum TVöD/VKA. In Betracht kommen aber auch andere Beschäftigte, wie beispielsweise Stationsassistentinnen und -assistenten, wenn diese Aufgaben ausüben, die der fachlichen Zuständigkeit der Stationsleitung unterliegen und dieser insoweit unterstellt sind. Bei Reinigungskräften – insbesondere solchen anderer Arbeitgeber – wird dies hingegen typischerweise nicht der Fall sein (Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 476 f., 524).
34
4. Nach diesen Grundsätzen steht noch nicht fest, ob die Klägerin eine „große Station“ iSd. Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA leitet.
35
a) Allerdings ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht zu beanstanden, dass der Klägerin nicht mehr als zwölf Vollzeitäquivalente unterstellt waren und die Station B2 deshalb allein unter Betrachtung der Anzahl der unterstellten Beschäftigten nicht als „große Station“ angesehen werden kann. Weder aus dem Vortrag der Klägerin zu den Dienstplänen einzelner Monate noch aus dem Stellenplan für das Jahr 2018 ergibt sich eine höhere Zahl. Der Stellenplan weist – umgerechnet auf Vollzeitbeschäftigte – eine Sollstärke von zehn Pflegekräften und einer Pflegeassistentin aus. Die tatsächliche Stellenbesetzung war nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts allenfalls in einzelnen Monaten geringfügig höher, ohne jemals die Schwelle von 12,00 Vollzeitäquivalenten zu überschreiten. Nach unwidersprochenem Vortrag der Beklagten hat sich die tatsächliche Stellenbesetzung bis zur Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht zu Gunsten der Klägerin verändert. Die Klägerin hat trotz Bestreitens der Beklagten nicht weiter dargelegt, dass die zwei Reinigungskräfte, die bei einer externen Reinigungsfirma angestellt sind, ihr fachlich unterstellt wären. Gleiches gilt im Hinblick auf die von ihr angeführte Praktikantin.
36
b) Feststellungen zu sonstigen Faktoren, die ausnahmsweise trotz des Nichterreichens der Beschäftigtenzahl die Annahme einer „großen Station“ begründen könnten, hat das Landesarbeitsgericht – aus seiner Sicht konsequent – nicht getroffen. Der Klägerin ist allerdings in Anbetracht der vorliegenden ersten Entscheidung des Senats zu diesem neuen Tätigkeitsmerkmal unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs Gelegenheit zu geben, ergänzend vorzutragen.
37
IV. Ebenso wenig kann der Senat abschließend entscheiden, ob die Klägerin im Rahmen ihrer auszuübenden Tätigkeit ein höheres Maß von Verantwortlichkeit iSd. Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA trägt.
38
1. Unter „Verantwortung“ im Tarifsinn ist die Verpflichtung des Beschäftigten zu verstehen, dafür einstehen zu müssen, dass in dem übertragenen Dienst- oder Arbeitsbereich die dort – auch von anderen Beschäftigten – zu erledigenden Aufgaben sachgerecht, pünktlich und vorschriftsgemäß ausgeführt werden (st. Rspr., zuletzt zB BAG 21. Januar 2015 – 4 AZR 253/13 – Rn. 26 mwN zum Begriff der besonders verantwortungsvollen Tätigkeit). Die Begriffe „Verantwortung“ und „Verantwortlichkeit“ werden dabei in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes synonym verwendet (vgl. zB BAG 27. November 1985 – 4 AZR 267/84 -). Der Tarifbegriff „mit einem höheren Maß von Verantwortlichkeit“ der Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA entspricht der früher ua. in den Tätigkeitsmerkmalen für die Vergütung von Meistern nach der Anlage 1a zum BAT verwendeten Begrifflichkeit. Zur Erfüllung des Qualifizierungsmerkmals muss in der auszuübenden Tätigkeit eine Verantwortung liegen, die die regelmäßig zu tragende Verantwortung, wie sie begriffsnotwendig schon in der niedrigeren Entgeltgruppe (hier Entgeltgruppe P 12 Fallgruppe 1 TVöD/VKA) enthalten ist, auf der die höhere aufbaut, deutlich wahrnehmbar übersteigt (vgl. zB BAG 27. November 1985 – 4 AZR 267/84 -). Unausgesprochen setzt auch die Entgeltgruppe P 12 TVöD/VKA ein bestimmtes, der darin beschriebenen Tätigkeit als Stationsleitung adäquates Maß an Verantwortung voraus, weil andernfalls das Qualifizierungsmerkmal der Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA keine Vergleichsgröße enthielte. Die Prüfung des Verantwortungsmaßstabs setzt daher einen wertenden Vergleich mit der nach der Entgeltgruppe P 12 TVöD/VKA geforderten Verantwortung voraus, für den die klagende Partei die tatsächlichen Grundlagen vorzutragen hat (vgl. zB BAG 16. Mai 2013 – 4 AZR 445/11 – Rn. 14; 26. Januar 2005 – 4 AZR 6/04 – zu I 2 b bb (3) (a) der Gründe, BAGE 113, 291 zur „erheblichen“ Heraushebung durch „das Maß der damit verbundenen Verantwortung“).
39
2. Vergleichsgruppe für das Maß der Verantwortlichkeit sind – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht die Stationsleitungen bei der jeweiligen Arbeitgeberin, sondern es kommt auf die allgemeinen Anforderungen an die Verantwortung einer Stationsleitung unter Berücksichtigung der von den Tarifvertragsparteien nach der Vorbemerkung Nr. 1 zum Teil B Abschnitt XI Ziffer 2 der Anlage 1 zum TVöD/VKA vorgesehenen regelmäßigen Organisationsstruktur an (Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 530). Dass bei einer Arbeitgeberin wegen bestimmter Arbeitsumstände ggf. alle Stationsleitungen ein solches erhöhtes Maß an Verantwortung zu tragen haben, stünde der Annahme der Erfüllung des Tätigkeitsmerkmals nicht entgegen. Allerdings findet auch die Auffassung der Revision, die Tätigkeit als Stationsleitung in einer Fachklink für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik begründe stets ein höheres Maß von Verantwortlichkeit, keine Stütze in den tarifvertraglichen Bestimmungen. Vielmehr sind die konkreten Umstände der jeweiligen Tätigkeit in den Blick zu nehmen und mit der „Normalverantwortung“ einer Stationsleitung zu vergleichen. Aus der Zulagenregelung für Beschäftigte, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei Kranken in geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen Stationen erbringen (Protokollerklärung Nr. 1 Buchst. b zum Teil B Abschnitt XI Ziffer 1 der Anlage 1 zum TVöD/VKA), ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerin nichts anderes. Diese Zulage dient der Abgeltung der durch die besonderen Gegebenheiten auf einer (halb-)geschlossenen Station bedingten Erschwernisse der Arbeit (BAG 11. Juli 2012 – 10 AZR 287/11 – Rn. 10 mwN). Für das Maß der Verantwortlichkeit der Stationsleitung lässt sich hieraus nichts ableiten.
40
3. Ein höheres Maß an Verantwortlichkeit kann sich grundsätzlich aus den Auswirkungen der Tätigkeit für den Arbeitgeber oder auch aus der Bedeutung der Angelegenheit für Dritte oder die Allgemeinheit ergeben. Im Hinblick auf das weitere Qualifizierungsmerkmal der Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA ist allerdings tarifsystematisch zu beachten, dass das Maß der Verantwortung sich nicht auf das quantitative Maß der Führungsverantwortung beziehen kann. Dieses ist in dem Qualifizierungsmerkmal „Leitung einer großen Station“ abgebildet (Breier/Dassau/Faber/Hoffmann aaO Erl. 4.5 Rn. 57; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 516). Kriterien für ein gesteigertes Maß an Verantwortung im Tarifsinn können deshalb ua. die organisatorische Verantwortlichkeit für – nicht unterstellte – Beschäftigte (auch anderer Stationen) sein, der Umstand, dass die Tätigkeit bedeutsame Auswirkungen für das Leben Dritter hat oder dass die Belange des Arbeitgebers besonders berührt werden, zB bei der Verantwortung für besondere teure oder komplexe Geräte (Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese aaO EntgO VKA – B XI – Gesundheitsberufe Rn. 514 ff.; Breier/Dassau/Faber/Hoffmann aaO Erl. 4.5 Rn. 58 f.: „Besondere Sorgfalt und Umsicht bei Heil- und Behandlungsmethoden“, „organisatorische Leitung für andere Station“).
41
4. Das Qualifizierungsmerkmal ist – entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts – bereits erfüllt, wenn Arbeitsvorgänge, die mindestens die Hälfte der gesamten Arbeitszeit des Beschäftigten in Anspruch nehmen, solche Tätigkeiten enthalten. Dabei ist es nicht erforderlich, dass die für die Höherwertigkeit maßgebenden Einzeltätigkeiten innerhalb des Arbeitsvorgangs zeitlich überwiegend anfallen. Vielmehr genügt es, dass die Anforderungen in rechtlich nicht ganz unerheblichem Ausmaß anfallen und ohne sie ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis nicht erzielt würde (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 38 mwN, BAGE 162, 81 zum Heraushebungsmerkmal „schwierige Tätigkeiten“).
42
5. Nach diesen Grundsätzen steht noch nicht fest, ob die auszuübende Tätigkeit der Klägerin ein höheres Maß von Verantwortlichkeit erfordert.
43
a) Das Landesarbeitsgericht hat – wie dargelegt (Rn. 17) – keine Arbeitsvorgänge bestimmt. In diesem Zusammenhang ist nicht geklärt, welche Bedeutung der Tätigkeit der Klägerin in Bezug auf die Ambulanz zukommt. Hinzu kommt, dass die genauen Umstände der Tätigkeit der Klägerin nicht widerspruchsfrei festgestellt sind. Insbesondere ist unklar, was unter „ständiger Beaufsichtigung der Patienten“ und dem „Entweichungsrisiko“ der (untergebrachten?) Patienten zu verstehen ist, wenn die Station gleichzeitig als „offen“ gekennzeichnet wird.
44
b) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann auch nicht angenommen werden, dass nach dem bisherigen Vortrag der Klägerin mangels der Möglichkeit eines wertenden Vergleichs die Erfüllung des Tätigkeitsmerkmals ausgeschlossen wäre. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren vorgetragen, inwieweit sich ihre Tätigkeit als Stationsleitung nach dem Maß der Verantwortlichkeit von der anderer Stationsleitungen bei der Beklagten unterscheidet. Dabei hat sie insbesondere auf die Art der Patienten, die „beaufsichtigungspflichtig, weil auf Bewährung“ sind und auf das Problem der Entweichung mit bestehenden Haftungsrisiken hingewiesen. Zudem sei sehr viel häufiger eine Kontaktaufnahme zu anderen therapeutischen Diensten und eine erhöhte Kontaktpflege zu Patientinnen und Patienten erforderlich. Darüber hinaus verlange die „Aufgabenwahrnehmung als Bezugsperson zu Patienten“ ein erhöhtes Maß an Verantwortlichkeit, weil eine intensive therapeutische Beziehung aufgebaut werden müsse. Dieser Vortrag ist zwar nicht in jedem Punkt hinreichend präzise und reicht für sich genommen nicht aus, um die Erfüllung des Tätigkeitsmerkmals zu begründen. Er bietet aber Anhaltspunkte, um den geforderten wertenden Vergleich vorzunehmen und es erscheint auch nicht ausgeschlossen, dass insbesondere der Umgang mit „untergebrachten“ Patienten ein höheres Maß an Verantwortlichkeit begründen kann. Insoweit bedarf der klägerische Vortrag – abgesehen von den offenen Fragen zum Charakter der Station – insbesondere dahingehend der Ergänzung, welche der geschilderten Aufgaben die Klägerin auszuüben hat, welche dem ärztlichen Dienst vorbehalten sind und wie die Verantwortlichkeit verteilt ist. Auf diese Lücken im Vortrag wäre nach dem Prozessverlauf vom Landesarbeitsgericht hinzuweisen gewesen. Der in der Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht erteilte Hinweis bezog sich nur auf die Frage des zeitlichen Anteils an der auszuübenden Tätigkeit.
45
V. Im Rahmen der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht – nachdem es den Parteien Gelegenheit zu weiter gehendem Vorbringen gegeben und dabei ggf. konkret auf die Ergänzung von aus seiner Sicht fehlendem Tatsachenvortrag hingewirkt hat – neben den vorstehend genannten Ausführungen zur Bestimmung der Arbeitsvorgänge (Rn. 19 f.), zur „großen Station“ (Rn. 23 bis 36) und zum erhöhten Maß an Verantwortlichkeit (Rn. 38 bis 44) weiterhin Folgendes zu berücksichtigen haben:
46
1. Die Klage ist hinsichtlich der Zahlungsanträge ohne weiteres zulässig. Gleiches gilt hinsichtlich des Feststellungantrags – einschließlich des Zinsanspruchs – für die Zeit ab März 2019 als allgemein üblicher Eingruppierungsfeststellungklage (hierzu zuletzt etwa BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 147/17 – Rn. 15, BAGE 164, 326). Hingegen spricht vieles dafür, dass es am nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderlichen besonderen Feststellungsinteresse fehlt, soweit die entsprechende Feststellung auch für den Zeitraum von Januar 2017 bis einschließlich Februar 2019 begehrt wird. Denn für diesen Zeitraum macht die Klägerin gleichzeitig die Vergütungsdifferenz zwischen der von ihr erhaltenen und der angestrebten Vergütung mit einem Leistungsantrag beziffert geltend. Es ist bisher nicht ersichtlich, welches über eine entsprechende Entgeltzahlung hinausgehende Interesse an der begehrten Feststellung bestehen könnte. Aus diesem Grund kommt bisher auch eine Zulässigkeit als Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) nicht in Betracht. Auch diese setzt voraus, dass weitere Rechtsfolgen aus einer entsprechenden Feststellung möglich erscheinen, die über das mit der erfolgreichen Leistungsklage Erreichte hinausgehen (vgl. insgesamt dazu BAG 18. April 2012 – 4 AZR 426/10 – Rn. 20 mwN).
47
2. Falls das Vorliegen einer „großen Station“ zu verneinen ist, wird bei der Beurteilung des „höheren Maß an Verantwortlichkeit“ zu beachten sein, dass allein der Umstand, dass die Letztverantwortung für einen Patienten beim ärztlichen Personal liegt, der Annahme einer gegenüber dem Normalmaß erhöhten Verantwortung als Stationsleitung nicht entgegensteht, soweit sich die höhere Verantwortlichkeit auch in den Aufgaben der Klägerin niederschlägt. Eine Allein- oder Letztverantwortlichkeit setzt das Tätigkeitsmerkmal nicht voraus (vgl. allgemein zur Verantwortung der Stationsleitung BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 8/18 – Rn. 22 ff.).
48
3. Soweit sich danach ein Anspruch auf Vergütung nach Entgeltgruppe P 13 TVöD/VKA ergeben sollte, hat die Klägerin mit ihrem Antrag vom 8. August 2017 hinsichtlich des Streitzeitraums die Ausschlussfrist des § 37 TVöD/VKA gewahrt (vgl. dazu BAG 18. September 2019 – 4 AZR 42/19 – Rn. 26 ff.).
Treber
Klug
W. Reinfelder
S. Gey-Rommel
Moschko |
bag_14-19 | 14.03.2019 | 14.03.2019
14/19 - Küchengeräteverkauf vermittelt keine einschlägige Berufserfahrung für Arbeitsvermittlung
Hat ein Arbeitnehmer in einer früheren Tätigkeit eine Vertriebskompetenz erworben, vermittelt ihm dies allein noch keine einschlägige Berufserfahrung für eine Tätigkeit als Arbeitsvermittler, die im Entgeltsystem der Bundesagentur für Arbeit entgeltsteigernd zu berücksichtigen wäre. Nach § 18 Abs. 5 des Tarifvertrags für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) in der seit dem 1. September 2015 geltenden Fassung wird einschlägige Berufserfahrung bei der Einstellung im Rahmen der Stufenzuordnung nur dann berücksichtigt, wenn die frühere Tätigkeit nach ihrer Art (Aufgabeninhalt) und ihrem Anforderungsniveau den Kompetenzanforderungen der bei der Bundesagentur übertragenen Tätigkeit vergleichbar ist. Zu vergleichen sind auch die fachlichen Anforderungen der Tätigkeiten. Es soll festgestellt werden, ob der neu eingestellte Beschäftigte ohne nennenswerte Einarbeitungszeit die nunmehr übertragene Tätigkeit ausüben kann, denn dies rechtfertigt eine höhere Vergütung.
Der Kläger war vor seiner Einstellung bei der beklagten Bundesagentur selbständiger Handelsvertreter für Produkte zur Ausstattung von Großküchen (zB. Spülmaschinen, Wasseraufbereitungsanlagen). Bei der Beklagten wurde ihm die Tätigkeit eines Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben übertragen. Der Kläger ist der Auffassung, er habe als Handelsvertreter hierfür einschlägige Berufserfahrung erworben. Er habe bei der Beklagten nur Arbeitgeber betreut und von diesen freie Stellen akquiriert. Dabei habe er seine Vertriebserfahrung nutzen können. Die Beklagte hat die Anerkennung einschlägiger Berufserfahrung abgelehnt. Der Aufgabeninhalt der Tätigkeiten sei nicht vergleichbar.
Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Vertrieb von Küchengeräten und Zubehör weist hinsichtlich der Zielsetzung und der fachlichen Anforderungen keine Vergleichbarkeit mit dem Einwerben geeigneter Stellen für Arbeitssuchende auf. Dies gilt erst recht bezogen auf das gesamte Aufgabenspektrum der Arbeitsvermittlung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. März 2019 – 6 AZR 171/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 24. Januar 2018 – 6 Sa 1435/17 – | Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 24. Januar 2018 – 6 Sa 1435/17 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Die sog. fiktive Stufenzuordnung nach § 18 Abs. 5 TV-BA erfordert einen Vergleich der früheren mit der nunmehr bei der Bundesagentur für Arbeit übertragenen Tätigkeit bezogen auf das gesamte Tätigkeits- und Kompetenzprofil einschließlich der fachlichen Anforderungen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Stufenzuordnung des Klägers.
2
Dieser war bei der beklagten Bundesagentur zunächst befristet vom 14. Mai 2007 bis zum 31. Dezember 2007 „als Vollbeschäftigter“ eingestellt. Das Arbeitsverhältnis bestimmte sich aufgrund vertraglicher Vereinbarung nach dem Tarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) in der jeweils geltenden Fassung. Mit Schreiben vom 10. Mai 2007 wurde dem Kläger die Tätigkeit eines „Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben“ übertragen.
3
Zum 1. Februar 2008 wurde der Kläger befristet bis zum 31. Dezember 2008 erneut „als Vollbeschäftigter“ eingestellt. Der Arbeitsvertrag vom 29. Januar 2008 sieht abermals die Anwendbarkeit des TV-BA in der jeweils geltenden Fassung vor. Dem Kläger wurde mit Schreiben vom 29. Januar 2008 wiederum die Tätigkeit eines „Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben“ übertragen. Wie bereits im vorangegangenen Arbeitsverhältnis wurde der Kläger im sog. Arbeitgeber-Service eingesetzt. Dort betrieb er ua. telefonische Kontaktpflege zu sog. Arbeitgeberkunden, recherchierte nach potentiellen Neukunden in der Tagespresse und im Internet, besuchte Bestandskunden und potentielle Neukunden im Außendienst, beriet diese über Dienstleistungen der Beklagten und bearbeitete Datenbänke. Als das Arbeitsverhältnis am 20. August 2008 bis zum 31. Dezember 2012 verlängert wurde, teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom selben Tag mit, er übe weiterhin die Tätigkeit eines „Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben (Arbeitgeber-Service)“ aus.
4
Nach § 14 Abs. 1 TV-BA sind die in sog. Tätigkeits- und Kompetenzprofilen (TuK) festgelegten Anforderungen an eine Tätigkeit die Grundlage für deren Zuordnung zu einer der acht Tätigkeitsebenen mittels tariflicher Zuordnungstabellen. Die Beschäftigten sind in der Tätigkeitsebene eingruppiert, der die ihnen nicht nur vorübergehend übertragene Tätigkeit zugeordnet ist. Das TuK „Arbeitsvermittler/-in mit Beratungsaufgaben in der Agentur für Arbeit“ hat in der am 1. Februar 2008 geltenden Fassung des 4. Änderungstarifvertrags zum TV-BA folgenden Inhalt:
„Kernaufgaben/Verantwortlichkeiten
–
Arbeitsvermittlung/-beratung und Integration von Arbeitnehmerkunden
–
Schwerpunkt Bewerberbetreuung: Zuordnung der Arbeitnehmerkunden zu einem Handlungsprogramm und dessen Umsetzung/Aktualisierung, Motivierung der Arbeitnehmerkunden (z.B. Eingliederungsvereinbarung)
–
Schwerpunkt Arbeitgeberbetreuung
•
Beratung von Arbeitgeberkunden
•
Akquisition und Besetzung von Arbeits- und Ausbildungsstellen
•
Betreuung von AG-Kunden (insbes. Entwicklung und Pflege von Geschäftsbeziehungen zu AG-Kunden entspr. der AG-Handlungsprogramme)
Vor- und Ausbildung/Berufserfahrung
–
Hochschulabschluss oder vergleichbare Qualifikation
–
oder vergleichbares Profil
Fachlich-methodische Anforderungen
–
Fundierte Kenntnisse der Produkte, Programme und Verfahren einschl. der relevanten Rechtsgrundlagen im Aufgabengebiet
–
Fundierte Kenntnisse der Berufskunde
–
Fundierte Kenntnisse des zielgruppenspezifischen Arbeitsmarktes und Ausbildungsmarktes
–
Fundierte Kenntnisse des betrieblichen Personalwesens
–
Grundkenntnisse des Dienstleistungsmarketings
–
Fundierte Kenntnisse relevanter MS-Office und IT-Fachanwendungen
Kompetenzanforderungen
–
Fach-/Methodenkompetenz: Faktensammlung/Datenanalyse (komplex), eigenständige Problemlösung (mittel); Selbstorganisation/eigenverantwortliche Arbeitsplanung (mittel)
–
Sozial-kommunikative Kompetenz: Kontaktaufnahme/Informationsaustausch (komplex), Diskussion/Argumentation (komplex), persönliche Beratung (komplex), Servicementalität, Teamfähigkeit
–
Personale Kompetenz: Lernfähigkeit“
5
Der Kläger wurde ab dem 1. Februar 2008 zunächst nach Tätigkeitsebene IV Entwicklungsstufe 1 TV-BA vergütet. Unter Berücksichtigung seiner Vorbeschäftigung bei der Beklagten vom 14. Mai 2007 bis zum 31. Dezember 2007 erhielt er seit dem 1. Juni 2008 eine Vergütung nach Entwicklungsstufe 2.
6
Von Februar 2009 bis ca. Mai 2009 war der Kläger im Rahmen eines Projektes verstärkt mit der Einwerbung von Stellen betraut. Eine im Nachgang zu einem Mitarbeitergespräch durch die Beklagte gefertigte Leistungseinschätzung des Klägers vom 16. Juni 2009 hat ua. folgenden Inhalt:
„Der Umgang mit Arbeitgebern und speziell die Kundengewinnung durch persönliche ‚Verkaufsgespräche‘ sind eindeutig die Stärken von Herrn G. Diese Stärken konnte er im Rahmen eines Projektes zur Gewinnung zusätzlicher Arbeits- und Ausbildungsstellen positiv einbringen und selbst Arbeitgeber von den Dienstleistungen der BA überzeugen, die bislang nicht mit der Agentur zusammenarbeiten wollten. Erfahrungen, die Herr G aufgrund seiner Tätigkeit im Außendienst in der freien Wirtschaft gesammelt hat, gab er bereitwillig an andere Kolleginnen und Kollegen des AG-S weiter. Besonders die von ihm eingebrachten kreativen Lösungsansätze sorgten für positive Impulse innerhalb des AG-S. Der enge Kontakt zu den Personaldienstleistern sorgte dafür, dass Herr G einen erheblichen Anteil an den erfolgreich besetzten Arbeitsstellen beisteuern konnte.“
7
Ab dem 1. Juni 2010 vergütete die Beklagte den Kläger nach Tätigkeitsebene IV Entwicklungsstufe 3 TV-BA. Mit Schreiben vom 28. März 2012 wurde das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 1. April 2012 entfristet und dem Kläger die Tätigkeit eines „Sachbearbeiters Arbeitnehmerleistungen SGB III“ übertragen. Diese Tätigkeit ist ebenfalls der Tätigkeitsebene IV zugeordnet. Ab dem 1. Juni 2013 wurde der Kläger nach deren Entwicklungsstufe 4 bezahlt.
8
Eine Berücksichtigung von außerhalb der Beklagten erworbener einschlägiger Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung sah § 18 Abs. 5 TV-BA in der am 1. Februar 2008 geltenden Fassung des 4. Änderungstarifvertrags zum TV-BA (TV-BA aF) nur vor, wenn diese Berufserfahrung mindestens zwei Jahre betrug und als Voraussetzung im entsprechenden TuK ausdrücklich gefordert war. Mit Wirkung zum 1. September 2015 wurde der TV-BA durch den 15. Änderungstarifvertrag vom 19. August 2015 (im Folgenden TV-BA) teilweise neu gefasst. Damit wurde eine im Vergleich zu den Vorgängerregelungen erweiterte Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung, welche außerhalb der Beklagten erworben wurde, ermöglicht. § 18 TV-BA lautet nunmehr auszugsweise wie folgt:
„§ 18 Entwicklungsstufen
(1)
Die acht Tätigkeitsebenen umfassen jeweils sechs Entwicklungsstufen.
(2)
Bei Einstellung werden die Beschäftigten der Entwicklungsstufe 1 zugeordnet, soweit sich nicht aus den nachstehenden Regelungen Abweichendes ergibt.
(3)
Nachwuchskräfte im Sinne des Tarifvertrages zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Nachwuchskräfte der Bundesagentur für Arbeit (TVN-BA) sowie Trainees werden bei Übernahme in ein Arbeitsverhältnis nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung bzw. nach Abschluss des Traineeprogramms der Entwicklungsstufe 2 der jeweils maßgebenden Tätigkeitsebene zugeordnet.
(4)
Absatz 3 gilt entsprechend bei der Einstellung von Beschäftigten mit mindestens einjähriger Berufserfahrung aus einem vorherigen Arbeitsverhältnis bei der BA.
Prokollerklärung zu Absatz 3 und 4:
Die Zuordnung zur Entwicklungsstufe 2 berücksichtigt die Tatsache, dass in den genannten Rechtsverhältnissen mit der BA unabhängig von der im Einzelfall ausgeübten Tätigkeit bereits Kompetenzen und Fertigkeiten aus dem Aufgabenbereich der BA erworben wurden, über die Beschäftigte ohne Berufserfahrung bei der BA nicht verfügen.
(5)
Bei Einstellung von Beschäftigten mit einschlägiger Berufserfahrung erfolgt die Stufenzuordnung unter Berücksichtigung der jeweiligen Dauer der einschlägigen Berufserfahrung nach Maßgabe der in Absatz 6 für den Stufenaufstieg im laufenden Arbeitsverhältnis getroffenen Regelungen.
Prokollerklärung zu Absatz 5:
1.
Einschlägige Berufserfahrung liegt dann vor, wenn der/dem Beschäftigten in dem vorherigen Arbeitsverhältnis eine Tätigkeit übertragen war, die demselben TuK der Anlage 1.0 zugeordnet ist bzw. zuzuordnen wäre wie die übertragene Tätigkeit (fiktive Zuordnung). Im Falle der fiktiven Zuordnung ist maßgeblich, ob die früheren Tätigkeiten nach ihrer Art (Aufgabeninhalt) und ihrem Anforderungsniveau den Kompetenzanforderungen der im aktuellen Arbeitsverhältnis erstmalig übertragenen Tätigkeit bei der BA vergleichbar sind.
…
(6)
Die Beschäftigten erreichen die jeweils nächste Entwicklungsstufe nach folgenden Zeiten einer ununterbrochenen Tätigkeit innerhalb derselben Tätigkeitsebene:
–
Entwicklungsstufe 2 nach einem Jahr in Entwicklungsstufe 1,
–
Entwicklungsstufe 3 nach zwei Jahren in Entwicklungsstufe 2,
–
Entwicklungsstufe 4 nach drei Jahren in Entwicklungsstufe 3,
–
Entwicklungsstufe 5 nach vier Jahren in Entwicklungsstufe 4 und
–
Entwicklungsstufe 6 nach fünf Jahren in Entwicklungsstufe 5.
Zeiten einschlägiger Berufserfahrung im Sinne des Absatzes 5, die nicht bereits im Zusammenhang mit der Einstellung bei der Zuordnung zu einer Entwicklungsstufe berücksichtigt worden sind, werden auf die in Satz 1 festgelegte Laufzeit der ab dem Einstellungszeitpunkt maßgebenden Entwicklungsstufe angerechnet. …“
9
§ 6 Abs. 2 des 15. Änderungstarifvertrags zum TV-BA trifft folgende Regelung für bereits Beschäftigte:
„Beschäftigte, die vor dem 1.9.2015 bei der BA auf Grundlage des § 18 in der bis zu diesem Stichtag geltenden Fassung eingestellt wurden, können beantragen, dass die vorgenommene Entwicklungsstufenzuordnung bei Einstellung nach Maßgabe des § 18 in der Fassung dieses Änderungstarifvertrags überprüft wird. Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung muss erkennen lassen, auf welche Weise nach Ansicht der/des Beschäftigten die Voraussetzungen für eine andere als die vorgenommene Entwicklungsstufenzuordnung erfüllt werden; die Angaben sind zu belegen. Bei Vorliegen der Voraussetzungen wird rückwirkend zum Einstellungszeitpunkt eine Neuzuordnung zur Entwicklungsstufe vorgenommen. Zahlungsansprüche werden im Rahmen der tariflichen Ausschlussfrist erfüllt. Soweit Beschäftigte bereits unter Berufung auf die Entscheidung des EuGH vom 5.12.2013, C 514/12, eine Überprüfung der Entwicklungsstufenzuordnung beantragt haben, greift die BA die Überprüfung von Amts wegen auf, ohne dass es eines erneuten Antrags bedarf. Im Übrigen gelten Sätze 2 bis 5 entsprechend.“
10
Mit Schreiben vom 23. Juli 2015 beantragte der Kläger die Überprüfung seiner Entwicklungsstufenzuordnung unter Berücksichtigung seiner Tätigkeit als selbstständiger Handelsvertreter für die S GmbH vom 1. Mai 2004 bis zum 13. Mai 2007. Er verkaufte in dieser Zeit Spülmaschinen, Wasseraufbereitungsanlagen, Spülküchenzubehör sowie Reinigungs- und Desinfektionsprodukte an Großküchenbetreiber. Die Beklagte lehnte die Anerkennung dieser Tätigkeit als einschlägige Berufserfahrung ab. Sie vergütet den Kläger dementsprechend erst seit dem 1. Juni 2017 nach Entwicklungsstufe 5 der Tätigkeitsebene IV TV-BA.
11
Nach Ansicht des Klägers ist seine Tätigkeit bei der S GmbH hingegen als einschlägige berufliche Erfahrung im Sinne des neugefassten § 18 Abs. 5 TV-BA bei der Stufenzuordnung zu berücksichtigen. Folglich sei er nach insgesamt zehnjähriger Stufenlaufzeit bereits seit dem 1. Juni 2014 nach Entwicklungsstufe 5 der Tätigkeitsebene IV TV-BA zu vergüten.
12
Der Kläger hat behauptet, die Frage der Einschlägigkeit seiner Berufserfahrung sei nur bezogen auf seine Tätigkeit als Arbeitsvermittler im Arbeitgeber-Service zu beurteilen. Das für die Tätigkeit als Arbeitsvermittler mit Beratungsaufgaben erstellte TuK könne bezogen auf die Aufgabenstellung nicht maßgeblich sein. Anderenfalls sei es ausgeschlossen, dass ein Arbeitnehmer in einer früheren Tätigkeit sowohl die für den Arbeitnehmer- als auch die für den Arbeitgeber-Service erforderliche einschlägige Berufserfahrung erworben habe. Soweit für eine einschlägige Berufserfahrung Kenntnisse des SGB III oder spezifischer EDV-Programme gefordert würden, seien diese außerhalb der Organisation der Beklagten nicht zu erlangen.
13
Bezogen auf den Arbeitgeber-Service habe er vor der Einstellung bei der Beklagten eine bis auf das beworbene „Produkt“ nahezu inhaltsgleiche Tätigkeit ausgeübt. Bei der Beklagten habe er in erster Linie durch Besuche und Anrufe den Kontakt zu den Arbeitgebern herstellen und pflegen sollen, um freie Stellen zu akquirieren. Fundierte Kenntnisse der Berufskunde oder des sog. „Matching-Prozesses“, der die Übereinstimmung von Stellen- und Bewerberprofil erzielen soll, seien für seine Tätigkeit hingegen nicht erforderlich gewesen. Dabei habe er seine bei der S GmbH erworbene Berufserfahrung weiterhin nutzen können. Die Kompetenzanforderungen beider Tätigkeiten seien im Sinne der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA vergleichbar. Bei beiden sei die Kundenberatung und -betreuung der wesentliche Aufgabeninhalt gewesen.
14
Dies entspreche auch der Zielsetzung der Tarifänderung, wonach neben der Erfüllung der Anforderungen des Unionsrechts die Anerkennung anderweitig erworbener Berufserfahrung gefördert werden sollte, um externe Kompetenz nutzen zu können. Dementsprechend habe die Beklagte gezielt Personen mit Vertriebserfahrung eingestellt, um das Einwerben offener Stellen zu steigern. Dies gelte auch in seinem Fall. Die Beklagte habe seine in der freien Wirtschaft erworbene Vertriebskompetenz im Arbeitgeber-Service zum Einsatz bringen wollen und tatsächlich zum Einsatz gebracht. Mit der Beurteilung vom 16. Juni 2009 habe die Beklagte dann bestätigt, dass seine Berufserfahrung einschlägig gewesen sei. Es sei treuwidrig, wenn sie dies nun in Abrede stellen wolle.
15
Die Beklagte behandle ihn zudem ungerechtfertigt schlechter als andere Arbeitnehmer und verstoße damit gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Bei nachgewiesener Vertriebserfahrung sei grundsätzlich eine höhere Entwicklungsstufe gewährt worden. Insoweit hat sich der Kläger auf die Stufenzuordnung der Arbeitnehmer M und P berufen.
16
Der Kläger hat daher beantragt,
festzustellen, dass er seit dem 1. Juni 2014 der Entwicklungsstufe 5 in Tätigkeitsebene IV TV-BA zuzuordnen ist und dass die Beklagte verpflichtet ist, sich aus dieser Stufenzuordnung ergebende Vergütungsdifferenzansprüche für die Zeit seit dem 1. März 2015 an den Kläger auszuzahlen und mit Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen, wobei Ansprüche für einzelne Monate jeweils ab dem 1. des jeweiligen Folgemonats entsprechend zu verzinsen sind.
17
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Tätigkeit eines Handelsvertreters für Küchengeräte vermittle bezogen auf das von den Tarifvertragsparteien bestimmte TuK eines Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben keine einschlägige Berufserfahrung. Der Aufgabeninhalt sei nicht vergleichbar. Die Tätigkeit eines Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben sei durch die möglichst dauerhafte Vermittlung arbeitsuchender Menschen geprägt. Dabei stehe auch im Arbeitgeber-Service der Außendienst nicht im Vordergrund. Die Akquise freier Stellen mache lediglich 20 % der Aufgaben aus. Arbeitsvermittlung sei eine komplexe Tätigkeit, die fundierte Kenntnisse der Produkte, Programme und Verfahren (zB „Matching-Prozess“) einschließlich der relevanten Rechtsgrundlagen, der Berufskunde sowie des zielgruppenspezifischen Arbeits- und Ausbildungsmarktes voraussetze. Solche Kenntnisse habe der Kläger durch den Verkauf von Küchengeräten nicht erworben. Die Leistungseinschätzung vom 16. Juni 2009 beinhalte keine Anerkennung der vorherigen Tätigkeit des Klägers als einschlägige Berufserfahrung. Es sei lediglich gewürdigt worden, dass der Kläger sich während einer Schulung aktiv eingebracht habe.
18
Das Arbeitsgericht hat der Klage bis auf einen Teil der Zinsforderung stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht dieses Urteil teilweise abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht insgesamt abgewiesen. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat nach § 18 Abs. 6 TV-BA erst seit dem 1. Juni 2017 einen Anspruch auf Vergütung nach Entwicklungsstufe 5 der Tätigkeitsebene IV TV-BA. Dieser wird unstreitig erfüllt. Ein Beginn der Stufenlaufzeit in Entwicklungsstufe 5 ab dem 1. Juni 2014 kann auch nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben oder dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleitet werden.
20
I. Die Klage ist zulässig.
21
Der Antrag bezieht sich auf ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis. Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben. Dem steht nicht entgegen, dass sich der Antrag für die Zeit ab dem 1. Juni 2014 auf eine Zuordnung richtet und die daraus folgende Zahlungsverpflichtung erst ab dem 1. März 2015 festgestellt werden soll. Die Frage, ob der Kläger nach den tariflichen Vorgaben bereits seit 1. Juni 2014 der Entwicklungsstufe 5 der Tätigkeitsebene IV TV-BA zugeordnet ist, wirkt sich auf den Zeitpunkt seines Aufstiegs nach § 18 Abs. 6 TV-BA in Entwicklungsstufe 6 dieser Tätigkeitsebene aus (vgl. BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 671/15 – Rn. 13, BAGE 158, 81). Das Feststellungsinteresse bzgl. einer bestimmten Stufenzuordnung ab einem bestimmten Zeitpunkt kann sich auch daraus ergeben, dass damit der Streit über die Stufenzuordnung insgesamt beseitigt wird (vgl. BAG 27. Juli 2017 – 6 AZR 701/16 – Rn. 17; 27. Januar 2011 – 6 AZR 578/09 – Rn. 18). Dies ist hier der Fall.
22
II. Die Klage ist unbegründet.
23
1. Der Kläger kann nicht gemäß § 6 Abs. 2 des 15. Änderungstarifvertrags zum TV-BA iVm. § 18 Abs. 5 und Abs. 6 TV-BA verlangen, seit dem 1. Juni 2014 nach Tätigkeitsebene IV Entwicklungsstufe 5 TV-BA vergütet zu werden. Dabei kann offenbleiben, welche Anforderungen an einen Antrag auf Überprüfung der Entwicklungsstufenzuordnung nach § 6 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 des 15. Änderungstarifvertrags zum TV-BA zu stellen sind und ob der Antrag des Klägers diesen genügte. Seinem Vortrag lässt sich nicht entnehmen, dass ihm seine Tätigkeit als selbstständiger Handelsvertreter für die S GmbH bezogen auf die ihm ab dem 1. Februar 2008 von der Beklagten übertragene Tätigkeit eine einschlägige Berufserfahrung im Sinne des § 18 Abs. 5 TV-BA iVm. der hierzu ergangenen Protokollerklärung Nr. 1 vermittelt hat.
24
a) Der 15. Änderungstarifvertrag zum TV-BA hat die Regelungen zur Stufenzuordnung mit Wirkung zum 1. September 2015 tiefgreifend reformiert.
25
aa) § 18 Abs. 3 und Abs. 4 TV-BA eröffnen sog. Nachwuchskräften, Trainees und anderen bereits vor der fraglichen Einstellung bei der Beklagten Beschäftigten die Zuordnung zur Entwicklungsstufe 2 der jeweils maßgeblichen Tätigkeitsebene (vgl. die Protokollerklärung zu Abs. 3 und Abs. 4; zu den Vorgängerfassungen des § 18 Abs. 3 TV-BA vgl. BAG 8. Mai 2014 – 6 AZR 578/12 – Rn. 14 ff.).
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bb) Einschlägige Berufserfahrung findet nunmehr nach § 18 Abs. 5 iVm. Abs. 6 TV-BA bei der Stufenzuordnung uneingeschränkt Berücksichtigung. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Berufserfahrung bei der Beklagten oder anderweitig erworben wurde. Nach Satz 1 der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA liegt einschlägige Berufserfahrung dann vor, wenn der/dem Beschäftigten in dem vorherigen Arbeitsverhältnis eine Tätigkeit übertragen war, die demselben TuK der Anlage 1.0 zugeordnet ist bzw. zuzuordnen wäre wie die übertragene Tätigkeit (sog. fiktive Zuordnung). Die Zuordnung ist folglich anhand der TuK der Anlage 1.0 vorzunehmen, falls der oder die Beschäftigte vorher bereits bei der Beklagten tätig war, zB im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses, und seine frühere Tätigkeit von einem TuK erfasst wird. Ist dies nicht der Fall, bedarf die fiktive Zuordnung eines wertenden Vergleichs der früheren und der nunmehr übertragenen Tätigkeit. Diesen regelt Satz 2 der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA. Demnach ist maßgeblich, ob die früheren Tätigkeiten nach ihrer Art (Aufgabeninhalt) und ihrem Anforderungsniveau den Kompetenzanforderungen der im aktuellen Arbeitsverhältnis erstmalig übertragenen Tätigkeit bei der Beklagten vergleichbar sind.
27
cc) Entgegen der Auffassung der Revision kommt es dabei nach der tariflichen Ausgestaltung nicht nur auf einen Vergleich der bisherigen Tätigkeit mit der bei der Beklagten praktisch ausgeübten Tätigkeit („tatsächlicher Einsatz“) an. Zu vergleichen sind vielmehr die frühere und die von der Beklagten nunmehr übertragene Tätigkeit. Dabei ist zunächst die frühere Tätigkeit im Hinblick auf den Aufgabeninhalt und das Anforderungsniveau zu bestimmen. Bezogen auf diese beiden Faktoren ist dann der Vergleich mit den Kompetenzanforderungen der von der Beklagten übertragenen Tätigkeit durchzuführen. Dies beinhaltet auch den Vergleich der Aufgabeninhalte einschließlich der fachlichen Anforderungen.
28
(1) Dies entspricht dem Wortlaut des Satzes 2 der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA. Hinsichtlich der früheren Tätigkeit sind ausdrücklich zwei Kriterien zu untersuchen: die Art, dh. ausweislich des Klammerzusatzes der Aufgabeninhalt, sowie das Anforderungsniveau. Es soll bestimmt werden, was jemand gemacht hat und auf welchem Niveau. Hiervon ausgehend ist der Vergleich mit der „erstmalig übertragenen Tätigkeit“ durchzuführen. Der Vergleich bezieht sich nicht nur auf einen Teil der übertragenen Tätigkeit, sondern einschränkungslos auf ihre Gesamtheit im Rahmen des einschlägigen TuKs. Es ist daher unbeachtlich, wenn ein Beschäftigter, der rückwirkend nach § 6 Abs. 2 des 15. Änderungstarifvertrags zum TV-BA eine Überprüfung der Entwicklungsstufenzuordnung beantragt hat, tatsächlich immer nur einen Teil der Aufgaben des Profils der übertragenen Tätigkeit verrichtet hat und die dafür erforderlichen Vorkenntnisse besaß.
29
(2) Auch Sinn und Zweck der Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung sprechen für dieses Tarifverständnis. Die Tarifvertragsparteien gehen offensichtlich davon aus, dass sich Beschäftigte mit einschlägiger Berufserfahrung schneller einarbeiten und ein höheres Leistungsvermögen aufweisen. Das honorieren sie mit einer Zuordnung zu einer höheren Stufe (vgl. BAG 18. Oktober 2018 – 6 AZR 232/17 (A) – Rn. 14; zum Zweck des Stufenaufstiegs vgl. BAG 6. September 2018 – 6 AZR 836/16 – Rn. 21). Dieses Regelungsziel kann aber nur erreicht werden, wenn sich die frühere und die erstmalig übertragene Tätigkeit nach ihrem Aufgabeninhalt und ihren fachlichen Anforderungen soweit decken, dass eine Einarbeitungszeit in fachlicher Hinsicht praktisch nicht erforderlich ist. Dies bedeutet nicht, dass neu eingestellte Beschäftigte vorher exakt dieselbe Tätigkeit verrichtet haben müssen. Es ist auch nicht erforderlich, dass die frühere Tätigkeit zB hinsichtlich ihrer Kernaufgaben und fachlich-methodischen Anforderungen vollumfänglich einem TuK entspricht. Die Revision weist insoweit zutreffend darauf hin, dass anderenfalls eine außerhalb der Beklagten erworbene Berufserfahrung oftmals nicht berücksichtigt werden könnte. Entscheidend ist vielmehr die Nutzbarkeit des Erfahrungswissens. Um diese zu ermitteln, bedarf es der Gegenüberstellung der früheren Tätigkeit bezogen auf Aufgabeninhalt und Anforderungsniveau mit den bei der Beklagten gestellten Kompetenzanforderungen. Diese Anforderungen können wiederum nur bezogen auf die übertragene Tätigkeit nach dem maßgeblichen TuK bestimmt werden. Letztlich werden Tätigkeiten verglichen und nicht abstrakte Kompetenzanforderungen. Unbeachtlich sind dabei Einarbeitungsprozesse, die durch das bloße Kennenlernen der Strukturen der Beklagten und ihrer speziellen EDV-Systeme bedingt sind. Dieser Einarbeitungsbedarf besteht unabhängig von der früheren Tätigkeit bei jeder erstmaligen Einstellung.
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(3) In systematischer Hinsicht wird diese Auslegung durch den Blick auf § 18 Abs. 3 und Abs. 4 TV-BA bestätigt. Die Protokollerklärung zu diesen beiden Absätzen stellt klar, dass für bereits vorher bei der Beklagten Beschäftigte eine Zuordnung zur Entwicklungsstufe 2 „unabhängig von der im Einzelfall ausgeübten Tätigkeit“ möglich ist, weil sie bereits Kompetenzen und Fertigkeiten aus dem Aufgabenbereich der Beklagten erworben haben, über die Beschäftigte ohne Berufserfahrung bei der Beklagten nicht verfügen. Hier soll kein tätigkeitsbezogenes Erfahrungswissen honoriert werden, sondern allgemeine Kenntnisse über Strukturen und Arbeitsabläufe. Im Gegensatz zu § 18 Abs. 5 TV-BA ist der Inhalt der Tätigkeit weder bezogen auf die frühere noch auf die nunmehr übertragene Tätigkeit zu würdigen.
31
b) Im Bewusstsein der erweiterten Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung haben die Tarifvertragsparteien den zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung bereits Beschäftigten nach § 6 Abs. 2 des 15. Änderungstarifvertrags zum TV-BA ermöglicht, eine nachträgliche Anerkennung ihrer nunmehr als einschlägig einzustufenden Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung zu beantragen. Der Verweis in § 6 Abs. 2 Satz 6 des 15. Änderungstarifvertrags zum TV-BA auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 5. Dezember 2013 (- C-514/12 – [Zentralbetriebsrat der gemeinnützigen Salzburger Landeskliniken Betriebs GmbH]) verdeutlicht, dass die Tarifvertragsparteien unionsrechtliche Vorgaben beachten wollten, auch wenn sich die Regelung nur auf die Antragstellung bezieht. Für die Auslegung der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA bzgl. der Frage, wie eine fiktive Zuordnung vorzunehmen ist, haben unionsrechtliche Vorgaben jedoch keine Bedeutung. Eine Beschränkung der durch Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit kann durch die fiktive Zuordnung nicht bewirkt werden, da sie tätigkeitsbezogen vorzunehmen ist und nicht danach differenziert, wo und bei welchem Arbeitgeber die Berufserfahrung erworben wurde (vgl. zu den unionsrechtlichen Anforderungen BAG 18. Oktober 2018 – 6 AZR 232/17 (A) – Rn. 34; 25. Januar 2018 – 6 AZR 791/16 – Rn. 19 ff., BAGE 161, 356).
32
c) Die Tätigkeit des Klägers als selbstständiger Handelsvertreter für die S GmbH stellt bezogen auf die ihm nach seiner letzten Einstellung ab dem 1. Februar 2008 von der Beklagten übertragene Tätigkeit keine einschlägige Berufserfahrung im Sinne der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA dar. Dabei kann mit den Parteien davon ausgegangen werden, dass auch eine selbstständig ausgeübte Tätigkeit einschlägige Berufserfahrung im tariflichen Sinn vermitteln kann. Wie dargestellt, ist aber der Ansatz der Revision unzutreffend, wonach die frühere Tätigkeit nur mit der bei der Beklagten praktisch ausgeübten Tätigkeit zu vergleichen ist. Maßgeblich ist die übertragene Tätigkeit.
33
aa) Dem Kläger wurde ausweislich des Schreibens vom 29. Januar 2008 für den Zeitraum vom 1. Februar 2008 bis zum 31. Dezember 2008 die Tätigkeit eines „Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben“ übertragen. Bezogen darauf vermittelte ihm seine Tätigkeit als selbstständiger Handelsvertreter auch unter Zugrundelegung seines Sachvortrags keine einschlägige Berufserfahrung.
34
(1) Seine Aufgabe als Handelsvertreter bei der S GmbH bestand im Vertrieb von Küchengeräten. Der Aufgabeninhalt war auf den Verkauf bestimmter Produkte zu bestimmten Preisen in einem bestimmten Marktumfeld gerichtet. Der Kläger hatte neue Kunden zu gewinnen und Kundenbestand zu erhalten. Im Vordergrund stand daher die Beratung von Kunden, gleich auf welchem Kontaktweg. Diese Beratung war auf technische Produkte ausgerichtet.
35
(2) Die Anforderungen an die Tätigkeit eines Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben sind in einem TuK definiert. Diese Anforderungen sind gemäß § 14 Abs. 1 TV-BA die Grundlage für die Zuordnung zu einer der acht Tätigkeitsebenen. Die TuK sind in Verbindung mit den Zuordnungstabellen Teil der tariflichen Eingruppierungsregelungen (vgl. hierzu BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 147/17 – Rn. 25 ff.). Das TuK „Arbeitsvermittler/-in mit Beratungsaufgaben in der Agentur für Arbeit“ umschreibt die Kernaufgaben/Verantwortlichkeiten und legt die fachlich-methodischen Anforderungen, die notwendige Vor- und Ausbildung bzw. Berufserfahrung und die Kompetenzanforderungen abstrakt fest. Letztere (Fach-/Methodenkompetenz, sozial-kommunikative Kompetenz, personale Kompetenz) sind für eine Vielzahl von Tätigkeiten in unterschiedlichem Maß erforderlich. Die Verwertbarkeit der Berufserfahrung aus einer früheren Tätigkeit, welche durch die fiktive Zuordnung nach der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 18 Abs. 5 TV-BA ermittelt werden soll, kann – wie dargelegt – nur durch die Einbeziehung der Aufgabeninhalte in den vorzunehmenden Vergleich bestimmt werden.
36
(3) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Tätigkeit eines Verkäufers von Küchengeräten und die eines Arbeitsvermittlers praktisch keine Gemeinsamkeiten aufweist. Dies gilt besonders für den im TuK angeführten „Schwerpunkt Bewerberbetreuung“. Selbst der Kläger behauptet nicht, die Betreuung arbeitsuchender Menschen sei mit dem Verkauf von Küchengeräten vergleichbar. Er stellt vielmehr darauf ab, nur im Arbeitgeber-Service („Schwerpunkt Arbeitgeberbetreuung“) eingesetzt worden zu sein. Dies ist aber für die fiktive Zuordnung ohne Belang, da die im TuK insgesamt festgelegten Anforderungen für den Vergleich maßgeblich sind und dem Kläger zunächst die Tätigkeit eines Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben ohne Einschränkung übertragen wurde. Zur übertragenen Tätigkeit im tariflichen Sinne gehörte damit auch die Bewerberbetreuung.
37
bb) Es kann dahingestellt bleiben, ob die übertragene Tätigkeit später dadurch beschränkt wurde, dass die Beklagte im Schreiben vom 20. August 2008 anführte, der Kläger übe „weiterhin die Tätigkeit eines Arbeitsvermittlers mit Beratungsaufgaben (Arbeitgeber-Service)“ aus. Ebenso kann dahinstehen, ob eine solche Beschränkung angesichts der tariflichen Ausgestaltung, die, wie ausgeführt, auf das gesamte TuK abstellt, den Vergleichsmaßstab verengen könnte. Es ist nicht erkennbar, dass die frühere Tätigkeit des Klägers auch nur bezogen auf den Arbeitgeber-Service hinreichend einschlägige Berufserfahrung vermittelt hat. Der Kläger führt letztlich nur seine generelle Vertriebskompetenz an und erklärt alle fachlich-methodischen Anforderungen, bzgl. derer er noch keine Berufserfahrung gesammelt hat, für praktisch irrelevant. Seiner Darstellung nach zählt nur die Kontaktaufnahme und -pflege zu den Arbeitgebern zur Erzielung einer möglichst hohen Anzahl vermittelbarer Stellen. Damit setzt er sein eigenes Verständnis der Tätigkeit an die Stelle der Aufgabenbestimmung und des fachlichen Anforderungsprofils des TuKs. So mag der Kläger fundierte Kenntnisse der Berufskunde nicht für notwendig erachten, nach dem TuK handelt es sich aber um eine fachlich-methodische Anforderung, die auch durch andere Fähigkeiten nicht ausgeglichen werden kann. Zudem blendet der Kläger aus, dass der Gegenstand der Geschäftsbeziehung zu den Arbeitgebern nicht vergleichbar ist. Zwar handelt es sich bei dem Einwerben offener Stellen um eine Akquise-Tätigkeit. Der Vertrieb von Küchengeräten weist hinsichtlich der Zielsetzung und der fachlichen Anforderungen aber keine Vergleichbarkeit mit dem Einwerben geeigneter Stellen für Arbeitsuchende auf. In der früheren Tätigkeit musste der Kläger mit technischen Kenntnissen überzeugen, als Arbeitsvermittler hatte er die personalpolitischen Interessen der Arbeitgeber mit den Qualifikationen und Vorstellungen der Bewerber in Einklang zu bringen, um Arbeitgeber sachangemessen zu beraten und Arbeits- und Ausbildungsstellen zu akquirieren.
38
cc) In der Gesamtschau kann daher bezogen auf den gesamten Zeitraum ab dem 1. Februar 2008 nicht angenommen werden, dass die frühere Tätigkeit als Handelsvertreter eine Einarbeitung des Klägers als Arbeitsvermittler entbehrlich machte. Dabei kann zu seinen Gunsten unterstellt werden, dass seine Vertriebskompetenz für die Beklagte ein Motiv für seine Einstellung und seine mehrjährige Beschäftigung als Arbeitsvermittler war. Hätte der Kläger keine dem TuK eines Arbeitsvermittlers zuordenbaren Kompetenzen aufweisen können, wäre er wohl nicht eingestellt worden. Die Wertschätzung dieser Kompetenzen kommt auch in der projektbezogenen Leistungseinschätzung vom 16. Juni 2009 zum Ausdruck. Dies ändert aber nichts daran, dass der Aufgabeninhalt der früheren und der übertragenen Tätigkeit überwiegend nicht vergleichbar ist und demzufolge keine Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung erfolgen kann. Nicht jede Berufserfahrung, die im Sinne einer Qualifikation zu einer Einstellung führt, ist gleichzeitig eine einschlägige Berufserfahrung, die wegen verringerten Einarbeitungsbedarfs eine erhöhte Vergütung bereits ab dem Zeitpunkt der Einstellung rechtfertigt.
39
d) Nach den tariflichen Vorgaben kann der Kläger daher erst seit dem 1. Juni 2017 eine Vergütung nach Entwicklungsstufe 5 der Tätigkeitsebene IV TV-BA beanspruchen. Diese wird unstreitig geleistet.
40
aa) Der Kläger konnte bei seiner Einstellung zum 1. Februar 2008 aus seiner vorangegangenen befristeten Tätigkeit bei der Beklagten eine einschlägige Berufserfahrung derselben Tätigkeitsebene vorweisen. Diese Tätigkeit dauerte vom 14. Mai 2007 bis zum 31. Dezember 2007 und damit ca. 7,5 Monate. Die für ein Erreichen der Entwicklungsstufe 2 nach § 18 Abs. 6 Satz 1 TV-BA erforderliche Zeit von einem Jahr war damit noch nicht absolviert. Folglich konnte keine Einstellung zum 1. Februar 2008 in der Entwicklungsstufe 2 nach § 18 Abs. 5 TV-BA erfolgen.
41
bb) Nach § 18 Abs. 6 Satz 2 TV-BA werden jedoch Zeiten einschlägiger Berufserfahrung im Sinne des § 18 Abs. 5 TV-BA, die nicht bereits im Zusammenhang mit der Einstellung bei der Zuordnung zu einer Entwicklungsstufe berücksichtigt worden sind, auf die in § 18 Abs. 6 Satz 1 TV-BA festgelegte Laufzeit der ab dem Einstellungszeitpunkt maßgebenden Entwicklungsstufe angerechnet. Die Dauer der einschlägigen Berufserfahrung von ca. 7,5 Monaten führte dazu, dass der Kläger bereits im Juni 2008 die Stufenlaufzeit der Entwicklungsstufe 1 zurückgelegt hatte und gemäß § 19 Abs. 1 TV-BA zu Beginn des Kalendermonats, dh. zum 1. Juni 2008, in die Entwicklungsstufe 2 aufstieg.
42
cc) Gemäß § 18 Abs. 6 Satz 1 TV-BA erreichte er nach weiteren neun Jahren Tätigkeit in derselben Tätigkeitsebene die Entwicklungsstufe 5 zum 1. Juni 2017.
43
2. Die Verweigerung der streitgegenständlichen Stufenzuordnung ist auch nicht wegen widersprüchlichen Verhaltens der Beklagten treuwidrig. Zwar kann eine Rechtsausübung gemäß § 242 BGB unzulässig sein, wenn sich eine Partei damit in Widerspruch zu ihrem eigenen vorausgegangenen Verhalten setzt und für die andere Partei ein schützenswerter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn sonstige besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 45; 27. April 2017 – 6 AZR 367/16 – Rn. 31). Dies ist hier aber nicht erkennbar. Die Beklagte hat auch nach dem Vortrag des Klägers keinen Vertrauenstatbestand auf Anerkennung seiner Berufserfahrung als Handelsvertreter geschaffen. Ein solcher lässt sich weder der Leistungseinschätzung vom 16. Juni 2009 noch der Behauptung des Klägers, er sei wegen seiner Vertriebserfahrung eingestellt worden, entnehmen. Dies mag zutreffen, kann aber, wie ausgeführt, kein Vertrauen auf eine Zuordnung zu einer höheren Stufe als der Eingangsstufe begründen.
44
3. Schließlich folgt die begehrte Stufenzuordnung daneben auch nicht aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.
45
a) Dieser ist ein Gebot der Verteilungsgerechtigkeit, das verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln. Wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nur dort ein, wo der Arbeitgeber durch gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft, nicht hingegen bei bloßem – auch vermeintlichem – Normenvollzug (BAG 18. Oktober 2018 – 6 AZR 506/17 – Rn. 24; 21. Dezember 2017 – 6 AZR 790/16 – Rn. 31; vgl. auch BAG 14. August 2018 – 1 AZR 287/17 – Rn. 25).
46
b) Ein solch gestaltendes Verhalten hat der Kläger durch die pauschale Behauptung, bei anderen Beschäftigten sei Vertriebserfahrung als einschlägige Berufserfahrung berücksichtigt worden, nicht substantiiert dargelegt. Die beiden konkret angeführten Beispiele, Frau P und Herr M, sind nicht geeignet, einen Anspruch auf Gleichbehandlung zu begründen. Sie haben vor ihrer Einstellung gänzlich andere Tätigkeiten als der Kläger verrichtet. Frau P wurde von der Beklagten zudem eine andere Tätigkeit als dem Kläger übertragen.
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III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
Köhler
M. Werner |
bag_14-20 | 13.05.2020 | 13.05.2020
14/20 - Grenzen der tariflichen Regelungsmacht - Ansprüche nur bei "arbeitsvertraglicher Nachvollziehung" eines Tarifwerks
Die Parteien eines Tarifvertrags können in diesem nicht wirksam vereinbaren, dass Ansprüche aus dem Tarifvertrag trotz beiderseitiger Tarifgebundenheit nur dann bestehen sollen, wenn die Arbeitsvertragsparteien die Einführung des Tarifwerks durch eine Bezugnahmeklausel auch individualvertraglich nachvollziehen. Eine solche Bestimmung liegt außerhalb der tariflichen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien.
Der Arbeitsvertrag der bei der Beklagten beschäftigten Klägerin, welche Mitglied der IG Metall ist, enthält keine Bezugnahme auf Tarifverträge. Die Beklagte war zunächst nicht tarifgebunden, schloss aber im Jahr 2015 mit der IG Metall einen Mantel- und einen Entgeltrahmentarifvertrag, nach denen „Ansprüche aus diesem Tarifvertrag [voraus]setzen …, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird“. Dazu sollte eine Bezugnahmeklausel mit dem Inhalt vereinbart werden, dass sich das Arbeitsverhältnis „nach dem jeweils für den Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers … geltenden Tarifwerk“ richtet. Das Angebot zum Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags, der ua. eine Bezugnahmeklausel entsprechend den tarifvertraglichen Regelungen vorsah, nahm die Klägerin nicht an. Mit der vorliegenden Klage verlangt sie die Zahlung von Differenzentgelt auf der Grundlage der Bestimmungen des Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrags. Das Arbeitsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen.
Die Revision der Klägerin vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte Erfolg. Der Klägerin stehen schon aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit Ansprüche aus den Tarifverträgen zu. Diese können nicht von den vorgesehenen individualrechtlichen Umsetzungsmaßnahmen der Arbeitsvertragsparteien abhängig gemacht werden (§ 4 Abs. 1 TVG). Auch das durch § 4 Abs. 3 TVG geschützte Günstigkeitsprinzip steht einer solchen Regelung entgegen. Die tarifvertraglichen Bestimmungen, die eine „arbeitsvertragliche Nachvollziehung“ verlangen, sind daher unwirksam.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Mai 2020 – 4 AZR 489/19 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 17. Januar 2019 – 5 Sa 404/18 –
Hinweis: In zwei weiteren Verfahren vom heutigen Tag, die dieselbe Rechtsfrage betrafen (Az. – 4 AZR 490/19 -, – 4 AZR 643/19 -), obsiegten die klagenden Parteien ebenfalls. | Tenor
I. Auf die Revision der Klägerin wird – unter deren Zurückweisung im Übrigen – das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 17. Januar 2019 – 5 Sa 404/18 – aufgehoben, soweit es hinsichtlich Anträgen der Klägerin auf Zahlung von insgesamt 11.830,73 Euro brutto nebst Zinsen die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 7. Februar 2018 – 10 Ca 342/16 – zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten das vorgenannte Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen hat.
II. Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird – unter deren jeweiliger Zurückweisung im Übrigen – das genannte Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 11.830,73 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 1.941,40 Euro seit dem 27. Oktober 2016, aus 181,08 Euro seit dem 1. November 2016, aus 2.541,08 Euro seit dem 1. Dezember 2016, aus 181,08 Euro seit dem 3. Januar 2017, aus jeweils 285,36 Euro seit dem 1. Februar 2017 und 1. März 2017, aus jeweils 368,67 Euro seit dem 1. April 2017, 3. Mai 2017, 1. Juni 2017, 1. Juli 2017, 1. August 2017, 1. September 2017, 3. Oktober 2017 und 1. November 2017, aus 2.728,67 Euro seit dem 1. Dezember 2017 sowie aus jeweils 368,67 Euro seit dem 3. Januar 2018 und 1. Februar 2018 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Leitsatz
Die Tarifvertragsparteien können Ansprüche aus den zwischen ihnen vereinbarten tariflichen Inhaltsnormen nicht davon abhängig machen, das die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien eine vertragliche Bezugnahme auf die für den Arbeitgeber jeweils gültigen Tarifverträge vereinbaren. Eine solche „arbeitsvertragliche Nachvollziehung“ von Tarifverträgen als Anspruchsvoraussetzung umgeht die gesetzlich angeordnete unmittelbare Wirkung der Rechtsnormen eines Tarifvertrags nach § 4 Abs. 1 TVG sowie das in § 4 Abs. 3 TVG verankerte Günstigkeitsprinzip und ist daher unwirksam.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Geltung von Tarifverträgen und daraus resultierende Differenzentgeltansprüche.
2
Die Klägerin, Mitglied der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), war seit dem 1. September 1999 zunächst bei der A GmbH als Sachbearbeiterin beschäftigt. Der zuletzt gültige Arbeitsvertrag vom 18. Juni 2002 enthält keine Bezugnahme auf Tarifverträge und sieht die Zahlung einer festen monatlichen Vergütung vor.
3
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ging zum 1. September 2014 infolge eines Betriebsübergangs auf die Beklagte, die Werkstoffdienstleistungen für Kunden aus der Luft- und Raumfahrtindustrie anbietet, über. Diese war zunächst nicht tarifgebunden. Am 15. Mai 2015 schloss sie gemeinsam mit dem Unternehmerverband Industrieservice + Dienstleistungen e.V. auf der einen und der IG Metall auf der anderen Seite einen Manteltarifvertrag für die ThyssenKrupp Aerospace Germany GmbH (MTV) und einen Entgeltrahmentarifvertrag für die ThyssenKrupp Aerospace Germany GmbH (ERTV).
4
Der MTV enthält ua. folgende Regelungen:
„§ 1
Geltungsbereich
1. Räumlich:
Alle Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland.
2. Fachlich:
Alle Betriebe der ThyssenKrupp Aero-space Germany GmbH, Jahnstraße 64, 63150 Heusenstamm.
3. Persönlich:
Alle Arbeitnehmer und Auszubildenden, auf die das Betriebsverfassungsgesetz in der zuletzt gültigen Fassung Anwendung findet.
Er gilt nicht für
Arbeitnehmer, denen ein monatliches Einkommen zugesagt worden ist, das das Monatsentgelt der höchsten Tarifgruppe, allerdings hochgerechnet auf 40 Arbeitsstunden pro Woche, um 20 % übersteigt.
Abschnitt 1
Allgemeine Arbeitsbedingungen
§ 2
…
§ 24
Erlöschen von Ansprüchen
1.
Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis sind wie folgt geltend zu machen:
a)
Ansprüche auf Zuschläge aller Art sofort, spätestens innerhalb von zwei Monaten nach Abrechnung der Entgeltperiode, bei der sie hätten abgerechnet werden müssen;
b)
alle übrigen beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit.
2.
Eine Geltendmachung nach Ablauf der unter Ziff. 1 festgesetzten Frist ist ausgeschlossen, es sei denn, dass die Einhaltung dieser Frist wegen eines unabwendbaren Ereignisses nicht möglich gewesen ist.
3.
Ist ein Anspruch rechtzeitig erhoben worden und lehnt die Gegenseite seine Erfüllung ab, so ist der Anspruch innerhalb von drei Monaten seit der Ablehnung gerichtlich geltend zu machen. Eine spätere Geltendmachung ist ausgeschlossen.
§ 25
Sonderzahlungen
1.
Beschäftigte, die am Auszahlungstag in einem Arbeitsverhältnis stehen und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen zwölf Monate angehören, haben je Kalenderjahr einen Anspruch auf betriebliche Sonderzahlung. …
2.
Die Leistungen werden nach folgender Staffel gezahlt:
…
nach 60 Monaten Betriebszugehörigkeit 2.360 €
…
7.
Die Sonderzahlung wird mit der November-Abrechnung im Dezember ausgezahlt.
…
Abschnitt 6
Schlussbestimmungen
§ 37
Tarifvertragsansprüche
Ansprüche aus diesem Tarifvertrag setzen voraus, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird.
Die Bezugnahmeklausel lautet wie folgt:
,Das Arbeitsverhältnis richtet sich – von den gesetzlichen Vorschriften abgesehen – nach dem jeweils für den Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers soweit und solange der Arbeitgeber tarifgebunden ist geltenden Tarifwerk in seiner jeweils gültigen Fassung. Dieses sind zurzeit die Tarifverträge für die ThyssenKrupp Aerospace Germany GmbH zwischen der IG Metall auf der einen Seite sowie der ThyssenKrupp Aerospace Germany GmbH und dem Unternehmerverband Industrieservice auf der anderen Seite.‘
§ 38
Inkrafttreten und Kündigung
1.
Der Tarifvertrag tritt zum 01. November 2014 in Kraft.
…“
5
Der ERTV enthält identische Regelungen zum Geltungsbereich in § 1 sowie zu Tarifvertragsansprüchen in § 8. Darüber hinaus ist nach §§ 2, 4 ERTV eine Eingruppierung der Arbeitnehmer entsprechend der von ihnen ausgeübten Tätigkeit in eine von zwölf Entgeltgruppen vorgesehen. Die diesen zugeordneten Monats- und Stundenentgelte ergeben sich aus der Anlage 1 zum ERTV, die bei Tariferhöhungen jeweils angepasst wird. Für die Überleitung der bereits bestehenden Arbeitsverhältnisse enthält § 7 ERTV Regelungen zur Ersteingruppierung und zu Besitzstandszulagen. Für die Klägerin ist nach Anlage X zum ERTV bis zum 31. Dezember 2016 eine Eingruppierung in Entgeltgruppe 8 ERTV, danach in Entgeltgruppe 9 ERTV vorgesehen.
6
Nach einer ebenfalls am 15. Mai 2015 vereinbarten Protokollnotiz zu § 37 Abs. 1 MTV und § 8 Abs. 1 ERTV besteht zwischen den Tarifvertragsparteien Einigkeit, dass das neue Tarifwerk seinem Geltungsbereich entsprechend zur Anwendung kommen soll und die Arbeitgeberin eine arbeitsvertragliche Bezugnahme bei Abschluss des jeweiligen Arbeitsvertrags anbietet, soweit dies dazu erforderlich ist.
7
Vor Inkrafttreten des ERTV erhielt die Klägerin zuletzt eine monatliche Vergütung iHv. 2.800,00 Euro brutto. Im Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum 30. April 2016 zahlte die Beklagte an sie eine monatliche Bruttovergütung iHv. 2.884,00 Euro. Die Beklagte bot der Klägerin am 31. März 2016 den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags an, der die Bezugnahmeregelung aus § 37 MTV und § 8 ERTV sowie weitere Änderungen des ursprünglichen Arbeitsvertrags vorsah. Die Klägerin unterzeichnete diesen, nachdem sie einige Vertragsklauseln – nicht aber die Bezugnahmeregelung – durchgestrichen hatte. Die Änderungen wurden von der Beklagten nicht akzeptiert. Ab Mai 2016 zahlte diese an die Klägerin wieder eine monatliche Vergütung iHv. 2.800,00 Euro brutto. Für die Monate Januar bis April 2016 erfolgten Rückrechnungen iHv. jeweils 84,00 Euro brutto, die die Beklagte nachfolgend einbehielt.
8
Mit Schreiben vom 4. Juli 2016 und 10. Oktober 2016 machte die Klägerin Entgeltansprüche nach dem MTV und dem ERTV geltend, welche die Beklagte zurückwies. Mit ihrer Klage vom 19. Oktober 2016 hat die Klägerin – soweit für die Revision von Bedeutung – die Zahlung von Entgeltdifferenzen für die Monate Januar bis Oktober 2016 nebst Zinsen begehrt.
9
Im Protokoll des Arbeitsgerichts zum Gütetermin vom 28. November 2016 findet sich folgende Erklärung:
„Der Beklagtenvertreter erklärte, dass er für die streitgegenständlichen Zahlungsansprüche ab dem 01. November 2016 für die Dauer dieses Rechtsstreites auf die Geltendmachung von Ausschlussfristen verzichtete.“
10
Danach hat die Vorsitzende auf Antrag der Parteien das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach Wiederaufruf des Verfahrens hat die Klägerin mit weiteren Anträgen vom 9. Juni 2017, 15. September 2017, 16. November 2017 und 8. Januar 2018 ihre Klage um Zahlungsansprüche für die Monate von November 2016 bis einschließlich Januar 2018 erweitert.
11
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die tarifvertraglichen Regelungen zur „Nachvollziehung“ der Einführung des Tarifwerks seien nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unwirksam. Eine solche Voraussetzung zur Geltendmachung tarifvertraglicher Ansprüche sei mit dem System des Tarifvertragsgesetzes unvereinbar. Ihr stünden aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit Ansprüche aus dem ERTV und dem MTV zu, auch wenn eine arbeitsvertragliche Vereinbarung über die Anwendbarkeit der beiden Tarifverträge nicht zustande gekommen sei. Zumindest könne sich die Beklagte nicht darauf berufen, dass es an einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung fehle. Sie sei verpflichtet gewesen, das durch die Klägerin geänderte Vertragsangebot anzunehmen. Die Ansprüche der Klägerin seien nicht nach § 24 MTV verfallen. Die Beklagte habe im Gütetermin auf die Geltendmachung von Ausschlussfristen verzichtet.
12
Die Klägerin hat – zusammengefasst und soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 11.830,73 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 2.122,48 Euro seit Rechtshängigkeit, aus 2.541,08 Euro seit dem 1. Dezember 2016, aus 181,08 Euro seit dem 1. Januar 2017, aus jeweils 285,36 Euro seit dem 1. Februar 2017 und 1. März 2017, aus jeweils 368,67 Euro seit dem 1. April 2017, 1. Mai 2017, 1. Juni 2017, 1. Juli 2017, 1. August 2017, 1. September 2017, 1. Oktober 2017 und 1. November 2017, aus 2.728,67 Euro seit dem 1. Dezember 2017 sowie aus jeweils 368,67 Euro seit dem 1. Januar 2018 und 1. Februar 2018 zu zahlen;
2.
hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, das Angebot der Klägerin auf Abschluss einer Zusatzvereinbarung über die Bezugnahmeklausel aus § 37 MTV und § 8 ERTV zum Arbeitsvertrag anzunehmen.
13
Die Beklagte hat ihren Klageabweisungsantrag damit begründet, bei den Regelungen in § 37 MTV und § 8 ERTV handele es sich um Anspruchsvoraussetzungen. Diese verstießen weder gegen die unmittelbare und zwingende Geltung der Tarifverträge noch gegen das Günstigkeitsprinzip. Es sei lediglich bezweckt worden, dass die Arbeitnehmer sich zwischen den arbeitsvertraglichen und den tarifvertraglichen Ansprüchen entscheiden müssten. Zudem seien etwaige Ansprüche der Klägerin teilweise verfallen. Die Beklagte habe lediglich im Hinblick auf bereits rechtshängige, nicht aber auf zukünftige Ansprüche auf die Einhaltung der Ausschlussfrist verzichtet.
14
Das Arbeitsgericht hat der Klage – soweit für die Revision von Bedeutung – in Höhe eines Zahlungsanspruchs von 8.033,85 Euro brutto nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
15
Die zulässige Revision ist überwiegend erfolgreich. Der Hauptantrag ist – bis auf einen geringen Teil der Zinsforderung – begründet. Der Hilfsantrag fällt daher nicht zur Entscheidung an.
16
I. Die Klägerin hat nach §§ 8, 17, 25 MTV iVm. dem ERTV Anspruch auf Zahlung von insgesamt 11.830,73 Euro brutto für den Zeitraum von Januar 2016 bis Januar 2018. Der MTV und der ERTV gelten kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit für das Arbeitsverhältnis. Ansprüche aus den Tarifverträgen setzen nicht die arbeitsvertragliche „Einführung des Tarifwerks“ nach § 37 MTV, § 8 ERTV voraus. Die beiden Tarifbestimmungen sind unwirksam.
17
1. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin fällt unter den Geltungsbereich des MTV und des ERTV. Die Klägerin ist iSv. § 1 MTV, § 1 ERTV als Arbeitnehmerin in einem Betrieb der Beklagten beschäftigt. Insoweit ist es ohne Bedeutung, ob die Voraussetzungen von § 37 MTV, § 8 ERTV erfüllt sind. Diese Bestimmungen enthalten keine den tarifvertraglichen Geltungsbereich begrenzenden Regelungen. Dies ergibt die Auslegung der Tarifverträge (zu den Maßstäben der Tarifauslegung zB BAG 20. Juni 2018 – 4 AZR 339/17 – Rn. 19).
18
a) Die Tarifvertragsparteien sind innerhalb ihrer satzungsgemäßen Zuständigkeit berechtigt, den Geltungsbereich eines Tarifvertrags autonom zu bestimmen. Ihnen steht im Rahmen der verfassungsrechtlich verbürgten Tarifautonomie bei dieser Festlegung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrags ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BAG 16. November 2016 – 4 AZR 697/14 – Rn. 28; 24. April 2007 – 1 AZR 252/06 – Rn. 57 mwN, BAGE 122, 134). Sie können dabei den persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags auf einzelne Arbeitnehmer- oder Berufsgruppen beschränken (BAG 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – zu B II 3 c der Gründe, BAGE 111, 8).
19
b) Eine solche Beschränkung lässt sich weder § 37 MTV noch § 8 ERTV entnehmen. Der Geltungsbereich ist abschließend in § 1 des jeweiligen Tarifvertrags geregelt. § 37 MTV und § 8 ERTV beziehen sich demgegenüber nicht auf den Geltungsbereich, sondern stellen weitere Anspruchsvoraussetzungen innerhalb desselben auf. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der gewählten Überschriften – § 1 MTV/ERTV: „Geltungsbereich“ einerseits, § 37 MTV/§ 8 ERTV: „Tarifvertragsansprüche“ andererseits – und der systematischen Trennung der Klauseln durch ihre Stellung an Beginn und Ende der jeweiligen Tarifverträge. Dem steht die Protokollnotiz vom 15. Mai 2015 nicht entgegen. Unabhängig davon, ob sie sich ausschließlich auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer bezieht oder eine schuldrechtliche Verpflichtung der Beklagten zum Angebot geänderter Arbeitsverträge enthält, wird auch dort ausdrücklich zwischen dem Geltungsbereich, in dem das Tarifwerk zur Anwendung kommen soll, und der Bezugnahmeklausel, die die Beklagte erforderlichenfalls anbieten wird, unterschieden.
20
2. Bei MTV und ERTV handelt es sich um Tarifverträge, deren Rechtsnormen allein aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit kraft gesetzlicher Anordnung in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unmittelbar und zwingend für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten. Die in § 37 MTV und § 8 ERTV vorgesehenen Einschränkungen der unmittelbaren und zwingenden Wirkung sind aufgrund objektiver Gesetzesumgehung unwirksam (§ 134 BGB).
21
a) Die Inhaltsnormen des MTV und ERTV haben Rechtsnormcharakter iSd. § 1 Abs. 1 TVG. Danach regelt ein Tarifvertrag die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können.
22
aa) Ob eine zwischen Tarifvertragsparteien geschlossene Vereinbarung einen solchen Rechtsnormcharakter hat, hängt neben der Erfüllung des Schriftformerfordernisses (§ 1 Abs. 2 TVG) davon ab, ob darin der Wille der Tarifvertragsparteien zur Normsetzung hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt. Dies ist im Wege der Auslegung zu ermitteln (BAG 26. Februar 2020 – 4 AZR 48/19 – Rn. 31).
23
bb) Bereits ihrer Bezeichnung nach handelt es sich bei MTV und ERTV, die dem Schriftformerfordernis nach § 1 Abs. 2 TVG genügen, um Tarifverträge. Auch durch die Bestimmungen zum Inkrafttreten haben die Tarifvertragsparteien den Willen zur unmittelbaren und eigenständigen Normsetzung zum Ausdruck gebracht (vgl. hierzu BAG 19. Mai 2010 – 4 AZR 903/08 – Rn. 37). Der Normsetzungswille lässt sich zudem § 37 MTV und § 8 ERTV entnehmen. Danach soll die Einführung des Tarifwerks „arbeitsvertraglich nachvollzogen“ werden, was begrifflich voraussetzt, dass bereits Normen existieren, die nachvollzogen werden können. Darüber hinaus soll sich die vorgesehene Bezugnahmeklausel auf das „jeweils für den Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers … geltende Tarifwerk in seiner jeweils gültigen Fassung“ und damit auf Rechtsnormen in Tarifverträgen beziehen. Nur solche können aufgrund der Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin für diese gelten. Ein „Verzicht [der Tarifvertragsparteien] auf die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen“ liegt danach entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht vor.
24
b) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gelten die Rechtsnormen des MTV und des ERTV, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Hiervon konnten die Tarifvertragsparteien durch die Regelungen in § 37 MTV und § 8 ERTV nicht abweichen.
25
aa) Die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Entgelte und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen (BVerfG 4. Juli 1995 – 1 BvF 2/86 ua. – zu C I 1 c der Gründe, BVerfGE 92, 365; 26. Juni 1991 – 1 BvR 779/85 – zu C I 3 b aa der Gründe, BVerfGE 84, 212). Die tariffähigen Koalitionen sollen durch „unabdingbare Gesamtvereinbarungen“ die materiellen Arbeitsbedingungen sinnvoll regeln (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – zu B II 1 b aa der Gründe, BVerfGE 44, 322). Den so ausgehandelten tariflichen Rechtsnormen, die Mindestarbeitsbedingungen festsetzen, wird daher durch § 4 Abs. 1 TVG – vorbehaltlich einer etwaigen Verdrängung infolge einer Tarifkollision nach § 4a TVG (dazu BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – insb. Rn. 172 ff., BVerfGE 146, 71) – eine unmittelbare und zwingende Wirkung für die beiderseits Tarifgebundenen (§ 3 Abs. 1 TVG) verliehen, die vom Geltungsbereich der Tarifbestimmungen erfasst werden.
26
bb) Die gesetzlich angeordnete „unmittelbare Wirkung“ bedeutet, dass der normative Teil eines Tarifvertrags – wie anderes objektives Recht auch – den Inhalt der erfassten Arbeitsverhältnisse unmittelbar („automatisch“) bestimmt (BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – zu C II 2 b der Gründe, BAGE 53, 42). Der Tarifvertrag entfaltet dabei keine gestaltende Wirkung auf den Inhalt des Arbeitsvertrags. Seine Inhaltsnormen werden nicht in den Arbeitsvertrag inkorporiert und damit nicht zu dessen Bestandteil. Sie gestalten gleichwohl den Inhalt des Arbeitsverhältnisses, allerdings wie ein Gesetz „von außen“ (BAG 12. Dezember 2007 – 4 AZR 998/06 – Rn. 42, BAGE 125, 179; vgl. auch 18. August 2011 – 8 AZR 187/10 – Rn. 35). Es bedarf deshalb weder einer Billigung oder Kenntnis noch einer Anerkennung, Unterwerfung oder Übernahme dieser Normen durch die Parteien des Einzelarbeitsvertrags (BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – aaO).
27
cc) Weiterhin gelten die Rechtsnormen eines Tarifvertrags nach § 4 Abs. 1 TVG „zwingend“. Die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien können keine abweichenden einzelvertraglichen Abmachungen treffen, die sich gegenüber den zwingend wirkenden Rechtsnormen durchsetzen (BAG 21. September 1989 – 1 AZR 454/88 – zu IV 2 a und b der Gründe, BAGE 62, 360). Sie werden durch diese verdrängt (BAG 24. Februar 2010 – 4 AZR 691/08 – Rn. 44 mwN; 12. Dezember 2007 – 4 AZR 998/06 – Rn. 43 mwN, BAGE 125, 179). Die Rechtsnormen nach § 1 Abs. 1 TVG sind arbeitsvertraglich nicht abdingbar (BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – zu C II 2 b der Gründe, BAGE 53, 42).
28
dd) Als Ausnahme von der zwingenden Wirkung des § 4 Abs. 1 TVG sind nach § 4 Abs. 3 TVG abweichende Abmachungen zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Das durch § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG gesetzlich verankerte Günstigkeitsprinzip gewährleistet dem einzelnen tarifgebundenen Arbeitnehmer bei der Gestaltung der eigenen Arbeitsbedingungen einen privatautonomen Gestaltungsspielraum. Die unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifverträgen nach § 4 Abs. 1 TVG verdrängt zwar die individuelle Privatautonomie (sh. oben Rn. 25 ff.), letzterer wird aber im Bereich günstigerer Abreden der Vorrang eingeräumt (BAG 23. März 2011 – 4 AZR 366/09 – Rn. 41 mwN, BAGE 137, 231). Die Regelungen in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG einerseits und § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG andererseits sind danach einfachgesetzlicher Ausfluss des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips, mit dem die Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG bei der Vereinbarung tariflicher Mindestarbeitsbedingungen und die Privatautonomie im Rahmen der Berufsfreiheit – vorrangig geschützt durch Art. 12 Abs. 1 GG (ErfK/Schmidt 20. Aufl. GG Art. 2 Rn. 7, Art. 12 Rn. 15) – in einen Ausgleich gebracht werden (Däubler TVG/Deinert 4. Aufl. § 4 Rn. 620 mwN in Fn. 1655 f.; Wiedemann/Wank TVG 8. Aufl. § 4 Rn. 420, 422). Den Arbeitnehmern verbleibt aufgrund der gleichfalls verfassungsrechtlich verbürgten Privatautonomie ein eigener Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung ihrer Arbeitsbedingungen. Das Günstigkeitsprinzip steht damit grundsätzlich nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien (vgl. BAG 14. Dezember 2011 – 4 AZR 179/10 – Rn. 57; 23. März 2011 – 4 AZR 366/09 – aaO; 26. August 2009 – 4 AZR 294/08 – Rn. 49 mwN; Däubler TVG/Deinert aaO § 4 Rn. 624 mwN in Fn. 1674; Wiedemann/Wank aaO § 4 Rn. 421 f.; JKOS/Jacobs 2. Aufl. § 7 Rn. 16; vgl. auch Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4 Rn. 557; aA wohl Kempen/Zachert/Schubert/Zachert TVG 5. Aufl. § 4 Rn. 364; zu etwaigen Einschränkungen im Wege der praktischen Konkordanz nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip BAG 25. Oktober 2000 – 4 AZR 438/99 – zu II 2 der Gründe, BAGE 96, 168; Däubler TVG/Deinert aaO § 4 Rn. 622; Wiedemann/Wank aaO § 4 Rn. 430).
29
ee) Nach diesen Grundsätzen sind die streitgegenständlichen Regelungen in § 37 MTV und § 8 ERTV weder mit der in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG angeordneten unmittelbaren Wirkung noch mit dem in § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG verankerten Günstigkeitsprinzip vereinbar und daher wegen objektiver Gesetzesumgehung nach § 134 BGB unwirksam.
30
(1) Eine objektive Gesetzesumgehung liegt vor, wenn der Zweck einer zwingenden Rechtsnorm dadurch vereitelt wird, dass andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten missbräuchlich, dh. ohne einen im Gefüge der einschlägigen Rechtsnorm sachlich rechtfertigenden Grund, verwendet werden (st. Rspr., BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 62/12 – Rn. 49 mwN, BAGE 158, 121; ausf. 18. März 2009 – 5 AZR 355/08 – Rn. 17 mwN, BAGE 130, 34).
31
(2) Die von den Tarifvertragsparteien in § 37 MTV und § 8 ERTV gewählte Gestaltung führt zu einer objektiven Umgehung der in § 4 Abs. 1 TVG enthaltenen zwingenden Vorgaben zur Geltung von tariflichen Rechtsnormen. Nach diesen beiden Bestimmungen können tarifvertragliche Ansprüche trotz beiderseitiger Tarifgebundenheit nur dann geltend gemacht werden, wenn der Tarifvertrag auch arbeitsvertraglich in Bezug genommen worden ist. Damit wird zwar die unmittelbare Geltung der beiden Tarifverträge nicht ausdrücklich eingeschränkt. Durch die Anspruchsvoraussetzung, dass die Einführung des Tarifwerks „auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird“, tritt aber die durch § 4 Abs. 1 TVG gesetzlich angeordnete Verbindlichkeit tariflicher Rechtsnormen iSd. § 1 Abs. 1 TVG nicht „ohne weiteres“, also unmittelbar, ein (Rn. 26), sondern erfordert einen weiteren, tariflich festgelegten Rechtsakt der tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ohne Nachvollziehung blieben die beiden Tarifverträge in Anwendung von § 37 MTV und § 8 ERTV für das Arbeitsverhältnis der Klägerin wirkungslos. Sein Inhalt richtete sich trotz beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG allein nach den (bisherigen) vertraglichen Vereinbarungen.
32
(3) Die Regelungen in § 37 MTV und § 8 ERTV stellen zudem eine objektive Umgehung des in § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG verankerten Günstigkeitsprinzips (sh. oben Rn. 28) dar. Ihrem Inhalt nach schließen § 37 MTV und § 8 ERTV zwar privatautonome Regelungen der Arbeitsvertragsparteien nicht ausdrücklich aus. Für tarifgebundene Arbeitnehmer entfällt aber die Möglichkeit, sich neben tarifvertraglichen Ansprüchen auf günstigere arbeitsvertragliche Regelungen zu stützen. Vereinbaren sie mit dem Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag, der die Einführung des Tarifwerks „nachvollzieht“, „richtet sich“ das Arbeitsverhältnis „nach dem jeweils für den Betrieb aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers … geltenden Tarifwerk in seiner jeweils gültigen Fassung“.
33
Das widerspricht der gesetzlichen Konzeption des Günstigkeitsprinzips, nach der vom Tarifvertrag abweichende Abmachungen zulässig sind, „soweit“ sie Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber einem Tarifvertrag enthält, ergibt sich dabei aus einem Vergleich der Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen, die in einem inneren Zusammenhang stehen (sog. Sachgruppenvergleich) (ausf. BAG 15. April 2015 – 4 AZR 587/13 – Rn. 27 ff., BAGE 151, 221), nicht aber aus einem Gesamtvergleich der tarifvertraglichen und arbeitsvertraglichen Vereinbarungen. Die geforderte arbeitsvertragliche Nachvollziehung erfordert demgegenüber eine – endgültige – Entscheidung zwischen den tariflichen und den bisherigen vertraglichen Regelungen. Daran würde sich nichts ändern, wenn – wie die Beklagte behauptet – die Tarifvertragsparteien durch besondere Regelungen insbesondere in § 7 Abs. 2 bis Abs. 7 ERTV dafür gesorgt hätten, dass – jedenfalls zunächst – eine auch nur partielle Verschlechterung der Entgeltbedingungen nicht zu befürchten wäre. Zum einen erfassen die Tarifbestimmungen lediglich das Monatsentgelt, nicht aber die weiteren Arbeitsbedingungen. Zum anderen wären die Arbeitnehmer aufgrund der Änderung der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen gehindert, sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf diese zu berufen, zB nach Abschluss einer für sie ungünstigeren tariflichen Regelung. Die Tarifvertragsparteien greifen mit § 37 MTV und § 8 ERTV in den Bereich der privatautonomen Vereinbarungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien ein. Dieser ist nach § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG insoweit ihrer Regelungsmacht jedoch entzogen.
34
c) Aus der Unwirksamkeit von § 37 MTV, § 8 ERTV folgt nicht die Unwirksamkeit der übrigen tariflichen Vorschriften. Die Auslegungsregel des § 139 BGB findet auf Tarifverträge keine Anwendung. Maßgebend ist vielmehr, ob der Tarifvertrag ohne die unwirksame Bestimmung noch eine sinnvolle, in sich geschlossene Regelung enthält. Eine Unwirksamkeit des gesamten Tarifvertrags kann bei Nichtigkeit einzelner Tarifbestimmungen nur ausnahmsweise angenommen werden (BAG 26. Februar 2020 – 4 AZR 48/19 – Rn. 27; 16. November 2011 – 4 AZR 856/09 – Rn. 27). Vorliegend verbleibt auch ohne die beiden Tarifbestimmungen ein vollständiges Tarifwerk. Insbesondere entsteht durch den Wegfall der Bestimmungen keine Regelungslücke. Die Tarifverträge gelten aufgrund der gesetzlichen Regelung bei beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien unmittelbar und zwingend nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG.
35
d) Danach bedarf es keiner Entscheidung, ob die Beklagte der Klägerin am 31. März 2016 ein iSv. § 37 MTV, § 8 ERTV ordnungsgemäßes Angebot unterbreitet hat und ob sie sich, falls nicht, auf die fehlende arbeitsvertragliche Nachvollziehung berufen könnte (§ 162 BGB).
36
3. Die Ansprüche der Klägerin sind nicht nach § 24 MTV verfallen. Dabei kann dahinstehen, ob sie ihre Ansprüche rechtzeitig iSd. Ausschlussfrist geltend gemacht hat. Mit Erklärung der Beklagten im Gütetermin vom 28. November 2016 (Rn. 9) ist die Anwendung der tariflichen Ausschlussfrist mit Einverständnis der Klägerin sowohl hinsichtlich der zum Zeitpunkt der Erklärung bereits rechtshängigen als auch im Hinblick auf zukünftige Ansprüche im Zusammenhang mit dem zwischen den Parteien bestehenden Streit über die Geltung des Tarifwerks der Beklagten für die Dauer des Prozesses ausgeschlossen.
37
a) Zur schlüssigen Begründung eines Anspruchs gehört grundsätzlich die Darlegung, dass tarifliche Verfallfristen gewahrt wurden. Die Fristeinhaltung ist materiell-rechtliche Voraussetzung für das Bestehen des behaupteten Anspruchs. Ihre Nichteinhaltung ist eine Einwendung, die von Amts wegen zu beachten ist. Die Anwendung der tariflichen Ausschlussfristen kann jedoch – und auch das ist von Amts wegen zu berücksichtigen – im Einzelfall ausgeschlossen sein. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ihre Einhaltung zugunsten des Arbeitnehmers einvernehmlich abbedungen ist. Nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG) ist dies jederzeit möglich (BAG 25. Januar 2006 – 4 AZR 622/04 – Rn. 51 f.).
38
b) Die Auslegung der Erklärung des Prozessbevollmächtigten der Beklagten (§§ 133, 157 BGB) ergibt, dass diese der Klägerin einen Antrag (§ 145 BGB) zur Abbedingung der Ausschlussfristen unterbreitet hat.
39
aa) Es kann dahinstehen, ob es sich bei der zu Protokoll gegebenen Erklärung der Beklagten um eine Prozesserklärung, deren Auslegung vom Revisionsgericht selbständig vorzunehmen ist (vgl. hierzu BAG 20. November 2019 – 5 AZR 39/19 – Rn. 12), oder um eine nichttypische Willenserklärung handelt, deren Auslegung nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. hierzu BAG 25. Januar 2017 – 4 AZR 522/15 – Rn. 22). Das Landesarbeitsgericht hat – aus seiner Sicht konsequent – eine Auslegung unterlassen. Der Senat kann die Auslegung selbst vornehmen, weil der erforderliche Sachverhalt festgestellt und kein weiteres tatsächliches Vorbringen der Parteien zu erwarten ist (vgl. hierzu BAG 15. Februar 2017 – 7 AZR 223/15 – Rn. 27; 11. April 2019 – 6 AZR 104/18 – Rn. 29, BAGE 166, 285).
40
bb) Die Erklärung bezieht sich zunächst auf „streitgegenständliche“ Ansprüche. Dies können bei formalem Verständnis lediglich solche sein, die bereits Gegenstand der Klage sind. Allerdings „verzichtet“ die Beklagte „ab dem 01. November 2016 für die Dauer dieses Rechtsstreites auf die Geltendmachung von Ausschlussfristen“. Diese Zeitangabe bezieht sich bei verständiger Würdigung auch auf zukünftige Ansprüche. Denn die Beklagte hat im Anschluss an die Protokollierung das Ruhen des Verfahrens beantragt. Damit hat sie zu erkennen gegeben, dass die Klärung, ob die Klägerin auch ohne Änderung ihres Arbeitsvertrags Ansprüche aus dem Tarifwerk der Beklagten herleiten kann, auf unbestimmte Zeit verschoben werden soll. Dies konnte die Klägerin nur so verstehen, dass sie nicht gehalten sein soll, für nachfolgend fällig werdende Differenzentgeltansprüche die zweistufige Ausschlussfrist des § 24 MTV zu wahren.
41
c) Diesen Antrag hat die Klägerin konkludent durch ihren Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens angenommen.
42
4. Die Klägerin hat Anspruch auf die beantragte Zahlung iHv. insgesamt 11.830,73 Euro brutto. Die Berechnungen der Klägerin sind zutreffend und zudem zwischen den Parteien nicht streitig.
43
a) Die Klägerin hatte bis zum 31. Dezember 2016 Anspruch auf Vergütung nach Entgeltgruppe 8 ERTV iVm. der jeweils gültigen Entgelttabelle zuzüglich einer Besitzstandszulage iHv. 187,25 Euro brutto nach § 7 Abs. 6 ERTV. Von der Möglichkeit zur Abschmelzung der Zulage nach § 7 Abs. 4 ERTV hat die Beklagte keinen Gebrauch gemacht. Ab dem 1. Januar 2017 kann die Klägerin eine Vergütung nach Entgeltgruppe 9 ERTV iVm. der jeweils gültigen Entgelttabelle beanspruchen. Daraus ergibt sich eine Differenz zu der gezahlten Vergütung iHv. jeweils 84,00 Euro für die Monate Januar bis April 2016, iHv. jeweils 181,08 Euro für die Monate Mai bis Dezember 2016, iHv. jeweils 285,36 Euro für die Monate Januar bis Februar 2017 und iHv. jeweils 368,67 Euro für die Monate März 2017 bis Januar 2018.
44
b) Darüber hinaus kann die Klägerin für die Monate März und April 2016 jeweils eine tarifliche Einmalzahlung iHv. 350,00 Euro brutto nach der Anlage 1 zum ERTV idF der Entgelttabelle ab 1. Mai 2016 verlangen.
45
c) Ihr steht zudem mit der Auszahlung des Entgelts für die Monate November in den Jahren 2016 und 2017 eine Sonderzahlung nach § 25 MTV iHv. jeweils 2.360,00 Euro zu. Ihre Betriebszugehörigkeit übersteigt die Dauer von 60 Monaten und sie ist in Vollzeit beschäftigt.
46
II. Die Klage ist hinsichtlich der Zinsen nur teilweise begründet. Die Klägerin hat für den Zeitraum von Januar 2016 bis Oktober 2016 Zinsen „seit Klageerhebung“ und damit ab Rechtshängigkeit geltend gemacht. Für Ansprüche aus den Monaten Januar bis September 2016 kann die Klägerin daher aufgrund der am 26. Oktober 2016 zugestellten Klageschrift Zahlung von Zinsen gem. §§ 288, 291 BGB ab dem darauffolgenden Tag verlangen, für die aus dem Monat Oktober 2016 allerdings erst ab dem 1. November 2016 (§ 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB). Mangels Darlegung anderweitiger Abreden nach § 17 Abs. 2 MTV ist von einer Fälligkeit der Vergütung am Monatsende nach Nr. 4 Abs. 1 Satz 2 des Arbeitsvertrags auszugehen. Die weiteren Ansprüche sind nach §§ 286, 288 BGB unter Berücksichtigung von § 193 BGB in dem tenorierten Umfang zu verzinsen.
47
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Treber
Rinck
Klug
S. Gey-Rommel
Moschko |
bag_15-18 | 21.03.2018 | 21.03.2018
15/18 - Aufhebungsvertrag - Begünstigung eines Betriebsratsmitglieds
Beabsichtigt der Arbeitgeber, das Arbeitsverhältnis mit einem Betriebsratsmitglied unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich zu kündigen und schließen Arbeitgeber und Betriebsratsmitglied nach Einleitung eines Verfahrens zur Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zu der Kündigung und nach vorausgegangenen Verhandlungen eine Vereinbarung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung und ggf. andere Zuwendungen, so liegt darin regelmäßig keine nach § 78 Satz 2 BetrVG unzulässige Begünstigung des Betriebsratsmitglieds.
Der Kläger war seit 1983 bei der Beklagten beschäftigt und seit 2006 Vorsitzender des in ihrem Betrieb gebildeten Betriebsrats. Anfang Juli 2013 hatte die Beklagte beim Arbeitsgericht unter Berufung auf – vom Kläger bestrittene – verhaltensbedingte Gründe ein Verfahren zur Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers eingeleitet. Am 22. Juli 2013 schlossen die Parteien außergerichtlich einen Aufhebungsvertrag, in dem ua. die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Dezember 2015, die Freistellung unter Vergütungsfortzahlung und eine noch im Verlauf des Arbeitsverhältnisses auszuzahlende Abfindung von 120.000,00 Euro netto vereinbart wurde. Nachdem der Kläger am 23. Juli 2013 vereinbarungsgemäß von seinem Betriebsratsamt zurückgetreten und in der Folgezeit die Auszahlung der Abfindung an ihn erfolgt war, hat er mit der vorliegenden Klage den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses über den 31. Dezember 2015 hinaus geltend gemacht. Er meint, der Aufhebungsvertrag sei nichtig, weil er durch diesen als Betriebsratsmitglied in unzulässiger Weise begünstigt werde.
Die Klage blieb beim Bundesarbeitsgericht – wie bereits in den Vorinstanzen – ohne Erfolg. Nach § 78 Satz 2 BetrVG dürfen Mitglieder des Betriebsrats wegen ihrer Betriebsratstätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden. Vereinbarungen, die hiergegen verstoßen, sind nach § 134 BGB nichtig. Durch den Abschluss eines Aufhebungsvertrags wird das Betriebsratsmitglied allerdings regelmäßig nicht unzulässig begünstigt. Soweit die Verhandlungsposition des Betriebsratsmitglieds günstiger ist als die eines Arbeitnehmers ohne Betriebsratsamt, beruht dies auf dem in § 15 KSchG und § 103 BetrVG geregelten Sonderkündigungsschutz.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 21. März 2018 – 7 AZR 590/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Saarland
Urteil vom 22. Juni 2016 – 1 Sa 63/15 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Saarland vom 22. Juni 2016 – 1 Sa 63/15 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Ein Betriebsratsmitglied wird durch einen im Zuge einer kündigungsrechtlichen Auseinandersetzung abgeschlossenen Aufhebungsvertrag in der Regel auch dann nicht unzulässigerweise begünstigt iSv. § 78 Satz 2 BetrVG, wenn der Aufhebungsvertrag besonders attraktive finanzielle oder sonstige Konditionen enthält, die einem Arbeitnehmer ohne Betriebsratsamt nicht zugestanden worden wären. Diese Begünstigung beruht regelmäßig auf dem besonderen Kündigungsschutz des Betriebsratsmitglieds nach § 15 Abs. 1 KSchG, § 103 BetrVG, der seine Rechtsposition gegenüber anderen Arbeitnehmern ohne vergleichbaren Sonderkündigungsschutz erheblich verbessert. Es kommt daher nicht darauf an, ob die in dem Aufhebungsvertrag vereinbarten Leistungen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls angemessen sind.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag am 31. Dezember 2015 geendet hat.
2
Der Kläger war seit dem 18. März 1983 bei der Beklagten beschäftigt. Seit 1990 war er Mitglied des Betriebsrats, seit 2006 war er freigestellter Betriebsratsvorsitzender, zuletzt auch Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats.
3
Am 9. Juli 2013 beantragte die Beklagte beim Arbeitsgericht die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers nach § 103 Abs. 1 BetrVG. Anlass dafür war der – vom Kläger bestrittene – Vorwurf der Beklagten, der Kläger habe zuvor eine für den Betriebsrat tätige Assistentin belästigt und „gestalkt“. Der Kläger und der Betriebsrat wandten sich in einem ebenfalls am 9. Juli 2013 eingeleiteten Eilverfahren beim Arbeitsgericht gegen ein von der Beklagten gegenüber dem Kläger ausgesprochenes Haus- und Werksverbot. Am 10. Juli 2013 leitete die Beklagte zudem beim Arbeitsgericht ein auf Ausschließung des Klägers aus dem Betriebsrat gerichtetes Verfahren ein.
4
Am 22. Juli 2013 schlossen die Parteien nach vorausgehenden Verhandlungen außergerichtlich einen Aufhebungsvertrag. Dieser lautet auszugsweise:
„Vorbemerkung
…
Gegen den Mitarbeiter wurden von einer Arbeitskollegin Vorwürfe erhoben, sie belästigt zu haben.
Der Mitarbeiter hat die Vorwürfe bestritten.
Weder der Mitarbeiter noch die Firma halten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses im jeweiligen Eigeninteresse für geboten.
In Anbetracht und zur Vermeidung einer evtl. langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzung wird der nachfolgende Aufhebungsvertrag vereinbart.
1.
Die Parteien sind sich daher darüber einig, dass das zwischen Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis einvernehmlich mit Ablauf des 31.12.2015 seine Beendigung finden wird.
Die Firma räumt dem Mitarbeiter das Recht ein, das Arbeitsverhältnis mit einer Ankündigungsfrist von 14 Tagen auch vor Ablauf des 31.12.2015 vorzeitig zu beenden. Eine derartige vorzeitige Beendigung entspricht ausdrücklich dem Wunsch der Firma.
2.
Der Mitarbeiter wird unverzüglich von allen Ämtern gemäß der beigefügten Anlage 1 zurücktreten und nicht mehr weiter ausüben oder neu für diese Ämter erneut kandidieren.
3.
Die Firma verpflichtet sich, dem Mitarbeiter bis zum 31.12.2015 die vertraglich vereinbarte monatliche Vergütung in Höhe von zur Zeit brutto 4.961,26 € weiter zu zahlen.
4.
Der Mitarbeiter wird mit sofortiger Wirkung von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt. Die Freistellung wird auf die dem Mitarbeiter noch zustehenden und entstehenden Urlaubsansprüche angerechnet.
…
5.
Die Firma verpflichtet sich, an den Mitarbeiter für den Verlust seines sozialen Besitzstandes in entsprechender Anwendung der §§ 9, 10 KSchG eine Abfindung in Höhe von 120.000 € netto zu zahlen und zwar in folgenden Teilbeträgen:
€ 50.000 per 31.8.2013,
€ 70.000 per 31.3.2014.
Schließlich wird die Firma für den Fall der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Mitarbeiter für jeden vollen Monat des vorzeitigen Ausscheidens eine Abfindung von 2.500 € brutto gem. §§ 9, 10 KSchG zu zahlen.
…
8. Mit dieser Vereinbarung ist der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwischen der Firma und dem Mitarbeiter bis zum 31.12.2015 und dessen Beendigung zu diesem oder einem früheren Termin abschließend geregelt. Zugleich sind mit Erfüllung der Verpflichtungen aus dieser Vereinbarung alle wechselseitigen Ansprüche der Vertragsparteien -gleichgültig ob bekannt oder unbekannt- endgültig erledigt. Ausgenommen sind evtl. Ansprüche aus betrieblicher Altersversorgung.
…“
5
Am 23. Juli 2013 trat der Kläger vereinbarungsgemäß von seinen Ämtern als Mitglied und Vorsitzender des Betriebsrats sowie als Mitglied und Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats und als Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats des Unternehmens zurück. Die Beklagte zahlte die in dem Aufhebungsvertrag vereinbarte Abfindung zu den im Aufhebungsvertrag festgelegten Terminen an den Kläger aus und leistete auch die vereinbarte monatliche Vergütung.
6
Mit der am 21. Juli 2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses über den 31. Dezember 2015 hinaus geltend gemacht. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, das Arbeitsverhältnis habe nicht aufgrund der Vereinbarung im Aufhebungsvertrag vom 22. Juli 2013 geendet. Der Aufhebungsvertrag sei nach § 134 BGB iVm. § 78 Satz 2 BetrVG nichtig, weil dieser ihn als Betriebsratsmitglied in unzulässiger Weise begünstige. Durch den Aufhebungsvertrag seien Ansprüche begründet worden, die ihm ohne Mandat nicht zugekommen wären. Insbesondere die Höhe der Abfindung, die vorgezogenen Auszahlungszeitpunkte für die Abfindung sowie die Dauer der Freistellung und der Vergütungsfortzahlung ergäben in der Gesamtschau eine unzulässige Begünstigung. „Goldene Handschläge“ seien im Betriebsverfassungsgesetz nicht vorgesehen. Unbequeme Betriebsratsmitglieder – wie er – dürften nicht aus dem Arbeitsverhältnis „herausgekauft“ werden.
7
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, dass der Aufhebungsvertrag vom 22. Juli 2013 nichtig ist und das Arbeitsverhältnis über den 31. Dezember 2015 hinaus ungekündigt fortbesteht.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat den Standpunkt eingenommen, der Aufhebungsvertrag verstoße nicht gegen das Begünstigungsverbot nach § 78 Satz 2 BetrVG. Die dem Kläger gewährten Bedingungen seien durch die Prozessrisiken und weitere Umstände veranlasst gewesen und daher nicht unangemessen.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
10
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen.
11
I. Die Klage ist in der gebotenen Auslegung als allgemeine Feststellungsklage nach § 256 ZPO zulässig.
12
1. Die Klage ist als allgemeine Feststellungsklage iSv. § 256 ZPO zu verstehen, mit der der Kläger die Feststellung des Fortbestands des zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnisses über den 31. Dezember 2015 hinaus bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz begehrt. Zwar ist der Antrag seinem Wortlaut nach auch auf die Feststellung gerichtet, dass der Aufhebungsvertrag vom 22. Juli 2013 nichtig ist. Es kann jedoch nicht angenommen werden, dass der Kläger damit – neben dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses – auch die Nichtigkeit des Aufhebungsvertrags zu einem eigenständigen Gegenstand des Antrags erhoben hat. Dies entspräche nicht der wohlverstandenen Interessenlage des Klägers. Insoweit wäre der Antrag nicht auf Feststellung eines Rechtsverhältnisses iSv. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtet. Daher handelt es sich bei diesem Antragsteil lediglich um ein Begründungselement, dem keine gesonderte Bedeutung zukommt. Der Kläger hat dieses Antragsverständnis in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt.
13
2. Mit diesem Inhalt ist die Klage zulässig. Sie ist auf die Feststellung des Bestehens des Arbeitsverhältnisses und damit eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtet. Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, weil die Beklagte den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses der Parteien über den 31. Dezember 2015 hinaus bestreitet.
14
II. Die Klage ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat aufgrund der im Aufhebungsvertrag vom 22. Juli 2013 getroffenen Vereinbarung mit Ablauf des 31. Dezember 2015 geendet. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Aufhebungsvertrag nicht nach § 134 BGB iVm. § 78 Satz 2 BetrVG nichtig ist. Der Kläger wird durch die in dem Aufhebungsvertrag im Zusammenhang mit der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses begründeten Ansprüche nicht nach § 78 Satz 2 BetrVG in unzulässiger Weise wegen seiner Betriebsratstätigkeit begünstigt.
15
1. Nach § 78 Satz 2 BetrVG dürfen Mitglieder des Betriebsrats wegen ihrer Betriebsratstätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden. Die Regelung dient – ebenso wie das Ehrenamtsprinzip (§ 37 Abs. 1 BetrVG) – der inneren und äußeren Unabhängigkeit der Betriebsratsmitglieder (BAG 18. Mai 2016 – 7 AZR 401/14 – Rn. 21 mwN; 20. Januar 2010 – 7 ABR 68/08 – Rn. 10; 12. Februar 1975 – 5 AZR 79/74 – zu III 1 der Gründe).
16
a) Eine nach § 78 Satz 2 BetrVG untersagte Begünstigung ist jede Besserstellung im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern, die nicht auf sachlichen Gründen, sondern auf der Tätigkeit als Betriebsratsmitglied beruht (vgl. zur Benachteiligung etwa BAG 20. Januar 2010 – 7 ABR 68/08 – Rn. 11). Sie liegt vor bei jeder Zuwendung eines Vorteils, der ausschließlich wegen der Amtstätigkeit erfolgt. Nicht erforderlich ist, dass der Amtsträger zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen veranlasst werden oder im Nachhinein für ein bestimmtes Verhalten belohnt werden soll (vgl. Kreutz GK-BetrVG 11. Aufl. § 78 Rn. 83). Vereinbarungen, die gegen das Begünstigungs- oder Benachteiligungsverbot verstoßen, sind nach § 134 BGB nichtig (BAG 20. Januar 2010 – 7 ABR 68/08 – Rn. 10; 16. Februar 2005 – 7 AZR 95/04 – zu I 1 der Gründe).
17
b) Beabsichtigt der Arbeitgeber, das Arbeitsverhältnis mit einem Betriebsratsmitglied außerordentlich nach § 15 Abs. 1 KSchG zu kündigen und schließt er mit dem Betriebsratsmitglied in dieser Situation nach vorausgegangenen Verhandlungen eine Vereinbarung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung und ggf. andere Vergünstigungen, so liegt darin in der Regel keine nach § 78 Satz 2 BetrVG unzulässige Begünstigung des Betriebsratsmitglieds.
18
aa) Das Betriebsratsmitglied macht mit dem Abschluss einer Aufhebungsvereinbarung von einer Möglichkeit Gebrauch, die anderen Arbeitnehmern ohne Betriebsratsamt in vergleichbarer Situation ebenfalls offensteht. Auch diese Arbeitnehmer können im Rahmen der Vertragsfreiheit anlässlich einer von dem Arbeitgeber beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit diesem Vereinbarungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung und sonstige Leistungen schließen. Hieran ist auch ein Betriebsratsmitglied nicht wegen seines Mandats gehindert. Durch eine Einschränkung der Möglichkeit, einen Aufhebungsvertrag zu schließen und die Vertragsbedingungen frei auszuhandeln, würde die Vertragsfreiheit in unzulässiger Weise beschränkt (vgl. zur Vereinbarung einer Kostentragungspflicht in einem arbeitsgerichtlichen Vergleich BAG 20. Januar 2010 – 7 ABR 68/08 – Rn. 12).
19
bb) Eine unzulässige Begünstigung folgt in einer solchen Situation auch nicht daraus, dass mit dem Betriebsratsmitglied aufgrund des ihm zustehenden Sonderkündigungsschutzes nach § 15 Abs. 1 KSchG, § 103 BetrVG in dem Aufhebungsvertrag besonders günstige finanzielle oder sonstige Bedingungen vereinbart werden (zutr. Kreutz GK-BetrVG 11. Aufl. § 78 Rn. 85; HaKo-BetrVG/Lorenz 5. Aufl. § 78 Rn. 23). Ein Mandatsträger verfügt bei Verhandlungen über den Abschluss eines Aufhebungsvertrags aufgrund des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG und der Erforderlichkeit der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung bzw. deren gerichtlicher Ersetzung nach § 103 BetrVG über eine günstigere Verhandlungsposition als Arbeitnehmer ohne Mandat. Der gesetzlich in § 15 KSchG und § 103 BetrVG geregelte Sonderkündigungsschutz geht der allgemeinen Regelung des § 78 Satz 2 BetrVG als speziellere Regelung vor und verbessert im Hinblick auf seinen Schutzzweck (Unabhängigkeit der Amtsausübung, Kontinuität der Amtsführung, Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen ohne Furcht vor Entlassung) die kündigungsrechtliche Rechtsstellung der Träger besonderer Funktionen gegenüber der Rechtsstellung der übrigen Arbeitnehmer ohne vergleichbaren Sonderkündigungsschutz (vgl. BAG 7. Oktober 2004 – 2 AZR 81/04 – zu II 4 der Gründe, BAGE 112, 148). Der darin zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertentscheidung entspricht es, dass sich die besondere und ihrerseits bereits begünstigende kündigungsrechtliche Rechtsstellung als Verhandlungsposition auf den Abschluss und den Inhalt eines Aufhebungsvertrags auswirken kann (zutr. Kreutz GK-BetrVG 11. Aufl. § 78 Rn. 85). Darin liegt grundsätzlich keine unzulässige Begünstigung iSv. § 78 Satz 2 BetrVG.
20
cc) Demgemäß kommt es für die Beurteilung, ob ein Betriebsratsmitglied durch eine im Rahmen einer Kündigungsauseinandersetzung verhandelte Aufhebungsvereinbarung unzulässig nach § 78 Satz 2 BetrVG begünstigt wird, entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht darauf an, ob die im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbarten Leistungen des Arbeitgebers unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls angemessen sind. Vielmehr unterliegen die Bedingungen der Aufhebungsvereinbarung der Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien, die durch das Begünstigungsverbot des § 78 Satz 2 BetrVG insoweit grundsätzlich nicht eingeschränkt ist. Beabsichtigt der Arbeitgeber, das Arbeitsverhältnis mit einem Betriebsratsmitglied außerordentlich zu kündigen, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die dem Betriebsratsmitglied in einer Aufhebungsvereinbarung als Kompensation für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gewährten Leistungen aufgrund einer kündigungsrechtlichen Risikobetrachtung – unter Berücksichtigung des Sonderkündigungsschutzes, der Prozessrisiken und der Dauer der ggf. anzustrengenden oder bereits eingeleiteten gerichtlichen Verfahren – für angemessen gehalten werden durften. Auch Sinn und Zweck des Begünstigungsverbots erfordern es nicht, die Vertragsfreiheit der Parteien durch eine Überprüfung der Angemessenheit der Bedingungen des Aufhebungsvertrags einzuschränken. Das Begünstigungsverbot soll die Unabhängigkeit der Amtsführung schützen. Wird aufgrund der Vereinbarung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Mandat aufgegeben, ist die Unabhängigkeit der künftigen Amtsführung nicht gefährdet.
21
2. Danach wird der Kläger durch die Vereinbarungen der Parteien im Aufhebungsvertrag vom 22. Juli 2013 nicht iSv. § 78 Satz 2 BetrVG in unzulässiger Weise wegen seiner Betriebsratstätigkeit begünstigt. Der Kläger hat die Aufhebungsvereinbarung nach vorangegangenen Verhandlungen zur Erledigung einer mit der Beklagten geführten Kündigungsauseinandersetzung getroffen, im Rahmen derer die Beklagte eine außerordentliche Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen anstrebte. Er hat sich im Aufhebungsvertrag mit der Beendigung seines langjährigen Arbeitsverhältnisses einverstanden erklärt und damit seinen besonderen Bestandsschutz aufgegeben. Als Kompensation hierfür hat er eine Abfindung erhalten und er wurde für einen längeren Zeitraum unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt. Die Konditionen des Aufhebungsvertrags mögen günstiger gewesen sein als diejenigen, die einem Arbeitnehmer ohne Betriebsratsamt zugestanden worden wären. Dies beruht jedoch auf der durch § 15 Abs. 1 KSchG, § 103 BetrVG besonders geschützten Rechtsposition des Klägers. Die darin liegende Begünstigung ist nicht nach § 78 Satz 2 BetrVG unzulässig. Im Streitfall war zudem ausgeschlossen, dass der Kläger durch die in der Aufhebungsvereinbarung vereinbarten Leistungen in seiner weiteren Amtsführung beeinflusst werden konnte, da er sein Betriebsratsmandat vereinbarungsgemäß unmittelbar im Zuge des Abschlusses der Aufhebungsvereinbarung aufgab.
22
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Gräfl
M. Rennpferdt
Waskow
R. Gmoser
Merten |
bag_15-19 | 19.03.2019 | 19.03.2019
15/19 - Gesetzlicher Urlaubsanspruch - unbezahlter Sonderurlaub
Für die Berechnung des gesetzlichen Mindesturlaubs bleiben Zeiten eines unbezahlten Sonderurlaubs unberücksichtigt.
Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 1. Juni 1991 beschäftigt. Die Beklagte gewährte ihr wunschgemäß in der Zeit vom 1. September 2013 bis zum 31. August 2014 unbezahlten Sonderurlaub, der einvernehmlich bis zum 31. August 2015 verlängert wurde. Nach Beendigung des Sonderurlaubs verlangt die Klägerin von der Beklagten, ihr den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen für das Jahr 2014 zu gewähren.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Beklagte zur Gewährung von 20 Arbeitstagen Urlaub verurteilt.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Klägerin hat für das Jahr 2014 keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub.
Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beläuft sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf sechs Tage in der Woche auf 24 Werktage. Dies entspricht einem gesetzlichen Jahresurlaubsanspruch von 20 Tagen bei einer Fünftagewoche. Ist die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers auf weniger oder mehr als sechs Arbeitstage in der Kalenderwoche verteilt, muss die Anzahl der Urlaubstage unter Berücksichtigung des für das Urlaubsjahr maßgeblichen Arbeitsrhythmus berechnet werden, um für alle Arbeitnehmer eine gleichwertige Urlaubsdauer zu gewährleisten.
Der Senat hat diese Umrechnung in Fällen des Sonderurlaubs bisher nicht vorgenommen. An dieser Rechtsprechung (BAG 6. Mai 2014 – 9 AZR 678/12 – Rn. 11 ff., BAGE 148, 115) hält der Senat nicht fest. Befindet sich ein Arbeitnehmer im Urlaubsjahr ganz oder teilweise im unbezahlten Sonderurlaub, ist bei der Berechnung der Urlaubsdauer zu berücksichtigen, dass die Arbeitsvertragsparteien ihre Hauptleistungspflichten durch die Vereinbarung von Sonderurlaub vorübergehend ausgesetzt haben. Dies führt dazu, dass einem Arbeitnehmer für ein Kalenderjahr, in dem er sich durchgehend im unbezahlten Sonderurlaub befindet, mangels einer Arbeitspflicht kein Anspruch auf Erholungsurlaub zusteht.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. März 2019 – 9 AZR 315/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Juni 2017 – 11 Sa 2068/16 – | Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Juni 2017 – 11 Sa 2068/16 – teilweise abgeändert.
2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 26. Oktober 2016 – 2 Ca 1516/15 – wird insgesamt zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Gewährung von 20 Arbeitstagen (Ersatz-)Urlaub für das Jahr 2014.
2
Die Klägerin ist bei der beklagten Stadt seit dem 1. Juli 1991 beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) vom 13. September 2005 Anwendung. In der für den streitigen Zeitraum maßgeblichen Fassung heißt es ua.:
„§ 26
Erholungsurlaub
(1)
1Beschäftigte haben in jedem Kalenderjahr Anspruch auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Entgelts (§ 21). 2Bei Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Kalenderwoche beträgt der Urlaubsanspruch in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage. 3Bei einer anderen Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit als auf fünf Tage in der Woche erhöht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch entsprechend. 4Verbleibt bei der Berechnung des Urlaubs ein Bruchteil, der mindestens einen halben Urlaubstag ergibt, wird er auf einen vollen Urlaubstag aufgerundet; Bruchteile von weniger als einem halben Urlaubstag bleiben unberücksichtigt. 5Der Erholungsurlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und kann auch in Teilen genommen werden.
(2)
Im Übrigen gilt das Bundesurlaubsgesetz mit folgenden Maßgaben:
…
c)
Ruht das Arbeitsverhältnis, so vermindert sich die Dauer des Erholungsurlaubs einschließlich eines etwaigen Zusatzurlaubs für jeden vollen Kalendermonat um ein Zwölftel.
…
§ 28
Sonderurlaub
Beschäftigte können bei Vorliegen eines wichtigen Grundes unter Verzicht auf die Fortzahlung des Entgelts Sonderurlaub erhalten.“
3
Die Beklagte gewährte der Klägerin auf deren Antrag in der Zeit vom 1. September 2013 bis zum 31. August 2014 unbezahlten Sonderurlaub, der auf Wunsch der Klägerin bis zum 31. August 2015 verlängert wurde. Mit Schreiben vom 12. November 2015 forderte die Klägerin die Beklagte erfolglos auf, ihr ua. den gesetzlichen Mindesturlaub für das Jahr 2014 zu gewähren.
4
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, auch während des Sonderurlaubs seien Urlaubsansprüche entstanden.
5
Die Klägerin hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, ihr für das Kalenderjahr 2014 Ersatzurlaub im Umfang von 20 Tagen zu gewähren.
6
Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, für das Jahr 2014 sei wegen des Sonderurlaubs allenfalls der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub entstanden, der jedoch spätestens am 31. März 2015 wieder verfallen sei.
7
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und – soweit für die Revision von Bedeutung – der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die auf die Gewährung von Urlaub gerichtete Klage ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts unbegründet.
9
A. Die Klage ist zulässig.
10
I. Der Klageantrag, mit dem die Klägerin die Gewährung eines Urlaubsanspruchs aus einem in der Vergangenheit liegenden Urlaubsjahr begehrt, erfasst sowohl den Primäranspruch auf Bewilligung von Urlaub als auch gegebenenfalls einen entsprechenden Schadensersatzanspruch (vgl. BAG 5. August 2014 – 9 AZR 77/13 – Rn. 12).
11
II. Der Antrag ist hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Klagen, mit denen der Arbeitgeber dazu verurteilt werden soll, eine bestimmte Anzahl von Urlaubstagen ab einem in der Zukunft liegenden, nicht näher genannten Zeitraum zu gewähren, genügen den Bestimmtheitsanforderungen für die nach § 888 ZPO vorzunehmende Zwangsvollstreckung (vgl. BAG 27. April 2017 – 6 AZR 119/16 – Rn. 18, BAGE 159, 92; 18. März 2014 – 9 AZR 877/13 – Rn. 11).
12
B. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Gewährung eines bezahlten Erholungsurlaubs im Umfang von 20 Arbeitstagen für das Jahr 2014.
13
I. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich nicht aus § 26 Abs. 1 Satz 1 TVöD. Dem tariflichen Urlaubsanspruch der Klägerin für das Kalenderjahr 2014 steht § 26 Abs. 2 Buchst. c TVöD entgegen. Danach vermindert sich die Dauer des Erholungsurlaubs einschließlich eines etwaigen Zusatzurlaubs für jeden vollen Kalendermonat, in dem das Arbeitsverhältnis ruht, um ein Zwölftel. Die mit der Sonderurlaubsvereinbarung bewirkte Suspendierung der wechselseitigen Hauptleistungspflichten führte zu einem Ruhen des Arbeitsverhältnisses für das gesamte Kalenderjahr 2014 und damit zu einer Verminderung des tariflichen Urlaubsanspruchs auf „Null“.
14
II. Der Klägerin steht für das Kalenderjahr 2014 auch nicht der gesetzliche Urlaubsanspruch nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG zu.
15
1. Ohne Rechtsfehler hat das Landesarbeitsgericht zunächst angenommen, dass der der Klägerin nach dem Bundesurlaubsgesetz zustehende Urlaubsanspruch am 1. Januar 2014 entstanden ist. Nach Ablauf der Wartezeit (§ 4 BUrlG) entsteht der Anspruch eines Arbeitnehmers auf Erholungsurlaub am 1. Januar eines jeden Kalenderjahres (vgl. BAG 23. Januar 2018 – 9 AZR 200/17 – Rn. 16, BAGE 161, 347). Der Urlaubsanspruch setzt – dem Grunde nach – allein das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraus. Er steht nicht unter der Bedingung, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat. Weder enthält § 1 BUrlG, nach dem ein Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub hat, eine Ausnahmeregelung für den Fall des Ruhens des Arbeitsverhältnisses noch nimmt § 2 Satz 1 BUrlG Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis kraft Abrede der Arbeitsvertragsparteien oder aufgrund tariflicher Anordnung ruht, vom Geltungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes aus (st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17 – Rn. 28 mwN).
16
2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist der unbezahlte Sonderurlaub jedoch bei der Berechnung der Arbeitstage, für die die Klägerin im Wege der Urlaubsgewährung von der Arbeitspflicht freizustellen ist, zu berücksichtigen.
17
a) Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub ist nicht nach der zum Zeitpunkt der Urlaubsgewährung geltenden Arbeitszeitregelung zu bemessen (so noch BAG 14. März 2017 – 9 AZR 7/16 – Rn. 17), sondern grundsätzlich bezogen auf das gesamte Urlaubsjahr – dh. das Kalenderjahr seiner Entstehung – anhand der arbeitsvertraglichen Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage zu berechnen. Befindet sich ein Arbeitnehmer im Urlaubsjahr ganz oder teilweise im unbezahlten Sonderurlaub, ist bei der Berechnung des gesetzlichen Mindesturlaubs zu berücksichtigen, dass die Arbeitsvertragsparteien ihre Hauptleistungspflichten durch die Vereinbarung von Sonderurlaub vorübergehend ausgesetzt haben. Dies führt dazu, dass einem Arbeitnehmer, der sich im gesamten Kalenderjahr im unbezahlten Sonderurlaub befindet, mangels Arbeitspflicht kein gesetzlicher Anspruch auf Erholungsurlaub zusteht. Ist die Arbeitspflicht nicht im gesamten Kalenderjahr suspendiert, weil sich der Sonderurlaub nur auf einen Teil des Kalenderjahres erstreckt, muss der Urlaubsanspruch nach Zeitabschnitten berechnet werden. Soweit der Senat demgegenüber bisher angenommen hat, dass der auf Zeiträume eines unbezahlten Sonderurlaubs entfallende Urlaubsanspruch nach Maßgabe der ausgesetzten Arbeitszeit zu berechnen sei (BAG 6. Mai 2014 – 9 AZR 678/12 – Rn. 14, BAGE 148, 115) und im Falle eines unterjährigen Wechsels der Arbeitszeitverteilung der kalenderjährig bestimmte Urlaubsanspruch nicht in Zeitabschnitte unterteilt werden könne (BAG 14. März 2017 – 9 AZR 7/16 – Rn. 14), wird daran nicht festgehalten.
18
b) Die Höhe des gesetzlichen Urlaubsanspruchs ist nach § 3 Abs. 1 BUrlG zu berechnen. Danach beträgt der gesetzliche Mindesturlaub 24 Werktage im Kalenderjahr. Die Vorschrift unterstellt eine an sechs Tagen der Kalenderwoche bestehende Arbeitspflicht und gewährleistet unter dieser Voraussetzung einen gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Werktagen im Kalenderjahr. Ist die Arbeitszeit auf weniger oder mehr als sechs Tage in der Kalenderwoche verteilt, vermindert oder erhöht sich der Urlaubsanspruch entsprechend. Um für alle Arbeitnehmer eine gleichwertige Urlaubsdauer zu sichern, ist die Anzahl der Urlaubstage unter Berücksichtigung der für das Urlaubsjahr maßgeblichen Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage zu ermitteln (sog. Umrechnung; vgl. zuletzt BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17 – Rn. 29 mwN). § 3 Abs. 1 BUrlG regelt diese Verknüpfung von Arbeitspflicht und Urlaubstagen nicht ausdrücklich. Sie folgt jedoch aus einer insbesondere an Sinn und Zweck des Urlaubsanspruchs ausgerichteten Auslegung der Bestimmung.
19
aa) Bereits der Wortlaut von § 1 und § 3 Abs. 1 BUrlG bietet Anhaltspunkte für eine Verknüpfung der Anzahl der Urlaubstage mit der Anzahl der Tage, an denen eine Arbeitspflicht besteht. Die Verwendung des Begriffs „Erholungsurlaub“ in § 1 BUrlG legt ein solches Verständnis nahe. Zudem spricht das Abstellen auf „Werktage“ und nicht auf „Kalendertage“ in § 3 Abs. 1 BUrlG dafür, dass der Gesetzgeber bei der Bemessung der dem Arbeitnehmer zustehenden Urlaubstage entsprechend dem Regelfall bei Inkrafttreten des Bundesurlaubsgesetzes von einer an sechs Tagen der Woche bestehenden Arbeitspflicht ausging (vgl. MHdB ArbR/Klose 4. Aufl. § 86 Rn. 33). Die Erfüllung des Anspruchs auf Erholungsurlaub setzt zudem voraus, dass der Arbeitnehmer durch eine Freistellungserklärung des Arbeitgebers zu Erholungszwecken von seiner sonst bestehenden Arbeitspflicht befreit wird (vgl. BAG 16. Juli 2013 – 9 AZR 50/12 – Rn. 15; 19. Januar 2010 – 9 AZR 426/09 – Rn. 15).
20
bb) Entscheidend für die Abhängigkeit der Anzahl der Urlaubstage von der Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht spricht der Erholungszweck des gesetzlichen Anspruchs auf Mindesturlaub, der in den Gesetzesmaterialien und § 8 BUrlG seinen Ausdruck gefunden hat. Der Ausschuss für Arbeit des Deutschen Bundestags führte zur Begründung des von ihm vorgeschlagenen, später verabschiedeten Entwurfs des Bundesurlaubsgesetzes in seinem schriftlichen Bericht vom 29. November 1962 aus, der Mindesturlaub diene „der Erhaltung und Wiederauffrischung der Arbeitskraft“. Mit der in § 3 Abs. 1 BUrlG vorgesehenen Mindestanzahl von Urlaubstagen solle angesichts einer gestiegenen „Arbeitsbelastung der Menschen in der modernen Wirtschaft“ dem „Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer … Rechnung getragen“ werden (BT-Drs. IV/785 S. 1 f.). Das Ziel, es dem Arbeitnehmer durch Urlaubsgewährung zu ermöglichen, sich zu erholen, setzt voraus, dass der Arbeitnehmer verpflichtet war, eine Tätigkeit auszuüben. Dementsprechend verpflichtet § 8 BUrlG den Arbeitnehmer, während des Urlaubs keine dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbstätigkeit zu leisten.
21
cc) Das gesetzgeberische Grundverständnis von § 3 Abs. 1 BUrlG, den Urlaubsanspruch anhand der arbeitsvertraglich zu leistenden Arbeit zu berechnen, wird durch § 208 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB IX (früher in § 125 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB IX bzw. zuvor in § 47 Satz 1 Halbs. 2 SchwbG) bestätigt. Danach vermindert oder erhöht sich der schwerbehinderten Menschen nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 SGB IX zustehende gesetzliche Urlaubsanspruch entsprechend, wenn deren Arbeitszeit auf weniger oder mehr als fünf Tage in der Woche verteilt ist (vgl. hierzu BAG 19. Januar 2010 – 9 AZR 426/09 – Rn. 31; 20. August 2002 – 9 AZR 261/01 – zu I 2 a aa der Gründe, BAGE 102, 251; 30. Oktober 2001 – 9 AZR 315/00 – zu II 2 der Gründe; MHdB ArbR/Klose 4. Aufl. § 86 Rn. 35).
22
c) Der Berechnung der Höhe des Urlaubsanspruchs nach § 3 Abs. 1 BUrlG muss deshalb stets die Klärung vorausgehen, an wie vielen Tagen der Woche eine Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Arbeitsleistung besteht (vgl. HWK/Schinz 8. Aufl. § 3 BUrlG Rn. 9). Dabei ist grundsätzlich von der im Arbeitsvertrag vorgesehenen Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage auszugehen. Änderungen der Verteilung der Arbeitszeit innerhalb des Kalenderjahres sind zu berücksichtigen. Bei einem unterjährigen Wechsel der Anzahl der Arbeitstage ist der Gesamtjahresurlaubsanspruch für das betreffende Kalenderjahr unter Berücksichtigung der einzelnen Zeiträume der Beschäftigung und der auf sie entfallenden Wochentage mit Arbeitspflicht umzurechnen (vgl. ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 3 Rn. 15; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 Rn. 926). Unter Umständen muss die Urlaubsdauer mehrfach berechnet werden (vgl. BAG 5. September 2002 – 9 AZR 244/01 – zu B II 1 b aa der Gründe, BAGE 102, 321).
23
aa) Ist die Arbeitszeit im gesamten Kalenderjahr gleichmäßig auf weniger oder mehr als sechs Wochentage verteilt, erfolgt die Umrechnung, indem die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage durch die Zahl 6 geteilt und mit der Anzahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage einer Woche multipliziert werden (allgA, vgl. BAG 5. September 2002 – 9 AZR 244/01 – zu B II 1 b aa der Gründe, BAGE 102, 321; ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 3 Rn. 8; MHdB ArbR/Klose 4. Aufl. § 86 Rn. 34; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 Rn. 926; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 104 Rn. 48).
24
bb) Ist die Arbeitszeit nicht das gesamte Kalenderjahr über gleichmäßig auf weniger oder mehr als sechs Wochentage verteilt, ist für die Umrechnung der Zeitabschnitt heranzuziehen, in dem die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit im Durchschnitt erreicht wird (vgl. BAG 19. Januar 2010 – 9 AZR 426/09 – Rn. 36 f.). Eine kalenderjahresbezogene Berechnung ist vorzunehmen, wenn sich nur so eine Gleichwertigkeit der Urlaubsdauer sicherstellen lässt. Dementsprechend wird bei einer über das Kalenderjahr ungleichmäßigen Verteilung der Arbeitszeit jahresbezogen die für den Arbeitnehmer maßgebliche Anzahl der Arbeitstage mit der Anzahl der Werktage ins Verhältnis gesetzt (vgl. BAG 21. Juli 2015 – 9 AZR 145/14 – Rn. 17; 15. März 2011 – 9 AZR 799/09 – Rn. 25, BAGE 137, 221). Auch bei einer unterjährigen Änderung der Arbeitszeitregelung ist eine jahresbezogene Betrachtung anzustellen, die die Anzahl der in den einzelnen Zeitabschnitten vorgesehenen Arbeitstage berücksichtigt.
25
(1) Dabei geht das Bundesarbeitsgericht für die Sechstagewoche von 312 und für die Fünftagewoche von 260 möglichen Arbeitstagen im Jahr aus (BAG 5. September 2002 – 9 AZR 244/01 – zu B II 1 b aa der Gründe, BAGE 102, 321). Das beruht darauf, dass sich bei sechs Werktagen in 52 Wochen eine Zahl von 312 Werktagen ergibt. Diese Formel vernachlässigt bewusst, dass das Kalenderjahr nicht nur 364 Tage – ausgehend von 52 Wochen zu je sieben Tagen – hat, sondern nach § 191 BGB mit 365 Tagen zu rechnen ist. Der 365. Tag bleibt außer Betracht, weil die Berechnungsvorschrift in § 11 Abs. 1 Satz 1 BUrlG auf 13 Wochen für ein Vierteljahr abstellt (vgl. BAG 15. März 2011 – 9 AZR 799/09 – Rn. 25, BAGE 137, 221). Die Umrechnung erfolgt, indem die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage durch die Anzahl der Arbeitstage im Jahr bei einer Sechstagewoche geteilt und mit der Anzahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage im Jahr multipliziert werden.
26
Die danach maßgebliche Umrechnungsformel lautet:
24 Werktage Urlaub x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht
312 Werktage
27
(2) Bei der Ausfüllung der Formel zählen gesetzliche Feiertage als Tage mit Arbeitspflicht. Das ergibt sich daraus, dass die rechtliche Behandlung der Feiertage gesondert in den §§ 9 bis 13 ArbZG und in § 2 EFZG geregelt ist. An Feiertagen, an denen der Arbeitnehmer nicht zur Arbeitsleistung verpflichtet ist, kann die Arbeitspflicht nicht nochmals suspendiert werden. Feiertage stehen damit für die Urlaubsgewährung nicht mehr zur Verfügung und haben deshalb nicht für die Berechnung des gesetzlichen Mindesturlaubs, sondern lediglich für dessen Erfüllung Bedeutung (st. Rspr., vgl. bereits BAG 5. November 2002 – 9 AZR 470/01 – zu B I 3 b bb (2) der Gründe; ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 3 Rn. 5; HWK/Schinz 8. Aufl. § 3 BUrlG Rn. 25). Gleiches gilt für sonstigen Arbeitsausfall im Verlauf des Kalenderjahres zB durch Freistellungen für Bildungsveranstaltungen, vorübergehende Verhinderung nach § 616 BGB, krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nach § 1 EFZG oder Suspendierungen nach §§ 2, 3 PflegeZG. Dies folgt zudem unmittelbar aus § 3 Abs. 1 BUrlG. Die Bestimmung gewährt den gesetzlichen Mindesturlaub bei einer Sechstagewoche unabhängig vom Arbeitsausfall im Verlauf eines Kalenderjahres.
28
d) Die Berechnung des Urlaubsanspruchs nach § 3 Abs. 1 BUrlG anhand der Anzahl der wöchentlichen Arbeitstage innerhalb eines repräsentativen Zeitabschnitts verstößt nicht gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften (§ 4 Abs. 1 TzBfG). Durch sie wird nicht zwischen voll- und teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern unterschieden. Eine Verminderung der Anzahl der wöchentlichen Arbeitstage ist nicht zwingend mit einer Verminderung der wöchentlichen Arbeitszeit verbunden. Ausgehend von dem § 3 Abs. 1 BUrlG zugrunde liegenden Tagesprinzip (ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 3 Rn. 2) knüpft die Berechnung ausschließlich an die Anzahl der wöchentlichen Arbeitstage an und nicht an die wöchentlich zu leistende Arbeitszeit. Bei einem Wechsel von einer Vollzeit- zu einer Teilzeitbeschäftigung wird durch diese Berechnung der während der Vollzeittätigkeit erworbene Urlaubsanspruch nicht gekürzt (vgl. hierzu BAG 10. Februar 2015 – 9 AZR 53/14 (F) – Rn. 15, BAGE 150, 345).
29
e) Der Senat hat diese Umrechnung in Fällen des Sonderurlaubs in der Vergangenheit nicht vorgenommen. Dem lag im Wesentlichen die Annahme zugrunde, während des Sonderurlaubs bestehe die Arbeitspflicht „an sich“ fort, müsse aber nicht erfüllt werden (vgl. BAG 6. Mai 2014 – 9 AZR 678/12 – Rn. 14, BAGE 148, 115). Daran hält der Senat nicht fest.
30
aa) Die Umrechnung des nach § 3 Abs. 1 BUrlG in Werktagen bemessenen Urlaubs in Arbeitstage ist grundsätzlich auch dann vorzunehmen, wenn die Arbeitsvertragsparteien ihre Hauptleistungspflichten durch die Vereinbarung von Sonderurlaub suspendieren (vgl. Fieberg ZESAR 2013, 258, 264; Wicht BB 2012, 1349, 1352; Arnold/Tillmanns/Zimmermann BUrlG 3. Aufl. § 1 Rn. 35; im Ergebnis ebenso Hanau jM 2016, 27, 29; Höpfner Anm. AP BUrlG § 7 Nr. 61). Die Arbeitsvertragsparteien setzen die Hauptleistungspflichten für die Zeit des Sonderurlaubs aus und heben damit die bisherige Arbeitszeitregelung vorübergehend auf. Durch die Freistellung wird der durch das Bundesurlaubsgesetz bezweckten Unterbrechung der Arbeitspflicht die Grundlage entzogen (vgl. Fieberg Anm. AP BUrlG § 1 Nr. 24; Arnold/Tillmanns/Zimmermann aaO). Der Zeitraum des Sonderurlaubs ist bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs mit „null“ Arbeitstagen in Ansatz zu bringen. Ein Urlaubsanspruch für die Zeit des Sonderurlaubs besteht deshalb regelmäßig nicht.
31
bb) Diese Berechnung des Urlaubsanspruchs steht mit Unionsrecht grundsätzlich im Einklang. Weder Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG noch Art. 31 Abs. 2 GRC verlangen es im Fall eines allein auf Wunsch des Arbeitnehmers vereinbarten unbezahlten Sonderurlaubs, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für die Zeiten unbezahlten Sonderurlaubs nach der suspendierten Arbeitspflicht zu berechnen und damit den Sonderurlaub einem Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung gleichzustellen (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 28). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit der Entscheidung vom 13. Dezember 2018 (- C-385/17 – [Hein]) unter Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. EuGH 8. November 2012 – C-229/11 und C-230/11 – [Heimann und Toltschin] Rn. 32 ff.) erkannt, dass der Zweck des in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG jedem Arbeitnehmer gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 26). Er hat weiter festgestellt, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auf der Prämisse beruht, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Referenzzeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Der unionsrechtlich gewährleistete Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist grundsätzlich anhand der Zeiträume der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeit zu berechnen (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 27; 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 28). Ein Arbeitnehmer kann danach einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG nur für die Zeiträume erwerben, in denen er tatsächlich gearbeitet hat (vgl. EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 27, 29).
32
cc) Diese Grundsätze zur Berechnung des Urlaubsanspruchs bei suspendierter Arbeitspflicht gelten jedoch nicht ohne Einschränkungen. Eine andere Berechnung kann durch entgegenstehende gesetzliche Bestimmungen, unionsrechtliche Vorgaben sowie nach § 13 BUrlG zulässige kollektivrechtliche oder vertragliche Vereinbarungen veranlasst sein. So ist § 3 Abs. 1 BUrlG zB richtlinienkonform dahin auszulegen, dass Arbeitnehmer, die mit dem Arbeitgeber das Ruhen des Arbeitsverhältnisses vereinbaren, weil sie wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit während des Bezugszeitraums ihrer Arbeitspflicht nicht nachkommen können, Arbeitnehmern gleichzustellen sind, die während dieses Zeitraums tatsächlich arbeiten (BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17 – Rn. 30). Entsprechendes gilt für Arbeitnehmerinnen, die wegen Mutterschaftsurlaubs ihre Aufgaben im Rahmen ihrer Arbeitsverhältnisse nicht erfüllen können (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 30 mwN). Für die Ausfallzeiten wegen eines Beschäftigungsverbots hat der deutsche Gesetzgeber dies positivgesetzlich in § 24 Satz 1 MuSchG geregelt. Danach gelten diese Zeiten für die Berechnung des Anspruchs auf bezahlten Erholungsurlaub als Beschäftigungszeiten. Darüber hinaus gelten Besonderheiten für Urlaubsansprüche, die von Kürzungsregelungen wie in § 4 ArbPlSchG, § 17 Abs. 1 BEEG oder § 4 Abs. 4 PflegeZG erfasst werden (vgl. zu § 17 Abs. 1 BEEG BAG 19. März 2019 – 9 AZR 362/18 – und – 9 AZR 495/17 -).
33
3. Bei Anwendung dieser Grundsätze beläuft sich der gesetzliche Anspruch der Klägerin auf bezahlten Jahresurlaub für das Jahr 2014 auf „null“ Arbeitstage. Durch die Sonderurlaubsvereinbarung haben die Parteien die Arbeitspflicht der Klägerin für das gesamte Kalenderjahr 2014 vollständig ausgesetzt. Setzt man den gesetzlichen Urlaubsanspruch der Klägerin von 24 Werktagen hierzu ins Verhältnis, ist sie für das Jahr 2014 nicht im Wege eines bezahlten Jahresurlaubs von ihrer Arbeitspflicht zu befreien.
34
III. Die Klägerin hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch gemäß § 275 Abs. 1 und Abs. 4, § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 2 Nr. 3, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB, §§ 1, 3 BUrlG auf Gewährung von Ersatzurlaub im Umfang von 20 Arbeitstagen für das Jahr 2014. Die Beklagte war – wie unter B ausgeführt – nicht verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum ihres Sonderurlaubs Erholungsurlaub zu gewähren, sodass Ansprüche aus Verzug ausscheiden.
35
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Kiel
Suckow
Zimmermann
Jacob
Anthonisen |
bag_15-20 | 14.05.2020 | 14.05.2020
15/20 - Kündigungen des Kabinen-Personals von Air Berlin wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige unwirksam - Kein Betriebs(teil)übergang auf die Luftfahrtgesellschaft Walter mbH
Die Kündigungen des Kabinenpersonals der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin vom 27. Januar 2018 sind wegen fehlerhafter Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam. Die Arbeitsverhältnisse dieser Arbeitnehmer sind jedoch nicht auf die Luftfahrtgesellschaft Walter mbh (LGW) übergegangen.
Die Klägerin war bei Air Berlin als Flugbegleiterin mit Einsatzort Düsseldorf beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis wurde wegen Stilllegung des Flugbetriebs mit Schreiben vom 27. Januar 2018 gekündigt. Air Berlin erstattete wegen der zentralen Steuerung des Flugbetriebs die Massenentlassungsanzeige für den angenommenen „Betrieb Kabine“ und damit bezogen auf das bundesweit beschäftigte Kabinen-Personal bei der für den Sitz der Air Berlin zuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord. Die Klägerin hat die Stilllegungsentscheidung bestritten. Der Flugbetrieb werde durch andere Fluggesellschaften (teilweise) fortgeführt. Ihr Arbeitsverhältnis sei auf die LGW übergegangen. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft. Die Vorinstanzen haben die gegen den Insolvenzverwalter gerichtete Kündigungsschutzklage ebenso abgewiesen wie die gegen die LGW gerichtete Klage, wonach das Arbeitsverhältnis mit dieser fortbestehe.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Die Kündigung ist unwirksam. Der Senat hat bereits bzgl. der Kündigungen des Cockpit-Personals entschieden, dass die Massenentlassungsanzeige für die der Station Düsseldorf zugeordneten Piloten mit den hierauf bezogenen Angaben bei der dafür zuständigen Agentur für Arbeit in Düsseldorf hätte erfolgen müssen (vgl. BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Pressemitteilung Nr. 7/20). Diese Entscheidung hat der Sechste Senat für das Kabinenpersonal bestätigt. Darüber hinaus ist in der Anzeige der Stand der Beratungen der Agentur für Arbeit nicht ausreichend dargelegt worden (§ 17 Abs. 3 S. 3 KSchG).
Dagegen haben die Vorinstanzen die Klage zu Recht abgewiesen, soweit die Klägerin die Feststellung begehrt, ihr Arbeitsverhältnis sei auf die LGW übergegangen. Die Voraussetzungen eines Betriebs(teil)übergangs iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB liegen nicht vor. Die LGW hat zwar zum Teil das sog. Wet-Lease fortgeführt, das Air Berlin für eine andere Fluggesellschaft bis Ende Dezember 2017 durchgeführt hatte. Bei Air Berlin war das Wet-Lease jedoch schon mangels hinreichender Zuordnung von Arbeitnehmern zu keinem Zeitpunkt ein Betriebsteil, der auf einen Erwerber hätte übergehen können (noch offen gelassen von BAG 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – Pressemitteilung Nr. 11/20). Bis zur Einstellung des eigenwirtschaftlichen Flugbetriebs Ende Oktober 2017 fehlte es zudem an der für einen Betriebsteil erforderlichen gesonderten Leitung für das Wet-Lease-Geschäft.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Mai 2020 – 6 AZR 235/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2019 – 12 Sa 611/18 – | Tenor
I. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 20. März 2019 – 12 Sa 611/18 – im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung der Kündigungsschutzklage zurückgewiesen hat. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
II. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 8. Juni 2018 – 4 Ca 1246/18 – im Kostenpunkt und insoweit abgeändert, als es die Kündigungsschutzklage abgewiesen hat. Es wird insgesamt klarstellend wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 27. Januar 2018 nicht aufgelöst worden ist.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Kosten der ersten Instanz tragen die Klägerin zu 78 % und der Beklagte zu 22 %.
Die Kosten der zweiten Instanz tragen die Klägerin zu 83 % und der Berufungsbeklagte zu 1. zu 17 %.
Die Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin zu 57 % und der Revisionsbeklagte zu 1. zu 43 %.
Hiervon ausgenommen sind die außergerichtlichen Kosten der Berufungs- und Revisionsbeklagten zu 2. Diese trägt allein die Klägerin.
Leitsatz
1. Durch die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung wird das Verfahren nicht nach § 240 ZPO unterbrochen.
2. Bei vorläufiger Eigenverwaltung ist der Schuldner berechtigt, die Stilllegung des Unternehmens zu beschließen. Diesen Beschluss kann sich der später bestellte Insolvenzverwalter zu eigen machen, ohne selbst die Stilllegung zu beschließen.
3. Im Anzeigeverfahren hat der Arbeitgeber den Stand der Beratungen gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ausgehend von dem tatsächlichen Ablauf des Konsultationsverfahrens darzulegen. Dazu gehört auch die Angabe, ob, wann und warum der Betriebsrat weitere Verhandlungen endgültig abgelehnt hat. Außerdem ist anzugeben, dass, wann und wie das Verfahren aus Sicht des Arbeitgebers beendet worden ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses.
2
Die Klägerin war seit dem 22. April 2002 bei einer Fluggesellschaft als Flugbegleiterin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis ging im Jahr 2011 auf die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (Schuldnerin) mit Sitz in Berlin über. Diese bediente im Linienflugverkehr Ziele in Europa, Nordafrika, Israel sowie in Nord- und Mittelamerika. Die Schuldnerin unterhielt Stationen an den Flughäfen Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Hamburg, Köln, Paderborn, Nürnberg und Leipzig. Die Langstreckenflüge wurden in erster Linie von den Drehkreuzen in Berlin-Tegel und Düsseldorf aus durchgeführt.
3
Das fliegende Personal trat am sog. Stationierungsort (home base bzw. Heimatbasis) seinen Dienst an und beendete ihn dort. Soweit Personal auf Flügen von anderen Flughäfen als dem vereinbarten Dienstort eingesetzt wurde, erfolgte dies in Form des sog. proceeding. Das Personal fand sich dabei zunächst am Dienstort ein und wurde von dort zum Einsatzflughafen gebracht. Der Dienstort der Klägerin war zuletzt Düsseldorf.
4
In Berlin war der Leiter des Flugbetriebs („Head of Flight Operations“) ansässig. Diesem oblag die gesamte Leitung des Flugbetriebs im operativen Geschäft. Ihm unterstellt waren ua. die Abteilungen Cabin Crew sowie Crew Operations. Der vormalige Crew Contact in Düsseldorf wurde zum 30. Juni 2017 geschlossen. Die Einsatzplanung für das Kabinenpersonal wurde seit Mitte 2017 in Berlin für den gesamten Flugbetrieb erstellt (Crew Planning). Dies umfasste die Urlaubsplanung und die Planung der Kabinencrew-Verkehre zwischen den einzelnen Stationen.
5
Der Leitung der Abteilung Cabin Crew oblag die Durchsetzung, Kontrolle und Einhaltung aller Betriebsregeln im Bereich Kabine sowie die Personalplanung des gesamten Kabinenpersonals einschließlich der Begründung, Beendigung oder Änderung von Arbeitsverhältnissen. Ausweislich des sog. „Operations Manual Part A“ (OM/A, Stand 20. Juli 2017), welches die Organisationsstruktur des Flugbetriebs abbildete, waren der Leitung des Kabinenpersonals („PX-OK Cabin Crew“) ua. zwei Regional Manager unterstellt.
6
Die Regional Manager waren als Flugbegleiter angestellt und in der Regel auch im operativen Flugbetrieb eingesetzt. Sie hatten keine eigenen Entscheidungskompetenzen. Das OM/A beschreibt die Aufgaben des ua. für die Station Düsseldorf zuständigen Regional Manager West wie folgt:
„Der Regional Manager West ist für die Stationen DUS und PAD verantwortlich in disziplinarischen Fragen und Personalangelegenheit, einschließlich persönlicher Angelegenheiten.
Er/sie nimmt an den Flugbetriebssitzungen teil und führt in Absprache mit der Leitung Kabinenpersonal Projekte durch. Er/sie ist täglich mit den Gewerkschaften und Betriebsräten in Kontakt.
Aufgaben und Verantwortungsbereiche
•
Aufsicht über alle Aktivitäten im Bereich der Passagierbetreuung zur Erzielung eines optimalen professionellen, sicheren und freundlichen Services für die Passagiere
•
Überwachung der Einhaltung aller internen Richtlinien durch das Kabinenpersonal (z.B. Compliance, Datenschutz, interne Vorgaben)
•
Austausch von Informationen in allen sicherheitsrelevanten und Dienstleistungsangelegenheiten sowie in persönlichen Angelegenheiten mit den Regional Managern und der Leitung für das Kabinenpersonal
•
Durchführung von Stationssitzungen an den entsprechenden Stationen
•
Umsetzung von Feedback, Lob, persönlichem Austausch usw. in besonderen Fällen für alle Mitglieder des Kabinenpersonals an den entsprechenden Stationen
•
Er/Sie ist Mitglied des Health Management Team (BEM).
•
Überwachung der Einhaltung aller Dienstpläne an den entsprechenden Stationen. Vorgabe von Richtlinien und Spezifikationen für die Kabinenpersonalplanung, den Einsatzplan und Crewkontakt.
•
Regelmäßige Besetzung der Hotline für das Kabinenpersonal (24/7) als diensthabender Manager
•
Personalbeschaffung für alle Positionen im Bereich Kabinenpersonal
•
Verhandlung mit Gewerkschaften und Betriebsräten“
7
Den Regional Managern waren sog. Area Manager Kabine („Area Manager Cabin“) untergeordnet. Deren Aufgaben und Kompetenzen sind ebenfalls im OM/A dargestellt. Ausweislich Ziff. 1.3.8.1.1 OM/A hatte der Area Manager Kabine alle Aspekte der Leistung des Kabinenpersonals zu verwalten, um sicherzustellen, dass ein gleichbleibend hohes Niveau an Sicherheit und Gastfreundlichkeit aufrechterhalten wird. Er wurde als Vorgesetzter aller Mitglieder des Kabinenpersonals bezeichnet, der Disziplinarverantwortung trage. Er hatte ua. die Aufgabe, Probleme zu ermitteln und zu beheben, um einheitliche Prozesse sicherzustellen. Auch hatte er Konflikte innerhalb des Kabinenpersonals bzw. zwischen Kabinen- und Cockpitpersonal in enger Abstimmung mit der Abteilung Flight Operations und dem Regional Manager zu deeskalieren.
8
Die Schuldnerin beschäftigte mit Stand August 2017 mehr als 6.000 Arbeitnehmer, davon 1.318 Cockpitmitarbeiter, 3.362 Beschäftigte in der Kabine und 1.441 Mitarbeiter am Boden. Für das Cockpitpersonal war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG durch Abschluss des „Tarifvertrags Personalvertretung (TVPV) für das Cockpitpersonal der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“ eine Personalvertretung (PV Cockpit) gebildet. Für das Kabinenpersonal wurde durch den „Tarifvertrag Personalvertretung (TVPV) für das Kabinenpersonal der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“ die Personalvertretung Kabine (PV Kabine) errichtet. Beide Gremien hatten ihren Sitz in Berlin. Das Bodenpersonal vertraten die regional zuständigen Betriebsräte (Boden Nord, West und Süd) und der Gesamtbetriebsrat.
9
Für das Kabinenpersonal schloss die Schuldnerin am 8. Dezember 2016 den Tarifvertrag „TV Air Berlin: Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ (TV Pakt) ab. Dieser beschrieb Wachstumsperspektiven im Rahmen eines neuen Geschäftsmodells. Ausweislich § 2 Abs. 2 TV Pakt ging die Schuldnerin nicht davon aus, betriebsbedingte Beendigungskündigungen „durchführen zu müssen“. Sollten diese, egal aus welchen Gründen, dennoch unvermeidbar werden, sei deren Erklärung erst nach Abschluss eines Sozialtarifvertrags über einen Interessenausgleich und Sozialplan zulässig, der sich auf das gesamte Kabinenpersonal auf der Grundlage der Betriebszugehörigkeit ausrichten müsse. Nach § 2 Abs. 3 TV Pakt sind Interessenausgleichs-/Sozialplanverhandlungen, beschränkt auf Änderungskündigungen, weiterhin auf betrieblicher Ebene möglich. Sollten die Betriebsparteien nicht zu einer Einigung kommen, sei nicht die Einigungsstelle anzurufen, sondern ein Sozialtarifvertrag über einen Interessenausgleich und Sozialplan abzuschließen.
10
Die von der Schuldnerin eingesetzten Flugzeuge standen nicht in deren Eigentum, sondern waren geleast. Seit Anfang des Jahres 2017 führte die Schuldnerin neben dem eigenwirtschaftlichen Flugbetrieb auch noch Flüge im sog. Wet Lease für Unternehmen der Lufthansa-Gruppe, insbesondere für die Eurowings GmbH (Eurowings), durch. Die Schuldnerin stellte dabei die von ihr selbst geleasten Flugzeuge (sog. Head Lease) Eurowings als weiterer Leasingnehmerin (sog. Sub Lease) mit Besatzung, Wartung und Versicherung zur Verfügung. Die vertraglichen Abreden wurden als ACMIO-Vereinbarung bezeichnet. ACMIO steht für „Aircraft, Crew, Maintenance, Insurance, Overhead“. Die Personalplanung verblieb dementsprechend bei der Schuldnerin. Die für Eurowings eingesetzten Flugzeuge wurden mit dem Eurowings-Logo versehen und entsprechend lackiert. Das fliegende Personal trug jedenfalls teilweise im Wet-Lease-Einsatz Uniformen der Eurowings. Der Wet-Lease-Flugbetrieb wurde an den einzelnen Flughäfen mit Start- und Landerechten für bestimmte Zeitspannen (Slots) der Eurowings durchgeführt.
11
Am 14. Februar 2017 schloss die Schuldnerin für das Cockpitpersonal mit der PV Cockpit einen „Rahmen-Interessenausgleich zur Umstrukturierung der Air Berlin für das Cockpitpersonal“. Darin hieß es, die Organisationsstruktur des Flugbetriebs müsse geändert werden. Es sollte die Ausgliederung des Touristikgeschäfts, die Bereederung von Flugzeugen im Rahmen der mit der Lufthansa-Gruppe (Deutsche Lufthansa AG, Eurowings und Austrian Airlines AG) getroffenen Wet-Lease-Vereinbarung (ACMIO-Operation) und eine Neuausrichtung der verbleibenden Kapazitäten im Rahmen des Programms „New airberlin“ erfolgen. Die Anlage 1 zu diesem Rahmen-Interessenausgleich lautet auszugsweise:
„§ 1
Die Zuordnung zur ACMIO-Operation ergibt sich bei ausschließlichen ACMIO-Stationen aus der entsprechenden Stationierung. An ‚gemischten Stationen‘ erfolgt eine individuelle Zuordnung erst, sobald die ‚dedicated crew‘ Operation aufgenommen wird. Mitarbeiter, die vor diesem Zeitpunkt an einer ‚gemischten Station‘ stationiert sind, werden bis dahin in beiden Operationen eingesetzt. …
§ 6
Auch nach der Zuordnung der Mitarbeiter zur ausschließlichen Operation (ACMIO-Operation bzw. ‚New airberlin‘) verbleiben alle Mitarbeiter im einheitlichen Flugbetrieb der airberlin. Die Durchlässigkeit zwischen ‚New airberlin‘ und der ‚ACMIO-Operation‘ wird gewährleistet, z.B. durch Ausschreibung von Stellen und Umschulungen sowie die weiterhin gültige einheitliche Betriebszugehörigkeits-, Senioritäts- und Wechselwunschliste. …“
12
Die Station Düsseldorf war eine sog. „gemischte Station“.
13
Bezogen auf das Wet Lease regelt § 5 Abs. 2 TV Pakt, dass die im Rahmen des Wet Lease fliegenden Kabinenbeschäftigten bei einer Beendigung des Wet Lease „in die Operation der neuen Air Berlin auf die noch von Air Berlin betriebenen Stationen wechseln können“.
14
Am 24. Februar 2017 schlossen die Schuldnerin und die PV Kabine die „Betriebsvereinbarung Rahmen-Interessenausgleich zur Umstrukturierung der Air Berlin für das Kabinenpersonal“ (RIA-UK). Hintergrund war die geplante Änderung der Organisation des Flugbetriebs, die auch dem am 14. Februar 2017 für das Cockpitpersonal geschlossenen Rahmen-Interessenausgleich zugrunde lag. Die Anlage 1 zum RIA-UK lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 1
Die Betriebsparteien gehen davon aus, dass es zukünftig Stationen mit reiner ACMIO-Bereederung, reine New-Airberlin-Stationen, sowie Stationen mit gemischter Bereederung gibt. Die Zuordnung zur ACMIO-Operation ergibt sich bei ausschließlichen ACMIO-Stationen aus der entsprechenden Stationierung.
…
Die Beschäftigten der Stationen LEI, PAD und NUE werden vorübergehend der ACMIO-Operation an anderen Stationen zugeordnet.
An ‚gemischten Stationen‘ erfolgt die individuelle Zuordnung nach den Regelungen des nachstehenden § 2 mit der Aufnahme der ACMIO-Operation an der jeweiligen Station. …
§ 2
Zur Stationierung bzw. Bereederung der ACMIO-Operation und der ‚New airberlin‘ erfolgen konkret zu bestimmende Maßnahmen, insbesondere:
1.
Rückkehrwünsche von ehemals an der Station CGN Beschäftigten gemäß Interessenausgleich- und Sozialplan über die Umstationierung Kabinenpersonal auf der Station CGN vom 17.02.2016
2.
Wechselwunschliste (WWL)
3.
Freiwilligenabfrage/Ausschreibungen
4.
Förderungen
5.
Neueinstellungen (inkl. ready entry SCCMA)
6.
Direktionsrecht, Auswahl nach sog. ‚negativer Betriebszugehörigkeit‘ auf der jeweiligen Station
§ 3
Alle Wechselwünsche, die zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Interessenausgleichs auf der Wechselwunschliste dokumentiert sind, werden bis zum 31.12.2017 gewährt – vorbehaltlich, dass an der bisherigen ‚abgebenden‘ Station keine Personalunterdeckung entsteht. …
§ 6
Auch nach der Zuordnung der Mitarbeiter zur ausschließlichen Operation (ACMIO-Operation bzw. ‚New airberlin‘) verbleiben alle Mitarbeiter im einheitlichen Flugbetrieb der airberlin. Die Durchlässigkeit zwischen ‚New airberlin‘ und der ‚ACMIO-Operation‘ wird gewährleistet, z.B. durch Ausschreibung von Stellen und Umschulungen sowie die weiterhin gültige einheitliche Betriebszugehörigkeits- und Wechselwunschliste. …“
15
In der Folgezeit wurden unter Berücksichtigung des Flugplans zunächst die monatlich vorgegebenen Strecken erfasst. Im Anschluss daran wurden die jeweiligen Flugzeuge zugeteilt, wobei deren Sonderlackierung für den Wet-Lease-Einsatz berücksichtigt wurde. Anschließend wurden die Besatzungen unter Beachtung von Sonderwünschen eingeplant und die entsprechenden Dienstpläne erstellt. Die Maßnahmen aus §§ 2, 3 RIA-UK wurden dabei nicht oder nur teilweise umgesetzt. Die Flüge im Wet Lease wurden ebenso wie die eigenwirtschaftlichen Flüge auf der Grundlage des OM/A durchgeführt.
16
Im Mai oder Juni 2017 kaufte die Komplementärin der Schuldnerin die Luftfahrtgesellschaft Walter mbH (Berufungs- und Revisionsbeklagte zu 2.; im Folgenden Beklagte zu 2.). Diese erbrachte mit 20 Flugzeugen des Musters Bombardier Dash Q400 ohne eigene Start- und Landerechte im Wet Lease Leistungen für die Schuldnerin in Form von Zubringerflügen zu den Flughäfen Berlin-Tegel und Düsseldorf.
17
Unter dem 15. August 2017 beantragte die Schuldnerin beim zuständigen Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen bei Eigenverwaltung. Das Gericht ordnete zunächst die vorläufige Eigenverwaltung an. Der Beklagte, Berufungs- und Revisionsbeklagte zu 1. (im Folgenden Beklagter zu 1.) wurde am 16. August 2017 zum vorläufigen Sachwalter bestellt. Es wurde ein vorläufiger Gläubigerausschuss eingesetzt. Danach wurde von der Schuldnerin eine Investorensuche eingeleitet, die eine Fortführung des Geschäftsbetriebs im Rahmen einer übertragenden Sanierung ermöglichen sollte. Nach Ablauf der Angebotsfrist am 15. September 2017 lag kein annahmefähiges Angebot vor. Daraufhin wurde beschlossen, weitere Verhandlungen mit der Lufthansa-Gruppe und der britischen Fluggesellschaft easyJet Airline Company Limited (easyJet) zu führen.
18
Am 29. September 2017 schlossen die Gewerkschaft ver.di und die Schuldnerin mit Zustimmung des Beklagten zu 1. einen „Rahmentarifsozialplan Transfer“ (RTST). Ausweislich dessen Präambel war zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Tarifvertrags angedacht, Vermögenswerte der Schuldnerin auf verschiedene Erwerber zu übertragen. Die Schuldnerin könne ihre Betriebstätigkeit spätestens nach Veräußerung der Betriebsmittel nicht mehr fortführen. Vor diesem Hintergrund drohe das Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für die Beschäftigten. Der Tarifvertrag enthält deshalb Rahmenbedingungen zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, Installierung von Transfergesellschaften, Abfindungsregelungen und weiteren Maßnahmen zur Vermeidung oder Abmilderung der Folgen der beschriebenen Veränderungen. Die Tarifvertragsparteien ermächtigten die Betriebsparteien zur „Ausfüllung der Maßnahmen“ im Sinne einer Öffnungsklausel.
19
Am 12. Oktober 2017 unterzeichneten der Executive Director der persönlich haftenden Gesellschafterin der Schuldnerin, der Generalbevollmächtigte der Schuldnerin und der Beklagte zu 1. für die Schuldnerin eine Erklärung. Diese lautet auszugsweise wie folgt:
„Erklärung der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG
… Es ist beabsichtigt, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 26. Oktober 2017 beim Insolvenzgericht anzuregen.
I.
Die Liquiditäts- und Fortführungsplanung hat ergeben, dass eine Fortführung des Geschäftsbetriebs im Rahmen des eröffneten Insolvenzverfahrens nicht möglich ist. Vor diesem Hintergrund haben die Geschäftsführung, der Generalbevollmächtigte, das Management Board sowie die Board of Directors der Air Berlin PLC die Entscheidung getroffen, die erforderliche Betriebsänderung (Stilllegung) – vorbehaltlich der Zustimmung des Gläubigerausschusses und unter Wahrung der Beteiligungsrechte des Wirtschaftsausschusses sowie des Betriebsrates/Gesamtbetriebsrats bzw. der Personalvertretungen – durchzuführen.
…
II.
Die Unterzeichner dieses Beschlusses stimmen daher darin überein, dass beabsichtigt ist, den Geschäftsbetrieb der Air Berlin Flüge einzustellen. Die Einstellung und Stilllegung des Geschäftsbetriebs der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG soll wie folgt umgesetzt werden:
1.
Beendigung der Flugzeug-Leasingverträge der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG als Leasingnehmer durch Kündigung bzw. Abschluss von Aufhebungsverträgen und Rückgabe der Flugzeuge sukzessive bis zum 31.01.2018.
2.
Einstellung des operativen Geschäftsbetriebs der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG. Dabei wird mit Ablauf des 28. Oktober 2017 der operative Flugverkehr im Namen und auf Rechnung der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG eingestellt. Flugbuchungen für Flüge nach dem 28. Oktober 2017 sind nicht mehr möglich.
3.
Erbringung der Dienstleistungen gegenüber Eurowings im Rahmen des sog. ‚Wet Lease‘ für den Zeitraum bis maximal zum 31. Januar 2018. Dies betrifft 13 Flugzeuge.
4. a)
Derzeit verfügen 6.054 Arbeitnehmer/-innen über ein Arbeitsverhältnis und 8 Auszubildende (nachfolgend Arbeitnehmer) über ein Ausbildungsverhältnis mit der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG. Die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG beabsichtigt, sämtliche Arbeitsverhältnisse unter Einhaltung der individuell maßgeblichen Kündigungsfrist, begrenzt auf die maximale Frist von drei Monaten zum Monatsende gemäß § 113 Satz 1 InsO, soweit gesetzlich zulässig, nach Durchführung der Interessenausgleichs- sowie Massenentlassungsanzeigeverhandlungen (§ 17 KSchG) und nach Durchführung der Anhörungsverfahren mit den Mitbestimmungsgremien (Betriebsräte/Personalvertretungen) zu kündigen. Die Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG wird – soweit erforderlich – eine Zustimmung für Arbeitnehmer mit etwaigem Sonderkündigungsschutz (z.B. SGB IX, BEEG, MuSchG) beantragen und auch diese Arbeitsverhältnisse zeitnah kündigen. Es werden auch Sozialplanverhandlungen geführt werden.
…
7.
Die Gesamtabwicklung des Geschäftsbetriebs der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG soll nach derzeitiger Planung zum 31. Januar 2018 abgeschlossen sein, so dass im Anschluss daran die Stilllegung erfolgt.“
20
Mit weiterem Schreiben vom 12. Oktober 2017 wandte sich die Schuldnerin an die PV Kabine, welche den Eingang zum 16. Oktober 2017 bestätigte. Das Schreiben entspricht inhaltlich der vorstehend wiedergegebenen Erklärung vom selben Tag. Es sei beabsichtigt, die durch die Betriebsstilllegung bedingten Kündigungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Laufe des Monates Oktober 2017, voraussichtlich ab 26. Oktober 2017, unter Wahrung der gegebenenfalls durch § 113 InsO begrenzten Kündigungsfrist zu erklären. Wegen der Beendigung aller Arbeitsverhältnisse sei eine Sozialauswahl nicht erforderlich. Da es sich um eine anzeigepflichtige Massenentlassung iSd. § 17 Abs. 1 KSchG handle, werde das Konsultationsverfahren hiermit gemäß § 17 Abs. 2 KSchG eingeleitet.
21
Die Belegschaft der Schuldnerin wurde durch eine betriebsinterne Mitteilung vom 12. Oktober 2017 davon in Kenntnis gesetzt, dass die Lufthansa-Gruppe die Beklagte zu 2., die ebenfalls konzernzugehörige NIKI Luftfahrt GmbH (NIKI) sowie 20 weitere Flugzeuge vorbehaltlich der Zustimmung des Gläubigerausschusses und der europäischen Wettbewerbsbehörde übernehmen wolle. Insgesamt beabsichtige die Lufthansa-Gruppe 13 Airbus-A320-Maschinen aus der Flotte der Schuldnerin, 21 Flugzeuge der A320-Familie aus dem Bestand von NIKI und 20 Flugzeuge des Musters Bombardier Dash Q400, betrieben von der Beklagten zu 2., zu übernehmen. 15 Airbus A320, die bisher im Wet Lease für Eurowings eingesetzt wurden, seien bereits von der Deutschen Lufthansa AG übernommen worden. Auf fünf weitere Flugzeuge der Airbus-A320-Familie wolle sich die Lufthansa-Gruppe eine Kaufoption sichern.
22
Mit notariellem Anteils- und Übertragungsvertrag vom 13. Oktober 2017 wurden die Anteile an der Beklagten zu 2. an die Lufthansa Commercial Holding GmbH verkauft. Die Schuldnerin verpflichtete sich, den operativen Betrieb der Beklagten zu 2. bis zum 9. Januar 2018 fortzuführen. Zudem wurde der Beklagten zu 2. Unterstützung beim Aufrechterhalten der bisherigen Flugbetriebsgenehmigung („Air Operator Certificate“ – AOC) sowie bei deren Erweiterung auf den Airbus A320 zugesichert. Ferner sollten Slots in die Beklagte zu 2. eingebracht werden.
23
Mit Ablauf des 16. Oktober 2017 stellte die Schuldnerin das Langstreckenflugprogramm ein.
24
Am 24. Oktober 2017 beschloss der vorläufige Gläubigerausschuss die vollständige Betriebseinstellung zum 31. Januar 2018 und wies die vorläufige Eigenverwaltung an, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen.
25
Der letzte im Namen der Schuldnerin durchgeführte Flug landete am 27. Oktober 2017 auf dem Flughafen Berlin-Tegel. Danach wurden nur noch Flugleistungen im Wet Lease erbracht. Dies erfolgte von den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart aus. Sofern erforderlich, wurde durch proceeding das Personal der Station Frankfurt am Main eingesetzt. Im Oktober und November 2017 wurden 13 Airbus A320 für das Wet Lease mit Eurowings weiter genutzt. Im Dezember 2017 waren es noch bis zu acht Flugzeuge.
26
Der Beklagte zu 1. erstattete mit Schreiben vom 27. Oktober 2017 gegenüber dem Insolvenzgericht ein Gutachten mit auszugsweise folgendem Inhalt:
„Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Eigenverwaltung die probate Verfahrensart jedenfalls bis zum Vollzug des Verkaufs der Betriebsteile und Beteiligungen oder aber auch nach einer bis zum Vertragsvollzug nicht auszuschließenden Betriebsstilllegung nach einer etwaigen Versagung der Genehmigung durch die Kartellbehörden ist. Es ist nicht zu erwarten, dass die Eigenverwaltung zu nachteiligen Veränderungen für die Gläubiger führen wird. …
Potentielle Kaufgegenstände sind insbesondere die Beteiligungen an der NIKI Luftfahrt GmbH, der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH und der Leisure Cargo GmbH sowie immaterielle Vermögenswerte. Besprochen wurde zudem die Übernahme von geleasten Flugzeugen.
Am 12. und 13. Oktober 2017 konnte ein Kaufvertrag mit Gesellschaften der Lufthansa-Gruppe als Käufern beurkundet werden. Kaufgegenstände sind insbesondere die mittelbare Beteiligung der Schuldnerin an der NIKI Luftfahrt GmbH, der Schuldnerin erteile Slots und die von der Komplementärin gehaltenen Geschäftsanteile an der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH. Ferner wird die Lufthansa-Gruppe neben den von der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH und der NIKI Luftfahrt GmbH betriebenen Flugzeugen weitere 20 Flugzeuge von Leasinggebern übernehmen. Bei der NIKI Luftfahrt GmbH und der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH sind rund 1.700 Arbeitnehmer der airberlin group beschäftigt. Neben diesen Arbeitnehmern sollen mindestens 1.300 bisher bei der Schuldnerin beschäftigten Mitarbeiter eine Neuanstellung bei Gesellschaften der Lufthansa-Gruppe erhalten.
Im Kaufvertrag ist unter anderem die Zustimmung der vorläufigen Gläubigerausschüsse der beteiligten insolventen Rechtsträger, des vorläufigen Sachwalters und die Genehmigung der europäischen Wettbewerbsbehörde in Brüssel als aufschiebende Bedingung (Closing Bedingungen) enthalten. …
Die Verhandlungen mit dem Interessenten easyJet Airline Company Limited, London (England), konnten in dem zunächst vorgegebenen Zeitraum bis zum 12. Oktober 2017 nicht beendet werden. Die Gespräche gestalteten sich überaus schwierig, wurden mehrfach unterbrochen und erst am 13. Oktober 2017 wieder aufgenommen. Mit Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses wurde die Exklusivität mit der easyJet Airline Company Limited hinsichtlich einer Übernahme von Slots insbesondere in Berlin-Tegel, bis zu 25 Airbus A 320 Flugzeuge und die Neuanstellung von bis zu 1.000 Mitarbeitern der Schuldnerin verlängert. Die Gespräche dauern an.
…“
27
Die Deutsche Lufthansa AG meldete am 31. Oktober 2017 einen Zusammenschluss nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 (im Folgenden Fusionskontroll-VO) bei der Europäischen Kommission an. Im Amtsblatt der Europäischen Union vom 10. November 2017 wird hierzu mitgeteilt:
„Vorherige Anmeldung eines Zusammenschlusses …
1.
…
Diese Anmeldung betrifft folgende Unternehmen:
–
Deutsche Lufthansa AG (‚Lufthansa‘, Deutschland)
–
NIKI Luftfahrt GmbH (‚NIKI‘, Österreich), Teil der Air-Berlin-Gruppe,
–
Luftfahrtgesellschaft Walter mbH (‚LGW‘, Deutschland), ebenfalls Teil der Air-Berlin-Gruppe.
Lufthansa erwirbt im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b der Fusionskontrollverordnung die Kontrolle über Teile der Air-Berlin-Gruppe, d.h. über die Gesamtheit von NIKI und LGW.
Der Zusammenschluss erfolgt durch Erwerb von Anteilen.
2.
Die beteiligten Unternehmen sind in folgenden Geschäftsbereichen tätig:
…
–
LGW: Bis zum 28. Oktober 2017 betrieb LGW im Rahmen von Wet-Lease-Vereinbarungen an Air Berlin vermietete Luftfahrzeuge für Kurzstreckenlinien nach Düsseldorf und Berlin, in erster Linie als Zubringer für Air-Berlin-Tätigkeiten. LGW soll als Zweckgesellschaft für die Fortsetzung des gegenwärtig von Air Berlin betriebenen Flugplans im Rahmen einer Wet-Lease-Vereinbarung mit der Lufthansa-Gruppe vom Dezember 2016 dienen. Vor dem Zusammenschluss soll ein Zeitnischen-Paket für die Wintersaison 2017/2018 sowie für die Sommersaison 2018 (einschließlich Zeitnischen für die Flughäfen Berlin-TXL, DUS, FRA und MUC) auf LGW zur Nutzung durch die Lufthansa-Gruppe übertragen werden.
…“
28
Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 1. November 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet. Es wurde Eigenverwaltung angeordnet und der Beklagte zu 1. zum Sachwalter bestellt. Dieser zeigte noch am gleichen Tage gegenüber dem Insolvenzgericht gemäß § 208 Abs. 1 Satz 2 InsO eine drohende Masseunzulänglichkeit an. Zudem stellte er ua. die Klägerin von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei. Sie wurde ab dem 1. November 2017 nicht mehr vergütet.
29
Die Fluggesellschaft easyJet meldete am 7. November 2017 einen Zusammenschluss nach Art. 4 der Fusionskontroll-VO an. Dies bezog sich auf Vermögenswerte einschließlich Slots, welche die Schuldnerin am Flughafen Berlin-Tegel genutzt hatte.
30
Nachdem am 30. Oktober 2017 bereits mit dem für das Bodenpersonal gebildeten Gesamtbetriebsrat bezogen auf die Stationen Berlin, Düsseldorf und München ein Interessenausgleich abgeschlossen worden war, erfolgte am 17. November 2017 ein solcher Abschluss auch für das Cockpitpersonal mit der PV Cockpit. Dieser Interessenausgleich, in welchem die Schuldnerin als „Air Berlin LV KG“ bezeichnet wird, lautet auszugsweise wie folgt:
„A. Ausgangslage
…
Im Ergebnis, so erklärt es der Arbeitgeber, habe sich kein Investor gefunden, der bereit sei, das Unternehmen im ganzen oder in wesentlichen Teilen fortzuführen. Vielmehr haben zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Interessenausgleichs Unternehmen der Deutschen Lufthansa Group (Deutsche Lufthansa AG/Eurowings GmbH/ÖLH Österreichische Luftverkehrs Holding GmbH/Lufthansa Commercial Holding GmbH) Start- und Landerechte, Beteiligungen an den der Air Berlin Gruppe zugehörigen Gesellschaften (Luftfahrtgesellschaft Walter mbH und NIKI Luftfahrt GmbH) erworben sowie Luftfahrzeuge übernommen, die bisher aufgrund entsprechender Leasingverträge im Besitz der Air Berlin LV KG waren. Zum anderen hat mit der easyJet Airline Company Limited ein weiteres Unternehmen Start- und Landerechte der Air Berlin LV KG sowie Luftfahrzeuge übernommen, die bisher aufgrund entsprechender Leasingverträge im Besitz der Air Berlin LV KG waren.
Die Air Berlin LV KG wird die Leasingverträge für Luftfahrzeuge in ihrem Besitz nach der Insolvenzeröffnung fristgerecht kündigen bzw. die Vertragsverhältnisse beenden, soweit die Luftfahrzeuge nicht für den weiteren Einsatz im ‚wet lease‘ benötigt werden. Insoweit werden die Leasingverhältnisse bis spätestens 31.01.2018 beendet.
… Seit Ablauf des 27.10.2017 ist der operative Flugverkehr im Namen und auf Rechnung der Air Berlin LV KG eingestellt worden; für einen Zeitraum bis maximal 31. Januar 2018 werden voraussichtlich auf zunächst 13, ab Dezember 2017 neun im Besitz der Air Berlin LV KG verbleibenden Luftfahrzeugen lediglich Flüge und Dienstleistungen im Rahmen des sog. ‚Wet Lease‘ für die Eurowings GmbH von den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart aus erbracht. Ein eigenwirtschaftlicher Flugverkehr erfolgt nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 01.11.2017 nicht mehr.
…
C. Betriebsänderung
I. [Stilllegung des Geschäftsbetriebs]
Die wirtschaftliche Betätigung der AIR BERLIN LV KG soll unverzüglich, spätestens zum 31.01.2018 aufgegeben werden. Im Zuge dessen wird Air Berlin LV KG die bestehenden Geschäftsbeziehungen beenden, die bestehenden Dauerschuldverhältnisse, hier insbesondere die Leasingverträge über die Flugzeuge, beenden und zur Vermeidung weiterer Verluste und einer insolvenzrechtlich unzulässigen Schmälerung der Masse keinen Flugbetrieb mehr aufrecht erhalten. Die werbende Geschäftstätigkeit wird ebenfalls vollständig aufgegeben.
Der reguläre Flugbetrieb auf eigene Rechnung und im eigenen Namen der Air Berlin LV KG ist bereits seit dem 28.10.2017 eingestellt. Ein Verkauf von Flugtickets erfolgt nicht mehr.
Im Rahmen des Phase-Out ab dem 28.10.2017 werden noch ausschließlich diejenigen Flugleistungen erbracht, die der Überführung bzw. Rückgabe der Flugzeuge oder dem Aufrechterhalten des ‚Wet Lease‘ sowie dem Erhalt der erforderlichen Lizenzen und Start- und Landeerlaubnisse (‚Slots‘) dienen. Mit Beendigung der von diesem Interessenausgleich umfassten und betroffenen Arbeitsverhältnisse wird keinerlei wirtschaftliche Betätigung, kein Flugbetrieb in eigenem oder auf fremden Namen und keine Betriebstätigkeit mehr stattfinden. Das Phase-Out soll bis spätestens 31.01.2018 beendet sein. Ab diesem Zeitpunkt erfolgt auch keine Durchführung von Flugleistungen mehr im Rahmen des Wet Lease und das Luftverkehrsbetreiberzeugnis (AOC) der Air Berlin LV KG wird nicht weiter genutzt.
II. [Freistellungen]
Im Rahmen des Phase-out wird der Arbeitgeber die Arbeitnehmer des Cockpitpersonals an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart zur Durchführung des Wet Lease insgesamt auch über den 28.10.2017 bis zum 31.01.2018 weiterbeschäftigen. Cockpitmitarbeiter anderer Stationen werden wegen der Einstellung des Flugbetriebs im Übrigen und weil ihr Proceeding an die weiterhin beflogenen Stationen auf Kosten der Air Berlin LV KG erfolgen würde und damit eine Masseschmälerung zur Folge hätte, mit Inkrafttreten dieses Interessenausgleichs unverzüglich unwiderruflich freigestellt.
…
III. [Betriebsbedingte Kündigungen]
Air Berlin LV KG wird allen Arbeitnehmern des Cockpitpersonals unter Beachtung der jeweils maßgeblichen individuellen Kündigungsfrist unverzüglich eine betriebsbedingte Kündigung unter Einhaltung der individuell maßgeblichen Kündigungsfrist, begrenzt auf die Maximalfrist von 3 Monaten zum Monatsende gemäß § 113 S. 2 InsO, soweit gesetzlich zulässig, aussprechen. …
IV. [Sozialauswahl]
Aufgrund der Kündigung aller Arbeitnehmer entfällt das Erfordernis, unter den betroffenen Arbeitnehmern eine Sozialauswahl in Bezug auf den Ausspruch der Kündigungen durchzuführen.“
31
Mit Schreiben vom 28. November 2017 kündigte die Schuldnerin mit Zustimmung des Beklagten zu 1. die Arbeitsverhältnisse des Cockpitpersonals zum 28. Februar 2018, soweit die Kündigung nicht einer behördlichen Zustimmung bedurfte. Auch die Arbeitsverhältnisse des nicht in die Transfergesellschaft gewechselten Bodenpersonals wurden gekündigt.
32
Nachdem die Lufthansa-Gruppe vom Erwerb der NIKI Abstand genommen hatte, entschied die Europäische Kommission am 12. bzw. 21. Dezember 2017, keine Einwände gegen die beabsichtigten Transaktionen mit easyJet und der Lufthansa-Gruppe bezüglich der Beklagten zu 2. zu erheben.
33
Nach der Feststellung des Landesarbeitsgerichts wurde der auf sechs Jahre abgeschlossene Wet-Lease-Vertrag zwischen der Schuldnerin und der Beklagten zu 2. beendet und zwischen Eurowings als Leasingnehmerin und der Beklagten zu 2. als Leasinggeberin neu abgeschlossen. Zu einem unbekannt gebliebenen Zeitpunkt übertrug die Schuldnerin Flugzeuge des Musters Airbus A320 und Slots auf die Beklagte zu 2. Danach begann diese mit der Durchführung von Flügen im Wet Lease für Eurowings. Zum 31. Dezember 2017 stellte die Schuldnerin die Durchführung von Flügen im Wet Lease ein.
34
Hinsichtlich der beabsichtigten Kündigung des Kabinenpersonals fanden umfangreiche Verhandlungen statt. Nach Sondierungen mit der PV Kabine am 14. September 2017 unterrichtete die Schuldnerin diese mit Schreiben vom 2. Oktober 2017 über eine noch nicht beschlossene, aber mögliche Stilllegung zum 31. Januar 2018 und bat um die Aufnahme von Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan. Die PV Kabine verwies mit Schreiben vom 9. Oktober 2017 auf eine Regelung im TV Pakt, wonach zunächst eine tarifliche Einigung zu treffen sei. Das Schreiben enthielt außerdem einen umfangreichen Fragenkatalog. Mit E-Mail vom 10. Oktober 2017 übermittelte die Schuldnerin der PV Kabine ihre Antworten sowie Entwürfe für einen Interessenausgleich, einen Sozialplan sowie eine Betriebsvereinbarung zur Errichtung einer Transfergesellschaft. Am 11. Oktober 2017 fand eine Videokonferenz der Schuldnerin mit Vertretern der PV Kabine statt. Die PV Kabine übermittelte der Schuldnerin mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 einen weiteren Fragenkatalog. Hierauf antwortete die Schuldnerin mit Schreiben vom 13. Oktober 2017.
35
Nach Erörterungen im Wirtschaftsausschuss in Anwesenheit von drei Vertretern der PV Kabine folgte weitere Korrespondenz. Mit E-Mail vom 7. November 2017 bat die PV Kabine um die Vorlage weiterer Unterlagen und schlug Termine für die weiteren Interessenausgleichsverhandlungen vor. Mit E-Mail vom 13. November 2017 bot die Schuldnerin der PV Kabine die Einsicht in Unterlagen und Dokumente im Datenraum an. Diese erfolgte am 21. November 2017. Ob damit der PV Kabine sämtliche relevanten Informationen zur Verfügung gestellt wurden, ist streitig geblieben. Mangels Fortsetzung der Verhandlungen erklärten die Schuldnerin sowie der Beklagte zu 1. mit Schreiben vom 30. November 2017 gegenüber der PV Kabine die Verhandlungen über einen Interessenausgleich für gescheitert. Sie müssten deshalb die Einigungsstelle anrufen. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wies mit Beschluss vom 8. Dezember 2017 – 6 TaBVGa 1484/17 – das Begehren der PV Kabine zurück, weitere Informationen von der Schuldnerin zu erlangen. Einen Antrag der Schuldnerin nach § 122 Abs. 1 InsO wies das Arbeitsgericht Berlin mit Beschluss vom 21. Dezember 2017 – 41 BV 13752/17 – mit der Begründung zurück, dass insbesondere wegen der Kündigung der Arbeitsverhältnisse der Piloten eine Betriebsänderung bereits begonnen habe. Die letztlich einvernehmlich eingesetzte Einigungsstelle erklärte sich durch Spruch vom 10. Januar 2018 für unzuständig, weil nach den Vorgaben des TV Pakt über Interessenausgleich und Sozialplan auf tariflicher Ebene zu verhandeln sei.
36
Mit Formular und Begleitschreiben vom 12. Januar 2018 erstattete die Schuldnerin bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord eine Massenentlassungsanzeige bezüglich des Kabinenpersonals. Das Begleitschreiben nimmt Bezug auf die am 30. Oktober 2017 und 24. November 2017 gestellten Massenentlassungsanzeigen für das Boden- bzw. Cockpitpersonal und erläutert den Grund für die Entlassung des Kabinenpersonals und den Verlauf der Verhandlungen bezüglich eines Interessenausgleichs. Das Kabinenpersonal umfasse in der Regel 3.126 Mitarbeiter. Es sei die Kündigung des gesamten Kabinenpersonals beabsichtigt, allerdings unterlägen davon 455 Beschäftigte einem gesetzlichen Sonderkündigungsschutz. Es müssten insoweit erst die behördlichen Verfahren durchgeführt werden. Die Personalleitung für das Kabinenpersonal erfolge in sämtlichen Angelegenheiten von Berlin aus. Dort habe auch die auf tariflicher Grundlage gebildete PV Kabine ihren Sitz. Das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG sei mit dem beigefügten Schreiben an die PV Kabine vom 12. Oktober 2017 eingeleitet worden. Die Personalvertretung habe auch die Personalliste erhalten. Der Ablauf der Beratungen mit der PV Kabine wurde wie folgt dargestellt:
„Die Betriebsparteien haben ausführlich die Gründe für die vorzunehmenden Entlassungen, die Zahl und Berufsgruppen der zu kündigenden und der insgesamt beschäftigten Mitarbeiter, die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer und die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien erörtert, beraten und insbesondere überlegt, welche Möglichkeiten zur Vermeidung eines Arbeitsplatzverlustes bestehen.“
37
Das Formular „Entlassungsanzeige gemäß § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG)“ der Bundesagentur für Arbeit (Stand 06/2017) verlangt die Angabe des Betriebs, auf den sich die Anzeige bezieht. Als Erläuterung wird angeführt, dass „Betrieb“ iSd. Anzeigeverfahrens „die organisatorische Einheit innerhalb des Unternehmens sei, der die zu entlassenden Arbeitnehmer angehören, z.B. eine Filiale oder Zweigstelle“. Die Schuldnerin hat in dem hierfür vorgesehenen Formularfeld angegeben, die Anzeige beziehe sich auf den „Hauptsitz der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“. Eine Angabe bezüglich der dort in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer/innen erfolgte nicht in dem vorgesehenen Feld. Gleiches gilt für den geplanten Zeitraum der Entlassungen. Allerdings erfolgte eine handschriftliche Eintragung „durch Frau S“. Demnach sollen die Entlassungen ab dem 12. Januar 2018 stattfinden. Dies sei „ergänzend … bei persönlicher Übergabe in der AA BN am 12. Januar 2018 11.25 Uhr“ mitgeteilt worden. Hinsichtlich der in der Regel Beschäftigten wird maschinenschriftlich auf eine „extra Anlage“ verwiesen. In den Anlagen wird unter „Angaben zu Entlassungen Kabine“ die Zahl von insgesamt 3.126 Beschäftigten, welche der Berufsgruppe 51422 angehören, genannt. Diese sollen sämtlich entlassen werden. Die Anlage 3.31 schlüsselt die Angaben „nach Base“, dh. nach Flughafenstationen, auf. Zudem wurde eine anonymisierte Personalliste eingereicht, welche Geschlecht und Wohnort angibt.
38
Die Agentur für Arbeit Berlin Nord bestätigte mit Schreiben vom 12. Januar 2018 den vollständigen Eingang der Anzeige an diesem Tag.
39
Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 17. Januar 2018 wurde die Eigenverwaltung aufgehoben und der Beklagte zu 1. zum Insolvenzverwalter bestimmt.
40
Mit Schreiben vom 19. Januar 2018 hörte der Beklagte zu 1. die PV Kabine und die Schwerbehindertenvertretung Bord zur beabsichtigten betriebsbedingten Kündigung sämtlicher in einer Anlage 2 benannten Beschäftigten des Kabinenpersonals an. Mit Schreiben vom 26. Januar 2018 widersprach die PV Kabine den beabsichtigten Kündigungen.
41
Mit einem der Klägerin am 29. Januar 2018 zugegangenen Schreiben vom 27. Januar 2018 kündigte der Beklagte zu 1. das Arbeitsverhältnis zum 30. April 2018.
42
Die für die Aufrechterhaltung des Flugbetriebs der Schuldnerin erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen erloschen mit Ablauf des 31. Januar 2018.
43
Am 30. April 2019 zeigte der Beklagte zu 1. eine erneute Masseunzulänglichkeit an.
44
Mit ihrer fristgerecht erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Kündigung vom 27. Januar 2018 gewandt. Sie sei unwirksam.
45
Eine Betriebsstilllegung sei weder beabsichtigt gewesen noch vollzogen worden. Es habe vielmehr ein Betriebs(teil)übergang auf Unternehmen der Lufthansa-Gruppe bzw. auf easyJet stattgefunden. Bezogen auf die Beklagte zu 2. folge dies aus der Fortführung des Wet Lease für Eurowings. Spätestens dadurch, dass ab dem 28. Oktober 2017 nur noch im Wet Lease geflogen worden sei, habe sich insoweit ein eigenständiger Betriebsteil gegründet. Es sei daher eine Sozialauswahl zur Bestimmung der Beschäftigten des fliegenden Personals, deren Arbeitsverhältnisse auf die Betriebserwerberin übergegangen seien, erforderlich gewesen. Sie selbst hätte im Rahmen einer betriebsweiten Sozialauswahl der wirtschaftlichen Einheit Wet Lease zugeordnet werden müssen. Folglich sei ihr Arbeitsverhältnis auf die Beklagte zu 2. übergegangen. Seit dem 11. Dezember 2017, dem Tag des ersten Flugs der Beklagten zu 2. im Rahmen des Wet Lease für Eurowings, bestehe das Arbeitsverhältnis daher mit der Beklagten zu 2.
46
Hätte kein Betriebs(teil)übergang stattgefunden, wäre die Kündigung dennoch unwirksam. Sie verstoße gegen § 2 Abs. 2 TV Pakt, da ihrer Erklärung kein Abschluss eines Sozialtarifvertrags vorausgegangen sei. Zudem sei die PV Kabine nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Dies gelte sowohl bezüglich des nach § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführenden Konsultationsverfahrens als auch bezüglich der erforderlichen Anhörung vor Erklärung der Kündigung. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft.
47
Die Klägerin hat nach teilweiser Klage- bzw. Revisionsrücknahme und teilweiser rechtskräftiger Klageabweisung zuletzt beantragt
1.
festzustellen, dass das zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 1. bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die ordentliche Kündigung vom 27. Januar 2018 zum 30. April 2018 aufgelöst worden ist;
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis ab dem 11. Dezember 2017 mit der Beklagten zu 2. fortbesteht.
48
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Die Kündigung sei wegen der beabsichtigten und tatsächlich erfolgten Stilllegung des Flugbetriebs sozial gerechtfertigt. Ein Betriebs(teil)übergang sei nicht geplant gewesen und habe auch nicht stattgefunden. Die Rechte der PV Kabine seien gewahrt. Die Massenentlassung sei ordnungsgemäß gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit angezeigt worden.
49
Im erstinstanzlichen Verfahren war die Klage mit weiteren Streitgegenständen allein gegen den nunmehrigen Beklagten zu 1. gerichtet. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihre Klage mit dem angeführten Feststellungsantrag auf die Beklagte zu 2. erweitert. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin, beschränkt auf die wiedergegebenen Anträge, ihre Klageziele weiter. Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung mit den Parteien erörtert, ob der Stand der Beratungen im Konsultationsverfahren gegenüber der Agentur für Arbeit ausreichend dargestellt worden ist.
50
Am 21. April 2020 ist bezüglich des Vermögens der Beklagten zu 2. im insolvenzrechtlichen Eröffnungsverfahren die vorläufige Eigenverwaltung angeordnet und ein vorläufiger Sachwalter bestellt worden.
Entscheidungsgründe
51
Die Revision ist teilweise begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass kein Betriebs(teil)übergang erfolgt ist (Rn. 57 ff.) und insbesondere das bis zum 31. Dezember 2017 praktizierte „Wet-lease für Eurowings“ nicht zu einem Betriebsübergang auf die Beklagte zu 2. geführt hat (Rn. 75 ff.). Auch ist es zu Recht davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Kündigung wegen der Stilllegung des Flugbetriebs sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist (Rn. 89 ff.). Der Beklagte zu 1. konnte sich die bereits von der Schuldnerin wirksam getroffene Stilllegungsentscheidung zu eigen machen, ohne selbst einen derartigen Beschluss fassen zu müssen (Rn. 94 ff.).
52
Die Kündigung ist jedoch nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß iSd. § 17 Abs. 3 KSchG erfolgt. Die Schuldnerin hat den Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts verkannt (Rn. 114 ff.). Deswegen hat sie eine inhaltlich nicht ordnungsgemäße Anzeige bei der unzuständigen Behörde erstattet (Rn. 121 ff.). Zudem hat die Schuldnerin den Stand der Beratungen mit der PV Kabine gegenüber der Agentur für Arbeit nicht ausreichend dargelegt und dadurch gegen § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG verstoßen (Rn. 135 ff.). Diese Fehler wurden nicht geheilt (Rn. 146). Auch steht dem Beklagten zu 1. kein Vertrauensschutz zur Seite (Rn. 147 ff.). Eine Vorlage nach Art. 267 AEUV war nicht erforderlich (Rn. 151 f.).
53
I. Durch die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung nach § 270a Abs. 1 InsO ist das Revisionsverfahren gegen die Beklagte zu 2. vor Verkündung der Entscheidung des Senats nicht gemäß § 240 ZPO unterbrochen worden.
54
1. Nach § 240 Satz 1 ZPO wird im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei das Verfahren, wenn es die Insolvenzmasse betrifft, unterbrochen, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird. Eine Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt hier nicht vor. Die vorläufige Eigenverwaltung nach § 270a Abs. 1 InsO ist Teil des Eröffnungsverfahrens. Erst die Eigenverwaltung im eröffneten Insolvenzverfahren bewirkt die Unterbrechung nach § 240 Satz 1 ZPO (vgl. BAG 22. August 2017 – 1 AZR 546/15 (A) – Rn. 12; 5. Mai 2015 – 1 AZR 763/13 – Rn. 16, BAGE 151, 302; BGH 7. Dezember 2006 – V ZB 93/06 – Rn. 6).
55
2. Eine Unterbrechung ist auch nicht nach § 240 Satz 2 ZPO erfolgt. Demnach wird das Verfahren unterbrochen, wenn die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf einen vorläufigen Insolvenzverwalter übergeht. Dies betrifft abgesehen von Fällen einer gesonderten gerichtlichen Ermächtigung nur den sog. „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 22 Abs. 1 InsO, denn der zivilprozessuale Normzweck des § 240 ZPO knüpft an die Prozessführungsbefugnis an (vgl. BGH 16. Mai 2013 – IX ZR 332/12 – Rn. 16; Musielak/Voit/Stadler ZPO 17. Aufl. § 240 Rn. 3; MüKoZPO/Stackmann 5. Aufl. § 240 Rn. 13). Bei Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung wird nach § 270a Abs. 1 InsO aber gerade kein allgemeines Verfügungsverbot und kein Zustimmungsvorbehalt angeordnet. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis und damit auch die Prozessführungsbefugnis verbleibt beim Schuldner. § 240 Satz 2 ZPO findet damit keine Anwendung (LG Freiburg (Breisgau) 9. Mai 2014 – 12 O 62/13 – zu 1 b und c der Gründe; HK-InsO/Brünkmans 9. Aufl. § 270a Rn. 23; Uhlenbruck/Zipperer 15. Aufl. § 270a InsO Rn. 24).
56
3. Allerdings ist zu beachten, dass sich die Sachlage auch für den eigenverwaltenden Schuldner durch den Insolvenzantrag und das Eröffnungsverfahren geändert hat. Er hat nunmehr insolvenzspezifische Verpflichtungen im Rahmen der vorläufigen Eigenverwaltung zu erfüllen (vgl. hierzu BGH 21. Juli 2016 – IX ZB 70/14 – Rn. 70 ff., BGHZ 211, 225; Nerlich/Römermann/Riggert InsO Stand April 2018 § 270a Rn. 15a) und muss sich gegebenenfalls diesbezüglich mit dem vorläufigen Sachwalter abstimmen. Dies kann sich auf die weitere Prozessführung auswirken. Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens kann es daher geboten sein, nach § 224 Abs. 2 ZPO Fristverlängerungen zu gewähren oder nach § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO Termine zu verlegen (vgl. BGH 20. Dezember 2011 – VI ZR 14/11 – Rn. 46). Dies war hier nicht veranlasst und wurde von der Beklagten zu 2. auch nicht beantragt.
57
II. Die Klage ist unbegründet, soweit die Klägerin die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis bereits seit dem 11. Dezember 2017 mit der Beklagten zu 2. fortbesteht. Die Klägerin beruft sich diesbezüglich auf einen Betriebs(teil)übergang iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Es ist jedoch weder zu einem Betriebs(teil)übergang auf die Beklagte zu 2. noch auf einen anderen Erwerber gekommen. Damit steht zugleich fest, dass die Kündigung nicht nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB unwirksam ist.
58
1. Ein Betriebs(teil)übergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG (sog. Betriebsübergangsrichtlinie) sowie iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB setzt voraus, dass der Übergang eine auf Dauer angelegte, ihre Identität bewahrende wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit betrifft (vgl. etwa BAG 28. Februar 2019 – 8 AZR 201/18 – Rn. 26, BAGE 166, 54). Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/23/EG und damit der des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) nur eröffnet, wenn sich die wirtschaftliche Einheit als hinreichend strukturierte und selbstständig organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck einordnen lässt (EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 60 mwN).
59
a) Die Identität einer wirtschaftlichen Einheit ergibt sich aus mehreren untrennbar zusammenhängenden Merkmalen wie dem Personal der Einheit, ihren Führungskräften, ihrer Arbeitsorganisation, ihren Betriebsmethoden und gegebenenfalls den ihr zur Verfügung stehenden Betriebsmitteln (ua. EuGH 20. Juli 2017 – C-416/16 – [Piscarreta Ricardo] Rn. 43 mwN). Erforderlich ist zwangsläufig eine ausreichende funktionelle Autonomie, wobei sich der Begriff Autonomie auf die Befugnisse bezieht, die der Leitung der zur Einheit gehörenden Gruppe von Arbeitnehmern eingeräumt sind, um die Arbeit dieser Gruppe relativ frei und unabhängig zu organisieren und insbesondere Weisungen zu erteilen und Aufgaben auf die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer zu verteilen, ohne dass andere Organisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei dazwischengeschaltet sind (EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 32 mwN; vgl. auch EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 62 f.; BAG 25. Februar 2020 – 1 ABR 39/18 – Rn. 37; 13. August 2019 – 8 AZN 171/19 – Rn. 10). Darauf, ob es sich dabei um ein „Unternehmen“, einen „Betrieb“ oder einen „Unternehmens-“ oder „Betriebsteil“ – auch iSd. jeweiligen nationalen Rechts – handelt, kommt es nicht an (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25; 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 30). Entscheidend ist nur, dass es sich um eine wirtschaftliche Einheit handelt (BAG 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 30).
60
b) Entscheidend für einen Betriebs(teil)übergang ist, dass die so verstandene wirtschaftliche Einheit ihre schon vor der Übernahme bestandene Identität „bewahrt“. Nur wenn eine wirtschaftliche Einheit bereits vor dem Übergang vorhanden ist, kann sich die Frage der Wahrung ihrer Identität und damit die Frage eines Betriebs(teil)übergangs überhaupt stellen (vgl. EuArbRK/Winter 3. Aufl. RL 2001/23/EG Art. 1 Rn. 53). Aus der Verwendung des Wortes „behält“ in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und Unterabs. 4 der Richtlinie 2001/23/EG folgt, dass die Autonomie der übertragenen Einheit „in jedem Fall“ vor dem Übergang bestanden haben muss (EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 34). Ein Betriebsteil muss daher schon beim früheren Betriebsinhaber über die erforderliche Autonomie verfügt, dh. die Qualität eines Betriebsteils im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit gehabt haben (vgl. Schaub ArbR-HdB/Ahrendt 18. Aufl. § 117 Rn. 10; KR/Treber 12. Aufl. § 613a BGB Rn. 15, 17; HWK/Willemsen 8. Aufl. § 613a BGB Rn. 31). Ob das der Fall war, hat allein das nationale Gericht zu prüfen (EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 35).
61
c) Bei der Prüfung, ob eine wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich die Art des Unternehmens oder Betriebs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten, denen je nach der Art des betroffenen Unternehmens oder Betriebs, je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden unterschiedliches Gewicht zukommt (vgl. BAG 28. Februar 2019 – 8 AZR 201/18 – Rn. 26 f., BAGE 166, 54). Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden (EuGH 11. Juli 2018 – C-60/17 – [Somoza Hermo und Ilunión Seguridad] Rn. 30; BAG 25. August 2016 – 8 AZR 53/15 – Rn. 27 mwN; vgl. auch AR/Bayreuther 9. Aufl. § 613a BGB Rn. 5).
62
d) Im Luftverkehrssektor ist der Übergang von Material als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens eines Betriebsübergangs iSv. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG anzusehen. Für einen Betriebsübergang spricht auch der Eintritt in bestehende Charterflugverträge mit Reiseveranstaltern, der zum Ausdruck bringt, dass die Kundschaft übernommen wurde, sowie die ununterbrochene Fortsetzung des Flugbetriebs auf den bisherigen Routen mit zumindest einem Teil des Personals (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 29 ff.). Im Falle der vollständigen Übernahme eines Flugbetriebs durch die frühere Muttergesellschaft hat es der Gerichtshof in Fortführung seiner Rechtsprechung als nicht relevant angesehen, dass die Einheit, von der Material und ein Teil des Personals übernommen wurden, ohne Beibehaltung ihrer eigenständigen Organisationsstruktur in die Struktur der früheren Muttergesellschaft eingegliedert wurde, da eine Verbindung zwischen dem übergegangenen Material und Personal einerseits und der Fortführung der zuvor von der aufgelösten Gesellschaft ausgeübten Tätigkeiten andererseits bestehe. Nicht die Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren stelle das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität der übertragenen Einheit dar. So erlaube es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen (EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 32 ff.; grundlegend EuGH 12. Februar 2009 – C-466/07 – [Klarenberg] Rn. 43 ff.).
63
e) Der Betriebsbegriff des § 24 Abs. 2 KSchG ist bei der Beurteilung, ob ein Betriebs(teil)übergang iSv. § 613a Abs. 1 BGB vorliegt, unbeachtlich. Nach dieser Norm des Kündigungsschutzgesetzes gilt als Betrieb „im Sinne dieses Gesetzes“ jeweils die Gesamtheit der Seeschiffe oder der Binnenschiffe eines Schifffahrtsbetriebs oder der Luftfahrzeuge eines Luftverkehrsbetriebs. Damit enthält § 24 Abs. 2 KSchG zwar in Abgrenzung von den Land- und Bodenbetrieben einen eigenständigen Betriebsbegriff (vgl. BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 57 ff.). Bei der Frage, ob ein Betriebs(teil)übergang vorliegt, kommt es aber, wie ausgeführt (Rn. 59), nur darauf an, ob der Übergang eine wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG betrifft. Das nationale Betriebsverständnis ist ohne Belang. Der deutsche Gesetzgeber wollte mit § 24 Abs. 2 KSchG auch nicht zugunsten der Arbeitnehmer über den Schutz der Richtlinie 2001/23/EG hinausgehen, was zulässig wäre (EuGH 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 35 ff.). Der in dieser Norm geregelte eigenständige Betriebsbegriff bezieht sich ausweislich § 24 Abs. 1 KSchG nur auf die Vorschriften des Ersten und Zweiten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes und somit nicht auf den unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriff des § 613a Abs. 1 BGB.
64
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Arbeitsverhältnis der Klägerin zu keinem Zeitpunkt gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf die Beklagte zu 2. oder einen anderen Erwerber übergegangen.
65
a) Ein Übergang des gesamten Betriebs der Schuldnerin auf einen Investor als Betriebsübernehmer hat nicht stattgefunden. Der Betrieb wurde entsprechend der Entscheidung vom 12. Oktober 2017 zerschlagen. Dementsprechend wurden Verträge mit dem Lufthansa-Konzern und easyJet geschlossen, welche sich jeweils auf Teile des ursprünglichen Flugbetriebs der Schuldnerin bezogen. Ein Fortbestand des Betriebs der Schuldnerin im Ganzen war damit ausgeschlossen.
66
b) Betriebsteilübergänge iSd. § 613a Abs. 1 BGB waren nicht geplant und sind auch nicht erfolgt. Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte zu 1. im Insolvenzgutachten vom 27. Oktober 2017 vom „Verkauf der Betriebsteile“ spricht. Maßgeblich ist die objektive Rechtslage.
67
aa) Die Abgabe einzelner Flugzeuge an andere Luftverkehrsunternehmen als neue Leasingnehmer stellte keinen Betriebsteilübergang dar. Die im Linienverkehr eingesetzten Flugzeuge waren kein Betriebsteil, sondern Betriebsmittel (Göpfert/Seier ZIP 2019, 254). Der Eigenschaft als Betriebsteil steht das Fehlen einer auf Dauer angelegten, eigenständigen Arbeitsorganisation entgegen. Dies gilt unabhängig davon, ob das Flugzeug im eigenen Namen oder im Rahmen des Wet Lease eingesetzt wurde. Die Verkehrsflugzeuge der Schuldnerin wurden auf verschiedenen Strecken von ständig wechselnden Besatzungen geflogen. Sie waren eingebunden in die zentrale Umlaufplanung. Die Flugzeuge waren dabei genauso kurzfristig austauschbar wie die Besatzung. Eine auf ein bestimmtes Flugzeug bezogene Organisation gab es – abgesehen von dessen Zuordnung zu einer „Heimatstation“ – nicht. Die regelmäßig nur kurzzeitige Zusammenarbeit der jeweiligen Besatzung als Gruppe in den Flugzeugen bei ständigem Wechsel der Zusammensetzung der Gruppe auf unterschiedlichen Strecken führte nicht zu dem erforderlichen funktionalen, auf Dauer angelegten Zusammenhang. Es bestand insoweit keine einem (Forschungs-)Schiff mit fest zugeordneter Besatzung und langfristigen Einsätzen vergleichbare organisatorische Abgrenzbarkeit (vgl. hierzu BAG 2. März 2006 – 8 AZR 147/05 – Rn. 17; 18. März 1997 – 3 AZR 729/95 – zu I 1 der Gründe, BAGE 85, 291). Deshalb wäre auch nicht erkennbar, welche der wechselnden Besatzungen bei Annahme eines „Betriebsteils Flugzeug“ von einem Übergang der Arbeitsverhältnisse nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB betroffen wäre.
68
bb) Die einzelnen Strecken, sei es Kurz-, Mittel- oder Langstrecke, waren aus denselben Gründen wie die einzelnen Flugzeuge keine Betriebsteile. Die Flugstrecken wiesen keine abgrenzbare Organisation auf, sie bündelten keine Ressourcen mit eigenem Personal unter eigener Leitung. Die Strecken wurden vielmehr von wechselnden Flugzeugen mit wechselnden Besatzungen bedient und von wechselnden Kunden in Anspruch genommen.
69
cc) Die für die Durchführung des Linienflugverkehrs erforderlichen Start- und Landerechte der Schuldnerin an bestimmten Start- und Zielflughäfen in bestimmten Zeitnischen („Slots“) waren für sich genommen mangels eigener Organisation keine Betriebsteile. Es handelte sich dabei lediglich um eine Erlaubnis, die den Flugbetrieb an reglementierten Flughäfen unter Berücksichtigung von deren Kapazitäten ermöglicht und damit um ein subjektiv-öffentliches Recht auf Inanspruchnahme begrenzter Ressourcen (vgl. Verordnung (EWG) Nr. 95/93 – sog. Slotverordnung, zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 545/2009; für § 27a LVG Baumann in Grabherr/Reidt/Wysk Luftverkehrsgesetz Stand August 2010 § 27a Rn. 25, 27).
70
Entgegen der Ansicht der Revision ist auch der Umstand, dass andere Luftfahrtunternehmen Slots an bestimmten Flughäfen, insbesondere am Flughafen Berlin-Tegel, von der Schuldnerin übernommen haben, und dies vom Flughafenkoordinator gemäß Art. 8a Abs. 2 der Slotverordnung bestätigt und damit wirksam geworden ist (zur Rechtsstellung des Koordinators vgl. EuGH 2. Juni 2016 – C-205/14 – [Kommission/Portugal] Rn. 31 ff.), kein Indiz für einen Betriebs(teil)übergang. Art. 8a Abs. 1 Buchst. b Unterabs. iii der Slotverordnung sieht zwar neben hier nicht in Betracht kommenden Fallkonstellationen vor, dass Slots bei vollständigen oder teilweisen Übernahmen übertragen werden können, wenn die Slots direkt mit dem übernommenen Luftfahrtunternehmen verbunden sind. Aus einer solchen Übertragung von Slots ergibt sich aber kein Indiz für einen Betriebs(teil)übergang iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Koordinator lehnt die Bestätigung von Übertragungen nur ab, falls diese „den Anforderungen dieser Verordnung nicht genügen“ und die weiteren, in Art. 8a Abs. 2 Satz 2 Buchst. a bis Buchst. c sowie Abs. 3 der Slotverordnung aufgeführten Kriterien nicht sichergestellt sind. Nach diesem Prüfkatalog werden technische, betriebliche, Umweltschutz- und gemeinwirtschaftliche sowie Wettbewerbsgesichtspunkte berücksichtigt. Ob ein Betrieb(steil) iSd. Richtlinie 2001/23/EG vorliegt und übernommen wird, ist dagegen nicht Bestandteil der Prüfung. Aus der Bestätigung durch den Koordinator kann daher offenkundig nicht einmal ein Indiz für das Vorliegen eines Betriebs(teil)übergangs iSd. Richtlinie 2001/23/EG abgeleitet werden.
71
dd) Die Stationen an den einzelnen Flughäfen stellten nach dem für das Betriebsübergangsrecht maßgeblichen Betriebsbegriff ebenfalls keine Betriebsteile dar (BAG 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – Pressemitteilung Nr. 11/20). Es fehlte jedenfalls bezüglich des fliegenden Personals an einer hinreichend eigenständigen, auf die Station bezogene Leitung.
72
(1) Die sog. Area Manager Cockpit hatten schon keine für die „Leitung der betreffenden Gruppe von Arbeitnehmern“ erforderlichen, von der zentralen Leitung in Berlin unabhängigen Kompetenzen. Eine eigene Organisation des Personaleinsatzes oder gar des Flugbetriebs stand den Area Managern nicht zu. Dies entspricht dem Organigramm des OM/A, das dem Senat in beglaubigter Übersetzung ua. aus dem Verfahren – 6 AZR 270/19 – und damit aus amtlicher Befassung bekannt und gerichtskundig (§ 291 ZPO) ist (BGH 2. April 1998 – I ZR 1/96 – zu II 3 b der Gründe; 10. Dezember 1986 – I ZR 136/84 – zu II 3 b aa der Gründe). Das OM/A sieht eine Unterstellung unter das Flottenmanagement vor und ordnet dementsprechend die eigenen Kompetenzen in bedeutenden Personalangelegenheiten („Interviews/Aufsicht/Verwarnungen“, „Personalgespräche“) denen des Flottenmanagements unter („wie vom Flottenmanagement angewiesen“, „gemäß Anweisung durch das Flottenmanagement“). Hinsichtlich der Beurteilung des Flugpersonals ist nur die Erstellung eines „Beitrags“ vorgesehen. Aus der Aufgabenbeschreibung „Leitung des Flugpersonals an der Station“ kann daher keine umfassende Personalkompetenz abgeleitet werden. Wegen der Maßgeblichkeit des OM/A ist ohne Belang, ob einzelne Area Manager in der Praxis weitere Aufgaben wahrgenommen hatten.
73
(2) Auch die für das Kabinenpersonal zuständigen Regional und Area Manager waren der zentralen Umlauf- und Dienstplanung unterworfen. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die Regional Manager keine eigenen Entscheidungskompetenzen hatten. Dies gilt folglich erst recht für die den Regional Managern unterstellten Area Manager Kabine. Letztlich waren beide in eine hierarchische Führungsstruktur eingebunden, in welcher sie als Kommunikations-, Koordinierungs- und Organisationsebene iSv. Bindegliedern zur Leitung in Berlin fungierten. Wie bei den Area Managern Cockpit lässt sich dies auch dem OM/A entnehmen. Dort werden in erster Linie Überwachungs- und Organisationsaufgaben genannt. Soweit bezüglich des Regional Managers die Aufgaben „Personalbeschaffung“ und „Verhandlung mit Gewerkschaften und Betriebsräten“ angeführt werden, werden keine Entscheidungskompetenzen zugebilligt.
74
(3) Die für den Bodenbetrieb zuständigen Mitarbeiter hatten lediglich auf den jeweiligen Flughafen bezogene Aufgaben und unterstanden einer diesbezüglichen Leitung, welche auch Ansprechpartner für den für die Station zuständigen Betriebsrat war. Diese auf den Bodenbetrieb bezogene Leitung kann jedoch nicht als Leitung der gesamten Station angesehen werden. Es fehlte der Bezug zum fliegenden Personal, welches in gesonderte Führungsstrukturen eingebunden war.
75
ee) Das bis zum 31. Dezember 2017 praktizierte Wet Lease für Eurowings stellte zu keinem Zeitpunkt einen Betrieb oder Betriebsteil iSd. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB dar (noch offengelassen von BAG 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – Pressemitteilung Nr. 11/20).
76
(1) Hinsichtlich der Zeit bis zum 27. Oktober 2017, als der Flugbetrieb von der Schuldnerin sowohl eigenwirtschaftlich als auch im Wet Lease durchgeführt wurde, konnte das Wet Lease bereits mangels eigener Leitung und Zuordnung von Personal nicht als Betriebsteil im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit angesehen werden.
77
(a) Zwar wurde das Wet Lease für feststehende Vertragspartner der Lufthansa-Gruppe im Rahmen einer auf Dauer angelegten Vertragsbeziehung unter Einsatz bestimmter, besonders lackierter Flugzeuge auf bestimmten Strecken und unter Nutzung bestimmter Stationen und technischer Mittel durchgeführt. Die Besatzung trug im Wet-Lease-Einsatz typischerweise die Uniformen des jeweiligen Unternehmens der Lufthansa-Gruppe.
78
(b) Diese bloße organisatorische Verbindung von Personal und Material reichte jedoch für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit nicht aus. Eine Gruppe von Arbeitnehmern besitzt erst dann die für die Annahme eines Betriebsteils erforderliche funktionelle Autonomie, wenn sie bei der Organisation und Durchführung ihrer Aufgaben eine gewisse Freiheit hat (EuGH 6. September 2011 – C-108/10 – [Scattolon] Rn. 51 mwN). Es fehlte an der auf die im Wet Lease beschäftigten Arbeitnehmer bezogenen, gesonderten Leitung, die für eine funktionelle Autonomie erforderlich gewesen wäre. Die Umlauf- und Dienstplanung wurde für den gesamten Flugbetrieb der Schuldnerin einschließlich des Wet Lease zentral von Berlin aus vorgenommen. Es gab damit nur einen einheitlichen Flugbetrieb. Das Wet Lease war innerhalb dieses einheitlichen, zentral gesteuerten Flugbetriebs nur ein Geschäftsmodell im Sinne einer besonderen Dienstleistung.
79
(c) Zudem fehlte es an der erforderlichen Zuordnung von fliegendem Personal zum Wet Lease.
80
(aa) Die Richtlinie 2001/23/EG soll die Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse gewährleisten (EuGH 13. Juni 2019 – C-664/17 – [Ellinika Nafpigeia] Rn. 41; 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 51; grundlegend EuGH 18. März 1986 – 24/85 – [Spijkers] Rn. 11; vgl. auch EuGH 12. Februar 2009 – C-466/07 – [Klarenberg] Rn. 51). § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB verfolgt dasselbe Ziel: Die Arbeitsverhältnisse müssen mit dem übergehenden Betrieb oder Betriebsteil, dh. mit der wirtschaftlichen Einheit, verbunden bleiben, zu der sie funktional gehören (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 3 AZR 429/18 – Rn. 70 mwN; 19. Oktober 2017 – 8 AZR 63/16 – Rn. 43, BAGE 160, 345; 23. Juli 2015 – 6 AZR 687/14 – Rn. 28). Nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB gehen mit dem Übergang einer wirtschaftlichen Einheit nur die Arbeitsverhältnisse auf den neuen Arbeitgeber über, die dem „Betrieb“ oder „Betriebsteil“, dh. der übergehenden wirtschaftlichen Einheit, zugeordnet sind (BAG 17. Oktober 2013 – 8 AZR 763/12 – Rn. 23 f.). Eine wirtschaftliche Einheit kann nicht nachträglich geschaffen werden. Eine mangelnde Zuordbarkeit von Arbeitnehmern lässt sich auch nicht durch eine betriebsbezogene Sozialauswahl substituieren. § 613a BGB ist anders als § 1 Abs. 3 KSchG kein Sozialschutz, der sicherstellen soll, dass die Kündigung gegenüber dem Arbeitnehmer erfolgt, den sie am wenigsten belastet (Schubert ZESAR 2019, 153, 157). Erst recht kann eine Zuordnung von Arbeitnehmern nicht durch eine nach dem Betriebsübergang durchzuführende „nachträgliche“ Sozialauswahl erfolgen. Ist ein Betriebsteil übergegangen, sind die diesem zugeordneten Arbeitnehmer ohne Weiteres („ipso iure“, EuGH 14. November 1996 – C-305/94 – [Rotsart de Hertaing] Rn. 18) auf den Erwerber übergegangen und damit aus dem die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG begrenzenden „Restbetrieb“ ausgeschieden.
81
(bb) Dem Wet Lease war kein fliegendes Personal zugeordnet. Es kann zwar unterstellt werden, dass ein Teil des fliegenden Personals wegen bestimmter Stationszugehörigkeiten überwiegend im Wet Lease, der sog. ACMIO-Operation, eingesetzt war. Es ist auch zutreffend, dass durch Ausübung des Direktionsrechts eine Zuordnung von Personal zu einem Betriebsteil erfolgen kann (vgl. BAG 17. Oktober 2013 – 8 AZR 763/12 – Rn. 24; 24. Januar 2013 – 8 AZR 706/11 – Rn. 62 ff.). Bezüglich des hier fraglichen Wet Lease handelte es sich aber nicht um eine verfestigte Zuordnung zu einem Betriebsteil, sondern um eine Tätigkeit im Rahmen des einheitlichen Flugbetriebs. Bezüglich des Kabinenpersonals bringt dies § 6 der Anlage 1 zum RIA-UK zum Ausdruck, wobei offenbleiben kann, inwieweit das Konzept des RIA-UK im Detail noch umgesetzt wurde. § 6 der Anlage 1 zum RIA-UK entspricht jedenfalls der im OM/A vorgesehenen Organisationsform eines einheitlichen Flugbetriebs mit zentraler Leitung, welche den Personaleinsatz sowohl des eigenwirtschaftlichen als auch des Wet-Lease-Flugbetriebs bedarfsgerecht steuerte.
82
(2) Nach Einstellung des eigenwirtschaftlichen Flugbetriebs am 27. Oktober 2017 wurde bis zum 31. Dezember 2017 nur noch im Wet Lease geflogen. Hierdurch wurde aber keine wirtschaftliche Einheit geschaffen, welche als organisierte Gesamtheit auf die Beklagte zu 2. hätte übergehen können.
83
(a) Zugunsten der Klägerin kann allerdings unterstellt werden, dass die Beklagte zu 2. durch Übertragung von Slots und Flugzeugen der Airbus-A320-Familie sowie die Erweiterung des AOC auf den Airbus A320 befähigt werden sollte, die bisher von der Schuldnerin für Eurowings erbrachten Wet-Lease-Leistungen zu erbringen. Gleiches gilt bezüglich der Übernahme von Software und Schulungsmaterial. Es kann ferner unterstellt werden, dass es sich um eine längerfristig angelegte Geschäftsbeziehung zwischen der Beklagten zu 2. und der Lufthansa-Gruppe handelte, welche ihren Ursprung in dem mit der Schuldnerin geschlossenen Übertragungsvertrag vom 13. Oktober 2017 hatte.
84
(b) Gleichwohl hat die Schuldnerin für die Durchführung des Wet Lease ab dem 28. Oktober 2017 in organisatorischer Hinsicht keine wirtschaftliche Einheit iSd. Betriebsübergangsrechts geschaffen. Die erforderliche Zuordnung von Beschäftigten ist auch insoweit nicht erfolgt. Die Schuldnerin hat lediglich im Rahmen des am 12. Oktober 2017 beschlossenen Stilllegungskonzepts die Abwicklung ihres Flugbetriebs durch eine Betriebseinschränkung fortgesetzt und sich hierfür der noch zur Verfügung stehenden zentralen Leitung bedient. Diese bestimmte, welche Beschäftigten noch zu einem Einsatz im verbleibenden Wet-Lease-Flugbetrieb an den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart herangezogen wurden. Es ließ sich damit kein Kreis von Arbeitnehmern bestimmen, deren Arbeitsverhältnisse von einem Betriebs(teil)übergang erfasst wären. Es fehlte weiterhin an einer Zuordnung von Arbeitnehmern mit organisatorischer Verfestigung. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass in erster Linie das den Stationen Hamburg, Köln und Stuttgart zugehörige Personal eingesetzt wurde. Dies war aber nicht abschließend. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass auch fliegendes Personal der Station Frankfurt am Main im Wege des proceeding verwendet wurde. Letztlich hat die zentrale Leitung unverändert je nach Bedarf die Besatzungen zusammengestellt. Die nicht benötigten Beschäftigten wurden freigestellt. Auch in der Endphase des Wet Lease blieb dieses Teil der stufenweise erfolgenden Abwicklung im Rahmen der geplanten Unternehmenszerschlagung (vgl. Schubert ZESAR 2019, 153, 157). Es gab keine übergangsfähige Einheit, deren Identität hätte gewahrt werden können.
85
(c) Träfe die Auffassung der Revision zu, durch das Fortsetzen des Wet Lease über den 27. Oktober 2017 hinaus habe sich ein „eigenständiger Betriebsteil gegründet“, würde sich in der letzten Phase einer in Etappen vollzogenen Betriebsstilllegung immer ein „Restbetrieb“ bilden, der von der Geschäftsführung noch geleitet würde und dem die noch verbliebenen Arbeitnehmer „zugeordnet“ wären. Bei Erwerb der zuletzt noch vorhandenen Betriebsmittel durch einen Aufkäufer würde sich dann stets die Frage eines Betriebs(teil)übergangs stellen, obwohl der „Restbetrieb“ zu keinem Zeitpunkt als wirtschaftliche Einheit strukturiert war. Dies entspricht nicht der Zielsetzung der Betriebsübergangsrichtlinie. Diese soll die Ansprüche der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Inhabers des Unternehmens dadurch wahren, dass sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihr Beschäftigungsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber zu eben den Bedingungen fortzusetzen, die mit dem Veräußerer vereinbart waren. Die Richtlinie soll so weit wie möglich die Fortsetzung der Arbeitsverträge oder der Arbeitsverhältnisse mit dem Erwerber in unveränderter Form sicherstellen, um eine Verschlechterung der Lage der betroffenen Arbeitnehmer allein aufgrund des Übergangs zu verhindern (EuGH 26. März 2020 – C-344/18 – [ISS Facility Services] Rn. 25; 7. August 2018 – C-472/16 – [Colino Sigüenza] Rn. 48; 6. April 2017 – C-336/15 – [Unionen] Rn. 18; BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 445/17 – Rn. 39, BAGE 165, 100). Eine Verbesserung des Arbeitsentgelts oder anderer Arbeitsbedingungen beim Übergang soll sie dagegen nicht erwirken (EuGH 26. März 2020 – C-344/18 – [ISS Facility Services] Rn. 25 mit Verweis auf EuGH 6. September 2011 – C-108/10 – [Scattolon] Rn. 77). Gesichert werden damit nur die am Tag des Übergangs bereits bestehenden Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer (vgl. EuGH 9. März 2006 – C-499/04 – [Werhof] Rn. 29; BAG 23. Juli 2015 – 6 AZR 687/14 – Rn. 28).
86
Die Einstufung einer in der Abwicklung befindlichen „Resteinheit“ als übergangsfähige wirtschaftliche Einheit würde die verbleibenden Beschäftigten nicht nur absichern, sondern ohne Bezug zur vormaligen betrieblichen Organisation gleichsam zufällig privilegieren. Eine solche Privilegierung ist mit der Zielsetzung des europäischen und des nationalen Rechts, die wie dargelegt, an eine vom Betriebsveräußerer bereits geschaffene Struktur anknüpfen und nur die Kontinuität der in dieser Struktur bestehenden Arbeitsverhältnisse sichern wollen, nicht zu vereinbaren.
87
III. Die gegen den Beklagten zu 1. gerichtete Kündigungsschutzklage ist begründet.
88
1. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Kündigungsschutzklage nicht bereits wegen Unschlüssigkeit unbegründet ist, weil die Klägerin ausweislich des gegen die Beklagte zu 2. gerichteten Feststellungsantrags von einem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die Beklagte zu 2. noch vor dem Zugang der streitgegenständlichen Kündigung ausgeht. Die Revisionsbegründung verdeutlicht, dass die Klägerin sich im Rahmen der Kündigungsschutzklage nicht nur auf den angenommenen Betriebs(teil)übergang beruft, sondern auch auf andere Gründe für die Unwirksamkeit der Kündigung. Dieser gleichsam hilfsweise erbrachte Vortrag kommt hier zum Tragen, da – wie ausgeführt – kein Betriebs(teil)übergang vorliegt (vgl. BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 36).
89
2. Mangels Betriebs(teil)übergangs ist die streitgegenständliche Kündigung auch nicht nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB unwirksam. Sie erfolgte vielmehr wegen der Stilllegung des Flugbetriebs und ist deshalb sozial gerechtfertigt. Es bestand ein dringendes betriebliches Erfordernis, welches einer Weiterbeschäftigung der Klägerin als Flugbegleiterin iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG entgegenstand.
90
a) Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG muss die Kündigung bedingt sein durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen (zur Betriebsbezogenheit vgl. BAG 27. Juni 2019 – 2 AZR 38/19 – Rn. 26). Das ist der Fall, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen Entscheidung, etwa der zur Stilllegung des gesamten Betriebs, spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt (BAG 16. Mai 2019 – 6 AZR 329/18 – Rn. 39, BAGE 166, 363). Erforderlich ist, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb stillzulegen (vgl. BAG 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 – Rn. 37). Dem steht nicht entgegen, dass sich der Arbeitgeber entschlossen hat, die gekündigten Arbeitnehmer in der jeweiligen Kündigungsfrist noch für die Abarbeitung vorhandener Aufträge einzusetzen. Der Arbeitgeber erfüllt damit gegenüber den tatsächlich eingesetzten Arbeitnehmern lediglich seine auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Beschäftigungspflicht (vgl. BAG 8. November 2007 – 2 AZR 554/05 – Rn. 20).
91
b) Die geplanten Maßnahmen müssen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits „greifbare Formen“ angenommen haben (BAG 20. Juni 2013 – 6 AZR 805/11 – Rn. 47 mwN, BAGE 145, 249). Davon kann ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber seine Stilllegungsabsicht unmissverständlich äußert, allen Arbeitnehmern kündigt, etwaige Miet- oder Pachtverträge zum nächstmöglichen Zeitpunkt auflöst, die Betriebsmittel, über die er verfügen darf, veräußert und die Betriebstätigkeit vollständig einstellt. Für die Stilllegung von Betriebsteilen gilt dies, begrenzt auf die entsprechende Einheit, entsprechend (BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 53 mwN). An einem endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehlt es hingegen, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in ernsthaften Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebs oder von Teilen des Betriebs steht oder sich noch um neue Aufträge bemüht (vgl. BAG 13. Februar 2008 – 2 AZR 543/06 – Rn. 23). Betriebsveräußerung und Betriebsstilllegung schließen sich systematisch aus (st. Rspr., vgl. BAG 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 – Rn. 39). Eine vom Arbeitgeber mit einer Stilllegungsabsicht begründete Kündigung ist nur dann sozial gerechtfertigt, wenn sich die geplante Maßnahme objektiv als Betriebsstilllegung und nicht als Betriebs(teil)veräußerung darstellt (vgl. BAG 28. Mai 2009 – 8 AZR 273/08 – Rn. 30). Wird ein Betriebsteil veräußert und der verbleibende „Restbetrieb“ stillgelegt, kommt es darauf an, ob der gekündigte Arbeitnehmer dem auf einen Erwerber übergehenden Betriebsteil zugeordnet war. Ist dies nicht der Fall, so kann die Stilllegung des „Restbetriebs“ einen betriebsbedingten Kündigungsgrund darstellen, wenn der Arbeitnehmer diesem Betriebsteil zugeordnet war (vgl. BAG 14. März 2013 – 8 AZR 153/12 – Rn. 25 ff. mwN).
92
c) Die streitgegenständliche Kündigung erfolgte wegen der Stilllegung des Flugbetriebs und nicht wegen eines Betriebs(teil)übergangs. Die Schuldnerin hatte bereits in der vorläufigen Eigenverwaltung im Oktober 2017 den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst, den Betrieb spätestens zum 31. Januar 2018 stillzulegen. Der Beklagte zu 1. hat das von der Schuldnerin beschlossene Stilllegungskonzept umgesetzt und in diesem Zusammenhang auch die streitgegenständliche Kündigung erklärt. Dies hat das Landesarbeitsgericht bei einer Gesamtwürdigung der Umstände, wie sie sich aus dem dokumentierten und unstreitigen Sachverhalt ergeben, zutreffend erkannt.
93
aa) Die Stilllegungsentscheidung wird durch die Erklärung der Schuldnerin vom 12. Oktober 2017 dokumentiert, welche von dem damaligen Executive Director, dem Generalbevollmächtigten und dem Beklagten zu 1. als vorläufigen Sachwalter unterzeichnet ist. Die Entscheidung wurde am 24. Oktober 2017 durch den vorläufigen Gläubigerausschuss bestätigt. Demnach beabsichtigte die Schuldnerin wegen des Scheiterns einer Sanierung die uneingeschränkte Fortführung des Betriebs mit Hilfe eines durch Bundesbürgschaft abgesicherten Übergangskredits nur noch bis Ende Oktober 2017. Für Eurowings sollten mit 13 Flugzeugen bis „maximal zum 31. Januar 2018“ noch Dienstleistungen im Wet Lease erbracht werden. Die Gesamtabwicklung sollte zum 31. Januar 2018 abgeschlossen sein. Die Stilllegung sollte damit im Wesentlichen in zwei Etappen vollzogen werden (Einstellung eigener Flugbetrieb zum 28. Oktober 2017; Einstellung Wet Lease spätestens zum 31. Januar 2018).
94
bb) Die Schuldnerin war im Rahmen der vorläufigen Eigenverwaltung berechtigt, die Stilllegung des Unternehmens zu beschließen. Der Beklagte zu 1. durfte sich diese Entscheidung als Grundlage der streitbefangenen Kündigung zu eigen machen.
95
(1) Hinsichtlich der Befugnis zum Treffen einer Stilllegungsentscheidung in der Insolvenz ist zwischen dem Zeitraum vor und nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowie danach zu unterscheiden, ob ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt oder vorläufige Eigenverwaltung angeordnet ist.
96
(a) Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens richten sich die Entscheidungskompetenzen nach den durch das Insolvenzgericht getroffenen Anordnungen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO).
97
(aa) Bestellt das Insolvenzgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter, ist dieser nicht befugt, aus eigener Rechtsmacht die Stilllegung des Unternehmens zu beschließen und umzusetzen. Selbst ein sog. „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter, auf den die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO übergegangen ist, hat gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO die Pflicht, das Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen, soweit nicht das Insolvenzgericht einer Stilllegung zustimmt. Um eine Zustimmung des Gerichts zu einer Stilllegung zu erhalten, muss er plausibel vortragen, dass das Unternehmen auch bei Einleitung von Sanierungsmaßnahmen nicht kostendeckend arbeiten kann (Voß/Lienau in Graf-Schlicker InsO 5. Aufl. § 22 Rn. 5). Das Gesetz geht davon aus, dass eine Zerschlagung des Unternehmens schon im Eröffnungsverfahren typischerweise nicht im Interesse der Gläubiger liegt. Diese sollen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vielmehr gemäß § 157 Satz 1 InsO im Berichtstermin selbst darüber entscheiden können, ob das Unternehmen stillgelegt oder fortgeführt werden soll (vgl. KPB/Blankenburg InsO Stand Mai 2018 § 22 Rn. 83; MüKoInsO/Janssen 4. Aufl. § 157 Rn. 1).
98
(bb) Anders verhält es sich, falls das Insolvenzgericht gemäß § 270a Abs. 1 Satz 1 InsO im Eröffnungsverfahren die vorläufige Eigenverwaltung anordnet.
99
(aaa) Die mit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2582) in die Insolvenzordnung eingefügten Bestimmungen der §§ 270a, 270b verfolgen das Ziel, dem Schuldner den Zugang zum Verfahren der Eigenverwaltung nach § 270 InsO zu erleichtern und dadurch die Sanierungschancen zu verbessern. Durch den Verzicht auf ein allgemeines Verfügungsverbot und auf die Bestellung eines mitbestimmenden vorläufigen Insolvenzverwalters soll vermieden werden, dass der Schuldner im Eröffnungsverfahren die Kontrolle über sein Unternehmen verliert und das Vertrauen der Geschäftspartner in die Geschäftsleitung des Schuldners und deren Sanierungskonzept zerstört wird (BT-Drs. 17/5712 S. 2, 39; BGH 22. November 2018 – IX ZR 167/16 – Rn. 9, BGHZ 220, 243).
100
(bbb) Bei Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung werden die §§ 21, 22 InsO durch § 270a Abs. 1 InsO partiell verdrängt (Nerlich/Römermann/Riggert InsO Stand April 2018 § 270a Rn. 16). Dem Schuldner steht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen im Außenverhältnis aus eigenem Recht weiterhin zu, soweit das Insolvenzgericht keine beschränkenden Anordnungen erlässt (BGH 22. November 2018 – IX ZR 167/16 – Rn. 11, BGHZ 220, 243). Der Schuldner kann daher – entgegen dem Sanierungsziel – auch die Entscheidung treffen, sein Unternehmen stillzulegen. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO findet auf ihn keine Anwendung. Dabei ist er allerdings im Innenverhältnis verpflichtet, die Gläubigerinteressen zu berücksichtigen (HK-InsO/Brünkmans 9. Aufl. § 270a Rn. 24; MüKoInsO/Kern 4. Aufl. § 270a Rn. 62; zum Streitstand einer möglichen Haftung des Schuldners in analoger Anwendung der §§ 60, 61 InsO bei Verletzung dieser Verpflichtung MüKoInsO/Kern aaO Rn. 63).
101
(ccc) Allerdings wird der Schuldner in seiner Geschäftsführung gemäß § 270a Abs. 1 Satz 2, § 274 Abs. 2 InsO durch einen vorläufigen Sachwalter überwacht. Dieser hat zwar ebenso wie der endgültige Sachwalter keine eigenen Eingriffs- und Sicherungsbefugnisse, sondern nur eine zukunftsorientierte Überwachungsfunktion (BGH 21. Juli 2016 – IX ZB 70/14 – Rn. 43, 74, BGHZ 211, 225). Ist er jedoch der Auffassung, dass die Stilllegung im Eröffnungsverfahren nicht im Interesse der Gläubiger liegt, kann er gemäß § 270a Abs. 1 Satz 2, § 274 Abs. 3 Satz 1 InsO dem Insolvenzgericht anzeigen, dass die Fortsetzung der vorläufigen Eigenverwaltung erwartbar zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Das Insolvenzgericht kann dann die vorläufige Eigenverwaltung aufheben und einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellen (vgl. BGH 5. März 2015 – IX ZB 77/14 – Rn. 11; HK-InsO/Brünkmans 9. Aufl. § 270a Rn. 24; MüKoInsO/Kern 4. Aufl. § 270a Rn. 26). Dabei ist im Ergebnis nicht entscheidend, ob diese Befugnis aus § 270a Abs. 1 Satz 1 InsO, aus § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO oder aus § 21 InsO hergeleitet wird (vgl. zum Streitstand Uhlenbruck/Zipperer 15. Aufl. § 270a InsO Rn. 13). Der Einsatz des „scharfen Schwerts“ der Anzeige (so Mönning/Schäfer/Schiller BB Beilage zu Heft 25/2017, 1, 18) dürfte zur Verhinderung einer vorzeitigen Stilllegung, die eine mögliche Sanierung und die daraus folgenden Befriedigungsmöglichkeiten verhindert, ausreichend sein. Ist gemäß § 22a, § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO ein vorläufiger Gläubigerausschuss gebildet, ist dieser jedenfalls zu unterrichten (MüKoInsO/Kern aaO § 270a Rn. 39, § 274 Rn. 68).
102
(b) Erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist die Entscheidung über Stilllegung oder Fortführung gemäß § 157 InsO der Gläubigerversammlung zugewiesen. Daran ändert sich grundsätzlich nichts, wenn bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Eigenverwaltung angeordnet wird (§ 270 Abs. 1 Satz 2 InsO). Das Insolvenzgericht bestellt dann allerdings keinen Insolvenzverwalter. Der Schuldner bleibt während der Dauer des Insolvenzverfahrens nach § 270 Abs. 1 Satz 1 InsO berechtigt, unter der Aufsicht eines Sachwalters die Insolvenzmasse zu verwalten und über sie zu verfügen. In Ausübung dieser Befugnisse kann es dem Schuldner sogar obliegen, sein Handelsgeschäft im Interesse der Gläubiger an der bestmöglichen Verwertung der Masse im Ganzen zu veräußern (BGH 3. Dezember 2019 – II ZR 457/18 – Rn. 12).
103
(2) Im vorliegenden Fall hatte die Schuldnerin, wie dargelegt, in der vorläufigen Eigenverwaltung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst, den Betrieb zum 31. Januar 2018 stillzulegen. Nach den Regelungen der Insolvenzordnung hatte sie hierfür die erforderliche Rechtsmacht.
104
(a) Der vorläufige Gläubigerausschuss hat in seiner Sitzung am 24. Oktober 2017 diese Stilllegungsentscheidung bestätigt und die Eigenverwaltung angewiesen, die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen. Es kann daher unentschieden bleiben, welche Konsequenzen eine Nichtbeteiligung oder Zustimmungsverweigerung des vorläufigen Gläubigerausschusses gehabt hätte (vgl. hierzu HK-InsO/Brünkmans 9. Aufl. § 270a Rn. 20 mwN).
105
(b) Eine Anzeige nach § 270a Abs. 1 Satz 2, § 274 Abs. 3 Satz 1 InsO ist nicht erfolgt. In seinem Gutachten vom 27. Oktober 2017 hat der Beklagte zu 1. im Gegenteil gegenüber dem Insolvenzgericht erklärt, es sei nicht zu erwarten, dass die Eigenverwaltung zu nachteiligen Veränderungen für die Gläubiger führen wird.
106
(3) § 157 InsO steht der Wirksamkeit der Stilllegungsentscheidung im Eröffnungsverfahren nicht entgegen. Der Anwendungsbereich dieser Norm ist nicht eröffnet, weil weder die Schuldnerin während der am 1. November 2017 eröffneten Eigenverwaltung noch der Beklagte zu 1. nach der Aufhebung der Eigenverwaltung am 17. Januar 2018 als Insolvenzverwalter die Stilllegungsentscheidung getroffen haben. Der Beklagte zu 1. hat vielmehr die von der Schuldnerin bereits im Eröffnungsverfahren getroffene und von ihm vorgefundene Entscheidung weiter umgesetzt, indem er das Stilllegungskonzept der Schuldnerin, an dessen Entstehung er als vorläufiger Sachwalter beteiligt war, fortgeführt hat. Diese Handlungsoption stand ihm offen. Nach Aufhebung der Eigenverwaltung bleiben rechtmäßig vorgenommene Rechtshandlungen des Schuldners ohnehin wirksam (vgl. Karsten Schmidt/Undritz InsO 19. Aufl. § 272 Rn. 11; Nerlich/Römermann/Riggert InsO Stand April 2018 § 272 Rn. 5). Der Insolvenzverwalter kann insofern gebunden sein. Dessen ungeachtet kann er aus eigener Überzeugung an strategischen Entscheidungen des Schuldners festhalten, selbst wenn er sie abändern könnte. Dies gilt auch bezüglich einer im Rahmen der vorläufigen Eigenverwaltung getroffenen Stilllegungsentscheidung des Schuldners. Der Insolvenzverwalter kann sie sich zu eigen machen. Das hat der Beklagte zu 1. getan und damit keine eigene (erneute) Stilllegungsentscheidung getroffen.
107
d) Zum Zeitpunkt der Kündigung Ende Januar 2018 hatte die Schuldnerin bzw. der Beklagte zu 1. mit der Umsetzung dieses Stilllegungskonzepts bereits begonnen. Die beabsichtigte Stilllegung hatte bereits „greifbare Formen“ angenommen.
108
aa) Mit getrennten Schreiben vom 12. Oktober 2017 war gegenüber der PV Cockpit und der PV Kabine das Konsultationsverfahren (§ 17 Abs. 2 KSchG) eingeleitet worden. Am 12. und 13. Oktober 2017 war ein Kaufvertrag mit Gesellschaften der Lufthansa-Gruppe bezüglich der Beteiligungen an der NIKI und der Beklagten zu 2. sowie der Übernahme von Slots abgeschlossen worden. Der letzte Flug im Eigenbetrieb hatte wie geplant am 27. Oktober 2017 stattgefunden. Nach Vereinbarung eines Interessenausgleichs bezüglich des Bodenpersonals am 30. Oktober 2017 war am 17. November 2017 mit der PV Cockpit ein Interessenausgleich abgeschlossen worden. Beide gingen von dem dargelegten Stilllegungskonzept aus. Dies spricht für die ernsthafte und endgültige Stilllegungsabsicht (BAG 20. Juni 2013 – 6 AZR 805/11 – Rn. 52, BAGE 145, 249). Auch die Erstattung der Massenentlassungsanzeigen am 30. Oktober 2017 für das Bodenpersonal, am 24. November 2017 für das Cockpitpersonal und 12. Januar 2018 für das Kabinenpersonal indiziert die Auflösung der betrieblichen Organisation (vgl. BAG 21. Juni 2001 – 2 AZR 137/00 – zu II 1 c bb der Gründe). Schließlich war den Piloten, soweit nicht noch behördliche Zustimmungen eingeholt werden mussten, Ende November 2017 zum 28. Februar 2018 gekündigt worden. Spätestens damit hatte die Stilllegung dann greifbare Formen angenommen, denn ohne diese Berufsgruppe war ein Flugbetrieb nicht möglich.
109
bb) Dem steht die Weiterführung des Flugbetriebs im Wet Lease bis zum 31. Dezember 2017 nicht entgegen. Dieser entsprach der Stilllegungsplanung und konnte während der Kündigungsfristen betrieben werden (Rn. 75 ff.). Es handelte sich um eine bis zur Stilllegung befristete Einschränkung des Flugbetriebs der Schuldnerin. Jeder der schriftlich dokumentierten Schritte fügte sich in das mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 bekannt gegebene Stilllegungskonzept ein.
110
e) Der Stilllegungsentscheidung steht auch nicht entgegen, dass am 12. Oktober 2017 laut dem Insolvenzgutachten vom 27. Oktober 2017 und den Angaben in den Fusionskontrollverfahren noch Verhandlungen mit easyJet und der Lufthansa-Gruppe stattfanden. Diese Verhandlungen bezogen sich aber nicht auf die Veräußerungen von Betriebsteilen oder des gesamten Betriebs iSd. § 613a Abs. 1 BGB.
111
aa) Bezüglich easyJet war ein Betriebs(teil)übergang weder geplant noch ist er tatsächlich erfolgt. EasyJet hat lediglich einzelne Vermögenswerte der Schuldnerin, nicht aber eine bereits bei der Schuldnerin bestehende wirtschaftliche Einheit übernommen. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Station Berlin-Tegel, bei der es sich um keine übergangsfähige wirtschaftliche Einheit handelte (Rn. 71 ff.).
112
bb) Gleiches gilt bezüglich Eurowings. Ein Betriebsübergang auf diese Gesellschaft des Lufthansa-Konzerns kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil Eurowings keine betriebliche Tätigkeit der Schuldnerin fortgeführt hat. Eurowings war im Rahmen der Wet-Lease-Konstruktion der Empfänger der von der Schuldnerin bzw. der Beklagten zu 2. erbrachten Dienstleistung. Die bloße Fortführung einer Geschäftsbeziehung als Kunde kann keinen Betriebsübergang begründen.
113
3. Die Kündigung ist jedoch nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts hat die Schuldnerin die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß iSd. § 17 Abs. 3 KSchG erstattet. Ob die Schuldnerin das Konsultationsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt hat oder die Kündigung wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 2 KSchG gemäß § 134 BGB unwirksam ist, kann dahinstehen.
114
a) Die Schuldnerin hat vorliegend den Betriebsbegriff, der zentraler Bezugspunkt des Massenentlassungsrechts ist (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 31), verkannt. Einen rein berufsgruppenbezogenen Betriebsbegriff, wie sie ihn ihrem Verständnis des Betriebs für die letztlich nach Übergang in das Regelinsolvenzverfahren am 17. Januar 2018 vom Beklagten zu 1. als Insolvenzverwalter durchgeführte Massenentlassung zugrunde gelegt hat, kennt die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie, im Folgenden MERL) nicht. Betrieb iSd. MERL und des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG war für die Klägerin die Station der Schuldnerin am Flughafen Düsseldorf.
115
aa) Der Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts ist ein unionsrechtlicher Begriff. Er ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich allein von diesem und damit losgelöst von den nationalen Begrifflichkeiten und Rechtsvorschriften auszulegen (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 32; ähnlich bereits BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16 – Rn. 21, BAGE 158, 104). Der besondere Betriebsbegriff für den Luftverkehr in § 24 Abs. 2 KSchG hat hingegen für das Massenentlassungsrecht keine Bedeutung (ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 56 ff.).
116
bb) Der vom Gerichtshof sehr weit verstandene Begriff des „Betriebs“ iSd. MERL bezeichnet nach Maßgabe der Umstände die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Es muss sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handeln, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Nicht erforderlich ist, dass die Einheit rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie aufweist. Der Betrieb iSd. MERL muss auch keine Leitung haben, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann. Vielmehr reicht es aus, wenn eine Leitung besteht, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellt. An die erforderliche Leitungsstruktur sind damit keine hohen organisatorischen Anforderungen zu stellen. Der unionsrechtliche Begriff der „Leitungsmacht“ ist insoweit deutlich offener und weiter als nach dem nationalen betriebsverfassungsrechtlichen Verständnis (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 33, 49 mwN).
117
Die Feststellung, ob im konkreten Einzelfall eine Einheit entsprechend dieser Vorgaben des Unionsrechts ein Betrieb iSd. MERL ist, obliegt allein den nationalen Gerichten (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 34 mwN).
118
cc) Nach diesem Betriebsbegriff stellte die Station der Schuldnerin am Flughafen Düsseldorf für die Klägerin den Betrieb iSd. MERL und damit des § 17 KSchG dar. Das hat der Senat für das Cockpitpersonal der Schuldnerin bereits entschieden (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 35 ff.). Für das fliegende Personal in der Kabine gilt insoweit nichts anderes. Insbesondere verfügte die Station in Düsseldorf über eine „Gesamtheit von Arbeitnehmern“ iSd. Begriffsbestimmung des Gerichtshofs, bestehend aus dem fliegenden Personal und dem Bodenpersonal (ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 38 ff.). Auch bestand dort eine Leitung, die die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle des Gesamtbetriebs der Einrichtungen der Einheit sowie die Lösung technischer Probleme im Sinne einer Aufgabenkoordinierung sicherstellte. Sie war für die Besatzungsmitglieder mit der Kompetenzzuweisung an den Area Manager Cockpit und den Regional Manager Kabine gegeben, für das Bodenpersonal mit den Kompetenzen der unter Ziff. 1.1.4.3 im gerichtskundigen (Rn. 72) OM/A für Düsseldorf ausgewiesenen Person (ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 48 ff.). Darüber hinaus war nach dem Betriebshandbuch die Position des Area Managers Kabine eingerichtet, mit der ausweislich Ziff. 1.3.8.1.1 OM/A dem Area Manager Cockpit vergleichbare Aufgaben verbunden waren. So hatte der Area Manager Kabine alle Aspekte der Leistung des Kabinenpersonals zu verwalten, um sicherzustellen, dass ein gleichbleibend hohes Niveau an Sicherheit und Gastfreundlichkeit aufrechterhalten wurde. Er wurde als Vorgesetzter aller Mitglieder des Kabinenpersonals bezeichnet, der Disziplinarverantwortung trage. Er hatte ua. die Aufgabe, Probleme zu ermitteln und zu beheben, um einheitliche Prozesse sicherzustellen. Auch hatte er Konflikte innerhalb des Kabinenpersonals bzw. zwischen Kabinen- und Cockpitpersonal in enger Abstimmung mit der Abteilung Flight Operations und dem Regional Manager zu deeskalieren.
119
Dass die Leitungsfunktion nicht von einer Person, sondern getrennt für das Cockpit- und das Kabinenpersonal wahrgenommen wurde, steht der Einordnung der Station Düsseldorf als Betrieb iSd. MERL ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass die für die Station Düsseldorf zuständigen Area Manager Cockpit und Regional Manager Kabine West auch für die Station Paderborn verantwortlich waren (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 53). Auch ist es entgegen der Annahme des Beklagten zu 1. nicht erforderlich, dass die Einheit den ihr zugewiesenen Teilzweck eigenständig erfüllen kann. Erst recht muss sie nicht autark agieren können (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 49).
120
dd) Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu der Annahme des Senats, die Stationen hätten keine Betriebsteile iSd. Richtlinie 2001/23/EG dargestellt (Rn. 71 ff.). Die MERL und die Richtlinie 2001/23/EG haben unterschiedliche Funktionen, was auch zu einem unterschiedlichen Begriffsverständnis führt. Dies zeigt sich ua. daran, dass die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG eine „Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit“ voraussetzt, während dies nach der Richtlinie 98/59/EG gerade nicht der Fall ist. Der Betriebsbegriff der MERL ist damit weiter als derjenige der Betriebsübergangsrichtlinie.
121
b) Die Verkennung des Betriebsbegriffs durch die Schuldnerin hat zur Folge, dass diese am 12. Januar 2018 eine inhaltlich nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der unzuständigen Arbeitsagentur Berlin Nord erstattet hat. Das führt zur Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung (§ 134 BGB).
122
aa) Mit der vor Zugang der Kündigung bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord erstatteten Massenentlassungsanzeige vom 12. Januar 2018 hat die Schuldnerin ihre Anzeigepflicht nicht erfüllt. Die Anzeige hätte rechtzeitig bei der für die Station Düsseldorf als „Betrieb“ iSd. Massenentlassungsrechts zuständigen Arbeitsagentur Düsseldorf erfolgen müssen.
123
(1) Nach Art. 3 Abs. 1 der MERL hat der Arbeitgeber der „zuständigen“ Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen. Bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG ist das die für den Betriebssitz örtlich zuständige Agentur für Arbeit (ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 76 ff.), hier die Agentur für Arbeit Düsseldorf. Der Eingang der Massenentlassungsanzeige bei einer anderen Agentur für Arbeit – vorliegend der Agentur für Arbeit Berlin Nord – ohne eine rechtzeitige Weiterleitung an die örtlich zuständige Agentur reicht für eine ordnungsgemäße Anzeige iSv. § 17 Abs. 1 KSchG nicht aus (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 78). Vorliegend haben aber weder das Landesarbeitsgericht festgestellt, noch die Parteien vorgetragen, dass bei der Arbeitsagentur Düsseldorf vor Zugang der Kündigung am 29. Januar 2018 die durch die Agentur für Arbeit Berlin Nord weitergeleitete Anzeige vom 12. Januar 2018 eingegangen ist. Gegen eine Weiterleitung spricht zudem das Schreiben der Agentur für Arbeit Berlin Nord vom 12. Januar 2018. In diesem bestätigt die Arbeitsagentur den vollständigen Eingang der Massenentlassungsanzeige vom gleichen Tag und führt aus, dass die Entlassungssperre am 12. Februar 2018 ende und die angezeigten Entlassungen bis zum 12. April 2018 vorgenommen werden können. Dies impliziert die Annahme ihrer eigenen Zuständigkeit, so dass für eine etwaige Weiterleitung aus Sicht der Arbeitsagentur Berlin Nord keine Veranlassung bestand.
124
(2) Die Erfüllung der Anzeigepflicht folgt nicht daraus, dass die Schuldnerin der Agentur für Arbeit Berlin Nord im Vorfeld der Anzeige und im dazu erstellten Begleitschreiben den aus ihrer Sicht für die Frage der örtlichen Zuständigkeit relevanten Sachverhalt subjektiv umfassend und korrekt dargestellt und damit vermeintlich alles ihrerseits Erforderliche getan hatte. Entsprechend dem Zweck der Anzeige, die sozioökonomischen Auswirkungen von Massenentlassungen dort zu mildern, wo sie typischerweise auftreten, nämlich am Betriebssitz, verlangt Art. 3 Abs. 1 der MERL, dass die beabsichtigten Entlassungen bei der nach nationalem Recht tatsächlich und nicht nur vermeintlich „zuständigen“ Behörde angezeigt werden (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 81).
125
(3) Die innerbetrieblichen Organisationsstrukturen sind auch nicht deswegen irrelevant, weil die Station Düsseldorf bei Erstattung der Massenentlassungsanzeige bereits durch Stilllegung untergegangen war und die in Frage stehenden Kündigungen nur vorsorglich ausgesprochen werden sollten (dazu BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 70, BAGE 157, 1). Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der der Entscheidung des Zweiten Senats zugrundeliegenden Konstellation. Zum einen war die streitbefangene Kündigung keine nur vorsorglich erklärte (Zweit-)Kündigung nach einer bereits erfolgten Stilllegung. Vielmehr war die beabsichtigte Entlassung der Kabinenmitarbeiter der letzte Schritt zur Umsetzung der am 12. Oktober 2017 getroffenen Entscheidung, den Betrieb der Schuldnerin in zwei Etappen einzustellen (Rn. 93). Zum anderen hat die Schuldnerin die Anzeige nicht zeitgleich bei allen in Betracht kommenden Arbeitsagenturen unter Hinweis auf eine bereits umgesetzte Stilllegung und einen daraus resultierenden Wegfall des Betriebssitzes eingereicht. Dazu hätte die Anzeige (auch) bei der für die Station der Schuldnerin in Düsseldorf zuständigen Agentur eingehen müssen, weil der im Rahmen des § 17 KSchG maßgebliche unionsrechtliche Betriebsbegriff nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten steht.
126
(4) Die Schuldnerin hat auch keine sog. Sammelanzeige erstattet. Zwar kann der Arbeitgeber seine Anzeigepflicht ebenso mit einer nach den Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit Dritter und Vierter Abschnitt Kündigungsschutzgesetz – KSchG vom 10. Oktober 2017 zu § 17 KSchG Ziff. 2.2.3. Abs. 4 und Abs. 5 möglichen Sammelanzeige erfüllen, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen. Dem stehen weder Unionsrecht noch nationales (Verfahrens-)Recht entgegen (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 89 f.). Von dieser Möglichkeit hat die Schuldnerin jedoch keinen Gebrauch gemacht. Ausgehend von ihrem unzutreffenden Verständnis des maßgeblichen Betriebs hat sie am 12. Januar 2018 eine Einzelanzeige für den nach dem Betriebsbegriff der MERL nicht existierenden Betrieb Kabine, bestehend aus allen Kabinenmitarbeitern der Gesamtheit aller Stationen, erstatten wollen. Sie hat zudem ihre Betriebsstruktur objektiv falsch dargestellt. Das folgt nicht nur aus den Angaben der Schuldnerin im Formularblatt der Agentur für Arbeit, insbesondere unter Nr. 16 und Nr. 2 iVm. den beigefügten Anlagen. Es lässt sich eindeutig auch dem Begleitschreiben vom 12. Januar 2018 entnehmen. Die Aufschlüsselung der Angaben zu den Entlassungen nach Stationen in der Anlage zur Massenentlassungsanzeige ändert nichts daran, dass die Schuldnerin eine Anzeige für den gesamten Bereich Kabine erstatten wollte und auch erstattet hat. In diesem Sinne hat die Agentur für Arbeit Berlin Nord die erstattete Massenentlassungsanzeige verstanden und behandelt, wie ihr Schreiben vom 12. Januar 2018 belegt.
127
bb) Die Schuldnerin hat darüber hinaus im Hinblick auf die sog. „Muss-Angaben“ eine inhaltlich nicht den Vorgaben des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG entsprechende Anzeige erstattet.
128
(1) Aufgrund der Verkennung des Betriebsbegriffs der MERL, der Geltung für den gesamten Massenentlassungsschutz und damit auch für das in § 17 Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigeverfahren beansprucht (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 33 ff., 95), bezog sich die von der Schuldnerin am 12. Januar 2018 erstattete Massenentlassungsanzeige im Hinblick auf die Klägerin deutschlandweit (insofern einerseits zu weit) allein (insofern andererseits zu eng) auf den Bereich Kabine und damit auf den falschen Betrieb. Die Aufschlüsselung der Angaben zu den Entlassungen nach Stationen in der Anlage zur Massenentlassungsanzeige und die Bezugnahme im Begleitschreiben auf die für das Boden- und Cockpitpersonal erstatteten Massenentlassungsanzeigen ändert nichts daran, dass die Schuldnerin eine Anzeige für den gesamten Bereich Kabine erstatten wollte und auch erstattet hat.
129
(2) Da die Massenentlassungsanzeige richtigerweise für die Station Düsseldorf hätte erstattet werden müssen, enthält sie darüber hinaus mit der Angabe „3126“ eine unzutreffende Mitteilung der Anzahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, deren Angabe sowohl die MERL als auch § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG verlangen.
130
(a) Jedenfalls bei einer Betriebsstilllegung – wie vorliegend – kommt zur Bestimmung der Anzahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Betracht (BAG 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04 – Rn. 23). Werden die Entlassungen dabei in mehreren Etappen vorgenommen, ist zu differenzieren: Beruhen sie auf einer einheitlichen unternehmerischen Planung, ist die Arbeitnehmeranzahl im letzten Zeitpunkt der normalen Betriebstätigkeit maßgebend, da die Abbaumaßnahmen zusammen zu betrachten sind. Ist die spätere Massenentlassung Ergebnis einer neuen Planung, ist jede Stufe unabhängig von dem vorherigen Personalabbau zu betrachten. Die nach jedem Abbau bestehende Arbeitnehmerzahl ist dann die normale und nunmehr den Betrieb kennzeichnende Belegschaftsstärke (vgl. BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 638/15 – Rn. 14; 24. Februar 2005 – 2 AZR 207/04 – Rn. 23; zur Betriebsänderung iSv. § 111 BetrVG BAG 17. März 2016 – 2 AZR 182/15 – Rn. 30, BAGE 154, 303).
131
(b) Sämtliche Entlassungen, also sowohl die des Boden-, des Cockpit- als auch die des Kabinenpersonals, beruhen auf dem Stilllegungsbeschluss vom 12. Oktober 2017 (Rn. 92 f.). Davon geht auch der Beklagte zu 1. in seiner Revisionserwiderung aus. Maßgeblich für die Anzahl der in der Regel Beschäftigten ist deshalb die Belegschaftsstärke der Station Düsseldorf am 12. Oktober 2017. Zu diesem Zeitpunkt waren dort nicht die in der Anzeige vom 12. Januar 2018 angegebenen 3.126 Arbeitnehmer beschäftigt. Diese Zahl gab die in der Regel deutschlandweit in allen Stationen beschäftigten Kabinenmitarbeiter an und war darum bezogen auf die Station Düsseldorf zu hoch. Demgegenüber fehlten Angaben zu den Cockpitmitarbeitern und zum Bodenpersonal der Station Düsseldorf. Insoweit war die angegebene Zahl der Beschäftigten zu niedrig.
132
Die fehlerhaften Angaben zur Zahl der am 12. Oktober 2017 regelmäßig in der Station Düsseldorf Beschäftigten wurden entgegen der vom Beklagten zu 1. vertretenen Ansicht durch die bloße Bezugnahme im Begleitschreiben vom 12. Januar 2018 auf die für das Boden- und Cockpitpersonal bereits zuvor erstatteten Massenentlassungsanzeigen nicht ersetzt. Es ist nicht Aufgabe der Agentur für Arbeit, sich unter Außerachtlassung des in der Anzeige zum Ausdruck kommenden Willens des Arbeitgebers, für welchen Betrieb er diese erstatten will, aus einer Vielzahl in mehreren umfangreichen Anzeigeverfahren eingereichter Unterlagen die Angaben für den Betrieb herauszusuchen, der der Anzeige richtigerweise zugrunde zu legen wäre. Zudem handelte es sich bei der Frage des Betriebs und der in ihm regelmäßig Beschäftigten nicht um eine formelle Voraussetzung der Anzeige, deren Vorliegen die Agentur für Arbeit von Amts wegen festzustellen hätte (vgl. BAG 21. März 2012 – 6 AZR 596/10 – Rn. 27). Auch die Vergabe eines einheitlichen Aktenzeichens seitens der Arbeitsagentur ändert nichts an dem Umstand, dass es sich letztlich um drei getrennte Anzeigeverfahren handelte, die auch getrennt zu behandeln waren.
133
cc) Entgegen der in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung des Beklagten zu 1. ändert sich an dem Pflichtenkatalog des Arbeitgebers aus § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nichts dadurch, dass sich im Zuge der Freistellung fast alle Kabinenmitarbeiter arbeitsuchend melden sollten und dies weit überwiegend auch getan hätten, so dass – so die Annahme des Beklagten zu 1. – der Arbeitsagentur die Arbeitnehmerdaten vorgelegen hätten und die Anzeige eigentlich überflüssig gewesen sei. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut obliegt die Erfüllung der Anzeigepflicht dem Arbeitgeber. Gegen eine einschränkende Auslegung spricht zudem der Zweck der Anzeigepflicht. Durch die Anzeige soll die Agentur für Arbeit rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können (vgl. EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 47). Das setzt voraus, dass sie in einem strukturierten Verfahren vom Arbeitgeber die in § 17 Abs. 3 Satz 4 und Satz 5 KSchG verlangten, objektiv richtigen Angaben vor Zugang der Kündigung erhält (zum Zweck des Anzeigeverfahrens ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 71, 75, 81, 93 und 109) und diese Angaben nicht erst bei den für die Wohnsitze der Arbeitnehmer zuständigen Agenturen für Arbeit einfordern muss. Aus demselben Grund kann auch die Meldepflicht des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB III eine ordnungsgemäße Anzeige der geplanten Massenentlassungen nicht ersetzen.
134
dd) Die dargestellten Fehler im Anzeigeverfahren haben die Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB zur Folge (ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 97 ff.). Soweit der Beklagte zu 1. geltend macht, der Agentur für Arbeit Berlin Nord seien jedenfalls beim Kabinenpersonal als der letzten von den Massenentlassungen betroffenen Beschäftigtengruppe alle erforderlichen Angaben bekannt gewesen, so dass sie habe feststellen können, an welcher Station wie viele Arbeitnehmer betroffen gewesen seien, führt das zu keinem anderen Ergebnis. Der Beklagte zu 1. nimmt nicht zur Kenntnis, dass die erforderlichen, strukturiert aufbereiteten Angaben vor Zugang der Kündigung bei der örtlich zuständigen Arbeitsagentur nicht eingegangen waren, weil die unzuständige Agentur für Arbeit Berlin Nord sich zu Unrecht als zuständig angesehen und die eingereichte Anzeige entsprechend dem Erklärungswillen der Schuldnerin als Einzelanzeige und nicht als Sammelanzeige verstanden und behandelt hat (Rn. 126). Daher war dem Zweck der Massenentlassungsanzeige entgegen der Annahme des Beklagten zu 1. nicht genügt. Die aufgezeigten Fehler ziehen die Unwirksamkeit der Anzeige und damit der streitbefangenen Kündigung nach sich.
135
c) Schließlich hat die Schuldnerin gegen § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG verstoßen. Sie hat den Stand der Beratungen mit der PV Kabine nicht hinreichend dargelegt. Auch dieser Fehler in der Anzeige führt für sich genommen nach § 134 BGB zur Unwirksamkeit der Kündigung vom 27. Januar 2018 (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 21, 33, BAGE 157, 1).
136
aa) Nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG hat der Arbeitgeber, der nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verpflichtet ist, der Agentur für Arbeit Entlassungen anzuzeigen, seiner schriftlichen Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats „zu den Entlassungen“ beizufügen. Gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG ist die Massenentlassungsanzeige auch dann wirksam erfolgt, wenn zwar keine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats vorliegt, der Arbeitgeber aber glaubhaft macht, dass er das Gremium mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat, und er gleichzeitig den Stand der Beratungen darlegt. Nach dem Zweck des Anzeigeverfahrens (Rn. 133; dazu ausführlich BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 71, 75, 81, 93 und 109) muss durch die Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats oder – ersatzweise – die Darlegung des Beratungsstands die Durchführung und gegebenenfalls das Ergebnis des Konsultationsverfahrens dokumentiert werden. Die Arbeitsverwaltung soll beurteilen können, ob die Betriebsparteien auf der Grundlage ausreichender Informationen tatsächlich über die geplanten Massenentlassungen und insbesondere deren Vermeidung beraten haben (BAG 28. Juni 2012 – 6 AZR 780/10 – Rn. 53, BAGE 142, 202). Daneben soll sie Kenntnis von einer – eventuell dem Arbeitgeber ungünstigen – Sichtweise des Betriebsrats erlangen (BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 44, BAGE 144, 366; 21. März 2012 – 6 AZR 596/10 – Rn. 21 f.). Die Verpflichtung des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG, die keine unionsrechtliche Entsprechung hat (vgl. BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 53), soll es dem zuständigen Ausschuss ermöglichen, auf einfache Weise und ohne zeitliche Verzögerung festzustellen, ob die Anzeige wirksam ist. Außerdem soll er bei seiner Entscheidung eine etwaige Stellungnahme des Betriebsrats berücksichtigen können (BT-Drs. 8/1041 S. 5). Dementsprechend ist die Massenentlassungsanzeige unwirksam, wenn der Arbeitgeber ihr eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht beifügt (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG) bzw. er Darlegungen gemäß § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG unterlässt oder den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat in einer Weise irreführend darstellt, die geeignet ist, eine für ihn – den Arbeitgeber – günstige Entscheidung der Behörde zu erwirken (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 24, BAGE 157, 1).
137
bb) Die Massenentlassungsanzeige der Schuldnerin genügte weder den Anforderungen des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG noch denen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG. Eine abschließende Stellungnahme der PV Kabine konnte die Schuldnerin ihrer Anzeige nicht beifügen, da die Arbeitnehmervertretung eine solche nicht abgegeben hatte. Auch die Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG lagen nicht vor.
138
(1) Die Schuldnerin hat im Formularblatt zur Massenentlassungsanzeige vom 12. Januar 2018 zum Stand der Beratungen auf ihr Begleitschreiben vom gleichen Tag verwiesen. In diesem Begleitschreiben hat die Schuldnerin unter Ziff. 6 im Wesentlichen unter Wiederholung des Gesetzestextes lediglich ausgeführt, dass die Betriebsparteien ausführlich die vorzunehmenden Entlassungen erörtert, beraten und insbesondere Möglichkeiten der Vermeidung eines Arbeitsplatzverlustes überlegt haben. Diese bloß formelhafte Wiedergabe des Gesetzestextes stellte keine hinreichende Darlegung des Beratungsstands dar.
139
(a) Zwar ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, sämtliche Einzelheiten der Beratungen mit dem Betriebsrat zu schildern. Um dem Zweck des § 17 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 KSchG zu genügen – Dokumentation der Durchführung und gegebenenfalls des Ergebnisses des Konsultationsverfahrens – hätte die Schuldnerin aber insbesondere angeben müssen, dass, wann und mit welchen Argumenten die PV Kabine weitere Verhandlungen abgelehnt hat. Sie hätte ferner angeben müssen, dass, wann und wie sie das Konsultationsverfahren für gescheitert erklärt hat. Indem sie dies nicht getan hat, hat sie den Stand der Beratungen unzureichend dargelegt. Die Arbeitsagentur konnte damit nicht zutreffend beurteilen, ob die Betriebsparteien auf der Grundlage ausreichender Informationen tatsächlich über die geplanten Massenentlassungen und insbesondere deren Vermeidung beraten haben. Ebenso wenig konnte sie prüfen, ob das Konsultationsverfahren vor der Anzeige beendet worden war und die Anzeige darum überhaupt wirksam sein konnte.
140
(b) Eine solche Darlegung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Schuldnerin im Begleitschreiben in Ziff. 4 und Ziff. 5 ausgeführt hatte, es sei versucht worden, mit der PV Kabine einen Interessenausgleich und Sozialplan abzuschließen, daneben hätten Konsultationsverhandlungen nach § 17 Abs. 2 KSchG stattgefunden. Sie habe die Einsetzung einer Einigungsstelle beantragt, die sich dann in der Sitzung vom 10. Januar 2018 für unzuständig erklärt habe. Das Interessenausgleichsverfahren steht selbstständig neben dem Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG. Beide Verfahren können zwar miteinander verbunden werden (vgl. BAG 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 42; 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 21, BAGE 155, 245; 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 17, BAGE 151, 83; 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 47, BAGE 143, 150; 18. Januar 2012 – 6 AZR 407/10 – Rn. 34, BAGE 140, 261). Eine solche Verbindung ergab sich für die Arbeitsagentur aus dem Begleitschreiben durch die Darstellung der Versuche, einen Interessenausgleich herbeizuführen, aber nicht mit hinreichender Deutlichkeit, wenn lediglich formuliert war, dass „daneben“ Konsultationsverhandlungen stattgefunden hätten.
141
Entgegen der im Termin vor dem Senat vertretenen Ansicht des Beklagten zu 1. ließ sich die Verbindung von Konsultationsverfahren und Interessenausgleichsverhandlungen auch nicht aus dem dem Begleitschreiben zur Anzeige beigefügten Schreiben an die PV Kabine vom 12. Oktober 2017, mit dem das Konsultationsverfahren eingeleitet worden war, entnehmen. Dort war im Zusammenhang mit dem Hinweis, dass eine Kopie entsprechend § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG der Agentur für Arbeit zugeleitet werde, nur angemerkt, dass für den Fall des Abschlusses eines Interessenausgleichs beabsichtigt sei, diesen als Stellungnahme des Betriebsrats der Agentur zuzuleiten. Diesen Satz konnte und musste die Agentur für Arbeit nur als Bezug auf § 125 Abs. 2 InsO bzw. § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG verstehen, also auf die Möglichkeit, eine förmliche Stellungnahme des Betriebsrats durch die Zusendung eines möglicherweise noch abzuschließenden Interessenausgleichs zu ersetzen. Die Aussagen dieser Passage des Begleitschreibens bezogen sich damit offenkundig ausschließlich auf die Verpflichtungen der Schuldnerin aus § 17 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 KSchG im Anzeigeverfahren, nicht aber auf eine bereits erfolgte oder auch nur bereits beschlossene Verbindung von Konsultations- und Interessenausgleichsverfahren.
142
(2) Eine solche Anforderung an die Darlegung des Beratungsstands führt nicht dazu, dass der Betriebsrat die Erstattung der Massenentlassungsanzeige und damit die Durchführung der beabsichtigten Entlassungen durch eine reine Verzögerungstaktik wirksam hinausschieben kann. Insoweit ist zwischen dem Konsultations- und dem Anzeigeverfahren zu trennen.
143
(a) Im Rahmen des Konsultationsverfahrens ist es Sache des Arbeitgebers zu beurteilen, wann er den Betriebsrat für ausreichend unterrichtet hält und damit seine Verpflichtungen als erfüllt ansieht. Insoweit obliegt es zunächst dem Arbeitgeber zu entscheiden, ob er gestellte Fragen beantwortet oder geforderte Informationen nachreicht. Er kann das ablehnen, wenn er die dahinterstehenden Überlegungen des Betriebsrats nach Abwägung mit seinen eigenen Vorstellungen für nicht zielführend hält oder wenn sich der Betriebsrat nicht auf Grundbedingungen einlässt, die der Arbeitgeber im Rahmen seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit zur Grundlage der Beratung gemacht hat/mit denen er in die Beratung gegangen ist. Bei der gerichtlichen Kontrolle der Zweckdienlichkeit der erteilten Auskünfte sind diese Vorstellungen bzw. Bedingungen des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Diesem kommt insoweit eine Beurteilungskompetenz zu, wann er den Beratungsanspruch des Betriebsrats als erfüllt ansieht (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 50, 53, BAGE 157, 1).
144
(b) In der Massenentlassungsanzeige hat der Arbeitgeber aber den Stand der Beratungen ausgehend von dem tatsächlichen Ablauf des Konsultationsverfahrens darzulegen. Dabei hat er zusammenfassend auch anzugeben, ob der Betriebsrat seinen Konsultationsanspruch als ausreichend erfüllt angesehen hat oder nicht und ob das Verfahren vom Arbeitgeber abgebrochen worden ist, weil er aus seiner Sicht den Betriebsrat ausreichend informiert hat. Stellt sich der Betriebsrat – zu Recht oder zu Unrecht – auf den Standpunkt, dass er wegen unzureichender Informationen nicht beraten könne, so entspricht das dem in der Massenentlassungsanzeige anzugebenden Beratungsstand.
145
(3) Ausgehend von diesen gesetzlichen Vorgaben war es für das Anzeigeverfahren irrelevant, ob das Auskunftsverlangen der PV Kabine aus Sicht der Schuldnerin berechtigt war und ob das Gremium die betreffenden Informationen tatsächlich beanspruchen durfte. Daher ist auch der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Dezember 2017 – 6 TaBVGa 1484/17 -, wonach die PV Kabine nach Einsichtnahme in den Datenraum weitere Informationen von der Schuldnerin nicht beanspruchen könne, ohne Belang. Es widerspräche dem Gesetzeszweck, dem Arbeitgeber das Recht zuzubilligen, vorweg zu bewerten, ob eine Äußerung der Arbeitnehmervertretung für die Prüfung der Arbeitsverwaltung relevant ist. Zudem bleibt es regelmäßig – so auch hier – Spekulation, ob die Agentur für Arbeit in Kenntnis der Sichtweise der PV Kabine andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen eingeleitet hätte. Die Interessen des Arbeitgebers sind dadurch ausreichend gewahrt, dass er der Arbeitsverwaltung seine gegenteilige Rechtsauffassung mitteilen kann (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 32, BAGE 157, 1).
146
d) Die Fehler im Anzeigeverfahren sind nicht dadurch geheilt worden bzw. der gerichtlichen Kontrolle entzogen, dass die Agentur für Arbeit diese nicht – insbesondere nicht in dem Schreiben vom 12. Januar 2018 – beanstandet hat (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 111). Aus den in dieser Entscheidung genannten Gründen wäre es auch unerheblich, wenn die Schuldnerin Art, Inhalt und Umfang der Massenentlassungsanzeige mit dem Mitarbeiter des Büros der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Berlin Nord unter Einbeziehung der Anzeigen für das Boden- und Cockpitpersonal abgesprochen haben sollte, sofern der Senat das diesbezügliche Vorbringen des Beklagten zu 1. in der Revisionsinstanz nicht ohnehin gemäß § 559 Abs. 1 ZPO außer Betracht zu lassen hätte.
147
e) Die Annahme des Beklagten zu 1., er habe darauf vertrauen dürfen, dass der Senat im Bereich des Massenentlassungsrechts am Betriebsbegriff der §§ 1, 4 BetrVG festhält, führt nicht zur Wirksamkeit der erstatteten Anzeige. Insoweit ist kein Vertrauensschutz zu gewähren.
148
aa) Der Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts ist unionsrechtlich zu bestimmen. Die Gewährung von Vertrauensschutz im Anwendungsbereich des Unionsrechts obläge darum nicht den nationalen Gerichten, sondern allein dem Gerichtshof (BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 27 f.).
149
bb) Darüber hinaus hat der Senat bereits in Entscheidungen aus den Jahren 2012 und 2013 deutlich gemacht, dass der nationale Betriebsbegriff im Bereich des Massenentlassungsrechts nicht allein maßgeblich, sondern das unionsrechtliche Begriffsverständnis, wie es der Gerichtshof entwickelt hat, zu berücksichtigen ist (vgl. beispielhaft BAG 25. April 2013 – 6 AZR 49/12 – Rn. 151; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 85). In seiner Entscheidung vom 26. Januar 2017 hat der Senat (- 6 AZR 442/16 – Rn. 21, 31, BAGE 158, 104) sodann als maßgeblich allein die Betriebsdefinition des Gerichtshofs herangezogen, auf die Bindung der Mitgliedstaaten an die unter Zugrundelegung der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung maßgebliche Betriebsdefinition der MERL hingewiesen und das nationale Betriebsverständnis nur noch unterstützend herangezogen. Das ausschließliche Abstellen auf den vom Gerichtshof autonom definierten Betriebsbegriff der MERL hält sich daher im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung (BVerfG 18. Oktober 2012 – 1 BvR 2366/11 – Rn. 15; 16. Mai 2011 – 2 BvR 1230/10 – Rn. 15; vgl. auch BAG 28. Mai 2014 – 5 AZR 422/12 – Rn. 18; 19. Juni 2012 – 9 AZR 652/10 – Rn. 27, BAGE 142, 64). Daher konnte der Beklagte zu 1. im Januar 2018 nicht darauf vertrauen, dass das Bundesarbeitsgericht im Bereich des Massenentlassungsrechts am Betriebsbegriff der §§ 1, 4 BetrVG festhalten würde.
150
cc) Auch der Hinweis des Beklagten zu 1., der Gesetzgeber habe jedenfalls für den Massenentlassungsschutz der Luftverkehrsbetriebe am Betriebsbegriff des § 24 Abs. 2 KSchG festgehalten, rechtfertigt die reklamierte Vertrauensschutzgewährung nicht. Dieser Betriebsbegriff beansprucht auch nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers für das im Dritten Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes geregelte Recht der Massenentlassung keine Geltung (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 56 ff.).
151
IV. Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedurfte es nicht.
152
Die durch den Fall aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragestellungen zu den Anforderungen an einen Betriebs(teil)übergang und zum Betriebsbegriff der MERL sind durch die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt. Vernünftige Zweifel daran bestehen nicht (EuGH 4. Oktober 2018 – C-416/17 – [Kommission/Frankreich] Rn. 110; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38 ff.; grundlegend EuGH 6. Oktober 1982 – 283/81 – [Cilfit] Rn. 21; siehe auch BVerfG 9. Mai 2018 – 2 BvR 37/18 – Rn. 24 mwN). Da die Fehlerhaftigkeit des Anzeigeverfahrens auch aus der Verletzung der nur im nationalen Recht bestehenden Verpflichtung aus § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG folgt, fehlte es einem Vorabentscheidungsersuchen zur Klärung möglicher Vorlagefragen im Zusammenhang mit dem Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts, wie sie der Beklagte zu 1. zur Anregung einer solchen Vorlage formuliert hat, zudem an der erforderlichen Entscheidungserheblichkeit. Soweit der Beklagte zu 1. auf (vermeintliche) Unklarheiten bei der Umsetzung des Betriebsbegriffs im nationalen Recht hinweist, betreffen diese Unklarheiten nicht die Auslegung des Unionsrechts und damit nicht die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Sie fallen allein in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte.
153
V. Die Kosten waren nach §§ 91, 97 Abs. 1, §§ 100, 269 Abs. 3 Satz 2, § 565 Satz 1 ZPO zu verteilen.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
Sieberts
Uwe Zabel |
bag_16-18 | 21.03.2018 | 21.03.2018
16/18 - Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen im Baugewerbe
Die Allgemeinverbindlicherklärungen vom 6. Juli 2015 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV), des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe (BRTV), des Tarifvertrags über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV) und des Tarifvertrags über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe (TZA Bau) sind rechtswirksam. Die nach § 5 TVG* geforderten Voraussetzungen waren erfüllt; insbesondere bestand ein öffentliches Interesse an den Allgemeinverbindlicherklärungen.
Auf Antrag der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 6. Juli 2015 nach § 5 TVG den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 idF vom 10. Dezember 2014, den Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV) vom 4. Juli 2002 idF vom 10. Dezember 2014, den Tarifvertrag über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV) vom 10. Dezember 2014 und den Tarifvertrag über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe (TZA Bau) vom 5. Juni 2014 idF vom 10. Dezember 2014 mit bereits im Antrag enthaltenen Einschränkungen bezüglich des betrieblichen Geltungsbereichs („Große Einschränkungsklausel“) für allgemeinverbindlich erklärt (AVE VTV 2015, AVE BRTV 2015, AVE BBTV 2015 und AVE TZA Bau 2015).
Die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge regeln das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV), die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV), die zusätzliche Altersrente im Baugewerbe (TZA Bau) und die Rahmenbedingungen der Beschäftigung im Baugewerbe (BRTV). Bei den Sozialkassen des Baugewerbes (SOKA-BAU) handelt es sich um gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes (Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt – IG BAU -, Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e. V. – HDB – und Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e. V. – ZDB -). Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse erbringt Leistungen im Urlaubs- und Berufsbildungsverfahren, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes zusätzliche Altersversorgungsleistungen. Zur Finanzierung dieser Leistungen werden nach Maßgabe des VTV Beiträge von den Arbeitgebern erhoben. Durch die AVE gelten die Tarifverträge nicht nur für die tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien, sondern auch für alle anderen Arbeitgeber der Branche. Sie sind verpflichtet, die tariflichen Arbeitsbedingungen einzuhalten und Beiträge an die Sozialkassen zu leisten. Sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer erhalten Leistungen von den Sozialkassen.
Bei den Antragstellern handelt es sich um Arbeitgeber, die nicht Mitglied einer tarifvertragsschließenden Arbeitgebervereinigung sind und deshalb nur auf Grundlage der Allgemeinverbindlicherklärungen zu Beitragszahlungen herangezogen wurden. Sie haben die Auffassung vertreten, § 5 TVG in der seit dem 16. August 2014 geltenden Fassung sei verfassungswidrig. Die Tarifverträge seien mangels Tariffähigkeit und/oder Tarifzuständigkeit der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes unwirksam. Im Übrigen hätten die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der Allgemeinverbindlicherklärungen nicht vorgelegen; insbesondere habe kein öffentliches Interesse an den Allgemeinverbindlicherklärungen bestanden. Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge zurückgewiesen und festgestellt, dass die angegriffenen Allgemeinverbindlicherklärungen wirksam sind.
Die vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden hatten vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die angegriffenen Allgemeinverbindlicherklärungen vom 6. Juli 2015 des VTV, des BRTV, des BBTV (soweit über diese eine Entscheidung erging) und des TZA Bau sind wirksam. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 5 TVG neuer Fassung hat der Senat nicht. Dies gilt auch hinsichtlich der Bestimmung über die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (§ 5 Abs. 1a TVG). Vernünftige Zweifel an der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes bestanden nicht. Das BMAS durfte annehmen, dass der Erlass der angegriffenen Allgemeinverbindlicherklärungen im öffentlichen Interesse geboten erschien.
Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 21. März 2018 – 10 ABR 62/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 21. Juli 2016 – 14 BVL 5007/15, 14 BVL 5003/16, 14 BVL 5004/16, 14 BVL 5005/16 –
*§ 5 TVG in der seit dem 16. August 2014 geltenden Fassung lautet auszugsweise:
(1) 1Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. 2Die Allgemeinverbindlicherklärung erscheint in der Regel im öffentlichen Interesse geboten, wenn
1. der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder
2. die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt.
(1a) 1Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn der Tarifvertrag die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung mit folgenden Gegenständen regelt:
1. den Erholungsurlaub, ein Urlaubsgeld oder ein zusätzliches Urlaubsgeld,
2. eine betriebliche Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes,
3. die Vergütung der Auszubildenden oder die Ausbildung in überbetrieblichen Bildungsstätten,
4. eine zusätzliche betriebliche oder überbetriebliche Vermögensbildung der Arbeitnehmer,
5. Lohnausgleich bei Arbeitszeitausfall, Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitszeitverlängerung.
2Der Tarifvertrag kann alle mit dem Beitragseinzug und der Leistungsgewährung in Zusammenhang stehenden Rechte und Pflichten einschließlich der dem Verfahren zugrunde liegenden Ansprüche der Arbeitnehmer und Pflichten der Arbeitgeber regeln. 3§ 7 Absatz 2 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes findet entsprechende Anwendung. | Tenor
1. Die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 59., 60. und 61. gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Juli 2016 – 14 BVL 5007/15, 14 BVL 5003/16, 14 BVL 5004/16, 14 BVL 5005/16 – werden als unzulässig verworfen.
2. Die Rechtsbeschwerden der übrigen Beteiligten gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Juli 2016 – 14 BVL 5007/15, 14 BVL 5003/16, 14 BVL 5004/16, 14 BVL 5005/16 – werden zurückgewiesen.
3. Die Beschlussformel des Beschlusses des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Juli 2016 – 14 BVL 5007/15, 14 BVL 5003/16, 14 BVL 5004/16, 14 BVL 5005/16 – wird zur Klarstellung hinsichtlich der Ziffern I. bis IV. wie folgt neu gefasst:
I. Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 6. Juli 2015 (BAnz. AT 14. Juli 2015 B3) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 in der Fassung des letzten Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014 wirksam ist.
II. Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 6. Juli 2015 (BAnz. AT 14. Juli 2015 B1) des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe für Arbeiter (BRTV) einschließlich Anhang (Einstellungsbogen) vom 4. Juli 2002 in der Fassung des letzten Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014 wirksam ist.
III. Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 6. Juli 2015 (BAnz. AT 14. Juli 2015 B2) des Tarifvertrags über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV) vom 10. Dezember 2014 – ohne die Allgemeinverbindlicherklärung der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV – wirksam ist.
IV. Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 6. Juli 2015 (BAnz. AT 14. Juli 2015 B4) des Tarifvertrags über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe (TZA Bau) vom 5. Juni 2014 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014 wirksam ist.
Leitsatz
1. Einzige materielle Voraussetzung für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1 TVG ist, dass diese im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Dabei wird der Grundtatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG durch die Regelbeispiele in Satz 2 konkretisiert. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt, wird das Bestehen eines öffentlichen Interesses gesetzlich vermutet. In einem solchen Fall müssen besondere Umstände oder gewichtige entgegenstehende Interessen vorliegen, um ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung zu verneinen.
2. Nach § 5 Abs. 1a TVG kann nur ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung für allgemeinverbindlich erklärt werden und die besondere Rechtswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG auslösen. Auch die Allgemeinverbindlicherklärung eines solchen Tarifvertrags verlangt – neben dem Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung – das Bestehen eines öffentlichen Interesses. Dieses kann nur verneint werden, wenn besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen gegen den Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung sprechen.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von vier Tarifverträgen (BAnz. AT 14. Juli 2015 B1 bis B4). Verfahrensgegenstände sind die Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) vom 6. Juli 2015 des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe für Arbeiter (BRTV) einschließlich Anhang (Einstellungsbogen) vom 4. Juli 2002 idF des letzten Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014 (AVE BRTV 2015), des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 idF des letzten Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014 (AVE VTV 2015), des Tarifvertrags über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV) vom 10. Dezember 2014 (AVE BBTV 2015) und des Tarifvertrags über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe (TZA Bau) vom 5. Juni 2014 idF des Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014 (AVE TZA Bau 2015).
2
Die Tarifverträge wurden auf Arbeitgeberseite von den Beteiligten zu 15. und 16., dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e. V. (ZDB) und dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e. V. (HDB), jeweils mit der Beteiligten zu 17., der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), abgeschlossen.
3
Der BRTV regelt wesentliche Arbeitsbedingungen im Baugewerbe, darunter auch die materiellen Urlaubsregelungen im Rahmen des Urlaubskassenverfahrens. Entgelttarifverträge werden gesondert vereinbart. Der BBTV regelt die materiellen Ausbildungsbedingungen und das Verfahren über die Erstattung von Ausbildungsvergütungen und überbetrieblichen Ausbildungskosten sowie die Finanzierung dieses Verfahrens. Im TZA Bau sind zusätzliche Altersversorgungsleistungen und deren Finanzierung über die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes (ZVK Bau) geregelt. Die ZVK Bau ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien. Der VTV regelt die Durchführung des in den vorgenannten Tarifverträgen festgelegten Urlaubskassenverfahrens, der zusätzlichen Altersversorgung und der Berufsbildung im Baugewerbe.
4
Der Beteiligte zu 14. ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK), eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit Rechtsfähigkeit kraft staatlicher Verleihung. Er ist die gemeinsame Einzugsstelle für die tariflich festgelegten Beiträge im Urlaubskassen- und Berufsbildungsverfahren und die Beiträge zu der ZVK Bau sowie den regionalen Kassen in Bayern und Berlin.
5
Mit Schreiben vom 10. Dezember 2014 beantragte der HDB, zugleich namens und in Vollmacht des ZDB und der IG BAU, beim Beteiligten zu 13., dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), die Allgemeinverbindlicherklärung des BRTV, des VTV und des BBTV mit Wirkung zum 1. Januar 2015 und des TZA Bau mit Wirkung zum 1. Januar 2016. Die AVE sollte nach dem Antrag mit den in der sog. Großen Einschränkungsklausel (BAnz. AT 4. November 2013 B2 in der berichtigten Fassung vom 13. März 2014 BAnz. AT 14. März 2014 B2) enthaltenen Beschränkungen erfolgen. Der Antrag war hinsichtlich sämtlicher Tarifverträge auf § 5 Abs. 1a TVG gestützt, hilfsweise auf § 5 Abs. 1 TVG.
6
Der Antrag wurde den obersten Arbeitsbehörden der Länder zur Stellungnahme übermittelt und ebenso wie der Termin für die Verhandlung des Tarifausschusses im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Am 7. Mai 2015 tagte der Tarifausschuss und befürwortete die beantragten AVE.
7
In vier Prüfvermerken vom 11. Juni 2015 gelangte das BMAS zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für den Ausspruch der beantragten AVE vorlägen. Dabei wurde als Rechtsgrundlage für die AVE des BRTV und einiger Vorschriften des BBTV § 5 Abs. 1 TVG angenommen, für die AVE des VTV, des TZA Bau und des überwiegenden Teils des BBTV § 5 Abs. 1a TVG. Mit Vermerk vom 1. Juli 2015 wurden die AVE-Bekanntmachungen der damaligen Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles vorgelegt. Der Vermerk wurde von ihr gegengezeichnet, die AVE-Bekanntmachungen von ihr unterzeichnet. Die Bekanntmachungen wurden im Folgenden im Bundesanzeiger veröffentlicht.
8
Bei den Beteiligten zu 1., 3. bis 12., 18. bis 26., 39. bis 48., 50., 54. und 56. handelt es sich um natürliche oder juristische Personen, die im maßgeblichen Zeitraum in der Bauwirtschaft tätig waren und keine gewerblichen Arbeitnehmer beschäftigt haben (sog. Solo-Selbständige). Diese Beteiligten wurden von der ULAK erstmals im Jahr 2015 gemäß § 17 VTV zur Zahlung eines Mindestbeitrags für das Berufsbildungsverfahren herangezogen. Zwischenzeitlich erhebt die ULAK von Betrieben ohne Beschäftigte keine Beiträge mehr auf Grundlage der streitgegenständlichen AVE und zahlt geleistete Beiträge zurück. Die Beteiligten zu 27., 28., 34. und 38. beschäftigten gewerbliche Arbeitnehmer und streiten mit der ULAK vor Gericht darüber, ob in ihren Betrieben überwiegend Tätigkeiten verrichtet werden, die dem Geltungsbereich des VTV unterfallen. Der Beteiligte zu 36. unterhält einen Fassadenbaubetrieb und wendet sich ebenfalls dagegen, Beiträge zu zahlen. Die Beteiligten zu 59. bis 61. werden ebenfalls von der ULAK in Anspruch genommen bzw. streiten über die Rückzahlung geleisteter Beiträge. Keiner dieser Beteiligten war im maßgeblichen Zeitraum Mitglied in einem der tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverbände.
9
Die Beteiligten zu 1., 3. bis 12., 18. bis 26., 39. bis 44. und 61. haben die Auffassung vertreten, der Staat habe mit der Neufassung des § 5 TVG seine Normsetzungsbefugnis außerstaatlichen Stellen überlassen und die Antragsteller über die AVE schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausgeliefert, die ihnen gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich legitimiert seien. Damit sei der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Rahmen verlassen worden. Der VTV sei unwirksam, weil die Beteiligten zu 15. bis 17. nicht tariffähig seien. Die AVE des VTV sei nicht im öffentlichen Interesse geboten gewesen. Eine vom Gesetz geforderte Prüfung der Repräsentativität des VTV habe nicht stattgefunden; eine bei verfassungskonformer Auslegung erforderliche überwiegende Bedeutung habe nicht bestanden. Hinsichtlich der Betriebe, die keine gewerblichen Arbeitnehmer beschäftigten, fehle es schon an einer Tarifmacht der Tarifvertragsparteien. Im Übrigen seien die Kartellgerichte allein zuständig.
10
Die Beteiligten zu 27., 28., 34., 36., 38., 45. bis 48., 50., 54. und 56. haben die Auffassung vertreten, die AVE seien bereits deshalb rechtswidrig, weil § 5 Abs. 1, Abs. 1a und Abs. 4 Satz 2 TVG verfassungswidrig seien und gegen Unionsrecht verstießen. Auch die Verordnung zur Durchführung des TVG sei wegen der Verfassungswidrigkeit von § 11 TVG unwirksam. § 11 TVG stehe nicht im Einklang mit Art. 80 Abs. 1 GG. Bei der Neuregelung des § 5 Abs. 1a TVG handle es sich um eine „lex SOKA“, die in den Kern der Grundrechte der Antragsteller aus Art. 9 Abs. 3 und Art. 12 Abs. 1 GG eingreife. Durch die Änderung des § 5 Abs. 1a iVm. Abs. 4 Satz 2 TVG sei die wesentliche Prämisse des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3 GG auf die jetzige Regelung nicht (mehr) übertragbar. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf die Verdrängungswirkung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG. Im Übrigen seien die tarifschließenden Arbeitgeberverbände nicht tarifzuständig. Davon gehen auch die Beteiligten zu 59. und 60. aus. Die AVE seien materiell rechtswidrig, da insgesamt ein Ermessensausfall vorliege. Das BMAS habe die der AVE entgegenstehenden Interessen in keiner Weise ermittelt. Der VTV sei kein Tarifvertrag iSd. § 5 Abs. 1a TVG, die in Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 5 der Vorschrift aufgeführten Regelungsgegenstände müssten kumulativ erfüllt sein. Hinsichtlich der Betriebe, die keine gewerblichen Arbeitnehmer beschäftigten, fehle es schon an einer Tarifmacht der Tarifvertragsparteien. Die AVE des BBTV sei unwirksam, weil das BMAS einzelne Normen auf Grundlage von § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt habe, während dies für die übrigen Vorschriften des BBTV nach § 5 Abs. 1a TVG geschehen sei. Eine solche Vorgehensweise widerspreche dem klaren Wortlaut des § 5 TVG. Im Rahmen des Verfahrens nach § 98 ArbGG sei neben der Wirksamkeit der AVE auch die Wirksamkeit der Normen der einzelnen Tarifverträge zu prüfen. Unwirksam seien § 31 BBTV, § 4 Abs. 4 und § 17 VTV, die gegen § 3 Abs. 2 TVG, gegen Art. 12 Abs. 1 und gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstießen. Auch die Zinsregelungen des § 20 VTV und die Verjährungsregelungen des § 21 VTV seien unwirksam.
11
Die Beteiligten zu 1., 3. bis 12., 18. bis 26., 39. bis 44. und 59. bis 61. haben zuletzt beantragt
festzustellen, dass die am 6. Juli 2015 verkündete Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 idF der Änderungstarifverträge vom 3. Dezember 2013 und 10. Dezember 2014 unwirksam ist.
12
Die Beteiligten zu 27., 28., 34., 36., 38., 45. bis 48., 50., 54. und 56. haben beantragt
festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung folgender Tarifverträge im Baugewerbe:
a)
Bundesrahmentarifvertrag für Arbeiter einschließlich Anhang vom 4. Juli 2002 idF des Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014,
b)
Tarifvertrag vom 10. Dezember 2014 über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV),
c)
Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 idF der Änderungstarifverträge vom 3. Dezember 2013 und 10. Dezember 2014,
d)
Tarifvertrag über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe (TZA Bau) vom 5. Juni 2014 idF des Änderungstarifvertrags vom 10. Dezember 2014
gemäß der Bekanntmachung vom 6. Juli 2015 mit Wirkung zum 1. Januar 2015 bzw. 1. Januar 2016 (BAnz. AT 14. Juli 2015 B1 bis B4) unwirksam ist.
13
Der Beteiligte zu 14. hat beantragt
festzustellen, dass die vom Beteiligten zu 13. im Bundesanzeiger AT vom 14. Juli 2015 bekannt gemachte Allgemeinverbindlicherklärung vom 6. Juli 2015 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 idF vom 3. Dezember 2013 und 10. Dezember 2014 wirksam ist.
14
Die Beteiligten zu 13. bis 17. haben gemeint, die Neufassung des § 5 TVG sei verfassungsgemäß, die Tarifverträge und deren AVE rechtswirksam.
15
Das BMAS hat die Ansicht vertreten, mangels Feststellungs- bzw. Rechtsschutzinteresses seien die Rechtsbeschwerden bereits unzulässig. Auf Grundlage des Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 16. Mai 2017 (SokaSiG, BGBl. I S. 1210) bestehe eine Zahlungspflicht der Antragsteller unabhängig vom Ausgang dieses Verfahrens. Im Übrigen seien die AVE wirksam. Der VTV sei ein Anwendungsfall des § 5 Abs. 1a TVG. Die Regelungen des VTV seien auf Allgemeinverbindlichkeit angelegt und ohne diese nicht handhabbar. Auch die Heranziehung von Solo-Selbständigen nach § 17 VTV liege innerhalb der Schranken der Tarifmacht der Tarifvertragsparteien bei gemeinsamen Einrichtungen gemäß § 4 Abs. 2 TVG. Unabhängig hiervon hätten die gerügten Mängel keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der AVE; § 139 BGB finde keine Anwendung. Hinsichtlich aller für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge habe ein öffentliches Interesse an der AVE bestanden.
16
Der ZDB hat die Auffassung vertreten, bei ihm handle es sich um eine tariffähige Spitzenorganisation, zu deren satzungsgemäßen Aufgaben der Abschluss von Tarifverträgen im eigenen Namen für alle Betriebe des Baugewerbes gehöre. Alle Mitgliedsverbände seien tarifwillig; in Bayern sei der Abschluss von Tarifverträgen satzungsgemäß vom Landesverband Bayerischer Bauinnungen (LBB) auf den Verband baugewerblicher Unternehmer Bayerns e. V. (VbUB) übertragen worden, der ebenfalls Mitglied bei ihm sei. Im Übrigen sei die Rechtsprechung hinsichtlich der Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen auf Arbeitnehmerseite nicht auf Arbeitgeberverbände übertragbar.
17
Der HDB hat die Ansicht vertreten, als Wirtschafts- und Arbeitgeberspitzenverband und Zusammenschluss der bauindustriellen Landesverbände habe er das satzungsgemäße Recht, Tarifverträge abzuschließen, soweit es sich um überregionale Rahmenregelungen handle. Solche Tarifverträge seien hier für allgemeinverbindlich erklärt worden.
18
HDB, ZDB, IG BAU und ULAK haben übereinstimmend die Auffassung vertreten, die AVE des VTV sei zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Sozialkassen der Bauwirtschaft notwendig. Diese könnten ihre Aufgaben nur erfüllen und die damit verfolgten sozialpolitischen Ziele erreichen, wenn alle Baubetriebe unabhängig von ihrer Verbandszugehörigkeit verpflichtet würden, die zur Finanzierung benötigten Sozialkassenbeiträge abzuführen. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtungen sei die einzige materiell-rechtliche Voraussetzung für die AVE von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Abs. 1a TVG. Klein- und Kleinstbetriebe in der nach wie vor von großer Arbeitnehmerfluktuation geprägten Bauwirtschaft seien allein nicht in der Lage, solche Leistungen zu erbringen; ein branchenbezogener Anspruchserwerb sei erforderlich. So würden zB Baubetriebe, die nicht ausbildeten, über das Berufsbildungsverfahren des BBTV an der Ausbildung von Fachkräften beteiligt. Damit werde nicht nur der Fachkräftebedarf gesichert, sondern auch dem Umstand Rechnung getragen, dass gerade diese Betriebe zu einem späteren Zeitpunkt ausgebildete Fachkräfte einstellen bzw. anwerben könnten. Sobald ein Baubetrieb ausbilde, habe er Anspruch auf die umfänglichen Erstattungsleistungen nach dem BBTV. Ein solcher Erstattungsanspruch könne nur gesichert werden, wenn alle Baubetriebe sich an der Finanzierung beteiligten, unabhängig davon, ob sie selber ausbildeten.
19
Die ULAK hat darüber hinaus die Auffassung vertreten, Grundlage für die AVE sämtlicher Tarifverträge könne § 5 Abs. 1a TVG sein, so dass es nicht darauf ankomme, ob die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG gegeben seien.
20
Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge aller damaligen Antragsteller auf Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der AVE 2015 des BRTV, des VTV, des BBTV und des TZA Bau zurückgewiesen und zugleich festgestellt, dass die AVE dieser Tarifverträge wirksam sind. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragsteller ihre ursprünglichen Begehren weiter, soweit sie Rechtsbeschwerde eingelegt und diese nicht im Lauf des Rechtsbeschwerdeverfahrens zurückgenommen haben. Drei Beteiligte streben erstmals im Rechtsbeschwerdeverfahren die Feststellung der Unwirksamkeit der AVE VTV 2015 an.
21
B. Die Rechtsbeschwerden sind – mit Ausnahme der Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 59. bis 61. – zulässig (B I). Die Antragsteller verfügen allerdings nur teilweise über eine Antragsbefugnis bzw. noch über ein Interesse an der begehrten Feststellung (B II). Soweit dies hinsichtlich der Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. der Fall ist, sind deren Rechtsbeschwerden unbegründet. Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts, die AVE BRTV 2015, die AVE VTV 2015, die AVE BBTV 2015 und die AVE TZA Bau 2015 seien formell und materiell wirksam, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Lediglich hinsichtlich der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV ist eine Klarstellung vorzunehmen, weil über diese mangels antragsbefugter Beteiligter keine Sachentscheidung ergehen durfte. Die Überprüfung der AVE erfolgt im Beschlussverfahren, in dem der Amtsermittlungsgrundsatz gilt (B III). Die AVE verstoßen nicht gegen die EMRK, an den Gerichtshof der Europäischen Union ist kein Vorabentscheidungsersuchen zur Klärung der Vereinbarkeit der AVE mit Unionsrecht zu richten (B IV). Die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge sind nicht insgesamt unwirksam, eine Aussetzung nach § 97 Abs. 5 ArbGG kommt nicht in Betracht (B V). Die AVE sind von einer hinreichenden demokratischen Legitimation getragen (B VI). Verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften wurden bei ihrem Erlass nicht verletzt (B VII). Die nach § 5 Abs. 1 TVG ausgesprochene AVE BRTV 2015 vom 6. Juli 2015 ist rechtswirksam. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 5 Abs. 1 TVG nF bestehen nicht (B VIII). Gleiches gilt für § 5 Abs. 1a TVG und die auf dieser Grundlage ausgesprochene AVE VTV 2015 vom 6. Juli 2015 (B IX). Auch die ebenfalls am 6. Juli 2015 ergangenen AVE BBTV 2015 – ohne die AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV – (B X) und die AVE TZA Bau 2015 (B XI) sind rechtswirksam.
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I. Die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 59. bis 61. sind mangels Beschwerdebefugnis unzulässig und deshalb gemäß § 98 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 2, § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 552 Abs. 1 ZPO zu verwerfen. Eine erstmalige Beteiligung im Rechtsbeschwerdeverfahren kommt im Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG nicht in Betracht.
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1. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist und mit seinem Rechtsmittel gerade die Beseitigung dieser Beschwer begehrt. Die Rechtsmittelbefugnis im Beschlussverfahren folgt der Beteiligungsbefugnis. Deshalb ist nur rechtsbeschwerdebefugt, wer nach § 83 Abs. 3 ArbGG am Verfahren beteiligt ist (BAG 5. Dezember 2007 – 7 ABR 72/06 – Rn. 17, BAGE 125, 100). Die Beteiligungsbefugnis hängt nicht von der Beteiligung durch die Vorinstanzen ab. Beteiligungs- und damit rechtsmittelbefugt kann auch eine von den Instanzgerichten fehlerhafterweise nicht beteiligte Stelle sein, die von Amts wegen zu beteiligen gewesen wäre. Umgekehrt ist eine zu Unrecht am Verfahren beteiligte Stelle nicht rechtsmittelbefugt. Ist deren Anhörung in den Vorinstanzen zu Unrecht erfolgt, vermag dies ihre Rechtsmittelbefugnis nicht zu begründen. Ein Beteiligter ist beschwert, wenn er durch die angegriffene Entscheidung nach ihrem materiellen Inhalt in seiner Rechtsstellung, die seine Beteiligungsbefugnis begründet, unmittelbar betroffen wird. Fehlt die Rechtsbeschwerdebefugnis, ist sein Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen (BAG 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – Rn. 19, BAGE 141, 110).
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2. Nach diesen Grundsätzen fehlt es an einer Rechtsbeschwerdebefugnis der Beteiligten zu 59. bis 61. Aus den Besonderheiten des Verfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ergibt sich nichts anderes.
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a) Die Beteiligten zu 59. bis 61. waren am Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht nicht beteiligt. Einen eigenen Antrag haben sie vor dem Landesarbeitsgericht nicht gestellt. Als Arbeitgeber, die zwar vom Geltungsbereich der AVE erfasst werden, aber keinen eigenen Antrag gestellt haben, gehören sie auch nicht zu den von Amts wegen nach § 98 Abs. 3, § 83 Abs. 3 ArbGG zu beteiligenden Stellen(BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 81, BAGE 156, 213). Ihre Beteiligung ist daher zu Recht unterblieben, so dass hieraus keine Rechtsbeschwerdebefugnis abgeleitet werden kann.
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b) Eine erstmalige Beteiligung im Rechtsbeschwerdeverfahren scheidet für nicht von Amts wegen zu beteiligende Stellen aus.
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aa) § 98 ArbGG regelt nicht ausdrücklich, bis zu welchem Zeitpunkt ein Antragsteller sich an einem laufenden Verfahren über die Wirksamkeit einer AVE oder einer entsprechenden Rechtsverordnung (VO) beteiligen kann. Der Senat hat für das Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht angenommen, dass dort eine Beteiligung noch in jeder Lage des Verfahrens durch einen eigenen Antrag möglich ist (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 81, BAGE 156, 213). Entgegen der Auffassung der Beteiligten zu 59. bis 61. ist damit für das Rechtsbeschwerdeverfahren, das sich vom Verfahren in der Tatsacheninstanz grundlegend unterscheidet, keine Aussage getroffen. Auf das Recht der Nebenintervention kann auch für das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG nicht zurückgegriffen werden, weil eine solche im Beschlussverfahren generell ausgeschlossen ist (BAG 5. Dezember 2007 – 7 ABR 72/06 – Rn. 25 f., BAGE 125, 100).
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bb) Eine Entscheidung in einem Verfahren über die Wirksamkeit einer AVE oder einer entsprechenden Rechtsverordnung wirkt nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG für und gegen jedermann (erga omnes). Damit hat sie Auswirkungen für die Beteiligten zu 59. bis 61. wie für jeden anderen Arbeitgeber, auf den tarifvertragliche Normen auf Grundlage einer in einem solchen Verfahren streitgegenständlichen AVE erstreckt wurden. Die Beteiligung einzelner Stellen ist damit nicht Voraussetzung für die Wirkung auch ihnen gegenüber, selbst wenn sie ihre (Rechts-)Auffassung über die Wirksamkeit der AVE oder Rechtsverordnung nicht in das Verfahren eingebracht haben oder einbringen konnten. Auch ein Arbeitgeber, der nach einer rechtskräftigen Entscheidung über die Wirksamkeit einer AVE erstmals in Anspruch genommen wird oder einen Betrieb im Geltungsbereich des erstreckten Tarifvertrags neu errichtet, hat im Hinblick auf die Erga-omnes-Wirkung keine Möglichkeiten mehr, sich gegen die Erstreckung zu wenden. Deshalb gebietet auch Art. 103 Abs. 1 GG nicht, dass Arbeitgeber, deren Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 oder Abs. 6 ArbGG ggf. erst während des bereits laufenden Rechtsbeschwerdeverfahrens entsteht, sich an diesem noch beteiligen können müssen.
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cc) Das Rechtsbeschwerdeverfahren dient nach seiner Natur der Überprüfung der vorinstanzlichen Entscheidung, mithin dem Rechtsschutz der am Verfahren bereits Beteiligten. Bei einer zu Recht unterbliebenen Beteiligung in der Vorinstanz dient die Beschwerde keinem solchen Rechtsschutzziel. Ließe man eine Beteiligung im Rechtsbeschwerdeverfahren außerhalb des Kreises der von Amts wegen zu beteiligenden Stellen zu, führte dies darüber hinaus zu vielfältigen Wertungswidersprüchen. Versäumt etwa ein bereits Beteiligter die Rechtsmittelfrist oder begründet er sein Rechtsmittel nicht ausreichend, kann er die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht mehr zu Fall bringen und wird im Fall der Vorabentscheidung nach § 92 Abs. 2 ArbGG iVm. § 552 Abs. 2 ZPO im weiteren Verfahren nicht mehr gehört. Ein neu Beteiligter wäre privilegiert. Dies gilt insbesondere, wenn eine Beteiligung auch noch nach Ablauf der gegenüber den anderen Beteiligten maßgeblichen Rechtsmittelfristen möglich wäre.
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dd) Schließlich besteht die Gefahr, dass das Ziel, in angemessener Zeit Rechtssicherheit über die Wirksamkeit einer AVE oder VO zu schaffen (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 29), aufgrund der Beteiligung einer Vielzahl von noch im Rechtsbeschwerdeverfahren ggf. neu anzuhörenden Personen oder Stellen gefährdet wird (vgl. zu diesem Aspekt schon BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 81, BAGE 156, 213). Insbesondere könnte es hinsichtlich der Antragsbefugnis neuer Beteiligter, die in jedem Fall vom Rechtsbeschwerdegericht zu prüfen wäre, zu einem Streit über Tatsachen kommen. Dies erforderte ggf. eine Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht nach § 96 Abs. 1 Satz 2 ArbGG, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO, selbst wenn die Sache hinsichtlich aller bereits beim Landesarbeitsgericht Beteiligten entscheidungsreif wäre. Damit ergäbe sich aus einer erstmaligen Beteiligung im Rechtsbeschwerdeverfahren die Gefahr einer Verzögerung der Entscheidung über die Wirksamkeit einer AVE oder VO.
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II. Die Rechtsbeschwerden der übrigen Beteiligten sind zulässig. Antragsbefugt für ihre negativen Feststellungsanträge sind allerdings – mit einer Ausnahme hinsichtlich der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV – nur die Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. und für den positiven Feststellungsantrag die ULAK. Diese Beteiligten haben auch (noch) ein Interesse an der begehrten Feststellung. Die Rechtsbeschwerden aller übrigen Antragsteller bleiben bereits mangels Antragsbefugnis bzw. Feststellungsinteresses erfolglos. Alle am Verfahren zu beteiligenden Vereinigungen und Stellen sind beteiligt worden.
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1. Das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ist hinsichtlich der angegriffenen AVE BRTV 2015, AVE VTV 2015, AVE BBTV 2015 und AVE TZA Bau 2015 statthaft. Unerheblich ist, ob und ggf. wann die jeweilige AVE außer Kraft getreten ist (BAG 20. September 2017 – 10 ABR 42/16 – Rn. 17; grundlegend 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 49, BAGE 156, 213).
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2. Die Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. sind hinsichtlich ihrer negativen Feststellungsanträge – mit Ausnahme der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV – antragsbefugt nach § 98 Abs. 1 ArbGG und haben weiterhin ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Die Antragsbefugnis der ULAK für ihren auf die AVE VTV 2015 beschränkten positiven Feststellungsantrag ergibt sich aus § 98 Abs. 6 Satz 7 ArbGG. Die Beteiligten zu 1., 3. bis 12., 18. bis 26., 39. bis 48., 50., 54. und 56. waren hingegen von Anfang an nicht antragsbefugt, soweit sie sich gegen die AVE BRTV 2015 und AVE TZA Bau 2015 wenden. Sie haben nunmehr auch kein Feststellungsinteresse für ihre negativen Feststellungsanträge hinsichtlich der AVE VTV 2015 und AVE BBTV 2015.
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a) Bei dem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG handelt es sich um ein Normenkontrollverfahren, dessen Durchführung eine Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 oder Abs. 6 ArbGG voraussetzt. Nach § 98 Abs. 1 ArbGG ist antragsbefugt, wer geltend macht, durch die AVE oder die VO oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Im Fall der Aussetzung eines Rechtsstreits nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG besteht nach § 98 Abs. 6 Satz 7 ArbGG eine Antragsbefugnis für die Parteien dieses Rechtsstreits, die von der Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 ArbGG unabhängig ist. Soweit mehrere AVE angegriffen werden, muss die Antragsbefugnis hinsichtlich aller Angriffsziele vorliegen (vgl. noch zu § 98 Abs. 6 Satz 2 ArbGG idF vom 11. August 2014 im Einzelnen BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 44 ff., 50 ff., BAGE 156, 213). Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts muss die Antragsbefugnis für jeden Antragsteller geprüft werden und vorliegen. Dies kann auch dann nicht unterbleiben, wenn das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG wegen des unstreitigen Bestehens der Antragsbefugnis einzelner Antragsteller zu einer inhaltlichen Prüfung der angegriffenen AVE führt. Der Antrag eines Antragstellers, dem die Antragsbefugnis fehlt, muss unabhängig von der Frage der Wirksamkeit der AVE erfolglos bleiben. Fehlt es allen Beteiligten an einer Antragsbefugnis bzw. einem Feststellungsinteresse, darf keine Sachentscheidung nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG über die Wirksamkeit der angegriffenen AVE oder Rechtsverordnung ergehen.
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b) Aus der Antragsbefugnis folgt grundsätzlich ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Hinsichtlich bereits außer Kraft getretener AVE oder VO bedarf es allerdings der Darlegung eines rechtlich anerkennenswerten Feststellungsinteresses an einer entsprechenden Entscheidung. Rein vergangenheitsbezogene Feststellungen, ohne dass die erstreckten Tarifnormen noch geschützte Rechtspositionen des Antragstellers beeinträchtigen können, scheiden aus (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 49, BAGE 156, 213).
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c) Nach diesen Grundsätzen besteht eine Antragsbefugnis und ein Interesse der Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. an der Feststellung der Unwirksamkeit der angegriffenen AVE mit Ausnahme der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV. Das Inkrafttreten des SokaSiG steht ihrem Rechtsschutzbedürfnis nicht entgegen.
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aa) Eine Antragsbefugnis dieser Beteiligten ergibt sich aus § 98 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG. Sie werden von der ULAK auf Zahlung von Sozialkassenbeiträgen für den Geltungszeitraum der angegriffenen AVE in Anspruch genommen, ohne Mitglied der tarifvertragsschließenden Parteien gewesen zu sein. Diese Verfahren sind noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Die Antragsbefugnis besteht unabhängig davon, ob der jeweilige Antragsteller im Ausgangsverfahren leugnet, unter den Geltungsbereich der Tarifverträge des Baugewerbes zu fallen (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 55, BAGE 156, 213). Die Antragsbefugnis beschränkt sich nicht auf die AVE VTV 2015, da es sich hierbei lediglich um den Verfahrenstarifvertrag handelt und sich die materiellen Verpflichtungen der Antragsteller zur Beitragszahlung jeweils auf Grundlage der durch die AVE BRTV 2015, AVE BBTV 2015 und AVE TZA Bau 2015 erstreckten Tarifnormen ergeben.
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bb) Etwas anderes gilt allerdings, soweit sich diese Antragsteller auch gegen die AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV wenden. Zwar bezieht sich die Antragsbefugnis regelmäßig einheitlich auf die AVE eines bestimmten Tarifvertrags oder einer bestimmten Rechtsverordnung (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 43, BAGE 156, 213), ohne dass für jede Tarifnorm dargelegt werden müsste, dass der Antragsteller gerade durch sie in seinen Rechten verletzt wird. Hinsichtlich des BBTV besteht aber die Besonderheit, dass dessen AVE auf zwei verschiedene Rechtsgrundlagen gestützt ist. Während die AVE des überwiegenden Teils des BBTV auf § 5 Abs. 1a TVG gestützt wurde, ist die AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV auf Grundlage von § 5 Abs. 1 TVG erfolgt. Wegen der unterschiedlichen Rechtswirkungen beider Teile der AVE, insbesondere der Verdrängungswirkung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG, ist auch im Hinblick auf die Antragsbefugnis eine getrennte Betrachtung geboten (B VII 2 a, VIII 1). Die Antragsteller und Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. stützen ihre Darlegung der Möglichkeit einer Rechtsverletzung nach § 98 Abs. 1 ArbGG ausschließlich auf die Inanspruchnahme durch die ULAK im Sozialkassenverfahren. Die §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV gewähren hingegen ausschließlich individuelle Ansprüche der Auszubildenden gegen ihren Arbeitgeber, die nicht über die Sozialkassen abgewickelt werden. Jeglicher Vortrag dazu, inwieweit die Antragsteller hierdurch in ihren Rechten berührt sein könnten, fehlt. Auch aus dem Akteninhalt ergeben sich hierfür keinerlei Anhaltspunkte.
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cc) Der Senat kann sich der Auffassung des BMAS nicht anschließen, durch das Inkrafttreten des SokaSiG sei das Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller und Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. entfallen.
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(1) Da § 98 Abs. 1 ArbGG der Regelung des § 47 Abs. 2 VwGO nachgebildet ist, kann für die Antragsbefugnis grundsätzlich auf die in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit hierzu entwickelten Anforderungen zurückgegriffen werden (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 45, BAGE 156, 213). Das BVerwG nimmt an, dass ein Normenkontrollantrag mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig ist, wenn die Feststellung der Nichtigkeit nichts dazu beizutragen vermag, das Rechtsschutzziel zu erreichen. Dies könne der Fall sein, wenn die Nichtigkeitserklärung einer Norm eine inhaltsgleiche andere Norm unberührt lasse. Das Rechtsschutzbedürfnis fehle aber nur dann, wenn feststehe, dass der Antragsteller dem mit seinem Normenkontrollantrag verfolgten Ziel selbst dann auf unabsehbare Zeit nicht näher kommen könne, wenn die von ihm angegriffene Rechtsvorschrift für nichtig erklärt werde. Dementsprechend ist dem Zulässigkeitserfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses genügt, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass die gerichtliche Entscheidung für den Rechtsschutzsuchenden ggf. von Nutzen sein kann (BVerwG 7. März 2002 – 4 BN 60.01 – zu II A I 1 der Gründe mwN). Es braucht nicht entschieden zu werden, ob diese Grundsätze in vollem Umfang auf das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG übertragen werden können. Die vom BVerwG für einen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses geforderten Voraussetzungen sind nicht gegeben (aA LAG Berlin-Brandenburg 17. Januar 2018 – 15 BVL 5011/16 – zu II 2 der Gründe).
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(2) Allerdings wird durch § 7 Abs. 2 iVm. Anlage 27 SokaSiG und durch § 2 Abs. 2 iVm. Anlage 9 SokaSiG die Geltung der Normen des VTV und des TZA Bau in den hier maßgeblichen Fassungen kraft Gesetzes angeordnet. Durch § 1 Abs. 1 iVm. Anlage 1 SokaSiG ist darüber hinaus die Geltung bestimmter Regelungen des BBTV angeordnet. Nach § 3 Abs. 2 iVm. Anlage 13 SokaSiG gelten bestimmte Regelungen des BRTV. Es handelt sich jeweils um die hier maßgeblichen Fassungen. Damit könnte das Rechtsschutzbedürfnis (nur) entfallen sein, soweit das SokaSiG die Geltung der Tarifnormen kraft Gesetzes anordnet. Dies ist aber nicht der Fall. § 13 SokaSiG bestimmt ausdrücklich, dass die Allgemeinverbindlichkeit tarifvertraglicher Rechtsnormen nach dem Tarifvertragsgesetz unberührt bleibt. Die gesetzliche Anordnung der Geltung der Tarifnormen sollte „als weiterer Rechtsgrund neben die bestehenden allgemeinverbindlichen Tarifverträge“ treten (BT-Drs. 18/10631 S. 653). Die durch das SokaSiG begründeten Ansprüche sind jedenfalls teilweise von anderen tatsächlichen Voraussetzungen abhängig (vgl. zB § 11 SokaSiG). Gleichzeitig ist das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG durch das SokaSiG unberührt geblieben. Entscheidend ist jedoch, dass auch in der Rechtsprechung zu § 47 VwGO ein Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses nicht angenommen wird, wenn die Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Überprüfung der inhaltsgleichen Norm im Raum steht. So ist die Situation hier. Gegen das SokaSiG werden, insbesondere im Hinblick auf dessen Rückwirkung, verfassungsrechtliche Bedenken erhoben (vgl. zB Thüsing NZA-Beilage 2017, 3, 6 ff.). Die Frage der Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht ist auch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens umfangreich erörtert worden (BT-Drs. 18/11001 S. 7 f.). Einige Antragsteller haben nach ihrem unwidersprochenen Vortrag bereits Verfassungsbeschwerden erhoben. Sollten sich diese als erfolgreich erweisen, könnte ein Anspruch gegen die Antragsteller ausschließlich auf Grundlage der angegriffenen AVE bestehen. Deshalb lässt sich nicht ausschließen, dass eine gerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit der AVE für die Antragsteller noch von Bedeutung sein kann. Ihr Rechtsschutzbedürfnis besteht deswegen unabhängig davon fort, ob man diese verfassungsrechtlichen Bedenken teilt.
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d) Die ULAK ist nach § 98 Abs. 6 Satz 7 ArbGG für ihren ausschließlich auf die AVE VTV 2015 bezogenen positiven Feststellungsantrag antragsbefugt. Sie hat Aussetzungsbeschlüsse nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG vorgelegt, die die angegriffene AVE betreffen. Dabei ist nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung vorlagen, solange die Entscheidungserheblichkeit der AVE nicht offensichtlich fehlt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 51, BAGE 156, 213). Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte.
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e) Soweit sich die Beteiligten zu 45. bis 48., 50., 54. und 56. mit ihren negativen Feststellungsanträgen gegen die Wirksamkeit der AVE BRTV 2015 und der AVE TZA Bau 2015 wenden, fehlte ihnen von Anfang an eine Antragsbefugnis. Diese Beteiligten sind von der ULAK ausschließlich nach § 17 VTV auf Zahlung des Mindestbeitrags für das Berufsbildungsverfahren in Anspruch genommen worden. Deshalb kommt eine Antragsbefugnis nur hinsichtlich der AVE VTV 2015 und der AVE BBTV 2015 – mit Ausnahme der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV – in Betracht. Hinsichtlich der beiden anderen angegriffenen AVE fehlt es an jeglichem Vortrag, woraus sich eine solche ergeben könnte.
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f) Den Beteiligten zu 1., 3. bis 12., 18. bis 26., 39. bis 48., 50., 54. und 56. fehlt es (inzwischen) an einem Feststellungsinteresse für ihre gegen die AVE VTV 2015 und die AVE BBTV 2015 gerichteten negativen Feststellungsanträge.
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aa) Diese Beteiligten haben ihre Antragsbefugnis und ihr Feststellungsinteresse darauf gestützt, dass sie durch die ULAK auf Zahlung des Mindestbeitrags für das Berufsbildungsverfahren (§ 17 VTV) in Anspruch genommen wurden. Beides lag deshalb zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts vor. Zwischenzeitlich nimmt die ULAK auf Grundlage der angegriffenen AVE Betriebe ohne Beschäftigte jedoch unstreitig ausnahmslos nicht mehr nach § 17 VTV in Anspruch und erstattet geleistete Beiträge zurück. Damit besteht kein rechtlich geschütztes Interesse dieser Beteiligten mehr, die Unwirksamkeit der AVE VTV 2015 und der AVE BBTV 2015 feststellen zu lassen. Es ist nicht erkennbar, inwieweit sie in ihren geschützten Rechten noch betroffen sein könnten.
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bb) Aus der nach entsprechendem Hinweis des Senats erfolgten Stellungnahme eines Teils dieser Beteiligten ergibt sich nichts anderes. Die strafbewehrte Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung nach § 8 Abs. 1 iVm. § 5 Nr. 3 AEntG bezieht sich ausdrücklich nur auf Beiträge zum Urlaubskassenverfahren; um solche handelt es sich bei dem Mindestbeitrag nach § 17 VTV nicht. Ob die ULAK berechtigt war, auf den Einzug der Beiträge zu verzichten und diese zurückzuerstatten, ist unerheblich. Nach den tariflichen Bestimmungen ist die ULAK ausschließlich für den Einzug der Beiträge zuständig. Eine Einziehung durch andere müssen die Beteiligten deshalb nicht befürchten; für eine erneute zukünftige Inanspruchnahme durch die ULAK für den hier maßgeblichen Zeitraum bestehen keine Anhaltspunkte. Dass der Ausgang des Rechtsbeschwerdeverfahrens durch diese Handlung der ULAK ggf. beeinflusst wird, ist bedeutungslos. § 98 ArbGG ist nicht als Popularklageverfahren ausgestaltet (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 44, BAGE 156, 213). Anhaltspunkte für einen missbräuchlichen Verzicht der ULAK mit dem Ziel der Beseitigung des Feststellungsinteresses einzelner Antragsteller bestehen nicht. Der Verzicht erfolgte vielmehr gegenüber allen Betrieben ohne Beschäftigte, die unter den Geltungsbereich des VTV fallen.
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3. Alle nach § 98 Abs. 3, § 83 Abs. 3 ArbGG zu beteiligenden Vereinigungen und Stellen sind vom Landesarbeitsgericht beteiligt worden.
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a) Die Beteiligung an einem Beschlussverfahren ist noch im Rechtsbeschwerdeverfahren von Amts wegen zu prüfen. Personen und Stellen, die bis dahin zu Unrecht nicht gehört wurden, sind auch ohne Rüge zum Verfahren hinzuzuziehen. Dagegen ist im Rechtsbeschwerdeverfahren grundsätzlich nicht von Amts wegen zu prüfen, ob sämtliche in den Vorinstanzen beteiligten Personen, Vereinigungen und Stellen zu Recht angehört wurden (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 77, BAGE 156, 213).
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b) Nach § 98 Abs. 3 Satz 3 ArbGG ist die Behörde, die den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt hat, das BMAS, an diesem Beschlussverfahren beteiligt. Beteiligt sind ferner diejenigen, die einen eigenen Antrag gestellt haben, sowie die Tarifvertragsparteien, die den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag abgeschlossen haben (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 78 ff., BAGE 156, 213). Diese sind alle vom Landesarbeitsgericht beteiligt worden.
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III. Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer AVE oder einer entsprechenden VO nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 iVm. § 98 ArbGG sind gemäß § 2a Abs. 2 ArbGG im Beschlussverfahren auszutragen. Nach § 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG erforscht das Gericht den Sachverhalt im Rahmen der gestellten Anträge von Amts wegen, wobei die am Verfahren Beteiligten nach § 83 Abs. 1 Satz 2 ArbGG an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken haben. Diese Grundsätze gelten gemäß § 98 Abs. 3 Satz 1 ArbGG entsprechend im Verfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit einer AVE oder VO (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 86 ff., BAGE 156, 213). Hiervon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgegangen. Mangels fortbestehenden Feststellungsinteresses bedarf die von den beteiligten Solo-Selbständigen aufgeworfene Frage, ob die Kartellgerichte nach § 87 Satz 2 GWB ausschließlich zuständig sein könnten, keiner Beantwortung (vgl. zu diesem Problem BAG 29. Juni 2017 – 8 AZR 189/15 – Rn. 16 ff., BAGE 159, 316). Hinsichtlich der noch verbliebenen Antragsteller ist die Frage weder aufgeworfen worden noch stellt sie sich. Es ist geklärt, dass das Kartellrecht für Tarifverträge grundsätzlich nicht gilt (BAG 10. November 1993 – 4 AZR 316/93 – zu B IV 3 der Gründe mwN, BAGE 75, 66). Im Übrigen hätte die Unwirksamkeit der Bestimmungen über die Mindestbeitragspflicht zum Berufsbildungsverfahren keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des VTV und des BBTV sowie der jeweiligen AVE.
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IV. Die AVE von Tarifverträgen nach § 5 Abs. 1 und Abs. 1a TVG in der ab 16. August 2014 geltenden Fassung (Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vom 11. August 2014, BGBl. I S. 1348) verstößt weder gegen die Europäische Menschenrechtskonvention noch ist eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV geboten.
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1. Ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) liegt nicht vor (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 96, BAGE 156, 213). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat durch Urteil vom 2. Juni 2016 (- 23646/09 – Rn. 51 ff., 65 ff.) zum allgemeinverbindlich erklärten VTV in einer früheren Fassung rechtskräftig entschieden, dass die AVE von Tarifverträgen über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe weder gegen die durch Art. 11 EMRK geschützte Vereinigungsfreiheit verstößt noch zu einer Verletzung des durch Art. 1 Protokoll Nr. 1 zur EMRK geschützten Eigentumsrechts führt. Hieran hat sich weder durch die Neufassung des § 5 TVG etwas geändert noch ist erkennbar oder auch nur konkret behauptet, dass die Rechtslage hinsichtlich der AVE des BRTV, des BBTV oder des TZA Bau eine andere wäre.
53
2. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union, die die Vereinbarkeit der AVE des BRTV, des VTV, des BBTV oder des TZA Bau mit Unionsrecht zum Gegenstand hätte, kommt nicht in Betracht. Für die angegriffenen AVE fehlt ein Anknüpfungspunkt an das Unionsrecht. Der Senat hat hinsichtlich der AVE einer früheren Fassung des VTV bereits entschieden, dass deren Erlass keinen Akt der Durchführung des Unionsrechts iSd. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC darstellte und ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV zur Klärung der Vereinbarkeit der AVE mit Art. 16 GRC deshalb ausschied. Ebenso wenig kam eine Vorlage unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung unionsrechtlicher Grundfreiheiten in Betracht (vgl. grundlegend BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 97 ff., BAGE 156, 213). Hieran hat sich durch die Neufassung des § 5 TVG nichts geändert; neue Aspekte haben die Antragsteller auch im Hinblick auf die weiteren für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge nicht vorgebracht. Die AVE führt nicht dazu, dass deren Rechtsnormen zu zwingenden Eingriffsnormen würden und damit auch für Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut Geltung beanspruchten. Eine zwingende Erstreckung auf diese folgt vielmehr erst aus den Bestimmungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (ebenso zu § 9 Nr. 1 AÜG aF BAG 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 67 f., BAGE 158, 266). Diese Normen sind jedoch weder unmittelbar noch mittelbar Gegenstand des Verfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 104, aaO). § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG ändert hieran nichts, weil dort lediglich das Repräsentativitätserfordernis des § 7 Abs. 2 AEntG zur Tatbestandsvoraussetzung für die AVE eines entsprechenden Tarifvertrags nach § 5 Abs. 1a TVG erklärt wird, ohne dass bereits eine Erstreckung auf Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut erfolgte. Auf im Zusammenhang mit § 17 VTV aufgeworfene kartellrechtliche Fragestellungen kommt es – wie bereits dargelegt – nicht an.
54
V. Anhaltspunkte für eine Gesamtunwirksamkeit der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge bestehen nicht. Der Rechtsstreit ist auch nicht nach § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen.
55
1. § 5 TVG nF setzt – ebenso wie § 5 TVG aF – voraus, dass es sich bei den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen um wirksame Tarifverträge iSd. TVG handelt. Neben ihrer formellen Wirksamkeit verlangt dies die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit der jeweiligen Tarifvertragsparteien (allgemeine Meinung, zB ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 7; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 88; vgl. zu § 5 TVG aF BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 118, BAGE 156, 213). Maßgeblich ist dabei der Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrags bzw. des jeweils letzten Änderungstarifvertrags (vgl. dazu BAG 25. Januar 2017 – 10 ABR 34/15 – Rn. 93), hier also für alle Tarifverträge der 10. Dezember 2014.
56
2. Formelle Bedenken gegen die Wirksamkeit der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge sind weder vorgetragen noch erkennbar. Die von den Antragstellern angenommene Unwirksamkeit einzelner Tarifnormen, insbesondere des § 17 VTV, führt – auch wenn die Annahme zutreffen sollte – nicht zur Unwirksamkeit des betroffenen Tarifvertrags und lässt deshalb die Wirksamkeit der angegriffenen AVE unberührt.
57
a) Die Unwirksamkeit einer Tarifbestimmung hat entgegen der Auslegungsregel des § 139 BGB grundsätzlich nicht die Unwirksamkeit der übrigen tariflichen Vorschriften zur Folge. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit einzelner Tarifnormen wegen Verstoßes gegen Gesetze oder die Verfassung ist nicht die Gesamtnichtigkeit und damit die gänzliche Unanwendbarkeit des Tarifvertrags, sondern nur die Unwirksamkeit der verbotswidrigen Bestimmung oder Bestimmungen. Es kommt lediglich darauf an, ob der Tarifvertrag ohne die unwirksame Regelung noch eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung darstellt (st. Rspr., zB BAG 16. November 2011 – 4 AZR 856/09 – Rn. 27 [zu einem Verstoß einzelner Tarifnormen gegen Bestimmungen des AGG]; 9. Mai 2007 – 4 AZR 275/06 – Rn. 37 mwN). Eine solche Teilunwirksamkeit einzelner Tarifnormen führt auch nicht zu einer vollständigen Unwirksamkeit der AVE. Diese Rechtsfolge kann nicht unter Hinweis auf dann zwangsläufig bestehende Abwägungsfehler hergeleitet werden (so aber Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 91, 337). Für die Rechtmäßigkeit einer AVE kommt es nicht auf einzelne Abwägungselemente an, sondern darauf, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die AVE objektiv erfüllt waren (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 135, BAGE 156, 213). Dies ist bei einem Tarifvertrag, der weiterhin eine in sich geschlossene Regelung bildet, regelmäßig auch ohne eine als rechtswidrig angesehene Norm der Fall.
58
b) §§ 17 und 4 Abs. 4 VTV iVm. § 31 BBTV beschränken sich darauf, eine Beitragspflicht zum Berufsbildungsverfahren für Betriebe ohne Beschäftigte und entsprechende Meldepflichten zu begründen. Auch wenn im Hinblick auf die Grenzen der Tarifmacht Bedenken gegen die Wirksamkeit dieser Normen bestehen (vgl. zu ähnlichen Tarifnormen im Schornsteinfegerhandwerk BAG 31. Januar 2018 – 10 AZR 279/16 – Rn. 20 ff.), kann das Sozialkassenverfahren ohne eine Beitragspflicht für Betriebe mit Beschäftigten problemlos auf Grundlage der Bestimmungen des VTV abgewickelt werden. Der Tarifvertrag behielte weiterhin seine Bedeutung. Dies zeigt sich auch daran, dass eine Beitragspflicht für Betriebe ohne Beschäftigte erstmals ab dem 1. April 2015 eingeführt wurde. Soweit ein Teil der Antragsteller darüber hinaus die Norm über Verzugszinsen des § 20 VTV und die Verjährungsregelungen des § 21 VTV für unwirksam hält, ergibt sich nichts anderes. Hierbei handelt es sich um Randbestimmungen, die das Regelungssystem des VTV nicht prägen. Eine weitere Überprüfung von einzelnen Normen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags ist nicht Gegenstand des Verfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG.
59
3. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nach § 97 Abs. 5 ArbGG sind mangels vernünftiger Zweifel an der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes zum Zeitpunkt des Abschlusses der erstreckten Tarifverträge nicht gegeben.
60
a) Nach § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 ArbGG ist die Entscheidung über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung ausschließlich in einem besonderen Beschlussverfahren nach diesen Vorschriften zu treffen. Dort ist eine solche Frage mit Wirkung für und gegen jedermann zu klären (§ 97 Abs. 3 Satz 1 ArbGG). Eine Inzidentprüfung der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit in einem anderen Rechtsstreit scheidet aus. Die Aussetzungspflicht besteht entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts im Fall der Entscheidungserheblichkeit auch in einem Verfahren nach § 98 ArbGG (grundlegend BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 119 ff., BAGE 156, 213). Ein Verfahren darf nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG allerdings nur dann ausgesetzt werden, wenn zumindest eine der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften einer Vereinigung aufgrund vernünftiger Zweifel an ihr streitig ist. Im Arbeitsleben geäußerte Vorbehalte sind zu berücksichtigen und von den Gerichten aufzugreifen. Danach ist der Ausgangsrechtsstreit nicht schon dann auszusetzen, wenn die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung nur von einer Partei ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe infrage gestellt wird (vgl. BAG 24. Juli 2012 – 1 AZB 47/11 – Rn. 9, BAGE 142, 366). An solchen vernünftigen Zweifeln fehlt es.
61
b) Vernünftige Zweifel an der Tariffähigkeit der IG BAU bestehen nicht.
62
aa) Tariffähigkeit ist die rechtliche Fähigkeit, durch Vereinbarung mit dem sozialen Gegenspieler Arbeitsbedingungen tarifvertraglich mit der Wirkung zu regeln, dass sie für die tarifgebundenen Personen unmittelbar und unabdingbar wie Rechtsnormen gelten. Sie ist Voraussetzung für den Abschluss von Tarifverträgen (vgl. BAG 31. Januar 2018 – 10 AZR 695/16 (A) – Rn. 19; 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 64 mwN, BAGE 136, 302). Eine Arbeitnehmervereinigung ist tariffähig, wenn sie sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt hat und willens ist, Tarifverträge abzuschließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen. Zudem ist erforderlich, dass die Arbeitnehmervereinigung ihre Aufgabe als Tarifpartnerin sinnvoll erfüllen kann. Dazu gehören die durch ihre Mitglieder vermittelte Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler und eine gewisse Leistungsfähigkeit der Organisation (st. Rspr., vgl. zB BAG 31. Januar 2018 – 10 AZR 695/16 (A) – Rn. 20; 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 67 mwN, aaO).
63
bb) Von den Beteiligten wird in der Rechtsbeschwerde pauschal gerügt, die Verstaatlichung der Tarifpolitik sei durch den Erlass von AVE so weit fortgeschritten, dass die IG BAU keine Wahl mehr habe, ob sie eine Ablehnung der AVE akzeptiere oder sich einer „Tarifzensur“ unterwerfe. Ferner bestehe eine Abhängigkeit vom tariflichen Gegenspieler, weil er Druck ausüben könne, wenn er die Zustimmung zur AVE verweigere. Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, vernünftige Zweifel an der Tariffähigkeit der IG BAU zu begründen. Allein der Umstand, dass in deren Organisationsbereich vom gesetzlich vorgesehenen Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung Gebrauch gemacht wird und auch die Arbeitgeberverbände hieran erkennbar Interesse haben, genügt dafür nicht. Aus dem Vortrag der Beteiligten ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Staat oder der soziale Gegenspieler Einfluss auf den Inhalt der Tarifpolitik der IG BAU nehmen würde oder könnte.
64
cc) Auch die Rüge der fehlenden Gegnerunabhängigkeit weckt keine solchen Zweifel.
65
(1) Das Erfordernis der Gegnerunabhängigkeit ist nicht im formalen, sondern im materiellen Sinn zu verstehen. Es soll sicherstellen, dass die Vereinigung durch ihre koalitionsmäßige Betätigung zu einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens beitragen kann. Dabei schließt nicht jegliche Beeinträchtigung der Unabhängigkeit die Gewerkschaftseigenschaft aus. Die erforderliche Gegnerunabhängigkeit fehlt (erst), wenn die Abhängigkeit vom sozialen Gegenspieler in der Struktur der Arbeitnehmervereinigung angelegt und verstetigt und die eigenständige Interessenwahrnehmung der Tarifvertragspartei durch personelle Verflechtungen, auf organisatorischem Weg oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft gefährdet ist. Daran ist insbesondere zu denken, wenn sie sich im Wesentlichen nicht aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert und deshalb zu befürchten ist, dass die Arbeitgeberseite durch Androhung der Zahlungseinstellung die Willensbildung auf Arbeitnehmerseite beeinflussen kann (BAG 31. Januar 2018 – 10 AZR 695/16 (A) – Rn. 22; 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 31 mwN, BAGE 136, 1).
66
(2) Eine solche Situation ist hinsichtlich der IG BAU nicht erkennbar. Dies gilt auch dann, wenn bereits im hier maßgeblichen Zeitpunkt Selbständige die Möglichkeit hatten, bei ihr Mitglied zu werden. Der Vortrag der Antragsteller lässt schon nicht erkennen, ob eine Mitgliedschaft auch Arbeitgebern offenstand oder nur Selbständigen ohne eigene Beschäftigte. Vor allem fehlt jeglicher Vortrag zur praktischen Bedeutung einer solchen Mitgliedschaft und zu den Einflussmöglichkeiten solcher Mitglieder.
67
c) Ebenso wenig bestehen vernünftige Zweifel an der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie e. V. als Spitzenorganisation iSv. § 2 Abs. 3 TVG.
68
aa) Bedenken gegen dessen Tariffähigkeit als Spitzenorganisation bestehen nicht.
69
(1) Zusammenschlüsse von Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern können nach § 2 Abs. 2 TVG Parteien eines Tarifvertrags sein, wenn sie im Namen der ihnen angeschlossenen Verbände Tarifverträge abschließen und eine entsprechende Vollmacht haben. Solche Verbindungen werden vom Gesetz nach dem in § 2 Abs. 2 TVG enthaltenen Klammerzusatz als Spitzenorganisationen bezeichnet. Wird eine Spitzenorganisation nach § 2 Abs. 2 TVG bevollmächtigt, handelt sie als Stellvertreterin für den von ihr vertretenen Verband oder für die von ihr vertretene Mehrheit von Verbänden. Nicht die Spitzenorganisation, sondern die von ihr vertretene Tarifvertragspartei iSd. § 2 Abs. 1 TVG wird Partei des von der Spitzenorganisation abgeschlossenen Tarifvertrags. Eine Spitzenorganisation kann auch selbst Partei eines Tarifvertrags sein, wenn der Abschluss von Tarifverträgen zu ihren satzungsgemäßen Aufgaben gehört (§ 2 Abs. 3 TVG). Die Abschlussbefugnis muss nicht ausdrücklich in der Satzung der Spitzenorganisation aufgeführt werden; es genügt, wenn sich diese Aufgabe durch Auslegung der Satzung ermitteln lässt. Die einzelnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Mitglieder der in der Spitzenorganisation zusammengefassten Verbände sind dann an die von ihr im eigenen Namen abgeschlossenen Tarifverträge gebunden. Eine Spitzenorganisation ist weder nach § 2 Abs. 2 TVG noch nach § 2 Abs. 3 TVG originär tariffähig. Diese Vorschriften bestimmen lediglich, unter welchen zusätzlichen zu den in § 2 Abs. 1 TVG genannten Voraussetzungen ein solcher Verband Partei eines Tarifvertrags sein kann. Ihre Tariffähigkeit leitet eine Spitzenorganisation ausschließlich von ihren Mitgliedern ab. Dies folgt für die in Vollmacht handelnde Spitzenorganisation aus § 2 Abs. 2 TVG. Nichts anderes gilt bei einem Zusammenschluss von Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern nach § 2 Abs. 3 TVG. Die Spitzenorganisation kann zwar selbst Partei eines Tarifvertrags sein, sie wird dabei aber ausschließlich für ihre Mitgliedsverbände tätig. Diese können der Spitzenorganisation deren Tariffähigkeit daher nur im Rahmen ihrer eigenen Tariffähigkeit vermitteln (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 69 ff., BAGE 136, 302).
70
(2) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Tariffähigkeit des HDB nicht zweifelhaft. Zweifel an der Tariffähigkeit seiner Mitgliedsverbände sind weder vorgetragen noch erkennbar. Allerdings hat der HDB nach § 2 Nr. 2 Abs. 4 Satz 1 seiner Satzung idF vom 24. Mai 2012 (nur) das Recht, Tarifverträge abzuschließen, soweit es sich um überregionale Rahmenregelungen handelt. Lohntarifverhandlungen führt er hingegen nach § 2 Nr. 2 Abs. 4 Satz 2 der Satzung in Vollmacht der Landesverbände, soweit diese erteilt wird. Darin liegt keine – ggf. unzulässige – Beschränkung der Tariffähigkeit oder Tarifwilligkeit der Arbeitgeberverbände der Bauindustrie (vgl. für eine Arbeitnehmervereinigung BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 24, BAGE 136, 1). Die Rechtsbeschwerden stützen sich für ihre gegenläufige Ansicht auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur fehlenden Tariffähigkeit der CGZP (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 81 ff., BAGE 136, 302). Die Arbeitgeberverbände der Bauindustrie sind im Unterschied zu dieser Arbeitnehmervereinigung ungeteilt tarifwillig. Allenfalls handelt es sich um eine satzungsgemäße Beschränkung der Tarifzuständigkeit der Vereinigung, indem die Tarifzuständigkeit räumlich-gegenständlich zwischen Spitzenverband und Mitgliedsverbänden aufgeteilt wird (vgl. dazu Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 197 Rn. 6). Deshalb kann dahinstehen, inwieweit die in der Rechtsprechung an die Tariffähigkeit einer Spitzenorganisation auf Arbeitnehmerseite gestellten Anforderungen auf eine Spitzenorganisation auf Arbeitgeberseite übertragen werden können (abl. zB ErfK/Franzen 18. Aufl. § 2 TVG Rn. 29).
71
bb) Vernünftige Zweifel an der Tarifzuständigkeit des HDB bestehen hinsichtlich der durch die AVE vom 6. Juli 2015 für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge nicht.
72
(1) Die Tarifzuständigkeit richtet sich nach dem in der Satzung der Vereinigung autonom festgelegten Organisationsbereich. Er muss hinreichend bestimmt sein. Die den Tarifvertragsparteien nach § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG zukommende Normsetzungsbefugnis verlangt nach einer ausreichenden Transparenz der Zuständigkeitsgrenzen. Diese müssen für die handelnden Organe der Vereinigung selbst, für den sozialen Gegenspieler und für Dritte zuverlässig zu ermitteln sein, weil sie die Grenze wirksamen Handelns der Vereinigung bilden (BAG 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – Rn. 54, BAGE 141, 110; 10. Februar 2009 – 1 ABR 36/08 – Rn. 27, 38, BAGE 129, 322).
73
(2) Diese Voraussetzungen erfüllt der HDB mit § 2 Nr. 2 Abs. 4 seiner Satzung. Nach dieser Bestimmung hat er das Recht, Tarifverträge abzuschließen, soweit es sich um überregionale Rahmenregelungen handelt. Hierin liegt eine räumlich-gegenständliche Beschränkung, die bestimmbar ist. In räumlicher Hinsicht muss es sich um Tarifverträge handeln, die „überregional“ sind, deren Geltungsbereich also über das Gebiet eines Landesverbands hinausgeht. Der Begriff der Rahmenregelung stellt eine gegenständliche Beschränkung dar. Für sich genommen wäre aus dem Wortlaut des § 2 Nr. 2 Abs. 4 Satz 1 der Satzung zwar nicht ohne Weiteres erkennbar, was unter solchen Rahmenregelungen zu verstehen ist. Aus der Systematik der Satzungsbestimmungen und der Regelung in § 2 Nr. 2 Abs. 4 Satz 2 der Satzung ergibt sich aber ein klares Bild: Danach bleiben „Lohntarifverhandlungen“ den Landesverbänden vorbehalten, soweit diese nicht den Spitzenverband bevollmächtigen. An diesem Begriffspaar wird deutlich, dass unter Rahmenregelungen nach dem Verständnis der Satzung alle überregionalen Tarifverträge zu verstehen sind, die nicht den Lohntarifverhandlungen iSv. § 2 Nr. 2 Abs. 4 Satz 2 der Satzung zuzuordnen sind.
74
(3) Bei den durch die streitgegenständlichen AVE für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen handelt es sich um solche überregionalen Rahmenregelungen, für deren Abschluss der HDB satzungsgemäß zuständig war. Dies gilt für den BRTV, den VTV, den TZA Bau und den BBTV. Zwar wird im BBTV auch die Höhe der Ausbildungsvergütung geregelt. Im Hinblick auf das bundeseinheitliche System der überbetrieblichen Ausbildung, das entsprechende Umlageverfahren mit einheitlichen Beitragssätzen und den Umstand, dass auch sonstige Ausbildungsbedingungen, wie beispielsweise die Urlaubsdauer, im BBTV geregelt sind, kann der BBTV aber nicht als „Lohntarifvertrag“ iSv. § 2 Nr. 2 Abs. 4 Satz 2 der Satzung eingeordnet werden.
75
d) Vernünftige Zweifel an der Tariffähigkeit des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes e. V. bestehen ebenfalls nicht.
76
aa) Dessen Tariffähigkeit ist allerdings nicht bereits rechtskräftig festgestellt. Die Entscheidung des BAG vom 6. Mai 2003 (- 1 AZR 241/02 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 106, 124) ist nicht in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 ArbGG ergangen und hat deshalb keine Bindungswirkung über den entschiedenen Rechtsstreit hinaus.
77
bb) Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 der Satzung vom 6. November 2014 ist der ZDB ermächtigt, für die ihm angeschlossenen Mitglieder zentrale Tarifverhandlungen zu führen und Tarifverträge mit den Gewerkschaften abzuschließen. Damit ist er vollumfänglich tarifwillig (vgl. zu einem solchen Verständnis auch BAG 6. Mai 2003 – 1 AZR 241/02 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 106, 124). Der Abschluss von Tarifverträgen führt damit grundsätzlich zur Tarifbindung seiner Mitglieder. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 der Satzung ist der ZDB dagegen nicht berechtigt, Entgelttarifverhandlungen für Mitglieder zu führen, die vor Aufnahme der Verhandlungen schriftlich angezeigt haben, dass Verhandlungen nicht für ihr Verbandsgebiet geführt werden sollen. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden sagt diese Satzungsbestimmung über eine Tarifunwilligkeit von Mitgliedsverbänden nichts aus und stellt die Tariffähigkeit des ZDB nicht infrage. Vielmehr stellt sich im Fall der Abgabe einer solchen Erklärung durch einen Mitgliedsverband nur die Frage, ob – ähnlich wie bei einer OT-Mitgliedschaft – die Tarifgebundenheit von dessen Mitgliedern entfällt (vgl. zur OT-Mitgliedschaft zB BAG 21. Januar 2015 – 4 AZR 797/13 – Rn. 17 ff., 59, BAGE 150, 304; zur Abgrenzung von Tarifzuständigkeit und Tarifgebundenheit grundlegend BAG 18. Juli 2006 – 1 ABR 36/05 – Rn. 43 ff., BAGE 119, 103).
78
cc) Es bestehen nach den Satzungen einzelner Mitgliedsverbände des ZDB auch keine Zweifel an deren Tarifwilligkeit (Deutscher Holz- und Bautenschutzverband e. V., Landesverband Bayerischer Bauinnungen) oder an deren Berechtigung, Mitglied des ZDB zu werden (Norddeutscher Baugewerbeverband e. V.).
79
(1) Aus der Satzung des Deutschen Holz- und Bautenschutzverbands e. V. vom 27. September 2014 lässt sich mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Verband tarifwillig ist.
80
(a) Für die Auslegung einer Satzung kommt es auf den objektivierten Willen des Satzungsgebers an. Wegen der normähnlichen Wirkung der Satzung körperschaftlich strukturierter Vereinigungen gelten die Grundsätze der Gesetzesauslegung. Danach sind maßgeblich zunächst der Wortlaut und der durch ihn vermittelte Wortsinn, ferner der Gesamtzusammenhang, der Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der Satzung. Umstände außerhalb der Satzung, die sich in ihr nicht niederschlagen, sind nicht berücksichtigungsfähig. Das gebietet die Rechtssicherheit. Unerheblich sind auch der tatsächliche Abschluss von Tarifverträgen oder die Praxis der Aufnahme von Mitgliedern als solche. Durch ein bloßes Tätigwerden außerhalb des satzungsgemäßen Organisationsbereichs kann der Organisationsbereich nicht erweitert und eine nach der Satzung fehlende Tarifzuständigkeit nicht begründet werden. Im Zweifel ist die Auslegung vorzuziehen, die zu einem gesetzeskonformen und praktikablen Satzungsverständnis führt (BAG 11. Juni 2013 – 1 ABR 32/12 – Rn. 31, BAGE 145, 211).
81
(b) Nach Nr. 2.1 der Satzung hat sich der Verband umfassend die Interessenvertretung seiner Mitglieder unter anderem in berufsbezogenen wirtschafts- und sozialpolitischen Themenfeldern als Aufgabe und Ziel gesetzt. In Ziff. 2.1.2 der Satzung wird darüber hinaus ausdrücklich die Vertretung der „wirtschaftspolitischen Interessen“ genannt. Im Hinblick auf die aus der Satzung erkennbare Struktur der ordentlichen Mitglieder (vgl. insbesondere Nr. 3.1.1 und 3.1.3 der Satzung) gehört zu dieser Interessenvertretung typischerweise die Regelung von Arbeitsbedingungen der bei diesen Mitgliedern beschäftigten Arbeitnehmer. Dementsprechend sieht Nr. 2.2.1 der Satzung auch die Möglichkeit der Mitgliedschaft in anderen Organisationen vor. Konkrete Umstände, die gegen ein solches Verständnis der Satzung sprechen könnten, haben die Antragsteller nicht vorgetragen. Sie sind auch nicht ersichtlich.
82
(2) Auch der Landesverband Bayerischer Bauinnungen (LBB) ist tarifwillig. Zwar ist nach § 3 Abs. 5 Satz 1 der Satzung vom 24. Mai 2014 der (eigene) Abschluss von Tarifverträgen ausgeschlossen. § 3 Abs. 5 Satz 2 der Satzung bestimmt aber gleichzeitig, dass Tarifverträge „einheitlich“ von der Dachorganisation des bayerischen Baugewerbes, dem Verband baugewerblicher Unternehmer Bayerns e. V. (VbUB), abgeschlossen werden. Nach dem satzungsmäßigen Verständnis des LBB sieht er seine Mitglieder damit durch Tarifabschlüsse des VbUB als gebunden an. Dementsprechend verfügt er über einen Landesausschuss für Tarif- und Sozialpolitik (§ 18 Abs. 2 der Satzung). Der VbUB wiederum ist nach dem unwidersprochenen Vortrag des ZDB ebenfalls bei diesem Mitglied. Die Satzung des VbUB vom 4. Mai 2013 ist hinsichtlich der Tarifwilligkeit eindeutig (§ 2 Nr. 2) und sieht die Möglichkeit der Mitgliedschaft in anderen Organisationen vor (§ 2 Nr. 5). Die enge Verflechtung zwischen LBB und VbUB, die über eine identische Zuständigkeit in örtlicher und fachlicher Hinsicht verfügen, wird auch an § 2 Nr. 3 der Satzung des VbUB deutlich: Dort werden Regelungen über die Unterstützung bei Arbeitskämpfen getroffen. Der Umstand, dass nach § 3 II. Nr. 3 der Satzung des VbUB auch Betriebe Mitglieder werden können, die nicht Mitglieder der Innung und damit des LBB sind, führt zu keinem anderen Ergebnis. Nach den Satzungsbestimmungen ist jedenfalls davon auszugehen, dass alle Mitglieder des LBB auch Mitglied im VbUB sind. Damit ist sichergestellt, dass für das Tarifgebiet Bayern in vollem Umfang Tarifwilligkeit besteht, die dem ZDB durch die Mitgliedschaft beider Organisationen in ihm übertragen wurde. Mehr könnte auch der LBB nicht vermitteln, wenn er die entsprechenden Tarifverträge selbst abschlösse.
83
(3) Der Norddeutsche Baugewerbeverband e. V. ist nach seiner Satzung vom 27. Mai 2013 tarifwillig (§ 2 Nr. 2 Buchst. g). Das wird von den Rechtsbeschwerdeführern nicht bestritten. Entgegen ihrer Auffassung bestehen auch keine Zweifel an der satzungsmäßigen Berechtigung dieses Verbands, Mitglied des ZDB zu werden. Zweck des Vereins ist ua., „durch Abschluss von Gesamtvereinbarungen an der Herbeiführung und Erhaltung eines gerechten sozialen Ausgleichs mitzuwirken“ (§ 2 Nr. 2 Buchst. g der Satzung). Daran wird deutlich, dass sich der Wille zum Abschluss von Tarifverträgen nicht auf Tarifverträge rein regionaler Art beschränkt. Dementsprechend hat der Verein gemäß § 2 Nr. 2 Buchst. a der Satzung die Interessen seiner Mitglieder gegenüber „… allen fachlichen und wirtschaftlichen Organisationen zu vertreten“. Aus dem Zusammenspiel beider Bestimmungen ist klar erkennbar, dass der Norddeutsche Baugewerbeverband e. V. Mitglied eines Spitzenverbands werden kann, um solche Gesamtvereinbarungen herbeizuführen, wenn die zuständigen Organe dies als geeigneten Weg zur Interessenvertretung ansehen. Satzungsbestimmungen, die einem solchen Verständnis entgegenstünden, bestehen nicht. Deshalb kann dahinstehen, ob die Möglichkeit der Mitgliedschaft in Spitzenorganisationen bereits in der Satzung geregelt sein muss (in diesem Sinn Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 2 Rn. 401, die aber die satzungsgemäße Möglichkeit des Eintritts in andere Verbände ausreichen lassen). Zugleich kann offenbleiben, welche Rechtsfolgen aufträten, wenn eine solche Bestimmung fehlte.
84
VI. Die streitgegenständlichen AVE vom 6. Juli 2015 sind demokratisch legitimiert.
85
1. Damit eine AVE über eine hinreichende demokratische Legitimation verfügt, muss sich der jeweilige Minister oder Staatssekretär vor ihrem Erlass zustimmend mit der AVE befasst haben (umfassend BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 138 ff., BAGE 156, 213). Hieran hat sich durch die Neufassung des § 5 TVG nichts geändert.
86
2. Diese Anforderung ist hinsichtlich der streitgegenständlichen AVE erfüllt. Die Ministeriumsvorlage vom 1. Juli 2015 ist sowohl von der damaligen Ministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles („AN“) als auch vom damaligen Staatssekretär Albrecht abgezeichnet worden. Dies genügt für die Annahme einer zustimmenden Befassung. Im Übrigen sind die AVE-Bekanntmachungen von der Ministerin unterzeichnet und entsprechend veröffentlicht worden.
87
VII. Die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass der AVE nach § 5 TVG iVm. den Bestimmungen der TVG-DVO waren erfüllt. Die AVE sind auch ordnungsgemäß im Bundesanzeiger bekannt gemacht worden. Gegen deren teilweisen rückwirkenden Erlass bestehen keine Bedenken.
88
1. Die Tarifvertragsparteien haben einen gemeinsamen Antrag auf Erlass der AVE iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1a Satz 1 TVG gestellt.
89
a) Nach § 5 TVG nF ist nunmehr ein gemeinsamer Antrag der Tarifvertragsparteien Voraussetzung für den Erlass einer AVE. Mit diesem Erfordernis sollte gewährleistet werden, dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrags erforderlich erscheint (BT-Drs. 18/1558 S. 48). Der Begriff des gemeinsamen Antrags ist deshalb materiell-rechtlich zu verstehen, nicht formal (AR/Krebber 8. Aufl. § 5 TVG Rn. 22). Es kommt nicht darauf an, dass die Antragstellung in einer von allen Tarifvertragsparteien unterzeichneten einheitlichen Urkunde erfolgt. Vielmehr genügt es, wenn übereinstimmende Anträge aller am Abschluss des zu erstreckenden Tarifvertrags beteiligten Tarifvertragsparteien vorliegen. Ebenso reicht aus, wenn eine Tarifvertragspartei gleichzeitig in Vertretung für die andere(n) Tarifvertragspartei(en) den Antrag stellt (HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 20). Auch hierdurch ist sichergestellt, dass der Antrag von allen tarifvertragsschließenden Parteien inhaltlich getragen wird.
90
b) Nach diesen Grundsätzen liegen gemeinsame Anträge für alle AVE vor. Der HDB hat die Anträge auch namens und in Vollmacht der beiden anderen Tarifvertragsparteien, des ZDB und der IG BAU, gestellt. Die Bevollmächtigung des HDB ist von keiner Seite in Zweifel gezogen worden. Die Pflicht zur generellen Vorlage einer Vollmachtsurkunde lässt sich aus § 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1a Satz 1 TVG nicht ableiten (so aber Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 87; ähnlich Forst RdA 2015, 25, 27 „sollte … beigefügt werden, um sofortige Ablehnung aus formalen Gründen zu vermeiden“). Hierfür besteht schon wegen der Pflicht zur Veröffentlichung des Antrags im Bundesanzeiger nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG-DVO kein Bedürfnis. Sollten Zweifel an der Bevollmächtigung von Amts wegen bestehen oder im Lauf des Verfahrens entsprechende Einwendungen erhoben werden, kann die Bevollmächtigung noch nachgewiesen werden. Ob die im Antrag genannte Rechtsgrundlage für die jeweilige AVE zutrifft, ist unerheblich. Ob und ggf. welche Rechtsgrundlage für den Erlass der AVE in Betracht kommt, ist Gegenstand der Prüfung des BMAS. Die bereits im Antrag erfolgte Einschränkung der Reichweite der AVE ist nicht zu beanstanden. Derartige Einschränkungsklauseln sind grundsätzlich zulässig (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 195, BAGE 156, 213).
91
2. Der Tarifausschuss hat den AVE zugestimmt.
92
a) Die AVE eines Tarifvertrags kann sowohl nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG als auch nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss erfolgen. Dessen Zustimmung ist erforderlich, anderenfalls kann keine AVE ergehen (zB ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 22). Inhalt der Zustimmung des Tarifausschusses und spätere AVE müssen sich grundsätzlich decken. Die AVE kann zwar wegen des Normsetzungsermessens des BMAS hinter der Reichweite der Zustimmung des Tarifausschusses zurückbleiben (ErfK/Franzen aaO Rn. 23), nicht aber umgekehrt. Eine AVE, die über die Zustimmung des Tarifausschusses hinausgeht, ist unwirksam (Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 141, 168). Dies bedeutet wegen der Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG auch, dass der Tarifausschuss eine AVE auf Grundlage des § 5 Abs. 1a TVG ausdrücklich billigen muss. Nur so ist sichergestellt, dass der Erlass der AVE vollständig vom Einvernehmen des Tarifausschusses gedeckt ist.
93
b) Hinsichtlich der hier streitgegenständlichen AVE hat der Tarifausschuss mit Beschlüssen vom 7. Mai 2015 seine Zustimmung erteilt. Seine Zustimmung erstreckte sich auch auf die AVE nach § 5 Abs. 1a TVG, soweit diese vom BMAS beabsichtigt war und erfolgte.
94
3. Verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften sind nicht verletzt. Die AVE sind weder an Art. 80 Abs. 1 GG noch am Maßstab des § 24 VwVfG zu messen. Für eine Verfassungswidrigkeit von § 11 TVG und der darauf beruhenden TVG-DVO gibt es keine Anhaltspunkte (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 132 ff., BAGE 156, 213). Anderweitige Bedenken hinsichtlich der Erfüllung der weiteren verfahrensrechtlichen Voraussetzungen nach dem TVG bzw. der TVG-DVO bestehen nicht, Verfahrensfehler sind weder erkennbar noch vorgetragen.
95
4. Die streitgegenständlichen AVE sind nach § 5 Abs. 7 Satz 1 TVG bekannt gemacht worden.
96
a) Bei der Bekanntmachung handelt es sich ebenfalls um eine Wirksamkeitsvoraussetzung der AVE (vgl. zB ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 Rn. 24; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 205 Rn. 24). Diese Bekanntmachung muss nach § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG nunmehr auch die Rechtsnormen des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags umfassen. Keine zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung ist hingegen die Angabe der jeweiligen Rechtsgrundlage für die AVE. Wegen der besonderen Rechtsfolge des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG muss im Fall einer AVE auf Grundlage des § 5 Abs. 1a TVG diese Ermächtigungsgrundlage in der Bekanntmachung aber genannt werden, um die Verdrängungswirkung auszulösen. Zwar fehlt – anders als im Fall des Erlasses einer Rechtsverordnung nach dem AEntG (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG) – ein ausdrückliches Zitiergebot. Die Rechtswirkung der AVE nach Abs. 1a entspricht aber derjenigen einer VO nach dem AEntG; § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG ist § 8 Abs. 2 AEntG nachgebildet. Aus Gründen der Normenklarheit ist eine entsprechende Angabe deshalb geboten. Nur so können die Normunterworfenen erkennen, dass eine eigene anderweitige Tarifbindung durch die AVE ohne weitere Voraussetzungen verdrängt wird (Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 129, 182, 188; Preis/Povedano Peramato Das neue Recht der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifautonomiestärkungsgesetz S. 89).
97
b) Die erfolgten Bekanntmachungen erfüllen diese Anforderungen in vollem Umfang.
98
5. Der Umstand, dass die angegriffenen AVE VTV 2015, AVE BRTV 2015 und AVE BBTV 2015 am 6. Juli 2015 rückwirkend zum 1. Januar 2015 erfolgt sind, führt entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht zu deren Unwirksamkeit.
99
a) Bei der Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen sind die Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, entsprechend anzuwenden. Die Rückwirkung einer AVE verletzt nicht die vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) umfassten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, soweit die Betroffenen mit ihr rechnen müssen. Ein solcher Fall liegt vor, wenn ein Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt wird, der einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag erneuert oder ändert. Bei dieser Sachlage müssen die Tarifgebundenen nicht nur mit einer AVE des Nachfolgetarifvertrags, sondern auch mit der Rückbeziehung der AVE auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechnen (st. Rspr., zB BAG 13. November 2013 – 10 AZR 1058/12 – Rn. 19 mwN). Durch § 5 TVG nF hat sich hieran nichts geändert.
100
b) Diese Voraussetzungen lagen hinsichtlich der AVE VTV 2015, AVE BRTV 2015 und AVE BBTV 2015 vor. Bereits die Vorgängerregelungen waren für allgemeinverbindlich erklärt worden. Im Übrigen sind die Anträge auf AVE noch im Jahr 2014 im Bundesanzeiger veröffentlicht worden, so dass auch aus diesem Grund kein schutzwürdiges Vertrauen entstehen konnte. Die AVE TZA Bau 2015 entfaltete mit dem 1. Januar 2016 erst Wirkung in der Zukunft.
101
VIII. Die nach § 5 Abs. 1 TVG ausgesprochene AVE BRTV 2015 ist rechtswirksam. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann auf Grundlage der bisherigen Feststellungen zwar nicht bejaht werden, dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG erfüllt sind. Hingegen ist die Annahme des BMAS, die AVE BRTV 2015 erscheine nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG im öffentlichen Interesse geboten, nicht zu beanstanden. Dies kann der Senat selbst entscheiden (§ 96 Abs. 1 ArbGG iVm. § 563 Abs. 3 ZPO).
102
1. Verfahrensgegenstand eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ist eine bestimmte Rechtsverordnung oder die Wirksamkeit der AVE eines bestimmten Tarifvertrags (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 132 ff., BAGE 156, 213). Welchen Inhalt die AVE hat, ergibt sich aus der ministeriellen Entscheidung, die der gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Davon umfasst wird wegen der unterschiedlichen Rechtswirkungen auch die Frage, ob eine AVE auf Grundlage von § 5 Abs. 1 TVG oder von § 5 Abs. 1a TVG ergangen ist (Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 188). Unerheblich ist, ob mit der AVE dem Antrag der Tarifvertragsparteien voll entsprochen wurde oder ob sie dahinter zurückbleibt, solange sich die Tarifvertragsparteien hiergegen nicht erfolgreich wenden. Dies könnte allenfalls im Verwaltungsrechtsweg erfolgen, nicht jedoch im Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG (ErfK/Koch 18. Aufl. § 98 ArbGG Rn. 1; vgl. auch BVerwG 3. November 1988 – 7 C 115.86 – zu 4 der Gründe, BVerwGE 80, 355 [zum Fall der Ablehnung einer AVE für einen Teil der beantragten Tarifverträge]). Deshalb bedarf die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen das BMAS die AVE gegenüber dem Antrag beschränken darf, hier keiner Entscheidung (grundsätzlich bejahend zB Däubler/Lakies aaO Rn. 196 ff.; ErfK/Franzen aaO § 5 TVG Rn. 5; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 117 ff.; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 37; Thüsing/Braun Tarifrecht 2. Aufl. 6. Kap. Rn. 107 ff.; aA HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 8). Da das BMAS den BRTV entgegen dem vorrangigen Antrag der Tarifvertragsparteien nicht nach § 5 Abs. 1a TVG, sondern nach § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt hat, sind die Arbeitsgerichte im Rahmen des Verfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG hieran gebunden. Ausschließlich die so ergangene AVE unterliegt der gerichtlichen Überprüfung auf ihre Rechtmäßigkeit. Ein Austausch der Rechtsgrundlagen kommt im Verhältnis zwischen § 5 Abs. 1 TVG und § 5 Abs. 1a TVG nicht in Betracht (aA NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 108), da hierdurch die ministerielle Entscheidung inhaltlich geändert würde.
103
2. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG nF kann ein Tarifvertrag auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien mit Zustimmung des Tarifausschusses für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG erscheint die AVE „in der Regel“ im öffentlichen Interesse geboten, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat (Nr. 1) oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen eine AVE verlangt (Nr. 2).
104
a) Materielle Voraussetzung für den Erlass einer AVE nach § 5 Abs. 1 TVG ist damit in allen Fallgestaltungen, dass diese im öffentlichen Interesse geboten erscheint (BT-Drs. 18/1558 S. 1, 48 f.; HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 11 f.). Auf das vom Gesetzgeber als zu „starr“ empfundene 50-Prozent-Quorum nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 186 ff., BAGE 156, 213) als Tatbestandsvoraussetzung wurde bei der Neufassung verzichtet. Hinsichtlich der Anforderungen an das öffentliche Interesse ist § 5 Abs. 1 TVG hingegen im Verhältnis zur früheren Rechtslage unverändert geblieben, so dass auf die bisherige – auch verfassungsrechtlich geprägte – Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann (Preis/Povedano Peramato S. 35). Bei der Frage, ob die AVE eines Tarifvertrags im öffentlichen Interesse geboten erscheint, hat das BMAS danach eigenverantwortlich zu prüfen, ob die Vorteile der AVE eines Tarifvertrags etwaige Nachteile überwiegen. Hierbei sind sowohl die Interessen der tarifgebundenen als auch diejenigen der nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüberzustellen. Allein das Interesse der Tarifvertragsparteien, das sie mit ihrem gemeinsamen AVE-Antrag zum Ausdruck bringen, genügt ebenso wenig wie das positive Votum des Tarifausschusses. Das „öffentliche Interesse“ kann dabei nicht allgemeingültig definiert werden. Unter anderem sind gesamtwirtschaftliche Daten und die gesamten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und Eigenarten des betreffenden Wirtschaftszweigs zu berücksichtigen sowie arbeitsmarkt- oder sonstige sozialpolitische Erwägungen anzustellen. Wird ein anerkanntes Interesse des Gesetzgebers nachvollzogen, spricht das regelmäßig für ein öffentliches Interesse. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber ist in besonderem Maß dazu berufen zu definieren, welche Maßnahmen im öffentlichen Interesse liegen. Soweit auf dieser Ebene schon eine parlamentarisch kontrollierte Entscheidung getroffen wurde, spricht der erste Anschein dafür, dass eine normsetzende Maßnahme des Ministeriums, die darauf gerichtet ist, das vom Gesetzgeber vorgegebene Ziel zu erreichen, ebenfalls im öffentlichen Interesse liegt (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – zu B II 1 b cc (2) und B II 2 b der Gründe, BVerfGE 44, 322; BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 124 f. mwN, BAGE 156, 213).
105
b) Bei § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG handelt es sich um den Grundtatbestand (Preis/Povedano Peramato S. 35; ähnlich NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 80: „Generalklausel“), der durch zwei alternativ nebeneinanderstehende Regelbeispiele in Satz 2 der Norm konkretisiert wird (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 1, 48 f.; AR/Krebber 8. Aufl. § 5 TVG Rn. 13; Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 111; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 11). Die AVE soll danach „in der Regel“ im öffentlichen Interesse geboten erscheinen, wenn entweder der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hat (Nr. 1) oder die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen die Sicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung durch AVE verlangen (Nr. 2). Dabei handelt es sich um eine gesetzliche Vermutung dafür, dass ein öffentliches Interesse besteht (Forst RdA 2015, 25, 28; Thüsing/Braun Tarifrecht 2. Aufl. 6. Kap. Rn. 76; vgl. auch BAG 20. September 2017 – 6 AZR 58/16 – Rn. 28 [zur Bedeutung des Begriffs „in der Regel“ in § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO]). Auch wenn die Tatbestandsmerkmale von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG gegeben sind, besteht aber keine „Automatik“ für den Erlass der AVE (Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 163; aA AR/Krebber aaO Rn. 12: „öffentliches Interesse nicht anhand weiterer Kriterien zu prüfen“). Vielmehr steht dem BMAS weiterhin ein – durch die Regelbeispiele geleiteter – Beurteilungsspielraum zu. Gegen die AVE sprechende Interessen sind bei der Entscheidung deshalb zu berücksichtigen, wobei die Annahme des Gesetzgebers, ein öffentliches Interesse bestehe unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG im Regelfall, hohes Gewicht hat (BT-Drs. 18/1558 S. 48 f.: „besondere Bedeutung für die Beurteilung“, „das Interesse an der Abstützung der tariflichen Ordnung überwiegt grundsätzlich“). Es müssen daher besondere Umstände oder gewichtige entgegenstehende Interessen vorliegen, um trotz Erfüllung der Regelbeispiele des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG zu verneinen, dass ein öffentliches Interesse am Erlass der AVE besteht. Hingegen ergeben sich aus dem Gesetz keine Anhaltspunkte für die Auffassung, eine AVE nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG könne ausschließlich erfolgen, wenn die Voraussetzungen des Satzes 2 erfüllt sind (so aber Prokop Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG Diss. 2017 S. 236; ähnlich BeckOK ArbR/Giesen TVG § 5 Rn. 10, der im Übrigen kaum Fälle für denkbar hält, bei denen die Voraussetzungen von Satz 2 nicht vorliegen, aber das öffentliche Interesse nach Satz 1 zu bejahen sein kann). Ebenso wenig lässt § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG den Schluss zu, dass die für die AVE sprechenden Gründe besonderes Gewicht haben müssten, wenn die Voraussetzungen der Regelbeispiele nicht gegeben sind. Vielmehr hat das BMAS in einem solchen Fall nach den allgemeinen Grundsätzen frei und gesetzlich ungeleitet zu prüfen, ob die Vorteile der AVE eines Tarifvertrags etwaige Nachteile überwiegen und deshalb ein öffentliches Interesse an ihrem Erlass zu bejahen ist.
106
3. Das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1 TVG nF begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
107
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 5 TVG aF ist das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung als Normsetzung sui generis mit dem Grundgesetz vereinbar (grundlegend BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – zu B II der Gründe, BVerfGE 44, 322; vgl. auch 11. Juli 2006 – 1 BvL 4/00 – zu C II 1 a bb der Gründe, BVerfGE 116, 202). Dies gilt auch für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu B III der Gründe, BVerfGE 55, 7; vgl. auch 10. September 1991 – 1 BvR 561/89 – zu II der Gründe). Dem hat sich das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (zB BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 95, BAGE 156, 213).
108
b) Bedenken verfassungsrechtlicher Art bestehen auch im Hinblick auf § 5 Abs. 1 TVG nF nicht. Das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung ist hinsichtlich seiner Gestaltung und seiner Rechtswirkungen nicht grundsätzlich umgestaltet worden (Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 8). Die durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz vorgenommenen Veränderungen des § 5 Abs. 1 TVG halten sich – entgegen der Auffassung der Antragsteller – in dem in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als verfassungskonform angesehenen Rahmen.
109
aa) Durch das Erfordernis eines gemeinsamen Antrags aller tarifvertragsschließenden Parteien wird gewährleistet, dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrags erforderlich erscheint (BT-Drs. 18/1558 S. 48). Die Transparenz des Verfahrens wurde durch § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG gegenüber der ursprünglich vom Bundesverfassungsgericht zu beurteilenden Rechtslage verbessert, weil jetzt auch die allgemeinverbindlichen Tarifnormen bekannt zu machen sind (Forst RdA 2015, 25, 26).
110
bb) Auch § 5 Abs. 1 TVG nF verlangt für den Erlass einer AVE die Prüfung durch das BMAS, ob ein öffentliches Interesse vorliegt, und – um eine ausreichende demokratische Legitimation herbeizuführen – die zustimmende Befassung durch den zuständigen Minister oder Staatssekretär (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 138 ff., BAGE 156, 213). Dabei sind die Interessen der Außenseiter zu berücksichtigen, die im Verfahren der AVE Gelegenheit haben, diese einzubringen. Ein Verstoß gegen deren Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG liegt in der AVE in einer solchen Ausgestaltung nicht (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – zu B II 2 der Gründe, BVerfGE 44, 322). Die negative Koalitionsfreiheit schützt insbesondere nicht davor, dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt, wie dies bei der AVE geschieht (BVerfG 11. Juli 2006 – 1 BvL 4/00 – zu C II 1 a bb der Gründe, BVerfGE 116, 202). Diese Erwägungen gelten auch für die AVE von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen (BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu B III der Gründe, BVerfGE 55, 7).
111
cc) Die Aufrechterhaltung der 50-Prozent-Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF als Voraussetzung für den Erlass einer AVE hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung weder ausdrücklich noch mittelbar vorgegeben (Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 105 mwN; NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 30; Preis/Povedano Peramato S. 26 ff.). Ebenso wenig lässt sich aus dieser Rechtsprechung ableiten, dass es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verwehrt wäre, die Voraussetzungen für den Erlass der AVE zu verändern oder zu erleichtern (Strippelmann Rechtsfragen der gemeinsamen Einrichtungen Diss. 2015 S. 166 ff., 180 ff.; im Ergebnis ebenso, wenn auch in verschiedener Richtung eine verfassungskonforme Auslegung fordernd Prokop S. 256 ff.; zweifelnd HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 5). Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch die Geltungserstreckung durch Rechtsverordnung nach § 1 Abs. 3a AEntG (in der seit dem 1. Januar 1999 geltenden Fassung) für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten (BVerfG 18. Juli 2000 – 1 BvR 948/00 – zu II der Gründe), obwohl es für den Erlass einer solchen Rechtsverordnung bereits damals keiner Mindestquote iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF bedurfte (Koberski/Asshoff/Eustrup/Winkler AEntG 3. Aufl. § 7 AEntG Rn. 30). Ebenso wenig ist deshalb verfassungsrechtlich ein Verständnis geboten, wonach eine AVE nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG ausschließlich erfolgen dürfe, wenn die Voraussetzungen des Satzes 2 vorliegen (so aber Prokop S. 232 ff.; ähnlich BeckOK ArbR/Giesen TVG § 5 Rn. 10). Vielmehr sind bei Prüfung des öffentlichen Interesses nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG im Rahmen der notwendigen Gesamtabwägung alle Umstände einschließlich der Interessen der Außenseiter zu berücksichtigen.
112
4. Die Entscheidung des BMAS, ein öffentliches Interesse für eine AVE anzunehmen, ist auch nach § 5 Abs. 1 TVG nF nur in beschränktem Umfang gerichtlich nachprüfbar, weil ihm insoweit ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt.
113
a) Bereits zu § 5 TVG aF wurde ein solcher Beurteilungsspielraum als Ausprägung des auch mit Rechtsetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens angenommen und eine Gleichsetzung mit verwaltungsrechtlichen Maßstäben abgelehnt (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 126 mwN, BAGE 156, 213). Dieser Spielraum rechtfertigt sich auch dadurch, dass spiegelbildlich erhöhte Anforderungen an die demokratische Legitimation der Entscheidung gestellt werden (BAG 25. Januar 2017 – 10 ABR 43/15 – Rn. 43, 47). Hieran hat sich im Hinblick auf § 5 TVG nF nichts geändert. Auch dessen Wortlaut (§ 5 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 TVG: „geboten erscheint“) gibt zu erkennen, dass es sich beim öffentlichen Interesse nicht um einen exakt festzustellenden und überprüfbaren Begriff handelt, sondern um das Ergebnis einer Wertung, die der Gesetzgeber dem BMAS übertragen hat. Dieser Beurteilungsspielraum wird erst dann rechtswidrig ausgeübt, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung in § 5 TVG und der danach zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen – einschließlich der Interessen der Tarifvertragsparteien – schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist. Durch die Stellungnahme- und Einspruchsrechte, wie sie in § 5 Abs. 2 und Abs. 3 TVG geregelt sind, ist eine verfahrensmäßige Absicherung der Interessenabwägung gegeben, die eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass das BMAS seinen weiten Beurteilungsspielraum sachgerecht nutzt (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 127 mwN, aaO).
114
b) Soweit dieser Wertung allerdings – wie zB bei der Feststellung der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertrags iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG – Tatsachen zugrunde liegen, sind diese der Überprüfung durch die Gerichte nicht entzogen. Sie sind nicht Teil der Wertung, sondern deren objektiv festzustellende Grundlage (vgl. dazu auch die im Gesetzgebungsverfahren erfolgte Änderung des Wortlauts von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG gegenüber dem Gesetzentwurf BT-Drs. 18/1558 S. 19, 49: S. 65 f. mit Stellungnahme des Bundesrats, S. 70 mit Gegenäußerung der Bundesregierung; Beschlussempfehlung des Ausschusses BT-Drs. 18/2010 S. 6, 26). Im Rahmen des nach § 98 Abs. 3 Satz 1, § 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG geltenden eingeschränkten Amtsermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsatzes hat das Gericht insoweit alle Tatsachen zu erforschen, die nach seiner Ansicht in Bezug auf den Verfahrensgegenstand entscheidungserheblich sind (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 87, BAGE 156, 213).
115
5. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann nach diesen Grundsätzen auf Grundlage der bisherigen Feststellungen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG nicht bejaht und die Annahme des Bestehens eines öffentlichen Interesses an der AVE BRTV 2015 hierauf nicht gestützt werden.
116
a) Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG erscheint eine AVE in der Regel im öffentlichen Interesse geboten, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich überwiegende Bedeutung erlangt hat. Die Formulierung knüpft an § 2 Abs. 1 Satz 1 Tarifvertragsverordnung vom 23. Dezember 1918 (TVVO, RGBl. S. 1456) idF der Bekanntmachung vom 1. März 1928 an (RGBl. I S. 47).
117
aa) Die Annahme der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertrags iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG setzt voraus, dass die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich des Tarifvertrags (bb) durch diesen gestaltet wird (cc). Dies ergibt sich schon aus dem eindeutigen Wortlaut der Norm und entspricht der ganz herrschenden Auffassung im Schrifttum (AR/Krebber 8. Aufl. § 5 TVG Rn. 13; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 14; HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 14; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 178; Preis/Povedano Peramato S. 43; Prokop S. 63 ff., 215 ff.; wohl auch Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 57 f.; Strippelmann S. 176; kritisch NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 87, der wohl eine relative Mehrheit genügen lassen will). Nur ein solches Verständnis rechtfertigt auch die Annahme, der Tarifvertrag habe sich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen durchgesetzt (BT-Drs. 18/2010 S. 16; dazu Preis/Povedano Peramato S. 43), und trägt damit die Vermutungswirkung des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG. Diese Auslegung korrespondiert mit dem früheren Verständnis von § 2 Abs. 1 Satz 1 TVVO. Das damalige Schrifttum ging – wenn auch mit Formulierungsunterschieden im Einzelnen – im Kern davon aus, dass der Inhalt der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse tatsächlich nach den Bedingungen des Tarifvertrags gestaltet sein musste (Hueck/Nipperdey Lehrbuch des Arbeitsrechts 2. Aufl. 1930 S. 272 f. zu III 3; Hueck Das Recht des Tarifvertrages 1920 S. 126, 128; ähnlich Kaskel/Dersch Arbeitsrecht 4. Aufl. 1932 S. 121 zu 3 a; Meyer RArbBl. (nichtamtl. Teil) 1921, 941, 942; Sitzler/Goldschmidt Tarifvertragsrecht 1929 § 2 TVVO Anm. 2 c S. 56). Ein solches Verständnis des Regelbeispiels nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG führt auch nicht zu einer Wiedereinführung der 50-Prozent-Quote „durch die Hintertür“ (in diese Richtung Forst RdA 2015, 25, 28). Während das Erreichen der 50-Prozent-Quote nach früherem Recht Voraussetzung war, um überhaupt über das Bestehen eines öffentlichen Interesses iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF entscheiden zu können (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 186, BAGE 156, 213), führt die Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG nF zu einer gesetzlichen Vermutung für das Vorliegen eines öffentlichen Interesses, ohne dass es sich dabei um eine abschließende Regelung handeln würde (AR/Krebber aaO Rn. 12).
118
bb) Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG muss der Tarifvertrag die geforderte Gestaltungswirkung „in seinem Geltungsbereich“ erlangt haben. Auch nach neuem Recht kommt es für die Ermittlung der überwiegenden Bedeutung deshalb darauf an, wie viele Arbeitnehmer insgesamt unter den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags fallen.
119
(1) Die Gesetzesformulierung ist insoweit gegenüber § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF im Kern unverändert geblieben. Nach früherer Rechtslage kam es darauf an, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 von Hundert der „unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags“ fallenden Arbeitnehmer beschäftigten. Da auch der Begriff des Geltungsbereichs nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unverändert geblieben ist, hat sich das Verständnis durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz nicht verändert. Es kann auf die hierzu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden (vgl. umfassend BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 187 ff. mwN, BAGE 156, 213). Maßgeblich ist für die Ermittlung der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertrags damit, wie viele Arbeitnehmer insgesamt unter den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags fallen. Ist der Geltungsbereich im Tarifvertrag selbst beschränkt, sind in den der Beschränkung unterfallenden Betrieben beschäftigte Arbeitnehmer nicht zu berücksichtigen. Unerheblich für die Feststellung der überwiegenden Bedeutung ist hingegen, ob die AVE mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs beantragt oder ergangen ist (ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 14; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 183; Prokop S. 65 ff.).
120
(2) Allerdings wird in der Begründung zu Art. 5 Tarifautonomiestärkungsgesetz die Auffassung vertreten, es sei „- wie schon bereits bei der Ermittlung des 50-Prozent-Quorums – zu berücksichtigen, wenn der besondere Geltungsbefehl der Allgemeinverbindlicherklärung nur für einen Teil des Geltungsbereichs erfolgt“ (BT-Drs. 18/1558 S. 48). Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 189, BAGE 156, 213) bereits ausführlich dargelegt, dass diese Aussage für die frühere Rechtslage nicht zutraf. Soweit hierin hinsichtlich der Neuregelung ein gegenteiliger gesetzgeberischer Wille zum Ausdruck gebracht worden sein sollte, hat er in der Neufassung des § 5 TVG jedenfalls keinen erkennbaren Niederschlag gefunden. Weder Wortlaut noch Systematik haben sich in diese Richtung verändert. Auch Sinn und Zweck der Neufassung gebieten kein solches Verständnis. Das Regelbeispiel des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG leitet seine gesetzliche Vermutungswirkung gerade daraus ab, dass der Tarifvertrag die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse der Branche prägt. Im Kern geht es damit um die Repräsentativität der für allgemeinverbindlich zu erklärenden Normen. Ob eine solche Prägung vorliegt, muss sich dann auch danach beurteilen, ob sich die Normen in dem Bereich, für den sie nach dem Willen der Tarifvertragsparteien Geltung beanspruchen, tatsächlich durchgesetzt haben (aA Preis/Povedano Peramato S. 39 f.: „widersinniger Formalismus“).
121
cc) Eine Gestaltung der Arbeitsbedingungen iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG durch einen Tarifvertrag liegt vor, wenn sich die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags nach den Rechtsnormen des Tarifvertrags bestimmen, unabhängig davon, auf welcher rechtlichen Grundlage dies erfolgt.
122
(1) Die Reichweite des Begriffs „Gestaltung der Arbeitsbedingungen“ ist nicht eindeutig. In seiner Wortbedeutung ist unter „Gestaltung“ das Gestalten, die Formgebung zu verstehen. Wer etwas gestaltet, formt, bildet oder entwickelt eine Sache (Wahrig Deutsches Wörterbuch 9. Aufl. Stichwörter „Gestaltung“, „gestalten“). Die Arbeitsbedingungen müssen also ihre Form durch den Tarifvertrag finden, soweit dieser reicht und für Tarifgebundene den Inhalt des Arbeitsverhältnisses bestimmen würde. Dabei macht § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG nF keine Vorgabe, wie dies zu erfolgen hat. Anders als nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF kommt es deshalb nicht mehr nur auf die unmittelbare mitgliedschaftliche Bindung an den Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1, Abs. 2 TVG an, auch wenn dies der Fall ist, in dem die Arbeitsbedingungen unmittelbar und zwingend durch den Tarifvertrag gestaltet werden (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Arbeitsbedingungen können auch auf andere Weise durch Tarifverträge inhaltlich gestaltet werden; solche anderen Formen der Tarifgeltung oder -anwendung müssen nunmehr Berücksichtigung finden (Henssler RdA 2015, 43, 50; HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 14; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 191; Preis/Povedano Peramato S. 40 f.; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 205 Rn. 17; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 56; Thüsing/Braun Tarifrecht 2. Aufl. 6. Kap. Rn. 77). Dies macht den Kern der Neuregelung aus (BT-Drs. 18/1558 S. 48 f.). Darunter fallen originär tarifrechtliche Bindungen wie inhaltsgleiche Anerkennungs- oder Anschlusstarifverträge, die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) oder die Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) ebenso wie individualrechtliche Bindungen über arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln oder eine konkludente Vereinbarung, nach Betriebsübergängen (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB), aus Gesamtzusagen oder die Anwendung kraft betrieblicher Übung. Insbesondere diese individualrechtlichen Gestaltungsformen werden von einem Teil des arbeitsrechtlichen Schrifttums als Formen der in der Begründung zum Tarifautonomiestärkungsgesetz (BT-Drs. 18/1558 S. 48 f.) – nicht aber im Gesetz selbst – erwähnten „anderweitigen Orientierung“ am Tarifvertrag angesehen (so zB Forst RdA 2015, 25, 29; Preis/Povedano Peramato S. 41; ähnlich Henssler RdA 2015, 43, 50). Von einer Gestaltung der Arbeitsbedingungen kann unproblematisch ausgegangen werden, wenn der Tarifvertrag, der für allgemeinverbindlich erklärt werden soll, auf diesem Weg als Ganzes die Arbeitsbedingungen bestimmt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Arbeitsverhältnis im Übrigen tariflichen Bedingungen unterliegt, weil Bezugspunkte ausschließlich der jeweils für allgemeinverbindlich zu erklärende Tarifvertrag und die durch ihn gestalteten Arbeitsbedingungen sind.
123
(2) Die Annahme einer Gestaltung der Arbeitsbedingungen durch den für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrag iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG scheidet hingegen – abgesehen vom Anwendungsbereich des Günstigkeitsprinzips – aus, wenn dieser nur teilweise, in veränderter Form oder „annähernd“ im Arbeitsverhältnis Anwendung findet (ähnlich Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 193 f.; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 56). Vergleicht man die Bedeutung der tariflichen Normen in einem solchen Fall mit der Lage der unmittelbar Tarifgebundenen, unterscheiden sich deren materielle Arbeitsbedingungen nicht nur hinsichtlich ihres rechtlichen Geltungsgrundes, sondern inhaltlich. Von einer Gestaltung durch den Tarifvertrag kann dann nicht mehr gesprochen werden. Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, die Orientierung an „wesentlichen Regelungsbereichen“ (ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 14; Thüsing/Braun Tarifrecht 2. Aufl. 6. Kap. Rn. 77) oder gar die Übernahme von einzelnen Kernarbeitsbedingungen (Preis/Povedano Peramato S. 41 f.) sei ausreichend, kann dies nicht überzeugen. Eine solche Annahme lässt sich schon kaum mit dem Wortlaut der Norm vereinbaren, der eine teilweise Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht genügen lässt, sondern eine inhaltliche Verbindung zwischen dem Tarifvertrag und der Gestaltung der Arbeitsbedingungen verlangt. Ein derartiges Verständnis wäre systematisch ebenso wenig mit der Anknüpfung an den Geltungsbereich des Tarifvertrags vereinbar; auch insoweit können nicht einzelne Teile des Geltungsbereichs herausgenommen werden. Darüber hinaus widerspräche es dem Sinn und Zweck der Norm, weil sich die gesetzliche Vermutungsregelung gerade aus der Repräsentativität und Verbreitung des Tarifvertrags ableitet. Das Herausgreifen einzelner – sei es auch wichtiger – Arbeitsbedingungen aus dem Tarifvertrag führt gerade nicht dazu, den Tarifvertrag insgesamt als repräsentativ ansehen zu können. Schließlich ließe eine solche Annahme auch keine annähernd rechtssichere Abgrenzung zu. Es bliebe völlig unklar, was unter wesentlichen Regelungsbereichen oder Kernarbeitsbedingungen eines Tarifvertrags zu verstehen wäre, der immer in seiner Gesamtheit das Ergebnis der Verhandlungen der Tarifvertragsparteien darstellt. Es fehlte darüber hinaus jeglicher brauchbare Maßstab dafür, welche Abweichung zulasten der Arbeitnehmer tolerierbar wäre, um einen Tarifvertrag noch als gestaltend für die Arbeitsbedingungen anzusehen. Die Bundesregierung hat im Gesetzgebungsverfahren die Auffassung vertreten, die im Rahmen des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erhobenen Daten könnten eine Vorstellung davon geben, wie verbreitet Tarifverträge in bestimmten Wirtschaftsbereichen aufgrund von arbeitsvertraglichen Inbezugnahmen oder anderweitigen Orientierungen an Tarifverträgen seien (BT-Drs. 18/1558 S. 70). Das zwingt nicht zu einem anderen Verständnis. Im Rahmen der Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG vorliegen, muss vielmehr aufgeklärt werden, wie weit die Aussagekraft entsprechender statistischer Feststellungen reicht. Hingegen kann nicht aus einem dort verwendeten Begriff auf das Verständnis der gesetzlichen Regelung geschlossen werden.
124
b) Bei Ermittlung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG durch das BMAS und einer ggf. nachfolgenden gerichtlichen Überprüfung ist allerdings zu berücksichtigen, dass deren exakte Feststellung unmöglich ist und deshalb eine sorgfältige Schätzung ausreicht (BT-Drs. 18/1558 S. 49, 70). Insoweit hat sich die Rechtslage gegenüber § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF nicht verändert. Stets erforderlich ist aber eine Ausschöpfung aller greifbaren Erkenntnismittel und eine möglichst genaue Auswertung des verwertbaren statistischen Materials (vgl. zu § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 200 mwN, BAGE 156, 213).
125
c) Nach diesen Grundsätzen durfte das Landesarbeitsgericht mit der von ihm gegebenen Begründung ohne weitere Sachverhaltsaufklärung nicht annehmen, der BRTV habe überwiegende Bedeutung für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG erlangt.
126
aa) Die vom Landesarbeitsgericht gebilligte Annahme des BMAS, bei der Feststellung der überwiegenden Bedeutung des BRTV für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen sei dessen Geltungsbereich unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel maßgeblich, ist rechtsfehlerhaft. Nur hierauf beziehen sich aber die auf Seite 5 des Vermerks zum BRTV vom 11. Juni 2015 genannten Zahlen der ULAK; über andere Zahlen verfügte die ULAK zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der AVE nicht (vgl. dazu auch BAG 25. Januar 2017 – 10 ABR 34/15 – Rn. 85 f.). Der Senat hat in diesem Zusammenhang bereits für die AVE VTV 2014 angenommen, dass die Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Ermittlung der Großen Zahl die Schätzgrundlage unbrauchbar macht, weil die Zahl aller Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags dadurch systematisch zu klein wird. Der Senat hat weiter ausgeführt, dass es sich dabei nicht um einen vernachlässigbaren Effekt handle, bei dem aber auch nicht erkennbar sei, in welchem absoluten oder prozentualen Umfang er sich auswirke (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – Rn. 187 f., BAGE 156, 289). Diese Erwägungen gelten im Hinblick auf die Ermittlung der überwiegenden Bedeutung des BRTV in gleicher Weise.
127
Hinzu kommt, dass dem BMAS bei der Entscheidung über die AVE BRTV 2015 sowohl im Hinblick auf die Zahl der Beschäftigten im Baugewerbe als auch im Hinblick auf die mitgliedschaftliche Bindung nur Zahlen aus dem Jahr 2013 zur Verfügung standen, weil die antragstellenden Tarifvertragsparteien am Verfahren nicht weiter mitgewirkt und keine aktuelleren Zahlen mitgeteilt haben. Mit diesen Zahlen – die auch der AVE VTV 2014 zugrunde lagen – hat sich der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 21. September 2016 (- 10 ABR 48/15 – BAGE 156, 289) umfangreich auseinandergesetzt, sowohl hinsichtlich der Großen Zahl (dort Rn. 187 ff.) als auch hinsichtlich der Kleinen Zahl (dort Rn. 207 ff.) erhebliche Bedenken geäußert und im Ergebnis die damals erforderliche 50-Prozent-Quote als nicht erreicht angesehen.
128
bb) Zusätzlich haben sich das BMAS und das Landesarbeitsgericht allerdings noch auf die Ergebnisse des IAB-Betriebspanel 2014 (WSI-Mitteilungen 2015, 290 ff.) gestützt. Danach sind im Jahr 2014 im Bereich des Baugewerbes im Westen 67 % der Beschäftigten und im Osten 50 % der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben beschäftigt gewesen. Auch wenn das zusätzlich verwendete unscharfe Kriterium der „Orientierung am Branchentarifvertrag“ ausgeblendet wird, könnte diese Untersuchung die Annahme einer überwiegenden Bedeutung des BRTV stützen (vgl. zum IAB-Betriebspanel als Informationsquelle auch BT-Drs. 18/1558 S. 49, 70). Problematisch ist allerdings – was das Landesarbeitsgericht selbst erkennt -, dass die Branchenzuordnung in dieser Untersuchung wohl nicht identisch mit dem Geltungsbereich des BRTV ist, sondern sich an der Klassifikation der Wirtschaftszweige 2008 (WZ 2008) orientiert (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – Rn. 195, BAGE 156, 289). Vor diesem Hintergrund hätte es weiterer Aufklärungsmaßnahmen zum genauen Inhalt und zur Reichweite der Aussagekraft der Zahlen des IAB bedurft, um hierauf bezogen auf den Geltungsbereich des BRTV eine überwiegende Bedeutung dieses Tarifvertrags für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu stützen. Der vom Landesarbeitsgericht darüber hinaus herangezogene Bericht des Instituts für Arbeit und Qualifikation aus dem Jahre 2011 über die Verbreitung der Nutzung von Arbeitszeitkonten im Baugewerbe ist hingegen weder in zeitlicher noch in inhaltlicher Sicht aussagekräftig für die Bedeutung des BRTV zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die AVE.
129
6. Die Sache muss aber nicht an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden, weil sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 92 Abs. 2 ArbGG, § 563 Abs. 3 ZPO). Die Annahme des BMAS, die AVE BRTV 2015 könne (auch) unmittelbar auf ein bestehendes öffentliches Interesse nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG gestützt werden, hält sich im Rahmen des ministeriellen Beurteilungsspielraums und ist weder unvertretbar noch unverhältnismäßig. Diese Wertung kann der Senat selbst vornehmen. Alle notwendigen Feststellungen sind getroffen, weiterer Sachvortrag der Antragsteller und sonstigen Beteiligten ist nicht zu erwarten.
130
a) Durch den BRTV werden Rahmenbedingungen für die Beschäftigung in der Branche insgesamt geschaffen, die mehrere Jahrzehnte lang für allgemeinverbindlich erklärt worden waren. Die meisten Normen des BRTV waren – abgesehen von den Bestimmungen, die unmittelbar das Sozialkassenverfahren betrafen – in der Vergangenheit nicht umstritten. Die Wirksamkeit der AVE des BRTV ist erstmals im vorliegenden Verfahren infrage gestellt worden. Durch die AVE wird den Arbeitgebern der Anreiz genommen, sich durch Verbandsaustritt dem Tarifvertrag zu entziehen und sich zulasten der Beschäftigten Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (vgl. dazu BAG 20. September 2017 – 10 ABR 42/16 – Rn. 31 mwN). Der BRTV enthält den materiell-rechtlichen Kern des Urlaubskassenverfahrens, obwohl es sich um keinen Tarifvertrag über gemeinsame Einrichtungen iSv. § 5 Abs. 1a TVG handelt (näher IX 1 a). Im Rahmen der Bewertung, ob die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint, sind Zwecksetzung und praktische Auswirkungen von BRTV und VTV einheitlich zu betrachten (BAG 24. Januar 1979 – 4 AZR 377/77 – BAGE 31, 241). Sonst liefen die entsprechenden Bestimmungen des VTV leer. Dass am Urlaubskassenverfahren selbst ein öffentliches Interesse besteht, hat der Senat bereits mehrfach entschieden (vgl. zB BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 129, BAGE 156, 213). Die dadurch entstehende (zusätzliche) Zahlungsverpflichtung der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ist im Ergebnis begrenzt. Sie sind auch gesetzlich verpflichtet, Urlaub und Urlaubsentgelt zu gewähren. Das Urlaubskassenverfahren stellt in seiner praktischen Ausprägung nur einen anderen Abwicklungsweg dar. Für ein öffentliches Interesse an der AVE spricht auch, dass die Regelungen über die Arbeitszeitflexibilisierung und das entsprechende Ausgleichskonto wegen der besonderen Witterungsabhängigkeit im Baugewerbe übergeordnete Bedeutung haben und im Interesse einer sinnvollen Durchführung der Winterbauförderung erforderlich sind. Hiervon profitieren auch die durch die AVE tarifunterworfenen Arbeitgeber, die jedenfalls bei Fortbestand der Arbeitsverhältnisse ggf. verpflichtet wären, Annahmeverzugsleistungen nach § 615 BGB zu erbringen. Gleiches gilt beispielsweise im Hinblick auf die deutliche Verkürzung der Kündigungsfristen gegenüber den gesetzlichen Fristen (§ 11 BRTV).
131
b) Das allgemeine Interesse nicht tarifgebundener Arbeitgeber, die Rahmenbedingungen der Arbeitsverhältnisse ihrer Beschäftigten freier Vereinbarung auf Grundlage gesetzlicher Mindestbedingungen zu unterwerfen, muss demgegenüber zurücktreten. Weitere, etwa darüber hinausgehende Belastungen haben die Antragsteller in Bezug auf den BRTV nicht benannt. Solche sind auch nicht erkennbar. Eine Abwägung dieser Interessen vorzunehmen, ist Aufgabe des BMAS. Wenn sich das BMAS bei einer solchen Ausgangslage dazu entschließt, das öffentliche Interesse an einer AVE trotz entgegenstehender Interessen der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber zu bejahen, kann dies nicht als unvertretbar oder unverhältnismäßig angesehen werden.
132
IX. Die nach § 5 Abs. 1a TVG ergangene AVE VTV 2015 vom 6. Juli 2015 ist rechtswirksam.
133
1. Ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung kann zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn er die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung mit bestimmten Gegenständen regelt (§ 5 Abs. 1a Satz 1 TVG). Der Tarifvertrag kann dabei nach Abs. 1a Satz 2 alle mit dem Beitragseinzug und der Leistungsgewährung in Zusammenhang stehenden Rechte und Pflichten einschließlich der dem Verfahren zugrunde liegenden Ansprüche der Arbeitnehmer und Pflichten der Arbeitgeber regeln; er ist nicht auf die Errichtung der gemeinsamen Einrichtung und auf Verfahrensfragen beschränkt.
134
a) Erste Tatbestandsvoraussetzung zur Eröffnung des Anwendungsbereichs des § 5 Abs. 1a TVG ist bereits nach dem Wortlaut der Norm, dass es sich um einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung handelt, der die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen hinsichtlich bestimmter Gegenstände zum Inhalt hat (Forst RdA 2015, 25, 30; Preis/Povedano Peramato S. 59; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 69). Ein Tarifvertrag mit einem anderen Regelungsgegenstand genügt nicht. Der Begriff der gemeinsamen Einrichtung entspricht dem von § 4 Abs. 2 TVG (NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 104). Gemeinsame Einrichtungen sind danach von den Tarifvertragsparteien geschaffene und von ihnen abhängige Organisationen, deren Zweck und Organisationsstruktur durch Tarifvertrag festgelegt wird (BAG 25. Januar 1989 – 5 AZR 43/88 – zu II der Gründe, BAGE 61, 29; BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu A I 2 der Gründe, BVerfGE 55, 7; umfassend Strippelmann S. 17 ff.). Nur Tarifverträge, die einen solchen Regelungsgehalt haben, können nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden und die hieran anknüpfenden besonderen Rechtswirkungen entfalten (§ 5 Abs. 4 Satz 2 TVG). Um sich als Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung in diesem Sinn zu qualifizieren, muss der Tarifvertrag mindestens überwiegend Regelungen treffen, die die Errichtung der gemeinsamen Einrichtung, das Verfahren von Beitragseinzug und Leistungsgewährung oder die dem Verfahren zugrunde liegenden Ansprüche der Arbeitnehmer und Pflichten der Arbeitgeber regeln. Dabei genügt es, wenn einer der Katalogtatbestände vorliegt, der Tarifvertrag über die gemeinsame Einrichtung muss nicht alle vom Gesetz zugelassenen Gegenstände eines solchen Tarifvertrags erfassen. Für die von einem Teil der Antragsteller vertretene Auffassung, ein solcher Tarifvertrag müsse stets kumulativ Regelungen zu den in § 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 5 TVG genannten Gegenständen treffen, findet sich im Gesetz kein Anhaltspunkt. Allerdings ist nicht ausreichend, wenn ein allgemeiner Tarifvertrag auch Regelungen enthält, die mit einer gemeinsamen Einrichtung zusammenhängen. § 5 Abs. 1a Satz 2 TVG lässt zwar zu, dass andere Regelungsgegenstände einschließlich der materiellen Anspruchsgrundlagen in einem Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung enthalten sein können. Die Bestimmung ergänzt aber lediglich Satz 1, ohne das dort aufgestellte Erfordernis des Bestehens eines Tarifvertrags mit bestimmten besonderen Regelungsgegenständen aufzugeben.
135
b) Nicht erforderlich ist, dass ein Tarifvertrag nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG ausschließlich Regelungen über gemeinsame Einrichtungen enthält (ebenso Henssler RdA 2015, 43, 52; vgl. auch BT-Drs. 18/2010 S. 17). Tarifnormen, die inhaltlich nicht unter den Katalog nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG fallen, aber Teil eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung sind, können dann allerdings nicht nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden (AR/Krebber 8. Aufl. § 5 TVG Rn. 15; Henssler RdA 2015, 43, 52 f.). Dem steht die klare und als abschließend zu verstehende Liste (Forst RdA 2015, 25, 31; Preis/Povedano Peramato S. 36, 64) der tariflich regelbaren Gegenstände entgegen, die unter Abs. 1a fallen und die Verdrängungswirkung nach Abs. 4 Satz 2 auslösen können. Zwar wurde im Gesetzgebungsverfahren im Ausschuss für Arbeit und Soziales auf Frage der SPD-Fraktion vom BMAS die Auffassung vertreten, unter § 5 Abs. 1a TVG fielen alle Tarifverträge, in denen Aufgaben und Leistungen einer gemeinsamen Einrichtung geregelt seien, auch wenn neben diesen Bestimmungen, die die gemeinsame Einrichtung beträfen, ggf. auch noch andere Arbeitsbedingungen in diesen Tarifverträgen normiert würden (BT-Drs. 18/2010 S. 17). Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass auch die Erstreckung anderer Tarifnormen nach dieser Vorschrift erfolgen könnte (vgl. dazu auch BT-Drs. 18/1558 S. 49 vorletzter Absatz; ablehnend gegenüber einer solchen Sichtweise unter Hinweis auf das verfassungsrechtliche Übermaßverbot auch Preis/Povedano Peramato S. 61 ff.). Hingegen können in solchen Tarifverträgen enthaltene Tarifnormen anderen Inhalts nach § 5 Abs. 1 TVG unter den dortigen Voraussetzungen für allgemeinverbindlich erklärt werden (Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 129; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 80 [getrennte Verfahren fordernd]; NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 107 [„Mischantrag“]; Preis/Povedano Peramato S. 63 f.; Prokop S. 75; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 205 Rn. 19; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 69 [allerdings offenlassend, ob nicht der gesamte Tarifvertrag nach § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden muss]). Gleichermaßen schließt § 5 Abs. 1a TVG nicht aus, dass Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden, ohne dann an der Wirkung nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG teilzuhaben (aA Löwisch/Rieble aaO Rn. 78, die eine AVE bei Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen ausschließlich unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1a TVG zulassen wollen).
136
c) Weitere Voraussetzung für den Erlass einer AVE nach § 5 Abs. 1a TVG ist die „Sicherung der Funktionsfähigkeit“ der gemeinsamen Einrichtung. Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags muss deshalb das Ziel haben können, die (Fort-)Existenz der gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien sicherzustellen. Weitere tatsächliche Voraussetzungen, wie zB eine überwiegende Bedeutung des Tarifvertrags, sind – anders, als von den Rechtsbeschwerden teilweise vertreten wird – nicht erforderlich (zB AR/Krebber 8. Aufl. § 5 TVG Rn. 15; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 14c).
137
d) Auch der Erlass einer AVE nach § 5 Abs. 1a TVG erfordert eine abschließende Gesamtbeurteilung durch das BMAS, ob die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Das kann nur verneint werden, wenn besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen bestehen.
138
aa) Der Wortlaut des § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG regelt dies allerdings – anders als § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG – nicht ausdrücklich; der Begriff des öffentlichen Interesses wird dort nicht genannt. Die Verwendung des Worts „kann“ zeigt jedoch, dass dem BMAS auch im Fall der Entscheidung über die AVE eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung ein normatives Ermessen zusteht. Deshalb gibt es auch dann keine „Automatik“ für den Erlass einer entsprechenden AVE, wenn diese der Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamen Einrichtung dient. Systematisch wird die Notwendigkeit des Bestehens eines öffentlichen Interesses an der AVE im Übrigen auch an § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG deutlich. Danach kann das BMAS eine AVE im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss aufheben, wenn die Aufhebung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Die Norm unterscheidet nicht zwischen der Aufhebung einer AVE nach § 5 Abs. 1 TVG und der AVE eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung nach § 5 Abs. 1a TVG. An die Aufhebung einer AVE können aber keine höheren Anforderungen gestellt werden als an deren Erlass. Deshalb bedarf es im Fall des Erlasses einer AVE nach Abs. 1a einer abschließenden Gesamtbeurteilung hinsichtlich des Bestehens eines öffentlichen Interesses (im Ergebnis ebenso, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungsansätzen: BeckOK ArbR/Giesen TVG § 5 Rn. 17; Däubler/Lakies TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 124; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 214; Preis/Povedano Peramato S. 75; Prokop S. 226 f., 249; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 205 Rn. 20; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 78; Strippelmann S. 181). Hiervon ist – wie sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs ergibt – auch der Gesetzgeber ausgegangen (BT-Drs. 18/1558 S. 49). Ein solches Verständnis trägt darüber hinaus der verfassungsrechtlichen Anforderung Rechnung, auch die Interessen der Außenseiter bei der Entscheidung über die AVE zu wahren (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 44, 322). Hingegen gibt das Gesetz keine Anhaltspunkte für die teilweise von den Antragstellern vertretene Auffassung, wonach auch Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen nur unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden könnten.
139
bb) Allerdings wird systematisch durch die Schaffung eines eigenen Absatzes und im Hinblick auf die verwendete abweichende Formulierung deutlich, dass das Gesetz – über die Vermutungswirkung des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG hinaus – davon ausgeht, dass ein öffentliches Interesse an einer solchen Sicherung der Funktionsfähigkeit einer gemeinsamen Einrichtung „grundsätzlich“ gegeben ist, weil eine allgemeinverbindliche tarifliche Regelung hinsichtlich der in Nr. 1 bis Nr. 5 genannten Gegenstände „sozialpolitisch grundsätzlich erwünscht“ ist (BT-Drs. 18/1558 S. 49; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 211: „Sonderfall öffentlichen Interesses“; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 205 Rn. 20: „besonderes öffentliches Interesse“). Die Ablehnung eines öffentlichen Interesses an der AVE eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung, der der Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit dient, kommt daher nur in Betracht, wenn ganz besonders gewichtige Umstände oder überragende Interessen entgegenstehen. Eine solche Situation könnte beispielsweise vorliegen, wenn ein wenig repräsentativer Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung für allgemeinverbindlich erklärt werden soll, der sich in der Praxis noch nicht bewährt hat und bei dem auch nicht erkennbar ist, dass ein branchenbezogener Anspruchserwerb erforderlich ist, weil der einzelne Arbeitgeber solche Leistungen nicht erbringen kann (vgl. zu diesen Aspekten ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 14c; HWK/Henssler 7. Aufl. § 5 TVG Rn. 19). Ähnliches gilt, wenn die Nachteile einer erstreckten tariflichen Regelung für Außenseiter im Einzelfall ein solches Gewicht erlangen, dass die AVE auch im Licht des besonderen öffentlichen Interesses an dem Bestand der gemeinsamen Einrichtung nicht geboten erscheint.
140
e) Bestehen in ihrem fachlichen Geltungsbereich mindestens teilweise überschneidende Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen, hat das BMAS bei seiner Entscheidung über die AVE zusätzlich die Repräsentativität der jeweiligen Tarifverträge zu berücksichtigen.
141
aa) Nach § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG soll § 7 Abs. 2 AEntG entsprechende Anwendung finden. Diese Norm bestimmt, dass der Verordnungsgeber des AEntG im Rahmen einer Gesamtabwägung auch die Repräsentativität der jeweiligen Tarifverträge zu berücksichtigen hat, wenn in einer Branche mehrere Tarifverträge mit zumindest teilweise demselben fachlichen Geltungsbereich zur Anwendung kommen. Als Ziel der Regelung wird allgemein gesehen, die Verdrängung konkurrierender gemeinsamer Einrichtungen zu vermeiden oder jedenfalls nur dann geschehen zu lassen, wenn eine hinreichende Bedeutung des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags besteht (Henssler RdA 2015, 43, 53; NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 121; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 217; Preis/Povedano Peramato S. 70; Sittard in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 7 Rn. 79). Darauf, ob hinsichtlich des anderen Tarifvertrags ebenfalls eine AVE beantragt ist, kommt es dabei nicht an (so aber wohl BeckOK ArbR/Giesen TVG § 5 Rn. 19; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 14b). Auch bei einem Verzicht der Tarifvertragsparteien der konkurrierenden gemeinsamen Einrichtung auf den Antrag einer AVE wäre der Bestand der dortigen gemeinsamen Einrichtung wegen § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG durch die Bindung an den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gefährdet.
142
bb) Eine gesonderte Repräsentativitätsprüfung ist hingegen nicht erforderlich, wenn die Verdrängung eines potenziell konkurrierenden Tarifvertrags schon deshalb ausscheidet, weil die AVE von den Antragstellern mit einer Einschränkungsklausel versehen wurde, die das Auftreten entsprechender Konkurrenzen vermeidet. Gleiches gilt, wenn das BMAS die AVE nur mit einer solchen Einschränkung erlassen will. In einem solchen Fall erfolgt wegen der Einschränkungsklausel in deren Reichweite schon keine Erstreckung auf die an einen anderen Tarifvertrag gebundenen Arbeitgeber, so dass eine kraft Gesetzes nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG aufzulösende Konkurrenz nicht auftritt. Da in einem solchen Fall keine konkurrierende Regelung verdrängt wird, kommt es auf die Repräsentativität des Tarifvertrags der beantragten AVE nicht an.
143
2. Das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Abs. 1a TVG nF begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
144
a) Wie bereits dargelegt, hat das Bundesverfassungsgericht die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien nach § 5 TVG aF als unbedenklich angesehen (BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu B III der Gründe, BVerfGE 55, 7; vgl. auch 10. September 1991 – 1 BvR 561/89 – zu II der Gründe). Dem hat sich das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (zB BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 95, BAGE 156, 213). Hieran ist auch für § 5 Abs. 1a TVG festzuhalten.
145
aa) Auch für AVE nach § 5 Abs. 1a TVG wird durch das Erfordernis eines gemeinsamen Antrags aller tarifvertragsschließenden Parteien gewährleistet, dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrags erforderlich erscheint (BT-Drs. 18/1558 S. 48). Die Transparenz des Verfahrens wurde durch § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG verbessert.
146
bb) § 5 Abs. 1a TVG verlangt für den Erlass einer AVE ebenfalls die abschließende Gesamtbeurteilung durch das BMAS, ob ein öffentliches Interesse besteht, und die zustimmende Befassung durch den zuständigen Minister oder Staatssekretär, um eine ausreichende demokratische Legitimation herbeizuführen (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 138 ff., BAGE 156, 213). Dabei sind die Interessen der Außenseiter zu berücksichtigen, die im Verfahren der AVE Gelegenheit haben, diese einzubringen. Ein Verstoß gegen deren Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG liegt in der AVE in einer solchen Ausgestaltung nicht; die Aufrechterhaltung der 50-Prozent-Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF als Voraussetzung für den Erlass der AVE ist nicht von Verfassungs wegen geboten (ausführlich B VIII 3).
147
b) Die Sonderregelung für Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen verstößt auch nicht gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Norm bestimmt, dass ein Gesetz, soweit nach dem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten muss. Das schließt die Regelung eines Einzelfalls nicht aus, wenn der Sachverhalt so beschaffen ist, dass es nur einen Fall dieser Art gibt, und die Regelung dieses singulären Sachverhalts von sachlichen Gründen getragen wird. Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG enthält letztlich eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes; danach ist es dem Gesetzgeber verboten, aus einer Reihe gleichgelagerter Sachverhalte einen Fall herauszugreifen und zum Gegenstand einer Sonderregel zu machen (BVerfG 6. Dezember 2016 – 1 BvR 2821/11 – Rn. 394, BVerfGE 143, 246). Dass gemeinsame Einrichtungen in besonderem Maß auf die AVE der zugrunde liegenden Tarifverträge angewiesen sind, weil alle Arbeitgeber zur Tragung der finanziellen Lasten herangezogen werden müssen, um die Gefahr einer zufällig überhöhten Belastung des Einzelnen zu verhindern, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt (BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 55, 7). Deshalb ist es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verwehrt, für die AVE solcher Tarifverträge besondere Voraussetzungen zu schaffen. Entgegen der Auffassung der Antragsteller handelt es sich auch nicht um eine Regelung, die ausschließlich zugunsten der Sozialkassen des Baugewerbes ergangen ist (kritisch zB auch NK-GA/Forst § 5 TVG Rn. 102 „dient Partikularinteressen“, ohne hieraus aber durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art. 19 GG abzuleiten). Auch wenn in dieser Branche die gemeinsamen Einrichtungen traditionell eine besondere Rolle spielen, gibt es eine Vielzahl weiterer gemeinsamer Einrichtungen in anderen Branchen, für die § 5 Abs. 1a TVG Bedeutung hat oder noch Bedeutung gewinnen kann (vgl. zB § 21 BetrAVG nF).
148
c) Soweit die Antragsteller verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG äußern, ist das für die Frage, ob die AVE von Tarifverträgen über gemeinsame Einrichtungen unter den in § 5 Abs. 1a TVG festgeschriebenen Bedingungen mit verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist, ohne Bedeutung. Die Norm ordnet an, dass ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag auch dann von einem Arbeitgeber einzuhalten ist, wenn dieser nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist. Das entspricht der Regelung in § 8 Abs. 2 AEntG. Das zwischen den beiden Tarifverträgen bestehende Konkurrenzverhältnis löst die Norm zugunsten des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung auf (aA Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 327: Parallelgeltung beider Tarifverträge). Sie regelt damit die Wirkung einer AVE für den betroffenen anderweitig tarifgebundenen Arbeitgeber, nicht aber deren Voraussetzungen. Selbst wenn die gegen die Wirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken durchgreifen sollten, würde dies nicht zur Unwirksamkeit einer AVE nach § 5 Abs. 1a TVG führen. Vielmehr wäre die dann entstehende Tarifkonkurrenz nach den allgemeinen Regeln aufzulösen (Spezialitätsgrundsatz, vgl. dazu zB BAG 23. Januar 2008 – 4 AZR 312/01 – Rn. 31, BAGE 125, 314; 25. Juli 2001 – 10 AZR 599/00 – zu II 3 der Gründe, BAGE 98, 263 [betreffend das Sozialkassenverfahren]; eingeschränkt aber im Geltungsbereich des AEntG aF BAG 18. Oktober 2006 – 10 AZR 576/05 – Rn. 34 f., BAGE 120, 1; kritisch zur Rspr. zB ErfK/Franzen 18. Aufl. § 4a TVG Rn. 33).
149
3. Nach diesen Grundsätzen ist die AVE VTV 2015 vom 6. Juli 2015 rechtswirksam.
150
a) Beim VTV handelt es sich um einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung iSv. § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG. Der VTV regelt das Verfahren zum Beitragseinzug und teilweise zur Leistungsgewährung hinsichtlich des Urlaubs (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 TVG), hinsichtlich einer betrieblichen Altersversorgung iSd. Betriebsrentengesetzes (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 2 TVG) und zum Berufsbildungsverfahren (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 TVG). Die Durchführung erfolgt durch gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (§ 3 VTV). Die Regelung im VTV ist insoweit nicht abschließend, sondern wird ergänzt durch die materiell-rechtlichen Vorschriften im BRTV, im BBTV und im TZA Bau. Hinsichtlich ihrer Zwecksetzung und ihrer praktischen Auswirkungen sind die Tarifverträge dabei einheitlich zu betrachten (BAG 24. Januar 1979 – 4 AZR 377/77 – BAGE 31, 241).
151
b) Die Annahme, die AVE VTV 2015 sei zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtungen erforderlich, ist nicht zu beanstanden. Erst die Erstreckung der entsprechenden Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen ermöglicht den Tarifvertragsparteien, solche wirksam zu errichten. Es ist naheliegend, dass das System der Umlagefinanzierung nur funktioniert, wenn alle Betriebe am Sozialkassenverfahren teilnehmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Urlaubskassenverfahren und das Ausbildungsumlageverfahren einschließlich des Systems der überbetrieblichen Ausbildung und ihrer Finanzierung.
152
c) Ebenso wenig bestehen Einwände gegen die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das BMAS habe den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum mit der Bejahung eines öffentlichen Interesses an der AVE des VTV nicht überschritten. Besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen, die gegen die Annahme eines öffentlichen Interesses sprechen könnten, sind weder vorgetragen noch erkennbar. Die getroffene Entscheidung erscheint nicht unvertretbar oder unverhältnismäßig.
153
aa) Der Senat hat im Zusammenhang mit der – aus anderen Gründen unwirksamen – AVE VTV 2014 die damalige Annahme des BMAS, ein öffentliches Interesse iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG aF habe vorgelegen, nicht beanstandet (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – Rn. 111 ff., BAGE 156, 289). Dabei hat der Senat insbesondere angenommen, das im VTV geregelte Urlaubskassenverfahren verfolge das vom Gesetzgeber sozialpolitisch gewollte Ziel, Arbeitnehmern den Erwerb zusammenhängender Urlaubsansprüche zu ermöglichen. Auch die vom VTV mitumfasste zusätzliche Altersversorgung verfolgt ein vom Gesetzgeber sozialpolitisch gewolltes Ziel. Ihr Zweck ist daran ausgerichtet, den Arbeitnehmern unverfallbare Anwartschaften auf eine zusätzliche Altersversorgung zu sichern, wie es der Gesetzgeber mit den Bestimmungen des BetrAVG erreichen will. Die Ausbildungsumlage steht vor dem Hintergrund einer vom Gesetzgeber für sinnvoll gehaltenen geordneten und einheitlichen Berufsausbildung (vgl. § 4 Abs. 1 BBiG), deren Lasten verteilt werden sollen. Diese Erwägungen sind ohne Abstriche auf die AVE VTV 2015 übertragbar.
154
bb) Diesen für ein öffentliches Interesse an der AVE VTV 2015 sprechenden Umständen stehen vor allem die Interessen der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber gegenüber, nicht mit Beitragszahlungen an die ULAK belastet zu werden. Überragende entgegenstehende Interessen nicht tarifgebundener Arbeitnehmer sind in diesem Zusammenhang nicht zu erkennen. Die (zusätzliche) Zahlungsverpflichtung der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ist im Ergebnis begrenzt, weil sie auch gesetzlich verpflichtet sind, Urlaub und Urlaubsentgelt zu gewähren, und das Urlaubskassenverfahren in seiner praktischen Ausprägung nur einen anderen Abwicklungsweg darstellt. Auch die Ausbildungsumlage verteilt im Wesentlichen nur Lasten gleichmäßig auf die Arbeitgeber, die unabhängig von der tarifvertraglichen Regelung entstehen. Die von der AVE VTV 2015 erfassten Arbeitgeber profitieren auch dann mittelbar von einer so geförderten Berufsausbildung, wenn sie nicht selbst zu den Ausbildungsbetrieben gehören. Eine effektive zusätzliche Zahlungsbelastung der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ergibt sich nur aus den eigenen Verwaltungskosten der ULAK sowie der gesetzlich nicht verpflichtend vorgeschriebenen zusätzlichen Altersversorgung für Arbeitnehmer.
155
cc) Eine Abwägung dieser Interessen vorzunehmen, ist Aufgabe des BMAS. Wenn es sich dazu entschließt, das öffentliche Interesse an einer AVE trotz entgegenstehender Belange der nicht tarifgebundenen Arbeitgeber zu bejahen, kann dies vor dem Hintergrund des bereits durch den Gesetzgeber erheblich gewichteten öffentlichen Interesses an der Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtungen nicht als unvertretbar oder unverhältnismäßig angesehen werden. Die von den Antragstellern vorgebrachten Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit von § 17 VTV führen zu keinem anderen Ergebnis. Wie bereits dargelegt, führte eine Unwirksamkeit dieser Tarifnorm nicht zur Unwirksamkeit der AVE VTV 2015.
156
d) Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die vom Landesarbeitsgericht gebilligte Annahme des BMAS, dass es keiner Repräsentativitätsprüfung iSv. § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG iVm. § 7 Abs. 2 AEntG bedurfte. Konkurrierende Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen bestehen nicht. Konkrete Einwendungen gegen diese Annahme haben die Antragsteller nicht erhoben.
157
X. Die AVE BBTV 2015 vom 6. Juli 2015 ist rechtswirksam, soweit sie überwiegend nach § 5 Abs. 1a TVG erfolgt ist. Hinsichtlich der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV konnte mangels antragsbefugter Beteiligter hingegen keine Sachentscheidung ergehen.
158
1. Beim BBTV handelt es sich um einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung iSv. § 5 Abs. 1a TVG. Der sowohl qualitativ wie auch quantitativ überwiegende Teil des BBTV regelt die Vergütung der Auszubildenden und das Erstattungsverfahren für Ausbildungsvergütungen und überbetriebliche Ausbildungskosten (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 TVG). Die Durchführung erfolgt über die ULAK bzw. die Sozialkasse des Berliner Baugewerbes als gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien. Die Vorschriften über die Urlaubsdauer und die Freistellung am 24. und 31. Dezember (§§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV) haben demgegenüber untergeordnete Bedeutung.
159
2. Die Annahme, die AVE BBTV 2015 – ohne die §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV – sei zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtungen erforderlich, ist nicht zu beanstanden. Erst die Erstreckung der entsprechenden Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen ermöglicht den Tarifvertragsparteien, ein System der überbetrieblichen Ausbildung zu errichten und die Kosten hierfür gleichmäßig zu verteilen. Dieses Verfahren kann nur funktionieren, wenn alle Arbeitgeber der Branche herangezogen werden und sich beteiligen.
160
3. Ebenso wenig ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts zu beanstanden, das BMAS habe den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum mit der Bejahung eines öffentlichen Interesses an der AVE der wesentlichen Teile des BBTV nicht überschritten. Die Ausbildungsumlage steht vor dem Hintergrund einer vom Gesetzgeber für sinnvoll gehaltenen geordneten und einheitlichen Berufsausbildung (vgl. § 4 Abs. 1 BBiG), deren Lasten verteilt werden sollen. Auch eine angemessene Vergütung der Auszubildenden liegt im öffentlichen Interesse. Besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen, die gegen die Annahme eines öffentlichen Interesses sprechen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die getroffene Entscheidung erscheint nicht unvertretbar oder unverhältnismäßig.
161
4. Auch im Hinblick auf den BBTV ist mangels eines konkurrierenden Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung keine Repräsentativitätsprüfung erforderlich.
162
5. Über die Wirksamkeit der AVE 2015 der §§ 6, 10, 12 bis 15 des BBTV konnte keine Sachentscheidung nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG ergehen. Insoweit fehlte es – wie dargelegt – auch den Beteiligten zu 27., 28., 34., 36. und 38. an einer Antragsbefugnis. Dies ist in der Beschlussformel des Landesarbeitsgerichts klarzustellen.
163
XI. Die nach § 5 Abs. 1a TVG ergangene AVE TZA Bau 2015 vom 6. Juli 2015 ist rechtswirksam.
164
1. Beim TZA Bau handelt es sich um einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung iSv. § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG. Der TZA Bau regelt ua. die (neue) Tarifrente Bau, die die früheren Regelungen über Rentenbeihilfen im Baugewerbe abgelöst hat. Auf Grundlage einer Beitragszusage mit Mindestleistungen werden eine Altersrente und ggf. eine Erwerbsminderungs- oder Unfallrente gewährt. Die Durchführung des überbetrieblichen Altersversorgungssystems erfolgt durch die ZVK Bau als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien. Es handelt sich – trotz der überbetrieblichen Abwicklung – um eine Regelung über eine betriebliche Altersversorgung iSd. Betriebsrentengesetzes (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 2 TVG).
165
2. Die Annahme, die AVE TZA Bau 2015 sei zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung erforderlich, ist nicht zu beanstanden. Erst die Erstreckung der entsprechenden Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen ermöglicht den Tarifvertragsparteien, solche wirksam zu errichten. Es ist naheliegend, dass ein überbetriebliches Altersversorgungssystem mit einem branchenbezogenen Anspruchserwerb und einer Portabilität der Anwartschaften nur erreicht werden kann, wenn alle Arbeitgeber der Branche sich hieran beteiligen.
166
3. Ebenso wenig ist die Annahme des Landesarbeitsgerichts zu beanstanden, das BMAS habe den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum mit der Bejahung eines öffentlichen Interesses an der AVE des TZA Bau nicht überschritten. Mit dem Aufbau bzw. der Fortführung einer zusätzlichen Altersversorgung verfolgt der TZA Bau – erstmals auch unter Einbeziehung der neuen Bundesländer – ein sozialpolitisch gewolltes Ziel. Sein Zweck ist daran ausgerichtet, den Arbeitnehmern unverfallbare Anwartschaften auf eine zusätzliche Altersversorgung zu sichern, wie es der Gesetzgeber mit den Bestimmungen des BetrAVG erreichen will. Besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen, die gegen die Annahme eines öffentlichen Interesses sprechen könnten, sind weder vorgetragen noch erkennbar. Die getroffene Entscheidung erscheint weder unvertretbar noch unverhältnismäßig.
167
4. Auch im Hinblick auf den TZA Bau ist mangels eines konkurrierenden Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung keine Repräsentativitätsprüfung erforderlich.
168
XII. Das Landesarbeitsgericht hat nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG zutreffend die Wirksamkeit der streitgegenständlichen AVE festgestellt und dies in seiner Beschlussformel ausgesprochen. Zwar hat nur die ULAK hinsichtlich der AVE VTV 2015 einen positiven Feststellungsantrag gestellt. Vor dem Landesarbeitsgericht waren auch von anderen Beteiligten keine Zurückweisungsanträge gestellt worden. Mit der Abweisung der negativen Feststellungsanträge aus materiellen Gründen steht aber gleichzeitig das kontradiktorische Gegenteil, also die Wirksamkeit der angegriffenen AVE, fest und muss, um die Veröffentlichung nach § 98 Abs. 4 Satz 3 ArbGG zu ermöglichen, ausgesprochen werden (ebenso GK-ArbGG/Ahrendt Stand Juni 2017 § 98 Rn. 48). Lediglich zu Ziff. III. der Beschlussformel des Landesarbeitsgerichts war klarzustellen, dass mangels Antragsbefugnis keine materielle Entscheidung über die Wirksamkeit der AVE der §§ 6, 10, 12 bis 15 BBTV ergangen ist.
169
Das BMAS hat die Entscheidungsformel des Beschlusses des Landesarbeitsgerichts mit den erfolgten Klarstellungen im Bundesanzeiger bekannt zu machen (§ 98 Abs. 4 Satz 3 ArbGG).
170
C. In diesem Verfahren werden Kosten nicht erhoben, § 2 Abs. 2 GKG.
Gallner
Brune
W. Reinfelder
Rudolph
Budde |
bag_16-19 | 19.03.2019 | 19.03.2019
16/19 - Elternzeit - Kürzung von Urlaubsansprüchen
Der gesetzliche Urlaubsanspruch nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG besteht auch für den Zeitraum der Elternzeit, er kann jedoch vom Arbeitgeber nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG gekürzt werden. § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG steht im Einklang mit dem Unionsrecht.
Die Klägerin war bei der Beklagten seit dem 1. Juni 2001 als Assistentin der Geschäftsleitung beschäftigt. Sie befand sich ua. vom 1. Januar 2013 bis zum 15. Dezember 2015 durchgehend in Elternzeit. Mit Schreiben vom 23. März 2016 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 30. Juni 2016 und beantragte unter Einbeziehung der während der Elternzeit entstandenen Urlaubsansprüche, ihr für den Zeitraum der Kündigungsfrist Urlaub zu gewähren. Mit Schreiben vom 4. April 2016 erteilte die Beklagte der Klägerin vom 4. April bis zum 2. Mai 2016 Urlaub, die Gewährung des auf die Elternzeit entfallenden Urlaubs lehnte sie ab. Die Klägerin hat mit ihrer Klage zuletzt noch die Abgeltung von 89,5 Arbeitstagen Urlaub aus dem Zeitraum ihrer Elternzeit geltend gemacht.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte hat die Urlaubsansprüche der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2015 mit Schreiben vom 4. April 2016 wirksam gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel gekürzt.
Möchte der Arbeitgeber von seiner ihm durch § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG eingeräumten Befugnis Gebrauch machen, den Erholungsurlaub für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel zu kürzen, muss er eine darauf gerichtete empfangsbedürftige rechtsgeschäftliche Erklärung abgeben. Dazu ist es ausreichend, dass für den Arbeitnehmer erkennbar ist, dass der Arbeitgeber von der Kürzungsmöglichkeit Gebrauch machen will. Das Kürzungsrecht des Arbeitgebers erfasst auch den vertraglichen Mehrurlaub, wenn die Arbeitsvertragsparteien für diesen keine von § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG abweichende Regelung vereinbart haben.
Die Kürzung des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs verstößt weder gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) noch gegen § 5 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub im Anhang der Richtlinie 2010/18/EU. Das Unionsrecht verlangt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht, Arbeitnehmer, die wegen Elternzeit im Bezugszeitraum nicht zur Arbeitsleistung verpflichtet waren, Arbeitnehmern gleichzustellen, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet haben (EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 29 ff.).
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. März 2019 – 9 AZR 362/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 31. Januar 2018 – 5 Sa 625/17 – | Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 31. Januar 2018 – 5 Sa 625/17 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Klägerin verlangt von der Beklagten zuletzt noch die Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2013 bis 2015.
2
Die Klägerin war bei der Beklagten seit dem 1. Juni 2001 als Assistentin der Geschäftsleitung beschäftigt. Der Bruttomonatsverdienst der Klägerin betrug 4.100,00 Euro, ihr jährlicher Urlaubsanspruch 30 Arbeitstage. Sie hatte die Arbeitsleistung an fünf Tagen der Kalenderwoche von Montag bis Freitag zu erbringen.
3
Nach der Geburt ihrer beiden Kinder befand sich die Klägerin, soweit für die Revision noch von Bedeutung, wie folgt in Elternzeit: für das zweite Kind vom 1. Januar bis zum 15. Dezember 2013, anschließend für das erste Kind vom 16. Dezember 2013 bis zum 15. Dezember 2014 und zuletzt wiederum für das zweite Kind vom 16. Dezember 2014 bis zum 15. Dezember 2015. Anschließend war die Klägerin vom 16. Dezember 2015 bis zum 26. Januar 2016 und vom 16. Februar bis zum 28. März 2016 wegen Krankheit arbeitsunfähig. Vom 27. Januar bis zum 15. Februar 2016 gewährte ihr die Beklagte Urlaub.
4
Mit Schreiben vom 23. März 2016 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 30. Juni 2016 und bat darum, bis einschließlich 30. Juni 2016 ihren Resturlaub nehmen zu können. Mit Schreiben an die anwaltlichen Vertreter der Klägerin vom 4. April 2016 gewährte die Beklagte der Klägerin vom 4. April bis zum 2. Mai 2016 Urlaub und erklärte, sie gehe davon aus, die Klägerin werde ihren Dienst am 3. Mai 2016 wieder antreten; alternativ sei eine unbezahlte Freistellung bis zum Austrittszeitpunkt in Erwägung zu ziehen. Ein von der Klägerin eingeleitetes einstweiliges Verfügungsverfahren endete durch einen Vergleich. Darin vereinbarten die Parteien, die Klägerin dürfe vom 3. Mai bis zum 30. Juni 2016 der Arbeit fernbleiben. Die Beklagte hatte vor dem Vergleichsabschluss erklärt, sie kürze den Urlaub der Klägerin für die Zeiträume der Elternzeiten. Im Verlauf des vorliegenden Verfahrens haben die Parteien streitlos gestellt, dass die Beklagte der Klägerin sämtlichen Urlaub gewährt hat, auf den sie für Zeiten außerhalb ihrer Elternzeiten in den Jahren 2013 bis 2015 Anspruch hatte.
5
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, ihr hätten für die Jahre 2013 bis 2015 jeweils 30 Arbeitstage Urlaub zugestanden. Die in § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG vorgesehene Kürzungsmöglichkeit verstoße gegen Unionsrecht. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewähre jedem Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub. Der Anspruch dürfe nicht von der Erbringung einer Arbeitsleistung im Bezugszeitraum abhängig gemacht werden. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG sehe keine Kürzungsmöglichkeit vor. Die Beklagte sei verpflichtet, an sie für die Zeit vom 3. Mai bis zum 30. Juni 2016 Urlaubsentgelt zu zahlen und 49,5 Urlaubstage an sie abzugelten.
6
Die Klägerin hat in den Vorinstanzen beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie für den Monat Mai 2016 Urlaubsentgelt iHv. 3.406,15 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz nach BGB seit dem 1. Juni 2016 zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an sie für den Monat Juni 2016 Urlaubsentgelt iHv. 4.163,06 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz nach BGB seit dem 1. Juli 2016 zu zahlen;
3.
die Beklagte zu verurteilen, an sie Urlaubsabgeltung iHv. 9.366,92 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz nach BGB seit dem 1. Juli 2016 zu zahlen.
7
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, der Klägerin hätten über die bereits gewährten Urlaubstage hinaus keine weiteren Urlaubsansprüche zugestanden. Sie habe mit Schreiben vom 4. April 2016 durch die beschränkte Urlaubsgewährung für den Zeitraum vom 4. April bis zum 2. Mai 2016 von ihrem Recht Gebrauch gemacht, den Urlaub der Klägerin gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG zu kürzen.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision beantragt die Klägerin – unter Rücknahme der Klage im Übrigen – die Beklagte zu verurteilen, an sie zur Abgeltung von 89,5 Urlaubstagen 16.936,13 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit dem 1. Juli 2016 zu zahlen.
Entscheidungsgründe
9
Die zulässige Revision hat keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Urlaubsabgeltung gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG. Die Vorinstanzen haben zu Recht erkannt, dass die Beklagte berechtigt war, die gesetzlichen und vertraglichen Urlaubsansprüche der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2015 gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeiten um ein Zwölftel zu kürzen und infolgedessen zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine offenen Urlaubsansprüche der Klägerin bestanden, zu deren Abgeltung die Beklagte nach § 7 Abs. 4 BUrlG verpflichtet gewesen wäre. Der Klägerin steht deshalb auch kein Zinsanspruch zu.
10
A. Der von der Klägerin zuletzt in der Revisionsinstanz gestellte Antrag auf Abgeltung von 89,5 Urlaubstagen ist zulässig.
11
I. Es liegt keine in der Revisionsinstanz unzulässige Klageänderung vor.
12
1. Zwar ist nach § 559 Abs. 1 ZPO in der Revisionsinstanz eine Klageänderung oder Klageerweiterung grundsätzlich ausgeschlossen. Der Schluss der mündlichen Verhandlung in zweiter Instanz bildet nicht nur bezüglich des tatsächlichen Vorbringens, sondern auch bezüglich der Anträge der Parteien die Entscheidungsgrundlage für das Revisionsgericht. Hiervon hat das Bundesarbeitsgericht allerdings insbesondere aus prozessökonomischen Gründen Ausnahmen in den Fällen des § 264 Nr. 2 ZPO zugelassen, sowie dann, wenn sich der geänderte Sachantrag auf einen in der Berufungsinstanz festgestellten oder von den Parteien übereinstimmend vorgetragenen Sachverhalt stützen kann, sich das rechtliche Prüfprogramm nicht wesentlich ändert und die Verfahrensrechte der anderen Partei durch eine Sachentscheidung nicht verkürzt werden (BAG 23. Juni 2016 – 8 AZR 643/14 – Rn. 39; 26. Juni 2013 – 5 AZR 428/12 – Rn. 18 mwN).
13
2. Diese Anforderungen sind erfüllt. Die Entscheidung über den erweiterten Antrag auf Urlaubsabgeltung erfordert keine weiteren Feststellungen. Das rechtliche Prüfprogramm bleibt unverändert. Verfahrensrechte der Beklagten werden nicht beeinträchtigt.
14
II. Die in den Vorinstanzen gestellten Anträge auf Zahlung von Urlaubsentgelt hat die Klägerin mit Einwilligung der Beklagten zurückgenommen (§ 269 Abs. 1 ZPO).
15
B. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG auf Abgeltung von 89,5 Urlaubstagen mit einem Betrag von 16.936,13 Euro brutto. Die Beklagte hat die Urlaubsansprüche der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2015 mit Schreiben vom 4. April 2016 gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeiten um ein Zwölftel gekürzt. Die weiter gehenden Urlaubsansprüche der Klägerin hat sie erfüllt.
16
I. Die Klägerin erwarb nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zu Beginn der Jahre 2013 bis 2015 jeweils einen vertraglichen Urlaubsanspruch von 30 Arbeitstagen, der den gesetzlichen Urlaubsanspruch einschloss. Die Elternzeiten, die die Klägerin vom 1. Januar 2013 bis zum 15. Dezember 2015 in Anspruch nahm, hatten als solche keinen Einfluss auf den Urlaubsanspruch der Klägerin. Während der Elternzeit, die zu einer Suspendierung der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis führt, entstehen nach §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG gesetzliche Urlaubsansprüche (vgl. BAG 19. Mai 2015 – 9 AZR 725/13 – Rn. 11, BAGE 151, 360). Dies ergibt sich aus § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG, denn nur ein entstandener Urlaubsanspruch kann gekürzt werden (vgl. BAG 19. Mai 2011 – 9 AZR 197/10 – Rn. 24, BAGE 138, 58). Eine hiervon abweichende Vereinbarung haben die Parteien für den vertraglichen Mehrurlaub nicht getroffen.
17
II. Die Urlaubsansprüche der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2015 bestanden wegen der nahtlos aneinander anschließenden drei Elternzeiten nach deren Ende zunächst fort. Sie sind nicht mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen. Das Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG findet während der Elternzeit keine Anwendung. Die gesetzlichen Sonderregelungen in § 17 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 BEEG gehen § 7 Abs. 3 BUrlG vor (vgl. hierzu im Einzelnen BAG 19. März 2019 – 9 AZR 495/17 – Rn. 12 ff.). Es kann offenbleiben, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG der Kürzung unterliegende und nicht bereits von § 17 Abs. 2 BEEG erfasste Urlaubsanspruch nach Beendigung der Elternzeit befristet ist. Dies bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn die gesetzlichen und vertraglichen Urlaubsansprüche der Klägerin sind jedenfalls nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für die Jahre 2013 und 2014 in voller Höhe, für das Jahr 2015 in Höhe von 27,5 Urlaubstagen erloschen.
18
1. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG kann der Arbeitgeber den Erholungsurlaub, der dem Arbeitnehmer für das Urlaubsjahr zusteht, für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel kürzen. Eine von § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG abweichende, für die Klägerin günstigere Vereinbarung haben die Parteien weder für den gesetzlichen Urlaubsanspruch noch für den vertraglichen Mehrurlaubsanspruch getroffen.
19
2. § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG steht im Einklang mit dem Unionsrecht. Die darin vorgesehene Kürzungsmöglichkeit verstößt weder gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG noch gegen § 5 Nr. 2 der überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub vom 18. Juni 2009 im Anhang der Richtlinie 2010/18/EU (ABl. EU L 68 vom 18. März 2010 S. 13; im Folgenden Rahmenvereinbarung). Dies kann der Senat entscheiden, ohne den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.
20
a) Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einer Bestimmung des nationalen Rechts nicht entgegensteht, nach der bei der Berechnung des unionsrechtlich gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub in einem Bezugszeitraum die Dauer eines vom Arbeitnehmer in diesem Zeitraum genommenen Elternurlaubs nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen wird (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 38). Der Zweck des unionsrechtlich gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen, beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Der Erholungszweck setzt voraus, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es zu dem in der Richtlinie 2003/88/EG vorgesehenen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit rechtfertigt, dass er über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit verfügt (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 27 f.). Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG schreibt danach nicht vor, dass Zeiten der Inanspruchnahme von Elternzeit bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs berücksichtigt werden müssen. Der nationale Gesetzgeber kann somit eine Regelung treffen, nach der die Anzahl der Urlaubstage von vornherein um die Dauer der Elternzeit anteilig gekürzt wird. Dementsprechend steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG auch dann nicht entgegen, wenn der nationale Gesetzgeber über die Vorgaben der Richtlinie hinaus die Zeiten der Inanspruchnahme von Elternzeit zunächst bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs berücksichtigt, dem Arbeitgeber jedoch das Recht einräumt, den Urlaubsumfang für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit im Wege der Kürzung an die ausgesetzte Arbeitspflicht des Arbeitnehmers anzupassen (vgl. Düwell jurisPR-ArbR 45/2018 Anm. 3; Oberthür ArbRB 2019, 13, 16).
21
b) Durch § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG wird auch nicht iSv. § 5 Nr. 2 Satz 1 der Rahmenvereinbarung in Rechte eingegriffen, die der Arbeitnehmer zu Beginn des Elternurlaubs erworben hatte oder dabei war zu erwerben.
22
aa) Nach § 5 Nr. 2 Satz 1 der Rahmenvereinbarung müssen die Rechte, die der Arbeitnehmer zu Beginn des Elternurlaubs erworben hatte oder dabei war zu erwerben, bis zum Ende des Elternurlaubs bestehen bleiben. Von der Formulierung „Rechte, die der Arbeitnehmer … erworben hatte oder dabei war zu erwerben“ werden alle unmittelbar oder mittelbar aus dem Arbeitsverhältnis abgeleiteten Rechte und Vorteile hinsichtlich Bar- und Sachleistungen erfasst, auf die der Arbeitnehmer bei Antritt des Elternurlaubs einen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber hat. Hierzu zählt auch der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub (vgl. EuGH 22. April 2010 – C-486/08 – [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 53 f. mwN). § 5 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung steht einer nationalen Bestimmung entgegen, nach der Arbeitnehmer im Anschluss an ihren Elternurlaub den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verlieren, den sie vor der Geburt ihres Kindes erworben haben (vgl. EuGH 22. April 2010 – C-486/08 – [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 56).
23
bb) § 5 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch nicht, den Arbeitnehmern während der Zeit des Elternurlaubs zu garantieren, dass sie Rechte auf künftige Leistungen des Arbeitgebers in demselben Umfang erwerben, als ob sie weiterhin ihre bisher vertraglich geschuldete Tätigkeit ausgeübt hätten (vgl. EuGH 16. Juli 2009 – C-537/07 – [Gómez-Limón Sanchéz-Camacho] Rn. 40, 43; BAG 27. Januar 2011 – 6 AZR 526/09 – Rn. 41, BAGE 137, 80). Es muss lediglich sichergestellt werden, dass die Rechte, die der Arbeitnehmer bei Antritt des Elternurlaubs bereits erworben hatte oder dabei war zu erwerben, bis zum Ende des Elternurlaubs bestehen bleiben und sich der Arbeitnehmer im Anschluss an den Elternurlaub im Hinblick auf diese Rechte in derselben Situation befindet wie vor dem Elternurlaub (vgl. EuGH 22. April 2010 – C-486/08 – [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 51 mwN; 22. Oktober 2009 – C-116/08 – [Meerts] Rn. 38 f.). Alle übrigen Regelungen des Status des Arbeitsverhältnisses während des Elternurlaubs überlässt § 5 Nr. 3 der Rahmenvereinbarung den Mitgliedstaaten und/oder den Sozialpartnern. Sie können festlegen, inwieweit Zeiten der Inanspruchnahme von Elternzeit, in denen das Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht ruht, bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs berücksichtigt werden (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 35).
24
cc) Die in § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG vorgesehene Möglichkeit zur Kürzung des während der Elternzeit erworbenen Erholungsurlaubs führt nicht zu einem Rechtsverlust des betroffenen Arbeitnehmers. Die Kürzung bewirkt lediglich die Anpassung der Urlaubsdauer an die während der Elternzeit ausgesetzte Arbeitspflicht und verwirklicht damit den im gesamten Urlaubsrecht anwendbaren allgemeinen Rechtsgedanken, dass der Umfang des Erholungsurlaubs während des Urlaubsjahres zur bestehenden Arbeitspflicht ins Verhältnis zu setzen ist.
25
(1) Nach Erfüllung der Wartezeit steht dem Arbeitnehmer zwar gemäß §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG bereits am 1. Januar des Urlaubsjahres der volle Jahresurlaub zu, der bezogen auf eine Arbeitsleistung an sechs Tagen in der Woche kalenderjährlich 24 Werktage beträgt. Bei einer abweichenden Verteilung der Arbeitszeit wird die Gleichwertigkeit der Urlaubsdauer erreicht, indem die maßgebliche Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht mit der Anzahl der Urlaubstage bei einer Sechstagewoche ins Verhältnis gesetzt wird (vgl. BAG 21. Juli 2015 – 9 AZR 145/14 – Rn. 17; 15. März 2011 – 9 AZR 799/09 – Rn. 25, BAGE 137, 221). Der dem Arbeitnehmer am Jahresanfang zustehende Erholungsurlaub ist damit aber noch nicht in diesem Umfang iSv. § 5 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung endgültig „erworben“. Vielmehr kann sich der Umfang des Urlaubsanspruchs bei einem Wechsel der Anzahl der Arbeitstage während des Urlaubsjahres ändern mit der Folge, dass der Jahresurlaubsanspruch für das betreffende Kalenderjahr unter Berücksichtigung der einzelnen Zeiträume der Beschäftigung unterjährig neu zu berechnen ist (vgl. zu den Umrechnungsformeln BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 28 ff.). Durch diesen allgemeinen – auch außerhalb der Elternzeit geltenden – Grundsatz soll eine Gleichwertigkeit der Urlaubsdauer sichergestellt werden (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 23, 29; vgl. auch ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 3 Rn. 15; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 Rn. 926). Auch wenn ein Arbeitnehmer im Urlaubsjahr in einen unbezahlten Sonderurlaub wechselt, ist bei der dadurch gebotenen Neuberechnung des Jahresurlaubsanspruchs zu berücksichtigen, in welchem Zeitraum die Arbeitsvertragsparteien ihre Hauptleistungspflichten durch die Vereinbarung von Sonderurlaub vorübergehend ausgesetzt haben (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 20). Beginnt die Elternzeit im laufenden Kalenderjahr, führt dementsprechend auch die Kürzung des Erholungsurlaubs zu einer Neuberechnung des Jahresurlaubsanspruchs im laufenden Urlaubsjahr. Zwar bedarf es hierfür zusätzlich einer (Kürzungs-)Erklärung des Arbeitgebers. Solange dem Arbeitgeber aber dieses gesetzliche Kürzungsrecht zusteht, hat der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch noch nicht iSv. § 5 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung „erworben“.
26
(2) Ein Verstoß gegen § 5 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung ergibt sich auch nicht daraus, dass ein erst in der zweiten Hälfte des Kalenderjahres mit der Elternzeit beginnender Arbeitnehmer gegenüber einem in der zweiten Jahreshälfte aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmer benachteiligt würde (vgl. Daum RdA 2019, 49, 54; aA Klein jurisPR-ArbR 35/2018 Anm. 2).
27
(a) Gemäß § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses, wenn er nach erfüllter Wartezeit in der ersten Hälfte eines Kalenderjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Daraus hat die Rechtsprechung den Umkehrschluss hergeleitet, dass eine Zwölftelung des gesetzlichen Mindesturlaubs nach §§ 1, 3 BUrlG bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der zweiten Jahreshälfte nach erfüllter Wartezeit unzulässig ist (BAG 9. August 2016 – 9 AZR 51/16 – Rn. 16 mwN). Somit bleibt einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis nach dem 30. Juni eines Kalenderjahres rechtlich beendet wird, der ungekürzte Urlaubsanspruch erhalten, während einem Arbeitnehmer, dessen Elternzeit nach dem 30. Juni eines Jahres beginnt, nach einer Kürzungserklärung des Arbeitgebers nur der an das Ruhen des Arbeitsverhältnisses angepasste Urlaub zusteht (vgl. Klein jurisPR-ArbR 35/2018 Anm. 2).
28
(b) Hierin liegt keine Benachteiligung von Arbeitnehmern in der Elternzeit. Arbeitnehmer, die Elternzeit in Anspruch nehmen, und solche, die in der zweiten Jahreshälfte ausscheiden, befinden sich hinsichtlich der Berechnung des Urlaubsanspruchs nicht in einer vergleichbaren Situation. Der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG und des daraus hergeleiteten Umkehrschlusses ist auf die besondere Situation der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zugeschnitten. Der Gesetzgeber wollte vermeiden, dass der Arbeitnehmer durch die Anwendung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der zweiten Jahreshälfte „den vollen Urlaubsanspruch verliert, auch wenn er erst gegen Ende des Kalenderjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet“ (vgl. den schriftlichen Bericht des Ausschusses für Arbeit vom 30. November 1962, BT-Drs. IV/785 S. 3). Damit korrespondierend verhindert § 6 Abs. 1 BUrlG bei aufeinanderfolgenden Arbeitsverhältnissen, dass ein Arbeitnehmer, dem der volle Jahresurlaub bereits von seinem früheren Arbeitgeber gewährt worden ist, für denselben Zeitraum zweimal Urlaub verlangen kann (vgl. BT-Drs. IV/785 S. 3; BAG 16. Dezember 2014 – 9 AZR 295/13 – Rn. 37, BAGE 150, 207; 21. Februar 2012 – 9 AZR 487/10 – Rn. 16, BAGE 141, 27). Die besondere Situation der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der etwaigen Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses ist mit der Elternzeit nicht vergleichbar. Während der Elternzeit besteht das Arbeitsverhältnis fort. Eine Steuerung des Urlaubs im Spannungsfeld zwischen dem alten und einem neuen Arbeitgeber ist grundsätzlich nicht erforderlich. § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG soll stattdessen ermöglichen, den Urlaubsumfang für das gesamte Urlaubsjahr ins Verhältnis zu der im selben Zeitraum bestehenden Arbeitspflicht zu setzen, dh. um volle Kalendermonate des Ruhens des Arbeitsverhältnisses zu kürzen. Dementsprechend ist gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 BEEG eine Kürzung ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer während der Elternzeit bei seinem Arbeitgeber Teilzeit leistet.
29
c) § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG verletzt auch nicht den Grundsatz, dass ein unionsrechtlich gewährleisteter Urlaub (hier die Elternzeit) nicht das Recht beeinträchtigen darf, einen anderen unionsrechtlich gewährleisteten Urlaub (hier den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub) zu nehmen, der einen anderen Zweck als der erstgenannte verfolgt (vgl. EuGH 20. Januar 2009 – C-350/06 und C-520/06 – [Schultz-Hoff ua.] Rn. 26 mwN; vgl. auch Boecken FS Düwell 2011 S. 53; Kamanabrou RdA 2014, 321, 326). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sich aus seiner Rechtsprechung zur Überschneidung oder zum Zusammenfallen von zwei unionsrechtlich gewährleisteten Urlaubsarten nicht herleiten lässt, dass der Elternurlaub bei der Berechnung des Anspruchs eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung anzusehen ist (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 37).
30
3. Die Beklagte hat die Urlaubsansprüche der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2015 wirksam gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeiten um ein Zwölftel gekürzt.
31
a) Die Anpassung des Urlaubsanspruchs nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG an die durch die Elternzeit ausgesetzte Arbeitspflicht wird weder automatisch noch durch einen Realakt des Arbeitgebers bewirkt. Möchte der Arbeitgeber den Anspruch auf Erholungsurlaub kürzen, muss er sein Kürzungsrecht ausüben. Dazu ist eine hierauf gerichtete rechtsgeschäftliche Erklärung erforderlich, die dem Arbeitnehmer zugehen muss (vgl. BAG 19. Mai 2015 – 9 AZR 725/13 – Rn. 12, BAGE 151, 360). Die Kürzungserklärung kann ausdrücklich oder stillschweigend abgegeben werden. Dazu ist es ausreichend, dass dem Arbeitnehmer – abweichend von seinem Urlaubsverlangen – nur der gekürzte Urlaub gewährt wird oder für ihn aufgrund sonstiger Umstände erkennbar ist, dass der Arbeitgeber sein Kürzungsrecht ausüben will (vgl. zu § 17 Abs. 1 Satz 1 BErzGG BAG 28. Juli 1992 – 9 AZR 340/91 – zu 1 c der Gründe, BAGE 71, 50).
32
b) Die Regelung in § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG setzt voraus, dass der Anspruch auf Erholungsurlaub bei Zugang der Kürzungserklärung noch besteht. Daran fehlt es, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist und der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaubsabgeltung hat (mit ausf. Begründung BAG 19. Mai 2015 – 9 AZR 725/13 – Rn. 10, 13 ff., BAGE 151, 360). Das Gesetz unterstellt allein den „Erholungsurlaub“ der Kürzungsbefugnis des Arbeitgebers, nicht dagegen den Abgeltungsanspruch.
33
aa) Zwar wandelt sich nach der neueren Senatsrechtsprechung mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses der aus Freistellung von der Arbeitspflicht und Bezahlung zusammengesetzte Urlaubsanspruch nach § 1 BUrlG in einen Anspruch auf Abgeltung des noch nicht erfüllten Urlaubs gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG um, ohne dass der finanzielle Aspekt des originären Urlaubsanspruchs zunächst erlischt (vgl. BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 45/16 – Rn. 23).
34
bb) Gleichwohl unterliegt der Abgeltungsanspruch nicht der Kürzung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG. Trotz des gemeinsamen Ursprungs besteht zwischen dem Urlaubs- und dem Urlaubsabgeltungsanspruch keine Zweckidentität, die ein Kürzungsrecht auch noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bedingen könnte. Der Beendigungszeitpunkt bildet eine Zäsur, die nicht nur die gegenseitigen Hauptleistungspflichten, sondern auch den Anspruch auf den bezahlten Jahresurlaub betrifft. Ab der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann der Arbeitnehmer nicht mehr zu Erholungszwecken unter Fortzahlung seines Arbeitsentgelts von der Arbeitspflicht freigestellt werden. Zudem können weder neue Urlaubsansprüche entstehen noch bestehende nach § 7 Abs. 3 BUrlG erlöschen. Der innere Zusammenhang zwischen der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten bzw. zu leistenden Arbeit und dem Urlaub wird durch die Ablösung des Freistellungsanspruchs von der Vergütungskomponente und deren Umwandlung in einen Abgeltungsanspruch aufgelöst (vgl. BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 45/16 – Rn. 23). Als reiner Geldanspruch hängt die Erfüllbarkeit des Abgeltungsanspruchs nicht von der Arbeitsfähigkeit oder einer bestimmten Arbeitspflicht des Arbeitnehmers ab; zudem unterliegt er nicht dem Fristenregime des Bundesurlaubsgesetzes (vgl. BAG 19. Juni 2012 – 9 AZR 652/10 – Rn. 15, BAGE 142, 64). Ist danach das für den originären Erholungsurlaub geltende Regelungsregime auf den Abgeltungsanspruch nicht mehr anwendbar, ist auch das Kürzungsrecht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG betroffen.
35
cc) Im bestehenden Arbeitsverhältnis kann der Arbeitgeber sein Kürzungsrecht vor, während und nach dem Ende der Elternzeit ausüben (vgl. BAG 19. Mai 2015 – 9 AZR 725/13 – Rn. 14 mwN, BAGE 151, 360), nicht jedoch vor der Erklärung des Arbeitnehmers, Elternzeit in Anspruch zu nehmen (ErfK/Gallner 19. Aufl. BEEG § 17 Rn. 4; Arnold/Tillmanns/Tillmanns BUrlG 3. Aufl. § 17 BEEG Rn. 10; aA NK-GA/Osnabrügge § 17 BEEG Rn. 8). Letzteres ist Ausfluss der dem Arbeitgeber eingeräumten Dispositionsbefugnis, von dem Kürzungsrecht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG Gebrauch zu machen oder hiervon abzusehen. Der Arbeitgeber kann sein Wahlrecht erst dann sinnvoll ausüben, wenn er weiß, dass und für welchen Zeitraum Elternzeit in Anspruch genommen werden soll. Die Kürzungsbefugnis setzt somit ein Elternzeitverlangen nach § 16 Abs. 1 Satz 1 BEEG voraus, durch das der Umfang und die zeitliche Lage der Elternzeit festgelegt werden. Dieses Verständnis ist im Wortlaut des § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG angelegt, der auf jeden vollen Kalendermonat „der“ Elternzeit abstellt. Die Verwendung des bestimmten Artikels legt nahe, dass der Arbeitgeber den Urlaub nicht für „irgendeine“ sich noch nicht abzeichnende, sondern nur für eine konkret in Rede stehende Elternzeit kürzen kann.
36
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Beklagte ihr Kürzungsrecht mit Schreiben vom 4. April 2016 rechtzeitig ausgeübt.
37
aa) Das Schreiben enthält nichttypische Erklärungen. Die Auslegung nichttypischer Erklärungen ist grundsätzlich den Tatsachengerichten vorbehalten. Sie kann in der Revision nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht Auslegungsregeln verletzt oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen, wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen oder eine gebotene Auslegung unterlassen hat (BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 149/17 – Rn. 46).
38
bb) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Beklagte habe mit Schreiben vom 4. April 2016 bezogen auf die Urlaubsansprüche der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2015 von ihrem Kürzungsrecht nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG stillschweigend Gebrauch gemacht, indem sie der Klägerin nur bis zum 2. Mai 2016 und nicht – wie beantragt – bis zum 30. Juni 2016 Urlaub gewährte. Diese Würdigung hält dem eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab stand. Das Landesarbeitsgericht hat weder die gebotene Auslegung des Schreibens unterlassen noch gegen Auslegungsgrundsätze und -regeln verstoßen oder wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen. Die Klägerin wendet sich mit der Revision auch nicht gegen das vom Berufungsgericht gefundene Auslegungsergebnis, sondern greift das Berufungsurteil allein mit der Begründung an, ihr Urlaub habe nicht gekürzt werden können, weil § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG gegen Unionsrecht verstoße.
39
III. Unter Berücksichtigung der erfolgten Kürzung verblieb der Klägerin für das Jahr 2015 ein Urlaubsanspruch im Umfang von 2,5 Arbeitstagen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 5 Abs. 2 BUrlG, der eine Rundung von Urlaubsansprüchen vorsieht, liegen für das Urlaubsjahr 2015 nicht vor. Der Urlaub, der der Klägerin noch zustand, war kein Teilurlaub iSd. § 5 Abs. 1 BUrlG, sondern resultierte daraus, dass die Anwendung von § 17 Abs. 1 Satz 1 BEEG zu einem verbleibenden bruchteiligen Urlaubsanspruch von 2,5 Arbeitstagen führte (vgl. BAG 23. Januar 2018 – 9 AZR 200/17 – Rn. 31 f., BAGE 161, 347). Diesen hat die Beklagte unstreitig erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).
40
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO.
Kiel
Suckow
Weber
Jacob
Anthonisen |
bag_16-20 | 17.06.2020 | 17.06.2020
16/20 - Sind Urlaubszeiten für Mehrarbeitszuschläge zu berücksichtigen?
Ein Tarifvertrag, der für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt, könnte gegen Unionsrecht verstoßen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts richtet ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union, um diese Frage zu klären.*
Zwischen den Parteien besteht seit Januar 2017 ein Arbeitsverhältnis. Sie waren im streitigen Zeitraum an den Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17. September 2013 gebunden. Der Tarifvertrag regelt, dass Mehrarbeitszuschläge in Höhe von 25 % für Zeiten gezahlt werden, die im jeweiligen Kalendermonat über eine bestimmte Zahl geleisteter Stunden hinausgehen. Der Kläger macht Mehrarbeitszuschläge für August 2017 geltend, in dem er 121,75 Stunden tatsächlich gearbeitet hat. Daneben hat er in diesem Monat in der Fünftagewoche für zehn Arbeitstage Erholungsurlaub in Anspruch genommen. Die Beklagte hat dafür 84,7 Stunden abgerechnet. Die tarifvertragliche Schwelle, die überschritten werden muss, damit in diesem Monat Mehrarbeitszuschläge zu leisten sind, liegt bei 184 Stunden. Der Kläger meint, ihm stünden Mehrarbeitszuschläge zu, weil auch die für den Urlaub abgerechneten Stunden einzubeziehen seien.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union zu klären, ob die tarifliche Regelung mit Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG vereinbar ist. Die Auslegung des Tarifvertrags lässt es nicht zu, Urlaubszeiten bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zu berücksichtigen. Klärungsbedürftig ist, ob der Tarifvertrag damit einen unionsrechtlich unzulässigen Anreiz begründet, auf Urlaub zu verzichten.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 17. Juni 2020 – 10 AZR 210/19 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 14. Dezember 2018 – 13 Sa 589/18 –
*Der genaue Wortlaut der Frage kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
1. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Frage ersucht:
Stehen Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt?
2. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Ein Tarifvertrag, der für die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt, könnte gegen Unionsrecht verstoßen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über diese Frage.
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG.
2
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten über Mehrarbeitszuschläge.
4
Der Kläger ist als Leiharbeitnehmer in Vollzeit mit einem Bruttostundenlohn von 12,18 Euro bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte führt ein Unternehmen der Arbeitnehmerüberlassung. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt aufgrund beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17. September 2013 (MTV).
5
Im Monat August 2017, auf den 23 Arbeitstage entfielen, arbeitete der Kläger 121,75 Stunden und nahm Mindestjahresurlaub iSv. Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG in Anspruch. Die Beklagte rechnete für August 2017 zehn Urlaubstage mit 84,7 Stunden ab.
6
Nach § 4.1.2. MTV werden Mehrarbeitszuschläge für Zeiten gezahlt, die in Monaten mit 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden hinausgehen. Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 %.
7
Der Kläger ist der Ansicht, in die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge müssten die für Urlaub abgerechneten Stunden einbezogen werden. Für den Monat August 2017 sei daher von insgesamt 206,45 geleisteten Stunden auszugehen. Damit sei die Schwelle von 184 geleisteten Stunden überschritten, sodass er Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge habe.
8
Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 72,32 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7. Dezember 2017 zu zahlen.
9
Die Beklagte meint, für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge seien nach dem Wortlaut des MTV nur tatsächlich gearbeitete Stunden einzubeziehen. Urlaubszeiten seien dagegen nicht zu berücksichtigen. Dem Kläger stünden keine Mehrarbeitszuschläge zu, weil er im Monat August 2017 nicht mehr als 184 Stunden gearbeitet habe.
10
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom vorlegenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.
11
B. Einschlägiges nationales Recht
12
I. Bundesurlaubsgesetz
13
Das Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) vom 8. Januar 1963 (BGBl. I S. 2), zuletzt geändert durch Art. 3 Abs. 3 des Gesetzes vom 20. April 2013 (BGBl. I S. 868), regelt auszugsweise:
„§ 1 Urlaubsanspruch
Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.
…
§ 3 Dauer des Urlaubs
(1) Der Urlaub beträgt jährlich mindestens 24 Werktage.
(2) Als Werktage gelten alle Kalendertage, die nicht Sonn- oder gesetzliche Feiertage sind.
…
§ 13 Unabdingbarkeit
(1) 1Von den vorstehenden Vorschriften mit Ausnahme der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 kann in Tarifverträgen abgewichen werden. 2Die abweichenden Bestimmungen haben zwischen nichttarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Geltung, wenn zwischen diesen die Anwendung der einschlägigen tariflichen Urlaubsregelung vereinbart ist. 3Im übrigen kann, abgesehen von § 7 Abs. 2 Satz 2, von den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden.“
14
II. Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit
15
Der Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17. September 2013 (MTV) wurde zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e. V.) und verschiedenen unterzeichnenden Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) abgeschlossen. Er lautet auszugsweise:
„3.1. Arbeitszeit
3.1.1. Die individuelle regelmäßige monatliche Arbeitszeit beträgt für Vollzeitbeschäftigte 151,67 Stunden. Das entspricht einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden.
…
3.1.2. Die individuelle regelmäßige Arbeitszeit pro Monat richtet sich nach der Anzahl der Arbeitstage.
In Monaten mit
– 20 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 140 Std.
– 21 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 147 Std.
– 22 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 154 Std.
– 23 Arbeitstagen beträgt die Monatsarbeitszeit 161 Std.
Bei Teilzeitarbeit berechnet sich die regelmäßige Arbeitszeit pro Monat anteilig.
…
3.2. Arbeitszeitkonto
3.2.1. Für jeden Arbeitnehmer wird ein Arbeitszeitkonto eingerichtet. Auf dieses Konto werden die Stunden übertragen, die über die regelmäßige Arbeitszeit pro Monat hinaus abgerechnet werden. Zulässig ist gleichermaßen die Übertragung von Minusstunden.
3.2.2. Es dürfen nur so viele Stunden auf das Arbeitszeitkonto übertragen werden, dass die Grenzwerte von maximal 150 Plusstunden und 21 Minusstunden nicht überschritten werden. Bei Teilzeitbeschäftigung wird die Plusstundenobergrenze der Arbeitszeitkonten im Verhältnis zur arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeit angepasst.
…
4.1. Mehrarbeit
4.1.1. Mehrarbeit ist die über die regelmäßige monatliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit.
4.1.2. Mehrarbeitszuschläge werden für Zeiten gezahlt, die in Monaten mit
– 20 Arbeitstagen über 160 geleistete Stunden
– 21 Arbeitstagen über 168 geleistete Stunden
– 22 Arbeitstagen über 176 geleistete Stunden
– 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden
hinausgehen.
Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 Prozent.
Diese Regelungen gelten gleichermaßen für Teilzeitbeschäftigte.
…
§ 6a Urlaubsentgelt und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Für die Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und des Urlaubsentgelts sind für jeden nach den gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen zu vergütenden Krankheits- bzw. Urlaubstag für die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts der durchschnittliche Arbeitsverdienst und die durchschnittliche Arbeitszeit der letzten drei abgerechneten Monate (Referenzzeitraum) vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit bzw. des Urlaubsantritts zugrunde zu legen. Hierfür gilt:
a) Es ist der durchschnittliche Arbeitsverdienst des Referenzzeitraums auf Grundlage der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit zu bilden. Zum Arbeitsverdienst zählen die Entgeltbestandteile gemäß § 2 Entgelttarifvertrag iGZ sowie sonstige Zulagen und Zuschläge (ohne Mehrarbeitszuschläge) gemäß den Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes.
b) Zusätzlich finden die durchschnittlich im Referenzzeitraum erarbeiteten Zulagen und Zuschläge (ohne Mehrarbeitszuschläge) auf Grundlage der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitszeit Berücksichtigung, die über die individuelle regelmäßige Arbeitszeit hinausgeht.“
16
C. Einschlägiges Unionsrecht
17
I. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember 2007 (ABl. C 303 S. 1) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Juni 2016 (ABl. C 202 S. 389)
18
Art. 31 der Charta lautet:
„Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“
19
II. Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG)
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In Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ist geregelt:
„Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
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D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) und Erläuterung der Vorlagefrage
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I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
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1. Der Kläger hat auf der Grundlage von § 4.1.2. MTV keinen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge für den Monat August 2017. Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, dass in die Berechnung der Stunden, für die Mehrarbeitszuschläge zu zahlen sind, nur Zeiten einfließen, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat.
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a) Nach dem Wortlaut der tarifvertraglichen Regelung werden Mehrarbeitszuschläge für Zeiten gezahlt, die über eine bestimmte Zahl „geleisteter Stunden“ hinausgehen. Darunter sind nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Stunden zu verstehen, in denen eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht wird. Urlaubszeiten, in denen nicht gearbeitet wird, sind dagegen vom Wortsinn nicht erfasst (vgl. BAG 11. Juni 2008 – 5 AZR 389/07 – Rn. 14).
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b) Der Sinn und Zweck der tarifvertraglichen Regelungen des Mehrarbeitszuschlags steht dem Wortlaut nicht entgegen.
26
aa) Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, den Zweck einer tariflichen Leistung in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie zu bestimmen (BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 26/19 – Rn. 28; 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 34, BAGE 165, 1). Der Zweck der Mehrarbeitszuschläge könnte darin liegen, besondere Arbeitsbelastungen durch ein zusätzliches Entgelt auszugleichen, die erst entstehen, wenn bestimmte Arbeitszeitgrenzen überschritten werden. Solche Arbeitsbelastungen treten während des Urlaubs im Bezugszeitraum nicht auf (vgl. BAG 11. Juni 2008 – 5 AZR 389/07 – Rn. 15 mwN). Es entspräche dann nicht dem Zweck der Mehrarbeitszuschläge, wenn Urlaubsstunden bei ihrer Ermittlung berücksichtigt würden. Mehrarbeitszuschläge können demgegenüber auch anderen Zwecken dienen. Sie können belohnen, dass Arbeitnehmer ohne Freizeitausgleich mehr als vertraglich vereinbart arbeiten und dadurch nicht frei über ihre Zeit verfügen können. Zweck von Mehrarbeitszuschlägen kann auch sein, Arbeitgeber von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abzuhalten (BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 36 ff., BAGE 165, 1). Diesen Zwecken stünde es nicht entgegen, Urlaubsstunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zu berücksichtigen.
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bb) Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit den Mehrarbeitszuschlägen den Schutz des Freizeitbereichs und keinen Belastungsausgleich wollten, sind jedoch nicht ersichtlich. Die Formulierung in § 4.1.2. MTV, dass die Regelungen „gleichermaßen“ für Teilzeitbeschäftigte gelten, spricht vielmehr dafür, dass auch Teilzeitkräfte erst ab Überschreiten derselben Schwellen wie Vollzeitkräfte einen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge haben sollen. Hätten die Tarifvertragsparteien zum Ausdruck bringen wollen, dass Teilzeitarbeitnehmer bereits Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge haben sollen, wenn sie die Schwellen ihrer individuellen Arbeitszeit überschreiten, hätte es nahegelegen – wie an anderen Stellen des Tarifvertrags – zu formulieren, dass die Regelungen „anteilig“ für Teilzeitbeschäftigte gelten (vgl. § 3.1.2. Abs. 3 MTV und § 4.1.2. der zum 1. April 2020 in Kraft getretenen Neufassung des MTV vom 18. Dezember 2019). Das deutet darauf hin, dass die Tarifvertragsparteien einen Belastungsausgleich und keinen Ausgleich eines Freizeitopfers anstrebten.
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cc) Es kommt nicht darauf an, ob § 4.1.2. MTV gegen § 4 Abs. 1 TzBfG verstößt, weil Teilzeitbeschäftigte erst dann Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge haben, wenn sie die für eine Vollzeittätigkeit maßgebliche Stundenzahl überschreiten (vgl. BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 50 ff., BAGE 165, 1). Auch wenn in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer bereits ab einer niedrigeren Schwelle Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge hätten als Vollzeitkräfte, bliebe die Frage zu klären, ob Urlaubszeiten in die Berechnung einzubeziehen sind.
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c) Der tarifliche Gesamtzusammenhang bestätigt das Verständnis des Wortlauts und deutet ebenfalls darauf hin, dass nur tatsächlich geleistete Arbeitsstunden bei der Berechnung der Mehrarbeitsstunden berücksichtigt werden sollen. So werden erarbeitete Zulagen und Zuschläge für die Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und des Urlaubsentgelts nach § 6a Buchst. b MTV auf der Grundlage der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitszeit berücksichtigt. Dem steht nicht entgegen, dass Mehrarbeitszuschläge durch einen Klammerzusatz in § 6a Buchst. b MTV ausgenommen sind. Vielmehr deutet auch der Klammerzusatz darauf hin, dass es sich bei den Mehrarbeitszuschlägen aus Sicht der Tarifvertragsparteien um erarbeitete Zuschläge handelt.
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2. Die tarifvertraglichen Regelungen der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge könnten einen unzulässigen finanziellen Anreiz für Arbeitnehmer begründen, Mindesturlaub nicht in Anspruch zu nehmen. Hätte der Kläger im August 2017 keinen Urlaub genommen, sondern die für den Urlaubszeitraum abgerechneten Stunden tatsächlich gearbeitet, hätte er nach dem MTV einen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge für 22,45 Stunden in Höhe von 68,36 Euro brutto erworben (22,45 Stunden x 12,18 Euro brutto x 25 %).
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a) Die nachteilige Wirkung von Urlaub auf Mehrarbeitszuschläge ist in der Systematik des Tarifvertrags angelegt. Sie kann eintreten, wenn Arbeitnehmer während eines Teils des Kalendermonats länger arbeiten. Nehmen Arbeitnehmer während des restlichen Kalendermonats Urlaub, können sich die Mehrarbeitszuschläge verringern oder vollständig entfallen. In Anspruch genommener Urlaub kann daher für die tarifvertraglichen Mehrarbeitszuschläge mit einem finanziellen Nachteil einhergehen.
32
b) Der MTV weist jedoch Besonderheiten auf, die dazu führen, dass finanzielle Nachteile im Hinblick auf Mehrarbeitszuschläge durch in Anspruch genommenen Urlaub nur in besonderen Fallgestaltungen auftreten. Nach § 3.1.1. MTV beträgt die regelmäßige monatliche Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte 151,67 Stunden. Das entspricht einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden. § 4.1.1. MTV bestimmt, dass Mehrarbeit die über diese Grenze hinausgehende Arbeitszeit ist. Zuschlagspflichtig ist Mehrarbeit nach § 4.1.2. MTV dagegen erst, wenn eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von umgerechnet 40 Stunden überschritten wird. Mehrarbeitszuschläge fallen erst an, wenn im Monat mehr als 8/7 der regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit gearbeitet wird. Die Zahl zuschlagspflichtiger Mehrarbeitsstunden wird zudem dadurch begrenzt, dass nach § 3.2.1. MTV Stunden, die über die regelmäßige Arbeitszeit im Monat hinaus abgerechnet werden, auf ein Arbeitszeitkonto zu übertragen sind. Zuschlagspflichtige Mehrarbeit führt zu einem deutlichen Anstieg des Saldos auf dem Arbeitszeitkonto, weil die regelmäßige monatliche Arbeitszeit im Durchschnitt um mehr als eine Stunde je Arbeitstag überschritten werden muss. Sofern häufiger zuschlagspflichtige Mehrarbeit anfällt, erreicht das Arbeitszeitkonto regelmäßig schnell die Obergrenze von höchstens 150 Plusstunden nach § 3.2.2. MTV.
33
c) Der Anteil der durch Urlaub „bedrohten“ Mehrarbeitszuschläge am gesamten Bruttomonatsentgelt ist in den typischen Konstellationen vergleichsweise gering. Er beträgt im Fall des Klägers für den Monat August 2017 etwa 2,7 %.
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3. Die Frage, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen sind, dass sie einer tarifvertraglichen Regelung wie der in § 4.1.2. MTV entgegenstehen, ist entscheidungserheblich. Das Unionsrecht kann auch Regelungen in Tarifverträgen entgegenstehen (für die ständige Rechtsprechung EuGH 23. April 2020 – C-710/18 – [Land Niedersachsen (Périodes antérieures d’activité pertinente)] Rn. 22 ff.). Für die Entscheidung des vorlegenden Senats kommt es darauf an, ob für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt, berücksichtigt werden müssen. Sofern § 4.1.2. MTV mit dem durch Auslegung gefundenen Inhalt nicht gegen höherrangiges Recht verstößt, wären die von der Beklagten abgerechneten 84,7 Urlaubsstunden für August 2017 nicht in die Berechnung einzubeziehen. Der Kläger hätte keinen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge. Die Revision wäre zurückzuweisen. Sollten dagegen die auf bezahlten Mindestjahresurlaub entfallenden Stunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge einzubeziehen sein, hätte der Kläger Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge. Die Revision hätte Erfolg.
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II. Erläuterung der Vorlagefrage
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1. Nach § 4.1.2. MTV sind für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, die Stunden nicht zu berücksichtigen, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können bestimmte Anreize, auf Urlaub zu verzichten, gegen § 1 BUrlG verstoßen. Arbeitnehmer dürfen nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen davon abgehalten werden, ihren Anspruch auf Erholungsurlaub geltend zu machen. Ein mit § 1 BUrlG nicht zu vereinbarender Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, kann nach nationalem Recht auch in Tarifverträgen nicht wirksam vereinbart werden. Die Öffnungsklausel in § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG, nach der in Tarifverträgen grundsätzlich von den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen werden kann, gilt nicht für § 1 BUrlG (vgl. BAG 13. Juni 2019 – 6 AZR 576/17 – Rn. 27; 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17 – Rn. 33). Die innerdeutsche höchstrichterliche Rechtsprechung hat bisher nicht darüber entschieden, ob nachteilige Auswirkungen auf Mehrarbeitszuschläge durch Urlaub gegen § 1 BUrlG verstoßen können.
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2. § 1 BUrlG ist unionsrechtskonform nach Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG auszulegen. Die Bestimmung des § 1 BUrlG, wonach jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub hat, entspricht den Regelungen in Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (vgl. BAG 20. August 2019 – 9 AZR 468/18 – Rn. 13; 10. Februar 2015 – 9 AZR 455/13 – Rn. 21, BAGE 150, 355).
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3. Aus Sicht des vorlegenden Senats ist offen, ob eine Regelung wie § 4.1.2. MTV Anreize schafft, auf Urlaub zu verzichten, die mit Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG nicht zu vereinbaren sind. Die Rechtslage erscheint weder von vornherein eindeutig – „acte clair“ – noch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel zulässt – „acte éclairé“ – (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-72/14 ua. – [van Dijk] Rn. 52 ff.; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38 ff.; BVerfG 30. Juli 2019 – 2 BvR 1685/14 ua. – Rn. 315, BVerfGE 151, 202; BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 445/17 – Rn. 36, BAGE 165, 100).
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a) Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben sich einerseits Anhaltspunkte dafür, dass ein Verstoß gegen Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG gegeben sein könnte.
40
aa) Der Gerichtshof hat die besondere Bedeutung des Mindestjahresurlaubs in einer Vielzahl von Entscheidungen hervorgehoben.
41
(1) Das Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub ist ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88/EG selbst ausdrücklich gezogen werden (EuGH 12. Juni 2014 – C-118/13 – [Bollacke] Rn. 15; 20. Januar 2009 – C-350/06 ua. – [Schultz-Hoff ua.] Rn. 22 mwN). Er ist in Art. 31 Abs. 2 der Charta, der nach Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt, ausdrücklich verbürgt (EuGH 30. Juni 2016 – C-178/15 – [Sobczyszyn] Rn. 20; 8. November 2012 – C-229/11 ua. – [Heimann und Toltschin] Rn. 22).
42
(2) Der doppelte Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub liegt darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen (für die ständige Rechtsprechung EuGH 20. Juli 2016 – C-341/15 – [Maschek] Rn. 34 mwN; 30. Juni 2016 – C-178/15 – [Sobczyszyn] Rn. 25). Deshalb darf der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs nicht mit Umständen konfrontiert sein, die Unsicherheit in Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt auslösen könnten (EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 37 ff. mwN).
43
(3) Schließlich hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG die Regelung des Art. 31 Abs. 2 der Charta konkretisiert. In Art. 31 Abs. 2 der Charta ist das im Unionsrecht verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub ausgedrückt (EuGH 6. November 2018 – C-569/16 ua. – [Bauer] Rn. 38, 85; 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 31, 74 f.). Kann eine nationale Regelung nicht im Einklang mit Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ausgelegt werden, muss das innerstaatliche Gericht die nationale Regelung unangewendet lassen. Diese Verpflichtung ergibt sich für das nationale Gericht aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta, wenn an dem Rechtsstreit ein staatlicher Arbeitgeber beteiligt ist. Sie folgt aus Art. 31 Abs. 2 der Charta, wenn an dem Rechtsstreit ein privater Arbeitgeber beteiligt ist (EuGH 6. November 2018 – C-569/16 ua. – [Bauer] Rn. 64 ff.; 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 62 ff.; kritisch dazu Schlachter ZESAR 2019, 53, 55 ff.; Wank RdA 2020, 1 ff.).
44
bb) Aufgrund der besonderen Bedeutung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bestehen Zweifel, ob Nachteile bei der Höhe von Mehrarbeitszuschlägen aufgrund des in Anspruch genommenen Mindesturlaubs mit Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG zu vereinbaren sind. Das Zeitbudget der Urlaubstage würde aus der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge gewissermaßen „herausgeschnitten“. Diese Folge stünde in einem Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass Urlaubsrecht – unionsrechtlich betrachtet – Arbeitsschutzrecht ist, das der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer dient (EuGH 26. Juni 2001 – C-173/99 – [BECTU] Rn. 38; Kothe ZBVR online 2019, 38, 39 f.; derselbe FS Schwerdtner 2003 S. 99, 114 f.; EuArbRK/Gallner 3. Aufl. RL 2003/88/EG Art. 1 Rn. 1a, Art. 7 Rn. 1).
45
cc) Der Gerichtshof hat entschieden, dass keine Anreize geschaffen werden dürfen, auf den Mindestjahresurlaub zu verzichten. Arbeitnehmer dürfen dazu auch nicht angehalten werden. Das wäre mit den Zielen unvereinbar, die mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verfolgt werden und die ua. darin bestehen zu gewährleisten, dass Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz ihrer Sicherheit und ihrer Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 42; 6. November 2018 – C-619/16 – [Kreuziger] Rn. 49; 6. April 2006 – C-124/05 – [Federatie Nederlandse Vakbeweging] Rn. 32).
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dd) Eine diesem Fall vergleichsweise ähnliche Konstellation liegt der Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache Lock zugrunde (EuGH 22. Mai 2014 – C-539/12 -).
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(1) Der Arbeitnehmer erhielt neben seinem Grundgehalt Provisionen für abgeschlossene Kaufverträge, die mehrere Wochen oder Monate nach dem jeweiligen Vertragsschluss ausgezahlt wurden. Während des Urlaubs erhielt er sein Grundgehalt. Provisionen für in der Vergangenheit geschlossene Verträge wurden weiter geleistet. Der Arbeitnehmer war während des Urlaubs jedoch nicht in der Lage, durch Vertragsschlüsse neue Provisionen zu verdienen. Deswegen verringerte sich sein Arbeitsentgelt in einem Zeitraum nach dem jeweiligen Urlaub.
48
(2) Der Gerichtshof hat entschieden, dass einer solchen Regelung Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG entgegensteht. Der Arbeitnehmer sehe trotz des Entgelts für den Zeitraum des Jahresurlaubs möglicherweise aufgrund des hinausgeschobenen finanziellen Nachteils davon ab, sein Recht auf Urlaub auszuüben. Das sei umso wahrscheinlicher, als die Provisionen im Durchschnitt mehr als 60 % des Arbeitsentgelts ausmachten. Eine solche Verringerung des Arbeitsentgelts wegen des bezahlten Jahresurlaubs verstoße gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG. Unerheblich sei, dass die Verringerung des Arbeitsentgelts in der Zeit nach dem Urlaub eintrete (EuGH 22. Mai 2014 – C-539/12 – [Lock] Rn. 21 ff.). Die Fallgestaltungen in der Sache Lock und dem Rechtsstreit, über den der Senat zu entscheiden hat, sind insoweit vergleichbar, als der finanzielle Nachteil in beiden Fällen nicht das eigentliche Urlaubsentgelt betrifft, sondern in einem dem Urlaub vor- oder nachgelagerten Zeitraum eintritt. Zwischen den Konstellationen besteht allerdings ein gradueller Unterschied, weil die Nachteile für Vergütungsansprüche in der Fallgestaltung der Rechtssache Lock regelmäßiger und in größerem Umfang eintraten, als das bei den hier gegebenen Nachteilen für die Entstehung und Höhe von Mehrarbeitszuschlägen zutrifft. Allein aufgrund der geringeren Höhe der möglichen Nachteile für das Entgelt kann ein Verstoß gegen Unionsrecht jedoch aus Sicht des vorlegenden Senats nicht ausgeschlossen werden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine finanzielle Vergütung den unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügt, wenn sie gerade noch so bemessen ist, dass keine ernsthafte Gefahr dafür besteht, der Arbeitnehmer werde seinen Jahresurlaub nicht antreten (EuGH 15. September 2011 – C-155/10 – [Williams ua.] Rn. 21). Auch das vor dem Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Overijssel (Niederlande) vom 20. Mai 2020 behandelt in der Rechtssache Staatssecretaris van Financiën die Frage, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen ist, dass der Arbeitnehmer seine Vergütung oder einen ihrer Teile nicht verlieren darf, weil er sein Recht auf Jahresurlaub ausübt (- C-217/20 -).
49
b) Andererseits ergeben sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch Anhaltspunkte dafür, dass die negative Anreizwirkung des § 4.1.2. MTV nicht genügen könnte, um eine Verletzung von Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG zu begründen. Solche Anhaltspunkte finden sich in den Entscheidungen des Gerichtshofs zu dem gewöhnlichen Arbeitsentgelt, das Arbeitnehmern fortzuzahlen ist, während sie Urlaub in Anspruch nehmen (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 32 ff.; 22. Mai 2014 – C-539/12 – [Lock] Rn. 16 ff.; 15. September 2011 – C-155/10 – [Williams ua.] Rn. 19 ff.).
50
aa) Durch das Erfordernis der Zahlung des Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 35; 16. März 2006 – C-131/04 ua. – [Robinson-Steele ua.] Rn. 58). Ist das Urlaubsentgelt geringer als das gewöhnliche Entgelt, das der Arbeitnehmer in Zeiträumen tatsächlicher Arbeitsleistung erhält, könnte er veranlasst sein, seinen bezahlten Jahresurlaub nicht zu nehmen oder zumindest nicht in Arbeitszeiträumen zu nehmen, in denen dies zur Verringerung seines Entgelts führte (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 44). Möglicherweise können die Maßstäbe für die Bemessung des Urlaubsentgelts auf die Frage übertragen werden, welche Nachteile infolge Urlaubs in Bezug auf Vergütung für andere Zeiten hinzunehmen sind. Dafür spricht, dass der Gerichtshof in der Rechtssache Lock ausgeführt hat, es komme nicht darauf an, ob eine Verringerung des Arbeitsentgelts hinsichtlich des bezahlten Jahresurlaubs erst in der Zeit nach dem Jahresurlaub eintrete (EuGH 22. Mai 2014 – C-539/12 – [Lock] Rn. 23).
51
bb) Das Urlaubsentgelt für den Mindesturlaub muss grundsätzlich so bemessen sein, dass es mit dem gewöhnlichen Entgelt des Arbeitnehmers übereinstimmt. Besteht das vom Arbeitnehmer bezogene Entgelt aus mehreren Bestandteilen, erfordert die Bestimmung dieses gewöhnlichen Entgelts und des Betrags, auf den der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs Anspruch hat, eine spezifische Prüfung (EuGH 15. September 2011 – C-155/10 – [Williams ua.] Rn. 21 f.). Jede Unannehmlichkeit, die untrennbar mit der Erfüllung der dem Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben verbunden ist und durch einen in die Berechnung des Gesamtentgelts des Arbeitnehmers eingehenden Geldbetrag abgegolten wird, muss zwingend Teil des Betrags sein, auf den der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs Anspruch hat (EuGH 22. Mai 2014 – C-539/12 – [Lock] Rn. 29; 15. September 2011 – C-155/10 – [Williams ua.] Rn. 24; vgl. auch BAG 15. Dezember 2015 – 9 AZR 611/14 – Rn. 33). Bestandteile des Gesamtentgelts, die ausschließlich gelegentlich anfallende Kosten oder Nebenkosten decken sollen, müssen bei der Berechnung des Urlaubsentgelts nicht berücksichtigt werden (EuGH 22. Mai 2014 – C-539/12 – [Lock] Rn. 31; 15. September 2011 – C-155/10 – [Williams ua.] Rn. 25).
52
cc) In der Rechtssache Hein hat sich der Gerichtshof mit der Frage befasst, ob von dem Arbeitnehmer geleistete Überstunden bei der Berechnung des Urlaubsentgelts berücksichtigt werden müssen. Er hat dazu festgestellt, dass die Überstundenvergütung aufgrund ihres Ausnahmecharakters und ihrer Unvorhersehbarkeit grundsätzlich nicht Teil des gewöhnlichen Arbeitsentgelts ist, das der Arbeitnehmer für den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG vorgesehenen bezahlten Urlaub beanspruchen kann. Ist der Arbeitnehmer jedoch arbeitsvertraglich verpflichtet, Überstunden zu leisten, die weitgehend vorhersehbar und gewöhnlich sind und deren Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten Arbeitsentgelts ausmacht, sollte die Vergütung für diese Überstunden in das gewöhnliche Arbeitsentgelt einbezogen werden. Der Gerichtshof überlässt es den nationalen Gerichten zu prüfen, ob das im Ausgangsrechtsstreit der Fall ist (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 46 f.).
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dd) Noch nicht vollständig geklärt ist, ob weitgehend vorhersehbare und gewöhnliche Überstunden, deren Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten Arbeitsentgelts ausmacht, zwingend in die Berechnung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts einfließen müssen. Die Formulierung, dass die Vergütung für diese Überstunden in die Berechnung des Urlaubsentgelts einfließen sollte, spricht gegen eine verbindliche Pflicht, die Überstunden einzubeziehen (vgl. EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 47). Die Gegenüberstellung zwischen unvorhersehbarer Überstundenvergütung mit Ausnahmecharakter und weitgehend vorhersehbaren und gewöhnlichen Überstunden, deren Vergütung einen wesentlichen Entgeltanteil ausmacht, legt jedoch das gegenteilige Verständnis nahe.
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ee) Im Ausgangsfall spricht viel dafür, dass es sich um ausnahmsweise und unvorhersehbar anfallende Mehrarbeitsstunden handelt. Anhaltspunkte dafür, dass die Mehrarbeitsstunden weitgehend vorhersehbar und gewöhnlich sind und ihre Vergütung einen wesentlichen Teil des gesamten Arbeitsentgelts ausmacht, ergeben sich weder aus dem Tarifvertrag noch aus den Besonderheiten des Ausgangsrechtsstreits. Wenn eine solche Mehrarbeitsvergütung nicht zwingend in die Berechnung des Urlaubsentgelts einfließen muss, liegt es nahe, dass auch ein vergleichbarer finanzieller Nachteil durch in Anspruch genommenen Urlaub für die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge nicht gegen Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verstößt.
55
ff) Die Entscheidung, ob die Maßstäbe, die für das während des Mindesturlaubs fortzuzahlende gewöhnliche Arbeitsentgelt gelten, auf die Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen übertragen werden können, obliegt aus Sicht des vorlegenden Senats dem Gerichtshof. Der finanzielle Nachteil einer aufgrund in Anspruch genommenen Urlaubs geringeren Vergütung ist unabhängig davon, ob er während des Urlaubs zu einem geringeren Urlaubsentgelt führt oder ob sich der Nachteil im Hinblick auf Mehrarbeitsvergütung für Zeiten vor oder nach dem Urlaub auswirkt. Der finanzielle Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, ist in beiden Fällen vergleichbar.
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III. Vorlagepflicht des Bundesarbeitsgerichts nach Art. 267 Abs. 3 AEUV
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1. Der Senat muss nicht darüber befinden, ob er als letztinstanzliches Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV dazu verpflichtet ist, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.
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a) Nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet, wenn sich eine Frage iSv. Art. 267 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV stellt. Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts können nach bisherigem Verständnis nicht mit Rechtsmitteln in diesem Sinn angefochten werden. Der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde gehört grundsätzlich nicht zu den Rechtsmitteln iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV (EuGH 15. Januar 2013 – C-416/10 – [Križan ua.] Rn. 72; BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 276/17 – [Recht auf Vergessen II] Rn. 73, BVerfGE 152, 216; ErfK/Wißmann/Schlachter 20. Aufl. AEUV Art. 267 Rn. 29).
59
b) Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt jedoch offengelassen, ob die Vorlagepflicht der Fachgerichte entfällt, soweit das Bundesverfassungsgericht selbst als letztentscheidende Instanz iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlagepflichtig ist (BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 276/17 – [Recht auf Vergessen II] Rn. 72, BVerfGE 152, 216). Würde an einer Vorlagepflicht der im fachgerichtlichen Instanzenzug letztinstanzlich entscheidenden Gerichte festgehalten, könnten zwei Gerichte nebeneinander und gleichzeitig als letztinstanzliches Gericht anzusehen sein. Das liege für das Nebeneinander von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit nicht nahe (BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 276/17 – [Recht auf Vergessen II] Rn. 73, aaO).
60
aa) In zwei Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass es in bestimmten Bereichen selbst eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte der Europäischen Union vornimmt (BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 16/13 – [Recht auf Vergessen I] Rn. 63 ff., BVerfGE 152, 152; 6. November 2019 – 1 BvR 276/17 – [Recht auf Vergessen II] Rn. 42 ff., BVerfGE 152, 216). Soweit das Bundesverfassungsgericht die Charta als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem Gerichtshof aus. Das Bundesverfassungsgericht legt dem Gerichtshof ungeklärte Fragen hinsichtlich der Auslegung der Charta selbst nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor (BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 16/13 – [Recht auf Vergessen I] Rn. 72, aaO; 6. November 2019 – 1 BvR 276/17 – [Recht auf Vergessen II] Rn. 68 ff., aaO; zustimmend Kühling NJW 2020, 275, 277).
61
bb) Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die hier fragliche Berücksichtigung von Urlaubszeiten bei der Berechnung zuschlagspflichtiger Mehrarbeitszeiten zu den Bereichen gehören könnte, für die das Bundesverfassungsgericht eine eigene Kontrolle an Unionsgrundrechten durchführt. In diesem Fall könnte eine Vorlagepflicht des Senats nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht gegeben sein.
62
(1) Eine eigene Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts dürfte sich allerdings nicht aus dem Gesichtspunkt vollharmonisierten Rechts ergeben.
63
(a) Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen am Maßstab der Unionsgrundrechte. Insoweit sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte anwendbar. Ob eine Regelung unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist, richtet sich nach einer Auslegung des jeweils anzuwendenden unionsrechtlichen Fachrechts. Das Bundesverfassungsgericht hat im konkreten Fall darauf abgestellt, dass die dort einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts im Bereich des Datenschutzes nicht lediglich auf eine Mindestharmonisierung, sondern auf eine umfassende Vereinheitlichung der nationalen Rechtsvorschriften gerichtet waren (BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 276/17 – [Recht auf Vergessen II] Rn. 32 ff., BVerfGE 152, 216).
64
(b) Fragen der Berechnung von Mehrarbeitsvergütung im Zusammenhang mit Urlaub dürften nicht als unionsrechtlich vollständig harmonisiert im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzusehen sein. Weder in Art. 31 Abs. 2 der Charta noch in der Richtlinie 2003/88/EG finden sich hierzu konkrete Vorschriften oder Vorgaben. Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a, Art. 7 Abs. 1 und Art. 15 der Richtlinie 2003/88/EG geht ausdrücklich hervor, dass sich die Richtlinie darauf beschränkt, Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung aufzustellen, und die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, für den Schutz der Arbeitnehmer günstigere nationale Vorschriften anzuwenden (EuGH 20. Juli 2016 – C-341/15 – [Maschek] Rn. 38 f.; 3. Mai 2012 – C-337/10 – [Neidel] Rn. 35). Nach Art. 153 Abs. 2 Satz 1 Buchst. b iVm. Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b AEUV besteht nur eine Kompetenz der Union, zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit von Arbeitnehmern Richtlinien mit sogenannten Mindestvorschriften zu erlassen (vgl. auch die Mitteilung der Europäischen Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung vom 24. Mai 2017 C 165 S. 14).
65
(2) Eine eigene Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts am Maßstab der Unionsgrundrechte außerhalb des vollharmonisierten Bereichs kommt hier jedoch unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass durch eine Überprüfung allein an deutschen Grundrechten das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts möglicherweise nicht gewahrt sein könnte.
66
(a) Eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte reicht außerhalb des vollharmonisierten Bereichs dann nicht von vornherein aus, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte bestehen, dass dadurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte. Anhaltspunkte für ein höheres Schutzniveau können sich insbesondere aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben. Ist konkret erkennbar, dass er spezifische Schutzstandards zugrunde legt, die von den deutschen Grundrechten nicht gewährleistet werden, ist das in die Prüfung einzubeziehen (BVerfG 6. November 2019 – 1 BvR 16/13 – [Recht auf Vergessen I] Rn. 67 ff., BVerfGE 152, 152; Kühling NJW 2020, 275, 276).
67
(b) Aus der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Mindestjahresurlaub iSv. Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ergeben sich Anhaltspunkte für ein höheres grundrechtliches Schutzniveau des Unionsrechts. Unionsrechtlich sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch die Urlaubsdauer, die Übertragbarkeit des Urlaubsanspruchs in Folgejahre und seine Vererblichkeit vom Grundrechtsschutz erfasst. Dagegen ist der Urlaubsanspruch aus nationaler Sicht in Rechtsprechung und Schrifttum bisher nicht in vergleichbarer Weise grundrechtlich ausgeformt. Zwar wäre es möglich, das Recht auf Urlaub auch mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu unterlegen. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa für den Bereich der Nachtarbeit erkannt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Schutz der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit zu regeln. Eine solche Regelung ist notwendig, um dem objektiven Gehalt der Grundrechte, insbesondere des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, zu genügen (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191). Ebenso wie Beschränkungen der Nachtarbeit dient auch der Urlaubsanspruch der Gesundheit der betroffenen Arbeitnehmer (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 42; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 25, BAGE 165, 376). Es läge daher nahe, aus der Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einen Auftrag an den Gesetzgeber abzuleiten, durch Regelungen des Urlaubsanspruchs – wie im Bundesurlaubsgesetz geschehen – die Gesundheit der betroffenen Arbeitnehmer zu schützen. Selbst wenn solche verfassungsrechtlichen Ableitungen aus deutschen Grundrechten jedenfalls denkbar sind, dürfte der unionsrechtliche Grundrechtsschutz für den Urlaub ein höheres Niveau erreicht haben.
68
2. Unabhängig von der Frage, ob das Bundesarbeitsgericht hier als letztinstanzliches Gericht iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV zu einer Vorlage verpflichtet ist, sind die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV erfüllt. Der Senat ist jedenfalls dazu berechtigt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.
Gallner
Brune
Pulz
Rudolph
Salzburger |
bag_17-18 | 21.03.2018 | 21.03.2018
17/18 - Vollstreckungsabwehrklage - Beschäftigungstitel - Unmöglichkeit
Ein Arbeitgeber kann im Rahmen einer Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO nicht erfolgreich einwenden, ihm sei die Erfüllung eines rechtskräftig zuerkannten Beschäftigungsanspruchs auf einem konkreten Arbeitsplatz wegen dessen Wegfalls unmöglich, wenn er den arbeitsvertraglichen Beschäftigungsanspruch durch Zuweisung einer anderen vertragsgemäßen Tätigkeit erfüllen könnte.
Die Parteien streiten über die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus dem rechtskräftigen Urteil eines Arbeitsgerichts aus dem Jahr 2010. Danach hat die Klägerin den Beklagten „zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Direktor Delivery Communication & Media Solutions Deutschland und General Western Europe auf der Managerebene 3 zu beschäftigen“. Die Klägerin wendet ein, ihr sei die titulierte Beschäftigung des Beklagten unmöglich, weil der Arbeitsplatz aufgrund konzernübergreifender Veränderungen der Organisationsstruktur weggefallen sei. Eine andere Tätigkeit hat sie dem Beklagten nicht zugewiesen. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben.
Die Revision des Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Selbst wenn die Beschäftigung des Beklagten infolge des Wegfalls des Arbeitsplatzes iSv. § 275 Abs. 1 BGB unmöglich ist, kann die Klägerin mit dieser Einwendung im Verfahren nach § 767 ZPO jedenfalls wegen des aus § 242 BGB abzuleitenden, von Amts wegen zu berücksichtigenden sog. Dolo-agit-Einwands* nicht durchdringen. Durch die Nichtbeschäftigung des Beklagten verstößt die Klägerin gegen die Beschäftigungspflicht (§ 611 Abs. 1 BGB). Fehlendes Verschulden hat sie nicht dargelegt (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB). Sie muss dem Beklagten deshalb nach § 280 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 249 Abs. 1 BGB eine andere vertragsgemäße Beschäftigung zuweisen. Dass ihr dies nicht möglich oder zuzumuten sei, hat die Klägerin nicht behauptet.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 560/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 10. Juni 2016 – 10 Sa 614/15 –
*Danach verstößt gegen Treu und Glauben, wer eine Leistung verlangt, die er sofort zurückgewähren muss („dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“). | Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 10. Juni 2016 – 10 Sa 614/15 – aufgehoben.
2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 23. April 2015 – 7 Ca 1184/15 – wird zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Leitsatz
Ein Arbeitgeber kann im Rahmen einer Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO nicht erfolgreich einwenden, ihm sei die Erfüllung eines rechtskräftig zuerkannten Beschäftigungsanspruchs auf einem konkreten Arbeitsplatz wegen dessen Wegfalls unmöglich, wenn er den arbeitsvertraglichen Beschäftigungsanspruch durch Zuweisung einer anderen vertragsgemäßen Tätigkeit erfüllen könnte.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten im Rahmen einer Vollstreckungsabwehrklage über die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung aus einem Beschäftigungstitel.
2
Der Beklagte trat am 1. Januar 1994 in die Dienste der Klägerin, die einem weltweit auf dem Gebiet der Informationstechnologie tätigen Konzern angehört. Ab 2005 war der Beklagte in dem mit der Entwicklung und Einführung von Softwarelösungen für Kunden aus den Branchen Telekommunikation und Medien befassten Organisationsbereich „CMS Delivery“ tätig. Dieser war damals Teil des übergeordneten Organisationsbereichs „Communication & Media Solutions“ (CMS) und gehörte zum Geschäftsbereich „Software & Solutions“. Dort bekleidete der Beklagte die Position eines auf der Managerebene 3 angesiedelten „Director Delivery Communication & Media Solutions Deutschland und General Western Europe“ (GWE). Innerhalb der sog. Subregion „Deutschland“ war der Beklagte ua. zuständig für die Großkunden Deutsche Telekom und Vodafone. Die Subregion „GWE“ umfasste die Länder Österreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande, Finnland und die baltischen Länder, Dänemark, Norwegen, Schweden und die Schweiz. Dem Beklagten unterstanden etwa 120 Mitarbeiter.
3
Am 25. Juni 2009 entband die Klägerin den Beklagten von seinen Aufgaben. Das Arbeitsgericht Düsseldorf verurteilte sie am 2. Februar 2010 (- 7 Ca 6977/09 -), den Beklagten „zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Direktor Delivery Communication & Media Solutions Deutschland und General Western Europe auf der Managerebene 3 zu beschäftigen“ und ihm dabei mindestens neun im Einzelnen näher beschriebene Tätigkeiten zuzuweisen.
4
Mit Antrag vom 14. April 2010 leitete der Beklagte die Zwangsvollstreckung aus dem zwischenzeitlich in Rechtskraft erwachsenen Urteil ein. Im Zeitraum von April 2010 bis Mai 2013 erklärte die Klägerin gegenüber dem Beklagten drei Änderungskündigungen, eine außerordentliche Beendigungskündigung und eine Versetzung. Die erste Änderungsschutzklage erledigten die Parteien einvernehmlich, nachdem die Klägerin die Änderungskündigung „zurückgenommen“ hatte. Die außerordentliche Beendigungskündigung, die weiteren Änderungskündigungen und die Versetzung wurden rechtskräftig für unwirksam erklärt.
5
Im Zuge einer europaweiten Umstrukturierung des Konzerns im April/Mai 2015 wurde der Organisationsbereich „CMS“ einem anderen Geschäftsbereich zugeordnet. Dem zugleich entstandenen „CMS Central Cluster“ wurden die Subcluster „Südosteuropa und Österreich“, „Commonwealth of Independant States“, „Russland“, „Polen, Tschechien, Slowakei“, „Schweiz“, „Deutschland incl. Telekom regional“ sowie das für die Ländergesellschaften der Deutschen Telekom in „Central Eastern Europe (CEE)“ zuständige Subcluster „DT CEE“ zugeordnet. Mit der Leitung des Subclusters „Deutschland incl. Telekom regional“ betraute die Klägerin einen Manager, den sie aufgrund der im Vergleich zu der vormaligen Position des Beklagten geringeren Budget- und Personalverantwortung der hierarchisch niedrigeren Ebene 2 zuordnete.
6
Die Klägerin hat geltend gemacht, die Beschäftigung des Beklagten im titulierten Umfang sei ihr unmöglich. Sein ehemaliger Arbeitsplatz sei aufgrund der konzernübergreifenden Veränderungen der Organisationsstruktur weggefallen. Die Verantwortung für die Staaten der ehemaligen Subregion „GWE“ sei bereits im Rahmen einer ersten konzernweiten Umstrukturierung im April 2010 auf andere konzernangehörige Gesellschaften übertragen worden. Nach der Umstrukturierung im April/Mai 2015 sei sie zwar noch für das Subcluster „Deutschland incl. Telekom regional“ zuständig, in dem auch die neun im Beschäftigungstitel näher beschriebenen Tätigkeiten anfielen. Ein dem Zuschnitt der ehemaligen Subregion „GWE“ entsprechendes Subcluster verantworte sie jedoch nicht mehr.
7
Die Klägerin hat beantragt,
die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 2. Februar 2010 – 7 Ca 6977/09 – für unzulässig zu erklären;
hilfsweise
die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 2. Februar 2010 – 7 Ca 6977/09 – für teilweise unzulässig zu erklären, soweit sie die Weiterbeschäftigung des Beklagten zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Director Delivery Communication und Media Solutions „General Western Europe“ betrifft.
8
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die organisatorische Veränderung der Subregion „GWE“ stehe seinem titulierten Anspruch nicht entgegen, weil sie keine Auswirkungen auf die im Titel bezeichneten Aufgaben habe. Das Geschäftsmodell der Klägerin im Organisationsbereich „CMS“ bestehe nach wie vor darin, Software und Integrationsleistungen als Projekt an Kunden aus bestimmten Ländern zu verkaufen. Daher gebe es auch weiterhin für die sog. Lieferung der Projekte verantwortliche Manager. Verändert habe sich lediglich die Zuordnung der Länder zu den Subclustern. Da dem „CMS Central Cluster“ nunmehr andere mit der ehemaligen Subregion „GWE“ gleichwertige Ländergruppen zugeordnet seien, hätte die Klägerin ihn jedenfalls mit der Leitung eines solchen Subclusters betrauen können.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiterhin das Ziel der Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hätte der Berufung der Klägerin nicht stattgeben dürfen. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin kann sich nicht auf den Ausschluss ihrer Leistungspflicht nach § 275 BGB berufen. Dem steht das sog. Dolo-agit-Gegenrecht des Beklagten entgegen.
11
A. Die Klage ist mit beiden Anträgen zulässig.
12
I. Nach § 62 Abs. 2 Satz 1 ArbGG iVm. § 767 Abs. 1 ZPO können materiell-rechtliche Einwendungen, die den titulierten Anspruch selbst betreffen und nicht nach § 767 Abs. 2 ZPO präkludiert sind, von dem Schuldner mit der Vollstreckungsabwehrklage beim Prozessgericht des ersten Rechtszugs geltend gemacht werden. Als erhebliche Einwendungen iSd. § 767 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO kommen solche neuen Tatsachen in Betracht, die den Sachverhalt verändert haben, der in der früheren Entscheidung als für die ausgesprochene Rechtsfolge maßgebend angesehen worden ist. Dabei ist von den Gründen der rechtskräftigen Entscheidung auszugehen und zu prüfen, ob die neu entstandenen Tatsachen die dort bejahten oder verneinten Tatbestandsmerkmale beeinflussen. Maßgebend ist die letzte im Rechtsmittelzug ergangene Entscheidung, denn sie bestimmt Umfang und Tragweite der Rechtskraft (BAG 19. Juni 2012 – 1 ABR 35/11 – Rn. 14).
13
II. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Klage zulässig.
14
1. Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend von der Statthaftigkeit der Vollstreckungsabwehrklage ausgegangen. Die von der Klägerin erhobene Einwendung ist erst nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung im Vorprozess entstanden. Die Klägerin war nach § 767 Abs. 2 ZPO nicht gehalten, die Einwendung mit einer Berufung geltend zu machen, selbst wenn ihr dies möglich gewesen wäre (vgl. BAG 28. März 1985 – 2 AZR 548/83 – zu B II 2 der Gründe; Zöller/Herget ZPO 32. Aufl. § 767 Rn. 4).
15
2. Für eine Vollstreckungsabwehrklage besteht ein Rechtsschutzbedürfnis, solange der Gläubiger den Vollstreckungstitel noch in Händen hat (BGH 21. Oktober 2016 – V ZR 230/15 – Rn. 7). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Vollstreckung des Titels durch den Beklagten unzweifelhaft nicht mehr drohte.
16
B. Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin kann sich im besonders gelagerten Streitfall wegen des aus § 242 BGB abzuleitenden Dolo-agit-Gegenrechts nicht mit Erfolg darauf berufen, die titulierte Beschäftigung des Beklagten sei infolge des Wegfalls des Arbeitsplatzes iSv. § 275 Abs. 1 BGB unmöglich oder zumindest teilweise unmöglich geworden. Sie müsste dem Beklagten nach § 275 Abs. 4 iVm. § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 BGB dann umgehend eine anderweitige vertragsgemäße Beschäftigung zuweisen, was ihr möglich wäre. Das gilt auch für etwa bestehende Leistungsverweigerungsrechte aus § 275 Abs. 2 oder Abs. 3 BGB.
17
I. Nach § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf Leistung kraft Gesetzes ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist (zu dem Einwendungscharakter von § 275 Abs. 1 BGB Palandt/Grüneberg 77. Aufl. § 275 BGB Rn. 31 mwN).
18
1. Subjektive Unmöglichkeit iSv. § 275 Abs. 1 Alt. 1 BGB liegt vor, wenn zwar ein anderer die Leistung erbringen könnte, dem Schuldner selbst jedoch diese Fähigkeit fehlt oder verloren gegangen ist, weil er das Leistungshindernis, das auch in der notwendigen Mitwirkung eines anderen bestehen kann, nicht überwinden kann (Erman/Westermann 15. Aufl. § 275 BGB Rn. 3, 15; Staudinger/Caspers [2014] § 275 Rn. 65, 72). Objektiv unmöglich iSv. § 275 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist eine Leistung zB dann, wenn sie nach den Naturgesetzen oder nach dem Stand der Erkenntnis von Wissenschaft und Technik schlechthin nicht erbracht werden kann (BGH 8. Mai 2014 – VII ZR 203/11 – Rn. 23, BGHZ 201, 148 [Ausschluss von Nickelsulfid-Einschlüssen in Glasscheiben]; 13. Januar 2011 – III ZR 87/10 – Rn. 10, BGHZ 188, 71 [Versprechen von Hilfe und Unterstützung durch Kartenlegen und Einsatz übernatürlicher, magischer Kräfte und Fähigkeiten]). Die Ergebnisse der Rechtsprechung zum Begriff der Unmöglichkeit iSv. § 275 BGB aF können für die Unmöglichkeit iSv. § 275 Abs. 1 nF BGB weiter verwandt werden (vgl. Palandt/Grüneberg 77. Aufl. § 275 BGB Rn. 6).
19
2. Bezogen auf die Beschäftigungspflicht hat das Bundesarbeitsgericht Unmöglichkeit iSv. § 275 Abs. 1 BGB aF bejaht, wenn der Arbeitsplatz im Betrieb des Arbeitgebers weggefallen war. Die unterschiedlichen Sachverhaltsgestaltungen bestanden in einer Zerstörung des Betriebs durch einen Brand (BAG 17. Dezember 1968 – 5 AZR 149/68 – zu II 1 der Gründe, BAGE 21, 263), einer vorübergehenden witterungsbedingten Schließung (BAG 9. März 1983 – 4 AZR 301/80 – BAGE 42, 94), einer Schließung der Abteilung (BAG 4. September 1985 – 5 AZR 90/84 – zu I 2 a der Gründe), einer Umorganisation (BAG 13. Juni 1990 – 5 AZR 350/89 – zu I 1 a der Gründe) und einer Betriebsstilllegung (BAG 18. März 1999 – 8 AZR 344/98 – zu I 3 der Gründe). Unmöglichkeit iSv. § 275 Abs. 1 BGB nF ist beispielsweise anzunehmen, wenn die Arbeit unmittelbar aufgrund der Witterung bzw. anderer von außen einwirkender Umstände „zum Erliegen gekommen“ ist oder wenn dem Arbeitgeber die Aufrechterhaltung der Arbeit nur mit wirtschaftlich nicht sinnvollen und damit nicht zumutbaren Mitteln möglich wäre (BAG 9. Juli 2008 – 5 AZR 810/07 – Rn. 23, BAGE 127, 119).
20
3. Nach diesen Maßstäben hat das Landesarbeitsgericht ohne Rechtsfehler erkannt, dass der Klägerin die Beschäftigung des Beklagten im titulierten Umfang nach § 275 Abs. 1 BGB unmöglich geworden ist.
21
a) Das Landesarbeitsgericht durfte bei seiner Entscheidung den erst in der Berufungsinstanz gehaltenen Vortrag der Klägerin berücksichtigen, wonach ihr die Erfüllung des Beschäftigungstitels infolge der im April/Mai 2015 vollzogenen konzernweiten Umstrukturierung unmöglich geworden sei. Der Schuldner kann im Rahmen einer anhängigen Vollstreckungsabwehrklage alle Einwendungen vorbringen, die er spätestens bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachenrechtszugs geltend machen kann (vgl. BGH 29. Januar 2015 – V ZR 93/14 – Rn. 12). Die Bestimmung des § 767 Abs. 3 ZPO, auf die sich die Revision in diesem Zusammenhang beruft, soll bewirken, dass der Schuldner alle Einwendungen, die er geltend zu machen imstande ist, mit einer Klage, nicht mit mehreren Klagen, geltend macht (in diesem Sinn bereits RG 15. Juni 1903 – V 48/03 – RGZ 55, 101). Dementsprechend präkludiert § 767 Abs. 3 ZPO Einwendungen für spätere – wiederholte – Vollstreckungsabwehrklagen (BGH 5. April 2006 – IV ZR 139/05 – Rn. 9, BGHZ 167, 150).
22
b) Ausgehend von den Feststellungen in den Gründen des Berufungsurteils, die der Beklagte nicht angegriffen hat, besteht bei der Klägerin jedenfalls seit der Umstrukturierung im April/Mai 2015 kein Arbeitsplatz mehr, auf dem sie den Beklagten im titulierten Umfang beschäftigen könnte. Das Landesarbeitsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf abgestellt, dass keines der im Rahmen der Umstrukturierung im April/Mai 2015 gebildeten Subcluster des „CMS Central Cluster“ den im Beschäftigungstitel beschriebenen Zuschnitt „Deutschland und General Western Europe“ abbildet.
23
c) Die Klägerin kann die titulierte Beschäftigungspflicht auch nicht teilweise erfüllen, indem sie dem Beklagten etwa das Subcluster „Deutschland incl. Telekom regional“ zuweist. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts weist die Position des für das Subcluster „Deutschland incl. Telekom regional“ zuständigen Managers einen Zuschnitt auf, der sich schon aufgrund der geringeren geschäftlichen Bedeutung innerhalb des Konzerns wesentlich von der dem Beschäftigungstitel zugrunde liegenden Position eines „Director Delivery Communication & Media Solutions Deutschland und General Western Europe“ unterscheidet. Dies bestätigt die Revision zumindest mittelbar, wenn sie ausführt, der Beklagte strebe „selbstverständlich … eine Beschäftigung mit länderübergreifender, internationaler Zuständigkeit an“, was „natürlich auch darauf ausgerichtet (sei), auf eine Art und Weise beschäftigt zu werden, die ihm innerhalb des weltweit tätigen Konzerns und des dadurch gegebenen Beziehungsgeflechts die hierarchische, geografische und damit letztlich geschäftliche Bedeutung verschaff(e)“. Der das Subcluster „Deutschland incl. Telekom regional“ leitende Manager hat zudem unstreitig eine im Vergleich zu der vormals vom Beklagten innegehabten Leitungsposition erheblich geringere Budget- und Personalverantwortung.
24
II. Die Klägerin kann jedoch mit der Einwendung, die Beschäftigung des Beklagten im titulierten Umfang sei nach § 275 Abs. 1 BGB unmöglich geworden, wegen des Dolo-agit-Gegenrechts des Beklagten aus § 242 BGB nicht durchdringen.
25
1. Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verbietet die Durchsetzung eines Anspruchs, wenn der Gläubiger das Erlangte wieder an den Schuldner zurückzugewähren hätte („dolo agit qui petit quod statim redditurus est“; zB BGH 1. Juni 2017 – VII ZR 95/16 – Rn. 33; 14. März 2017 – II ZR 227/15 – Rn. 15). Er ist gleichermaßen anwendbar, wenn dem Recht des Gläubigers auf Einstellung seiner Leistungen der Anspruch auf Neuabschluss eines Vertrags entgegensteht (BGH 12. Februar 2009 – III ZR 179/08 – Rn. 31). In diesen Fällen ist die Rechtsausübung unzulässig, weil sie einer sachgerechten Wahrnehmung der eigenen Interessen nicht mehr entspricht (vgl. Erman/Böttcher 15. Aufl. § 242 BGB Rn. 111). Das Gegenrecht beruht auf den fehlenden legitimen Vorteilen aus dem Recht (vgl. MüKoBGB/Schubert 7. Aufl. BGB § 242 Rn. 440).
26
2. Im Streitfall steht der Einwendung der Unmöglichkeit die Dolo-agit-Replik des Beklagten entgegen, weil dieser von der Klägerin sogleich die ihr mögliche Zuweisung einer anderweitigen vertragsgemäßen Beschäftigung als Schadensersatz verlangen könnte.
27
a) Für den Fall des Ausschlusses der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 BGB bestimmen sich die Rechte des Gläubigers nach den §§ 280, 283 bis 285, 311a und 326 BGB (§ 275 Abs. 4 BGB).
28
aa) Nach § 283 Satz 1 BGB hat der Gläubiger, dem die Befugnis zur naturalen Verwirklichung seines Anspruchs gemäß § 275 BGB entzogen wurde, unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung. Danach ist der Schuldner grundsätzlich zum Ersatz des durch das Leistungshindernis entstehenden Schadens verpflichtet (§ 280 Abs. 1 Satz 1 BGB), es sei denn, die Pflichtverletzung kann ihm nicht vorgeworfen werden (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB). Dass es sich so verhält, ist vom Schuldner darzulegen und zu beweisen.
29
bb) Art und Umfang des Schadensersatzes bestimmen sich nach der auf den Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB uneingeschränkt anwendbaren Bestimmung des § 249 BGB (BGH 28. Februar 2018 – VIII ZR 157/17 – Rn. 26). Nach § 249 Abs. 1 BGB hat der zum Schadensersatz Verpflichtete den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Der Anspruch aus § 280 Abs. 1 iVm. § 249 Abs. 1 BGB ist grundsätzlich auf Naturalrestitution gerichtet. Damit kann der Geschädigte nicht die Herstellung des gleichen Zustands verlangen, wie er vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden hat. Es kommt vielmehr darauf an, den Geschädigten wirtschaftlich möglichst so zu stellen, wie er ohne das schadensstiftende Ereignis stünde (BGH 28. Oktober 2014 – VI ZR 15/14 – Rn. 25).
30
b) Danach kann der Beklagte von der Klägerin verlangen, ihm eine andere vertragsgemäße Beschäftigung zuzuweisen, sollte sich die Klägerin weiterhin auf die Unmöglichkeit der Zuweisung der titulierten Beschäftigung berufen.
31
aa) Die Klägerin, die sich auf den Ausschluss der Leistungspflicht nach § 275 Abs. 1 BGB beruft, hat nicht dargelegt, dass sie den Eintritt des Leistungshindernisses nicht zu vertreten hat (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB).
32
bb) Nach § 280 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 249 BGB hat sie den Beklagten daher wirtschaftlich möglichst so zu stellen, wie er ohne das schadensstiftende Ereignis stünde. Wirtschaftlich so gestellt, wie er ohne den Ausschluss der auf die titulierte Beschäftigung bezogenen Leistungspflicht stünde, würde der Beklagte in erster Linie durch die Zuweisung einer anderen vertragsgemäßen Beschäftigung (vgl. BAG 13. Juni 1990 – 5 AZR 350/89 – zu I 2 der Gründe).
33
cc) Die Klägerin kann den Beklagten vertragsgerecht beschäftigen.
34
(1) Sie ist durch den Titel nicht daran gehindert, dem Beklagten nach § 611 Abs. 1, § 315 Abs. 1 BGB iVm. § 106 GewO eine andere vertragsgemäße Beschäftigung zuzuweisen.
35
(a) Die arbeitsvertraglich häufig nur rahmenmäßig bestimmte Arbeitspflicht – dh. die dem Umfang nach bereits bestimmte Gegenleistung des Arbeitnehmers – hinsichtlich der Zeit, des Orts und der Art der zu erbringenden Arbeitsleistung konkretisiert der Arbeitgeber durch die Ausübung des Weisungsrechts. Damit schafft er regelmäßig erst die Voraussetzung dafür, dass der Arbeitnehmer seine Arbeit leisten und das Arbeitsverhältnis praktisch durchgeführt werden kann. Insofern ist die Ausübung des Weisungsrechts notwendige Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers. Der erforderliche Weisungsumfang hängt dabei von den Umständen des Einzelfalls ab (BAG 18. Oktober 2017 – 10 AZR 330/16 – Rn. 60 mwN).
36
(b) Eine vom Arbeitgeber hinsichtlich der Zeit, des Orts und der Art der Arbeitsleistung vorgenommene Weisung hat für den Arbeitnehmer Bestand, bis sie durch eine andere (wirksame) Weisung ersetzt wird. Der Arbeitnehmer kann (und muss) seine Arbeitsleistung so erbringen, wie sie durch die letzte wirksame Weisung konkretisiert wurde. Die Erteilung einer neuen Weisung durch den Arbeitgeber ist mit Wirkung für die Zukunft im Rahmen der arbeitsvertraglichen Bestimmungen jederzeit möglich. Nach § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB ist die Weisung nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht (BAG 18. Oktober 2017 – 10 AZR 330/16 – Rn. 71 mwN).
37
(c) Die Verurteilung der Klägerin zur Beschäftigung des Beklagten im titulierten Umfang ist Folge des Umstands, dass die Klägerin dem Beklagten zuletzt wirksam diese Tätigkeit zugewiesen und ihn davon zu Unrecht entbunden hatte. Der aus §§ 611, 613 iVm. § 242 BGB, Art. 1 und Art. 2 GG hergeleitete vertragliche Beschäftigungsanspruch des Beklagten hat sich allein durch die Titulierung nicht in der Weise konkretisiert, dass die Klägerin ihn nur noch durch die Zuweisung eines Arbeitsplatzes mit dem im Urteilstenor beschriebenen Inhalt erfüllen könnte (grundlegend für den Beschäftigungsanspruch BAG Großer Senat 27. Februar 1985 – GS 1/84 – zu C I 2 der Gründe, BAGE 48, 122). Tituliert ist nur ein Ausschnitt des durch Weisung der Klägerin zu konkretisierenden vertraglichen Beschäftigungsanspruchs. Der Titel verhindert keine spätere ersetzende Weisung durch Zuweisung eines anderen vertragsgerechten Arbeitsinhalts. Dafür, dass die Zuweisung einer anderen vertragsgemäßen Beschäftigung nicht infrage kommt, weil sich der Beschäftigungsanspruch des Beklagten aus anderen Gründen ausschließlich auf die im Titel beschriebene Tätigkeit bezöge, bestehen nach dem Vortrag der Parteien keine Anhaltspunkte.
38
(2) Der Senat kann offenlassen, ob das Dolo-agit-Gegenrecht dem Rechtsinhaber anders als der Großteil der Einwendungen aus § 242 BGB einredeweise entgegengehalten werden muss, um den rechtlichen Zusammenhang von Recht und Gegenrecht herzustellen.
39
(a) Das nimmt der Bundesgerichtshof zum Teil an (vgl. zB BGH 18. Oktober 2017 – I ZR 6/16 – Rn. 24; 10. Oktober 2017 – II ZR 353/15 – Rn. 18: Dolo-agit-Einrede). Mehrere Senate des Bundesarbeitsgerichts sind demgegenüber von einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Dolo-agit-Einwand ausgegangen (bspw. BAG 15. Dezember 2016 – 2 AZR 867/15 – Rn. 22, BAGE 157, 273; 20. Oktober 2016 – 6 AZR 715/15 – Rn. 74 mwN; siehe auch BGH 1. Juni 2017 – VII ZR 95/16 – Rn. 33; 14. März 2017 – II ZR 227/15 – Rn. 15).
40
(b) Die Frage nach der Rechtsnatur des Dolo-agit-Gegenrechts braucht hier nicht beantwortet zu werden.
41
(aa) Der Beklagte hat sich darauf berufen, die Klägerin könne ihn mit der Leitung eines dem „CMS Central Cluster“ zugeordneten, der früheren Subregion „GWE“ gleichwertigen Subclusters betrauen. Das genügt, um eine Einrede zu erheben (vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen [2015] § 242 Rn. 324).
42
(bb) Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass sie nicht über einen Arbeitsplatz verfügt, auf dem sie den Beklagten vertragsgemäß beschäftigen kann.
43
III. Über die vom Landesarbeitsgericht bejahte Frage, ob auch ein Leistungsverweigerungsrecht der Klägerin nach § 275 Abs. 2 und Abs. 3 BGB besteht, musste der Senat nicht befinden. Diese nur einredeweise durchzusetzenden Leistungsverweigerungsrechte könnten der Klage wegen des Dolo-agit-Gegenrechts (§ 242 BGB) ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen (zu dem Einredecharakter von § 275 Abs. 2 und Abs. 3 BGB BAG 14. Dezember 2017 – 2 AZR 86/17 – Rn. 43 f. mwN). Die Rechte des Beklagten bestimmten sich gleichermaßen nach den §§ 280, 283 bis 285, 311a und 326 BGB (§ 275 Abs. 4 BGB). Auch insoweit hat die Klägerin fehlendes Verschulden nicht dargelegt (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB).
44
C. Die Klägerin hat gemäß § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Gallner
Schlünder
Brune
Rudolph
Budde |
bag_17-19 | 09.04.2019 | 09.04.2019
17/19 - Informationsanspruch des Betriebsrats auf namentliche Nennung von schwangeren Arbeitnehmerinnen
Der Senat hat ohne Entscheidung in der Sache das Verfahren an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 9. April 2019 – 1 ABR 51/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Beschluss vom 27. September 2017 – 11 TaBV 36/17 | Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts München vom 27. September 2017 – 11 TaBV 36/17 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Umfasst ein allgemeiner Auskunftsanspruch des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG eine besondere Kategorie personenbezogener Daten (sensitive Daten im datenschutzrechtlichen Sinn), ist Anspruchsvoraussetzung, dass der Betriebsrat zur Wahrung der Interessen der von der Datenverarbeitung betroffenen Arbeitnehmer angemessene und spezifische Schutzmaßnahmen trifft.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über einen Auskunftsanspruch.
2
Die Arbeitgeberin ist ein Luft- und Raumfahrunternehmen, in deren Betrieb in M der antragstellende Betriebsrat gewählt ist. Diesen informierte die Arbeitgeberin in der Vergangenheit darüber, welche Arbeitnehmerin ihre Schwangerschaft angezeigt hat. Seit Mitte 2015 räumt sie der schwangeren Arbeitnehmerin die Möglichkeit ein, der Weitergabe dieser Information an den Betriebsrat fristgebunden zu widersprechen. Hierfür verwendet sie ein Musteranschreiben, das auszugsweise lautet:
„Sollten wir bis … von Ihnen keine Rückmeldung erhalten, werden wir den Betriebsrat über Ihre Schwangerschaft und die damit verbundenen Mutterschutzfristen informieren.“
3
Der Betriebsrat hat die Ansicht vertreten, die Arbeitgeberin habe ihm jede von einer Arbeitnehmerin angezeigte Schwangerschaft mitzuteilen. Er habe als Gremium darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmerin geltenden Gesetze, darunter das Mutterschutzgesetz (MuSchG), von der Arbeitgeberin durchgeführt würden. Seine Informations- und Kontrollrechte seien gegenüber dem Vertraulichkeitsinteresse einer widersprechenden Arbeitnehmerin vorrangig.
4
Der Betriebsrat hat beantragt,
der Arbeitgeberin aufzugeben, ihn über alle ihr bekannt werdenden Fälle der Schwangerschaft von Arbeitnehmerinnen unaufgefordert zu unterrichten, auch in den Fällen, in denen die betroffene Arbeitnehmerin einer Unterrichtung des Betriebsrats widersprochen hat.
5
Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Betriebsrat könne seiner Aufgabe, die Durchführung des MuSchG zu überwachen, auch mit einer anonymisierten, sich auf die Angabe des Arbeits- oder Funktionsbereichs der Schwangeren beschränkenden Auskunft nachkommen. Jedenfalls stünden das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Schwangeren und die Schutzwirkungen des Art. 6 GG dem Auskunftsanspruch des Betriebsrats entgegen, wenn die Arbeitnehmerin dessen Unterrichtung über ihre Schwangerschaft ausdrücklich ablehne.
6
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Arbeitgeberin die Abweisung des Antrags weiter.
7
B. Die zulässige Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann dem Begehren des Betriebsrats nicht entsprochen werden. Der Senat kann aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob der zulässige Antrag begründet oder unbegründet ist.
8
I. Der Antrag des Betriebsrats ist – in seiner gebotenen Auslegung – zulässig.
9
1. Er bezieht sich, anders als es sein Wortlaut nahelegt, ausschließlich auf die Fallgestaltung, in der eine Arbeitnehmerin der Information des Betriebsrats über ihre Schwangerschaft widerspricht. Äußert sich die Arbeitnehmerin nicht dahingehend, unterrichtet die Arbeitgeberin den Betriebsrat über die ihr angezeigte Schwangerschaft. Entsprechend streiten die Beteiligten nicht über diese Konstellation. Im Übrigen geht es dem Betriebsrat lediglich um die Nennung der Namen derjenigen Arbeitnehmerinnen, die ihre Schwangerschaften der Arbeitgeberin mitgeteilt haben, nicht um eine Unterrichtung über die weiteren Daten eine Anzeige iSd. § 15 MuSchG.
10
2. In diesem Verständnis begegnen dem Antrag keine Zulässigkeitsbedenken; insbesondere ist er hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
11
II. Das bisherige Vorbringen des Betriebsrats trägt den Anspruch auf die streitbefangene Auskunft nicht. Das hat das Landesarbeitsgericht verkannt.
12
1. Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu unterrichten. Hieraus folgt ein entsprechender Anspruch des Betriebsrats, soweit die begehrte Information zur Aufgabenwahrnehmung erforderlich ist. Anspruchsvoraussetzung ist damit zum einen, dass überhaupt eine Aufgabe des Betriebsrats gegeben ist, und zum anderen, dass im Einzelfall die begehrte Information zur Wahrnehmung der Aufgabe erforderlich ist. Dies hat der Betriebsrat darzulegen. Erst anhand dieser Angaben können der Arbeitgeber und im Streitfall das Arbeitsgericht prüfen, ob die Voraussetzungen einer Auskunftspflicht sowie eines damit korrespondierenden Auskunftsanspruchs vorliegen (vgl. BAG 24. April 2018 – 1 ABR 6/16 – Rn. 22; 7. Februar 2012 – 1 ABR 46/10 – Rn. 7, BAGE 140, 350). Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, ohne solche Angaben von Amts wegen zu prüfen, welche Aufgabe den Auskunftsanspruch stützen und aus welchen Gründen die verlangte Information für die Durchführung dieser Aufgabe benötigt werden könnte (vgl. BAG 20. März 2018 – 1 ABR 15/17 – Rn. 18).
13
2. Das gilt auch, wenn sich der Betriebsrat – wie vorliegend – zur Begründung seines Auskunftsanspruchs auf seine Aufgabe zur Überwachung der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze iSv. konkreten Ge- oder Verboten (vgl. BAG 20. März 2018 – 1 ABR 15/17 – Rn. 16 mwN) nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG stützt. Mit einem allgemein gehaltenen Verweis auf jegliche gesetzliche (Schutz-)Pflichten des Arbeitgebers gegenüber Arbeitnehmern und der Belegschaft genügt der Betriebsrat seiner Vortragslast regelmäßig nicht. Eine solche Antragsbegründung vernachlässigt, dass der Informationsanspruch als solcher – ebenso wie der darauf bezogene Anspruch auf Vorlage von Unterlagen (§ 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG) – strikt aufgabengebunden und in seiner Reichweite durch das Erforderlichkeitsprinzip bestimmt ist. Daher muss der Betriebsrat die konkrete normative (Arbeitsschutz-)Vorgabe, deren Durchführung er zu überwachen hat und die sein Auskunftsverlangen tragen soll, aufzeigen. Dies gilt insbesondere, wenn er sich auf ein Gesetz mit mehreren und unterschiedlichen (Schutz-)Bestimmungen bezieht. Kann der Schutz nur im Hinblick auf konkrete betriebliche Gegebenheiten greifen, sind diese gleichfalls anzugeben. Nur bei einem so gehaltenen Tatsachenvortrag und einer so aufgezeigten Aufgabe kann eine Prüfung erfolgen, ob die beanspruchte Auskunft für deren Wahrnehmung erforderlich ist.
14
3. Hiervon ausgehend ist die Begründung des Landesarbeitsgerichts für den von ihm angenommenen Unterrichtungsanspruch des Betriebsrats nicht frei von Rechtsfehlern.
15
a) Das Landesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, die streitbefangene Informationspflicht der Arbeitgeberin bestehe „insbesondere zur Überwachung der Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften, wie etwa des Mutterschutzgesetzes und der in diesem Zusammenhang ergangenen Verordnungen … auch im Zusammenhang mit den Aufgaben nach § 89 BetrVG“; der entsprechende Aufgabenbezug sei zwischen den Beteiligten „unstreitig“.
16
b) Diese – auf dem insoweit nicht weitergehenden und allgemein gehaltenen Vorbringen des Betriebsrats beruhende – Annahme verkennt, dass sich der Betriebsrat für die erstrebte Unterrichtung nicht mit einem bloßen Hinweis auf die Überwachung von nicht näher bezeichneten, zugunsten schwangerer Arbeitnehmerinnen geltenden mutterschutzrechtlichen Pflichten der Arbeitgeberin berufen kann (anders noch – allerdings vor Inkrafttreten des BDSG und zu § 54 BetrVG 1952 iVm. den damals geltenden mutterschutzrechtlichen Vorschriften – BAG 27. Februar 1968 – 1 ABR 6/67 – BAGE 20, 333).
17
aa) Die seinen Unterrichtungsanspruch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG begründende Überwachungsaufgabe iSv. § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG muss genau benannt worden sein. Der generelle Verweis auf den beschäftigungsspezifischen Schutznormkomplex für schwangere Frauen, der seinerseits eine Vielzahl von Pflichten für den Arbeitgeber begründet, ermöglicht keine Prüfung, welches zugunsten der Arbeitnehmerinnen konkret geltende Ge- oder Verbot der Betriebsrat hinsichtlich seiner Durchführung oder Einhaltung zu überwachen beabsichtigt und inwieweit er dafür die Unterrichtung über jede einzelne der Arbeitgeberin angezeigte Schwangerschaft unter Namensnennung der mitteilenden Arbeitnehmerin benötigt. Dies gilt umso mehr, weil bestimmte mutterschutzspezifische Pflichten – wie etwa das grundsätzliche Verbot der Nachtarbeit für schwangere Frauen – nur bei entsprechenden betrieblichen Gegebenheiten greifen (Nachtarbeit im Betrieb) und auch nur dann eine entsprechende Überwachungsaufgabe auszulösen vermögen.
18
bb) Der Bezug der verlangten Auskunft zu einer – hier nicht einmal konkret aufgezeigten – Aufgabe kann auch nicht als „unstreitig“ angesehen oder von den Beteiligten „unstreitig gestellt“ werden. Für die weitergehende Annahme des Beschwerdegerichts, die Aufgabe folge ebenso aus „dem Zusammenhang mit § 89 BetrVG“, fehlt es – außer der Nennung der betriebsverfassungsrechtlichen Vorschrift – gleichfalls an jeglichem Vorbringen des Betriebsrats, für was genau er sich einsetzen will (§ 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG) oder hinsichtlich welcher Fragen er sein Hinzuziehungsrecht (§ 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG) oder andere in der Vorschrift geregelten Aufgaben und Berechtigungen geltend macht.
19
III. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Das Verfahren ist nicht im Sinn einer Antragsabweisung zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
20
1. Bevor der Antrag mangels hinreichenden Vorbringens des Betriebsrats abgewiesen werden kann, ist ein Hinweis des Gerichts erforderlich, das ihm Gelegenheit gibt, diesen Antragsmangel zu beseitigen. Dies gebietet der Anspruch auf rechtliches Gehör der Beteiligten, nachdem beide Vorinstanzen das Begehren des Betriebsrats trotz dessen nicht hinreichender Darlegung einer Aufgabe und der darauf bezogenen Erforderlichkeit der beanspruchten Auskunft für die Wahrnehmung der Aufgabe als begründet angesehen haben und auch die Arbeitgeberin insoweit keine Beanstandungen erhoben hat. Das entsprechende Vorbringen vermag der Betriebsrat im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht nachzuholen, da es bezüglich ggf. vorliegender betrieblicher Spezifika neuen Tatsachenvortrag umfassen kann. Zudem muss sich das Vorbringen des Betriebsrats angesichts seines gegenwarts- und zukunftsbezogenen Auskunftsverlangens nunmehr an der gegenüber dem Zeitpunkt der letzten Anhörung in der Tatsacheninstanz (27. September 2017) geänderten Rechtslage – und damit ua. an den Bestimmungen des MuSchG in der seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1228) – ausrichten (vgl. zB BAG 30. September 2014 – 1 ABR 79/12 – Rn. 17). Hierzu ist ihm – ebenso wie der Arbeitgeberin zur Erwiderung – Gelegenheit zu geben.
21
2. Der Auskunftspflicht der Arbeitgeberin gegenüber dem Betriebsrat steht nicht der mit einem Widerspruch der schwangeren Arbeitgeberin geäußerte Wille, der Betriebsrat möge in Bezug auf ihre Person keine sie schützenden Aufgaben wahrnehmen, entgegen. Die Erfüllung der dem Betriebsrat von Gesetzes wegen zugewiesenen Aufgaben ist nicht von einer vorherigen Einwilligung der Arbeitnehmer abhängig und steht nach der betriebsverfassungsrechtlichen Konzeption nicht zu deren Disposition (vgl. auch BAG 7. Februar 2012 – 1 ABR 46/10 – Rn. 17, BAGE 140, 350).
22
3. Der Antrag ist nicht von vornherein in Ansehung der seit dem 25. Mai 2018 geltenden Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung – DS-GVO) und dem durch das Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU) vom 30. Juni 2017 geänderten Bundesdatenschutzgesetzes – BDSG – (BGBl. I S. 2097) unbegründet. Ob dem streitbefangenen Unterrichtungsverlangen datenschutzrechtliche Gründe entgegenstehen, ist offen. Das Landesarbeitsgericht wird dies zu prüfen und auch in diesem Zusammenhang dem Betriebsrat Gelegenheit zu ergänzendem Vorbringen – sowie der Arbeitgeberin zur Erwiderung – zu geben haben. Hierfür gelten folgende Maßgaben:
23
a) Die datenschutzrechtliche Zulässigkeit der streitbefangenen Auskunftserteilung folgt nicht ohne weiteres aus § 26 Abs. 6 BDSG. Zwar bleiben nach dieser Vorschrift im Hinblick auf die in § 26 BDSG geregelte Datenverarbeitung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses die Beteiligungsrechte der Interessenvertretungen der Beschäftigten „unberührt“. Dieser Norm, welche § 32 Abs. 3 BDSG in der bis zum 24. Mai 2018 geltenden Fassung (aF) im Sinn einer klarstellenden Funktion übernommen hat (BT-Drs. 18/11325 S. 97), kommt indes kein Regelungsgehalt als die Datenverarbeitung durch Arbeitgeber oder Betriebsrat eigenständig erlaubender Tatbestand zu. Mit ihr ist vielmehr ausgedrückt, dass sich der Beschäftigtendatenschutz nach § 26 BDSG und der im kollektiven Arbeitsrecht durch die Beteiligungsrechte der Interessenvertretungen der Beschäftigten flankierte Beschäftigtendatenschutz ergänzen (zu § 32 Abs. 3 BDSG aF vgl. Seifert in Simitis BDSG 8. Aufl. § 32 Rn. 144 ff.). Die kollektiven Beteiligungsrechte werden nicht eingeschränkt, aber auch nicht erweitert (Däubler in: Däubler/Wedde/Weichert/Sommer EU-Datenschutzgrundverordnung und BDSG-neu BDSG § 26 Rn. 272). Die Ausübung von Beteiligungsrechten ist damit einerseits datenschutzrechtlich nicht von vornherein unzulässig, weil sie mit der Verarbeitung personenbezogener Daten einhergeht; andererseits müssen in solch einem Fall aber auch von den Betriebsparteien die Anforderungen des Datenschutzes beachtet werden (Gräber/Nolden in Paal/Pauly Datenschutz-Grundverordnung Bundesdatenschutzgesetz 2. Aufl. § 26 BDSG Rn. 54).
24
b) Der Inhalt der streitbefangenen Auskunft ist auf die Verarbeitung einer besonderen Kategorie personenbezogener Daten im Beschäftigtenkontext gerichtet. Das ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 BDSG erlaubt.
25
aa) Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG ist – abweichend von Art. 9 Abs. 1 DS-GVO – die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses zulässig, wenn sie zur Ausübung von Rechten oder zur Erfüllung rechtlicher Pflichten aus dem Arbeitsrecht, dem Recht der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes erforderlich ist und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person an dem Ausschluss der Verarbeitung überwiegt. Entsprechend § 22 Abs. 2 BDSG sind hierfür angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Interessen der betroffenen Person vorzusehen (§ 26 Abs. 3 Satz 3 BDSG).
26
bb) Mit der Regelung des § 26 Abs. 3 BDSG hat der Gesetzgeber in zulässiger Weise von der Öffnungsklausel in Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO der gemäß Art. 288 AEUV in allen ihren Teilen verbindlichen und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat geltenden DS-GVO Gebrauch gemacht.
27
(1) Nach Art. 9 Abs. 1 DS-GVO ist die Verarbeitung der in der Vorschrift benannten besonderen Kategorien von personenbezogenen Daten grundsätzlich untersagt. Hierzu zählen Gesundheitsdaten. Gemäß der Legaldefinition des Art. 4 Nr. 15 DS-GVO handelt es sich dabei um Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen. Das Verarbeitungsverbot nach Art. 9 Abs. 1 DS-GVO gilt allerdings nicht, wenn einer der gesondert in Art. 9 Abs. 2 DS-GVO aufgeführten Erlaubnistatbestände gegeben ist. Gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO kann die Verarbeitung sensitiver Daten nach dem Recht der Mitgliedstaaten ua. dann zulässig sein, wenn sie erforderlich ist, damit der Verantwortliche die ihm aus dem Arbeitsrecht erwachsenden Rechte ausüben und seinen diesbezüglichen Pflichten nachkommen kann, wobei das nationale Recht geeignete Garantien für die Grundrechte und die Interessen der betroffenen Person vorsehen muss. Damit gewährt die Norm den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, unter den in ihr genannten Voraussetzungen die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten zu erlauben. Mit § 26 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 BDSG hat der Gesetzgeber hiervon Gebrauch gemacht (vgl. BT-Drs. 18/11325 S. 98 f.).
28
(2) Die Regelung entspricht den Vorgaben der Öffnungsklausel des Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO (ebenso Schaffland/Holthaus in DS-GVO/BDSG § 26 BDSG Rn. 118; Schiff in: Ehmann/Selmayr Datenschutz-Grundverordnung 2. Aufl. Art. 9 Rn. 79). Der Ausnahmetatbestand des Art. 9 Abs. 2 Buchst. b Halbs. 1 DS-GVO ist in Satz 1 von § 26 Abs. 3 BDSG inhaltsgleich übernommen (Seifert in Simitis/Hornung/Spiecker Datenschutzrecht Art. 88 DSGVO Rn. 221). Das widerspricht nicht dem unionsrechtlichen Umsetzungs- oder Normwiederholungsverbot (vgl. dazu zB Selmayr/Ehmann in Ehmann/Selmayr Datenschutz-Grundverordnung 2. Aufl. Einführung Rn. 80 ff.), was angesichts der im Erwägungsgrund (8) zur DS-GVO ausgedrückten Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, unter näheren Voraussetzungen Teile der DS-GVO in ihr nationales Recht aufzunehmen, auf der Hand liegt. Zudem sieht das nationale Recht für die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten geeignete Garantien für die Grundrechte und die Interessen der betroffenen Personen vor. Die Zulässigkeit der Verarbeitung derartiger Daten erfordert nach § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG ausdrücklich, dass kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person an dem Ausschluss der Verarbeitung überwiegt. Die entsprechende Geltungsanordnung von § 22 Abs. 2 BDSG nach § 26 Abs. 3 Satz 3 BDSG stellt den Schutz der Grundrechte und die Wahrung der Interessen der Betroffenen sicher. Danach sind bei der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Interessen der betroffenen Person vorzusehen.
29
(3) Zur Frage der generellen Vereinbarkeit von § 26 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 BDSG mit den Anforderungen der Öffnungsklausel des Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO ist ein Vorabentscheidungsverfahren durch den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV nicht veranlasst. Dem Verständnis des Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO als Öffnungsklausel begegnen ebenso wenig Bedenken wie der Annahme, dass der deutsche Gesetzgeber bei ihrer Umsetzung mit § 26 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 BDSG die unionsrechtlichen Vorgaben beachtet hat. Die Erwägungen des Senats hierzu ergeben sich ohne Weiteres aus dem Wortlaut der zitierten Normen der DS-GVO und des BDSG; die richtige Anwendung des Unionsrechts ist mithin derart offenkundig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (acte clair, vgl. dazu zB EuGH 15. September 2005 – C-495/03 – [Intermodal Transports] Rn. 33).
30
cc) Der – unter Rückgriff auf die in der DS-GVO sowie im BDSG verwandten Begriffe zu bestimmende – Anwendungsbereich des § 26 Abs. 3 BDSG ist hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Auskunft eröffnet.
31
(1) Die vom Betriebsrat erstrebte Unterrichtung unterfällt dem Geltungsbereich der DS-GVO nach deren Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 sowie dem des BDSG nach dessen § 1 Abs. 1 Satz 2.
32
(a) Die Mitteilung der Schwangerschaft unter Namensnennung einer Arbeitnehmerin an den Betriebsrat durch die Arbeitgeberin stellt eine Verarbeitung sich auf eine bestimmte natürliche Person beziehender und damit personenbezogener Daten nach Art. 4 Nr. 1 und Nr. 2 DS-GVO dar. Der Begriff der Verarbeitung bezeichnet nach Art. 4 Nr. 2 DS-GVO ua. jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten. Hierzu zählt die Offenlegung durch Übermittlung, also die gezielte Weitergabe von Daten an einen Empfänger, der – was seinerseits aus Art. 4 Nr. 9 DS-GVO folgt – kein Dritter sein muss (Roßnagel in Simitis/Hornung/Spieker Datenschutzrecht Art. 4 Nr. 2 DSGVO Rn. 26 mwN; vgl. auch Herbst in Kühling/Buchner DS-GVO/BDSG 2. Aufl. Art. 4 Nr. 2 DS-GVO Rn. 29; ebenso Schaffland/Wiltfang DS-GVO/BDSG Art. 4 DS-GVO Rn. 85; wohl aA Weichert in Däubler/Wedde/Weichert/Sommer EU-Datenschutz-Grundverordnung und BDSG-neu Art. 4 DSGVO Rn. 47 und Rn. 94). Damit ist es für die Annahme einer Datenverarbeitung – anders als bei § 3 Abs. 4 Nr. 3 BDSG in seiner vom 28. August 2002 bis zum 24. Mai 2018 geltenden Fassung (aF), wonach es sich nur bei der Bekanntgabe von Daten gegenüber Dritten um eine Datenübermittlung gehandelt hat – nicht ausschlaggebend, ob der Betriebsrat Dritter iSv. Art. 4 Nr. 10 DS-GVO ist.
33
(b) Angesichts des von der Arbeitgeberin durchgeführten Verfahrens nach der Anzeige der Schwangerschaft durch eine Arbeitnehmerin (Musterbrieferstellung, Datenweitergabe) handelt es sich um eine nicht automatisierte Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen (Art. 2 Abs. 1 DS-GVO, § 1 Abs. 1 Satz 2 BDSG). Diese erfolgt durch die Arbeitgeberin und damit – vorliegend – durch eine nichtöffentliche Stelle iSv. § 1 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 2 Abs. 4 Satz 1 BDSG.
34
(2) Die Erfüllung der vom Betriebsrat begehrten Auskunft stellt eine betriebsinterne Datenverarbeitung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses dar. Die verlangte Information bezieht sich auf die Daten von Arbeitnehmerinnen und damit Beschäftigten iSv. § 26 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 BDSG. Da der Betriebsrat geltend macht, diese für die Wahrnehmung einer gesetzlichen Aufgabe zu benötigen, liegt mit der Weitergabe der Namen der ihre Schwangerschaft iSv. § 15 Abs. 1 Satz 1 MuSchG mitteilenden Arbeitnehmerinnen eine Datenverarbeitung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses vor. Eine solche ist – wie § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG zeigt – auch gegeben, wenn die Verarbeitung dazu dient, sich aus dem Gesetz ergebende Pflichten der Interessenvertretung der Beschäftigten zu erfüllen.
35
(3) Das Verlangen des Betriebsrats betrifft die Verarbeitung von Gesundheitsdaten als eine der besonderen Kategorien personenbezogener Daten iSv. Art. 9 Abs. 1 DS-GVO.
36
(a) Nach Art. 4 Nr. 15 DS-GVO sind Gesundheitsdaten diejenigen Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen.
37
(b) Das meint auch positive oder neutrale Informationen zur körperlichen Verfasstheit. Nach der Wertung in Erwägungsgrund (35) zur DS-GVO gilt ein weiter Gesundheitsdatenbegriff, der beispielsweise Informationen, die von der Prüfung einer körpereigenen Substanz oder aus biologischen Proben abgeleitet wurden, ebenso einschließt wie Informationen über den physiologischen oder biomedizinischen Zustand einer Person unabhängig von der Herkunft der Daten (vgl. zu einem weiten Verständnis des bereits in Art. 8 Abs. 1 der aufgehobenen Richtlinie 95/46/EG verwandten Begriffs „Daten über die Gesundheit“ auch EuGH 6. November 2003 – C-101/01 – [Lindqvist] Rn. 50). Entsprechend ist die Schwangerschaft ein Gesundheitsdatum im datenschutzrechtlichen Sinn (ebenso Petri in Simitis/Hornung/Spieker Datenschutzrecht Art. 4 Nr. 15 DSGVO Rn. 3; Kircher Der Schutz personenbezogener Gesundheitsdaten im Gesundheitswesen S. 27).
38
dd) Hat der Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG einen Anspruch darauf, dass ihm die Arbeitgeberin nach einer Anzeige iSd. § 15 Abs. 1 MuSchG den Namen der schwangeren Arbeitnehmerin mitteilt, ist die damit verbundene Datenverarbeitung iSv. § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG zur Erfüllung einer rechtlichen Pflicht aus dem Arbeitsrecht erforderlich. Für den Fall des Vorliegens von Schutzmaßnahmen iSv. § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG besteht auch kein Grund zu der Annahme, dass schutzwürdige Interessen der betroffenen Arbeitnehmerinnen an dem Ausschluss der Verarbeitung überwiegt.
39
(1) Mit dem Kriterium der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung nach § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG ist – ebenso wie bei § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG – sichergestellt, dass ein an sich legitimes Datenverarbeitungsziel nicht zum Anlass genommen wird, überschießend personenbezogene (sensitive) Daten zu verarbeiten (Petri in Simitis/Hornung/Spiecker Datenschutzrecht Art. 9 DSGVO Rn. 42). Bei einer auf Beschäftigtendaten bezogenen datenverarbeitenden Maßnahme des Arbeitgebers bedingt dies entsprechend der Bekundung des Gesetzgebers – welcher hierbei an die bis 24. Mai 2018 geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen und die hierzu ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung anknüpft (vgl. BT-Drs. 18/11325 S. 97) – eine Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen im Wege praktischer Konkordanz sowie eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (ausf. dazu – unter Hinzuziehung der Gesetzeshistorie und -begründung – zB Stamer/Kuhnke in Plath BDSG/DSGVO 3. Aufl. § 26 BDSG Rn. 16 ff.). Diesen Anforderungen ist genügt, wenn die Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung eines sich aus dem Gesetz ergebenden Rechts der Interessenvertretung der Beschäftigten – und damit einer „aus dem Arbeitsrecht“ iSv. § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG resultierenden Pflicht des Arbeitgebers – erforderlich ist. Das hat der Gesetzgeber durch den entsprechenden Erlaubnistatbestand in § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG klargestellt (vgl. BT-Drs. 18/11325 S. 97).
40
(2) Soweit § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG bei der Verarbeitung sensitiver Daten – ebenso wie § 28 Abs. 6 BDSG aF (dazu BAG 7. Februar 2012 – 1 ABR 46/10 – Rn. 40 ff., BAGE 140, 350) – darüber hinaus verlangt, dass kein Grund zu der Annahme des Überwiegens typischer schutzwürdiger Interessen von Betroffenen gegenüber den Interessen an der Verarbeitung bestehen darf (BT-Drs. 18/11325 S. 98), ist diesem Erfordernis im Zusammenhang mit der Erfüllung einer sich aus dem Gesetz ergebenden Aufgabe des Betriebsrats durch die von § 26 Abs. 3 Satz 3 BDSG angeordnete entsprechende Anwendung von § 22 Abs. 2 BDSG Rechnung getragen. Danach sind zur Wahrung der Interessen Betroffener angemessene und spezifische Maßnahmen vorzusehen. Sind solche vorhanden, ist davon auszugehen, dass schutzwürdige Interessen der Beschäftigten der Datenverarbeitung nicht entgegenstehen. Fehlt es hieran, ist die Verarbeitung sensitiver Daten unzulässig.
41
(3) Steht dem Betriebsrat ein Anspruch auf die streitbefangene Information nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu, ist die von § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG verlangte Erforderlichkeit der Datenverarbeitung gegeben.
42
(a) Dies ergibt sich – ebenso wie bei § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG – aus der strikten Bindung der Unterrichtungsverpflichtung des Arbeitgebers an eine dem Betriebsrat obliegende Aufgabe, für dessen Wahrnehmung dieser das verlangte Datum benötigt. Der bloße Bezug der vom Betriebsrat verlangten Information zu einer von ihm wahrzunehmenden Aufgabe reicht nicht aus, um den betriebsverfassungsrechtlichen Auskunftsanspruch hinsichtlich personenbezogener oder gar sensitiver Daten zu begründen (dies vernachlässigend und daher in der Konsequenz eine Diskrepanz zwischen betriebsverfassungsrechtlicher und datenschutzrechtlicher Erforderlichkeit annehmend vgl. Stamer/Kuhnke in Plath BDSG/DSGVO 3. Aufl. § 26 BDSG Rn. 156; ähnlich Wybitul NZA 2017, 413, 416). Es bedarf vielmehr der Feststellung, dass die verlangte Information – vorliegend: das sensitive Datum – unerlässlich ist, um sich der Aufgabe überhaupt annehmen zu können. Vermag der Betriebsrat dies nicht aufzuzeigen, scheiden sein Auskunftsanspruch und die damit verbundene Datenverarbeitung bereits aus diesem Grund aus. Diese Kopplung des Inhalts und Umfangs vom Betriebsrat verlangter Daten an den Aufgabenbezug bei einem auf den allgemeinen Unterrichtungsanspruch des § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG gestützten Anspruch (vgl. anschaulich dazu BAG 12. März 2019 – 1 ABR 48/17 – Rn. 22 ff.) rechtfertigt die Annahme, dass im Fall einer auf personenbezogene Daten gerichteten Auskunftsverpflichtung des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat die darin liegende Datenverarbeitung regelmäßig auch datenschutzrechtlich erforderlich ist (zur datenschutzkonformen Auslegung des betriebsverfassungsrechtlichen Erforderlichkeitsbegriffs beim allgemeinen Auskunftsanspruch vgl. bei Gola BB 2017, 1462, 1465; Lelley/Bruck/Yildiz BB 2018, 2164, 2172). Das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Betriebsrat zur Begründung des Auskunftsbegehrens auf die Wahrnehmung einer gesetzlichen Aufgabe beruft.
43
(b) Dem steht nicht der Umstand entgegen, dass der allgemeine Auskunftsanspruch des § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG gremienbezogen ausgestaltet ist. Eine solche Art und Weise der Datenverarbeitung ist grundsätzlich von der Tatbestandsvoraussetzung der Erforderlichkeit des § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG (Erfüllung einer Pflicht „aus dem Arbeitsrecht“) erfasst.
44
(c) Die Annahme, dass mit dem auf ein (sensitives) personenbezogenes Datum gerichteten Unterrichtungsverlangen des Betriebsrats bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG regelmäßig eine datenschutzrechtlich erforderliche Datenverarbeitung verbunden ist, verbietet sich nicht aus unionsrechtlichen Gründen. Ausweislich der Erwägungsgründe (51) und (52) zur DS-GVO, auf deren Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO die nationale Erlaubnisnorm beruht, unterliegt die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, zwar einerseits einem besonderen Schutz; andererseits sollen aber Ausnahmen vom Verbot der Verarbeitung dieser besonderen Kategorie von personenbezogenen Daten auch erlaubt sein, wenn das – vorbehaltlich angemessener Schutzgarantien – „insbesondere für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten auf dem Gebiet des Arbeitsrechts“ gerechtfertigt ist.
45
(d) Vorstehendes gilt bei dem konkret streitbefangenen Datum des Namens einer Arbeitnehmerin, welche der Arbeitgeberin ihre Schwangerschaft mitgeteilt hat, auch unter Berücksichtigung des aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts der schwangeren Beschäftigten und ihres in Art. 6 Abs. 4 GG verankerten Schutz- und Fürsorgeanspruchs. Eine Arbeitnehmerin ist gegenüber dem Arbeitgeber nicht verpflichtet, das Bestehen ihrer Schwangerschaft mitzuteilen; nach § 15 Abs. 1 Satz 1 MuSchG „soll“ eine entsprechende Information erfolgen. Die gesetzliche Fassung als Sollvorschrift beruht auf der Achtung des Persönlichkeitsrechts der Frau und ihren grundrechtlichen Gewährleistungen. Obwohl die Gesundheit von Mutter und Kind eine frühzeitige Unterrichtung des Arbeitgebers nahelegt, sind Arbeitnehmerinnen damit nicht zur Offenbarung einer Schwangerschaft gezwungen. Hiervon ist die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift nach § 5 Abs. 1 Satz 1 MuSchG aF ausgegangen (BAG 18. Januar 2000 – 9 AZR 932/98 – BAGE 93, 179; 13. Juni 1996 – 2 AZR 736/95 – BAGE 83, 195), dessen Regelungsgehalt mit § 15 Abs. 1 Satz 1 MuSchG unverändert geblieben und lediglich redaktionell überarbeitet worden ist (vgl. BT-Drs. 18/8963 S. 86 f.). Wird die Schwangerschaft iSv. § 15 Abs. 1 Satz 1 MuSchG mitgeteilt, beeinflusst dies die Rechtsbeziehung zum Arbeitgeber. Er hat nunmehr diverse mutterschutzrechtliche Ge- und Verbote zu beachten, deren Durchführungsüberwachung wiederum nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG kraft Gesetzes dem Betriebsrat obliegt. Kann dieser seine gesetzlich geregelte Überwachungsaufgabe nur wahrnehmen, wenn er weiß, welche Arbeitnehmerin ihre Schwangerschaft angezeigt hat, ist die Annahme schutzwürdiger Interessen der von der Datenverarbeitung Betroffenen an einem Verarbeitungsausschluss nicht veranlasst.
46
(4) Im Hinblick auf das Vorliegen von Maßnahmen nach § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG als aus datenschutzrechtlichen Gründen weiterer Zulässigkeitsvoraussetzung für die erstrebte, ein sensitives Datum umfassende Auskunft bedürfte es hingegen noch weiteren Vorbringens des Betriebsrats und einer hierauf gerichteten Würdigung des Landesarbeitsgerichts.
47
(a) Bei der Weitergabe sensitiver Daten an den Betriebsrat hat der Arbeitgeber die Beachtung des in § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG geregelten Gebots angemessener und spezifischer Schutzmaßnahmen nicht in der Hand. Ihm sind hierauf bezogene Vorgaben an den Betriebsrat aufgrund dessen Unabhängigkeit als Strukturprinzip der Betriebsverfassung verwehrt (vgl. ausf. BAG 11. November 1997 – 1 ABR 21/97 – zu B III 2 c aa der Gründe, BAGE 87, 64). Daher hat der Betriebsrat bei der Geltendmachung eines auf sensitive Daten gerichteten Auskunftsbegehrens das Vorhalten von Maßnahmen darzulegen, welche die berechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmer – vorliegend der ihre Schwangerschaft mitteilenden Arbeitnehmerinnen – wahren. Den Betriebsrat trifft insoweit, unabhängig davon, ob er iSv. Art. 4 Nr. 7 DS-GVO Teil der verantwortlichen Stelle (so zB Bonanni/Niklas ArbRB 2018, 371; Gola/Pötters DSGVO Art. 88 Rn. 38; Gola/Gola DSGVO Art. 4 Rn. 56) oder gar Verantwortlicher (so zB Kurzböck/Weinbeck BB 2018, 1652, 1655; Kleinebrink DB 2018, 2566; Wybitul NZA 2017, 413 f.) ist, eine spezifische Schutzpflicht.
48
(b) Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 22 Abs. 2 BDSG die möglichen Maßnahmen nur beispielhaft („insbesondere“) aufzählt. Deshalb muss es sich bei den vom Betriebsrat zu treffenden und bei einem auf sensitive Daten gerichteten Auskunftsverlangen darzulegenden Schutzvorkehrungen nicht um die ausdrücklich in § 22 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 10 BDSG genannten Maßnahmen handeln, zumal bei einzelnen dieser Maßnahmen zweifelhaft ist, ob sie der Betriebsrat überhaupt ergreifen könnte. Es ist aber zu gewährleisten, dass er bei einer Verarbeitung sensitiver Daten – hier: des Namens schwangerer Arbeitnehmerinnen – das Vertraulichkeitsinteresse der Betroffenen strikt achtet und Vorkehrungen trifft, die bei wertender Betrachtung den in § 22 Abs. 2 Satz 2 BDSG aufgelisteten Kriterien entsprechen. Hierzu können Maßnahmen zur Datensicherheit wie das zuverlässige Sicherstellen des Verschlusses der Daten, die Gewähr begrenzter Zugriffsmöglichkeiten oder deren Beschränkung auf einzelne Betriebsratsmitglieder sowie die Datenlöschung nach Beendigung der Überwachungsaufgabe gehören. Ein Fehlen solcher Schutzmaßnahmen oder ihre Unzulänglichkeit – was der Würdigung des Tatsachengerichts unterliegt – schließt den streitbefangenen Anspruch aus.
49
c) Der bloße Umstand, dass die betroffenen Arbeitnehmerinnen der Information des Betriebsrats über ihre Schwangerschaft widersprochen haben, steht der verlangten Datenübermittlung hingegen nicht entgegen. Zwar gewährt Art. 18 Abs. 1 Buchst. d DS-GVO den von einer Datenverarbeitung betroffenen Personen unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, die Einschränkung der Verarbeitung zu verlangen, wenn sie hiergegen nach Art. 21 Abs. 1 DS-GVO Widerspruch eingelegt haben. Die Voraussetzungen des Widerspruchsrechts nach Art. 21 Abs. 1 DS-GVO sind vorliegend aber schon deshalb nicht erfüllt, weil die Offenlegung der Daten gegenüber dem Betriebsrat nicht auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e oder f DS-GVO, sondern von Art. 9 Abs. 2 Buchst. b DS-GVO iVm. § 26 Abs. 3 BDSG erfolgen würde.
50
4. Sollten für die vom Betriebsrat begehrte Auskunft die Voraussetzungen des allgemeinen Unterrichtungsanspruchs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG erfüllt und – im Fall ausreichender Schutzmaßnahmen des Betriebsrats iSv. § 26 Abs. 3 Satz 3 iVm. § 22 Abs. 2 BDSG – damit die in der Auskunftserteilung liegende Datenverarbeitung nach § 26 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 BDSG zulässig sein, stünden dem Begehren entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin keine verfassungsrechtlichen Gründe entgegen.
51
a) Ist eine Datenverarbeitung nach den Vorschriften des BDSG (iVm. der DS-GVO) zulässig, ist das Recht des von der Datenverarbeitung betroffenen Arbeitnehmers auf informationelle Selbstbestimmung gewahrt (vgl. – zum BDSG aF – BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 17, BAGE 159, 380). Dem durch Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer, das die Befugnis jedes Einzelnen umfasst, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten selbst zu bestimmen (Recht auf informationelle Selbstbestimmung; BVerfG 11. März 2008 – 1 BvR 2074/05 ua. – Rn. 67, BVerfGE 120, 378) – wobei sich der Begriff der persönlichen Daten mit dem datenschutzrechtlichen Begriff personenbezogener Daten deckt (vgl. BVerfG 27. Juni 2018 – 2 BvR 1562/17 – Rn. 44 mwN) – ist im Rahmen der datenschutzrechtlichen Erwägungen Rechnung getragen.
52
b) Gleiches gilt vorliegend für Art. 6 Abs. 4 GG als Ausdruck der für den gesamten Bereich des privaten und des öffentlichen Rechts verbindlichen verfassungsrechtlichen Wertentscheidung (dazu BVerfG 25. Januar 1972 – 1 BvL 3/70 – BVerfGE 32, 273), dass jede, insbesondere jede werdende, Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft hat (BVerfG 24. Mai 2005 – 1 BvR 906/04 – zu II 1 a der Gründe). Darin liegt ein besonderer Belang der von der Datenverarbeitung betroffenen schwangeren Frauen, der jedoch die gesetzliche Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG sowie die damit verbundene zulässige Datenverarbeitung nicht auszuschließen vermag. Insoweit gilt nichts Anderes als bei der gesetzlichen Pflicht des Arbeitgebers, unverzüglich die Aufsichtsbehörde zu benachrichtigen, wenn eine Frau ihm mitgeteilt hat, dass sie schwanger ist (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a MuSchG).
53
IV. Auf die im Verfahren und im angefochtenen Beschluss problematisierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. August 1990 (- 6 P 30.87 -) zu einem personalvertretungsrechtlichen Auskunftsanspruch und auf die insoweit geltend gemachte Abweichung der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu Unterrichtungsverlangen des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 Satz 1 iVm. Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, wonach es keines besonderen Anlasses für den auf eine Überwachungsaufgabe gestützten Auskunftsanspruch des Betriebsrats bedarf, kommt es nicht an. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein zur Wahrnehmung allgemeiner Überwachungsaufgaben geltend gemachter Informationsanspruch des Personalrats nicht notwendig daran gebunden ist, dass sich die Personalvertretung gegenüber dem Dienststellenleiter auf einen besonderen Anlass – wie etwa einen bekannt gewordenen oder zu besorgenden Rechtsverstoß der Dienststelle – berufen kann (vgl. zu § 69 Abs. 2 Satz 1 LPersVG RP BVerwG 19. Dezember 2018 – 5 P 6.17 – Rn. 39 ff.).
Schmidt
Ahrendt
K. Schmidt
Olaf Kunz
Rigo Züfle |
bag_17-20 | 25.06.2020 | 25.06.2020
17/20 - Auskunftsanspruch nach dem Entgelttransparenzgesetz
Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) haben „Beschäftigte“ zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne dieses Gesetzes einen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 bis 16. Nach § 5 Abs. 2 EntgeltTranspG sind ua. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beschäftigte im Sinne dieses Gesetzes. Die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sind nicht eng iSd. Arbeitnehmerbegriffs des innerstaatlichen Rechts, sondern unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG weit auszulegen. Danach können im Einzelfall auch arbeitnehmerähnliche Personen iSd. innerstaatlichen Rechts Arbeitnehmer iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgeltTranspG sein.
Die Klägerin ist für die Beklagte – eine Fernsehanstalt des öffentlichen Rechts – seit 2007 als Redakteurin tätig. Zunächst kam sie als online-Redakteurin auf der Grundlage befristeter Verträge zum Einsatz. Seit Juli 2011 befindet sie sich in einem unbefristeten Vertragsverhältnis, nach dem sie „bis auf weiteres“ als freie Mitarbeiterin gemäß einem bei der Beklagten geltenden Tarifvertrag beschäftigt wird und eine Tätigkeit als „Redakteurin mit besonderer Verantwortung“ ausübt. Aufgrund rechtskräftiger Entscheidung des Landesarbeitsgerichts steht fest, dass die Klägerin nicht Arbeitnehmerin iSd. innerstaatlichen Rechts ist. Mit Schreiben vom 1. August 2018 begehrte die Klägerin vom Personalrat Auskunft nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG. Dieser antwortete nach Rücksprache mit der Personalabteilung der Beklagten, dass die Klägerin als freie Mitarbeiterin nicht unter das Entgelttransparenzgesetz falle und deshalb keinen Auskunftsanspruch habe.
Das Landesarbeitsgericht hat die gegen die Beklagte gerichteten Klageanträge auf Erteilung von Auskunft über 1. die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung und 2. über das Vergleichsentgelt abgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, dass die Klägerin nicht Arbeitnehmerin iSd. innerstaatlichen Rechts und als arbeitnehmerähnliche Person nicht Beschäftigte iSd. § 5 Abs. 2 EntgTranspG sei, weshalb sie keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Auskünfte habe.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Klägerin kann von der Beklagten nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG Auskunft über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung verlangen, da sie als freie Mitarbeiterin der Beklagten „Arbeitnehmerin“ iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG und damit Beschäftigte iSv. § 10 Abs. 1 Satz 1 EntgeltTranspG ist. Die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sind unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG weit auszulegen, da es andernfalls an einer Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie zum Verbot der Diskriminierung beim Entgelt und zur entgeltbezogenen Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer bei gleicher oder als gleichwertig anerkannter Arbeit im deutschen Recht fehlen würde. Eine – zwingend erforderliche – ausreichende Umsetzung ist bislang weder im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) noch ansonsten erfolgt. Erst das Entgelttransparenzgesetz enthält Bestimmungen, die auf die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG zur Entgeltgleichheit gerichtet sind. Ob die Klägerin gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Erteilung von Auskunft über das Vergleichsentgelt hat, konnte der Senat aufgrund der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht entscheiden. Insoweit hat der Senat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Juni 2020 – 8 AZR 145/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Februar 2019 – 16 Sa 983/18 – | Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. Februar 2019 – 16 Sa 983/18 – im Kostenpunkt vollständig und im Übrigen insoweit aufgehoben, als das Landesarbeitsgericht über die Klageanträge zu VI. (Auskunftsanspruch nach § 10 Entgelttransparenzgesetz) entschieden hat.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Auskunft zu erteilen zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung für die Festlegung des Entgelts der Klägerin sowie für die Festlegung des Entgelts der nach dem Honorarband IV Redaktionelle Tätigkeit iSv. § 2 des Tarifvertrags 2. Kreis vergüteten männlichen Redakteure der Beklagten in der Redaktion F und den sonstigen Redaktionen der Dienststelle B der Beklagten.
Im Übrigen wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 12 Abs. 1 EntgTranspG haben Beschäftigte nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne dieses Gesetzes einen individuellen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 bis 16 EntgTranspG. Beschäftigte iSd. EntgTranspG sind nach der in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG getroffenen Bestimmung „Arbeitnehmerinnen“ und „Arbeitnehmer“.
2. Die Begriffe „Arbeitnehmerinnen“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sind nicht nach rein nationalem Rechtsverständnis, sondern unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG auszulegen. Danach können im Einzelfall auch arbeitnehmerähnliche Personen iSd. innerstaatlichen Rechts Beschäftigte iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sein.
3. Die in den §§ 14 und 15 EntgTranspG zum Verfahren der Auskunftserteilung getroffenen Bestimmungen enthalten Vorgaben dazu, an wen die Beschäftigten sich mit ihrem Auskunftsverlangen wenden sollen und wer Auskunft erteilt. Die Auslegung der §§ 14 und 15 EntgTranspG ergibt, dass die Beschäftigten sich mit ihrem Auskunftsverlangen sowohl an den Arbeitgeber als auch – bei Bestehen eines Betriebs- bzw. Personalrats – an den Betriebs- bzw. Personalrat wenden können. Eine den Vorgaben der §§ 14 und 15 EntgTranspG nicht entsprechende Adressierung des Auskunftsverlangens durch die Beschäftigten stellt die Ordnungsgemäßheit ihres Verlangens nicht in Frage. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber die Beschäftigten darüber informiert hat, an wen diese sich mit ihrem Auskunftsverlangen wenden sollen und wer es beantworten wird.
4. Für die Klage auf Auskunftserteilung nach § 10 EntgTranspG ist der Arbeitgeber als Schuldner des Entgelts passivlegitimiert.
5. Nach § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG können die Beschäftigten Auskunft zu dem durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelt nach § 5 Abs. 1 EntgTranspG und zu bis zu zwei einzelnen Entgeltbestandteilen verlangen. Der Begriff „einzelne Entgeltbestandteile“ in § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG ist dahin auszulegen, dass sowohl gezielt nach bestimmten Entgeltbestandteilen gefragt werden kann, bei denen eine Ungleichbehandlung vermutet wird, als auch nach vergleichbaren Entgeltbestandteilen, die eine Gruppe bilden.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch darüber, ob die Beklagte der Klägerin zur Auskunft nach dem Entgelttransparenzgesetz (im Folgenden EntgTranspG) verpflichtet ist.
2
Die Beklagte ist eine gemeinnützige Fernsehanstalt des öffentlichen Rechts mit Sitz in M. Für ihre Programmtätigkeit unterhält sie mehrere Standorte, unter anderem in M und in B. Sie beschäftigt sowohl fest angestellte als auch freie Mitarbeitende. Für die Gruppe der Festangestellten vereinbarte die Beklagte mit der Gewerkschaft ver.di, dem Deutschen Journalistenverband e.V. und der Vereinigung der Rundfunk-, Film- und Fernsehschaffenden einen Manteltarifvertrag sowie einen Tarifvertrag über die Vergütungsordnung. Auf die Vertragsverhältnisse der freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommt bei der Beklagten das sog. „Drei-Kreis-Modell“ zur Anwendung. Dazu heißt es in der Präambel des zwischen der Gewerkschaft ver.di, dem Deutschen Journalistenverband e.V. und der Beklagten abgeschlossenen Tarifvertrags zur Regelung der freien Mitarbeit im 2. Kreis vom 28. September 2010 (im Folgenden TV 2. Kreis) ua.:
„Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verstetigung der freien Mitarbeit im Z in den vergangenen Jahren haben sich die Tarifpartner im Rahmen der Eckpunktevereinbarung vom 11.05.2009 zur Umsetzung erweiterter Bestandsschutzsicherungen für freie Mitarbeiter beim Z darauf geeinigt, die freien Beschäftigungsformen für freie Mitarbeiter beim Z zukunftsweisend und nachhaltig zu sichern. Dies sowohl im Blick auf eine ergänzende soziale Absicherung und einen verbesserten Beendigungsschutz langjährig kontinuierlich beschäftigter freier Mitarbeiter/-innen als auch im Interesse einer Planbarkeit und Risikovermeidung für das Z. Dazu haben sie eine Strukturierung der freien Mitarbeit nach dem sogenannten Drei-Kreis-Modell vorgenommen: Dem 1. Kreis unterfallen Künstler/-innen, Moderatoren/-innen, Autoren/-innen etc. Dem 3. Kreis werden alle übrigen freien Mitarbeiter/-innen zugeordnet, die nicht unter den Geltungsbereich dieses Tarifvertrages fallen.
Den 2. Kreis haben die Tarifpartner als den Kreis der freien Mitarbeiter/-innen identifiziert, für die aufgrund ihrer mehr- bzw. langjährigen kontinuierlichen Beschäftigung im Z erweiterte Bestandsschutzsicherungen vereinbart werden. Als „mehr- bzw. langjährig kontinuierlich beschäftigt“ und damit zum 2. Kreis gehörend definiert die Eckpunktevereinbarung die freien Mitarbeiter/-innen, die am 31.12.2008 in den vorausgegangenen zwei Jahren mit einem Beschäftigungsumfang von mindestens 220 Tagen p.a. oder in den vorausgegangenen vier Jahren mit einem Beschäftigungsumfang von mindestens 110 Tagen p.a. eingesetzt waren.
…“
3
§ 2 TV 2. Kreis – Honorarstruktur – hat auszugsweise den folgenden Inhalt:
„(1)
Für die dem Geltungsbereich dieses Tarifvertrages unterfallenden Beschäftigungsverhältnisse gilt die in der Anlage 1 zu diesem Tarifvertrag dargestellte Honorarstruktur.
(2)
Der Honorarstruktur liegt folgende Zuordnung von Funktionen zu Honorarbändern zugrunde:
…
b)
Redaktionelle Tätigkeiten
…
Honorarband IV:
Redakteur/-in mit besonderer Verantwortung“
4
Die Klägerin ist für die Beklagte seit 2007 als Redakteurin tätig und kam zunächst als Online-Redakteurin in der Redaktion F auf der Grundlage befristeter Verträge zum Einsatz. Seit Juli 2010 befindet sie sich in einem unbefristeten Vertragsverhältnis.
5
Im Vertrag der Parteien vom 5. Juli 2011 heißt es auszugsweise:
„§ 1
Als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ist das Z gehalten, dem verfassungsrechtlichen Gebot der Vielfalt der zu vermittelnden Programminhalte auch bei der Auswahl und Beschäftigung derjenigen Mitarbeiter zu genügen, die bei der Gestaltung der Programme mitwirken.
Die Vertragspartner sind sich darüber einig, dass im Folgenden die Beschäftigung der Vertragspartnerin als freie Mitarbeiterin gemäß Tarifvertrag zur Regelung der Freien Mitarbeit im 2. Kreis geregelt wird.
§ 2
Die Vertragspartnerin wird für das Z in folgendem Rahmen tätig:
1.
Die Vertragspartnerin wird in der Zeit vom 01.07.2010 bis auf weiteres in der Chefredaktion als Redakteurin mit besonderer Verantwortung tätig.
2.
Einsatzort ist M. Vom 01.07.2010 bis zum 30.06.2012 erfolgt eine Versetzung innerhalb der Chefredaktion zur Senderedaktion F mit Einsatzort B.
3.
Das Z ist berechtigt, die Vertragspartnerin auch in anderen vergleichbaren Funktionsbereichen oder an anderen Einsatzorten einzusetzen.
4.
Die vertraglich vereinbarte Beschäftigungszeit umfasst eine Vollzeitbeschäftigung. Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40 Stunden. Aufgrund der befristeten Übernahme in ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis beträgt die wöchentliche Arbeitszeit in der Zeit vom 01.07.2010 bis 31.03.2012 34 Stunden und ist montags bis freitags zu erbringen. Das Z kann die Verteilung der Arbeitszeit anders regeln, wenn betriebliche Interessen dies erfordern. Das gleiche gilt, wenn die Vertragspartnerin einen entsprechenden Wunsch äußert und betriebliche Gründe nicht entgegenstehen.
5.
Die Vertragspartnerin übt ihre Tätigkeit in Abstimmung und nach den Vorgaben der Leitung des jeweiligen Funktionsbereichs aus.
§ 3
1.
Das Honorar richtet sich nach dem Honorarband IV Redaktion der Honorarstruktur des Tarifvertrages zur Regelung der Freien Mitarbeit im 2. Kreis (im folgenden Tarifvertrag genannt) und ist zum 15. eines Monats fällig. Das Honorar versteht sich inklusive Urlaubs- und Feiertagsanspruch.
Aufgrund der derzeitigen Honorarhöhe erhält die Vertragspartnerin gemäß § 2 Ziffer 3a) des Tarifvertrages im Rahmen des Besitzstandes ab 01.07.2010 bis zum 30.06.2012 bei einer Vollzeitbeschäftigung ein monatliches Honorar in Höhe von derzeit 4.651,95 €.
Bedingt durch die befristete Übernahme in ein Teilzeitarbeitsverhältnis mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 34 Stunden beträgt das monatliche Honorar in der Zeit vom 01.07.2010 bis 31.03.2012 zeitanteilig 3.954,16 €.
…
Mit Wirkung vom 01.07.2016 richtet sich das Honorar nach dem Honorarband IV Redaktion Stufe 2 der Honorarstruktur des Tarifvertrages. Die Vertragspartnerin erhält hiernach ab 01.07.2016 ein monatliches Honorar in Höhe von derzeit 5.392,80 €. Der nächste Steigerungstermin ist der 01.07.2020.
…
Mehrarbeit muss stets angeordnet werden. Mehrarbeit ist grundsätzlich in Freizeit auszugleichen.
…
5.
Sollte die Vertragspartnerin aus einem Grund, den die Vertragspartnerin zu vertreten hat, nicht in der Lage sein, die vereinbarten Leistungen zu erbringen, verringert sich das vereinbarte Honorar in dem Umfang, in dem die Vertragspartnerin ihre Tätigkeit nicht ausgeübt hat. Dies unbeschadet der Regelungen der Ziffer 7.5 des Tarifvertrages für die auf Produktionsdauer Beschäftigten des Z sowie entsprechend des § 616 BGB.
Dies gilt nicht bei einer Erkrankung der Vertragspartnerin. Das Honorar wird in diesem Fall längstens bis zu 6 Wochen weiter gezahlt.
Eine über drei Kalendertage hinausgehende Arbeitsunfähigkeit ist dem Z auch dann durch Vorlage eines ärztlichen Attestes anzuzeigen, wenn die Arbeitsunfähigkeit in einen Zeitraum fällt, in dem keine Arbeitsverpflichtung besteht.
…
7.
Bezüglich des Urlaubsanspruchs finden die Bestimmungen des Ergänzungstarifvertrags Nr. 1 zum Bestandschutztarifvertrag für arbeitnehmerähnliche Personen beim Z Anwendung.
…
9.
Die Übernahme und Ausübung einer bezahlten oder unbezahlten außerdienstlichen Nebentätigkeit bedarf der vorhergehenden schriftlichen, in Eilfällen mündlichen Zustimmung des Z. Soweit in begründeten Ausnahmefällen aufgrund der Eilbedürftigkeit zunächst eine vorläufige Zustimmung mündlich erteilt wurde, ist die Entscheidung unverzüglich schriftlich nachzuholen. Im Übrigen finden die Bestimmungen des § 9 Manteltarifvertrages in der jeweils geltenden Fassung entsprechende Anwendung.
…“
6
Mit Schreiben vom 23. Mai 2017 wurde die in § 2 Ziffer 2 des Vertrags der Parteien vom 5. Juli 2011 geregelte Versetzung der Klägerin zur Redaktion F mit Einsatzort B nochmals, nunmehr bis zum 30. Juni 2019 verlängert.
7
In der Redaktion F beschäftigt die Beklagte sowohl festangestellte wie auch freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Beklagte stellt der Klägerin dort einen Büroarbeitsplatz und Arbeitsmittel zur Verfügung. Als Redakteurin von F ist es die Aufgabe der Klägerin, Beiträge zu verfassen, entweder allein oder mit Co-Autoren. Themen hierfür schlägt entweder die Redaktionsleitung oder die Klägerin selbst vor. Die Klägerin muss zu feststehenden Zeiten vor und nach der Sendung anwesend sein und an von der Beklagten festgelegten Konferenzen teilnehmen.
8
Mit Schreiben vom 12. Januar 2015 an die Leitung der Personalabteilung der Beklagten bat die Klägerin um Mitteilung, „warum männliche Kollegen bei F mehr verdienen“ als sie selbst. Sie wies darauf hin, dass sie bereits seit vier Jahren ohne Erfolg versucht habe, einvernehmlich durch Gespräche mit der Redaktionsleitung, der Gleichstellungsbeauftragten und dem Chefredakteur ein geschlechtsneutrales Honorar zu erzielen und dass sie nun Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche geltend mache. Mit Schreiben vom 23. Januar 2015 machte sie unter Berufung auf das AGG und unter Nennung von Namen von – nach ihren Angaben – besserverdienenden Kollegen Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche geltend. Die Beklagte wies die Forderungen der Klägerin mit Schreiben vom 12. März 2015 zurück.
9
Mit ihrer Klage hat die Klägerin von der Beklagten im Wege der Stufenklage Auskunft über die monatliche Vergütung namentlich benannter männlicher Kollegen sowie – nach Maßgabe der Auskunft – die Zahlung eines gleichen Entgelts an sich verlangt. Zudem hat sie die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung iHv. mindestens 70.000,00 Euro in Anspruch genommen und beantragt festzustellen, dass zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis besteht.
10
Nachdem das Arbeitsgericht die Klage mit Urteil vom 1. Februar 2017 abgewiesen und die Klägerin hiergegen Berufung eingelegt hatte, machte sie mit Schreiben vom 1. August 2018 unter Angabe von ua. Name, Personalnummer, Tätigkeit, Entgeltgruppe/Entgeltstufe und Einsatzort gegenüber dem bei der Beklagten am Standort M gebildeten „Personalrat der Zentrale“ einen Anspruch auf Auskunft nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG geltend. Als Vergleichstätigkeit gab sie die Tätigkeit namentlich benannter männlicher, in der Redaktion F eingesetzter Redakteure an, die – ebenso wie sie selbst – regelmäßig Beiträge für diese Sendung produzieren (sog. Beitragsmacher) und verlangte unter Bezugnahme auf § 11 Abs. 2 EntgTranspG eine Auskunft zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung bezogen auf ihr eigenes Honorar und bezogen auf das Entgelt für die Vergleichstätigkeit sowie die Angabe des Vergleichsentgelts nach § 11 Abs. 3 EntgTranspG.
11
Mit Schreiben vom 8. Oktober 2018 teilte der Vorsitzende des Personalrats der Zentrale der Klägerin ua. mit:
„Leider fehlen uns die rechtlichen Voraussetzungen, um die gewünschten Informationen einholen und vollumfänglich erteilen zu können. Nach § 2, bzw. § 5 Abs. 2 Entgelttransparenzgesetz fallen freie Mitarbeiter/-innen nicht unter den Geltungsbereich dieses Gesetzes, weshalb unsere Nachfrage an die HA Personal wegen fehlender Rechtsgrundlage nicht zum Erfolg führte.“
12
Unter dem 16. Mai 2019 wandte sich die Klägerin wegen Auskunftsansprüchen nach dem EntgTranspG an den Personalrat der Beklagten in B sowie auch unmittelbar an die Beklagte. In diesem Schreiben heißt es ua.:
„Ich habe bereits ein Auskunftsersuchen gestellt, und zwar im August 2018, aber an den ‚falschen‘ Personalrat in M. Deshalb ist das hier das erste Auskunftsverlangen in Wiederholung desjenigen aus dem Jahre 2018, jetzt aber an den örtlich zuständigen Personalrat.
…
Hinsichtlich des Zeitraums möchte ich entsprechende Auskünfte haben für den Stand der Jahre 2017 und 2018.“
13
Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2018 hatte die Klägerin ihre Klage (in der Berufungsinstanz) dahin erweitert, dass sie hilfsweise für den Fall der Abweisung der bereits gestellten Auskunftsanträge von der Beklagten Auskunftserteilung nach § 10 EntgTranspG verlangt.
14
Die Klägerin hat insoweit die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihr nach § 10 EntgTranspG zur Auskunft verpflichtet. Entgegen deren Ansicht sei sie Beschäftigte iSv. § 5 EntgTranspG und damit zugleich Beschäftigte iSv. § 10 EntgTranspG. Insoweit komme der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zur Anwendung. Die Beklagte sei als Arbeitgeber zudem passivlegitimiert. Letztlich seien die Voraussetzungen des § 12 EntgTranspG, auch die des § 12 Abs. 3 Satz 2 EntgTranspG erfüllt, denn es würden nicht weniger als sechs männliche Beschäftigte eine Vergleichstätigkeit ausüben.
15
Die Klägerin hat – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – zuletzt sinngemäß beantragt,
VI.
hilfsweise für den Fall der Ablehnung der geltend gemachten Auskunftsanträge
1.
der Klägerin nach § 10 EntgTranspG Auskunft zu erteilen über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung hinsichtlich ihres eigenen Entgelts und hinsichtlich des Vergleichsentgelts aller festangestellten sowie der auf der Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) und ihr weiter Auskunft zu erteilen über das Vergleichsentgelt und
a.
alle außertariflichen Zulagen und tarifliche Zulagen, mit Bezug zur Tätigkeit (Thema, Schwere, Qualität der Leistung etc.) sowie
b.
alle außertariflichen Zulagen und tarifliche Zulagen ohne Bezug zur Tätigkeit (Ortswechsel, soziale Härte etc.)
hinsichtlich aller festangestellten sowie der auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) in Gestalt eines auf Vollzeitäquivalente hochgerechneten statistischen Medians von deren durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelten bezogen auf das Kalenderjahr 2017;
2.
hilfsweise für den Fall des Nicht-Erfolgs des Antrags unter 1
der Klägerin nach § 10 EntgTranspG Auskunft zu erteilen über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung hinsichtlich ihres eigenen Entgelts und hinsichtlich des Vergleichsentgelts aller festangestellten sowie der auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) und ihr Auskunft zu erteilen über das Vergleichsentgelt und
a.
Leistungsentgelte bzw. Leistungsprämien
b.
Zulagen für besondere Tätigkeiten (zB Bearbeitung besonderer inhaltlicher Themen)
hinsichtlich aller festangestellten sowie der auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) in Gestalt eines auf Vollzeitäquivalente hochgerechneten statistischen Medians von deren durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelten bezogen auf das Kalenderjahr 2017;
3.
weiter hilfsweise für den Fall des Nicht-Erfolgs eines oder mehrerer der vorgenannten Anträge in Bezug auf den Personenkreis der festangestellten Beitragsmacher bei F
der Klägerin nach § 10 EntgTranspG Auskunft zu erteilen über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung hinsichtlich ihres eigenen Entgeltes und hinsichtlich des Vergleichsentgelts der männlichen Redakteure aller auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) und ihr Auskunft zu erteilen über das Vergleichsentgelt und
a.
alle außertariflichen Zulagen und tarifliche Zulagen mit Bezug zur Tätigkeit (Thema, Schwere, Qualität der Leistung etc.) und
b.
alle außertariflichen Zulagen und tarifliche Zulagen ohne Bezug zur Tätigkeit (Ortswechsel, soziale Härte etc.)
hinsichtlich aller auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) in Gestalt eines auf Vollzeitäquivalente hochgerechneten statistischen Medians von deren durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelten bezogen auf das Kalenderjahr 2017;
4.
höchst hilfsweise für den Fall des Nicht-Erfolgs eines oder mehrerer Anträge in Bezug auf die festangestellten Beitragsmacher und in Bezug auf die Zulagen gemäß 1.a und 1.b
der Klägerin nach § 10 EntgTranspG Auskunft zu erteilen über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung hinsichtlich ihres eigenen Entgelts und hinsichtlich des Vergleichsentgelts der männlichen Redakteure aller auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) und ihr Auskunft zu erteilen über das Vergleichsentgelt und
a.
Leistungsentgelte bzw. Leistungsprämien
b.
Zulagen für besondere Tätigkeiten (zB besondere inhaltliche Themenbearbeitung)
hinsichtlich aller auf Grundlage des TV 2. Kreis beschäftigten männlichen Redakteure in der Redaktion F der Beklagten (Beitragsmacher) in Gestalt eines auf Vollzeitäquivalente hochgerechneten statistischen Medians von deren durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelten bezogen auf das Kalenderjahr 2017;
5.
hilfsweise für den Fall der Zurückweisung der Anträge 1 bis 4
der Klägerin nach § 10 EntgTranspG Auskunft zu erteilen über das durchschnittliche Gesamtbruttoentgelt nach § 5 Abs. 1 EntgTranspG der TV-Redakteure (Beitragsmacher) in der Redaktion F der Beklagten und mit zwei weiteren Entgeltbestandteilen, hilfsweise einem, oder ohne weitere Entgeltbestandteile bezogen auf das Kalenderjahr 2017.
16
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der persönliche Anwendungsbereich nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG sei für die Klägerin als freie Mitarbeiterin bzw. arbeitnehmerähnliche Person nicht eröffnet, weshalb es dieser an der erforderlichen Aktivlegitimation fehle. Ferner sei sie, die Beklagte, nicht passivlegitimiert. Für den Fall, dass die Klägerin aktivlegitimiert sein sollte, richte sich ihr Anspruch nach § 14 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG gegen den für die Dienststelle B errichteten Personalrat. Damit handele es sich zudem um eine personalvertretungsrechtliche Streitigkeit, für die die Verwaltungsgerichte, und nicht die Arbeitsgerichte zuständig seien. Schließlich stehe der Klägerin die begehrte Auskunft auch inhaltlich nicht zu. Ein Anspruch auf Angabe des Vergleichsentgelts für das Kalenderjahr 2017 scheide aus, da die Vergleichsgruppe in der Redaktion F mit lediglich fünf im Honorarband IV iSv. § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis beschäftigten Redakteuren nicht die nach § 12 Abs. 3 Satz 2 EntgTranspG erforderliche Größe aufweise. Der Antrag der Klägerin auf Auskunftserteilung über die Zulagen etc. gehe zudem dem Umfang nach über das hinaus, was sie nach § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG beanspruchen könne.
17
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin verfolgt mit der Revision ihren Antrag auf Auskunftserteilung nach § 10 EntgTranspG weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
18
A. Mit dem Einverständnis der Parteien konnte vorliegend im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 128 Abs. 2 ZPO.
19
B. Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte die Berufung der Klägerin nicht mit der von ihm gegebenen Begründung zurückweisen. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts kann die Klägerin von der Beklagten nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG Auskunft über die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung verlangen. Ob die Klägerin gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Erteilung von Auskunft über das Vergleichsentgelt hat, konnte der Senat aufgrund der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht entscheiden; den Parteien ist zudem Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben. Insoweit war die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
20
I. Die Revision der Klägerin ist zulässig.
21
Die von der Klägerin eingereichten elektronischen Dokumente entsprechen den Anforderungen von § 130a Abs. 2 ZPO iVm. § 2 Abs. 1 ERVV. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV sind elektronische Dokumente in druckbarer, kopierbarer und, soweit technisch möglich, durchsuchbarer Form im Dateiformat PDF zu übermitteln. Von der Übermittlung des elektronischen Dokuments in durchsuchbarer Form konnte allerdings nach § 2 Abs. 1 Satz 4 ERVV in der Fassung vom 24. November 2017, die am 30. Juni 2019 außer Kraft getreten ist, befristet bis zum 30. Juni 2019 abgesehen werden. Die Klägerin hat innerhalb dieser Frist die Revision eingelegt und begründet.
22
II. Die Revision der Klägerin ist begründet.
23
1. Prozessuale Gründe stehen einer Entscheidung des Senats nicht entgegen. Dies gilt auch in Bezug auf die in der Revision geänderten Sachanträge der Klägerin, mit denen diese nunmehr die Verurteilung der Beklagten begehrt,
1.
ihr nach § 10 EntgTranspG Auskunft zu erteilen zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung hinsichtlich ihres Entgelts und hinsichtlich des Vergleichsentgelts aller auf Grundlage des Tarifvertrags 2. Kreis im Honorarband IV beschäftigten männlichen „Redakteure mit besonderer Verantwortung“ (Beitragsmacher) in der Redaktion F und den sonstigen Redaktionen der Dienststelle B der Beklagten,
2.
ihr Auskunft zu erteilen über das Vergleichsentgelt der männlichen Redakteure nach Ziffer 1. nach § 5 Abs. 1 EntgTranspG in Gestalt eines auf Vollzeitäquivalente hochgerechneten statistischen Medians von deren durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelten bezogen auf das Kalenderjahr 2017 bzw. 2018 für das Honorarband IV
und zudem für die beiden einzelnen Entgeltbestandteile nach § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG, nämlich
a)
alle außertariflichen und tariflichen Zulagen mit Bezug zur Tätigkeit (Thema, Schwere, Qualität der Leistung usw.) und
b)
alle außertariflichen und tariflichen Zulagen ohne Bezug zur Tätigkeit (Ortswechsel, soziale Härte usw.)
hilfsweise zu a) und b)
a)
Leistungsentgelte bzw. Leistungsprämien
b)
Zulagen für besondere Tätigkeiten (zB besondere inhaltliche Themenbearbeitung).
24
Die neu gefassten Klageanträge stellen keine unzulässige Klageänderung in der Revisionsinstanz dar.
25
a) Nach § 559 Abs. 1 ZPO ist eine Klageänderung in der Revisionsinstanz grundsätzlich ausgeschlossen. Der Schluss der mündlichen Verhandlung in zweiter Instanz bildet nicht nur bezüglich des tatsächlichen Vorbringens, sondern auch hinsichtlich der Anträge der Parteien die Entscheidungsgrundlage für das Revisionsgericht. Hiervon hat das Bundesarbeitsgericht Ausnahmen in den Fällen des § 264 Nr. 2 ZPO sowie dann zugelassen, wenn sich der geänderte Sachantrag auf einen in der Berufungsinstanz festgestellten oder von den Parteien übereinstimmend vorgetragenen Sachverhalt stützen kann, sich das rechtliche Prüfprogramm nicht wesentlich ändert und die Verfahrensrechte der anderen Partei durch eine Sachentscheidung nicht verkürzt werden (vgl. etwa BAG 19. November 2019 – 3 AZR 294/18 – Rn. 19; 23. Oktober 2019 – 7 AZR 7/18 – Rn. 49 mwN; 19. März 2019 – 9 AZR 362/18 – Rn. 12; 23. März 2016 – 5 AZR 758/13 – Rn. 36 mwN, BAGE 154, 337). Eine Klageerweiterung, mit der ein neuer Streitgegenstand eingeführt wird, ist in der Revisionsinstanz dagegen grundsätzlich nicht möglich (vgl. etwa BAG 19. November 2019 – 3 AZR 294/18 – aaO; 20. September 2016 – 3 AZR 273/15 – Rn. 31 mwN). Zudem kommt nur eine Antragstellung innerhalb des eingelegten Rechtsmittels in Betracht (vgl. BAG 23. März 2016 – 5 AZR 758/13 – Rn. 31, aaO).
26
b) Danach begegnen die in der Revision gestellten Sachanträge der Klägerin keinen Bedenken. Die Klägerin hat mit ihnen ihre vor dem Landesarbeitsgericht zuletzt gestellten Anträge zu VI. lediglich geordnet und konkretisiert sowie in einigen Punkten in zulässiger Weise geändert.
27
aa) Soweit die Klägerin ihre Auskunftsverlangen dahin geändert hat, dass es auf einen Vergleich mit den auf der Grundlage des TV 2. Kreis im Honorarband IV beschäftigten männlichen Redakteure ankommt, richtet die Klägerin ihre Auskunftsbegehren – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht „auf eine neue Vergleichsgruppe aus“, sondern lässt lediglich eine der beiden zuvor benannten Vergleichsgruppen, nämlich die der festangestellten männlichen Redakteure – unter Beibehaltung der anderen Gruppe – fallen. Dies stellt im Verhältnis zu ihren Anträgen zu VI. im Berufungsverfahren lediglich ein „Weniger“ dar.
28
bb) Soweit die Klägerin sich in der Revisionsinstanz für den Vergleich auf im „Honorarband IV“ beschäftigte männliche „Redakteure mit besonderer Verantwortung“ bezieht, präzisiert sie – in Übereinstimmung mit § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis – lediglich den bereits zuvor von ihr verwendeten Begriff „Beitragsmacher“ und beschränkt ihn zugleich. Gemeint sind – allein noch – die nach dem Honorarband IV Redaktionelle Tätigkeiten iSv. § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis vergüteten männlichen Redakteure. Diese Konkretisierung steht im Übrigen in Übereinstimmung mit der im Vertrag der Parteien vom 5. Juli 2011 für die Klägerin ausgewiesenen tariflichen Zuordnung.
29
cc) Soweit die Klägerin ihr Auskunftsverlangen nicht mehr allein auf das Kalenderjahr 2017 bezieht, sondern es im Antrag zu 2. heißt: „bezogen auf das Kalenderjahr 2017 bzw. 2018“, hat sie dies mit Schriftsatz vom 11. Mai 2020 dahin erläutert, dass die Auskunft bezogen auf das Kalenderjahr 2018 nur hilfsweise begehrt wird und damit zugleich insoweit etwa bestehende Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit des Antrags iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO ausgeräumt. Da sich der hilfsweise zur Entscheidung gestellte Sachantrag auf einen unveränderten Sachverhalt stützt, sich das rechtliche Prüfprogramm insoweit nicht (wesentlich) ändert und die Verfahrensrechte der anderen Partei durch eine Sachentscheidung nicht verkürzt werden, bestehen gegen die Zulässigkeit des Hilfsantrags keine Bedenken.
30
dd) Letztlich begegnet es auch keinen rechtlichen Bedenken, dass die Klägerin ihre Auskunftsverlangen, die sich bislang lediglich auf die „Redaktion F der Beklagten“ bezogen, nun auf „die sonstigen Redaktionen der Dienststelle B“ der Beklagten erweitert hat.
31
Für eine Zulässigkeit der von der Klägerin vorgenommenen Klageänderung spricht maßgeblich der Gesichtspunkt der Prozessökonomie. Würde nämlich, nachdem die Klägerin – wie unter Rn. 27 ausgeführt – den Vergleich mit festangestellten Redakteuren nicht weiterverfolgt, die Größe der Vergleichsgruppe für die Angabe des Vergleichsentgelts unterhalb des Grenzwerts des § 12 Abs. 3 Satz 2 EntgTranspG liegen, wonach das Vergleichsentgelt zum Schutz personenbezogener Daten nicht anzugeben ist, wenn die Vergleichstätigkeit von weniger als sechs Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts ausgeübt wird, könnte der Streit der Parteien über die Angabe des Vergleichsentgelts zu einem neuen Rechtsstreit führen, der eventuell wiederum durch mehrere Instanzen ausgetragen würde (vgl. zur Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts ua. BGH 17. November 2005 – IX ZR 8/04 – Rn. 28). Vor dem Hintergrund der anhaltenden und langjährigen Meinungsverschiedenheiten der Parteien über die Frage des Zusammenhangs zwischen Entgelt und Geschlecht beim Honorar der Klägerin ist die Wahrscheinlichkeit für eine solche Verlagerung des Streits in einen weiteren Rechtsstreit erheblich. Schützenswerte Belange der Gegenpartei stehen der Klageänderung nicht entgegen.
32
2. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten liegt in der Einführung der Auskunftsansprüche nach dem EntgTranspG im Berufungsverfahren durch die Klägerin keine unzulässige Klageerweiterung in der Berufungsinstanz. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit angenommen, die Voraussetzungen nach § 533 ZPO für die Zulässigkeit der Klageerweiterung im Berufungsverfahren hätten vorgelegen. Dies ist in der Revisionsinstanz in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO nicht mehr zu überprüfen (BAG 14. Dezember 2017 – 2 AZR 86/17 – Rn. 23 mwN, BAGE 161, 198).
33
3. Die Klageanträge sind auch im Übrigen zulässig, insbesondere sind sie hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Beklagte kann ohne Weiteres erkennen, was von ihr mit den Klageanträgen verlangt wird.
34
Dies gilt auch für die erforderliche Angabe der Vergleichstätigkeit. Insoweit wirkt sich aus, dass der Gesetzgeber des EntgTranspG berücksichtigt hat, dass Beschäftigte im Einzelfall nicht über die erforderlichen Informationen zur Ermittlung einer gleichen oder insbesondere gleichwertigen Tätigkeit iSv. § 4 Abs. 1 und Abs. 2 EntgTranspG verfügen, weshalb sie nach § 10 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG lediglich in „zumutbarer Weise“ eine gleiche oder gleichwertige Tätigkeit (Vergleichstätigkeit) zu benennen haben (BT-Drs. 18/11133 S. 58). Diese soll lediglich „möglichst konkret“ benannt werden, um eine willkürliche Auswahl einer Vergleichstätigkeit auszuschließen (BT-Drs. 18/11133 S. 58). Damit hat der Gesetzgeber keinen strengen Maßstab vorgegeben. Zudem führt eine fehlerhafte Angabe der Vergleichstätigkeit durch Beschäftigte nicht zu einer Begrenzung der Auskunftspflicht des Arbeitgebers bzw. des Betriebs- oder Personalrats, soweit diese Angabe nicht willkürlich ist. Dies zeigt sich insbesondere an der in § 15 Abs. 4 Satz 4 EntgTranspG (Verfahren bei nicht tarifgebundenen und nicht tarifanwendenden Arbeitgebern) getroffenen Bestimmung, wonach bei einer fehlerhaften Benennung der Vergleichstätigkeit durch Beschäftigte die begehrte Auskunft gleichwohl zu geben ist, und zwar bezogen auf eine andere, nach Erachten des Arbeitgebers bzw. Betriebs- oder Personalrats gleiche oder gleichwertige Tätigkeit, mithin bezogen auf eine arbeitgeberseitig „ermittelte“ Vergleichstätigkeit (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 EntgTranspG). Ähnlich ist nach § 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 EntgTranspG im Verfahren nach § 14 EntgTranspG (Verfahren bei tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern) sowie in den Fällen einer gesetzlichen Entgeltregelung die zu gebende Auskunft nicht durch die Angabe der Vergleichstätigkeit im Auskunftsverlangen begrenzt; vielmehr ist insoweit in der Auskunft immer das Vergleichsentgelt der Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts anzugeben, die in die gleiche Entgelt- oder Besoldungsgruppe eingruppiert sind wie der oder die Auskunft verlangende Beschäftigte. Auch dies belegt, dass der Gesetzgeber keine strengen Anforderungen an die Angabe der Vergleichstätigkeit im Auskunftsverlangen stellt.
35
4. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts ist die Klage mit dem Antrag zu 1. begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin Auskunft zu erteilen zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung für die Festlegung des Entgelts der Klägerin sowie für die Festlegung des Entgelts der nach dem Honorarband IV Redaktionelle Tätigkeiten iSv. § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis vergüteten männlichen Redakteure der Beklagten in der Redaktion F und den sonstigen Redaktionen der Dienststelle B der Beklagten. Der Anspruch folgt aus § 10 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 11 Abs. 1 und Abs. 2 sowie § 12 Abs. 1 EntgTranspG.
36
a) Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG haben Beschäftigte zur Überprüfung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots im Sinne dieses Gesetzes einen Auskunftsanspruch nach Maßgabe der §§ 11 bis 16 EntgTranspG. Dazu haben die Beschäftigten nach § 10 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG in zumutbarer Weise eine gleiche oder gleichwertige Tätigkeit (Vergleichstätigkeit) zu benennen. Sie können Auskunft zu dem durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelt nach § 5 Abs. 1 EntgTranspG und zu bis zu zwei einzelnen Entgeltbestandteilen verlangen, § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG hat das Auskunftsverlangen in Textform zu erfolgen.
37
Nach § 11 Abs. 1 EntgTranspG erstreckt sich die Auskunftsverpflichtung ua. auf die Angabe zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung nach § 11 Abs. 2 EntgTranspG. Danach erfasst die Auskunftsverpflichtung zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung die Information über die Festlegung des eigenen Entgelts sowie des Entgelts für die Vergleichstätigkeit. Soweit die Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung auf gesetzlichen Regelungen, auf tarifvertraglichen Entgeltregelungen oder auf einer bindenden Festsetzung nach § 19 Abs. 3 des Heimarbeitsgesetzes beruhen, sind als Antwort auf das Auskunftsverlangen die Nennung dieser Regelungen und die Angabe, wo diese Regelungen einzusehen sind, ausreichend, § 11 Abs. 2 Satz 2 EntgTranspG.
38
Nach § 12 Abs. 1 EntgTranspG besteht der Anspruch nach § 10 EntgTranspG für Beschäftigte nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG in Betrieben mit in der Regel mehr als 200 Beschäftigten bei demselben Arbeitgeber.
39
b) Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts scheitert der Auskunftsanspruch der Klägerin nicht an einer fehlenden Aktivlegitimation der Klägerin. Zwar steht nach der insoweit rechtskräftigen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts fest, dass die Klägerin nicht Arbeitnehmerin iSd. innerstaatlichen Rechts, sondern „arbeitnehmerähnliche Person“ ist. Dies steht einem Auskunftsanspruch der Klägerin nach § 10 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 11 Abs. 1 und Abs. 2 EntgTranspG indes nicht entgegen. Die Klägerin ist als freie Mitarbeiterin Arbeitnehmerin iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG. Ihr Beschäftigungsverhältnis bei der Beklagten erfüllt die wesentlichen Merkmale des Arbeitnehmerbegriffs der Richtlinie 2006/54/EG. Anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat, können die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG nicht nach rein nationalem Rechtsverständnis ausgelegt werden. Sie sind vielmehr vor dem Hintergrund einer zuvor nicht erfolgten hinreichenden anderweitigen Richtlinienumsetzung sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Auskunftsanspruch nach § 10 EntgTranspG im EntgTranspG nicht von der Richtlinienumsetzung unabhängig geregelt wurde, unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG auszulegen. Die – zwingend erforderliche – Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/54/EG zum Verbot der Diskriminierung beim Entgelt und zur entgeltbezogenen Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer bei gleicher oder als gleichwertig anerkannter Arbeit ist im deutschen Recht erst mit dem EntgTranspG erfolgt. Das führt dazu, dass der durch die Richtlinienbestimmungen unionsrechtlich geschützte Personenkreis zwingend auch von den umsetzenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts erfasst sein muss. Da im EntgTranspG ein einheitlicher persönlicher Anwendungsbereich bestimmt ist, ist dieser nicht nur für die umzusetzenden Bestimmungen des Unionsrechts einschlägig, sondern auch für den Auskunftsanspruch nach § 10 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG.
40
aa) Nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG sind Beschäftigte iSd. Gesetzes: 1. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, 2. Beamtinnen und Beamte des Bundes sowie der sonstigen der Aufsicht des Bundes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, 3. Richterinnen und Richter des Bundes, 4. Soldatinnen und Soldaten, 5. die zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten sowie 6. die in Heimarbeit Beschäftigten sowie die ihnen Gleichgestellten.
41
bb) Die Auslegung der Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG ergibt, dass auch arbeitnehmerähnliche Personen Beschäftigte iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sein können.
42
(1) Zwar spricht der Wortlaut der Bestimmung weder dafür noch dagegen. Arbeitnehmerähnliche Personen sind in § 5 Abs. 2 EntgTranspG weder ausdrücklich genannt noch ausdrücklich ausgeschlossen.
43
(2) Auch heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 5 Abs. 2 EntgTranspG (BT-Drs. 18/11133 S. 54) nur, dass sich der Beschäftigtenbegriff an der Definition des § 6 Abs. 1 Satz 1 AGG unter Berücksichtigung von § 24 AGG orientiere. Danach kann allerdings nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der nationale Gesetzgeber eine völlige Übereinstimmung des Beschäftigtenbegriffs des EntgTranspG mit dem des § 6 Abs. 1 Satz 1 AGG, wonach auch Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind, Beschäftigte iSd. AGG sind, nicht gewollt hat.
44
(3) Ob die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG nach der Gesetzesbegründung dahin auszulegen sind, dass arbeitnehmerähnliche Personen von ihr nicht erfasst werden sollen, kann allerdings dahinstehen. Die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sind nämlich unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 2006/54/EG (weit) auszulegen. Eine Auslegung dieser Begriffe nach rein nationalem Rechtsverständnis unabhängig vom Unionsrecht wäre im Hinblick auf den – nicht im Unionsrecht vorgegebenen – Auskunftsanspruch nur dann möglich, wenn die zwingend erforderliche Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/54/EG zum Verbot der Diskriminierung beim Entgelt und zur entgeltbezogenen Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer bei gleicher oder als gleichwertig anerkannter Arbeit (Art. 2 Abs. 1 Buchst. e sowie Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG) im deutschen Recht nicht erst mit dem EntgTranspG erfolgt oder wenn der Auskunftsanspruch von dieser Umsetzung unabhängig (zB mit gesondertem persönlichen Anwendungsbereich) geregelt wäre. Beides ist nicht der Fall. Mit der danach erforderlichen unionsrechtlichen Auslegung der Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG geht einher, dass der durch die entsprechenden Richtlinienbestimmungen unionsrechtlich geschützte Personenkreis zwingend auch von der umsetzenden Bestimmung des innerstaatlichen Rechts – hier § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG – erfasst sein muss. Dementsprechend sind die Begriffe „Arbeitnehmerin“ und „Arbeitnehmer“ in § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG nicht eng iSd. Arbeitnehmerbegriffs des innerstaatlichen Rechts, sondern unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit dem Arbeitnehmerbegriff der Bestimmungen der Richtlinie 2006/54/EG weit auszulegen. Danach können im Einzelfall auch arbeitnehmerähnliche Personen iSd. innerstaatlichen Rechts Arbeitnehmer iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sein.
45
(a) Die Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG zur Entgeltgleichheit bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit waren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des EntgTranspG am 6. Juli 2017 entgegen der mitgliedstaatlichen Verpflichtung nicht bzw. nicht hinreichend anderweitig im innerstaatlichen Recht in Deutschland umgesetzt.
46
(aa) Innerstaatliche Rechtsvorschriften zur Richtlinienumsetzung müssen die volle Wirksamkeit der Richtlinie gemäß ihrer Zielsetzung gewährleisten und dem Erfordernis der Rechtssicherheit vollständig genügen. Die Umsetzung muss deshalb in klarer und eindeutiger Weise erfolgen. Rechtsvorschriften, durch die die von den Richtlinienbestimmungen Begünstigten über ihre Möglichkeiten, sich auf das Unionsrecht zu berufen, im Ungewissen gelassen werden, genügen nicht der mitgliedstaatlichen Verpflichtung zur Richtlinienumsetzung.
47
(bb) Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Die Umsetzungsfrist, nach deren Ablauf im jeweiligen innerstaatlichen Recht eine richtlinienkonforme Rechtslage erreicht sein muss, ergibt sich jeweils aus der Richtlinie selbst. Für die Richtlinie 2006/54/EG ergibt sich die Umsetzungsfrist aus Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie (15. August 2008; ggf. mit einer Verlängerung um ein weiteres Jahr). Zudem sind nach Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG die Umsetzungsfristen von Vorgänger-Richtlinien unberührt geblieben. Für die hier maßgebliche, auf gleiches Entgelt für gleiche und gleichwertige Arbeit bezogene Richtlinie 75/117/EWG war dies der 19. Februar 1976. Beide Fristen waren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des EntgTranspG abgelaufen.
48
(cc) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind Richtlinien vollständig und genau einzuhalten, weshalb die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet sind, die Bestimmungen der Richtlinien in hinreichend verbindlicher, bestimmter und so genauer, klarer und eindeutiger Weise umzusetzen, dass dem Erfordernis der Rechtssicherheit in vollem Umfang genügt wird (vgl. ua. EuGH 8. Juli 2019 – C-543/17 – [Kommission/Belgien] Rn. 51; 16. Juni 2005 – C-456/03 – [Kommission/Italien] Rn. 51; 14. Dezember 1995 – C-16/95 – [Kommission/Spanien] Rn. 8; 3. Juni 1992 – C-287/91 – [Kommission/Italien] Rn. 7; 28. Februar 1991 – C-360/87 – [Kommission/Italien] Rn. 11, 31 jeweils mwN). Jeder Mitgliedstaat, der Adressat einer Richtlinie ist, hat die Verpflichtung, in seiner nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie gemäß ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (vgl. etwa EuGH 16. Juni 2005 – C-456/03 – [Kommission/Italien] Rn. 50 mwN). Rechtsvorschriften, durch die die betroffenen Normadressaten über ihre Möglichkeiten, sich auf das Unionsrecht zu berufen, im Ungewissen gelassen werden, stellen keine Erfüllung der Verpflichtung zur Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht dar (vgl. ua. EuGH 28. Februar 1991 – C-360/87 – [Kommission/Italien] Rn. 12 mwN). Allerdings erfordert die Umsetzung einer Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht unbedingt in jedem Fall eine förmliche Übernahme der Bestimmungen einer Richtlinie in eine ausdrückliche spezifische Rechtsvorschrift, da der Umsetzung einer Richtlinie je nach ihrem Inhalt durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge getan sein kann. Insbesondere kann das Bestehen allgemeiner Grundsätze des Verfassungs- oder Verwaltungsrechts die Umsetzung durch Maßnahmen des Gesetz- oder Verordnungsgebers überflüssig machen, sofern diese Grundsätze tatsächlich für den Fall, dass die fragliche Vorschrift der Richtlinie dem Einzelnen Rechte verleihen soll, die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt gewährleisten, und die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und sie gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. etwa EuGH 19. Dezember 2013 – C-281/11 – [Kommission/Polen] Rn. 60 mwN; 3. März 2011 – C-50/09 – [Kommission/Irland] Rn. 46; 16. Juni 2005 – C-456/03 – [Kommission/Italien] aaO; 12. Juli 2007 – C-507/04 – [Kommission/Österreich] Rn. 89 mwN; 27. April 1988 – 252/85 – [Kommission/Frankreich] Rn. 5). Um den Umfang der den Mitgliedstaaten obliegenden Umsetzungspflicht beurteilen zu können, muss in jedem Einzelfall die Natur der in einer Richtlinie enthaltenen Vorschrift bestimmt werden (vgl. etwa EuGH 16. Juni 2005 – C-456/03 – [Kommission/Italien] Rn. 52 mwN).
49
(dd) Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union obliegen sowohl die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, als auch die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 AEUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten (vgl. etwa EuGH 8. Mai 2019 – C-486/18 – [Praxair MRC] Rn. 36 mwN). Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Gerichten, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. etwa EuGH 8. Mai 2019 – C-486/18 – [Praxair MRC] Rn. 37 mwN). Insoweit haben die nationalen Gerichte – und damit auch der erkennende Senat – unter Berücksichtigung sämtlicher nationaler Rechtsnormen und der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, ob und inwieweit nationale Rechtsvorschriften im Einklang mit unionsrechtlichen Vorgaben ausgelegt werden müssen und können, ohne dass sie contra legem ausgelegt werden (vgl. ua. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 71).
50
(ee) Danach waren Art. 2 Abs. 1 Buchst. e sowie Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des EntgTranspG entgegen der mitgliedstaatlichen Verpflichtung nicht bzw. nicht hinreichend anderweitig im innerstaatlichen Recht in Deutschland umgesetzt.
51
(aaa) Nach Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG wird bei gleicher Arbeit oder bei einer Arbeit, die als gleichwertig anerkannt wird, mittelbare und unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Bezug auf sämtliche Entgeltbestandteile und -bedingungen beseitigt. Insbesondere wenn zur Festlegung des Entgelts ein System beruflicher Einstufung verwendet wird, muss dieses System auf für männliche und weibliche Arbeitnehmer gemeinsamen Kriterien beruhen und so beschaffen sein, dass Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts ausgeschlossen werden. Diese Bestimmung entspricht Art. 1 der mit Wirkung vom 15. August 2009 aufgehobenen Richtlinie 75/117/EWG (Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG), deren Frist zur Umsetzung in innerstaatliches Recht im Februar 1976 abgelaufen war. Nach Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG bleibt diese Umsetzungsfrist von der Aufhebung der Richtlinie 75/117/EWG unberührt.
52
Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/54/EG, der im Übrigen Art. 157 Abs. 2 AEUV entspricht, bezeichnet der Ausdruck „Entgelt“ die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar oder unmittelbar als Geld- oder Sachleistung zahlt. Diesen Vorgaben musste das innerstaatliche Recht nach Art. 33 dieser Richtlinie spätestens ab dem 15. August 2008 – mit einer Verlängerungsmöglichkeit um ein weiteres Jahr, soweit aufgrund besonderer Schwierigkeiten erforderlich – genügen.
53
(bbb) Eine Umsetzung von Art. 1 der Richtlinie 75/117/EWG (später Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG, vgl. Rn. 51) erfolgte im deutschen Recht zunächst zwar teilweise durch § 612 Abs. 3 BGB. Danach durfte bei einem Arbeitsverhältnis für gleiche oder für gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechts des Arbeitnehmers eine geringere Vergütung vereinbart werden als bei einem Arbeitnehmer des anderen Geschlechts. Diese Bestimmung wurde nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 75/117/EWG im Februar 1976 durch Art. 1 Nr. 3 des arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes vom 13. August 1980 (BGBl. I S. 1308) in das deutsche Recht eingeführt und galt vom 21. August 1980 bis zum 17. August 2006. § 612 Abs. 3 BGB wurde mit Inkrafttreten des AGG durch Art. 3 Abs. 14 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897, 1909) aufgehoben.
54
(ccc) Bei Aufhebung des § 612 Abs. 3 BGB wurden im AGG allerdings weder Art. 2 Abs. 1 Buchst. e noch Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG hinreichend umgesetzt.
55
(aaaa) Zwar gibt es im AGG mit § 8 Abs. 2 AGG eine Bestimmung mit einem Bezug zur Entgeltgleichheit bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit, allerdings stellt sich diese Bestimmung nicht hinreichend deutlich als Rechts- bzw. Anspruchsgrundlage dar, was nach den Vorgaben der Richtlinie jedoch erforderlich gewesen wäre, da Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG konkrete Rechte für die Betroffenen vorsieht. Insoweit wurde die Richtlinie jedenfalls nicht genügend umgesetzt.
56
§ 8 Abs. 2 AGG betrifft die Rechtfertigung der Vereinbarung einer geringeren Vergütung für gleiche oder gleichwertige Arbeit wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Nach dieser Bestimmung wird eine solche Vereinbarung nicht dadurch gerechtfertigt, dass wegen eines solchen Grundes besondere Schutzvorschriften gelten. § 8 Abs. 2 AGG kann zwar dahin verstanden werden, dass er das für Männer und Frauen bestehende Entgeltgleichheitsgebot voraussetzt. Das ändert aber nichts daran, dass diese Regelung – entgegen den Vorgaben von Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG – nicht hinreichend klar als Grundlage für einen Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit ausgestaltet wurde. Für die Betroffenen war damit aus § 8 Abs. 2 AGG – unionsrechtswidrig – nicht klar und deutlich erkennbar, dass bereits durch das AGG ein Anspruch auf gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit eingeräumt wurde.
57
Dass der Gesetzgeber im AGG, insbesondere mit § 8 Abs. 2 AGG keine klare und eindeutige Grundlage für Ansprüche auf gleiches Entgelt für gleiche und gleichwertige Arbeit geschaffen hatte, wird auch durch die Gesetzesbegründung zu § 8 AGG belegt. Hier heißt es: „Absatz 2 greift den Grundsatz der Entgeltgleichheit bezüglich des Geschlechts in § 612 Abs. 3 BGB auf. Dieser Grundsatz wird nunmehr durch § 7 über das Merkmal Geschlecht hinaus auch auf alle in § 1 genannten Merkmale erstreckt und stellt künftig in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 2 die neue Grundlage für Ansprüche auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit dar“ (BT-Drs. 16/1780 S. 35). Eine solche, für die juristische Methodik des deutschen Rechts „außergewöhnliche“ Art der Normierung einer Anspruchsgrundlage führte dann auch zu divergierenden Auffassungen in der Literatur dazu, ob und ggf. wo im innerstaatlichen Recht ein solcher Rechtsanspruch überhaupt verankert sein könnte (vgl. ua. ErfK/Schlachter 20. Aufl. § 8 AGG Rn. 9: „[d]er Bestimmung über die Ausnahme bei der Entgeltgleichheit fehlt bereits die Kernaussage“; Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 8 AGG Rn. 43: „intransparente[…] Gesamtschau von Normen“; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. März 2017 AGG § 8 Rn. 8: „widerspricht dieser Ansatz juristischer Methodik“; Däubler/Bertzbach/Zimmer AGG 4. Aufl. EntgTranspG Einl. Rn. 7: „die Unklarheit … [der] Anspruchsgrundlage… [setzte sich in den] Kommentierungen [fort]“; Schaub ArbR-HdB/Ahrendt 18. Aufl. § 37 Rn. 1: „keine unmittelbare Anspruchsgrundlage“; vgl. auch v. Roetteken AGG Stand Juli 2012 § 8 Rn. 208 ff.). Das insoweit bestehende Umsetzungsdefizit hat später auch die Bundesregierung gesehen. So heißt es in der Gesetzesbegründung zum EntgTranspG, dass der vorhandene Rechtsrahmen das Gebot gleichen Entgelts für gleiche oder gleichwertige Arbeit von Frauen und Männern in der Praxis nicht umfassend gewährleisten könne (BT-Drs. 18/11133 S. 21). Soweit in der Rechtsprechung eine Anspruchsgrundlage für ein gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit beispielsweise in Ableitung aus „der Wertung in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 2 AGG“ (vgl. etwa BAG 15. September 2009 – 3 AZR 294/09 – Rn. 27; 11. Dezember 2007 – 3 AZR 249/06 – Rn. 45, BAGE 125, 133) angenommen wurde, spricht dies gerade nicht für eine klare und eindeutige Normierung des Rechtsanspruchs, sondern für eine richtlinienkonforme Auslegung des Gesetzes unter Berufung auf die Gesetzesbegründung.
58
(bbbb) Zudem wurden die Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG in anderen Punkten nicht einmal ansatzweise umgesetzt.
59
Vollständig fehlte nicht nur eine Umsetzung der näheren Festlegungen bzw. Bestimmungen in Art. 2 Abs. 1 Buchst. e zum Begriff „Entgelt“, in Art. 4 Abs. 1 „in Bezug auf sämtliche Entgeltbestandteile und -bedingungen“ und in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie betreffend die Vorgaben zu „System[en] beruflicher Einstufung“. Vollständig fehlte zudem eine ausdrückliche Rechtsgrundlage, nach der gleiches Entgelt nicht nur für „gleiche“, sondern auch für „gleichwertige“ Arbeit verlangt werden kann. Das Entgeltgleichheitsgebot bei gleichwertiger Arbeit ermöglicht sowohl für das Grundentgelt den Vergleich sehr unterschiedlicher Tätigkeiten bezogen auf deren etwaige Gleichwertigkeit und einen etwaigen Anspruch auf gleiches Entgelt (vgl. etwa EuGH 30. März 2000 – C-236/98 – [JämO] zur Möglichkeit des Vergleichs der Tätigkeit von Hebammen und Krankenhausingenieuren; 27. Oktober 1993 – C-127/92 – [Enderby] zur Möglichkeit des Vergleichs der Tätigkeit einer Logopädin, eines klinischen Psychologen und eines leitenden Apothekers), als auch bezogen auf eine Entlohnung nach Stückzahl und damit für die Leistungsbewertung (vgl. etwa EuGH 31. Mai 1995 – C-400/93 – [Royal Copenhagen] zur Möglichkeit des Vergleichs bei unterschiedlicher Tätigkeit in der Porzellanherstellung). Ein solcher Rechtsanspruch, der dem deutschen Recht nicht vertraut war, ließ sich nicht mit der erforderlichen Klarheit allein aus der Gesamtschau von § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 8 Abs. 2 AGG erkennen.
60
(ff) Eine Umsetzung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. e sowie von Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG in das nationale Recht war auch nicht deshalb entbehrlich, weil diesen Vorgaben bereits im allgemeinen rechtlichen Kontext, insbesondere im Verfassungsrecht Genüge getan wurde. Das war nicht der Fall.
61
(aaa) Zwar haben die Gerichte teilweise aus Art. 3 Abs. 2 GG, wonach Männer und Frauen gleichberechtigt sind und der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt, und aus Art. 3 Abs. 3 GG, wonach niemand wegen ua. seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden darf, den Anspruch auf gleiches Entgelt bei gleicher Arbeit abgeleitet (vgl. etwa BAG 11. September 1974 – 5 AZR 567/73 – zu I 2 der Gründe mwN; 15. Januar 1955 – 1 AZR 305/54 – BAGE 1, 258). Jedoch ist dieser Rechtsanspruch für die von den Richtlinienbestimmungen Begünstigten schon nicht ohne weiteres deutlich erkennbar.
62
(bbb) Zudem enthalten diese Bestimmungen keine Vorgaben, die den näheren Festlegungen bzw. Bestimmungen in Art. 2 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/54/EG zum Begriff „Entgelt“, in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG „in Bezug auf sämtliche Entgeltbestandteile und -bedingungen“ und in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG betreffend die Vorgaben zu „System[en] beruflicher Einstufung“ entsprechen würden. Auch der Rechtsanspruch auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit geht jedenfalls nicht unmissverständlich aus Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG hervor.
63
(b) Die zwingend erforderliche Umsetzung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. e sowie von Art. 4 der Richtlinie 2006/54/EG in das innerstaatliche Recht erfolgte in Deutschland erst mit § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 4, § 5 Abs. 1 sowie § 7 EntgTranspG. Dies belegt im Übrigen auch die Gesetzesbegründung des EntgTranspG, in der es heißt, das EntgTranspG setze die Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG „ausdrücklich um“ – was sodann näher erläutert wird – und präzisiere sie anhand der Vorgaben der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Auslegung der Richtlinie 2006/54/EG (BT-Drs. 18/11133 S. 45; vgl. auch ebenda S. 28).
64
(aa) Das Recht aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54/EG auf für Frauen und Männer gleiches Entgelt bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit wurde zum einen mit § 3 Abs. 1 EntgTranspG in das innerstaatliche Recht umgesetzt. Danach ist bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts im Hinblick auf sämtliche Entgeltbestandteile und Entgeltbedingungen verboten. Zum anderen darf nach § 7 EntgTranspG für gleiche oder für gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechts der oder des Beschäftigten ein geringeres Entgelt vereinbart oder gezahlt werden als bei einer oder einem Beschäftigten des anderen Geschlechts.
65
Soweit davon in § 4 Abs. 3 EntgTranspG eine Ausnahme vorgesehen ist, nach der Beschäftigte in unterschiedlichen Rechtsverhältnissen nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG (wie beispielsweise Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einerseits, Beamtinnen und Beamte des Bundes andererseits) untereinander nicht als vergleichbar bzw. als in einer vergleichbaren Situation befindlich angesehen werden können, dürfte dies zwar nicht den Vorgaben der Richtlinie 2006/54/EG, die einen solchen Ausschluss nicht enthalten, entsprechen. Eine in diesem Punkt ggf. ungenügende Richtlinienumsetzung ändert jedoch nichts an dem Befund, dass erst mit dem EntgTranspG überhaupt eine Umsetzung erfolgt ist.
66
(bb) Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG wurde mit § 4 Abs. 4 EntgTranspG umgesetzt. Darin ist ua. geregelt, dass dann, wenn der Arbeitgeber ein Entgeltsystem (bzw. nach der Richtlinie ein „System beruflicher Einstufung“) verwendet, dieses System auf für weibliche und männliche Beschäftigte gemeinsamen Kriterien beruhen und so ausgestaltet sein muss, dass eine Benachteiligung wegen des Geschlechts ausgeschlossen ist.
67
(cc) Art. 2 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/54/EG wurde mit § 5 Abs. 1 EntgTranspG in das innerstaatliche Recht umgesetzt. Danach bezeichnet „Entgelt“ iSd. EntgTranspG alle Grund- oder Mindestarbeitsentgelte sowie alle sonstigen Vergütungen, die unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden.
68
(c) Das EntgTranspG sieht für den Auskunftsanspruch nach § 10 EntgTranspG keinen von § 5 Abs. 2 EntgTranspG abweichenden besonderen persönlichen Anwendungsbereich vor. Vielmehr ist in § 5 Abs. 2 EntgTranspG ein einheitlicher persönlicher Anwendungsbereich („Beschäftigte im Sinne dieses Gesetzes sind …“) für das gesamte EntgTranspG bestimmt, von dem der Auskunftsanspruch nach § 10 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG nicht ausgenommen ist. Im Gegenteil, nach § 12 Abs. 1 EntgTranspG besteht der Anspruch nach § 10 EntgTranspG für Beschäftigte nach § 5 Abs. 2 EntgTranspG (in Betrieben mit in der Regel mehr als 200 Beschäftigten bei demselben Arbeitgeber).
69
(d) Nach alledem ist § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass er Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitnehmerbegriffs der Richtlinie 2006/54/EG erfasst, weshalb auch arbeitnehmerähnliche Personen im Sinne des nationalen Rechts Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG sein können.
70
(aa) Im Unionsrecht gibt es keinen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff, vielmehr hängt die Bedeutung dieses Begriffs vom jeweiligen Anwendungsbereich ab (EuGH 13. Januar 2004 – C-256/01 – [Allonby] Rn. 63; 12. Mai 1998 – C-85/96 – [Martínez Sala] Rn. 31).
71
(bb) Die Vorschriften der Richtlinie 2006/54/EG zur Geschlechtergleichbehandlung beim Entgelt beziehen sich auf das Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis (vgl. ua. Art. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/54/EG) und das Entgelt, das der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses (vgl. ua. Art. 2 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/54/EG) dem Arbeitnehmer (vgl. ua. Art. 2 Abs. 1 Buchst. e und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG) zahlt.
72
(cc) Die Rechtsvorschriften des Unionsrechts über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen haben nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union allgemeine Bedeutung und umfassen beispielsweise auch öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse (vgl. EuGH 2. Oktober 1997 – C-1/95 – [Gerster] Rn. 18; 21. Mai 1985 – 248/83 – [Kommission/Deutschland] Rn. 16 zu ua. den Vorgänger-Richtlinien der Richtlinie 2006/54/EG: Richtlinie 75/117 und Richtlinie 76/207). Der Arbeitnehmerbegriff iSd. Bestimmungen zum gleichen Entgelt der Richtlinie 2006/54/EG kann nicht je nach nationalem Recht unterschiedlich verstanden werden; er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. Dabei besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. entsprechend zur Arbeitnehmereigenschaft eines Mitglieds der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft bezogen auf die Richtlinie 92/85/EWG EuGH 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 39; zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH 3. Juli 1986 – 66/85 – [Lawrie-Blum] Rn. 16 f.; zum Grundsatz des gleichen Entgelts für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen EuGH 13. Januar 2004 – 256/01 – [Allonby] Rn. 67; sowie – ebenfalls – im Zusammenhang mit der Richtlinie 92/85/EWG EuGH 20. September 2007 – C-116/06 – [Kiiski] Rn. 25).
73
Danach ist es nicht von Belang, ob das Beschäftigungsverhältnis nach nationalem Recht ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis ist (EuGH 2. Oktober 1997 – C-1/95 – [Gerster] Rn. 18; 21. Mai 1985 – 248/83 – [Kommission/Deutschland] Rn. 16) oder ein Rechtsverhältnis sui generis. Sofern eine Person die vorstehend unter Rn. 72 angeführten Voraussetzungen erfüllt, ist die Art der Rechtsbeziehung zwischen ihr und der anderen Partei des Arbeits-/Vertragsverhältnisses für die Anwendung der Bestimmungen zum gleichen Entgelt der Richtlinie 2006/54/EG ohne Bedeutung (vgl. entsprechend im Zusammenhang der Richtlinie 92/85/EWG EuGH 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 39 mit Nachweisen bezogen auf andere Bestimmungen des Unionsrechts).
74
(dd) Eine Auslegung von § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG dahin, dass hierdurch der persönliche Anwendungsbereich für „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ iSd. Bestimmungen der Richtlinie 2006/54/EG eröffnet wird, erfolgt auch nicht contra legem. Dies ergibt sich bereits daraus, dass nach dem Wortlaut und der Gesetzesbegründung von § 5 Abs. 2 EntgTranspG unklar ist, ob freie Mitarbeiter oder arbeitnehmerähnliche Personen von der Bestimmung erfasst werden.
75
cc) Die Klägerin ist als freie Mitarbeiterin der Beklagten „Arbeitnehmerin“ iSd. Arbeitnehmerbegriffs der Richtlinie 2006/54/EG und damit auch iSv. § 5 Abs. 2 Nr. 1 EntgTranspG.
76
Die Klägerin erbringt für die Beklagte nach deren Weisung Leistungen, für die sie als Gegenleistung eine in einem Tarifvertrag geregelte Vergütung erhält. Nach dem Vertrag der Parteien vom 5. Juli 2011 ist die Klägerin bei der Beklagten in der Chefredaktion als Redakteurin mit besonderer Verantwortung tätig. In § 2 des Vertrags ist ein Einsatzort festgelegt, nämlich M. Zudem ist eine zeitweise „Versetzung“ nach B vereinbart. Darüber hinaus sind weitergehende Versetzungsrechte der Beklagten vorgesehen. In § 2 des Vertrags ist ferner eine Beschäftigung mit vertraglich vereinbarter wöchentlicher Arbeitszeit von montags bis freitags geregelt, wobei die Beklagte das Recht hat, die Verteilung der Arbeitszeit der Klägerin anders zu regeln, wenn betriebliche Interessen dies erfordern. Nach den vertraglichen Vereinbarungen hat die Klägerin ihre Tätigkeit zudem in Abstimmung und nach den Vorgaben der Leitung des jeweiligen Funktionsbereichs auszuüben. Aus § 3 des Vertrags ergibt sich darüber hinaus, dass die Weisungsbefugnis der Beklagten über die Tätigkeit der Klägerin so weit geht, dass eine „außerdienstliche[…] Nebentätigkeit“ einer Zustimmung der Beklagten bedarf. Letztlich kommt hinzu, dass die Klägerin diverse Anwesenheitspflichten treffen. So muss sie zu feststehenden Zeiten vor und nach der Sendung anwesend sein und an von der Beklagten festgelegten Konferenzen teilnehmen. All diese Abreden belegen, dass die Klägerin ihre Leistungen nach den Weisungen der Beklagten iSd. Arbeitnehmerbegriffs der Bestimmungen zum gleichen Entgelt der Richtlinie 2006/54/EG erbringt.
77
c) Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts erweist sich – soweit es um den Klageantrag zu 1. geht – auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis zutreffend. Die Klägerin kann von der Beklagten nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG Auskunft zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung iSv. § 11 Abs. 2 EntgTranspG für die Festlegung ihres Entgelts sowie für die Festlegung des Entgelts der nach dem Honorarband IV Redaktionelle Tätigkeiten iSv. § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis vergüteten männlichen Redakteure der Beklagten in der Redaktion F und den sonstigen Redaktionen der Dienststelle B der Beklagten verlangen. Über die Aktivlegitimation der Klägerin hinaus sind sämtliche weiteren Voraussetzungen für den Anspruch nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG auf Auskunft zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung erfüllt.
78
aa) Darüber, dass die Dienststelle B der Beklagten die nach § 12 Abs. 1 EntgTranspG erforderliche Größe aufweist, besteht unter den Parteien kein Streit.
79
bb) Die Klägerin hat die Vergleichstätigkeit den Anforderungen von § 10 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG entsprechend benannt.
80
Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG sind an die Angabe der Vergleichstätigkeit – wie unter Rn. 34 ausgeführt – keine strengen Anforderungen zu stellen. Die Klägerin hat die nach dem Honorarband IV Redaktionelle Tätigkeiten iSv. § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis vergüteten männlichen Redakteure der Beklagten in der Redaktion F und den sonstigen Redaktionen der Dienststelle B der Beklagten als Vergleichsgruppe benannt. Dabei hat sie sich ersichtlich daran orientiert, was die Tarifvertragsparteien des TV 2. Kreis als gleiche bzw. gleichwertige Tätigkeit vorgegeben haben. Damit hat sie den Vorgaben von § 10 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG entsprechend eine gleiche oder gleichwertige Tätigkeit (Vergleichstätigkeit) benannt.
81
cc) Die Klägerin hat ihr Auskunftsverlangen mit Schreiben vom 1. August 2018 den Anforderungen des § 10 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG entsprechend formgerecht mitgeteilt.
82
Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG hat das Auskunftsverlangen in Textform zu erfolgen. Damit ist eine Auskunft in Textform nach § 126b BGB gemeint (vgl. auch BT-Drs. 18/11133 S. 58). Die Wahrung der Schriftform des § 126 Abs. 1 BGB ist nicht erforderlich, aber ausreichend. Danach hat die Klägerin ihr Auskunftsverlangen mit Schreiben vom 1. August 2018 formgerecht abgegeben. Die Person der Klägerin ist aus dem Schreiben erkennbar und die Form ist durch die gewählte Schriftform (mit erfolgter Unterschrift) gewahrt.
83
dd) Es kann dahinstehen, ob die Klägerin, die ihr Auskunftsbegehren vom 1. August 2018 an den bei der Beklagten am Standort M gebildeten „Personalrat der Zentrale“ gerichtet hatte, das Verlangen an den „richtigen“ Adressaten iSv. § 14 EntgTranspG gesandt hatte. Ebenso offenbleiben kann, ob die Beklagte ggf. die bei ihr Beschäftigten den Anforderungen von § 14 EntgTranspG entsprechend darüber informiert hatte, an wen diese sich mit ihrem Auskunftsbegehren wenden sollten und wer es beantworten würde. Eine den Regelungen des § 14 EntgTranspG nicht entsprechende Adressierung ihres Auskunftsverlangens hätte für die Klägerin keine nachteiligen rechtlichen Folgen. Dies ergibt eine Auslegung der in §§ 14 und 15 EntgTranspG zum Verfahren der Auskunftserteilung getroffenen Regelungen.
84
(1) Das Verfahren der Auskunftserteilung richtet sich im Fall der Klägerin nach § 14 EntgTranspG (Verfahren bei tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern), der aufgrund der Verweisung in § 16 EntgTranspG entsprechend zur Anwendung kommt. Bei der Beklagten handelt es sich um einen tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgeber. Danach hätte die Klägerin ihr Auskunftsverlangen unter Umständen grundsätzlich an den Personalrat richten müssen, § 14 Abs. 1 EntgTranspG. Insoweit könnte allerdings fraglich sein, ob für das Auskunftsbegehren der Klägerin der bei der Beklagten in M gebildete „Personalrat der Zentrale“ oder der Personalrat in B zuständig gewesen wäre. Möglicherweise – hierzu hat das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen getroffen – hatte aber auch die Beklagte selbst die Auskunftsverpflichtung übernommen. Dann wäre das Auskunftsersuchen ggf. an diese zu richten gewesen.
85
(2) Ob die Klägerin ihr Auskunftsverlangen an den zuständigen Adressaten iSv. § 14 EntgTranspG gerichtet hatte, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Eine den Regelungen des § 14 EntgTranspG nicht entsprechende Adressierung ihres Auskunftsbegehrens hätte für die Klägerin keine nachteiligen rechtlichen Folgen. Die Auslegung der in den §§ 14 und 15 EntgTranspG zum Verfahren der Auskunftserteilung getroffenen Bestimmungen ergibt, dass eine unzutreffende Adressierung des Auskunftsverlangens durch die Beschäftigten die Ordnungsgemäßheit des Verlangens nicht in Frage stellt. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber die Beschäftigten darüber informiert hatte, an wen diese sich mit ihrem Auskunftsbegehren wenden sollen und wer es beantworten wird.
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(a) Die in den §§ 14 und 15 EntgTranspG getroffenen Bestimmungen sehen ein ausdifferenziertes, mit umfangreichen wechselseitigen Informationspflichten ausgestattetes Kooperationsmodell zwischen dem Arbeitgeber auf der einen Seite und dem Betriebs- bzw. Personalrat (vgl. hierzu § 16 EntgTranspG) oder Vertreterinnen und Vertretern der zuständigen Tarifvertragsparteien nach § 6 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG auf der anderen Seite vor, nach dem die Aufgabe der Auskunftserteilung nicht starr auf nur einen Akteur festgelegt ist, sondern wechseln kann.
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(aa) § 14 EntgTranspG regelt das Verfahren zum Auskunftsanspruch für tarifgebundene und tarifanwendende Arbeitgeber.
88
Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG wenden sich Beschäftigte tarifgebundener und tarifanwendender Arbeitgeber für ihr Auskunftsverlangen nach § 10 EntgTranspG an den Betriebsrat. Dabei verweist § 14 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG für das nähere Verfahren auf § 13 EntgTranspG und mithin auf die Regelungen zum Einblicksrecht des Betriebsausschusses in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter der im Betrieb Beschäftigten (zu diesem Einblicksrecht BAG 7. Mai 2019 – 1 ABR 53/17 – BAGE 166, 309). § 14 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG legt sodann fest, dass der Betriebsrat den Arbeitgeber in den Fällen des Satzes 1 über eingehende Auskunftsverlangen in anonymisierter Form und umfassend zu informieren hat. Nach § 14 Abs. 1 Satz 4 EntgTranspG kann der Betriebsrat – abweichend von Satz 1 – verlangen, dass der Arbeitgeber die Auskunftsverpflichtung übernimmt. Damit kann der Betriebsrat die Beantwortung dem Arbeitgeber überlassen, wenn es diesem aufgrund der Umstände des Einzelfalls geboten erscheint.
89
§ 14 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG bestimmt, dass abweichend von § 14 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG der Arbeitgeber die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung nach § 11 Abs. 1 EntgTranspG generell oder in bestimmten Fällen übernehmen kann, wenn er die Gründe dafür dem Betriebsrat zuvor erläutert hat. Übernimmt der Arbeitgeber die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung, hat er nach § 14 Abs. 2 Satz 3 EntgTranspG seinerseits den Betriebsrat umfassend und rechtzeitig über eingehende Auskunftsverlangen zu informieren. Des Weiteren hat er den Betriebsrat über seine Antwort zu informieren. Nach § 14 Abs. 2 Satz 4 EntgTranspG sind die Beschäftigten über die Entscheidung, wer für die Auskunftserteilung zuständig ist, in allgemein zugänglicher Weise zu informieren.
90
§ 14 Abs. 3 Satz 1 EntgTranspG regelt schließlich den Fall, dass im Betrieb kein Betriebsrat besteht, der Arbeitgeber jedoch tarifgebunden nach § 5 Abs. 4 oder tarifanwendend nach § 5 Abs. 5 EntgTranspG ist. In diesen Fällen wenden sich die Beschäftigten mit ihrem Auskunftsverlangen nach § 10 EntgTranspG an den Arbeitgeber. Nach § 14 Abs. 3 Satz 2 EntgTranspG informiert der Arbeitgeber in den Fällen des Satzes 1 die Vertreterinnen und Vertreter der zuständigen Tarifvertragsparteien nach § 6 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG über seine Antwort zu eingegangenen Auskunftsverlangen. § 14 Abs. 3 Satz 3 EntgTranspG bestimmt, dass der Arbeitgeber und die zuständigen Vertreterinnen und Vertreter der Tarifvertragsparteien vereinbaren können, dass letztere den Auskunftsanspruch beantworten. In diesem Fall informiert der Arbeitgeber diese umfassend und rechtzeitig über eingehende Auskunftsverlangen, § 14 Abs. 3 Satz 4 EntgTranspG. Nach § 14 Abs. 3 Satz 5 EntgTranspG sind die Beschäftigten jeweils darüber zu informieren, wer die Auskunft erteilt.
91
(bb) § 15 EntgTranspG regelt das Verfahren zum Auskunftsanspruch für nicht tarifgebundene und nicht tarifanwendende Arbeitgeber.
92
Nach § 15 Abs. 1 EntgTranspG wenden sich Beschäftigte nicht tarifgebundener und nicht tarifanwendender Arbeitgeber für ihr Auskunftsverlangen nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG an den Arbeitgeber. § 15 Abs. 2 EntgTranspG regelt sodann den Fall, dass ein Betriebsrat besteht. In einem solchen Fall gilt § 14 Abs. 1 und Abs. 2 EntgTranspG entsprechend.
93
(b) Der Gesetzgeber wollte mit dem von ihm in den §§ 14 und 15 EntgTranspG bestimmten Kooperationsmodell zwischen dem Arbeitgeber auf der einen Seite und dem Betriebs- bzw. Personalrat oder Vertreterinnen und Vertreter der zuständigen Tarifvertragsparteien auf der anderen Seite nicht etwa das Verfahren der Auskunftserteilung für die Beschäftigten erschweren; das wäre mit dem Ziel, das er mit der Schaffung des EntgTranspG und der Einführung eines individuellen Auskunftsanspruchs verfolgt, nicht vereinbar. Die Schaffung des EntgTranspG sollte dazu beitragen, unmittelbare und vor allem mittelbare Entgeltdiskriminierung effektiv zu beseitigen und zu verhindern (BT-Drs. 18/11133 S. 2). Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/11133 S. 22) ist der Auskunftsanspruch teleologisch auf die Herstellung der Entgeltgleichheit für gleiche oder gleichwertige Arbeit ausgerichtet. Er dient dem Zweck, die Durchsetzung des Anspruchs auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit zu erleichtern. Dies war aus Sicht des Gesetzgebers geboten, da Beschäftigte kaum Zugang zu Informationen hatten, die einen eventuellen Verstoß des Arbeitgebers gegen das Entgeltgleichheitsgebot belegen oder widerlegen konnten. Der individuelle Auskunftsanspruch soll insoweit eine Unterstützung bieten, um dieses Informationsdefizit der Beschäftigten abzubauen.
94
Mit den Regelungen in den §§ 14 und 15 EntgTranspG über die konkrete Ausgestaltung des Auskunftsverfahrens wollte der Gesetzgeber vielmehr nur sicherstellen, dass die Verantwortung für eine transparente und faire Entgeltgestaltung, insbesondere die Arbeitsbewertung, bei den Tarifvertragsparteien bleibt, diese aber gleichzeitig nicht aus der Verantwortung entlassen werden, Entgeltgleichheit zu gewährleisten. Zudem sollten die Aufgaben und Rechte der betrieblichen Interessenvertretungen in Bezug auf die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern konkretisiert und gestärkt werden. Insoweit werden die Arbeitgeber und die betrieblichen Interessenvertretungen zur Wahrnehmung ihrer sozialpartnerschaftlichen Verantwortung aufgefordert, ihre Vergütungsstrukturen zu überprüfen und das Gebot der Entgeltgleichheit entsprechend zu gestalten (BT-Drs. 18/11133 S. 3).
95
Da der Gesetzgeber mit der Normierung der wechselseitigen Informationspflichten in §§ 14 und 15 EntgTranspG zudem hinreichend Vorsorge dafür getroffen hat, dass alle beteiligten Akteure stets über eingehende Auskunftsverlangen unterrichtet und damit in der Lage sind, entsprechend den Regelungen in den §§ 14 und 15 EntgTranspG zu verfahren, können die Beschäftigten sich für ihren Auskunftsanspruch – je nach Fallgestaltung – selbst dann, wenn sie darüber informiert wurden, an wen sie sich mit ihrem Auskunftsbegehren wenden sollen und wer es beantworten wird, nicht nur an den Arbeitgeber, sondern auch an den Betriebs- bzw. Personalrat wenden (vgl. auch BT-Drs. 18/11133 S. 61). Im Übrigen trägt die Einbeziehung des Betriebs- bzw. Personalrats dazu bei, dass die Beschäftigten von der Geltendmachung ihres Auskunftsanspruchs nicht deshalb absehen, weil sie sich gegenüber dem Arbeitgeber nicht offenbaren wollen. Dies wird durch die in § 14 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG getroffene Bestimmung bestätigt, wonach der Betriebsrat den Arbeitgeber über eingehende Auskunftsverlangen nur in anonymisierter Form informieren darf. Ob die Beschäftigten sich mit ihrem Auskunftsbegehren an den „zuständigen“ Betriebs- bzw. Personalrat wenden, ist nach alledem ohne Belang.
96
ee) Die Klägerin hat ihren Auskunftsanspruch im Einklang mit der Übergangsvorschrift des § 25 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG mit Schreiben vom 1. August 2018 erst nach Ablauf von mehr als sechs Kalendermonaten nach dem 6. Juli 2017 angebracht.
97
ff) Die Klägerin hat ihre Klage auf Auskunftserteilung – entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten – auch zutreffend gegen die Beklagte gerichtet. Diese schuldet die Erteilung der Auskunft und ist damit passivlegitimiert.
98
Dies folgt bereits daraus, dass der individuelle Auskunftsanspruch der Beschäftigten nach § 10 EntgTranspG teleologisch auf die Verwirklichung des Entgeltgleichheitsanspruchs von Männern und Frauen ausgerichtet ist. Der Auskunftsanspruch dient – wie unter Rn. 93 ausgeführt – dem Zweck, die Durchsetzung des Anspruchs auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit zu erleichtern. Die Verpflichtung nach § 3 Abs. 1 bzw. § 7 EntgTranspG, bei Beschäftigungsverhältnissen für gleiche oder für gleichwertige Arbeit nicht wegen des Geschlechts der oder des Beschäftigten ein geringeres Entgelt zu vereinbaren oder zu zahlen, trifft den Arbeitgeber als Vertragspartei des/der Beschäftigten und nicht den Betriebs- oder Personalrat. Schon vor diesem Hintergrund ist ein Gleichlauf zwischen der letztlichen Verantwortung für die Auskunftserteilung und einer etwa späteren Entgeltgleichheitsklage, die sich naturgemäß gegen den Arbeitgeber als Schuldner des Entgelts richtet, geboten. Aus den in den §§ 14 und 15 EntgTranspG getroffenen Bestimmungen folgt schon deshalb nichts Abweichendes, weil diese nur das außergerichtliche Verfahren der Auskunftserteilung regeln, wobei es selbst insoweit – wie unter Rn. 83 ff. ausgeführt – nicht zulasten der Beschäftigten geht, wenn diese ihr Auskunftsersuchen nicht an den sich im Einzelfall aus den §§ 14 und 15 EntgTranspG sowie aus etwaigen Informationen des Arbeitgebers ergebenden Adressaten richten.
99
d) Nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 EntgTranspG erstreckt sich die Auskunftsverpflichtung zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung auf die Information über die Festlegung des Entgelts des/der Auskunft verlangenden Beschäftigten sowie des Entgelts für die Vergleichstätigkeit. Demgemäß kann die Klägerin Auskunft verlangen zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung für die Festlegung ihres Entgelts sowie für die Festlegung des Entgelts der – ebenso wie die Klägerin – nach dem Honorarband IV Redaktionelle Tätigkeiten iSv. § 2 Abs. 2 Buchst. b TV 2. Kreis vergüteten männlichen Redakteure der Beklagten in der Redaktion F und den sonstigen Redaktionen der Dienststelle B der Beklagten. Im Einklang mit § 10 iVm. § 16 EntgTranspG, wonach sich der Anspruch auf Betriebe bzw. Dienststellen des öffentlichen Dienstes mit in der Regel mehr als 200 Beschäftigten bezieht, beansprucht die Klägerin die Auskunft bezogen auf die Dienststelle B der Beklagten.
100
5. Aufgrund der vom Landesarbeitsgericht bislang getroffenen Feststellungen kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob auch die Klage mit dem Antrag zu 2. begründet ist, dh. ob die Klägerin auch einen Anspruch auf Erteilung von Auskunft über das Vergleichsentgelt hat. Insoweit war die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
101
a) Zwar ist die Klägerin ebenso aktivlegitimiert für den Anspruch auf Auskunft über das Vergleichsentgelt (zur Aktivlegitimation der Klägerin vgl. die Ausführungen unter Rn. 39 ff.). Auch ist die Beklagte insoweit passivlegitimiert (zur Passivlegitimation der Beklagten vgl. die Ausführungen unter Rn. 97 f.). Die Klägerin hat ihr Auskunftsverlangen über das Vergleichsentgelt zudem den gesetzlichen Vorgaben entsprechend angebracht (vgl. hierzu die Ausführungen unter Rn. 81 f., 96). Aufgrund der vom Landesarbeitsgericht bislang getroffenen Feststellungen kann der Senat allerdings nicht abschließend beurteilen, ob die Vergleichstätigkeit entsprechend § 12 Abs. 3 EntgTranspG von wenigstens sechs Beschäftigten des anderen Geschlechts ausgeübt wird. Hierzu wird das Landesarbeitsgericht noch Feststellungen zu treffen haben.
102
aa) Nach § 11 Abs. 3 EntgTranspG erstreckt sich die Auskunftsverpflichtung in Bezug auf das Vergleichsentgelt auf die Angabe des Entgelts für die Vergleichstätigkeit (Vergleichsentgelt). Das Vergleichsentgelt ist anzugeben als auf Vollzeitäquivalente hochgerechneter statistischer Median des durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelts sowie der benannten Entgeltbestandteile, jeweils bezogen auf ein Kalenderjahr. Dafür ist in Fällen des – hier einschlägigen – § 14 EntgTranspG das Vergleichsentgelt der Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts anzugeben, die – wie hier – in die gleiche Entgeltgruppe eingruppiert sind wie die Auskunft verlangende Person.
103
bb) Allerdings ist nach § 12 Abs. 3 EntgTranspG bei der Beantwortung eines Auskunftsverlangens der Schutz personenbezogener Daten der auskunftverlangenden Beschäftigten sowie der vom Auskunftsverlangen betroffenen Beschäftigten zu wahren. Deshalb ist das Vergleichsentgelt nicht anzugeben, wenn die Vergleichstätigkeit von weniger als sechs Beschäftigten des jeweils anderen Geschlechts ausgeübt wird. Dazu, ob dies der Fall ist, fehlt es im Berufungsurteil – aus der Sicht des Landesarbeitsgerichts konsequent – an Feststellungen.
104
b) Im Übrigen hält der Senat im Hinblick auf die in § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG getroffene Regelung, wonach die Klägerin Auskunft zu dem durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelt nach § 5 Abs. 1 EntgTranspG und zu bis zu zwei einzelnen Entgeltbestandteilen verlangen kann, die folgenden weiterführenden Hinweise für geboten:
105
aa) Der Anspruch nach § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG auf Angabe des durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelts „nach § 5 Absatz 1“ bezieht sich auf das gesamte Bruttoeinkommen. Das durchschnittliche monatliche Bruttoentgelt bedeutet dabei, dass der Begriff des Entgelts umfassend (BT-Drs. 18/11133 S. 60) iSd. § 5 Abs. 1 EntgTranspG zu verstehen ist, also alle Grund- oder Mindestarbeitsentgelte sowie alle sonstigen Vergütungen umfasst, die unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden. Dabei stellt das durchschnittliche monatliche Entgelt das arithmetische Mittel des kalenderjährlichen Entgelts dar. Bei Sachleistungen, wie zum Beispiel einem Dienstwagen oder einem Betriebskitaplatz, sind entsprechend die finanziellen Werte dieser Leistungen anzusetzen (BT-Drs. 18/11133 S. 60). Die Angabe des durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelts erfolgt nach § 11 Abs. 3 EntgTranspG als auf Vollzeitäquivalente hochgerechneter statistischer Median des durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelts.
106
bb) Die Formulierung „einzelne Entgeltbestandteile“ in § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG verdeutlicht, dass neben dem durchschnittlichen monatlichen Bruttoentgelt auch der Median nur einzelner Entgeltbestandteile erfragt werden kann (BT-Drs. 18/11133 S. 58). Die Begrenzung auf „bis zu zwei einzelne Entgeltbestandteile“ dient dazu, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Recht der Beschäftigten auf individuelle Auskunft und dem damit einhergehenden Aufwand für den Arbeitgeber, den Betriebs- oder Personalrat bzw. die Vertreterinnen und Vertreter der zuständigen Tarifvertragsparteien (BT-Drs. 18/11133 S. 58). Die Anfrage kann sich insoweit auf den statistischen Median von bis zu zwei einzelnen Entgeltbestandteilen beziehen. Dies kann beispielsweise die Nachfrage nach einer Leistungszulage oder einer Erschwerniszulage sein (BT-Drs. 18/11133 S. 60). Wie sich aus dem korrespondierenden Einblicksrecht des vom Betriebsrat gebildeten Betriebsausschusses in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter nach § 13 Abs. 2 und Abs. 3 EntgTranspG ergibt, kann (nacheinander) nach allen Entgeltbestandteilen gefragt werden, unabhängig davon, welcher Natur sie sind. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob sie auf kollektivrechtlicher Grundlage, aufgrund arbeitsvertraglicher Einheitsregelung, kraft individueller Aushandlung im Einzelfall oder aufgrund eines betrieblichen Gehaltsschemas zu zahlen sind (BT-Drs. 18/11133 S. 63). Dementsprechend heißt es in § 13 Abs. 3 EntgTranspG, dass in den Entgeltlisten „alle Entgeltbestandteile enthalten [sein müssen] einschließlich übertariflicher Zulagen und solcher Zahlungen, die individuell ausgehandelt und gezahlt werden“.
107
cc) Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten geht das Auskunftsbegehren der Klägerin zu den einzelnen Entgeltbestandteilen – in der gebotenen Auslegung ihres Antrags – nicht über die Vorgaben von § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG hinaus, wonach Auskunft nur „zu bis zu zwei einzelnen Entgeltbestandteilen“ verlangt werden kann.
108
Zwar begehrt die Klägerin ausweislich ihres in der Revisionsinstanz formulierten Antrags zu 2., ihr Auskunft zu erteilen einerseits über „alle außertariflichen und tariflichen Zulagen mit Bezug zur Tätigkeit (Thema, Schwere, Qualität der Leistung usw.)“ und andererseits über „alle außertariflichen und tariflichen Zulagen ohne Bezug zur Tätigkeit (Ortswechsel, soziale Härte usw.)“, hilfsweise über „Leistungsentgelte bzw. Leistungsprämien“ und „Zulagen für besondere Tätigkeiten (zB besondere inhaltliche Themenbearbeitung)“. Damit verlangt sie allerdings keine Auskunft über das in § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG Vorgesehene hinaus.
109
(1) Die/der Beschäftigte gibt durch die von ihr/ihm getroffene Auswahl an Entgeltbestandteilen den Gegenstand der Auskunft vor (zutreffend Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 10 EntgTranspG Rn. 28).
110
(2) Dabei kann gezielt nach Entgeltbestandteilen gefragt werden, bei denen eine Ungleichbehandlung vermutet wird (vgl. auch BT-Drs. 18/11133 S. 58). Es ist aber auch möglich, vergleichbare Entgeltbestandteile zu einer Gruppe zusammenzufassen (zutreffend Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 10 EntgTranspG Rn. 28). Der Arbeitgeber muss dann den statistischen Median der Gruppe angeben und diesen aufgeschlüsselt erläutern.
111
Eine solche Auslegung des Begriffs „einzelne Entgeltbestandteile“ in § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG ist geboten, um das vom Gesetzgeber mit dem Auskunftsanspruch verfolgte Ziel effektiv zu erreichen. Wie unter Rn. 93 ausgeführt, ist der Auskunftsanspruch teleologisch auf die Herstellung der Entgeltgleichheit für gleiche oder gleichwertige Arbeit ausgerichtet. Er dient dem Zweck, die Durchsetzung des Anspruchs auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit zu erleichtern. Dies erfordert ein gruppenbezogenes Verständnis des Begriffs „einzelne Entgeltbestandteile“ im og. Sinne. Andernfalls könnten Beschäftigte, die über keine näheren Informationen verfügen, nur „ins Blaue hinein“ Auskunft über etwaige Entgeltbestandteile verlangen oder müssten sich zunächst auf einen Anspruch auf Auskunft zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung nach § 11 Abs. 1 EntgTranspG beschränken, mit der Folge, dass Ansprüche auf Auskunft über einzelne Entgeltbestandteile erst nach entsprechender Auskunft zu den Kriterien und Verfahren der Entgeltfindung geltend gemacht werden könnten. Mit dieser Auslegung von § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG wird auch nicht der vom Gesetzgeber mit der Begrenzung des Auskunftsanspruchs auf bis zu zwei einzelne Entgeltbestandteile bezweckte Ausgleich zwischen dem Recht der Beschäftigten auf individuelle Auskunft und dem damit einhergehenden Aufwand für den Arbeitgeber, den Betriebs- oder Personalrat bzw. die Vertreterinnen und Vertreter der zuständigen Tarifvertragsparteien in Frage gestellt.
112
(3) Danach geht das mit dem Klageantrag zu 2. geltend gemachte Auskunftsbegehren der Klägerin zu den einzelnen Entgeltbestandteilen dem Umfang nach nicht über das hinaus, was die Klägerin nach § 10 Abs. 1 Satz 3 EntgTranspG beanspruchen kann.
113
Der Klageantrag zu 2. ist insoweit – in der gebotenen Auslegung – auf Erteilung von Auskunft über nicht mehr als zwei einzelne Entgeltbestandteile gerichtet, nämlich über „Zulagen mit Bezug zur Tätigkeit“ und „Zulagen ohne Bezug zur Tätigkeit“. Damit bezieht sich die Klägerin auf nicht mehr als zwei Gruppen vergleichbarer Zulagen, wobei es insoweit nicht darauf ankommt, wie die Leistung von der Beklagten bezeichnet wird. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um der Sache nach vergleichbare Entgeltbestandteile handelt. Deshalb sind vom Auskunftsbegehren der Klägerin auch etwaige anders bezeichnete vergleichbare Entgeltbestandteile erfasst, zB Zuschläge. Soweit die Klägerin sich jeweils auf außertarifliche und tarifliche Zulagen bezieht, hat dies keine eigenständige Bedeutung. Sie stellt damit lediglich klar, dass es ihr auf die etwaige Anspruchsgrundlage der Zulagen nicht ankommt.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Lüken
Wroblewski |
bag_18-18 | 11.04.2018 | 11.04.2018
18/18 - Dynamische Bezugnahmeklausel - Änderung durch Betriebsvereinbarung
Eine individualvertraglich vereinbarte Vergütung nach tariflichen Grundsätzen kann durch eine Betriebsvereinbarung nicht zu Lasten des Arbeitnehmers abgeändert werden.
Der Kläger ist seit 1991 bei der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin als Masseur in einem Senioren- und Pflegezentrum beschäftigt. In einer Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag von Dezember 1992 verständigte sich die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit dem Kläger auf eine Reduzierung der Arbeitszeit. In der Vereinbarung heißt es, die Vergütung betrage „monatlich in der Gruppe BAT Vc/3 = DM 2.527,80 brutto“. Im Februar 1993 schlossen die Rechtsvorgängerin der Beklagten und der bei ihr gebildete Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung. Danach sollten in ihrem Anwendungsbereich „analog die für die Angestellten des Bundes und der Länder vereinbarten Bestimmungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrages – BAT vom 11. Januar 1961″ gelten. Ihre Bestimmungen sollten automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen werden, die vor Februar 1993 geschlossen worden waren. Die betroffenen Arbeitnehmer sollten einen entsprechenden Nachtrag zum Arbeitsvertrag erhalten. Einen solchen Nachtrag unterzeichneten die Rechtsvorgängerin der Beklagten und der Kläger im März 1993. Die Beklagte kündigte die Betriebsvereinbarung zum 31. Dezember 2001. Im März 2006 vereinbarten die Parteien im Zusammenhang mit einer Arbeitszeiterhöhung, dass das Gehalt „entsprechend der 0,78 Stelle auf 1.933,90 Euro erhöht“ werde und „alle übrigen Bestandteile des bestehenden Arbeitsvertrages … unverändert gültig“ blieben. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme Vergütung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für die kommunalen Arbeitgeber geltenden Fassung (TVöD/VKA) bzw. dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) zu. Die Beklagte meint, eine dynamische Bezugnahme auf die vom Kläger herangezogenen Tarifwerke liege nicht vor.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts war erfolgreich. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger nach der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten. Der Kläger und die Rechtsvorgängerin der Beklagten haben die Vergütung nach den jeweils geltenden Regelungen des BAT und nachfolgend des TVöD/VKA arbeitsvertraglich vereinbart. Die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1993 vermochte diese Vereinbarung nicht abzuändern. Ungeachtet der Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung unterlag die arbeitsvertragliche Vergütungsabrede bereits deshalb nicht der Abänderung durch eine kollektivrechtliche Regelung, weil es sich bei der Vereinbarung der Vergütung nicht um eine allgemeine Geschäftsbedingung, sondern um eine individuell vereinbarte, nicht der AGB-Kontrolle unterworfene Regelung der Hauptleistungspflicht handelte. Die vom Landesarbeitsgericht aufgeworfene Frage der – generellen – Betriebsvereinbarungsoffenheit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Arbeitsverträgen bedurfte deshalb keiner Entscheidung.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 11. April 2018 – 4 AZR 119/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 25. Oktober 2016 – 8 Sa 500/16 – | Tenor
I. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 25. Oktober 2016 – 8 Sa 500/16 – aufgehoben.
II. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 25. Mai 2016 – 6 Ca 541/16 – abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 22.435,42 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 5.485,32 Euro seit dem 1. Februar 2016 sowie aus 16.950,10 Euro seit dem 15. April 2016 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten.
III. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Leitsatz
In einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag geregelte Arbeitsbedingungen sind schon dann nicht – konkludent – „betriebsvereinbarungsoffen“ ausgestaltet, wenn und soweit die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbart haben, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen. Das ist bei einer einzelvertraglich vereinbarten – dynamischen – Verweisung auf einen Tarifvertrag stets der Fall.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Anwendung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD/VKA), hilfsweise des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) und sich daraus ergebende Entgeltansprüche.
2
Der im Jahr 1966 geborene Kläger ist seit dem 1. September 1991 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgänger als Masseur beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 30. September 1991 (im Folgenden Arbeitsvertrag 1991) heißt es ua.:
„§ 2 Vergütung
Der Arbeitnehmer erhält
eine monatliche Vergütung von DM 3.151,02 brutto
…
§ 7 Arbeitsordnung
Die als Anlage beigefügte Arbeitsordnung ist Bestandteil des Arbeitsvertrages. Darüber hinaus gelten alle betrieblichen Regelungen, sofern in diesem Arbeitsvertrag keine andere Vereinbarung getroffen ist, sowie die Bestimmungen des allgemeinen Arbeitsrechts.
§ 8 Ausschluß- und Einspruchsfristen
Alle Ansprüche, die sich aus diesem Vertrag ergeben, erlöschen 3 Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sofern sie nicht vorher schriftlich geltend gemacht worden sind.“
3
Am 16. Dezember 1992 schlossen die Arbeitsvertragsparteien eine Zusatzvereinbarung (im Folgenden Zusatzvereinbarung 1992), die auszugsweise wie folgt lautet:
„… wird mit Wirkung zum 01.01.1993 in gegenseitigen Einvernehmen folgende Vereinbarung getroffen:
1.
Die wöchentliche Arbeitszeit in der 4,5-Tage-Woche beträgt 30 Stunden und setzt sich wie folgt zusammen:
…
2.
Die Vergütung für die vereinbarte Tätigkeit beträgt monatlich in der Gruppe BAT Vc / 3 = DM 2.527,80 brutto.
…“
4
Am 17. Februar 1993 schloss der Rechtsvorgänger der Beklagten mit dem bei ihm für den Betrieb gebildeten Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur Regelung der arbeitsrechtlichen Verhältnisse für die Angestellten, Arbeiter/-innen und Auszubildenden der Einzelfirma S (im Folgenden Betriebsvereinbarung 1993). Diese lautet auszugsweise:
„§ 1 Geltungsbereich
Diese Betriebsvereinbarung gilt für alle Angestellten, Arbeiter/-innen und Auszubildenden des S, mit Ausnahme der geringfügig Beschäftigten.
§ 2 Lohn- und Vergütungsrichtlinien
1. Für die Angestellten nach § 1 dieser Betriebsvereinbarung gelten analog die für die Angestellten des Bundes und der Länder vereinbarten Bestimmungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrages – BAT – vom 11. Januar 1961.
…
4. Änderungen beziehungsweise Ergänzungen der Bestimmungen der Absätze 1 … treten zu dem Zeitpunkt in Kraft, in denen die Änderungen beziehungsweise Ergänzungen für Angestellte … des Bundes und der Länder wirksam werden.
5. Absatz 4 gilt sinngemäß für die in den Absätzen 1 … genannten Bestimmungen, die außer Kraft treten.
§ 3 Sonderregelungen
1. Anwendung des Rahmentarifvertrages BAT (und die diesen ändernden Vorschriften) mit Ausnahme folgender Paragraphen:
§ 3, § 6, § 15a, § 16, § 17, § 25, § 35, § 36, § 37, § 39, § 40, § 41, § 42, § 43, § 44, § 46, § 49, § 55, § 56, § 62, § 63, § 64, § 65, § 69 und § 74.
…
§ 4 Inkrafttreten und Laufzeit
1. Diese Betriebsvereinbarung ist unbefristet und tritt am 01.01.1993 rückwirkend in Kraft.
2. Die Betriebsvereinbarung kann mit einer Frist von 3 Monaten zum Quartalsende, frühestens zum 31.12.1993 gekündigt werden.
§ 5 Schlußbestimmungen
Die Bestimmungen dieser Betriebsvereinbarung werden automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen, die vor dem Abschlußdatum dieser Vereinbarung geschlossen worden sind.
Die betroffenen Arbeitnehmer/innen erhalten einen entsprechenden Nachtrag zum Arbeitsvertrag.“
5
Im März 1993 erhielt der Kläger ein Schreiben des Rechtsvorgängers der Beklagten, das er unterzeichnete (im Folgenden Nachtrag 1993 AV). Dort heißt es ua.:
„Betr.: Betriebsvereinbarung vom Februar 1993
Nachtrag zum Arbeitsvertrag
Die Bestimmungen der o.g. Betriebsvereinbarung wurden mit deren Inkrafttreten automatisch Bestandteil Ihres Arbeitsvertrages.
Alle in der Betriebsvereinbarung getroffenen Bestimmungen setzen die entsprechenden Regelungen des Arbeitsvertrages außer Kraft. Alle Vertragsbestimmungen, die durch diese Betriebsvereinbarung nicht geregelt sind, werden durch diesen Nachtrag nicht berührt und behalten ihre Gültigkeit.
Die Betriebsvereinbarung hängt zur Zeit noch am Schwarzen Brett aus und kann später in der Personalabteilung eingesehen werden.
Zum Zeichen der Kenntnisnahme und Ihres Einverständnisses bitten wir Sie, die beigefügte Kopie unterschrieben an uns zurückzugeben.“
6
Am 22. März 1995 schlossen der Rechtsvorgänger der Beklagten und der Kläger eine weitere Zusatzvereinbarung (im Folgenden Zusatzvereinbarung 1995), in der es ua. heißt:
„1. Wöchentliche Arbeitszeit von 23 Stunden in der 5-Tage-Woche: …
…
2. Die Vergütung für die vereinbarte Tätigkeit beträgt monatlich in der Gruppe BAT Vc 2.150,27 DM brutto.
3. Der Urlaub beträgt in der 5-Tage-Woche 26 Urlaubstage im Kalenderjahr.
4. Die Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag vom 16.12.1992 wird mit in Kraft treten dieser Zusatzvereinbarung unwirksam.
5. Alle anderen Vertragsbestandteile bleiben von dieser Zusatzvereinbarung unberührt und behalten ihre Gültigkeit.“
7
Die Betriebsvereinbarung 1993 wurde mit Schreiben vom 27. September 2001 zum 31. Dezember 2001 gekündigt.
8
Am 23. März 2006 vereinbarten die Parteien erneut eine Änderung zum Arbeitsvertrag. Dort heißt es ua.:
„1. Ab dem 01.06.2006 beträgt der Stellenanteil 0,78 VK, das entspricht einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden in der 5 Tage/Woche.
2. Das Gehalt wird entsprechend der 0,78 Stelle auf 1.933,90 € erhöht.
3. Die Zusatzvereinbarung vom 22.03.1995 wird mit dieser Änderung unwirksam.
4. Alle übrigen Bestandteile des bestehenden Arbeitsvertrages bleiben unverändert gültig.“
9
Von 2005 bis 2010 enthielten die Entgeltabrechnungen des Klägers einen Hinweis auf „Vb Stufe 09“. Seit Juni 2006 erhält der Kläger monatlich 1.933,90 Euro brutto, weitere Gehaltserhöhungen gab es nicht. Zudem gewährte die Beklagte Nachtzuschläge iHv. 1,28 Euro, Samstagszuschläge von 0,64 Euro, Sonntagszuschläge von 3,71 Euro und Feiertagszuschläge von 5,19 Euro je Stunde.
10
Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 25. November 2015 machte der Kläger gegenüber der Beklagten Vergütung nach dem TVöD für den Zeitraum ab Mai 2015 geltend und bezifferte den monatlichen Mehrbetrag zunächst mit 479,55 Euro. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2015 wies die Beklagte die Ansprüche zurück.
11
Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst Entgeltansprüche iHv. 5.903,76 Euro brutto sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Vergütung nach Entgeltgruppe 9 TV-L und hilfsweise Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA begehrt. Im weiteren Verlauf des Rechtsstreits hat er nach teilweiser Klagerücknahme und weiteren Klageerweiterungen für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Juli 2015 auf der Grundlage der Differenz zwischen dem monatlich gezahlten und dem tariflichen Entgelt in monatlich unterschiedlicher, aber rechnerisch unstreitiger Höhe die Zahlung von insgesamt 22.435,42 Euro brutto sowie – unter Austausch von Haupt- und Hilfsantrag in der Revision – die Feststellung der Vergütungsverpflichtung der Beklagten nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA, hilfsweise der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TV-L geltend gemacht.
12
Der Kläger hat – zuletzt – die Auffassung vertreten, er habe Anspruch auf Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA, hilfsweise der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TV-L. Die Zusatzvereinbarungen 1992 und 1995 zu seinem Arbeitsvertrag enthielten mit ihrer dynamischen Bezugnahme eine Verweisung auf die Vergütungsordnung des Bundes-Angestelltentarifvertrags (BAT) und nach deren Ablösung auf die des TVöD/VKA, dessen Tabelle die Beklagte auch zuletzt ihren Abrechnungen zugrunde gelegt habe, hilfsweise auf die des TV-L. Die dynamische Anwendung der Tarifwerke des öffentlichen Dienstes sei weder durch die Betriebsvereinbarung 1993 noch durch den Nachtrag 1993 AV beendet worden. Die freiwillige Betriebsvereinbarung 1993 sei unwirksam, da es im Pflegebereich tarifvertragliche Arbeitsbedingungen sowie mittlerweile die Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche gebe. Zudem habe sie zum 31. Dezember 2001 aufgrund der Kündigung ohne Nachwirkung geendet. Der Nachtrag 1993 AV habe keine konstitutive vertragliche Wirkung. Ausschlussfristen fänden keine Anwendung.
13
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 22.435,42 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 5.485,32 Euro seit dem 1. Februar 2016 sowie aus 16.950,10 Euro seit dem 15. April 2016 zu zahlen;
2.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten, hilfsweise
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TV-L Tarifgebiet West zu vergüten.
14
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat – zuletzt – die Auffassung vertreten, weder der Arbeitsvertrag 1991 noch die Zusatzvereinbarungen 1992 und 1995 enthielten eine dynamische Bezugnahme auf die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes. Diese Zusatzvereinbarungen seien aufgehoben und spätestens durch die Änderung des Arbeitsvertrags von März 2006 ersetzt worden, nach der der Kläger für seine Tätigkeit ein festes Bruttomonatsgehalt erhalten sollte. Die Erhöhungen in der Vergangenheit seien aufgrund der von der Beklagten eingegangenen Verpflichtungen nach der Betriebsvereinbarung 1993 und nicht freiwillig erfolgt. Im Übrigen habe die Betriebsvereinbarung 1993 mögliche einzelvertragliche Regelungen dauerhaft verdrängt und zulässigerweise die – vertraglich vereinbarte – Vergütung abgeändert, womit der Kläger auch durch Unterzeichnung des Nachtrags 1993 AV sein Einverständnis erklärt habe. Ferner seien etwaige Ansprüche des Klägers verfallen.
15
Das Arbeitsgericht hat die Klage – auch hinsichtlich der erstinstanzlich zurückgenommenen Feststellungsanträge – abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren unter Austausch von – bisherigem – Haupt- und Hilfsfeststellungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
16
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Vorinstanzen haben die zulässige Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung und die geltend gemachte Zahlung einschließlich der Zinsen.
17
A. Die Klage ist hinsichtlich des zuletzt gestellten Haupt- und Hilfsfeststellungsantrags als sog. Elementenfeststellungsklage (sh. nur BAG 1. Juli 2009 – 4 AZR 261/08 – Rn. 26 ff., BAGE 131, 176; 22. Oktober 2008 – 4 AZR 784/07 – Rn. 11 mwN, BAGE 128, 165) zulässig.
18
I. Die Feststellungsanträge betreffen vorrangig die Vergütungsverpflichtung der Beklagten nach den jeweiligen Entgelttabellen des TVöD/VKA bzw. TV-L und nicht die – im Anwendungsfall nicht umstrittene – Zuordnung der Tätigkeit des Klägers zu einem bestimmten Tätigkeitsmerkmal der jeweiligen Vergütungsordnung. Auch die Anwendung eines Teils eines Tarifvertrags, wie hier der Vergütungsordnung, kann Gegenstand eines Feststellungsantrags sein (vgl. zB zur Anwendung einer Arbeitszeitregelung eines Tarifvertrags BAG 1. Juli 2009 – 4 AZR 261/08 – Rn. 26 ff., BAGE 131, 176).
19
II. Die Umstellung von Haupt- und Hilfsantrag in der Revisionsinstanz steht der Zulässigkeit der Feststellungsanträge nicht entgegen.
20
1. Zwar ist eine Antragsänderung in der Revisionsinstanz grundsätzlich ausgeschlossen. Antragsänderungen können aber aus prozessökonomischen Gründen zugelassen werden, wenn es sich dabei um Fälle des § 264 Nr. 2 ZPO handelt und der neue Sachantrag sich auf den in der Berufungsinstanz festgestellten Sachverhalt und auf den unstreitigen Parteivortrag stützt. Dies trifft bei einem Wechsel von Haupt- und Hilfsantrag regelmäßig zu (BAG 19. September 2006 – 1 ABR 58/05 – Rn. 11; 11. Februar 1992 – 1 ABR 49/91 – zu B I der Gründe, BAGE 69, 302). Mit ihm ist jedenfalls dann keine Erweiterung des bisherigen Prüfprogramms verbunden, wenn über den bisherigen Hilfsantrag in der Vorinstanz bereits entschieden worden ist (BAG 17. November 2010 – 4 AZR 118/09 – Rn. 12 mwN).
21
2. Etwas anderes gilt im Streitfall auch nicht deshalb, weil das Arbeitsgericht dem Kläger die Feststellungsansprüche unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO aberkannt hatte.
22
a) Nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist ein Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. Entsprechendes gilt, wenn das Gericht dem Kläger einen Anspruch abspricht, den dieser nicht erhoben hat (BAG 15. April 2015 – 4 AZR 796/13 – Rn. 21, BAGE 151, 235).
23
b) Der Kläger hat die Feststellungsanträge in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht wirksam zurückgenommen. Dadurch entfiel deren Rechtshängigkeit rückwirkend (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Die gleichwohl erfolgte Abweisung der Anträge durch das Arbeitsgericht stellt daher einen Verstoß gegen § 308 ZPO dar.
24
c) Die Erweiterung der Klage um die Feststellungsanträge in der Berufungsinstanz war zulässig. Zwar hat das Landesarbeitsgericht in seiner Entscheidung übersehen, dass es sich bei den Feststellungsanträgen um eine Klageerweiterung handelt und entsprechend deren Zulässigkeit nicht geprüft. Über die Zulässigkeit der Klageänderung in der Berufungsinstanz ist jedoch auch im Revisionsverfahren nach dem Maßstab des § 533 ZPO zu entscheiden (BAG 14. Juni 2017 – 10 AZR 308/15 – Rn. 38; 12. Juli 2016 – 9 AZR 51/15 – Rn. 44).
25
aa) Nach § 533 ZPO ist eine Klageänderung nur zulässig, wenn der Gegner einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält und diese auf Tatsachen gestützt werden kann, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat.
26
bb) Die Einwilligung der Beklagten iSv. § 533 Nr. 1 ZPO zur Klageerweiterung liegt gem. § 525 Satz 1, § 267 ZPO vor, da sie sich rügelos auf die Klageerweiterung eingelassen hat.
27
cc) Die Klageerweiterung wird iSv. § 533 Nr. 2 ZPO auf Tatsachen gestützt, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hatte. Für den Erfolg des Leistungsantrags waren dieselben Tatsachen maßgebend wie für den Erfolg der Feststellungsanträge.
28
B. Die – zuletzt nur noch auf arbeitsvertragliche Ansprüche gestützte – Klage ist hinsichtlich des als Hauptantrag gestellten Feststellungsantrags begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten. Der Hilfsantrag fällt deshalb nicht mehr zur Entscheidung an.
29
I. Im Ausgangspunkt hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen, Ziff. 2 der Zusatzvereinbarung 1992, nach der „die Vergütung … monatlich in der Gruppe BAT Vc / 3 = DM 2.527,80 brutto“ beträgt, sei als eine zeitdynamische Bezugnahme auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT zu verstehen.
30
1. Die Zusatzvereinbarung 1992 ist – ebenso wie der Arbeitsvertrag 1991 – ein Formularvertrag, dessen Bestimmungen nach den Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen auszulegen sind (zu den Maßstäben sh. nur BAG 14. Dezember 2011 – 4 AZR 28/10 – Rn. 29 mwN). Die Auslegung von typischen Vertragsklauseln ist der uneingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich (st. Rspr. des BAG, zB BAG 7. Dezember 2016 – 4 AZR 414/14 – Rn. 21; 19. März 2003 – 4 AZR 331/02 – zu I 2 a der Gründe, BAGE 105, 284).
31
2. Bei Anwendung dieser Auslegungsregeln ergibt sich aus der vertraglichen Vereinbarung eine dynamische Verweisung auf die entsprechenden Bestimmungen des BAT.
32
a) Die pauschale Bezugnahme im Arbeitsvertrag auf tarifliche Vergütungsbestimmungen ohne Angabe einer konkret nach Datum festgelegten Fassung des in Bezug genommenen Tarifvertrags ist regelmäßig dynamisch zu verstehen. Ein zusätzliches Indiz hierfür kann sein, wenn im Arbeitsvertrag der Entgeltbetrag aufgeführt wird, der dem Tarifgehalt bei Abschluss des Arbeitsvertrags im Wesentlichen entspricht. Nur wenn es eindeutige Hinweise für eine statische Bezugnahme gibt, kann von dieser Auslegungsregel abgewichen werden (st. Rspr., vgl. nur BAG 7. Dezember 2016 – 4 AZR 414/14 – Rn. 25; 25. Februar 2015 – 5 AZR 481/13 – Rn. 15, jeweils mwN).
33
b) Danach haben die Parteien in Ziff. 2 der Zusatzvereinbarung 1992 die Vergütung zeitdynamisch, orientiert an den Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des BAT vereinbart. Dazu gehört auch die Tarifautomatik, §§ 22, 23 BAT.
34
aa) Die Arbeitsvertragsparteien haben in der Zusatzvereinbarung 1992 die Vergütungsgruppe ausdrücklich bezeichnet und überdies – ohne dass dies entscheidend wäre – eine konkrete Summe genannt, die nach dem unbestrittenen Vortrag des Klägers dem Tabellenentgelt der angegebenen Vergütungsgruppe des BAT entsprach.
35
bb) Die Bezugnahmeklausel enthält nicht nur einen Verweis auf die ausdrücklich genannte VergGr. Vc BAT, sondern zugleich auf die gesamte Vergütungsordnung einschließlich der Tarifautomatik. Anhaltspunkte dafür, die Arbeitsvertragsparteien hätten dauerhaft eine Vergütung nach der VergGr. Vc BAT unabhängig von der konkreten Tätigkeit und gar ohne die tariflich vorgesehene Möglichkeit des Bewährungsaufstiegs vereinbaren wollen, sind nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Beklagte den Kläger ausweislich der Entgeltbescheinigungen zumindest in den Jahren 2005 bis 2010, dh. auch noch lange nach Kündigung der Betriebsvereinbarung sogar nach der von ihm durch Bewährungsaufstieg erfüllten VergGr. Vb BAT vergütet.
36
II. Die dynamische Bezugnahme auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT aus der Zusatzvereinbarung 1992 ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts in der Folgezeit weder durch die Betriebsvereinbarung 1993 noch durch individuelle Vereinbarungen zwischen den Parteien abgelöst oder verdrängt worden.
37
1. Aus einer normativen Wirkung der Betriebsvereinbarung 1993 ergibt sich für den Streitzeitraum keine Änderung der vertraglichen Bezugnahmeregelung.
38
a) Die Betriebsvereinbarung 1993 war zum 31. Dezember 2001 gekündigt worden. Ihre unmittelbare und zwingende Wirkung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) endete zu diesem Zeitpunkt. Auf die Frage ihrer Wirksamkeit kommt es daher in diesem Zusammenhang nicht an.
39
b) Die beendete Betriebsvereinbarung entfaltete im Arbeitsverhältnis der Parteien auch keine Nachwirkung, die eine solche Änderung hätte bewirken können.
40
aa) Betriebsvereinbarungen wirken nach ihrem Ablauf nach, soweit sie Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung betreffen (§ 77 Abs. 6 BetrVG). Freiwillige Betriebsvereinbarungen wirken nicht nach. Bei einer Betriebsvereinbarung mit teilweise mitbestimmten Regelungen sind die einzelnen Regelungskomplexe getrennt zu behandeln. Eine Nachwirkung erfolgt dann nur hinsichtlich der Angelegenheiten, die der zwingenden Mitbestimmung unterliegen (BAG 10. Dezember 2013 – 1 ABR 39/12 – Rn. 17 mwN, BAGE 147, 19). Sinn der Nachwirkung nach § 77 Abs. 6 BetrVG ist – zumindest auch – die kontinuierliche Wahrung betriebsverfassungsrechtlicher Mitbestimmungsrechte. Sind solche nicht betroffen, bedarf es der Nachwirkung nicht (BAG 26. August 2008 – 1 AZR 354/07 – Rn. 16, BAGE 127, 297).
41
bb) Soweit hier überhaupt eine zwingende Wirkung der Betriebsvereinbarung auf die vertragliche Abrede bzgl. der Anwendung der Vergütungsordnung des BAT in Betracht kommt, wäre sie als die Höhe des vertraglichen Entgelts unmittelbar bestimmende Regelung nicht einem Tatbestand des Katalogs von § 87 Abs. 1 BetrVG, insbesondere der Nr. 10, zuzuordnen (bspw. BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 12/15 – Rn. 23; 5. Mai 2015 – 1 AZR 435/13 – Rn. 15, jeweils mwN).
42
2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die vertragliche Verweisung auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT auch nicht durch eine auf vertraglicher Ebene wirkende Einbeziehung der Betriebsvereinbarung 1993 abgelöst oder abgeändert worden.
43
a) Das Landesarbeitsgericht ist zum einen davon ausgegangen, die Betriebsvereinbarung 1993 habe den Arbeitsvertrag der Parteien dahin geändert, dass die bis dahin geltende dynamische Verweisung auf die Vergütungsordnung des BAT durch die in der Betriebsvereinbarung 1993 enthaltene eigenständige betriebliche Vergütungsordnung abgelöst worden sei. Zum anderen hat es angenommen, mit dem Nachtrag 1993 AV hätten die Parteien sich rechtsgeschäftlich ausdrücklich auf die Anwendung der Betriebsvereinbarung 1993 auf ihr Arbeitsverhältnis geeinigt.
44
aa) Das Landesarbeitsgericht hat den Arbeitsvertrag dahingehend ausgelegt, dass die Parteien mit der Regelung in Ziff. 2 der Zusatzvereinbarung 1992 konkludent vereinbart hätten, die dynamische Anwendung des BAT solle grundsätzlich einer Änderung durch Betriebsvereinbarung unterliegen (UA S. 10 f., unter b aa). Es hat sich hierfür auf „Grundsätze nach BAG“ (BAG 5. März 2013 – 1 AZR 417/12 – Rn. 60) gestützt. Danach mache der Arbeitgeber mit der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollten. Der Abschluss von „betriebsvereinbarungsfesten Abreden“ schränke den Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien für zukünftige Anpassungen von Arbeitsbedingungen mit kollektivem Bezug ein. Deshalb sei für einen „verständigen und redlichen Arbeitnehmer“ nicht zweifelhaft, dass die vom Arbeitgeber vertraglich gestellten Arbeitsbedingungen einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich seien. Etwas anderes gelte lediglich dann, wenn die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich Bedingungen vereinbarten, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollten. Dies sei hier nicht geschehen. Die „Angleichung und Synchronisierung“ der betrieblichen mit einer tariflich vereinbarten, für den Betrieb aber nicht einschlägigen Vergütungsordnung besitze geradezu exemplarisch kollektiven Charakter.
45
bb) In der Sache hat das Berufungsgericht sich dann weiter auf eine rechtsgeschäftlich ausdrücklich vereinbarte Anwendung der Betriebsvereinbarung 1993 berufen, nachdem der Kläger mit der Unterzeichnung des Nachtrags 1993 AV sein Einverständnis hiermit erklärt habe. Dabei stützt sich das Landesarbeitsgericht in erster Linie auf den Wortlaut des Schreibens, wonach alle in der Betriebsvereinbarung 1993 getroffenen Bestimmungen die entsprechenden Regelungen des Arbeitsvertrags „außer Kraft“ setzten (UA S. 12, unter b cc). Auch sei die Vereinbarung nicht unklar iSv. § 305c Abs. 2 BGB, weshalb für die dort bestimmte Auslegungsregel kein Raum sei.
46
b) Beide Annahmen des Landesarbeitsgerichts sind rechtsfehlerhaft.
47
aa) Dies gilt zunächst für die Annahme, der Arbeitsvertrag der Parteien sei allein durch die gewählte Form eines Formulararbeitsvertrags „betriebsvereinbarungsoffen“, weshalb die vertragliche Verweisung auf die Vergütungsordnung des BAT durch die Betriebsvereinbarung 1993 abgelöst worden sei.
48
(1) Der Senat hat bereits grundsätzlich erhebliche Bedenken, in den Erklärungen und dem Verhalten der Parteien zwei sich auch hinsichtlich der vom Landesarbeitsgericht angenommenen konkludent vereinbarten „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ deckende Willenserklärungen zu erkennen.
49
(a) Rechtsgeschäftliche Willenserklärungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts grundsätzlich nach einem objektivierten Empfängerhorizont auszulegen. Dabei haben die Motive des Erklärenden, soweit sie nicht in dem Wortlaut der Erklärung oder in sonstiger, für die Gegenseite hinreichend deutlich erkennbarer Weise ihren Niederschlag finden, außer Betracht zu bleiben. Es besteht keine Verpflichtung des Erklärungsempfängers, den Inhalt oder den Hintergrund des ihm regelmäßig formularmäßig gemachten Angebots durch Nachfragen aufzuklären. Kommt der Wille des Erklärenden nicht oder nicht vollständig zum Ausdruck, gehört dies zu dessen Risikobereich. Die Regelung eines Vertrags über eine entgeltliche Leistung beschränkt sich im Allgemeinen auf die Bestimmung von Leistung und Gegenleistung. Die Motive, aus denen jeder der Partner den Vertrag schließt, sind für die Rechtsfolgen des Vertrags grundsätzlich unbeachtlich, weil sie nicht Teil der vertraglichen Vereinbarung selbst sind (BAG 25. Oktober 2017 – 4 AZR 375/16 – Rn. 35; 18. April 2007 – 4 AZR 652/05 – Rn. 30 mwN, BAGE 122, 74).
50
(b) In Anwendung dieser Grundsätze hat der erkennende Senat die frühere Rechtsprechung zur Auslegung von Verweisungsklauseln als sog. „Gleichstellungsabrede“ verworfen. Nach dieser – aufgegebenen – Rechtsprechung bedingte die „soziotypische Situation“ eines Arbeitnehmers bei Vertragsschluss mit einem tarifgebundenen Arbeitgeber das „Wissen“ darum, dass eine im Vertrag enthaltene dynamische Verweisung auf einen Tarifvertrag notwendig – konkludent – die auflösende Bedingung beinhaltete, diese Dynamik solle im Fall des Wegfalls der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers enden. Dieses „Wissen“ sei dann auch Inhalt der mit der Unterschrift von ihm selbst abgegebenen Willenserklärung. Diese Rechtsprechung hat der Senat mit der Begründung aufgegeben, dass der Bedeutungsinhalt von arbeitsvertraglichen Erklärungen in erster Linie anhand des Wortlauts zu ermitteln ist, und es bei dessen Eindeutigkeit im Grundsatz keiner weiteren Heranziehung von Auslegungsfaktoren bedarf (BAG 18. April 2007 – 4 AZR 652/05 – Rn. 31, BAGE 122, 74; sh. auch Thüsing/Lambrich RdA 2002, 193, 198 f.; Annuß ZfA 2005, 405, 423; Bayreuther DB 2007, 166). Insbesondere kann aus der „soziotypischen Situation“ allein kein den Erklärungsinhalt bedingender Vorbehalt geschlossen werden, wenn er sich nicht auch im Wortlaut niedergeschlagen hat. Nur bei Vorliegen konkreter Tatsachen, die im Einzelfall Zweifel an der wortgetreuen Auslegung der getroffenen Vereinbarung begründen können, weil sie für beide Seiten erkennbar den Inhalt der jeweils abgegebenen Willenserklärungen in einer sich im Wortlaut nicht niederschlagenden Weise beeinflusst haben, könnte ein Anlass bestehen, die Wortlautauslegung in Frage zu stellen. Die möglichen Motive der Erklärung des Antragenden können – gerade bei vom Arbeitgeber gestellten Formularverträgen – nur dann zur Auslegung der Annahmeerklärung herangezogen werden, wenn sie zweifelsfrei und unmissverständlich für den Arbeitnehmer erkennbar sind und als Bestandteil seiner eigenen zustimmenden Erklärung angesehen werden müssen. Gerade im Licht der AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB) ist für die Auslegung nicht der jeweilige – unterstellte – Wille der am Rechtsgeschäft beteiligten Vertragspartner, sondern in erster Linie der Vertragswortlaut entscheidend (Preis Der Arbeitsvertrag 5. Aufl. I C Rn. 30a mwN).
51
(c) Für die Annahme, ein („redlicher und verständiger“) Arbeitnehmer müsse auch ohne irgendeinen Hinweis in einem ihm vorgelegten Arbeitsvertragsentwurf davon ausgehen, das Vertragsangebot des Arbeitgebers stünde in jeder Hinsicht unter dem Vorbehalt einer Abänderbarkeit – insbesondere auch einer Verschlechterungsmöglichkeit – durch eine Betriebsvereinbarung, weil er nicht damit rechnen könne, dass ihm andere Arbeitsbedingungen zugestanden würden, als sie im Betrieb „gelten“, gibt es keine Anhaltspunkte. Ein Arbeitnehmer, der einen vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag als Antrag iSv. § 145 BGB vorgelegt bekommt, kann zwar ggf. noch erkennen, dass es sich um einen Formularvertrag handelt. Dabei ist für ihn aber schon nicht mehr erkennbar, ob das vom Arbeitgeber verwandte Vertragsexemplar nur für ihn entworfen ist oder ob es den betriebsüblichen Vertragsformulierungen entspricht, die der Arbeitgeber in der Gegenwart oder Vergangenheit für andere und ggf. wieviele Arbeitsverhältnisse mit welchem Anteil an der gesamten Belegschaft oder eines Teils davon verwandt hat. Allein hieraus auf eine Vereinheitlichungsabsicht des Arbeitgebers schließen zu müssen, ist nicht einmal naheliegend, erst recht weder zwingend noch durch die Gesamtumstände geboten, zumal schon völlig unklar ist, ob und warum ein Arbeitgeber überhaupt eine eventuelle Vereinheitlichungsabsicht hat und diese allein durch die Verwendung von von ihm vorformulierten Arbeitsbedingungen zum – erkennbaren – Ausdruck bringen wollte, obwohl ihm als Verwender jede andere Möglichkeit offen gestanden hätte. Die Annahme, der Arbeitnehmer müsse davon ausgehen, ein ihm gegenüber nicht mitgeteilter, aber konkreter und im Ergebnis außerordentlich bedeutungsvoller „Vertragsinhalt“ sei Gegenstand seiner eigenen Willensbildung und durch die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags auch Inhalt der von ihm selbst abgegebenen Willenserklärung, ist eine bloße Fiktion. Eine solche hätte überdies die paradoxe Folge, dass allein durch die Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, deren gesetzliche Kontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB dem schwächeren Vertragspartner gerade zusätzlichen Schutz gewähren soll, die ausdrücklich vereinbarten einzelnen Vertragsbedingungen konkludent zur Disposition der Betriebsparteien gestellt würden. Dass ein Arbeitnehmer dies – ggf. sogar hinsichtlich der Höhe der ihm versprochenen Vergütung und des Inhalts der von ihm zugesicherten Arbeitspflicht – allein durch die Entgegennahme und Unterzeichnung des vorformulierten Arbeitsvertrags und ohne jede Erwähnung bei den Vertragsverhandlungen oder schriftliche Aufnahme in den Arbeitsvertrag erklären will, erscheint dem erkennenden Senat nicht nachvollziehbar.
52
(d) Angesichts der mit dem Schutz der Betroffenen begründeten hohen Anforderungen an eine Individualabrede iSv. § 305b BGB (vgl. dazu nur HWK/Roloff 8. Aufl. § 305b BGB Rn. 1: „Dies ist dann der Fall, wenn sie zu den AGB in unmittelbarem oder direktem Widerspruch stehen“, mwN) fällt praktisch jeder Arbeitsvertrag als Allgemeine Geschäftsbedingung unter die Kontrolle der §§ 305 ff. BGB und erfüllt damit die Voraussetzungen der „soziotypischen Situation“ der Annahme einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“. Soweit nur Arbeitsbedingungen „mit kollektivem Bezug“ von der Veränderbarkeit durch Betriebsvereinbarungen erfasst sein sollen, ist diese Bedingung per definitionem auf der Vertragsseite bereits durch die Annahme der Bedeutung und Wirkungsweise Allgemeiner Geschäftsbedingungen erfüllt und ausdrückliche Voraussetzung für die Anknüpfung an eine Vereinheitlichungsabsicht des Arbeitgebers. Auf der anderen Seite müssen die die Vertragslage unmittelbar ändernden Betriebsvereinbarungen ohnehin kollektiven Charakter haben. Da nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts außerhalb von § 77 Abs. 3 BetrVG Arbeitsbedingungen aller Art, auch solche, die die Hauptleistungspflicht unmittelbar bestimmen, durch Betriebsvereinbarungen nach § 88 BetrVG festgelegt werden können (BAG 12. Dezember 2006 – 1 AZR 96/06 – Rn. 14 ff., BAGE 120, 308; Fitting 29. Aufl. § 77 Rn. 45 ff.; krit. Richardi BetrVG 16. Aufl. § 77 Rn. 74; Preis in Wlotzke/Preis/Kreft BetrVG 4. Aufl. § 77 Rn. 18), kann die grundsätzliche Annahme einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ in diesem Rahmen zu dem Ergebnis führen, dass sämtliche im Arbeitsvertrag ausdrücklich vereinbarten Abreden der Parteien durch die Betriebsparteien abgeändert werden könnten. Das wiederum würde bedeuten, dass aus kollektiven Mindestarbeitsbedingungen im Ergebnis Höchstarbeitsbedingungen würden, die, soweit sie Hauptleistungspflichten betreffen, noch nicht einmal der Inhaltskontrolle ieS unterworfen wären (arg. § 307 Abs. 3 BGB; Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG).
53
(e) Auch mit Blick auf das Recht der AGB-Kontrolle unterliegt diese Sichtweise nach Auffassung des Senats erheblichen Bedenken.
54
(aa) Die „konkludente“ Vereinbarung einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ – ihr Vorliegen unterstellt – wäre ihrerseits selbst eine Allgemeine Geschäftsbedingung iSv. §§ 305 ff. BGB. Der Arbeitgeber legte danach dem Arbeitnehmer nicht nur die ausdrücklichen Arbeitsbedingungen in vorformulierter Form zur Unterzeichnung vor, sondern zusätzlich regelmäßig den in dieser Form enthaltenen, allerdings ungeschriebenen Vorbehalt einer Verschlechterung der ausdrücklich formulierten Arbeitsbedingungen durch eine Betriebsvereinbarung. Damit wäre auch die bei einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ angenommene konkludente Vertragsklausel vom Arbeitgeber gestellt. Mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitnehmer würde sie zunächst – als ungeschriebene Klausel – Bestandteil jedes in der Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarten Arbeitsvertrags. Sie unterläge damit der gesetzlich vorgesehenen Kontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB, wie es auch für eine mündlich vereinbarte Allgemeine Geschäftsbedingung allgemein angenommen worden ist (zB BAG 16. Mai 2012 – 5 AZR 331/11 – Rn. 12 ff., BAGE 141, 324; 27. August 2008 – 5 AZR 820/07 – Rn. 20 ff., BAGE 127, 319; Clemenz in Clemenz/Kreft/Krause AGB-Arbeitsrecht § 305 BGB Rn. 20; vgl. für weitere Privatrechtsbereiche Ulmer/Habersack in Ulmer/Brandner/Hensen AGB-Recht 12. Aufl. § 305 BGB Rn. 36, mit zahlr. Nachw. aus der Rspr. des BGH).
55
(bb) Ob diese ungeschriebene und unerwähnt gebliebene Vertragsklausel einer Überprüfung nach Maßgabe des § 305c Abs. 2 BGB (Unklarheitenregel) und des § 305c Abs. 1 BGB (Verbot überraschender Klauseln) standhielte, kann vorliegend offenbleiben. Jedenfalls würden sich im Hinblick auf die Anwendung der Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ganz erhebliche Bedenken ergeben. Das Transparenzgebot schließt das Bestimmtheitsgebot ein und verlangt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschrieben werden, dass der Vertragspartner des Klauselverwenders klar und deutlich erkennen kann, welche Rechte und Pflichten er hat. Das Bestimmtheitsgebot ist verletzt, wenn eine Klausel vermeidbare Unklarheiten und Spielräume für den Verwender enthält (BAG 23. Januar 2014 – 8 AZR 130/13 – Rn. 23; 1. September 2010 – 5 AZR 517/09 – Rn. 14, BAGE 135, 250; BGH 3. März 2004 – VIII ZR 151/03 – zu II 2 a bb der Gründe). Voraussetzungen und Umfang der Leistungspflicht müssen so bestimmt oder zumindest so bestimmbar sein, dass der Vertragspartner des Verwenders bereits bei Vertragsschluss erkennen kann, „was auf ihn zukommt“ (BAG 21. Januar 2015 – 10 AZR 84/14 – Rn. 33, BAGE 150, 286; 21. August 2012 – 3 AZR 698/10 – Rn. 18, BAGE 143, 30; vgl. allg. dazu Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 35 Rn. 54 mit zahlr. weiteren Nachw. aus der Rspr.). Dies dürfte bei einem ungeschriebenen und lediglich aus den äußeren Umständen gefolgerten Verzicht auf das Günstigkeitsprinzip als tragendem Rechtsgrundsatz kaum gegeben sein. Der Vorbehalt einer ablösenden „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ kann vielmehr nur dann in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber als Verwender der AGB einen solchen hinreichend klar und verständlich zum Ausdruck gebracht hat. Die Annahme, ein verständiger Arbeitnehmer müsse auch ohne einen entsprechenden ausdrücklichen Vorbehalt des Arbeitgebers von einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ ausgehen, dürfte dem nicht genügen (für den Fall der Ablösbarkeit einer Sonderzahlung BAG 5. August 2009 – 10 AZR 483/08 – Rn. 15).
56
(2) Einer abschließenden Entscheidung über diese Fragen bedarf es im Streitfall nicht. Ginge man – entgegen den oa. Bedenken – davon aus, es liege grundsätzlich eine konkludente Einigung der Parteien über eine „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ ihrer Arbeitsbedingungen vor, erfasste diese jedenfalls nicht die ausdrückliche Vereinbarung der Parteien über die Anwendbarkeit der Vergütungsordnung des BAT auf ihr Arbeitsverhältnis.
57
(a) Von einer konkludent vereinbarten „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ individualvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen ist schon dann nicht auszugehen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbaren, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen (BAG 5. März 2013 – 1 AZR 417/12 – Rn. 60, aE).
58
(aa) Dies ist bei einer im Wortlaut zum Ausdruck kommenden einzelvertraglich vereinbarten dynamischen Verweisung auf einen Tarifvertrag stets der Fall. Die dynamische Verweisung auf einen Tarifvertrag in einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag hat immer einen „kollektiven Bezug“. Sollte sich tatsächlich allein aus der Formenwahl des Arbeitgebers das erkennbare Ziel einer Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen ergeben, wäre jedenfalls die Bezugnahme auf einen ausdrücklich genannten Tarifvertrag in der Regel so zu verstehen, dass dessen Regelungen im Rahmen ihrer vertraglichen Inbezugnahme die vom Arbeitgeber – unter der oa. Annahme – angestrebte und erreichbare kollektive Vereinheitlichung realisieren und gewährleisten. Von einer nur konkludenten Vereinbarung über einen bestimmten dynamischen Vertragsinhalt könnte deshalb bereits dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn es für denselben Regelungsbereich eine sich aus dem Text des Vertrags ergebende dynamische Verweisung gibt, die ein gegenüber der Betriebsvereinbarung höherrangiges Regelungssystem in Bezug nimmt. Zwar bliebe auch einer solchen individualvertraglichen Bezugnahme die Betriebsvereinbarung im Rang übergeordnet, jedoch ausschließlich in ihrer normativen Wirkung bei gleichzeitiger Anwendung des Günstigkeitsprinzips (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG). Für eine – ohnehin unter problematischen Prämissen angenommene – konkludent vereinbarte vertragliche „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ mit der Folge einer ansonsten nicht bestehenden Verschlechterungsmöglichkeit hinsichtlich konkret vereinbarter Vertragsbedingungen fehlt es an jedem Anhaltspunkt, wenn die Vertragsparteien den Inhalt ihres Arbeitsverhältnisses ausdrücklich (und gerade nicht nur konkludent) den tariflichen Vereinbarungen konkreter Tarifvertragsparteien anvertrauen. Hier ergibt sich die Nachrangigkeit einer solchen – konkludent getroffenen – Betriebsvereinbarungsoffenheitsabrede sowohl aus dem Vorrang der Vereinbarungsform als auch aus dem Vorrang der in Bezug genommenen dynamischen Rechtsquelle des Tarifvertrags gegenüber der Betriebsvereinbarung. Mit dem Zweck einer solchen dynamischen Bezugnahme auf Vergütungsregelungen des öffentlichen Dienstes, nach dem bei der Vergütung eine Gleichstellung mit den in diesem Bereich beschäftigten Arbeitnehmern erreicht werden soll, wäre eine Anwendung der allein für den Bereich der Beklagten maßgeblichen betrieblichen Regelungen nicht vereinbar (so auch BAG 21. August 2013 – 5 AZR 581/11 – Rn. 48).
59
(bb) Eine der konkludenten Vereinbarung einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ widersprechende und sie damit ausschließende ausdrückliche Vertragsregelung kann auch darin bestehen, dass dem Wortlaut des Vertrags nach betriebliche Regelungen zwar grundsätzlich Anwendung finden sollen, aber nur nachrangig, also „im Übrigen“ oder nur „soweit keine anderen Vereinbarungen getroffen worden sind“. In diesem Fall haben die Arbeitsvertragsparteien ihren Willen im Wortlaut des Vertrags zum Ausdruck gebracht, dass sie den arbeitsvertraglichen Regelungen den Vorrang einräumen wollten, sofern die Betriebsvereinbarung hinsichtlich günstigerer Arbeitsbedingungen nicht ohnehin normativ gilt; insoweit gölten die günstigeren Regelungen unmittelbar und zwingend und unterlägen in ihrer Wirkungsweise nicht der Regelungsbefugnis der Arbeitsvertragsparteien (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG).
60
(b) Nach diesen Maßstäben haben die Parteien im Streitfall eine – konkludente – Betriebsvereinbarungsoffenheit vertraglich ausgeschlossen.
61
(aa) Die Parteien haben in ihrem Arbeitsvertrag in der Fassung der Zusatzvereinbarung 1992 auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT Bezug genommen, sie als vertragliche Grundlage vereinbart (vgl. oben unter B I 2) und damit eine vertragliche Einbeziehung – der ggf. normativ geltenden Betriebsvereinbarung – ausgeschlossen.
62
(bb) Dagegen spricht nicht die in § 7 des Arbeitsvertrags 1991 getroffene Bestimmung, nach der alle betrieblichen Regelungen gelten sollten. Diese Einbeziehung sollte nach dem ausdrücklichen Willen der Arbeitsvertragsparteien nur insoweit greifen, als in dem Arbeitsvertrag keine andere Vereinbarung getroffen worden ist. Das ist aber durch die Verweisung auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT geschehen. Damit haben die Parteien auch hier über die „Rangfolge“ von evtl. mehreren – dynamisch – in Bezug genommenen Rechtsquellen für ihr Arbeitsverhältnis eine ausdrückliche Vereinbarung zugunsten der Individualabrede getroffen.
63
bb) Auch die weitere Begründung des Landesarbeitsgerichts, die Unterzeichnung des von dem Rechtsvorgänger der Beklagten verfassten Nachtrags 1993 AV stelle eine ausdrückliche Abänderung des Arbeitsvertrags dahingehend dar, dass nunmehr die eigenständige Vergütungsordnung der Betriebsvereinbarung 1993 an die Stelle der bisher vereinbarten Vergütungsordnung des BAT treten solle, ist unzutreffend. Bei dem Nachtrag 1993 AV handelt es sich nicht um ein Vertragsangebot des Arbeitgebers, sondern lediglich um eine Information über die seiner Auffassung nach durch die Betriebsvereinbarung 1993 eingetretene Änderung der objektiven Rechtslage.
64
(1) Als von dem Rechtsvorgänger der Beklagten vorformulierte und damit typische Erklärung unterliegt die Auslegung des Schreibens der uneingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht (st. Rspr. des BAG, zB BAG 7. Dezember 2016 – 4 AZR 414/14 – Rn. 21; 19. März 2003 – 4 AZR 331/02 – zu I 2 a der Gründe, BAGE 105, 284).
65
(2) Diesem Maßstab hält das Berufungsurteil nicht stand. Bei dem Nachtrag 1993 AV handelt es sich ungeachtet der Unterschrift des Klägers nicht um eine Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag, sondern um eine bloße Mitteilung des Rechtsvorgängers der Beklagten in Folge und Umsetzung der Betriebsvereinbarung 1993 (vgl. § 5 Abs. 2 Betriebsvereinbarung 1993). Die Annahme einer konstitutiven individualvertraglichen Vereinbarung der Parteien wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es sich bei dem Nachtrag 1993 AV um einen Antrag des Rechtsvorgängers der Beklagten iSv. §§ 145 ff. BGB handelte, der zur Entfaltung der beabsichtigten Rechtsfolgen der Annahme durch den Kläger bedurft hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Rechtsvorgänger der Beklagten hat den Kläger vielmehr mit dem Nachtrag 1993 AV in Umsetzung der Betriebsvereinbarung 1993 lediglich von seiner Auffassung in Kenntnis gesetzt, dass diese Betriebsvereinbarung kraft Gesetzes normative Wirkung entfalte und deshalb auch für das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam sei.
66
(a) Das ergibt sich bereits aus der Eingangsformulierung. Danach wurden „die Bestimmungen der o.g. Betriebsvereinbarung … mit deren Inkrafttreten automatisch Bestandteil Ihres Arbeitsvertrages“. Diese Formulierung beinhaltet zunächst den – von dem Rechtsvorgänger der Beklagten angenommenen – Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Bestimmungen der Betriebsvereinbarung 1993, nämlich „deren Inkrafttreten“. Dies sollte nach § 4 Abs. 1 Betriebsvereinbarung 1993 rückwirkend zum 1. Januar 1993 geschehen. Von der rechtlichen Notwendigkeit einer Zustimmung des Klägers ist im Nachtrag 1993 AV insoweit keine Rede.
67
(b) Ferner wird der bloße Informationscharakter des Nachtrags 1993 AV aus der weiteren Formulierung im ersten Absatz deutlich. Dort wird darauf hingewiesen, dass die Betriebsvereinbarung „automatisch“, dh. gerade ohne eine entsprechende Willenserklärung der Parteien, Bestandteil des Arbeitsvertrags „geworden sei“.
68
(c) Dem entspricht auch der Betreff, der das Schreiben als „Nachtrag“ zum Arbeitsvertrag und gerade nicht als „Zusatzvereinbarung“ (so die Vertragsänderungen aus den Jahren 1992 und 1995) oder als „Änderung zum Arbeitsvertrag“ (so das Schreiben vom 23. März 2006) bezeichnet. Den daher anzunehmenden bloßen Verweis auf die bestehende Rechtslage darf und kann ein Arbeitnehmer dahin verstehen, es bleibe insoweit im Übrigen bei der gesetzlichen Regelung, insbesondere dem Günstigkeitsprinzip als Kollisionsregelung zwischen der normativen Wirkung einer Betriebsvereinbarung und der individuellen Vertragsabrede, das sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 77 Abs. 4 BetrVG, unbestritten aber aus dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzprinzip ergibt (BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – zu C II 3 der Gründe, BAGE 53, 42; 7. November 1989 – GS 3/85 – zu C II 1 der Gründe, BAGE 63, 211; Fitting 29. Aufl. § 77 Rn. 196; Richardi BetrVG 16. Aufl. § 77 Rn. 165, jeweils mwN).
69
(d) Im Übrigen hat die Arbeitgeberin mit dem Nachtrag 1993 AV lediglich die bereits in der Betriebsvereinbarung 1993 selbst vorgesehene Vorgehensweise umgesetzt. Dort ist nach dem erneuten Hinweis in § 5, wonach die Bestimmungen der Betriebsvereinbarung „automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen“ werden, aufgenommen, dass der Arbeitgeber den betroffenen Arbeitnehmer/-innen einen „entsprechenden Nachtrag“ übersendet.
70
(e) Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts kann diese Information über die nach Ansicht der Arbeitgeberin bereits durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung 1993 herbeigeführte Rechtslage auch nicht deshalb als Vertragsangebot gewertet werden, weil der Kläger sie unterzeichnet hat. Das „Einverständnis“ bezieht sich allenfalls auf die mitgeteilte Rechtsauffassung des Arbeitgebers, ohne dass darin eine eigene Willenserklärung zur Abänderung des Arbeitsvertrags liegt.
71
(3) Soweit im zweiten Absatz des Nachtrags 1993 AV ausgeführt wird, dass „alle in der Betriebsvereinbarung getroffenen Bestimmungen … die entsprechenden Regelungen des Arbeitsvertrages außer Kraft“ setzen, wird daraus jedenfalls nicht hinreichend deutlich, dass damit – abweichend vom ersten Absatz des Schreibens – ein Vorrang der Betriebsvereinbarung unter Verzicht auf das gesetzlich vorgesehene Günstigkeitsprinzip ausdrücklich individualvertraglich vereinbart werden sollte. Ein solcher Verzicht in einer vorformulierten Vertragsbestimmung muss klar und verständlich iSd. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB formuliert sein. Das wäre hier selbst dann nicht der Fall, wenn es eine derartige Absicht des Arbeitgebers gegeben hätte. Der erste Absatz des Schreibens sowie der Betreff suggerieren, dass es lediglich eine Mitteilung über die gesetzlich angeordnete normative Wirkung einer Betriebsvereinbarung enthält. Diese beschränkt sich jedoch auf die Verdrängung schlechterer einzelvertraglicher Arbeitsbedingungen; bessere bleiben bestehen. Hätte der Rechtsvorgänger der Beklagten dem Schreiben eine weiter gehende Bedeutung beimessen wollen, hätte er dies eindeutig formulieren müssen.
72
(4) Dafür, dass die Arbeitsvertragsparteien das Schreiben von März 1993 nicht als Vertragsänderung angesehen haben, spricht auch, dass sie jeweils mit dem Abschluss einer neuen Zusatz- oder Änderungsvereinbarung die vorherige Zusatzvereinbarung außer Kraft gesetzt haben. Die Zusatzvereinbarung 1995 nimmt dabei in Ziff. 4 die Zusatzvereinbarung 1992 und gerade nicht das Schreiben von März 1993 in Bezug.
73
cc) Auf eine mögliche Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung 1993 kommt es danach auch hier nicht mehr an.
74
c) Die vertragliche dynamische Verweisung auf die Vergütungs- und Eingruppierungsbestimmungen des BAT ist auch nicht durch eine andere Vereinbarung der Parteien abgeändert oder abgelöst worden.
75
aa) Selbst wenn die Zusatzvereinbarung 1995 die Zusatzvereinbarung 1992 „außer Kraft gesetzt“ haben sollte, enthält sie jedenfalls in Ziff. 2 ihrerseits eine entsprechende dynamische Bezugnahme und ändert damit an der grundlegenden Vertragssituation der Parteien im Hinblick auf die vorliegenden Streitgegenstände nichts.
76
bb) Die dynamische Bezugnahmeklausel ist schließlich nicht durch die Änderung des Arbeitsvertrags vom 23. März 2006 entfallen. Die Vereinbarung war ersichtlich durch eine Änderung der Arbeitszeit veranlasst. Das Arbeitsentgelt des Klägers wurde deshalb „entsprechend der 0,78 Stelle“ erhöht. Bereits dem Wortlaut nach liegt darin nur eine – relative – Anpassung des Arbeitsentgelts ohne eine grundlegende Änderung der bisherigen Entgeltvereinbarungen. Dieses Verständnis wird durch Ziff. 4 der Arbeitsvertragsänderung bestätigt, wonach alle übrigen Bestandteile des bestehenden Arbeitsvertrags – und damit insbesondere die Inbezugnahme der Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des öffentlichen Dienstes – unverändert gültig bleiben. Für dieses Auslegungsergebnis und gegen die Vereinbarung eines künftig festen Arbeitsentgelts unabhängig von den über Jahre in Bezug genommenen tarifvertraglichen Regelungen spricht zudem der Umstand, dass auch in den weiteren Entgeltabrechnungen bis 2010 ein Hinweis auf „Vb Stufe 09“ enthalten war, was der Vergütungsgruppe und -stufe bei der Eingruppierung nach der Vergütungsordnung des BAT entsprach. Der Nennung des nunmehr zu zahlenden Arbeitsentgelts kommt daher – wie auch schon in der Zusatzvereinbarung 1992 – lediglich eine klarstellende Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist auch Ziff. 3 der Vereinbarung, nach der die Zusatzvereinbarung 1995 mit dieser Vereinbarung unwirksam wird, beschränkt auf die Arbeitszeit zu verstehen.
77
cc) Allein der Umstand, dass die Beklagte anschließend das Arbeitsentgelt des Klägers nicht mehr erhöht hat, rechtfertigt nicht die Annahme, die Parteien hätten – entgegen den bisherigen Regelungen und der praktischen Vertragsdurchführung – eine lediglich statische Entgeltvereinbarung treffen wollen. Die tatsächliche Praxis des Vollzugs einer vertraglichen Regelung durch die Arbeitsvertragsparteien kann Anhaltspunkte für den tatsächlichen Willen der Vertragsparteien enthalten und somit für die Auslegung von Bedeutung sein. Der bei Vertragsschluss zum Ausdruck gebrachte objektive Gehalt der wechselseitigen Willenserklärungen kann aber durch die spätere tatsächliche Handhabung nicht mehr beeinflusst werden (vgl. BAG 24. Februar 2016 – 4 AZR 991/13 – Rn. 33 mwN). Es handelte sich vielmehr um die schlichte Nichterfüllung der arbeitgeberseitig vertraglich geschuldeten Leistung.
78
III. Die so verstandene arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des BAT ist zwar zeitdynamisch, aber nicht inhaltsdynamisch ausgestaltet. Sie ist deshalb mit der Ablösung des BAT durch den TVöD und den TV-L lückenhaft geworden. Die mit der Ersetzung des BAT entstandene nachträgliche Regelungslücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen. Dies führt zur Anwendbarkeit der Entgeltordnung des TVöD/VKA auf das Arbeitsverhältnis der Parteien.
79
1. Die im Arbeitsvertrag enthaltene zeitdynamisch ausgestaltete Verweisung auf die Vergütungsordnung des BAT ist infolge der Ablösung dieses tariflichen Regelungswerks zu einer statischen geworden, weil das Bezugnahmeobjekt von den Tarifvertragsparteien nicht mehr weiterentwickelt wird. Ein damit verbundenes „Einfrieren“ der Vergütung auf diesem Stand entsprach jedoch nicht dem Willen der Parteien. Der Vertrag ist nachträglich lückenhaft geworden, weil die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf der Dynamik der tarifvertraglichen Vergütungsregelungen aufbaute (st. Rspr., vgl. nur BAG 19. Mai 2010 – 4 AZR 796/08 – Rn. 25 ff., BAGE 134, 283; 18. Mai 2011 – 5 AZR 213/09 – Rn. 16).
80
2. Diese nachträglich entstandene Regelungslücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen. Dabei tritt an die Stelle der lückenhaften Klausel diejenige Gestaltung, die die Parteien bei einer angemessenen Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragsparteien vereinbart hätten, wenn ihnen die Unwirksamkeit der Geschäftsbedingung bekannt gewesen wäre. Die Vertragsergänzung muss deshalb für den betroffenen Vertragstyp als allgemeine Lösung eines stets wiederkehrenden Interessengegensatzes angemessen sein. Maßgebender Zeitpunkt für die Feststellung und Bewertung des mutmaßlichen typisierten Parteiwillens und der Interessenlage ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, da die ergänzende Vertragsauslegung eine anfängliche Regelungslücke rückwirkend schließt. Das gilt auch, wenn eine Lücke sich erst nachträglich als Folge des weiteren Verlaufs der Dinge ergeben hat (st. Rspr., BAG 18. April 2012 – 4 AZR 392/10 – Rn. 20, BAGE 141, 150; 19. Mai 2010 – 4 AZR 796/08 – Rn. 31 mwN, BAGE 134, 283).
81
3. In Anwendung dieser Grundsätze ist für das Arbeitsverhältnis der Parteien seit dem 1. Oktober 2005 die Entgeltordnung des TVöD/VKA maßgebend.
82
a) Die ergänzende Vertragsauslegung bedeutet vorliegend in einem ersten Schritt, dass die Parteien redlicherweise für den Fall der hier vorliegenden Tarifsukzession des im Arbeitsvertrag benannten tariflichen Regelungswerks das nachfolgende Regelungswerk des öffentlichen Dienstes vereinbart hätten, weil eine statische Regelung der Arbeitsbedingungen auf den Zeitpunkt der bestehenden Tarifsukzession nicht ihren Interessen entsprach. Die Parteien haben mit der dynamischen Ausgestaltung der Bezugnahme auf das Tarifwerk des BAT die Regelungen der Arbeitsbedingungen für die Zukunft der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes anvertraut.
83
b) Wegen der Aufspaltung der bis zum 30. September 2005 gleichlautenden Regelungen für die Angestellten des öffentlichen Dienstes bei Bund, Ländern und Kommunen ist in einem weiteren Schritt zu bestimmen, welche Nachfolgeregelung für die Vergütung des Klägers maßgebend sein soll. Dabei ist zu ermitteln, welches der dem BAT nachfolgenden Tarifwerke die Parteien in Bezug genommen hätten, wenn sie eine Tarifsukzession bedacht hätten. Dies ist im Streitfall der TVöD in der im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) geltenden Fassung, weil die Beklagte aufgrund ihrer Aufgaben am ehesten dem öffentlichen Dienst der Kommunen zuzurechnen ist (vgl. BAG 25. Februar 2015 – 5 AZR 481/13 – Rn. 18 ff., BAGE 151, 56). Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Unternehmensgruppe, der die Beklagte angehört, bundesweit tätig ist. Mehrere Unternehmen eigener Rechtspersönlichkeit einer Unternehmensgruppe bilden keine dem Bund als oberster territorialer Körperschaft des öffentlichen Rechts vergleichbare Einheit. Entscheidend ist vielmehr, welche Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts die Aufgaben wahrnehmen würde, also die Zuordnung der Aufgaben innerhalb der Gebietskörperschaften des öffentlichen Dienstes und nicht, dass die Beklagte Schwesterunternehmen in anderen Kommunen oder Ländern hat, die sich derselben Aufgabe widmen. Vorliegend sind das die Kommunen als Körperschaften des öffentlichen Rechts für Selbstverwaltungsangelegenheiten.
84
IV. Unter Zugrundelegung der so verstandenen Bezugnahmeklausel hat der Kläger einen Anspruch auf Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TVöD/VKA.
85
1. Gem. § 17 Abs. 1 TVÜ-VKA aF galten dabei die §§ 22, 23 BAT einschließlich der Vergütungsordnung bis zum Inkrafttreten entsprechender Regelungen des TVöD/VKA fort. Für die Überleitung in die neue Entgeltordnung von bereits vor dem 1. Oktober 2005 beschäftigten Arbeitnehmern wurden die Vergütungsgruppen der Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) den Entgeltgruppen des TVöD zugeordnet (§ 17 Abs. 7 TVÜ-VKA iVm. Anlage 1).
86
2. Danach ist die Beklagte verpflichtet, den Kläger nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA zu vergüten. Der Kläger war zunächst in der VergGr. Vc BAT und sodann aufgrund Bewährungsaufstiegs in der VergGr. Vb BAT eingruppiert. Dies führt nach § 17 Abs. 7 TVÜ-VKA idF des ÄndTV Nr. 10 iVm. Anlage 1 für die Zeit bis zum 31. Dezember 2016 zu einer Überleitung in die Entgeltgruppe 9 TVöD/VKA. Darüber besteht zwischen den Parteien kein Streit. Die Zuordnung zur Stufe 4 der Entgeltgruppe hat die Beklagte ebenfalls zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt.
87
C. Die Klage ist auch hinsichtlich des Zahlungsantrags begründet.
88
I. Die sich aus der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA ergebenden Einzelbeträge sowie die Gesamtsumme für den Streitzeitraum ist zwischen den Parteien nicht streitig. Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB iVm. § 24 Abs. 1 Satz 2 TVöD.
89
II. Die Zahlungsansprüche des Klägers sind auch nicht – teilweise – verfallen. Eine einzelvertragliche oder tarifliche Ausschlussfrist kommt für das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zur Anwendung.
90
1. Die einzelvertraglich in § 8 Arbeitsvertrag 1991 vereinbarte Ausschlussfrist erfasst die geltend gemachten Zahlungsansprüche nicht. Dabei kann dahinstehen, ob die Vereinbarung überhaupt wirksam ist, wofür angesichts der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu einzelvertraglichen Ausschlussfristen (zB BAG 1. März 2006 – 5 AZR 511/05 – Rn. 14, BAGE 117, 165) wenig spricht. Die Ausschlussfristenregelung verlangt keine Geltendmachung von Ansprüchen während des laufenden Arbeitsverhältnisses, sondern nur für den Fall von dessen Beendigung.
91
2. Die tariflichen Ausschlussfristen des § 37 TVöD und des § 70 BAT kommen nicht zur Anwendung.
92
a) § 37 TVöD ist auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbar. Die Parteien haben lediglich die Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des BAT und des diesen ersetzenden TVöD in Bezug genommen. Dazu gehört im Streitfall nicht die tarifliche Regelung der Ausschlussfristen. Insoweit hatten die Arbeitsvertragsparteien im Übrigen ausdrücklich eine eigenständige vertragliche Regelung vorgesehen.
93
b) § 70 BAT findet nicht aufgrund einer ursprünglich normativ wirkenden Betriebsvereinbarung 1993 im Wege der Nachwirkung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Dabei kann auch hier dahinstehen, ob die Betriebsvereinbarung überhaupt wirksam war. Die in ihr als Verweisung ggf. enthaltene Ausschlussfristenregelung des § 70 BAT wäre von der Nachwirkungsanordnung des § 77 Abs. 6 BetrVG nicht erfasst. Als in einer allenfalls teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung enthaltene Regelung ist die Ausschlussfristenbestimmung keinem der Tatbestände des § 87 Abs. 1 BetrVG zuzuordnen und auch nicht zwingend mit einer entsprechenden Regelung verbunden, sondern unterfällt dem Bereich der freiwilligen Mitbestimmung gem. § 88 BetrVG (BAG 5. Mai 2015 – 1 AZR 435/13 – Rn. 20). Sie wirkt damit nicht nach (vgl. oben B II 1 b).
94
D. Die Beklagte hat gem. § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Eylert
Creutzfeldt
Rinck
Steding
H. Klotz |
bag_18-20 | 25.06.2020 | 25.06.2020
18/20 - Benachteiligung eines schwerbehinderten Bewerbers - Einladung zu einem Vorstellungsgespräch - interne Stellenausschreibung
Geht dem öffentlichen Arbeitgeber die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zu, muss er diese nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 29. Dezember 2016 geltenden Fassung (aF)* zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Das gilt auch bei einer (ausschließlich) internen Stellenausschreibung.
Im März 2016 schrieb die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten intern zwei Stellen als Personalberater aus, wobei eine Stelle bei der Agentur für Arbeit in Cottbus und die andere Stelle bei der Agentur für Arbeit Berlin-Mitte zu besetzen war. Der langjährig bei der Beklagten beschäftigte Kläger bewarb sich auf beide Stellen. Für beide Stellen, die identische Anforderungsprofile hatten, führte die für die Besetzung dieser Stellen zuständige Regionaldirektion Berlin-Brandenburg ein Auswahlverfahren nach identischen Kriterien durch. Der Kläger wurde nur zu einem Vorstellungsgespräch betreffend die Stelle in Berlin eingeladen mit dem Hinweis, dass die Ergebnisse des Auswahlgesprächs für die Stelle in Berlin in das Stellenbesetzungsverfahren für die Stelle in Cottbus einfließen würden. Beide Bewerbungen des Klägers blieben erfolglos.
Der Kläger hat die Beklagte nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung gerichtlich ua. auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genommen. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihn entgegen den Vorgaben des SGB IX und des AGG wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Dies folge daraus, dass die Beklagte ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch auch für die Stelle in Cottbus eingeladen habe. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe eines auf der Stelle erzielbaren Bruttomonatsentgelts verurteilt.
Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Beklagte hat den Kläger nicht wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt und schuldet ihm deshalb nicht die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Zwar muss der öffentliche Arbeitgeber, dem die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zugeht, diese nach § 82 Satz 2 SGB IX aF auch bei einer (ausschließlich) internen Stellenausschreibung zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Dieser Verpflichtung war die Beklagte allerdings dadurch ausreichend nachgekommen, dass die für die Besetzung beider Stellen zuständige Regionaldirektion Berlin-Brandenburg den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch betreffend die bei der Agentur für Arbeit Berlin-Mitte zu besetzende Stelle mit identischem Anforderungsprofil eingeladen hatte, das Auswahlverfahren nach identischen Kriterien durchgeführt wurde und eine Vertreterin der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg den jeweils gebildeten Auswahlkommissionen angehörte.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Juni 2020 – 8 AZR 75/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 1. November 2018 – 21 Sa 1643/17 –
*§ 82 SGB IX aF Besondere Pflichten der öffentlichen Arbeitgeber
¹Die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber melden den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze (§ 73). ²Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. ³Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. … | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. November 2018 – 21 Sa 1643/17 – im Kostenpunkt vollständig und im Übrigen insoweit aufgehoben, als die Beklagte zur Zahlung einer Entschädigung an den Kläger iHv. 5.200,00 Euro verurteilt wurde. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. November 2017 – 16 Ca 10367/16 – wird auch insoweit zurückgewiesen.
Die Anschlussrevision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. November 2018 – 21 Sa 1643/17 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
1. Der öffentliche Arbeitgeber ist nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 29. Dezember 2016 geltenden Fassung auch bei einer internen Stellenbesetzung verpflichtet, eine/n schwerbehinderte/n interne/n Bewerber/in, dem/der die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
2. Sind etwa zeitgleich mehrere Stellen mit identischem Anforderungsprofil zu besetzen und führt dieselbe für die Durchführung des Auswahlverfahrens zuständige Dienststelle des öffentlichen Arbeitgebers für die Stellen ein identisch ausgestaltetes Auswahlverfahren nach identischen Kriterien durch, reicht es aus, den/die schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch für eine der zu besetzenden Stellen einzuladen, auf die diese/r sich beworben hat.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen, sowie darüber, ob die Beklagte dem Kläger als Schadensersatz die Zahlung einer höheren Vergütung schuldet.
2
Der seit Juni 2013 als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist seit dem 14. Mai 1991 bei der Beklagten beschäftigt. Er ist Mitglied des Personalrats der Agentur für Arbeit Berlin N. Aufgrund seiner Tätigkeit als Personalrat war er in der Zeit von September 1992 bis September 1993 vollumfänglich und in der Zeit vom 29. Dezember 1998 bis zum 15. August 1999 zu 50 % von seiner dienstlichen Tätigkeit freigestellt. Seit dem 16. August 1999 war er wiederum vollständig von seiner dienstlichen Tätigkeit freigestellt, zunächst wegen seines Personalratsamts und seit Mai 2013 wegen seiner Tätigkeit als Schwerbehindertenvertreter. Nach seiner Wiederwahl zur Vertrauensperson der schwerbehinderten Beschäftigten der Agentur für Arbeit Berlin N am 19. November 2014 war er bis zum Ablauf der Amtszeit Ende 2018 von seiner dienstlichen Tätigkeit freigestellt, und zwar im Zeitraum vom 6. Juni 2016 bis zum 14. November 2017 zu 40 %, im Übrigen zu 100 %.
3
Vor seiner vollumfänglichen Freistellung ab dem 16. August 1999 war der Kläger als Arbeitsvermittler tätig und als solcher zunächst in die Vergütungsgruppe Vb sowie zuletzt in die Vergütungsgruppe IVb des damals für die Beklagte geltenden Tarifvertrags zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (im Folgenden MTA-O) eingruppiert. Nachdem er an einer Qualifizierung zum Arbeitsberater teilgenommen und eine (fiktive) Erprobungszeit als Arbeitsvermittler und zugleich Arbeitsberater durchlaufen hatte, übertrug ihm die Beklagte zum 1. Februar 2004 (fiktiv) die Aufgaben eines Beraters für Rehabilitanden und Schwerbehinderte. Seitdem erhielt der Kläger eine Vergütung nach der Vergütungsgruppe IVa MTA-O. Zum 1. Januar 2005 wurde er (fiktiv) zum Teamleiter im Bereich SGB II befördert und der Tätigkeitsebene III, Entwicklungsstufe 6 des Tarifvertrags für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit (im Folgenden TV-BA) zugeordnet. Zum 1. Januar 2010 übertrug die Beklagte ihm (fiktiv) die Aufgaben eines Teamleiters Arbeitgeberservice (SGB III).
4
Die letzte Beurteilung des Klägers als Arbeitsvermittler erfolgte am 26. Juli 2001. Hierbei erhielt er die Gesamtnote „C“: „Entspricht den Anforderungen in jeder Hinsicht“. Am 8. August 2007 erstellte die Beklagte für den Kläger eine fiktive Laufbahnnachzeichnung anhand derjenigen Beschäftigten, die – wie der Kläger – am 16. August 1999 in der Agentur für Arbeit als Arbeitsvermittler eingesetzt und noch immer bei der Beklagten beschäftigt waren. Dabei stellte die Beklagte fest, dass von 78 Vergleichspersonen acht – ebenso wie der Kläger – die Tätigkeitsebene III erreicht hatten und bei der Stichtagsbeurteilung 2006 mit der Gesamtnote „C“ beurteilt worden waren. Daraus schloss die Beklagte, dass der Kläger wahrscheinlich ebenfalls mit der Gesamtnote „C“ beurteilt worden wäre. Am 4. Januar 2010 schrieb die Beklagte die fiktive Laufbahnnachzeichnung fort und stellte dabei letztlich fest, dass 2009 keine der Vergleichspersonen die Tätigkeitsebene II TV-BA erreicht hatte und 66,67 % die Gesamtnote „C“ erzielt hatten. Daraus folgerte die Beklagte, dass der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit der Gesamtnote „C“ beurteilt worden wäre.
5
Am 14. und am 28. März 2016 schrieb die Beklagte in ihrem internen Stellenanzeiger jeweils eine nach der Tätigkeitsebene II TV-BA bewertete Stelle als Personalberaterin/Personalberater im „Internen Service“ in der Agentur für Arbeit Cottbus und in der Agentur für Arbeit Berlin M aus.
6
Der Kläger bewarb sich mit E-Mails vom 31. März und 14. April 2016 bei der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten auf beide Stellen.
7
Am 21. April 2016 teilte der Leiter des Personalbereichs der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten dem Kläger mit, dass das Stellenbesetzungsverfahren für die Stelle in Berlin M zuerst durchgeführt werde und dass die Ergebnisse dieses Auswahlgesprächs in das Stellenbesetzungsverfahren für die Stelle in Cottbus einfließen würden.
8
Am 13. Mai 2016 fanden mit dem Kläger und der Mitbewerberin W für die in der Agentur für Arbeit in Berlin M zu besetzende Stelle Auswahlgespräche in Form eines strukturierten Interviews statt. Die Auswahlkommission setzte sich hierbei aus dem Geschäftsführer der Beklagten Interner Service Berlin L, dem Bereichsleiter Interner Service Berlin St und der Expertin Personalentwicklung der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg (Personalverantwortliche) V zusammen. Außerdem nahmen die Bezirksgleichstellungsbeauftragte Z und die Vertreterin der Bezirksschwerbehindertenvertretung S an dem Gespräch teil. Bewertet wurden aufgrund dieses Auswahlgesprächs die Motivation und die Fachkenntnisse, die Fach- und Methodenkompetenz, die sozial-kommunikative Kompetenz, die Aktivitäts- und Umsetzungskompetenz sowie die personale Kompetenz der Bewerber. Die Antworten des Klägers wurden im Gesamtergebnis mit „B“ (bedingt geeignet) und in den Einzelergebnissen teilweise mit „B“, teilweise mit „C“ (nicht geeignet) bewertet. Die Mitbewerberin W wurde hingegen sowohl im Gesamtergebnis als auch in den Einzelergebnissen jeweils mit „A“ (geeignet) bewertet.
9
Für die in der Agentur für Arbeit in Cottbus zu besetzende Stelle fand am 20. Juni 2016 ein Auswahlgespräch mit der Mitbewerberin B, ebenfalls in Form eines strukturierten Interviews nach identischen Prüfungskriterien statt. Die Auswahlkommission setzte sich bei diesem Gespräch aus dem Geschäftsführer der Beklagten Interner Service Cottbus D und der Expertin Personalentwicklung der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg (Personalverantwortliche) V zusammen. Außerdem nahmen erneut die Bezirksgleichstellungsbeauftragte Z und die Vertreterin der Bezirksschwerbehindertenvertretung S an dem Gespräch teil. Die Auswahlkommission bewertete sowohl das Gesamtergebnis als auch die Einzelergebnisse der Mitbewerberin B mit „A“. Zu einem gesonderten Auswahlgespräch für die Stelle in Cottbus war der Kläger nicht eingeladen worden.
10
Mit Schreiben vom 20. Juni 2016 erteilte die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten dem Kläger die Stelle in Berlin M betreffend und mit Schreiben vom 15. Juli 2016 die Stelle in Cottbus betreffend eine Absage. Die Stelle in Berlin M wurde zum 1. August 2016 mit der Mitbewerberin W und die Stelle in Cottbus zum 22. August 2016 mit der Mitbewerberin B besetzt.
11
Der Kläger machte mit Schreiben vom 16. September 2016 gegenüber der Beklagten wegen einer unterbliebenen Einladung zum Vorstellungsgespräch für die bei der Agentur für Arbeit in Cottbus zu besetzende Stelle einen Anspruch auf eine Entschädigung sowie auf Schadensersatz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (im Folgenden AGG) geltend. Die Beklagte lehnte die Forderung mit Schreiben vom 28. September 2016 ab.
12
Mit seiner Klage hatte sich der Kläger zunächst gegen seine Nichteinbeziehung in das Auswahlverfahren für die in Cottbus zu besetzende Stelle gewandt. Mit seiner Klageerweiterung hat er ua. die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm seit dem 22. August 2016 eine Vergütung nach der Tätigkeitsebene II Stufe 6 TV-BA zu zahlen. Zudem hat er die Beklagte auf Zahlung einer angemessenen, in das Ermessen des Gerichts gestellten Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genommen.
13
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er habe nach § 280 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 8 BPersVG, § 96 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden § 96 SGB IX aF) einen Anspruch auf Vergütung nach der Tätigkeitsebene II, weil er als freigestellter Personalrat und Schwerbehindertenvertreter in seiner beruflichen Entwicklung behindert worden sei. Nach Art. 33 Abs. 2 GG hätte die Auswahl anhand einer aktuellen (fiktiv nachgezeichneten) Beurteilung erfolgen müssen und nicht nach dem strukturierten Interview, welches ihn durch die konkrete Ausgestaltung der Fragen wegen seiner Freistellung benachteiligt habe. Zudem habe die Beklagte gegen das in Art. 33 Abs. 2 GG niedergelegte Prinzip der Bestenauslese verstoßen. Schon wegen seiner Erfahrungen im Personalwesen aufgrund der langjährigen Tätigkeit im Rahmen der Personalrats- und Schwerbehindertenvertretungsarbeit sei er der beste Bewerber gewesen, ohne dass es auf die Ergebnisse der Auswahlgespräche angekommen wäre. Letztlich könne er seinen Anspruch auf Zahlung einer höheren Vergütung auch auf § 15 Abs. 1 AGG stützen. Die Beklagte habe ihn bei der Entscheidung über die Besetzung der Stelle in Cottbus wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt. Sie hätte ihn nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 29. Dezember 2016 geltenden Fassung (im Folgenden § 82 SGB IX aF) auch für die in Cottbus zu besetzende Stelle zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen, um die dortige Auswahlkommission in die Lage zu versetzen, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Wegen dieser Benachteiligung stehe ihm überdies ein Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu.
14
Der Kläger hat – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – zuletzt beantragt:
1.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger seit dem 22. August 2016 eine Vergütung nach der Tätigkeitsebene II Stufe 6 TV-BA zu zahlen und die Differenz zwischen der Vergütung nach der Tätigkeitsebene III Stufe 6 TV-BA und der Vergütung nach der Tätigkeitsebene II Stufe 6 TV-BA jeweils einen Tag nach Fälligkeit iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen,
2.
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine angemessene Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die jedoch 15.633,51 Euro nicht unterschreiten sollte.
15
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Vergütung nach der Tätigkeitsebene II. Er sei durch die Fragen im Auswahlgespräch nicht benachteiligt worden. Mit der Mitbewerberin B sei ein identisches Interview wie mit ihm geführt worden. Der Kläger sei auch nicht der am besten geeignete Bewerber gewesen. Etwaige Ansprüche nach dem AGG stünden dem Kläger nicht zu; er sei nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt worden. Der Umstand, dass er nicht zu einem Vorstellungsgespräch für die in Cottbus zu besetzende Stelle eingeladen worden sei, stelle kein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung dar.
16
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung iHv. 5.200,00 Euro zu zahlen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren nach vollständiger Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen und verfolgt mit der Anschlussrevision seinen Klageantrag zu 1. sowie sein Begehren nach Zahlung einer höheren als der vom Landesarbeitsgericht zugesprochenen Entschädigung weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Anschlussrevision.
Entscheidungsgründe
17
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Die Beklagte hat den Kläger nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt. Die Anschlussrevision des Klägers ist teilweise, dh. soweit der Kläger seinen mit dem Klageantrag zu 1. geltend gemachten Anspruch auf Zahlung einer höheren Vergütung auf einen Verstoß der Beklagten gegen den Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) sowie darauf stützt, er sei als freigestellter Personalrat und Schwerbehindertenvertreter entgegen den Vorgaben in § 8 BPersVG und § 96 Abs. 2 SGB IX aF in seiner beruflichen Entwicklung benachteiligt worden, unzulässig. Im Übrigen, dh. soweit der Kläger seinen Anspruch auf Zahlung einer höheren Vergütung auf § 15 Abs. 1 AGG stützt und darüber hinaus die Zahlung einer höheren als der vom Landesarbeitsgericht zugesprochenen Entschädigung begehrt, ist die Anschlussrevision zwar zulässig, aber unbegründet, da die Beklagte den Kläger nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt hat.
18
A. Die Revision der Beklagten, mit der diese sich gegen ihre Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wendet, ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte aus § 15 Abs. 2 AGG auf Zahlung einer Entschädigung.
19
I. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden § 81 SGB IX aF) schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF die Regelungen des AGG.
20
II. Die Beklagte hat den Kläger – entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts – bei der Besetzung der Stelle in Cottbus nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt.
21
1. Zwar wurde der Kläger dadurch, dass er von der Beklagten im Auswahl- bzw. Stellenbesetzungsverfahren für diese Stelle nicht berücksichtigt wurde, unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt. Dies folgt bereits daraus, dass er eine ungünstigere Behandlung erfahren hat als seine Mitbewerberin, mit der die Beklagte die Stelle in Cottbus besetzt hat.
22
2. Der Kläger hat die unmittelbare Benachteiligung jedoch nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Er hat die Kausalität zwischen der Benachteiligung und seiner (Schwer)Behinderung nicht dargetan. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts stellt die Nichteinladung des Klägers zu einem Vorstellungsgespräch für die in Cottbus zu besetzende Stelle kein Indiz iSv. § 22 AGG dar, das die Vermutung begründet, dass zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem Grund iSv. § 1 AGG, hier der (Schwer)Behinderung, der nach § 7 Abs. 1 AGG erforderliche Kausalzusammenhang besteht. Die Beklagte war nach § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht verpflichtet, den Kläger auch zu einem Vorstellungsgespräch für die dort zu besetzende Stelle einzuladen.
23
a) Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
24
aa) Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv. § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund iSv. § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN).
25
bb) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51, BAGE 164, 117).
26
(1) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 52 mwN, BAGE 164, 117).
27
(2) Die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen Tatsachen eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten lassen, ist nur eigeschränkt revisibel. Die revisionsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Würdigung der Tatsachengerichte möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 67; 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 48 mwN, BAGE 156, 107).
28
b) Danach hat der Kläger die Kausalität zwischen der Benachteiligung und seiner (Schwer)Behinderung nicht dargetan. Der Umstand, dass die Beklagte ihn nicht zu einem Vorstellungsgespräch für die in Cottbus zu besetzende Stelle eingeladen hat, begründet nicht die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass der Kläger im Auswahl- bzw. Stellenbesetzungsverfahren wegen seiner (Schwer)Behinderung nicht berücksichtigt wurde. Die Beklagte war ihrer Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, mit der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch für die in Berlin M zu besetzende Stelle nachgekommen. Sie musste den Kläger nicht zusätzlich zu einem Vorstellungsgespräch für die in Cottbus zu besetzende Stelle einladen.
29
aa) Nach § 82 Satz 1 SGB IX aF melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze. Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder von einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, § 82 Satz 2 SGB IX aF. Nach § 82 Satz 3 SGB IX aF ist eine Einladung entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.
30
bb) Allerdings begründet die Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX aF geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Diese Pflichtverletzung ist nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 37; 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 25, BAGE 156, 107; 22. Oktober 2015 – 8 AZR 384/14 – Rn. 35; 26. Juni 2014 – 8 AZR 547/13 – Rn. 45 mwN).
31
cc) Zudem gilt die Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, auch bei internen Stellenbesetzungen, also auch dann, wenn es sich um eine/n interne/n schwerbehinderte/n Bewerber/in handelt (vgl. auch LPK-SGB IX/Düwell 4. Aufl. § 82 Rn. 8; Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX 4. Aufl. § 82 Rn. 11; Knittel SGB IX Kommentar 11. Aufl. § 82 Rn. 26; von Roetteken jurisPR-ArbR 24/2012 Anm. 4; aA BVerwG 15. Dezember 2011 – 2 A 13.10 – Rn. 19 ff.; LAG Rheinland-Pfalz 5. März 2012 – 5 Sa 597/11 – zu II der Gründe; LAG Saarland 13. Februar 2008 – 1 TaBV 15/07 – zu III der Gründe). Dies ergibt eine Auslegung von § 82 Satz 2 SGB IX aF unter Berücksichtigung des Wortlauts, des systematischen Zusammenhangs, der Entstehungsgeschichte sowie von Sinn und Zweck der Bestimmung.
32
(1) Der Wortlaut von § 82 Satz 2 SGB IX aF ist – auch unter Berücksichtigung der inneren Systematik des § 82 SGB IX aF – insoweit nicht eindeutig. Zwar knüpft § 82 Satz 2 SGB IX aF mit der Formulierung „um einen solchen Arbeitsplatz beworben“ an die in § 82 Satz 1 SGB IX aF getroffene Regelung an, wonach die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze melden. Das Wort „solchen“ in § 82 Satz 2 SGB IX aF muss sich allerdings nicht zwangsläufig nur auf Arbeitsplätze beziehen, die der Agentur für Arbeit gemeldet werden und damit (auch) zur externen Besetzung anstehen, sondern kann sich ebenso gut ausschließlich auf die in § 82 Satz 1 SGB IX aF genannten frei werdenden, neu zu besetzenden sowie die neu eingerichteten Arbeitsplätze beziehen (LPK-SGB IX/Düwell 4. Aufl. § 82 Rn. 8). Der Umstand, dass schwerbehinderte Bewerber nach § 82 Satz 2 SGB IX aF auch dann zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen sind, wenn sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen wurden, ändert daran nichts.
33
(2) Nach der Entstehungsgeschichte des § 82 SGB IX aF könnte bereits einiges dafür sprechen, dass der öffentliche Arbeitgeber auch bei interner Stellenbesetzung schwerbehinderte Bewerber/innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen hat, sofern diesen die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt.
34
(a) Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wurde zum 1. Oktober 2000 als weitere Pflicht für Bundesbehörden in § 14a SchwbG(BGBl. I S. 1394) eingeführt. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu, dass die öffentlichen Arbeitgeber des Bundes in Erweiterung der allgemeinen Arbeitgeberpflichten in § 13 und § 14 SchwbG den Arbeitsämtern frühzeitig frei werdende oder neue Arbeitsplätze zu melden hätten; darüber hinaus seien die schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn sie nicht offensichtlich für die zu besetzende Stelle fachlich ungeeignet seien (BT-Drs. 14/3372 S. 18). Danach könnte einiges dafür sprechen, dass der Gesetzgeber mit der Verpflichtung zur Einladung zum Vorstellungsgespräch eine weitere besondere Arbeitgeberpflicht schaffen wollte, die unabhängig davon bestehen sollte, ob die Stellen intern oder extern besetzt werden sollten.
35
(b) Bei der Schaffung des SGB IX (im Folgenden SGB IX 2001) hat der Gesetzgeber die zuvor in § 14a SchwbG enthaltene Pflicht der öffentlichen Arbeitgeber des Bundes, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, – nunmehr auf alle öffentlichen Arbeitgeber erweitert – in § 82 Satz 2 SGB IX 2001 normiert. In der Gesetzesbegründung wird insoweit lediglich darauf hingewiesen, dass mit der in § 82 SGB IX 2001 getroffenen Regelung auch die öffentlichen Arbeitgeber nach § 71 Abs. 3 Nr. 2 bis Nr. 4 SGB IX aF in die Verpflichtung einbezogen würden, frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze den Arbeitsämtern frühzeitig zu melden.
36
(c) Aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber in § 82 Satz 1 SGB IX in der ab dem 30. Dezember 2016 geltenden Fassung den Passus „nach einer erfolglosen Prüfung zur internen Besetzung des Arbeitsplatzes“ eingefügt und diese Bestimmung mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2016 ohne jede Änderung in § 165 Satz 1 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung übernommen hat, ergibt sich für § 82 Satz 2 SGB IX aF schon deshalb nichts anderes, da dieser Passus nach Ansicht des Gesetzgebers deshalb erforderlich war, weil für öffentliche Arbeitgeber die Meldung frei werdender und neu zu besetzender Stellen aufgrund haushaltsrechtlicher Vorschriften problematisch sein könne und zunächst zu prüfen sei, ob offene Stellen mit vorhandenem Personal besetzt werden könnten (BT-Drs. 18/10523 S. 67). Diese gesetzgeberischen Erwägungen betreffen indes ausschließlich die Meldepflicht des Arbeitgebers. Eine Klarstellung, ob die Pflicht zur Einladung schwerbehinderter Menschen zu einem Vorstellungsgespräch – ggf. schon immer – nur gegenüber externen oder auch gegenüber internen Bewerbern/innen bestand, war damit nicht verbunden.
37
(3) Dass der öffentliche Arbeitgeber nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet ist, auch – nicht offensichtlich fachlich ungeeignete – interne schwerbehinderte Bewerber/innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, folgt aus einer am Sinn und Zweck orientierten Auslegung der Norm im Lichte der in Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie in Art. 5 Abs. 3, Art. 27 Abs. 1 und Art. 2 Unterabs. 3 UN-BRK getroffenen Bestimmungen.
38
(a) Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollen schwerbehinderte Bewerber/innen durch das in § 82 Satz 2 SGB IX aF genannte Vorstellungsgespräch die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern. Sie sollen die Chance haben, den Arbeitgeber von ihrer Eignung (im weitesten Sinne) zu überzeugen. Über die schriftlichen Bewerbungsunterlagen hinaus soll sich der Arbeitgeber ein Bild von der Persönlichkeit des Bewerbers, seinem Auftreten, seiner Leistungsfähigkeit und seiner Eignung machen. Weiter stellt das Vorstellungsgespräch auch ein geeignetes Mittel dar, um eventuelle Vorbehalte oder gar Vorurteile auszuräumen (BAG 22. August 2013 – 8 AZR 563/12 – Rn. 59).
39
Bereits dieser Gesetzeszweck gebietet eine weite Auslegung von § 82 Satz 2 SGB IX aF dahin, dass eine Verpflichtung zur Einladung schwerbehinderter Menschen nicht nur dann besteht, wenn diese sich als externe Bewerber um eine „Einstellung“ bewerben, sondern auch dann, wenn sie sich als interne Bewerber auf eine andere Stelle bei ihrem Arbeitgeber bewerben, wobei damit häufig ein „beruflicher Aufstieg“ verbunden ist. Vorbehalte oder gar Vorurteile der personalverantwortlichen Personen können nicht nur gegenüber externen Bewerbern, sondern auch gegenüber bereits beschäftigten schwerbehinderten Menschen bestehen (LPK-SGB IX/Düwell 4. Aufl. § 82 Rn. 8). Zudem ist nicht auszuschließen, dass sich bestehende Behinderungen bei Ausübung der angestrebten Tätigkeit anders auswirken als bei Ausübung der bisherigen Tätigkeit und dass diesem Umstand in Beurteilungen, die der/die schwerbehinderte Beschäftigte auf dem bisherigen Arbeitsplatz erhalten hat, nicht hinreichend Rechnung getragen wurde. Im Übrigen kann – auch wenn der öffentliche Arbeitgeber die bei ihm beschäftigten schwerbehinderten Bewerber/innen kennt – nicht generell unterstellt werden, dass den Personalverantwortlichen der jeweils zuständigen Dienststelle, die über die Stellenbesetzung zu entscheiden haben, auch das tatsächliche Leistungsprofil des/r schwerbehinderten Bewerbers/in im Hinblick auf die zu besetzende Stelle bekannt ist. Letztlich ist von Bedeutung, dass der öffentliche Arbeitgeber einem sich bewerbenden schwerbehinderten Menschen die Chance eines Vorstellungsgesprächs auch dann gewähren muss, wenn dessen fachliche Eignung zwar zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist und dass der schwerbehinderte Mensch im Bewerbungsverfahren nach § 82 Satz 2 SGB IX aF mithin insoweit bessergestellt wird als nicht schwerbehinderte Konkurrenten (BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 32). Hierdurch erhält der schwerbehinderte Mensch die Möglichkeit, einen nach den bisherigen Umständen ggf. bestehenden Vorsprung anderer Bewerber, den diese insbesondere aufgrund ihrer Zeugnisse und ggf. ihrer dienstlichen Beurteilungen haben, durch einen persönlichen Eindruck auszugleichen. Dafür, dass ein/e schwerbehinderte/r Bewerber/in diesen Chancenvorteil bei einer internen Stellenbesetzung nicht haben soll, ist nichts ersichtlich.
40
(b) Eine weite Auslegung von § 82 Satz 2 SGB IX aF dahin, dass der öffentliche Arbeitgeber nicht nur zur Einladung externer, sondern auch zur Einladung interner schwerbehinderter Bewerber/innen zu einem Vorstellungsgespräch verpflichtet ist, ist auch mit Blick auf die in Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie in Art. 5 Abs. 3, Art. 27 Abs. 1 und Art. 2 Unterabs. 3 UN-BRK getroffenen Bestimmungen geboten.
41
(aa) Nach Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG haben die Mitgliedstaaten angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, was nach Art. 5 Satz 2 der Richtlinie 2000/78/EG bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um Menschen mit Behinderung ua. nicht nur den Zugang zur Beschäftigung, sondern auch den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten (vgl. EuGH 17. Juli 2008 – C-303/06 – [Coleman] Rn. 39; dazu, dass Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG im AGG keine wortgleiche Umsetzung erfahren hat BAG 22. Mai 2014 – 8 AZR 662/13 – Rn. 42, BAGE 148, 158).
42
(bb) Art. 5 Abs. 3 UN-BRK bestimmt, dass die Vertragsstaaten zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierungen alle geeigneten Schritte unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a UN-BRK sichern und fördern die Vertragsstaaten die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um ua. „Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten“. Zudem bestimmt Art. 2 Unterabs. 3 UN-BRK, dass von der „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ alle Formen der Diskriminierung erfasst sind, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Die Bestimmungen der UN-BRK sind Bestandteil der Unionsrechtsordnung (vgl. EuGH 11. September 2019 – C-397/18 – [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 39; 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 ff.) und damit zugleich Bestandteil des – unionsrechtskonform auszulegenden – deutschen Rechts (BAG 4. November 2015 – 7 ABR 62/13 – Rn. 27, BAGE 153, 187; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 53, BAGE 147, 60). Der Umstand, dass die UN-BRK seit ihrem Inkrafttreten integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, führt darüber hinaus dazu, dass auch die Richtlinie 2000/78/EG ihrerseits nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen ist (vgl. EuGH 11. September 2019 – C-397/18 – [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 40; 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 bis 32).
43
(cc) Da sowohl Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG als auch Art. 5 Abs. 3 und Art. 27 Abs. 1 UN-BRK die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen fordern, um Menschen mit Behinderung nicht nur den Zugang zur Beschäftigung, sondern auch den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, und es bei Bewerbungen interner Bewerber/innen auf einen anderen Arbeitsplatz bei ihrem Arbeitgeber häufig um den beruflichen Aufstieg geht, ist § 82 Satz 2 SGB IX aF iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 5 Abs. 3 und Art. 27 Abs. 1 UN-BRK dahin auszulegen, dass er den öffentlichen Arbeitgeber zur Einladung eines schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch unabhängig davon verpflichtet, ob es sich um eine/n externe/n oder interne/n Bewerber/in handelt.
44
dd) Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts war die Beklagte ihrer Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX aF, den schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, mit der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch für die in Berlin M zu besetzende Stelle nachgekommen. Sie musste den Kläger nicht zusätzlich zu einem Vorstellungsgespräch für die in Cottbus zu besetzende Stelle einladen, weshalb der Umstand der Nichteinladung zu einem Vorstellungsgespräch für diese Stelle nicht die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen kann, dass der Kläger die Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren hat.
45
(1) Das Landesarbeitsgericht hat es dahinstehen lassen, ob der öffentliche Arbeitgeber auch bei internen Stellenbesetzungen nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet ist, einen schwerbehinderten oder diesem gleichgestellten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Es hat angenommen, dass der öffentliche Arbeitgeber jedenfalls dann, wenn er sich – wie hier – dazu entschließe, Auswahlgespräche durchzuführen, weil ihm die Papierlage und die Eindrücke der Vorgesetzten etc. von den Beschäftigten, die sich auf eine intern zu besetzende Stelle beworben hätten, nicht genüge, um deren Eignung, Befähigung und fachliche Leistung beurteilen zu können, verpflichtet sei, einen schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Die Beklagte könne auch nicht damit gehört werden, dem Kläger sei im Rahmen des Auswahlgesprächs für die Stelle in Berlin M die Chance eingeräumt worden, sich persönlich vorzustellen. Bei der Ausschreibung mehrerer Stellen mit identischem Anforderungsprofil sei eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch für jede der Stellen nur dann entbehrlich, wenn die Auswahl aufgrund eines identischen Auswahlverfahrens erfolge, die Auswahlkommissionen personenidentisch seien und zwischen den jeweiligen Auswahlentscheidungen nur wenige Wochen lägen. Im vorliegenden Fall seien die Auswahlkommissionen für die Stellen in Cottbus und Berlin M indes nicht personenidentisch gewesen, weshalb die Beklagte den Kläger auch zu einem Vorstellungsgespräch für die bei der Agentur für Arbeit in Cottbus zu besetzende Stelle hätte einladen müssen.
46
(2) Anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat, ist der öffentliche Arbeitgeber im Fall der Ausschreibung mehrerer Stellen mit identischem Anforderungsprofil, die in etwa zeitgleich zu besetzen sind, nicht erst dann von seiner grundsätzlich bestehenden Verpflichtung befreit, den/die schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch für jede der ausgeschriebenen Stellen einzuladen, auf die sich diese/r beworben hat, wenn die jeweiligen Auswahlkommissionen personenidentisch besetzt sind. In einem solchen Fall reicht es vielmehr regelmäßig aus, den/die schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch für eine der zu besetzenden Stellen einzuladen, sofern dieselbe für die Durchführung des Auswahlverfahrens zuständige Dienststelle des öffentlichen Arbeitgebers für die Stellen ein identisch ausgestaltetes Auswahlverfahren nach identischen Auswahlkriterien durchführt.
47
(a) Der mit § 82 Satz 2 SGB IX aF verfolgte Zweck, dem/der schwerbehinderten Bewerber/in die Möglichkeit zu geben, den Arbeitgeber – über die Papierform hinaus – von seiner/ihrer Eignung für die zu besetzende Stelle zu überzeugen und eventuelle Vorbehalte oder gar Vorurteile auszuräumen, wird – sofern mehrere Stellen mit identischem Anforderungsprofil ausgeschrieben werden, die in etwa zeitgleich zu besetzen sind, dieselbe Dienststelle des öffentlichen Arbeitgebers für die Durchführung des Auswahlverfahrens zuständig ist und für die Stellen ein identisch ausgestaltetes Auswahlverfahren nach identischen Auswahlkriterien durchführt – nämlich regelmäßig bereits dadurch erreicht, dass der/die schwerbehinderte Bewerber/in einmalig die Gelegenheit erhält, sich bei der für die Durchführung des Auswahlverfahrens zuständigen Dienststelle des öffentlichen Arbeitgebers in einem Vorstellungsgespräch zu präsentieren.
48
(b) Für die vom Landesarbeitsgericht geforderte Personenidentität der Mitglieder einer Auswahlkommission enthält das Gesetz hingegen keinen Anhaltspunkt. Vielmehr nimmt § 82 SGB IX aF die personalverwaltenden Dienststellen, dh. die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber, die für die Durchführung des Auswahlverfahrens zuständig sind, in die Pflicht. Diese haben nicht nur nach § 82 Satz 1 SGB IX aF den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze zu melden. Diese Dienststellen trifft auch die Verpflichtung zur Einladung zum Vorstellungsgespräch (LPK-SGB IX/Düwell 5. Aufl. § 165 Rn. 4; Neumann in Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben SGB IX 13. Aufl. § 165 Rn. 2 und 5).
49
(3) Vorliegend hatte die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten, die sowohl die für die Durchführung des Auswahlverfahrens für die bei der Agentur für Arbeit in Berlin M als auch die für die Durchführung des Auswahlverfahrens für die bei der Agentur für Arbeit in Cottbus zu besetzende Stelle zuständige Dienststelle der Beklagten war, beide Stellen mit einem identischen Anforderungsprofil ausgeschrieben und für sie ein identisch ausgestaltetes Auswahlverfahren nach denselben Auswahlkriterien durchgeführt. Insbesondere gehörten den jeweiligen Auswahlkommissionen dieselben Funktionsträger, darunter auch ein/e Vertreter/in der für die Durchführung des Auswahlverfahrens zuständigen Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten an. Der Umstand, dass der Auswahlkommission für die in Berlin M zu besetzende Stelle zusätzlich der Bereichsleiter Interner Service Berlin angehörte, ist nicht von Bedeutung.
50
Indem die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch für die in Berlin M zu besetzende Stelle eingeladen hatte, war sie mithin ihrer Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF ausreichend nachgekommen. Ob und unter welchen konkreten weiteren Voraussetzungen sich etwas Anderes ergeben könnte, wenn der Kläger zu dem Vorstellungsgespräch für die in Berlin M zu besetzende Stelle nicht erschienen wäre oder nicht hätte erscheinen können, bedurfte keiner Entscheidung, da der Kläger der Einladung der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Beklagten zu einem Vorstellungsgespräch in Berlin M nachgekommen war.
51
3. Der Senat konnte über die Auslegung von § 82 Satz 2 SGB IX aF in dem unter Rn. 31 ff. ausgeführten Sinn entscheiden, ohne zuvor im Hinblick auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Dezember 2011 (- 2 A 13.10 – Rn. 19 ff.) den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG anzurufen.
52
a) Nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG ist die Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes geboten, wenn ein oberster Gerichtshof in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will. Voraussetzung hierfür ist, dass sich die zur Entscheidung vorgelegte Rechtsfrage im Anwendungsbereich derselben Rechtsvorschrift stellt oder dass sie auf der Grundlage von Vorschriften aufgeworfen wird, die zwar in verschiedenen Gesetzen stehen, in ihrem Wortlaut aber im Wesentlichen und in ihrem Regelungsinhalt gänzlich übereinstimmen und deswegen nach denselben Prinzipien auszulegen sind (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes 6. Februar 1973 – GmS-OGB 1/72 – BVerwGE 41, 363; 12. März 1987 – GmS-OGB 6/86 – BVerwGE 77, 370; vgl. auch BAG 18. September 2019 – 7 ABR 44/17 – Rn. 36; 11. November 2003 – 7 AZB 40/03 – Rn. 9; BVerwG 19. Februar 2015 – 9 C 10.14 – Rn. 34, BVerwGE 151, 255). Darüber hinaus muss die Rechtsfrage sowohl für den erkennenden Senat in der anhängigen Sache als auch für den divergierenden Senat in der bereits entschiedenen Sache entscheidungserheblich sein (vgl. BAG 18. September 2019 – 7 ABR 44/17 – aaO; 7. Dezember 2005 – 5 AZR 254/05 – Rn. 34; BVerwG 9. Mai 2019 – 4 C 2.18, 4 C 3.18 – Rn. 18, BVerwGE 165, 299).
53
b) Danach besteht im vorliegenden Verfahren keine Vorlagepflicht nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG. Die Rechtsfrage, ob der öffentliche Arbeitgeber nach § 82 Satz 2 SGB IX aF schwerbehinderte Bewerber/innen auch bei einer internen Stellenbesetzung zu einem Vorstellungsgespräch einladen muss, war für das Bundesverwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich.
54
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 15. Dezember 2011 (- 2 A 13.10 – Rn. 23 f.) angenommen, schwerbehinderte Beschäftigte hätten dann keinen Anspruch auf Einladung zum Vorstellungsgespräch nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, wenn der öffentliche Arbeitgeber den Arbeitsplatz berechtigterweise nur intern zur Besetzung ausschreibe. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung gleichermaßen tragend darauf gestützt, der dortige Kläger habe auch deshalb nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden müssen, weil ihm die fachliche Eignung offensichtlich fehlte (BVerwG 15. Dezember 2011 – 2 A 13.10 – Rn. 26 ff.). Das Bundesverwaltungsgericht wäre in dem von ihm zu entscheidenden Fall somit zu demselben Ergebnis gelangt, wenn es § 82 Satz 2 SGB IX aF auch bei einer lediglich internen Stellenbesetzung für anwendbar gehalten, die Rechtsfrage also anders oder nicht beantwortet hätte.
55
B. Die Anschlussrevision des Klägers ist teilweise unzulässig. Soweit sie zulässig ist, ist sie unbegründet.
56
I. Soweit der Kläger seinen mit dem Klageantrag zu 1. weiter verfolgten Anspruch auf Zahlung einer höheren Vergütung auf einen Verstoß der Beklagten gegen den Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) sowie darauf stützt, er sei als freigestellter Personalrat und Schwerbehindertenvertreter entgegen den Vorgaben in § 8 BPersVG und § 96 Abs. 2 SGB IX aF in seiner beruflichen Entwicklung benachteiligt worden, ist die Anschlussrevision unzulässig. Der Kläger hat die Anschlussrevision insoweit nicht innerhalb der maßgeblichen Frist des § 554 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 ZPO den Anforderungen nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 554 Abs. 3 Satz 2, § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO entsprechend begründet.
57
1. Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO gehört zum notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung die Angabe der Revisionsgründe. Bei einer Sachrüge muss der vermeintliche Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufgezeigt werden, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs erkennbar sind. Dazu muss die Revisionsbegründung eine konkrete Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils enthalten. Bei mehreren Streitgegenständen muss für jeden eine solche Begründung gegeben werden. Fehlt sie zu einem Streitgegenstand, ist das Rechtsmittel insoweit unzulässig (BAG 24. Januar 2017 – 1 AZR 774/14 – Rn. 10; 27. Juli 2010 – 1 AZR 186/09 – Rn. 13 mwN).
58
2. Soweit der Kläger seinen Anspruch auf Zahlung einer höheren Vergütung auf einen Verstoß der Beklagten gegen den Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) sowie darauf stützt, er sei als freigestellter Personalrat und Schwerbehindertenvertreter entgegen den Vorgaben in § 8 BPersVG und § 96 Abs. 2 SGB IX aF in seiner beruflichen Entwicklung und entgegen den Vorgaben des AGG iVm. dem SGB IX aF wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt worden, liegen – trotz eines einheitlichen Klagebegehrens – zumindest zwei Streitgegenstände vor.
59
a) Nach dem auch für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren geltenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den dort gestellten Antrag (Klageantrag), in dem sich die von der klagenden Partei in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert, und den ihm zugrundeliegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt. Der Streitgegenstand erfasst alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet hat (BAG 17. Dezember 2015 – 8 AZR 54/14 – Rn. 16; 26. Juni 2013 – 5 AZR 482/12 – Rn. 16). Nur ein Streitgegenstand ist gegeben, wenn der Tatsachenstoff nicht sinnvoll auf verschiedene eigenständige, den Sachverhalt in seinem Kerngehalt verändernde Geschehensabläufe aufgeteilt werden kann, selbst wenn diese einer eigenständigen rechtlichen Bewertung zugänglich sind. Eine Mehrheit von Streitgegenständen liegt demgegenüber vor, wenn die materiell-rechtliche Regelung die zusammentreffenden Ansprüche durch eine Verselbständigung der einzelnen Lebensvorgänge erkennbar unterschiedlich ausgestaltet (BGH 21. November 2017 – II ZR 181/15 – Rn. 18; 13. September 2012 – I ZR 230/11 – Rn. 19, BGHZ 194, 314).
60
b) Danach liegen – trotz eines einheitlichen Klagebegehrens – zumindest zwei Streitgegenstände vor. Jedenfalls den geltend gemachten Ansprüchen nach § 15 Abs. 1 AGG auf der einen Seite und nach den § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB iVm. Art. 33 Abs. 2 GG bzw. § 8 BPersVG, § 96 Abs. 2 SGB IX aF oder § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 8 BPersVG, und § 96 Abs. 2 SGB IX aF auf der anderen Seite liegen unterschiedliche Lebenssachverhalte zugrunde. Im ersteren Fall geht es um Schadensersatz wegen einer – behaupteten – Diskriminierung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung, während die übrigen behaupteten Ansprüche auf zumindest einem anderen Lebenssachverhalt beruhen, nämlich auf einem vom Kläger behaupteten Verstoß der Beklagten gegen Art. 33 Abs. 2 GG bzw. einer vom Kläger geltend gemachten Benachteiligung wegen seiner Tätigkeit als Personalrat sowie als Schwerbehindertenvertreter, wobei diese beiden Komplexe durch die Frage, ob die Auswahl anhand einer aktuellen (fiktiv nachgezeichneten) Beurteilung hätte erfolgen müssen – wie der Kläger meint -, oder ob sie auf der Grundlage eines strukturierten Auswahlgesprächs durchgeführt werden konnte, miteinander verbunden sind.
61
3. Der Kläger hat die Anschlussrevision nur im Hinblick auf einen Schadensersatzanspruch nach § 15 Abs. 1 AGG wegen einer Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung innerhalb der maßgeblichen Frist des § 554 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 ZPO den Anforderungen nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 554 Abs. 3 Satz 2, § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 ZPO entsprechend begründet. Im Hinblick auf die Ansprüche nach § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB iVm. Art. 33 Abs. 2 GG bzw. § 8 BPersVG, § 96 Abs. 2 SGB IX aF oder § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 8 BPersVG, und § 96 Abs. 2 SGB IX aF fehlt es in der Anschlussschrift an jeglicher Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Urteils. Der Schriftsatz des Klägers vom 23. April 2020, der hierzu Ausführungen enthält, ist erst nach Ablauf der Frist zur Begründung der Anschlussrevision beim Bundesarbeitsgericht eingegangen.
62
II. Soweit der Kläger mit der Anschlussrevision einen Anspruch auf Schadensersatz nach § 15 Abs. 1 AGG sowie auf Zahlung einer höheren Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verfolgt, ist die Anschlussrevision zwar zulässig. Sie ist aber unbegründet. Die Beklagte hat – wie unter Rn. 20 ff. ausgeführt – nicht gegen das Verbot der Benachteiligung des Klägers wegen der (Schwer)Behinderung verstoßen.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Lüken
Wroblewski |
bag_2-17 | 25.01.2017 | 25.01.2017
2/17 - Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen - Sozialkassenverfahren des Baugewerbes (AVE VTV 2012)
Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 21. Dezember 2011 ist mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 5 TVG aF* unwirksam. Zwar hat sich der zuständige Staatssekretär mit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) befasst, jedoch war die nach damaligem Rechtsstand erforderliche 50%-Quote nicht erreicht.
Auf Antrag der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 3. Mai 2012 den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 gemäß § 5 TVG in der damals geltenden Fassung mit bereits im Antrag enthaltenen Einschränkungen bezüglich des betrieblichen Geltungsbereichs („Große Einschränkungsklausel“) für allgemeinverbindlich erklärt (AVE VTV 2012).
Der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag regelt das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe. Bei den Sozialkassen des Baugewerbes (SOKA-BAU) handelt es sich um gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes (Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt – IG BAU , Hauptverband der Deut-schen Bauindustrie e.V. HDB und Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e.V. ZDB). Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse erbringt Leistungen im Urlaubs- und Berufsbildungsverfahren, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes zusätzliche Altersversorgungsleistungen, die jeweils in gesonderten Tarifverträgen näher geregelt sind. Zur Finanzierung dieser Leistungen werden nach Maßgabe des VTV Beiträge von den Arbeitgebern erhoben. Durch die AVE gelten die Tarifverträge nicht nur für die tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien, sondern auch für alle anderen Arbeitgeber der Branche. Sie sind hiernach zur Beitragszahlung verpflichtet. Sowohl die Arbeitgeber als auch ihre Beschäftigten erhalten Leistungen von den Sozialkassen.
Bei den Antragstellern handelt es sich überwiegend um Arbeitgeber, die nicht Mitglied einer Arbeitgebervereinigung sind und deshalb nur auf Grundlage der Allgemeinverbindlicherklärung zu Beitragszahlungen herangezogen wurden. Sie haben die Auffassung vertreten, die gesetzlichen Voraussetzungen für die AVE hätten nicht vorgelegen. Insbesondere hätten die tarifgebundenen Arbeitgeber der Baubranche nicht 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigt (50%-Quote). Auch habe kein öffentliches Interesse für die Allgemeinverbindlicherklärung vorgelegen. Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge zurückgewiesen und festgestellt, dass die angegriffene Allgemeinverbindlicherklärung wirksam ist.
Die vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden hatten vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Allgemeinverbindlicherklärung vom 3. Mai 2012 des VTV ist unwirksam. Der Senat hat unter Bezugnahme auf die ausführlich begründete Leitentscheidung vom 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – (dazu Pressemitteilung 50/16) betont, dass es keine tragfähige Grundlage für die Annahme des BMAS gibt, wonach zum Zeitpunkt des Erlasses der AVE in der Baubranche mindestens 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt waren. Aller-dings ergibt sich die Unwirksamkeit nicht zusätzlich aus einem Verstoß gegen das in Art. 20 GG verankerte Demokratieprinzip. Aufgrund eines zunächst erhobenen Einspruchs des Freistaats Sachsen nach § 5 Abs. 3 TVG hat sich der zuständige Staatssekretär im BMAS zustimmend mit der AVE VTV 2012 befasst.
Die Feststellung der Unwirksamkeit der AVE VTV 2012 wirkt gemäß § 98 Abs. 4 ArbGG für und gegen jedermann. Sie hat zur Folge, dass im maßgeblichen Zeitraum nur für tarifgebundene Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu den Sozialkassen des Baugewerbes bestand. Andere Arbeitgeber der Baubranche sind nicht aufgrund der AVE verpflichtet, für das Jahr 2012 Beiträge zu leisten (zu den weiteren Rechtsfolgen Pressemitteilungen 50/16 und 51/16).
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 25. Januar 2017 – 10 ABR 43/15 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Juli 2015 – 3 BVL 5003/14 –
*§ 5 TVG in der bis 15. August 2014 geltenden Fassung lautete auszugsweise:
„Allgemeinverbindlichkeit
(1) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Ein-vernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn
1. die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und
2. die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.
Von den Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 kann abgesehen werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erforderlich erscheint.
…
(3) Erhebt die oberste Arbeitsbehörde eines beteiligten Landes Einspruch gegen die beantragte Allgemeinverbindlicherklärung, so kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dem Antrag nur mit Zustimmung der Bundesregierung stattgeben.
(4) Mit der Allgemeinverbindlicherklärung erfassen die Rechtsnormen des Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer…“ | Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Juli 2015 – 3 BVL 5003/14 – aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 3. Mai 2012 (BAnz. AT 22. Mai 2012 B4) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezember 2009 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 unwirksam ist.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) vom 3. Mai 2012 (BAnz. AT 22. Mai 2012 B4) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 (AVE VTV 2012).
2
Die Beteiligte zu 6. – die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) – einerseits sowie der Beteiligte zu 4. – der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e. V. (ZDB) – und der Beteiligte zu 5. – der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e. V. (HDB) – andererseits sind Tarifvertragsparteien von Tarifverträgen für das Baugewerbe, ua. des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011. Der VTV regelt die Durchführung des in weiteren Tarifverträgen festgelegten Urlaubskassenverfahrens, der zusätzlichen Altersversorgung und der Berufsbildung im Baugewerbe.
3
Der Beteiligte zu 3. ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK), eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit Rechtsfähigkeit aufgrund staatlicher Verleihung. Er ist die gemeinsame Einzugsstelle für die im Urlaubs- und Berufsbildungsverfahren zu zahlenden tariflich festgelegten Beiträge. Darüber hinaus zieht er bei Arbeitgebern mit Sitz in den alten Bundesländern die Beiträge der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG (ZVK) sowie die Beiträge der regionalen Kassen in Bayern und Berlin ein.
4
Mit Schreiben vom 23. Dezember 2011 beantragte die Beteiligte zu 6. zugleich namens und in Vollmacht der Beteiligten zu 4. und 5. bei dem Beteiligten zu 2., dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), den VTV vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 mit Einschränkungen beim betrieblichen Geltungsbereich (sog. Große Einschränkungsklausel) mit Wirkung zum 1. Januar 2012 für allgemeinverbindlich zu erklären.
5
Dabei führte die Beteiligte zu 6. mit Ergänzungen aus einem Schreiben vom 14. Februar 2012 insbesondere aus, dass – beruhend auf Erhebungen des Beteiligten zu 3. einerseits und der Beteiligten zu 4. und 5. andererseits – zum Stichtag 30. September 2011 in den Mitgliedsbetrieben der tarifvertragschließenden Arbeitgeberverbände 431.159 Arbeitnehmer (331.547 gewerbliche Arbeitnehmer, 75.186 Angestellte und 24.426 Auszubildende) beschäftigt gewesen seien (sog. Kleine Zahl). In den vom Beteiligten zu 3. erfassten Betrieben seien zum Stichtag 30. September 2011 653.466 Arbeitnehmer (519.738 gewerbliche Arbeitnehmer, 100.237 Angestellte sowie 33.491 Auszubildende) beschäftigt gewesen (sog. Große Zahl).
6
Tatsächlich hatte der Beteiligte zu 3. 101.237 von ihm erfasste Angestellte – also 1.000 mehr – an die Tarifvertragsparteien gemeldet. Ferner meldete der Beteiligte zu 3. ihnen weitere 25.895 gewerbliche Arbeitnehmer in von ihm erfassten Betrieben, für die bereits ein Beitragskonto eingerichtet, die Baubetriebseigenschaft jedoch noch streitig war. Die Nennung in der Antragstellung unterblieb versehentlich.
7
Der Antrag wurde an die obersten Arbeitsbehörden der Länder zur Stellungnahme übermittelt und ebenso wie der Termin für die Verhandlung des Tarifausschusses im Bundesanzeiger bekannt gemacht.
8
Mit Schreiben vom 27. Januar 2012 legte das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr gemäß § 5 Abs. 3 TVG Einspruch gegen die beantragte AVE ein.
9
In einem Vermerk vom 17. Februar 2012 prüften zwei Mitarbeiter des Referats IIIa6 des BMAS das Vorliegen der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG in der bis zum 15. August 2014 geltenden Fassung (künftig TVG aF). Dabei stellten sie zunächst fest, dass die AVE nur mit Einschränkung des betrieblichen Geltungsbereichs, wie sie sich aus der Großen Einschränkungsklausel ergebe, ergehen solle. Zur Ermittlung der Großen Zahl seien die verfügbaren Erkenntnismittel wie die Daten des Beteiligten zu 3., der Bundesagentur für Arbeit, des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, des Statistischen Bundesamtes und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung auszuwerten. Für die Kleine Zahl zogen sie die von den Beteiligten zu 4. und 5. ermittelte und im Antrag auf AVE mitgeteilte Zahl von 431.159 Arbeitnehmern heran. Es bestünden keine Gründe, an dieser Zahl zu zweifeln. Auf dieser Grundlage errechneten die Referatsmitarbeiter die folgenden Quoten:
Datenquelle
Große Zahl
Kleine Zahl
Tarifbindung
ULAK
653.466
66 %
(Stand 30.09.11)
BA
1.054.423
40,9 %
(Stand 30.06.11)
431.159
(Stand 30.09.11)
StaBU
721.496
59,8 %
(Stand 30.06.11)
ZDH
–
–
10
In der anschließenden Würdigung bevorzugten sie bezüglich der Großen Zahl die vom Beteiligten zu 3. (ULAK) mitgeteilte Zahl. Allein diese bilde den Geltungsbereich des VTV in der zur Allgemeinverbindlicherklärung beantragten Form unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel ab. Die Zahlen der anderen Datenquellen seien letztlich ungeeignet, da sie keinen Bezug zum Geltungsbereich des VTV hätten.
11
Am 21. Februar 2012 tagte der Tarifausschuss und befürwortete die beantragte AVE.
12
Wegen der aufgrund des Einspruchs des Freistaats Sachsen gegen die beantragte AVE nach § 5 Abs. 3 TVG erforderlichen Zustimmung der Bundesregierung wandte sich der Leiter der Abteilung III des BMAS mit Schreiben vom 22. März 2012 an Herrn Staatssekretär H. Eine Kopie des Schreibens ging ua. an Frau Bundesministerin Nahles. In dieser Vorlage wird unter Schilderung des Sachstandes zur beantragten AVE angeregt, mit der Sächsischen Staatskanzlei Kontakt aufzunehmen, um eine Rücknahme des Einspruchs zu erreichen oder – im Falle der Erfolglosigkeit – eine zeitnahe Behandlung des AVE-Antrags im Kabinett durchzuführen. Herr Staatssekretär H zeichnete die Vorlage am 26. März 2012 ab und führte in der Folgezeit ein Telefongespräch mit Herrn Staatssekretär F aus dem Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, der den Einspruch gegen die beantragte AVE unterzeichnet hatte. Dies wurde dem Abteilungsleiter mit E-Mail der persönlichen Referentin des Staatssekretärs vom 29. März 2012 mitgeteilt. Mit E-Mail vom 11. April 2012 teilte die persönliche Referentin des Staatssekretärs dem Leiter der Abteilung III des BMAS mit, dass Herr Staatssekretär H um die Vorbereitung einer Kabinettvorlage bitte. Sie vermerkte diese Bitte auch auf dem Schreiben vom 22. März 2012. Mit Schreiben vom 12. April 2012 bat das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr darum, seinen Einspruch gegen die beantragte AVE nicht als Einspruch iSd. § 5 Abs. 3 TVG zu werten. Mit einer auf dieses Schreiben gesetzten und von Herrn Staatssekretär H abgezeichneten Verfügung vom 13. April 2012 wurde die Abteilung III des BMAS um weitere Veranlassung gebeten.
13
In einem Vermerk vom 27. April 2012 prüften zwei Mitarbeiter des Referats IIIa6 des BMAS erneut die Voraussetzungen für den Ausspruch der AVE und führten aus, dass ein öffentliches Interesse an der AVE bestehe.
14
Auf Grundlage einer Verfügung vom 3. Mai 2012 wurde die Bekanntmachung der AVE VTV 2012 für den Beteiligten zu 2. durch den Referatsleiter, Herrn W , am 3. Mai 2012 unterzeichnet und mit Wirkung ab 1. Januar 2012 am 22. Mai 2012 im Bundesanzeiger veröffentlicht. Am 17. Dezember 2012 wurde der VTV vom 18. Dezember 2009 idF vom 21. Dezember 2011 mit Wirkung ab 1. Januar 2013 geändert. Die geänderte Fassung des VTV wurde durch AVE vom 29. Mai 2013 (BAnz AT 7. Juni 2013 B5) rückwirkend zum 1. Januar 2013 ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärt.
15
Die Beteiligten zu 7. bis 11., 17., 18. und 24. bis 26. sind natürliche bzw. juristische Personen, die ohne Mitglied in einem der tarifvertragschließenden Arbeitgeberverbände gewesen zu sein, vom Beteiligten zu 3. auf Beitragszahlungen auch für das Jahr 2012 in Anspruch genommen werden. Die entsprechenden Verfahren sind zum Teil gemäß § 98 Abs. 6 ArbGG ausgesetzt. Die Beteiligte zu 17. wurde ursprünglich nur für Beitragszahlungen bis November 2011 in Anspruch genommen. Mit Mahnbescheid vom 19. August 2016 macht der Beteiligte zu 3. nunmehr auch Ansprüche für den Zeitraum von Dezember 2011 bis November 2012 gegen die Beteiligte zu 17. geltend.
16
Der Beteiligte zu 16. ist der Bundesinnungsverband der Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH). Gemäß seiner Satzung hat er die Aufgabe, Tarifverträge abzuschließen, soweit und solange solche nicht durch Innungen oder Innungsverbände für ihren Bereich abgeschlossen werden. Zu den von ihm abgeschlossenen Tarifverträgen gehören ein „Tarifvertrag über ein Mindestentgelt in den Elektrohandwerken“ aus dem Jahr 1997 nebst Folgetarifverträgen, ein „Tarifvertrag zur Förderung der betrieblichen Altersvorsorge“ aus dem Jahr 2002 sowie ein „Tarifvertrag zur überregionalen Regelung der kollegialen Arbeitnehmerüberlassung“ aus den Jahren 2009 und 2010. Vor dem Verwaltungsgericht Berlin (- VG 4 K 253.12 -) führte der Beteiligte zu 16. seit Juli 2012 ein Verfahren mit dem Ziel, die Unwirksamkeit verschiedener AVE des VTV feststellen zu lassen. Dieser Rechtsstreit, der auch die AVE VTV 2012 betraf, wurde nach Inkrafttreten des § 98 ArbGG in der ab dem 16. August 2014 geltenden Fassung durch übereinstimmende Erledigterklärungen beendet.
17
Die Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. haben die Auffassung vertreten, die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV vom 3. Mai 2012 sei aus formellen und materiellen Gründen unwirksam. Es fehle bereits an der Unterschrift des verantwortlichen Ministers. Die AVE verstoße gegen Grundrechte der Antragsteller und gegen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch sei ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 16 GRC, zweifelhaft, was eine Vorlage an den EuGH erforderlich mache.
18
Der VTV sei unwirksam, da die Beteiligten zu 4., 5. und 6. nicht tariffähig und/oder tarifzuständig gewesen seien. Insbesondere sei den Beteiligten zu 4. und 5. als Spitzenverbänden die Tariffähigkeit von ihren Mitgliedsverbänden nicht vollständig vermittelt worden. Letztere seien im Übrigen teilweise selbst weder tariffähig noch tarifwillig gewesen.
19
Die materiellen Voraussetzungen der AVE hätten nicht vorgelegen. Eine Richtigkeitsvermutung für ministerielle Entscheidungen gebe es nicht. Der Beteiligte zu 2. habe zur Ermittlung der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF hinsichtlich der Großen Zahl nicht alle greifbaren Quellen ausgeschöpft. Schon deshalb sei der Rechtsakt der Verwaltung nichtig; eine gerichtliche Nachbesserung komme nicht in Betracht. Die Zahlen der ULAK seien materiell unbrauchbar, da sie sich nicht mit dem Geltungsbereich des VTV deckten und von Eigeninteressen geprägt seien. In Wirklichkeit sei zum Zeitpunkt des Erlasses der AVE eine sehr viel größere Zahl von Beschäftigten unter den Geltungsbereich des VTV gefallen. Dies ergebe sich beispielsweise aus Zahlen der Bundesagentur für Arbeit oder der Berufsgenossenschaft Bau. Die Angaben der Beteiligten zu 4. und 5. zur Kleinen Zahl seien unzutreffend. Diese beruhten teilweise auf Schätzungen, bei denen kein einheitlicher Maßstab angelegt worden sei. Der Beteiligte zu 2. habe nicht einmal eine stichprobenartige Überprüfung vorgenommen.
20
Das öffentliche Interesse sei lediglich formel- und floskelhaft bejaht und der Beurteilungsspielraum nicht ausgeübt worden. Es habe seitens des Beteiligten zu 2. keine Abwägung der für und gegen eine AVE vorgebrachten Gesichtspunkte gegeben, vielmehr sei lediglich die Empfehlung des Tarifausschusses vollzogen worden. Der Erhalt der tariflichen Einrichtung dürfe nicht im Wege des Zirkelschlusses das öffentliche Interesse an seinem Erhalt begründen. Die herangezogenen Argumente, insbesondere die behauptete erhöhte Fluktuation im Baugewerbe, seien unzutreffend.
21
Die Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. haben beantragt
festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 gemäß der Bekanntmachung vom 3. Mai 2012, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 22. Mai 2012, unwirksam ist.
22
Der Beteiligte zu 3. hat beantragt
festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 gemäß der Bekanntmachung vom 3. Mai 2012, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 22. Mai 2012, wirksam ist.
23
Die Beteiligten zu 2. bis 6. haben die Auffassung vertreten, den Antragstellern fehle die Antragsbefugnis, soweit sie geltend machten, nicht vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfasst zu sein. Im Übrigen sei die angegriffene AVE wirksam. Die Tarifzuständigkeit der Verbände sei nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht Gegenstand des Verfahrens. Ernsthafte Zweifel an deren Vorliegen bestünden im Übrigen nicht.
24
Bei der gerichtlichen Prüfung der Rechtmäßigkeit einer AVE sei keine Ermittlung „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern es sei detaillierter Vortrag der Beteiligten erforderlich, der Zweifel an dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen aufkommen lasse. Solcher Vortrag fehle. Im Übrigen habe der Beteiligte zu 2. ordnungsgemäß entschieden. Die Zahlen der ULAK seien die „geborene Erkenntnisquelle“ für die Große Zahl. Zusätzlich zu den tarifvertraglich vorgeschriebenen Meldungen ermittle die ULAK auch selbst beitragspflichtige Betriebe und erhalte hierzu Hinweise und Informationen von verschiedenen Institutionen, wie zB dem Zoll. Besondere Bedeutung komme ihrer Funktion als gesetzliche Einzugsstelle für die Winterbeschäftigungsumlage zu. Mit Einrichtung des Beitragskontos werde der Betrieb als Baubetrieb erfasst. Bei der Bestimmung der Großen Zahl seien Einschränkungen der AVE hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs aufgrund von Sinn und Zweck der Quote zu berücksichtigen. Der Beteiligte zu 2. habe die gemeldeten Zahlen einer Plausibilitätskontrolle durch Vergleich mit den Zahlen des Statistischen Bundesamts unterzogen, die, wenn überhaupt, die einzig heranzuziehenden Zahlen seien. Andere Zahlen seien ungeeignet, da sie weit über den Geltungsbereich des VTV hinausgingen.
25
Aus der jährlichen Verbandsumfrage zur Beschäftigtenzahl in tarifgebunden Betrieben, die gekoppelt mit der Beitragsveranlagung erhoben werde, ergäben sich zuverlässige Angaben über die Kleine Zahl. Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften seien zwar nicht generell auszuschließen, sie führten aber zu keiner Verfälschung.
26
Das öffentliche Interesse an der AVE sei mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung, die sich praktisch bewährt habe, zu Recht bejaht worden. Im Baugewerbe seien weniger als 50 % der Beschäftigten ununterbrochen in einem Kalenderjahr bei einem Arbeitgeber beschäftigt, über 60 % der teilnehmenden Betriebe habe nicht mehr als fünf Beschäftigte. Mit den drei Sozialkassensystemen würden unterschiedliche sozial- und tarifpolitische Zwecke verfolgt. Dies seien zum einen die Portabilität der Urlaubsansprüche, der Ausgleich von Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund unterjähriger Beschäftigung und vorzeitiger Erwerbsminderung und die Bereitstellung einer ausreichenden und qualifizierten Anzahl von Ausbildungsplätzen zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses.
27
Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge aller damaligen Antragsteller auf Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der AVE VTV 2012 zurückgewiesen und dem positiven Feststellungsantrag des Beteiligten zu 3. stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. ihr Begehren weiter. Die erstinstanzlichen Beteiligten zu 1. und 12. bis 14. haben keine Rechtsbeschwerde eingelegt. Die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 19. bis 23. hat der Senat mit Beschluss vom 11. April 2016 wegen Versäumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist als unzulässig verworfen. Die Beteiligten zu 15. und 27. haben ihre Rechtsbeschwerden mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2016 zurückgenommen.
28
B. Die Rechtsbeschwerden sind zulässig und im Rahmen der gegebenen Antragsbefugnis der Antragsteller (dazu I.), begründet. Die Überprüfung der Wirksamkeit der AVE erfolgt im Beschlussverfahren, in dem der Amtsermittlungsgrundsatz gilt (dazu II.). Hiernach verstößt die AVE weder gegen Verfassungsrecht noch die EMRK. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der Vereinbarkeit der AVE mit Unionsrecht ist unbeschadet der fehlenden Entscheidungserheblichkeit nicht geboten (dazu III.). Ebenso wenig kommt eine Aussetzung nach § 97 Abs. 5 ArbGG in Betracht (dazu IV.). Beim Erlass der AVE hat das BMAS das öffentliche Interesse zu Recht bejaht (dazu V.) und keine verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften verletzt (dazu VI.). Der zuständige Staatssekretär hat sich vor Erlass der AVE hiermit in der erforderlichen Weise befasst (dazu VII.). Die AVE vom 3. Mai 2012 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 (AVE VTV 2012) ist jedoch unwirksam, weil nicht festgestellt werden kann, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber bei Erlass der AVE nicht weniger als 50 vH der unter den Geltungsbereich des VTV fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben (dazu VIII.). Der Beteiligte zu 2. hat gemäß § 98 Abs. 4 Satz 3 ArbGG die Entscheidungsformel dieses Beschlusses im Bundesanzeiger bekannt zu machen (dazu IX.).
29
I. Die Antragsteller sind antragsbefugt und haben ein Interesse an den begehrten Feststellungen. Alle am Verfahren zu beteiligenden Vereinigungen oder Stellen sind beteiligt worden.
30
1. Das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ist hinsichtlich der angegriffenen AVE VTV 2012 statthaft. Unschädlich ist, dass diese vor Inkrafttreten des § 98 ArbGG nF am 16. August 2014 erlassen wurde und auch vor diesem Zeitpunkt durch den VTV idF vom 17. Dezember 2012, der mit Bekanntmachung vom 29. Mai 2013 rückwirkend ab 1. Januar 2013 ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärt wurde, abgelöst wurde (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 36 bis 38).
31
2. Die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Landesarbeitsgerichts ist gemäß § 98 Abs. 3 Satz 1 iVm. § 93 Abs. 2, § 65 ArbGG im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht zu prüfen. Zur Klarstellung ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gemäß § 98 Abs. 2 ArbGG örtlich zuständig war, da das die AVE erlassende BMAS seinen ersten Dienstsitz in Berlin hat (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 39).
32
3. Bei dem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG handelt es sich um ein Normenkontrollverfahren, dessen Durchführung eine Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 oder Abs. 6 ArbGG voraussetzt. Das Verfahren kann grundsätzlich auch hinsichtlich bereits außer Kraft getretener AVE oder VO eingeleitet werden, sofern der jeweilige Antragsteller weiterhin ein rechtlich anerkennenswertes Feststellungsinteresse an einer entsprechenden Entscheidung darlegt.
33
a) Nach § 98 Abs. 1 ArbGG ist antragsbefugt, wer geltend macht, durch die AVE oder die VO oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden (dazu im Einzelnen BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 41 bis 52).
34
b) Hiernach besteht eine Antragsbefugnis der Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. für deren negative Feststellungsanträge ebenso wie eine Antragsbefugnis des Beteiligten zu 3. für dessen positiven Feststellungsantrag.
35
aa) Eine Antragsbefugnis der Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. ergibt sich aus § 98 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG. Sie werden vom Beteiligten zu 3. auf Zahlung von Sozialkassenbeiträgen für den Geltungszeitraum der angegriffenen AVE in Anspruch genommen, ohne Mitglied der tarifvertragschließenden Parteien gewesen zu sein. Die Ablösung der AVE durch eine zeitlich nachfolgende AVE ändert hieran nichts, da die entsprechenden Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind. Dies gilt unabhängig davon, ob der jeweilige Antragsteller im Ausgangsverfahren leugnet, unter den Geltungsbereich des VTV zu fallen. Für eine mögliche Rechtsverletzung ist vielmehr ausreichend, dass er vom Beteiligten zu 3. auf Beitragszahlung in Anspruch genommen wird. Seine rechtlichen Argumente gegen eine Inanspruchnahme werden weder durch § 98 Abs. 1 ArbGG beschränkt noch muss er ein Klageverfahren oder andere drohende Nachteile abwarten, bevor er einen Antrag nach § 98 Abs. 1 ArbGG stellen kann. Dies wird gesetzessystematisch dadurch bestätigt, dass die Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 ArbGG gleichrangig neben der nach Abs. 6 steht und nur letztere eine klagweise Inanspruchnahme voraussetzt (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 55).
36
bb) Der Beteiligte zu 3. ist nach § 98 Abs. 6 Satz 2 ArbGG für seinen positiven Feststellungsantrag antragsbefugt. Mehrere Gerichtsverfahren, in denen er Kläger ist und Beiträge auf Grundlage der angegriffenen AVE VTV 2012 geltend macht, sind nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG ausgesetzt.
37
cc) Der Beteiligte zu 16. hat ein noch bestehendes rechtlich geschütztes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit der streitgegenständlichen AVE hinreichend dargelegt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er während der Geltungsdauer der AVE VTV 2012 in seinen Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG eingeschränkt gewesen ist und ihm der Abschluss von Tarifverträgen erschwert wurde. Da er sich noch während des Jahres 2012 gegen die Wirksamkeit der AVE VTV 2012 gewandt hat, muss ihm nach den Grundsätzen des Fortsetzungsfeststellungsinteresses in analoger Anwendung des Rechtsgedankens aus § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nach der Erledigterklärung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgrund der gesetzlichen Zuständigkeitsänderung eine Beteiligung am Verfahren nach § 98 ArbGG nF möglich sein. Der Umstand, dass der VTV nach den Bestimmungen der Großen Einschränkungsklausel auf Betriebe, die unmittelbar oder mittelbar Mitglied des Beteiligten zu 16. waren, unter bestimmten Umständen überhaupt nicht erstreckt wurde, steht seiner Antragsbefugnis nicht entgegen. Im Rahmen der mit verschiedenen Ausnahmen versehenen Regelung sind Fallgestaltungen denkbar, in denen Mitgliedsbetriebe des Beteiligten zu 16. nicht von der Großen Einschränkungsklausel erfasst werden.
38
4. Alle nach § 98 Abs. 3, § 83 Abs. 3 ArbGG zu beteiligenden Vereinigungen und Stellen sind im vorliegenden Verfahren vom Landesarbeitsgericht beteiligt worden. Hierzu gehören die Behörde, die den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt hat, die Antragsteller sowie die Tarifvertragsparteien, die den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag abgeschlossen haben (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 77 bis 85).
39
II. Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer AVE oder einer entsprechenden VO nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 iVm. § 98 ArbGG sind gemäß § 2a Abs. 2 ArbGG im Beschlussverfahren auszutragen. Nach § 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG erforscht das Gericht hierbei den Sachverhalt im Rahmen der gestellten Anträge von Amts wegen, wobei die am Verfahren Beteiligten nach § 83 Abs. 1 Satz 2 ArbGG an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken haben. Diese Grundsätze gelten gemäß § 98 Abs. 3 Satz 1 ArbGG entsprechend im Verfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit einer AVE oder VO (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 87 bis 93).
40
III. Die AVE von Tarifverträgen nach § 5 TVG verstößt entgegen der in einigen Rechtsbeschwerden vertretenen Auffassung weder gegen Verfassungsrecht noch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht geboten (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 95 bis 116).
41
IV. Das Verfahren ist nicht nach § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen, da es auf die Frage der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer der tarifvertragschließenden Parteien nicht entscheidungserheblich ankommt (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 118 bis 122).
42
V. Die AVE VTV 2012 ist entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden nicht bereits deshalb unwirksam, weil sie nicht im öffentlichen Interesse geboten erscheint, wie § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG aF verlangt.
43
1. Die Entscheidung des Beteiligten zu 2., ein öffentliches Interesse für die AVE anzunehmen, ist nur in beschränktem Umfang gerichtlich nachprüfbar, da ihm ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Spiegelbildlich führt diese begrenzte gerichtliche Überprüfbarkeit des Vorliegens eines öffentlichen Interesses zu erhöhten Anforderungen hinsichtlich des Erfordernisses einer demokratischen Legitimation für diese Entscheidung (vgl. dazu unten VII.). Für die streitgegenständliche AVE sprechen mehrere Umstände von erheblichem Gewicht. Nicht tarifgebundenen Arbeitgebern entstehen dadurch keine so großen Nachteile, dass die Entscheidung des Beteiligten zu 2. schlechthin unvertretbar oder unverhältnismäßig und damit das ihm zustehende normative Ermessen bei Rechtssetzungsakten überschritten wäre (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 124 bis 131).
44
2. Soweit die Beteiligten zu 24. bis 26. hiergegen einwenden, der Beteiligte zu 2. habe das Vorliegen eines öffentlichen Interesses nicht geprüft, sondern nur festgestellt, sodass ein Abwägungsausfall vorliege, verkennen sie, dass etwaige Mängel im Abwägungsvorgang irrelevant wären, da es nur darauf ankommt, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspricht (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 135). Die weiteren Ausführungen der Beteiligten zu 24. bis 26. geben keinen Anlass zu der Annahme, dass auch im Ergebnis kein öffentliches Interesse an der AVE VTV 2012 besteht. Diesbezüglich unterliegt der (politische) Bewertungsprozess des Beteiligten zu 2. nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Diese eingeschränkte Überprüfung der AVE ist gerechtfertigt, weil zugleich eine zustimmende persönliche Befassung des zuständigen Ministers oder Staatssekretärs erfolgen muss und hierdurch der Normsetzungsakt die gebotene demokratische Legitimation erhält (dazu unten VII.). In einer Gesamtschau kann nicht angenommen werden, dass die äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis des Beteiligten zu 2. überschritten wären (vgl. hierzu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 131).
45
VI. Die AVE VTV 2012 ist ebenso wenig wegen Verletzung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften unwirksam. Die AVE VTV 2012 ist weder an Art. 80 Abs. 1 GG noch am Maßstab des § 24 VwVfG zu messen. Anderweitige Bedenken hinsichtlich der Erfüllung der weiteren verfahrensrechtlichen Voraussetzung der AVE VTV 2012 nach dem TVG bzw. der TVG-DVO bestehen nicht (dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 133 bis 137). Der AVE-Antrag bedurfte insbesondere nicht der Zustimmung der Bundesregierung gemäß § 5 Abs. 3 TVG. Zwar hat das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr seinen Einspruch gegen die beantragte AVE mit Schreiben vom 12. April 2012 nicht förmlich „zurückgenommen“. In dem Schreiben hat es jedoch hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Verfahren nach § 5 Abs. 3 TVG nicht durchgeführt werden sollte.
46
VII. Der zuständige Staatssekretär hat sich mit der AVE VTV 2012 vor deren Erlass zustimmend befasst, wodurch diese ausreichend demokratisch legitimiert ist.
47
1. Da es sich bei der AVE eines Tarifvertrags um einen Akt der exekutiven Normsetzung handelt, muss sich der zuständige Minister oder der zuständige Staatssekretär persönlich in einer Weise damit befasst haben, die aktenkundig verdeutlicht, dass er die beabsichtigte AVE billigt. Nur unter dieser Voraussetzung ist es gerechtfertigt, das Bestehen eines öffentlichen Interesses einer nur eingeschränkten Überprüfung zu unterziehen (dazu oben V.). Dies folgt aus den Grundsätzen des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips, Art. 20 Abs. 1 bis Abs. 3 GG, ohne dass dem eine abweichende ständige, unbeanstandete Verwaltungspraxis des Beteiligten zu 2. entgegenstünde. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 139 bis 181) Bezug genommen.
48
2. Nach diesen Grundsätzen erweist sich die AVE VTV 2012 nicht wegen fehlender Befassung der zuständigen Ministerin bzw. des zuständigen Staatssekretärs mit der AVE als unwirksam. Vor Normerlass erfolgte in ausreichender Form eine Befassung des Staatssekretärs H mit der AVE, die erkennen lässt, dass er die AVE VTV 2012 in seinen Willen aufgenommen hat.
49
a) Die Bekanntmachung der AVE VTV 2012 vom 3. Mai 2012 ist allerdings weder von Frau Ministerin Dr. von der Leyen noch von Herrn Staatssekretär H selbst, sondern vom Leiter des Referats IIIa6 des Beteiligten zu 2. – Herrn W – unterzeichnet worden. Aufgrund des Einspruchs des Freistaats Sachsen gegen die beabsichtigte AVE hat sich die Abteilung III des Beteiligten zu 2. nach der Sitzung des Tarifausschusses, in welcher dieser seine Zustimmung zu der von den Tarifvertragsparteien beantragten AVE VTV 2012 erklärte, jedoch mit Schreiben vom 22. März 2012 an Staatssekretär H gewandt und ihm den Sachverhalt geschildert. Dabei wurde hervorgehoben, dass die Voraussetzungen für eine AVE nach § 5 Abs. 1 TVG aF – insbesondere das erforderliche öffentliche Interesse – vorlägen. Um eine AVE zu erlassen, müsse entweder das Sächsische Arbeitsministerium zu einer Rücknahme seines Einspruchs bewegt werden oder eine Kabinettbefassung erfolgen. Das Schreiben trägt das handschriftliche Kürzel des als Adressaten angegebenen Staatssekretärs. Dieser führte in der Folgezeit – durch E-Mail-Korrespondenz aktenkundig gemachte – Telefongespräche mit dem Staatssekretär im Sächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr. Nachdem zunächst eine Rücknahme des Einspruchs nicht zu erreichen war, bat Staatssekretär H – dokumentiert durch eine weitere E-Mail-Korrespondenz und einen handschriftlichen Vermerk seiner persönlichen Referentin – um die Vorbereitung einer Kabinettvorlage. Hierzu kam es im Ergebnis nicht, da das Sächsische Ministerium seinen Einspruch gegen die beantragte AVE mit Schreiben vom 12. April 2012 der Sache nach zurücknahm. Auf diesem Schreiben befindet sich eine an die Abteilung III gerichtete, vom Staatssekretär H mit einer Paraphe abgezeichnete Verfügung „zur Kenntnis und weiteren Veranlassung“. Damit ist aktenkundig hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass er mit der beabsichtigten AVE zustimmend befasst war.
50
b) Soweit die Beteiligten zu 24. bis 26. meinen, die Wirksamkeit der AVE VTV 2012 scheitere auch an einer fehlenden zustimmenden Befassung der Ministerin mit der Angelegenheit, übersehen sie, dass eine Befassung durch den zuständigen Staatssekretär ausreicht (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 163).
51
3. Da im vorliegenden Verfahren das Erfordernis der Befassung des Ministers/Staatssekretärs mit der AVE erfüllt wurde und die Wirksamkeit der AVE VTV 2012 nicht deshalb infrage gestellt ist, kommt es auf die diesbezüglichen, sich kritisch mit der Senatsrechtsprechung auseinandersetzenden Ausführungen des Beteiligten zu 2. in seinen Schriftsätzen vom 14. Dezember 2016 und 10. Januar 2017, des Beteiligten zu 3. aus seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017, des Beteiligten zu 4. aus seinem Schriftsatz vom 6. Januar 2017 und der Beteiligten zu 6. aus ihrem Schriftsatz vom 6. Januar 2017 nicht an.
52
VIII. Die AVE VTV 2012 ist aber unwirksam, weil nicht festgestellt werden kann, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber bei Erlass der AVE nicht weniger als 50 vH der unter den Geltungsbereich des VTV fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF; sog. 50 %-Quote).
53
1. Die AVE eines Tarifvertrags durfte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG in der hier maßgeblichen Fassung nur erfolgen, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 vH der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Zur Feststellung der Einhaltung dieser 50 %-Quote war dabei zunächst die Große Zahl zu ermitteln, dh. die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, unabhängig davon, ob eine Tarifbindung vorliegt oder nicht.
54
a) Für die Ermittlung der Großen Zahl kommt es darauf an, wie viele Arbeitnehmer insgesamt unter den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags fallen. Maßgeblich ist dabei der Begriff des Geltungsbereichs, wie er im TVG auch an anderer Stelle (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) verwendet wird. Ist der Geltungsbereich im Tarifvertrag selbst beschränkt, beispielsweise durch Ausnahmen iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV, sind in solchen Betrieben beschäftigte Arbeitnehmer nicht bei der Ermittlung der Großen Zahl zu berücksichtigen. Für die Ermittlung der Großen Zahl ist es entgegen der Auffassung der Beteiligten zu 2. bis 6. und des Landesarbeitsgerichts im angegriffenen Beschluss unerheblich, ob die AVE mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ergangen ist. Vielmehr ist auch im Fall eines bereits eingeschränkten Antrags auf AVE oder einer Einschränkung der AVE ohne Antrag durch das BMAS auf den tariflichen Geltungsbereich abzustellen. Dies ergibt eine Auslegung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF (dazu im Einzelnen BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 189 bis 200).
55
b) Die im vorliegenden Verfahren von den Beteiligten zu 3., 4. und 6. insoweit gegen den Beschluss des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 -) erhobenen Einwendungen sind nicht überzeugend.
56
aa) Wie bereits im Senatsbeschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 189) ausgeführt, deutet bereits der Wortlaut von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF darauf hin, dass bei der Ermittlung der Großen Zahl die Große Einschränkungsklausel nicht zu berücksichtigen ist. Der in dieser Norm angesprochene „Geltungsbereich des Tarifvertrags“ kann nicht anders verstanden werden, als die entsprechende Regelung im Tarifvertrag selbst. In § 1 VTV ist unter der gleichlautenden Überschrift dessen „Geltungsbereich“ geregelt, ohne dass dort die Große Einschränkungsklausel, die allein Gegenstand der AVE ist und außerhalb des Tarifvertrags steht, Erwähnung findet. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff „Geltungsbereich des Tarifvertrags“ etwas anderes gemeint haben könnte, als üblicherweise in den Tarifverträgen geregelt wird.
57
bb) Anders als vom Beteiligten zu 3. offenbar angenommen, besteht der Zweck der 50 %-Quote nicht allein in der Verhinderung einer Majorisierung durch eine Minderheit. Die Regelung soll vielmehr darüber hinaus sicherstellen, dass nur Tarifverträge, die in ihrem von den Tarifvertragsparteien selbst gewählten örtlichen, fachlichen und persönlichen Verbreitungsgebiet repräsentativ sind, Gegenstand einer AVE sein können. Dieser Zweck kann nur erreicht werden, wenn auf den Geltungsbereich des Tarifvertrags ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel abgestellt wird.
58
cc) Wie der Beteiligte zu 3. im Übrigen zutreffend ausführt, bewirkt eine Einschränkung der AVE von Tarifverträgen, „dass die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse gerade nicht erfassen, obwohl sie unter den Geltungsbereich fallen“. Die weiteren Ausführungen des Beteiligten zu 3., dass durch die Große Einschränkungsklausel der „Anwendungsbereich“ des Tarifvertrags eingeschränkt werde, sind in diesem Zusammenhang ohne Belang und führen zu einer unzutreffenden Begriffsverschiebung. Sie berücksichtigen nicht, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF gerade auf den „Geltungsbereich“ und nicht den „Anwendungsbereich“ des Tarifvertrags abstellt.
59
dd) Dass es, anders als vom Beteiligten zu 3. erneut vorgetragen, im Hinblick auf Nachbindung und Nachwirkung eines Tarifvertrags durchaus von tarifrechtlicher Relevanz ist, ob schon dessen Geltungsbereich beschränkt ist, oder ob sein „Anwendungsbereich“ durch eine Einschränkungsklausel bei der AVE begrenzt wird, hat der Senat bereits ausgeführt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 197). Die Beteiligten zu 4. bis 6. hätten im Übrigen bei Abschluss des Tarifvertrags den Geltungsbereich des VTV beschränken können, wie es in § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV für Teilbereiche geschehen ist, statt in den AVE-Antrag eine Große Einschränkungsklausel aufzunehmen. Davon haben sie aber offenbar abgesehen, um dem VTV einen möglichst großen Geltungsbereich zu geben.
60
ee) Die Beteiligte zu 6. nimmt zu Unrecht an, dass nur bei Berücksichtigung der eingeschränkten AVE die Frage beantwortet werden könne, ob es sich im Hinblick auf den Geltungsbereich, für den die Erstreckung beantragt wurde, um einen repräsentativen Tarifvertrag handelt. Maßgebliches Kriterium bei der Betrachtung ist vielmehr die Repräsentativität des Tarifvertrags selbst. Dabei hat die Große Einschränkungsklausel außer Betracht zu bleiben. Anderenfalls könnte ein nicht repräsentativer Tarifvertrag mit einem weiten Geltungsbereich und wenig tarifgebundenen Arbeitnehmern in einem durch eine Einschränkungsklausel gezielt zurechtgeschnittenen Teilbereich dennoch für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dies würde dem Erfordernis der Repräsentativität des (gesamten) Tarifvertrags aber nicht gerecht.
61
ff) Soweit die Beteiligte zu 6. eine angeblich „ständige, unbeanstandete Verwaltungspraxis, die Große Zahl stets unter Berücksichtigung der beantragten Einschränkungen zu bestimmen“, hervorhebt, ist dieses unbeachtlich. Eine ständige unbeanstandete Staatspraxis kann von Bedeutung sein, wenn die Nichtigkeit einer Norm (allein) auf Verfahrensfehlern im Normsetzungsverfahren beruhen würde, nicht aber bei inhaltlichen Fehlern (vgl. BVerfG 11. Oktober 1994 – 1 BvR 337/92 – zu B II 2 c der Gründe, BVerfGE 91, 148). Bloße Mängel im Verfahren der Zahlenermittlung, als dessen Ergebnis der Beteiligte zu 2. „zufällig“ doch eine zutreffende Quote ermittelt hätte, wären gegebenenfalls ohne Bedeutung, weil insoweit nur das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens zu beurteilen ist. Die Frage der Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Bestimmung der Großen Zahl ist aber keine Frage des Verfahrens „bei“ Erlass der AVE, sondern betrifft die inhaltlichen Tatbestandsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF „für“ ihren Erlass. Entscheidend ist, ob die vom gesetzlichen Tatbestand verlangten materiellen Voraussetzungen für die AVE vorliegen oder nicht. Das Fehlen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die AVE kann auch nicht nach der herangezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Berufung auf eine „ständige unbeanstandete Staatspraxis“ ausgeglichen werden.
62
gg) Der Auffassung der Beteiligten zu 6., die Feststellung der Unwirksamkeit der AVE wegen Nichterreichens der 50 %-Quote sei unverhältnismäßig, ist nicht zu folgen. Sie geht unzutreffend davon aus, dass wegen vielfältiger Belange Betroffener die Wirksamkeit der AVE VTV 2012 generell nicht infrage gestellt werden dürfe und vermengt unzulässig Fragen des öffentlichen Interesses gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG aF mit der erforderlichen 50 %-Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF. Der Senat hat – anders als die Ausführungen der Beteiligten zu 6. offenbar Glauben machen sollen – in seinem Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 -) auch nicht den VTV kritisiert, oder das Instrument der AVE als solches infrage gestellt, sondern lediglich verlangt, dass die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für eine AVE eingehalten werden.
63
hh) Soweit sich die Beteiligte zu 6. auf „historische Betrachtungen“ bezieht, rechtfertigen diese keine andere Beurteilung. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 189) ausgeführt, dass die in der Begründung zu Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vertretene Auffassung, bereits bisher sei bei der Ermittlung der 50 %-Quote berücksichtigt worden, „wenn der besondere Geltungsbefehl der Allgemeinverbindlicherklärung nur für einen Teil des Geltungsbereichs erfolgt“ (BT-Drs. 18/1558 S. 48), unzutreffend ist. Tatsächlich hat das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit stets – entsprechend der Formulierung in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF – auf den „Geltungsbereich des Tarifvertrags“ abgestellt. Eine Einschränkung der AVE hat das Bundesarbeitsgericht nie als maßgeblich für die Ermittlung der Großen Zahl angesehen. Den Ausführungen des Senats zur Entstehungsgeschichte von § 5 TVG (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 199) stellt die Beteiligte zu 6. keine substantiierten Einwendungen entgegen.
64
2. Der Beteiligte zu 2. ist bei der Bestimmung der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF von einer falschen Schätzgrundlage für die Bestimmung der Großen Zahl ausgegangen.
65
a) Für die Bestimmung der Großen Zahl müssen die Arbeitnehmer, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, zugrunde gelegt werden. Der Beteiligte zu 2. hat jedoch vor der AVE nicht ermittelt, wie viele Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des VTV fallen. Er hat vielmehr die Zahlen des Beteiligten zu 3. übernommen, aus denen sich nur ergibt, wie viele Arbeitnehmer im Geltungsbereich des VTV unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel zur AVE beschäftigt werden. Dies folgt aus dem Inhalt der Verfahrensakte. Der Beteiligte zu 2. hat in einem die AVE VTV 2012 vorbereitenden Vermerk mehrfach darauf Bezug genommen, dass die Statistik der ULAK die Zahl der in den Geltungsbereich des VTV unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel fallenden Beschäftigten mit Abstand am genauesten abbilde und sich die Große Zahl unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel ergebe. Auch die Beteiligten des Verfahrens gehen davon aus, dass der Beteiligte zu 3. nur Betriebe unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel erfasst (und dies – so die Beteiligten zu 2. bis 6. – auch rechtlich die zutreffende Zahl sei).
66
b) Die Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Ermittlung der Großen Zahl macht die vom Beteiligten zu 2. verwendete Schätzgrundlage unbrauchbar. Sie führt dazu, dass die Große Zahl (alle Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags) systematisch zu klein ist, wodurch die hierdurch bestimmte Quote (der Anteil der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer) generell zu hoch bewertet wird. Denn anders als bei einer Einschränkung des Geltungsbereichs im Tarifvertrag selbst – wie in § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV – wirkt sich die Große Einschränkungsklausel nicht auf die Zahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer (Kleine Zahl) aus.
67
c) Bei der durch die Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel eintretenden Veränderung der nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF zu ermittelnden Quote handelt es sich nicht um einen vernachlässigbaren Effekt. Die Große Einschränkungsklausel hat, wie ihr Name zutreffend verdeutlicht, einen bedeutenden Umfang. Sie umfasst einschließlich der Anhänge mehrere Druckseiten und betrifft ganz unterschiedliche Fallgestaltungen. Wesentliche Handwerks- und Industriebereiche werden – insbesondere soweit anderweitige Tarifgebundenheit besteht – von der AVE ausgenommen. Dies lässt schon nach Umfang und Vielgestaltigkeit der Regelung nicht die Annahme zu, dass die Nichtberücksichtigung von Arbeitnehmern, die unter die Große Einschränkungsklausel fallen, nur eine kleine Gruppe betrifft und unbedeutend wäre. Die Große Einschränkungsklausel ist ausgesprochen differenziert und verschachtelt formuliert, sodass es nicht möglich ist, einen gegebenenfalls statistisch leicht erfassbaren Bereich zu benennen, um damit unter Zuhilfenahme anderweitigen zum Zeitpunkt der Entscheidungen über die AVE vorhandenen Datenmaterials eine Hochrechnung der vom Beteiligten zu 3. angegebenen Arbeitnehmerzahlen auf den rechtlich zutreffenden „Geltungsbereich des VTV“ vorzunehmen. Die Angaben des Beteiligten zu 3. zur Großen Zahl sind damit offensichtlich keine geeignete Grundlage für die vorzunehmende Schätzung der Großen Zahl und somit auch nicht für die Prüfung der 50 %-Quote.
68
3. Eine weitere Sachaufklärung zur Ermittlung der 50 %-Quote ist nicht geboten. Es ist nicht ersichtlich, dass anderes geeignetes statistisches Material zum Zeitpunkt der AVE objektiv vorlag, auf dessen Grundlage das Erreichen der 50 %-Quote hätte festgestellt werden können.
69
a) Maßstab für die gerichtliche Kontrolle sind allein die zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen 16. November 2012 – 4 A 46/11 – zu II 1 a der Gründe mwN). Eine nachträgliche Erhebung oder statistische Aufbereitung von Daten mit dem Ziel, diese zu einem Zeitpunkt nach der ministeriellen Entscheidung verwendbar zu machen, scheidet aus. Von der Behörde kann nicht verlangt werden, im Rahmen der ihr auferlegten und zukommenden sorgfältigen Prüfung auch Daten zu berücksichtigen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt erhoben werden und verfügbar sind. Bei der gerichtlichen Überprüfung ist kein anderer Zeitpunkt zugrunde zu legen als bei der zu überprüfenden Entscheidung. Dies ist der Zeitpunkt des Erlasses der AVE. Bei einer Berücksichtigung erst später vorliegender Daten zu den Verhältnissen im Entscheidungszeitpunkt könnte es sonst von Zufälligkeiten, wie dem Zeitpunkt der Einleitung und der Dauer eines Verfahrens nach § 98 ArbGG abhängen, ob die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer AVE festgestellt wird. Damit können für die Bestimmung der Großen Zahl und einer etwaigen Korrektur der sich aus der Großen Einschränkungsklausel ergebenden Fehler nur zum Zeitpunkt der ministeriellen Entscheidung objektiv zur Verfügung stehende und bereits verwertbare Informationen berücksichtigt werden.
70
b) Zum Zeitpunkt der ministeriellen Entscheidung gab es keine anderen verwertbaren Daten, aus denen man die Große Zahl zutreffend hätte ableiten oder die zumindest Grundlage für eine einigermaßen sichere, qualifizierte Schätzung hätten sein können. Weder die Zahlen des Statistischen Bundesamts, der Bundesagentur für Arbeit, der Berufsgenossenschaft Bau, der Deutschen Rentenversicherung, der Handwerkszählung oder anderer von den Beteiligten genannten Stellen sind geeignet, als Grundlage einer Schätzung für die Große Zahl im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF zu dienen. Die Zahlenwerke anderer datenerhebender Stellen treffen keine Aussagen zu der sehr speziellen Frage der von der Großen Einschränkungsklausel erfassten Betriebe und Beschäftigten sowie ihrer Auswirkung auf die vom Beteiligten zu 3. mitgeteilten Zahlen. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 208 bis 217) Bezug genommen, der eine entsprechende Konstellation betrifft.
71
c) Angesichts der vorstehenden Ausführungen muss nicht weiter darauf eingegangen werden, dass der Beteiligte zu 2. hinsichtlich der Großen Zahl nicht den Beteiligten zu 3. – als von ihm angenommene geeignete Auskunftsstelle – unmittelbar um Mitteilung der Beschäftigtenzahlen gebeten, sondern die von den Beteiligten zu 4. bis 6. weitergegebenen Zahlen seiner Betrachtung zugrunde gelegt hat. Allerdings wäre es unter Berücksichtigung des Gebots der Objektivität und Genauigkeit durchaus naheliegend, für die Entscheidung über eine AVE erforderliche Daten unmittelbar bei der datenerhebenden Stelle abzufragen und sich nicht auf eine Informationsvermittlung der die AVE beantragenden Beteiligten zu verlassen. Möglicherweise hätte es so auch vermieden werden können, dass die Meldung von weiteren knapp 26.000 Beschäftigten, welche vom Beteiligten zu 3. bei der Berechnung der Großen Zahl als berücksichtigungsbedürftig angesehen wurden, offenbar versehentlich unterblieben ist, wie auch die Anzahl von Angestellten – wahrscheinlich wegen eines Tippfehlers – um 1.000 zu niedrig angegeben wurde.
72
d) Soweit sich der Beteiligte zu 3. nunmehr im Rechtsbeschwerdeverfahren darauf beruft, auch ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Bestimmung der Großen Zahl ergebe sich eine Quote von über 50 % iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF ist dies unbeachtlich.
73
aa) Die vom Beteiligten zu 3. in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017 erstmals mitgeteilte Große Zahl ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel und die daraus resultierende Quote stellen keine zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen dar. Es handelt sich vielmehr um eine nachträgliche statistische Aufbereitung von Daten mit dem Ziel, diese zu einem Zeitpunkt nach der ministeriellen Entscheidung im Mai 2012 verwendbar zu machen. Der Senat hat bereits in seinem Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 206) darauf hingewiesen, dass dies schon deshalb nicht in Betracht kommt, da es sonst von Zufälligkeiten, wie dem Zeitpunkt der Einleitung und der Dauer eines Verfahrens nach § 98 ArbGG abhängen würde, ob die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer AVE festgestellt wird.
74
bb) Der Vortrag des Beteiligten zu 3. im Rechtsbeschwerdeverfahren, er habe über diese Zahlen schon zum Zeitpunkt der AVE-Antragstellung verfügt, steht im offenen Widerspruch zu seinen Ausführungen in mehreren Anhörungsrügeverfahren betreffend die Beschlüsse des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – und – 10 ABR 48/15 -). Dort hat er eidesstattliche Versicherungen vorgelegt, wonach Mitarbeiter erst ab dem 22. September 2016 mit der nachträglichen Auswertung von Akten beauftragt worden seien, diese aber auch Mitte Dezember 2016 noch nicht abgeschlossen gewesen sei (vgl. dazu BAG 25. Januar 2017 – 10 ABR 81/16 (F) – Rn. 14). Auch im vorliegenden Verfahren gibt der Beteiligte zu 3. in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017 auf Seite 12 selbst an, dass das Zahlenwerk erst nach den Beschlüssen vom 21. September 2016 erstellt worden sei. Es ist damit nach dem Vortrag des Beteiligten zu 3. weder erkennbar, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beteiligten zu 2. im Mai 2012 über die streitgegenständliche AVE die nunmehr vorgetragenen Zahlen – unabhängig von deren Bewertung – beim Beteiligten zu 2. in verwertbarer und verwendbarer Form vorgelegen haben, noch hat der Beteiligte zu 2. diese vor der Entscheidung bei den tarifvertragschließenden Parteien oder beim Beteiligten zu 3. angefordert. Angesichts dessen kann offenbleiben, ob die weiteren Ausführungen des Beteiligten zu 3. in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017 zur Herleitung der Großen Zahl schlüssig oder wenigstens plausibel sind.
75
4. Im Hinblick auf die Ausführungen zur Großen Zahl kann dahinstehen, ob die Kleine Zahl zutreffend ermittelt wurde und ob die von den Beteiligten zu 4. und 5. an den Beteiligten zu 2. übermittelten Zahlen zumindest eine Plausibilitätskontrolle erforderlich gemacht und ob sie einer solchen standgehalten hätten (vgl. hierzu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – Rn. 209 ff., betreffend die AVE VTV 2014).
76
5. Da die verwendeten Daten des Beteiligten zu 2. als Schätzgrundlage ungeeignet sind und keine geeigneten anderen, zum Zeitpunkt des Erlasses der AVE vorhandenen und verwertbaren Daten zur Verfügung standen, andererseits aber das Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF positiv feststehen muss, hätte eine AVE nicht erfolgen dürfen. Auf Antrag der Beteiligten zu 7. bis 11., 16. bis 18. und 24. bis 26. ist daher der angegriffene Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg aufzuheben und die Unwirksamkeit der AVE VTV 2012 festzustellen.
77
IX. Der Beteiligte zu 2. hat gemäß § 98 Abs. 4 Satz 3 ArbGG die Entscheidungsformel dieses Beschlusses im Bundesanzeiger bekannt zu machen.
78
C. Im vorliegenden Verfahren werden Kosten nicht erhoben, § 2 Abs. 2 GKG.
Linck
W. Reinfelder
Schlünder
Schumann
Frese |
bag_2-18 | 16.01.2018 | 16.01.2018
2/18 - Befristung des Arbeitsvertrags eines Lizenzspielers der Fußball-Bundesliga
Die Befristung von Arbeitsverträgen mit Lizenzspielern der Fußball-Bundesliga ist regelmäßig wegen der Eigenart der Arbeitsleistung des Lizenzspielers nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG gerechtfertigt.
Der Kläger war bei dem beklagten Verein seit dem 1. Juli 2009 als Lizenzspieler (Torwart) in der 1. Fußball-Bundesliga beschäftigt. Grundlage des Arbeitsverhältnisses bildete zuletzt der Arbeitsvertrag vom 7. Juli 2012, der eine Befristung zum 30. Juni 2014 und eine Option für beide Parteien vorsieht, den Vertrag bis zum 30. Juni 2015 zu verlängern, wenn der Kläger in der Saison 2013/2014 in mindestens 23 Bundesligaspielen eingesetzt wird. Nach dem Vertrag erhält der Kläger eine Punkteinsatzprämie und eine Erfolgspunkteinsatzprämie für Ligaspiele, in denen er von Beginn an oder mindestens 45 Minuten eingesetzt ist. Der Kläger absolvierte in der Saison 2013/2014 neun der ersten zehn Bundesligaspiele. Am elften Spieltag wurde er in der Halbzeit verletzt ausgewechselt und in den verbleibenden Spielen der Hinrunde verletzungsbedingt nicht mehr eingesetzt. Nach Beendigung der Hinrunde wurde der Kläger nicht mehr zu Bundesligaspielen herangezogen, sondern der zweiten Mannschaft des Beklagten zugewiesen. Der Kläger hat die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der vereinbarten Befristung am 30. Juni 2014 geendet hat. Hilfsweise hat er den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses infolge der von ihm ausgeübten Verlängerungsoption bis zum 30. Juni 2015 geltend gemacht. Ferner hat er die Zahlung von Punkte- und Erfolgspunkteprämien für die Spiele der Rückrunde der Saison 2013/2014 iHv. 261.000,00 Euro verlangt.
Das Arbeitsgericht hat dem Befristungskontrollantrag stattgegeben und den Zahlungsantrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Siebten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Befristung des Arbeitsvertrags ist wirksam. Sie ist wegen der Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG gerechtfertigt. Im kommerzialisierten und öffentlichkeitsgeprägten Spitzenfußballsport werden von einem Lizenzspieler im Zusammenspiel mit der Mannschaft sportliche Höchstleistungen erwartet und geschuldet, die dieser nur für eine begrenzte Zeit erbringen kann. Dies ist eine Besonderheit, die in aller Regel ein berechtigtes Interesse an der Befristung des Arbeitsverhältnisses begründet. Da der Kläger nur in zehn Bundesligaspielen der Hinrunde der Saison 2013/2014 eingesetzt wurde, sind die Voraussetzungen der Verlängerungsoption und des geltend gemachten Prämienanspruchs für die Spiele der Rückrunde nicht erfüllt. Der Beklagte hat die Erfüllung dieser Voraussetzungen nicht treuwidrig vereitelt.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 16. Januar 2018 – 7 AZR 312/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil vom 17. Februar 2016 – 4 Sa 202/15 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Februar 2016 – 4 Sa 202/15 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Die Befristung des Arbeitsvertrags eines Lizenzspielers der 1. Fußball-Bundesliga ist regelmäßig nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG durch die Eigenart der Arbeitsleistung sachlich gerechtfertigt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der Befristung ihres Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni 2014, hilfsweise über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses infolge Wahrnehmung einer Verlängerungsoption bis zum 30. Juni 2015 sowie über Prämienansprüche.
2
Der Kläger war bei dem beklagten Verein, dessen erste Mannschaft in der 1. Fußball-Bundesliga spielt, seit dem 1. Juli 2009 als Lizenzspieler in der Funktion des Torwarts beschäftigt. Die Beschäftigung erfolgte zunächst auf der Grundlage eines zum 30. Juni 2012 befristeten Arbeitsvertrags. Am 7. Mai 2012 schlossen die Parteien einen weiteren, zum 30. Juni 2014 befristeten Arbeitsvertrag, der ua. folgende Bestimmungen enthält:
„§ 2 Pflichten des Spielers
Der Spieler verpflichtet sich, seine ganze Kraft und seine sportliche Leistungsfähigkeit uneingeschränkt für den Club einzusetzen, alles zu tun, um sie zu erhalten und zu steigern und alles zu unterlassen, was ihr vor und bei Veranstaltungen des Clubs abträglich sein könnte. Gemäß diesen Grundsätzen ist der Spieler insbesondere verpflichtet
a) an allen Spielen und Lehrgängen des Clubs, an jedem Training – gleich ob allgemein vorgesehen oder besonders angeordnet -, an allen Spielerbesprechungen und an allen sonstigen der Spiel- und Wettkampfvorbereitung dienenden Veranstaltungen teilzunehmen. Dies gilt auch, wenn ein Mitwirken als Spieler oder Ersatzspieler nicht in Betracht kommt. Der Spieler ist bei entsprechender Anweisung auch verpflichtet, an Spielen oder am Training der zweiten Mannschaft des Clubs teilzunehmen, falls diese in der Oberliga oder einer höheren Spielklasse spielt;
…
§ 4 Pflichten des Clubs
1) Vergütung und andere geldwerte Leistungen
Der Spieler erhält
a) ein jährliches Grundgehalt von 420.000,00 EUR (vierhundertzwanzigtausend)
…
§ 5 Einsatz und Tätigkeit
Einsatz und Tätigkeit des Spielers werden nach Art und Umfang vom geschäftsführenden Organ oder von den von ihm Beauftragten bestimmt.
Der Spieler hat den Weisungen aller kraft Satzung oder vom geschäftsführenden Organ mit Weisungsbefugnis ausgestatteter Personen – insbesondere des Trainers – vor allem auch hinsichtlich des Trainings, der Spielvorbereitungen, seiner Teilnahme am Spiel, der Behandlungen sowie aller sonstigen Clubveranstaltungen zuverlässig und genau Folge zu leisten.
…
§ 10 Vertragsbeginn und -ende
…
2) Vertragsende
Dieser Vertrag endet am 30.06.2014.
…
Entsprechend dem ausdrücklichen Wunsch des Spielers besitzt dieser Vertrag nur Gültigkeit für die Bundesliga.
…
§ 12 Sonstige Vereinbarungen
1) Punkteinsatzprämie
Der Spieler erhält eine Punkteinsatzprämie in Höhe von EUR 8.000,– für Ligaspiele. Einsatz = Einsatz von Beginn an oder mindestens 45 Minuten in einem Spiel. Kürzere Einsatzdauer = 50 %.
…
2) Erfolgspunkteinsatzprämie
Der Spieler erhält eine Erfolgspunkteinsatzprämie in Höhe von EUR 1.000,– für Ligaspiele. Einsatz = Einsatz von Beginn an oder mindestens 45 Minuten in einem Spiel. Kürzere Einsatzdauer = 50 %. Die Prämie ist mit dem Gehalt Mai und nur bei Klassenerhalt fällig.
…
4) Option
Verein UND Spieler haben die Option den bestehenden Vertrag bis zum 30.06.15 zu verlängern. Voraussetzung hierfür ist der Einsatz des Spielers in mindestens 23 Bundesligaeinsätzen in der Saison 2013/2014. Die Wahrnehmung der Option ist spätestens vier Wochen nach dem 23. Einsatz per Einschreiben oder gegen Empfangsquittung in schriftlicher Form mindestens von einer Partei (Spieler oder Verein) zu erklären.“
3
Der Kläger absolvierte in der Saison 2013/2014 neun der ersten zehn Bundesligaspiele. In der Trainingswoche vor dem elften Spieltag litt der Kläger unter einer Zerrung. Er teilte dem Trainer sowohl nach dem Abschlusstraining als auch noch am Spieltag mit, dass alles in Ordnung sei. Der Trainer setzte ihn daraufhin am elften Spieltag in der Startelf ein. Während der ersten Halbzeit des Spiels brach die Verletzung des Klägers wieder auf mit der Folge, dass er mit Beginn der zweiten Halbzeit ausgewechselt werden musste und in den verbleibenden Spielen der Hinrunde verletzungsbedingt nicht mehr eingesetzt werden konnte.
4
Nach Beendigung der Hinrunde wurde der Kläger nicht mehr zu Bundesligaspielen herangezogen, sondern der zweiten Mannschaft des Beklagten zugewiesen, die in der Regionalliga spielte. Die Bundesligamannschaft des Beklagten erzielte in der Rückrunde der Saison 2013/2014 insgesamt 29 Punkte und sicherte sich den Klassenerhalt. Mit anwaltlichem Schreiben an den Beklagten vom 30. April 2014 erklärte der Kläger, er mache von der vertraglich vereinbarten Option Gebrauch, den bestehenden Vertrag bis zum 30. Juni 2015 zu verlängern.
5
Der Kläger hat mit der Klageschrift, die dem Beklagten am 11. Juli 2014 zugestellt worden ist, die Zahlung von Prämien und mit der am 18. Juli 2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen und dem Beklagten am 24. Juli 2014 zugestellten Klageerweiterung die Unwirksamkeit der Befristung des Arbeitsverhältnisses sowie hilfsweise den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis zum 30. Juni 2015 geltend gemacht. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Befristung sei mangels sachlicher Rechtfertigung unwirksam. Jedenfalls habe das Arbeitsverhältnis infolge der von ihm ausgeübten Verlängerungsoption bis zum 30. Juni 2015 fortbestanden. Außerdem sei der Beklagte verpflichtet, ihm für die Ligaspiele der Rückrunde 2013/2014 Punkteinsatz- und Erfolgspunkteinsatzprämien iHv. 261.000,00 Euro zu zahlen. Dem stehe nicht entgegen, dass er nicht die erforderlichen Spieleinsätze aufweise. Durch die Entscheidung des Trainers, ihn in der Rückrunde der Saison 2013/2014 nicht mehr als Torhüter der Bundesligamannschaft einzusetzen, und durch den Ausschluss aus dem Trainingsbetrieb der ersten Mannschaft sei ihm treuwidrig die Chance auf Spieleinsätze in der Bundesliga genommen worden. Die Entscheidung des Trainers habe nicht auf sportlichen Gründen beruht. Die Zuweisung zur zweiten Mannschaft sei zudem vertragswidrig. Zwar sehe § 2 des Arbeitsvertrags ein solches Weisungsrecht vor. Diese Regelung sei aber unwirksam, da sie im Widerspruch zu § 10 des Arbeitsvertrags stehe, wonach der Vertrag nur für die Bundesliga gelte. Der Beklagte müsse sich daher so behandeln lassen, als wäre er in den Spielen der Rückrunde der Saison 2013/2014 eingesetzt worden.
6
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
1.
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 261.000,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen,
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der Befristung zum 30. Juni 2014 nicht beendet worden ist,
hilfsweise
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch Eintritt der in § 12 Nr. 4 des Arbeitsvertrags vereinbarten Bedingung bis zum 30. Juni 2015 zu den seitherigen Bedingungen fortbestanden hat.
7
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Ansicht vertreten, die Befristung des Arbeitsvertrags sei wegen der Eigenart der Arbeitsleistung, wegen in der Person des Klägers liegender Gründe und wegen der Besonderheiten des professionellen Mannschaftssports gerechtfertigt. Er habe das Entstehen der Verlängerungsoption und der geltend gemachten Prämienansprüche nicht treuwidrig vereitelt. Die Entscheidung des damaligen Cheftrainers, den Kläger in der Rückrunde der Saison 2013/2014 nicht mehr in der Bundesligamannschaft einzusetzen, habe auf sportlichen Erwägungen beruht. Die Zuweisung des Klägers zur zweiten Mannschaft sei vertragsgerecht.
8
Das Arbeitsgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme dem Befristungskontrollantrag stattgegeben und den Zahlungsantrag abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.
10
A. Die Revision ist insgesamt zulässig. Entgegen der Ansicht des Beklagten genügt die Revisionsbegründung den gesetzlichen Anforderungen auch soweit der Kläger die Abweisung des Zahlungsantrags durch das Landesarbeitsgericht angreift.
11
I. Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 1 ZPO muss der Revisionskläger die Revision begründen. Bei einer Sachrüge sind nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a ZPO die Umstände zu bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergeben soll. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der angefochtenen Entscheidung. Bei mehreren Streitgegenständen muss grundsätzlich für jeden eine solche Begründung gegeben werden, wenn das Urteil insgesamt angegriffen werden soll. Fehlt sie zu einem Streitgegenstand, ist das Rechtsmittel insoweit unzulässig (BAG 30. August 2017 – 7 AZR 864/15 – Rn. 12). Eine eigenständige Begründung ist nur entbehrlich, wenn mit der Begründung der Revision über den einen Streitgegenstand zugleich dargelegt ist, dass die Entscheidung über den anderen unrichtig ist (BAG 25. Mai 2016 – 2 AZR 345/15 – Rn. 17, BAGE 155, 181).
12
II. Danach ist die Revision des Klägers insgesamt zulässig, auch wenn die Revisionsbegründung sich nicht ausdrücklich mit der Abweisung des auf Prämienzahlung gerichteten Klageantrags auseinandersetzt. Eine eigenstände Begründung war insoweit entbehrlich, da das Landesarbeitsgericht den Zahlungsantrag mit der gleichen Begründung abgewiesen hat wie den Antrag auf Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses bis zum 30. Juni 2015. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die vertraglichen Voraussetzungen für die Verlängerungsoption und die Prämienzahlung lägen mangels der erforderlichen Spieleinsätze nicht vor. Der Beklagte habe die Spieleinsätze des Klägers auch nicht treuwidrig vereitelt. Der Trainer könne über den Einsatz der Spieler nach freiem Ermessen entscheiden. Die Entscheidung, den Kläger in der Rückrunde der Saison 2013/2014 nicht einzusetzen, habe auf sportlichen Motiven beruht. Sie sei auch nicht deshalb treuwidrig, weil der Kläger mit Beginn der Rückrunde in die zweite Mannschaft versetzt worden sei. Mit dieser Argumentation setzt sich die Revisionsbegründung hinreichend auseinander. Der Kläger rügt, das Landesarbeitsgericht habe dem Trainer einen zu weiten Ermessenspielraum eingeräumt und verkannt, dass ihm durch den Ausschluss aus dem Trainingsbetrieb der ersten Mannschaft vertrags- und treuwidrig die Chance auf Einsätze in Ligaspielen genommen worden sei. Träfe dies zu, wäre die Revisionsbegründung geeignet, die angefochtene Entscheidung auch hinsichtlich des Zahlungsantrags in Frage zu stellen.
13
B. Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht insgesamt abgewiesen.
14
I. Die Befristungskontrollklage ist unbegründet. Die Befristung des Arbeitsvertrags der Parteien zum 30. Juni 2014 ist wirksam. Sie ist aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG gerechtfertigt.
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1. Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG liegt ein sachlicher Grund für die Befristung eines Arbeitsvertrags vor, wenn die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung rechtfertigt. In § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG ist nicht näher bestimmt, welche Eigenarten der Arbeitsleistung die Befristung eines Arbeitsvertrags rechtfertigen können. Den Gesetzesmaterialien lässt sich entnehmen, dass mit dem Sachgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG vor allem verfassungsrechtlichen, sich aus der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und der Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) ergebenden Besonderheiten Rechnung getragen werden soll (BT-Drs. 14/4374 S. 19). Die Regelung kann daher zum Beispiel geeignet sein, die Befristung von Arbeitsverträgen mit programmgestaltenden Mitarbeitern bei Rundfunkanstalten oder mit Bühnenkünstlern zu rechtfertigen. Der Sachgrund der Eigenart der Arbeitsleistung ist jedoch nach dem Willen des Gesetzgebers nicht auf diese Fallgruppen beschränkt, sondern kann auch in anderen Fällen zur Anwendung kommen (vgl. BAG 30. August 2017 – 7 AZR 864/15 – Rn. 22; 21. März 2017 – 7 AZR 207/15 – Rn. 103, BAGE 158, 266; 18. Mai 2016 – 7 AZR 533/14 – Rn. 18, BAGE 155, 101). Weder aus dem Gesetz noch aus der Gesetzesbegründung ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG auf derartige verfassungsrechtlich geprägte Arbeitsverhältnisse beschränkt sein soll.
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2. Der Begriff der „Eigenart der Arbeitsleistung“ ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht so zu verstehen, dass nur die Eigenart der Arbeitsleistung als solche, nicht aber Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses berücksichtigt werden können. Die Arbeitsleistung wird im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erbracht und kann nicht davon losgelöst betrachtet werden (Boemke/Jäger RdA 2017, 20, 21). Allerdings ist nicht jegliche Eigenart der Arbeitsleistung geeignet, die Befristung eines Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Nach der dem Teilzeit- und Befristungsgesetz zugrunde liegenden Wertung ist der unbefristete Arbeitsvertrag der Normalfall und der befristete Vertrag die Ausnahme (vgl. BT-Drs. 14/4374 S. 1 und S. 12). Daher kann die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung eines Arbeitsvertrags nur dann rechtfertigen, wenn die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweist, aus denen sich ein berechtigtes Interesse der Parteien, insbesondere des Arbeitgebers, ergibt, statt eines unbefristeten nur einen befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen. Diese besonderen Umstände müssen das Interesse des Arbeitnehmers an der Begründung eines Dauerarbeitsverhältnisses überwiegen. Der Sachgrund des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG erfordert daher eine Abwägung der beiderseitigen Interessen, bei der auch das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers angemessen zu berücksichtigen ist (vgl. BAG 30. August 2017 – 7 AZR 864/15 – Rn. 30, 33).
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3. Die Arbeitsvertragsbeziehungen zwischen einem Fußballverein der 1. Bundesliga und einem Lizenzspieler weisen Besonderheiten auf, die regelmäßig geeignet sind, die Befristung des Arbeitsvertrags sachlich zu rechtfertigen (APS/Backhaus 5. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 298a; BeckOK ArbR/Bayreuther 46. Edition TzBfG § 14 Rn. 56; Bepler jM 2016, 105; Blang Befristung von Arbeitsverträgen mit Lizenzspielern und Trainern S. 191; HK-TzBfG/Boecken 4. Aufl. § 14 Rn. 76; Boemke/Jäger RdA 2017, 20; Fischinger/Reiter NZA 2016, 661; MüKoBGB/Hesse 7. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 46; Katzer/Frodl NZA 2015, 657; KR/Lipke 11. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 329 ff.; Meinel/Heyn/Herms TzBfG 5. Aufl. § 14 Rn. 174; HaKo-KSchR/Mestwerdt 5. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 123; Sievers TzBfG 5. Aufl. § 14 Rn. 305; Vogt Befristungs- und Optionsvereinbarungen im professionellen Mannschaftssport S. 137; Walker NZA 2016, 657; aA Däubler/Deinert/Zwanziger/Wroblewski KSchR 10. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 101).
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a) Der Grundsatz, dass das unbefristete Arbeitsverhältnis der Normalfall und das befristete Arbeitsverhältnis die Ausnahme ist, geht von der Annahme aus, dass ein Arbeitnehmer im Regelfall seinen Beruf bzw. seine Tätigkeit dauerhaft bis zum Rentenalter ausüben kann und der Arbeitsvertrag daher eine dauerhafte Existenzgrundlage bilden soll. Das ist bei einem Lizenzfußballspieler der 1. Bundesliga nicht der Fall. Während ein Arbeitnehmer üblicherweise unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten muss (BAG 17. Januar 2008 – 2 AZR 536/06 – Rn. 16, BAGE 125, 257; vgl. auch Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 131 Rn. 46: „individuelle Normalleistung“), werden im kommerzialisierten und öffentlichkeitsgeprägten Spitzenfußball von dem Lizenzspieler sportliche Höchstleistungen erwartet und geschuldet (APS/Backhaus 5. Aufl. TzBfG § 14 Rn. 298a). Die Zuschauer, von deren Interesse der Profifußball – auch wirtschaftlich – abhängig ist, wollen Fußballspiele auf möglichst hohem Niveau sehen. Sie erwarten, dass jeder Spieler durch Spitzenleistungen zum erhofften Erfolg ihrer Mannschaft beiträgt. Da eine Mannschaft im Wettbewerb der 1. Bundesliga nur dann erfolgreich sein kann, wenn alle Spieler sportliche Höchstleistungen erbringen (APS/Backhaus 5. Aufl. TzBfG § 14 Rn. 298a), ist jeder Lizenzspieler verpflichtet, seine hohe sportliche Leistungsfähigkeit zu erhalten und nach Möglichkeit noch zu steigern, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Solche sportlichen Höchstleistungen kann ein Lizenzspieler der 1. Bundesliga naturgemäß nicht dauerhaft bis zum Rentenalter, sondern nur für eine von vornherein begrenzte Zeit erbringen (Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 658). Das steht bei einem Lizenzspieler der 1. Bundesliga schon zu Beginn seiner Karriere fest. Aus der typischerweise fehlenden Möglichkeit eines Lizenzfußballspielers der 1. Bundesliga, die vertraglich geschuldete, für den Profifußballsport unerlässliche (Höchst-)Leistung dauerhaft erbringen zu können, resultiert ein berechtigtes Interesse der Vertragsparteien daran, statt eines unbefristeten Dauerarbeitsverhältnisses ein befristetes Arbeitsverhältnis zu begründen. Der Abschluss befristeter Arbeitsverträge mit Lizenzspielern entspricht daher einer durchgängig geübten Praxis im Profifußball.
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b) Der Abschluss befristeter Arbeitsverträge trägt typischerweise auch nicht nur berechtigten Belangen des Vereins als Arbeitgeber Rechnung, sondern dient auch den Interessen der Spieler.
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Ebenso wie der Verein hat auch der Lizenzspieler ein wirtschaftliches Interesse am sportlichen Erfolg seiner Mannschaft, da hiervon regelmäßig die Höhe seiner Vergütung abhängt. Der sportliche Erfolg einer Mannschaft setzt voraus, dass der Trainer die Mannschaft nach seinem spieltaktischen Konzept zusammenstellen und entwickeln kann. Dazu muss er die Möglichkeit haben, leistungsschwächere oder solche Spieler nach Ablauf ihrer Vertragslaufzeit auszutauschen, die nicht zu der geänderten Spieltaktik oder nicht in das neue Mannschaftsgefüge passen. Da es eine gewisse Zeit dauert, um die Spielweise der Mannschaft zu entwickeln und neue Spieler in die Mannschaft zu integrieren, ist es weiter erforderlich, dass die Spieler dem Verein eine bestimmte Zeit zur Verfügung stehen und das mit dem Verein eingegangene Arbeitsverhältnis nicht ordentlich kündigen können. Diese Flexibilisierung unter gleichzeitigem Zusammenhalt des Spielerkaders lässt sich nur durch den Abschluss befristeter Arbeitsverträge verwirklichen (Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 660). Die Befristungspraxis liegt auch deshalb im Interesse des Lizenzspielers, da durch die Beendigung befristeter Verträge in anderen Vereinen Beschäftigungsmöglichkeiten für ihn frei werden. Ein Wechsel eröffnet ihm die Chance, sich in einer anderen, ggf. leistungsstärkeren Mannschaft zu bewähren und im Rahmen des Vereinswechsels eine höhere Vergütung zu vereinbaren. Nachwuchsspieler erhalten so die Möglichkeit, als Lizenzspieler eingestellt und ausgebildet zu werden.
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Der Abschluss befristeter Arbeitsverträge trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die Arbeitsverhältnisse der Lizenzspieler der 1. Fußball-Bundesliga in das internationale Transfersystem eingebunden sind. Nach Art. 5 und Art. 6 des FIFA-Transferreglements dürfen Spieler, die an Wettbewerben des organisierten Fußballs teilnehmen wollen, nur bei einem Verein spielberechtigt sein; der Wechsel der Spielberechtigung darf nur innerhalb der vom nationalen Fußballverband festzulegenden Zeitperioden erfolgen. Diese zeitlichen Transferbeschränkungen schützen vor einer Wettbewerbsverzerrung, indem sie einerseits eine im Wesentlichen gleichbleibende sportliche Stärke der Mannschaften während eines Wettbewerbs gewährleisten und andererseits durch Vereinswechsel während der Spielzeit entstehenden Interessenkonflikten vorbeugen (EuGH 13. April 2000 – C-176/96 – [Lehtonen und Castors Braine] Rn. 53 ff.; Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 658; Walker NZA 2016, 657, 660). Unter diesem Transferreglement kann das Interesse der Vertragsparteien an einem Wechsel nur dann befriedigt werden, wenn zu den relevanten Zeitpunkten durch das Auslaufen befristeter Arbeitsverträge Beschäftigungsmöglichkeiten frei werden (Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 661). Die Befristung von Arbeitsverträgen ermöglicht es einem Verein außerdem, auf dem Transfermarkt Einnahmen zu erzielen, wenn einer seiner Spieler vor Ablauf der vereinbarten Vertragslaufzeit zu einem anderen Verein wechseln will. Diesem Wechsel wird der Verein regelmäßig nur gegen Zahlung einer Ablösesumme für den Spieler zustimmen. Die Ablösesumme entschädigt den Verein für die Investitionen in die sportliche Entwicklung des Spielers (Bepler jM 2016, 105, 109; Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 658; Walker NZA 2016, 657, 660). Könnte ein Spieler jederzeit kündigen und zu einem anderen Verein wechseln, wäre eine Refinanzierung der Kosten für die Ausbildung des Spielers nicht möglich. Dies wirkte sich negativ auf die Ausbildungsbereitschaft der Vereine und die Wettbewerbsfähigkeit solcher Vereine aus, die sich durch den „Verkauf“ selbst ausgebildeter Spieler finanzieren (Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 658; Walker NZA 2016, 657, 660). Dies liefe auch dem Interesse der Lizenzspieler zuwider, da sie nicht nur von der Ausbildung profitieren, sondern aufgrund der durch die Transferzahlungen bedingten Finanzstärke ihrer Vereine höhere Vergütungen erzielen können (Katzer/Frodl NZA 2015, 657, 658).
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Diese berechtigten Belange sowohl des Vereins als auch des Spielers überwiegen regelmäßig das ebenfalls zu berücksichtigende Interesse des Spielers an dem Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrags, der für ihn aufgrund der Art der geschuldeten Tätigkeit ohnehin nur eine zeitlich begrenzte Existenzgrundlage bilden könnte. Etwas anderes kann allenfalls in Ausnahmefällen gelten, etwa dann, wenn die vereinbarte Vertragslaufzeit zu einem Zeitpunkt endet, zu dem der Lizenzspieler nach den Transferbestimmungen nicht zu einem anderen Verein wechseln kann.
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4. Diese Grundsätze zur Auslegung und Anwendung von § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG entsprechen den Vorgaben der Richtlinie 1999/70/EG und der inkorporierten EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung.
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Die Befristung von Arbeitsverhältnissen mit Lizenzspielern der 1. Fußball-Bundesliga setzt, soweit die Grenzen des § 14 Abs. 2 TzBfG für eine sachgrundlose Befristung überschritten sind und kein sonstiger Sachgrund besteht, den Sachgrund der Eigenart der Arbeitsleistung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG voraus. Damit ist der nationale Gesetzgeber seiner Verpflichtung nachgekommen, eine oder mehrere der in § 5 Nr. 1 Buchst. a bis Buchst. c der Rahmenvereinbarung genannten Maßnahmen zu ergreifen, um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zu verhindern. Bei der „Eigenart der Arbeitsleistung“ handelt es sich um einen Sachgrund im Sinne von § 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung. Der Begriff „sachliche Gründe“ meint genau bezeichnete, konkrete Umstände, die eine bestimmte Tätigkeit kennzeichnen und daher in diesem speziellen Zusammenhang den Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge rechtfertigen können. Die Umstände können sich etwa aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung solche Verträge geschlossen wurden, und deren Wesensmerkmalen oder ggf. aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben (EuGH 26. Februar 2015 – C-238/14 – [Kommission/Luxemburg] Rn. 44; 26. November 2014 – C-22/13 ua. – [Mascolo ua.] Rn. 87 mwN). Die in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG vorgesehene Befristungsmöglichkeit beruht auf der besonderen Art der dem Arbeitnehmer übertragenen Aufgaben. Die Rahmenvereinbarung erkennt überdies ausweislich des zweiten und des dritten Absatzes ihrer Präambel sowie der Nr. 8 und Nr. 10 ihrer Allgemeinen Erwägungen an, dass befristete Arbeitsverhältnisse für die Beschäftigung in bestimmten Branchen oder bestimmten Berufen und Tätigkeiten charakteristisch sein können (vgl. EuGH 26. November 2014 – C-22/13 ua. – [Mascolo ua.] Rn. 75; 3. Juli 2014 – C-362/13 ua. – [Fiamingo ua.] Rn. 59; 13. März 2014 – C-190/13 – [Márquez Samohano] Rn. 51). Das bedeutet allerdings nicht, dass es einem Mitgliedstaat erlaubt ist, hinsichtlich einer bestimmten Branche nicht der Pflicht nachzukommen, Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu verhindern (EuGH 26. Februar 2015 – C-238/14 – [Kommission/Luxemburg] Rn. 51; 26. November 2014 – C-22/13 ua. – [Mascolo ua.] Rn. 88). Eine solche Maßnahme hat der deutsche Gesetzgeber ua. für den Profifußball durch den in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG geregelten Sachgrund getroffen. Der Sachgrund der Eigenart der Arbeitsleistung nimmt keinen Beruf und keine Branche aus. Er rechtfertigt die Befristung eines Arbeitsvertrags im Bereich des Profifußballs nur bei solchen Arbeitnehmern, die sportliche Höchstleistungen schulden und deren Arbeitsleistung deshalb von vornherein nur für eine begrenzte Zeit erbracht werden kann. Damit sind die Umstände, die eine bestimmte Tätigkeit kennzeichnen und daher in diesem speziellen Zusammenhang den Einsatz aufeinanderfolgender Arbeitsverträge rechtfertigen können, konkret und genau bezeichnet.
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5. Nach diesen Grundsätzen ist die Befristung des Arbeitsvertrags der Parteien zum 30. Juni 2014 nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 TzBfG sachlich gerechtfertigt. Bei dem Arbeitsverhältnis der Parteien handelt es sich nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts um ein „typisches“ befristetes Arbeitsverhältnis eines Lizenzfußballspielers der 1. Bundesliga, bei dem ein berechtigtes Interesse am Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags besteht. Besondere Umstände, die ausnahmsweise ein überwiegendes Bestandsschutzinteresse des Klägers rechtfertigen könnten, bestehen nicht.
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II. Da die Befristungskontrollklage unbegründet ist, fällt der Hilfsantrag dem Senat zur Entscheidung an. Dieser Feststellungsantrag ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Der Hilfsantrag ist als allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass der Antrag inzwischen auf die Feststellung eines in der Vergangenheit liegenden Rechtsverhältnisses gerichtet ist.
28
Nach § 256 Abs. 1 ZPO kann Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses erhoben werden, wenn die klagende Partei ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde. Das besondere Feststellungsinteresse ist eine in jedem Stadium des Rechtsstreits – auch noch in der Revisionsinstanz – von Amts wegen zu prüfende Sachurteilsvoraussetzung. Erforderlich ist grundsätzlich, dass es sich um ein gegenwärtiges Rechtsverhältnis handelt. Wird ein Antrag auf Feststellung eines vergangenen Rechtsverhältnisses gerichtet, ist er nur zulässig, wenn sich aus der Entscheidung noch Rechtsfolgen für die Gegenwart oder die Zukunft ergeben (vgl. BAG 27. Mai 2015 – 7 ABR 24/13 – Rn. 20; 22. Februar 2012 – 4 AZR 580/10 – Rn. 15). So liegt es hier. Von der Entscheidung hängt ua. ab, ob dem Kläger aus dem Arbeitsverhältnis noch Entgeltansprüche unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zustehen.
29
2. Der Hilfsantrag ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat nicht bis zum 30. Juni 2015 fortbestanden. Der Kläger hat zwar die in § 12 Nr. 4 Satz 1 des Arbeitsvertrags vorgesehene Verlängerungsoption ausgeübt. Die Voraussetzungen für die Option lagen jedoch nicht vor.
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a) Nach § 12 Nr. 4 Satz 1 des Arbeitsvertrags vom 7. Mai 2012 haben Verein und Spieler die Option, den bestehenden Vertrag bis zum 30. Juni 2015 zu verlängern. Das setzt nach § 12 Nr. 4 Satz 2 des Arbeitsvertrags neben der Ausübung der Verlängerungsoption den Einsatz des Klägers in mindestens 23 Bundesligaspielen der Saison 2013/2014 voraus. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Der Kläger war nur in zehn Bundesligaspielen der Saison 2013/2014 eingesetzt. Der Beklagte muss sich nicht nach § 162 Abs. 1 BGB so behandeln lassen, als wäre der Kläger in 23 Bundesligaspielen der Saison 2013/2014 eingesetzt worden. Der Beklagte hat den erforderlichen Einsatz des Klägers nicht treuwidrig vereitelt.
31
aa) Nach § 162 Abs. 1 BGB gilt eine vereinbarte Bedingung als eingetreten, wenn deren Eintritt von der Partei, zu deren Nachteil sie gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert wird. Diese Regelung ist Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens, dass niemand aus einem von ihm treuwidrig herbeigeführten Ereignis Vorteile herleiten darf (BAG 12. Dezember 2007 – 10 AZR 97/07 – Rn. 40, BAGE 125, 147). Wann die Beeinflussung des Geschehensablaufs treuwidrig ist, lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern nur im Einzelfall beurteilen. Maßgeblich ist, welches Verhalten von einem loyalen Vertragspartner erwartet werden konnte. Dies ist mittels einer umfassenden Würdigung des Verhaltens der den Bedingungseintritt beeinflussenden Vertragspartei nach Anlass, Zweck und Beweggrund unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Inhalts des Rechtsgeschäfts, festzustellen (BAG 23. September 2014 – 9 AZR 827/12 – Rn. 32; BGH 16. September 2005 – V ZR 244/04 – zu II 1 der Gründe).
32
bb) Danach hat der Beklagte die Entstehung der Option nicht dadurch treuwidrig vereitelt, dass er den Kläger in der Rückrunde der Saison 2013/2014 nicht in den Spielen der Bundesligamannschaft eingesetzt hat. Der Kläger konnte einen solchen Einsatz weder beanspruchen noch erwarten.
33
(1) Dem Kläger stand kein Anspruch auf Einsatz in einem Bundesligaspiel zu. Er war zwar nach § 2 Buchst. a Satz 1 des Arbeitsvertrags ua. verpflichtet, an allen Spielen des Clubs teilzunehmen. Mit dieser Pflicht korrespondierte aber kein Anspruch des Klägers auf tatsächlichen Einsatz in einem Bundesligaspiel. Nach den Spielregeln dürfen nur jeweils elf Feldspieler gleichzeitig zum Einsatz kommen (§ 11 Ziff. 3 Buchst. a DFL Spielordnung [SpOL] und DFB Fußball-Regeln) und nur maximal drei Auswechslungen pro Spiel vorgenommen werden. Es können also in einem Bundesligaspiel höchstens 14 Spieler des Spielerkaders eingesetzt werden. Daher weiß der mannschaftsangehörige Berufssportler auch ohne ausdrückliche Regelung im Arbeitsvertrag, dass er kein Recht auf einen Spieleinsatz hat, sondern eine Vielzahl von Umständen, und zwar von Spiel zu Spiel neu, darüber entscheidet, ob er zum Einsatz kommt oder nicht (BAG 22. August 1984 – 5 AZR 539/81 – zu I 2 b der Gründe). Dabei können neben dem individuellen Leistungsvermögen des Spielers oder anderer Spieler auch andere Umstände wie etwa die Teamfähigkeit, Einsatzbereitschaft und das Verhalten des Spielers oder mannschaftstaktische Erwägungen von Bedeutung sein. Die Zahl der absolvierbaren Pflichtspiele stellt sich daher grundsätzlich lediglich als eine rechtlich nicht geschützte Chance des Spielers dar (BAG 22. August 1984 – 5 AZR 539/81 – aaO).
34
(2) Diese Chance hat der Beklagte dem Kläger nicht durch eine fehlerhafte Ausübung seines Direktionsrechts genommen. Die Entscheidung des durch den Trainer handelnden Beklagten, den Kläger nicht in den Spielen der Rückrunde der Saison 2013/2014 einzusetzen, ist durch sein Direktionsrecht gedeckt. Es kann dahinstehen, ob die Entscheidung über den Einsatz eines Lizenzspielers im freien Ermessen des Trainers liegt oder ob sie zumindest auch auf sportlichen Erwägungen beruhen muss. Die Entscheidung des damaligen Trainers des Beklagten, den Kläger nicht zu den Spielen der Rückrunde der Saison 2013/2014 heranzuziehen, ist nicht ermessensfehlerhaft, da sie aus sportlichen Gründen getroffen wurde.
35
(a) Die Entscheidung eines Trainers, einen Spieler nicht einzusetzen, hält sich jedenfalls dann im Rahmen seines Ermessens, wenn sie aus sportlichen Gründen getroffen wird (BAG 19. Januar 2000 – 5 AZR 637/98 – zu II 2 der Gründe, BAGE 93, 212). Entgegen der Ansicht des Klägers wird der Ermessensspielraum durch die Vereinbarung einer einsatzabhängigen Verlängerungsoption nicht eingeschränkt. Der Arbeitgeber ist nicht aufgrund der Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB gehalten, sportliche Erwägungen bei der Entscheidung über die Mannschaftszusammenstellung zurückzustellen, um die Voraussetzungen für das Entstehen der Verlängerungsoption zu schaffen. Die Verlängerungsoption soll vielmehr nur dann entstehen, wenn der Spieler aufgrund guter Leistungen die vertraglich erforderliche Mindestanzahl an Einsätzen erreicht.
36
(b) Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die Entscheidung des damaligen Trainers, den Kläger nicht in den Bundesligaspielen der Rückrunde der Saison 2013/2014 einzusetzen, auf sportlichen Gründen beruhte. An diese Feststellung ist der Senat nach § 559 Abs. 2 ZPO gebunden, da der Kläger gegen diese keine durchgreifenden Revisionsrügen erhoben hat. Seine Rüge fehlerhafter Beweiswürdigung hat keinen Erfolg.
37
(aa) Die freie richterliche Beweiswürdigung des Tatsachengerichts ist nur beschränkt revisibel. Die revisionsrechtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO mit dem Prozessstoff umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt. Der Angriff gegen die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts bedarf einer Verfahrensrüge (§ 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b, § 557 Abs. 3 Satz 2 ZPO; BAG 20. August 2014 – 7 AZR 924/12 – Rn. 35; 16. Januar 2008 – 7 AZR 603/06 – Rn. 20, BAGE 125, 248).
38
(bb) Diesem eingeschränkten Überprüfungsmaßstab hält die Würdigung des Landesarbeitsgerichts stand. Das Landesarbeitsgericht hat sich mit dem Prozessstoff umfassend auseinandergesetzt und ist dabei vertretbar zu der Überzeugung gelangt, dass die Entscheidung des Trainers, den Kläger nicht mehr in Bundesligaspielen einzusetzen, auf sportlichen Erwägungen beruhte. Das Landesarbeitsgericht hat seine Würdigung darauf gestützt, dass der Trainer diese Entscheidung in seiner Vernehmung als Zeuge beim Arbeitsgericht zum einen mit der nachlassenden Leistung sowie dem aus seiner Sicht unprofessionellen Verhalten des Klägers und zum anderen vor allem damit begründet habe, dass der während der Verletzungspause des Klägers eingesetzte Torhüter K gute und stabile Leistungen gezeigt habe, so dass man in ihm das größte Potenzial für die Zukunft gesehen habe. Dabei handelt es sich um sportliche Erwägungen. Dieser Würdigung steht die Aussage des Trainers, es habe für den Kläger nach dem Gespräch am Ende der Hinrunde keine Chance zur Rückkehr in die erste Mannschaft gegeben, nicht entgegen. Dies war die Folge der Übertragung der Position des Stammtorhüters auf den Torhüter K. Da die Entscheidung des Trainers vor allem auf die Leistungen des Torhüters K und sein Potenzial gestützt war, ist es unerheblich, ob die Entwicklung der sportlichen Leistung des Klägers zu diesem Zeitpunkt absehbar war.
39
Auf die Frage, ob der Beklagte berechtigt war, den Kläger nach seiner Verletzungspause der zweiten Mannschaft zuzuweisen, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt. Die Zuweisung des Klägers zur zweiten Mannschaft war nicht die Ursache dafür, dass der Kläger in der Rückrunde der Saison 2013/2014 nicht in Bundesligaspielen eingesetzt wurde. Sie war vielmehr die Folge der aus sportlichen Gründen getroffenen Entscheidung des Trainers, dem Kläger die Position des Stammtorhüters zu entziehen. Die Zuweisung des Klägers zur zweiten Mannschaft rechtfertigt auch nicht die Annahme, der Trainer sei nicht mehr bereit gewesen, die weiteren Trainingsleistungen des Klägers zur Kenntnis zu nehmen. Nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass der Kläger im Fall der Verletzung eines der ersten Mannschaft zugewiesenen Torhüters bei Vorliegen entsprechender Leistungen die Chance gehabt hätte, in die erste Mannschaft aufzurücken.
40
b) Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht aufgrund der in § 12 Nr. 4 des Arbeitsvertrags vereinbarten Optionsklausel in entsprechender Anwendung von § 622 Abs. 6 BGB iVm. § 89 Abs. 2 HGB bis zum 30. Juni 2015 fortbestanden.
41
aa) Nach § 622 Abs. 6 BGB darf für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer keine längere Frist vereinbart werden als für die Kündigung durch den Arbeitgeber. Vereinbaren die Parteien unter Verstoß gegen § 622 Abs. 6 BGB für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer eine längere Frist als für die Kündigung durch den Arbeitgeber, muss auch der Arbeitgeber nach § 622 Abs. 6 BGB iVm. § 89 Abs. 2 Satz 2 HGB analog bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses die für den Arbeitnehmer vereinbarte (längere) Kündigungsfrist einhalten (BAG 2. Juni 2005 – 2 AZR 296/04 – BAGE 115, 88).
42
bb) Die Parteien haben in § 12 Nr. 4 des Arbeitsvertrags keine längere Kündigungsfrist für den Kläger als für den Beklagten, sondern eine Verlängerungsoption vereinbart, die es beiden Parteien ermöglichte, den Arbeitsvertrag zu verlängern, wenn der Kläger in der Saison 2013/2014 die erforderliche Zahl von Einsätzen erreichte. Es kann dahinstehen, ob die beiderseitige einsatzabhängige Verlängerungsoption in § 12 Nr. 4 des Arbeitsvertrags der Parteien eine unzulässige Umgehung von § 622 Abs. 6 BGB darstellt (zur einseitigen Verlängerungsoption sh. Rein NZA-RR 2009, 462) oder den Kläger unangemessen benachteiligt (Vogt Befristungs- und Optionsvereinbarungen im professionellen Mannschaftssport S. 187 ff.). Selbst wenn mit § 12 Nr. 4 des Arbeitsvertrags der Parteien eine unzulässige Umgehung von § 622 Abs. 6 BGB verbunden wäre, führte dies lediglich zur Nichtigkeit der Optionsklausel (Rein NZA-RR 2009, 462; Vogt Befristungs- und Optionsvereinbarungen im professionellen Mannschaftssport S. 161 f.), nicht aber zur Verlängerung des Vertrags.
43
III. Das Landesarbeitsgericht hat auch den Zahlungsantrag zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Zahlung von Punkteinsatz- und Erfolgspunkteinsatzprämien nach § 12 Nr. 1 und Nr. 2 des Arbeitsvertrags iVm. § 162 Abs. 1 BGB noch steht ihm ein Anspruch auf Schadensersatz wegen des unterbliebenen Einsatzes in den Bundesligaspielen der Rückrunde in der Saison 2013/2014 in Höhe der entgangenen Prämien zu.
44
Nach § 12 Nr. 1 des Arbeitsvertrags erhält der Spieler eine Punkteinsatzprämie iHv. 8.000,00 Euro und im Fall des Klassenerhalts nach § 12 Nr. 2 des Arbeitsvertrags eine Erfolgspunkteinsatzprämie iHv. 1.000,00 Euro für Ligaspiele. Der Prämienanspruch setzt voraus, dass der Spieler in dem Ligaspiel tatsächlich eingesetzt wurde. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Der Kläger war in den Ligaspielen der Rückrunde der Saison 2013/2014 nicht eingesetzt. Der Beklagte muss sich weder nach § 162 Abs. 1 BGB so behandeln lassen, als wäre der Einsatz erfolgt, noch hat er dem Kläger Schadensersatz wegen Nichteinsatzes zu leisten. Der Beklagte hat den Einsatz des Klägers in den Rückrundenspielen der Saison 2013/2014 weder treuwidrig verhindert noch hat er durch den Nichteinsatz eine Vertragspflicht verletzt. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die Entscheidung, den Kläger in der Rückrunde der Saison nicht einzusetzen, auf sportlichen Gründen beruhte. An diese Feststellung ist der Senat gebunden. Die Entscheidung über den Nichteinsatz des Klägers ist daher rechtlich nicht zu beanstanden.
45
C. Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Gräfl
Kiel
M. Rennpferdt
Kley
Busch |
bag_2-20 | 21.01.2020 | 21.01.2020
2/20 - Kein Nachteilsausgleich für Kabinenpersonal von Air Berlin
Die infolge der Einstellung der unternehmerischen Tätigkeit der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin entlassenen Mitglieder des Kabinenpersonals haben keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich.
Für das Kabinenpersonal der Air Berlin war auf der Grundlage eines mit ver.di geschlossenen Tarifvertrags (TVPV) die Personalvertretung Kabine errichtet. Nach § 83 Abs. 3 TVPV ist den Arbeitnehmern ein Nachteilsausgleich zu zahlen, wenn eine geplante Betriebsänderung durchgeführt wird, ohne dass über sie ein Interessenausgleich mit der Personalvertretung Kabine versucht wurde, und sie infolge dieser Maßnahme entlassen werden.
Anfang Oktober 2017 unterrichtete Air Berlin die Personalvertretung Kabine über die geplante Stilllegung des Geschäftsbetriebs zum 31. Januar 2018. Nachdem die Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs erfolgslos blieben, rief Air Berlin die Einigungsstelle an. Diese erklärte sich am 10. Januar 2018 für unzuständig. Ende Januar 2018 kündigte der Insolvenzverwalter den im Kabinenbereich Beschäftigten betriebsbedingt. Mit ihren Klagen haben die vormals als Flugbegleiterinnen tätigen Klägerinnen die Gewährung eines Nachteilsausgleichs verlangt. Sie haben geltend gemacht, die Betriebsänderung in Form der Stilllegung des Flugbetriebs sei bereits mit den Ende November 2017 erfolgten Kündigungen der Piloten durchgeführt worden; zu diesem Zeitpunkt sei der Interessenausgleich mit der Personalvertretung Kabine noch nicht hinreichend versucht gewesen.
Die Vorinstanzen haben die Klagen abgewiesen. Die Revisionen hatten vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. § 83 Abs. 3 TVPV sanktioniert die Verletzung des personalvertretungsrechtlichen Verhandlungsanspruchs. Dieser bezieht sich ausschließlich auf kabinenpersonalbezogene Maßnahmen. Das folgt aus einem gesetzeskonformen Verständnis des tariflich geregelten Beteiligungsrechts der Personalvertretung Kabine. Der TVPV gilt nach seinem persönlichen Geltungsbereich nur für das Kabinenpersonal. Könnte die für diese Gruppe errichtete Personalvertretung einen Sachverhalt gestalten, der auch das Cockpitpersonal beträfe, widerspräche dies der in § 4 Abs. 1 TVG angeordneten geltungsbereichsbezogenen Wirkung von Rechtsnormen eines Tarifvertrags über betriebsverfassungsrechtliche Fragen.
Bundesarbeitsgericht, Urteile vom 21. Januar 2020 – 1 AZR 149/19 – und – 1 AZR 295/19 – u.a.
Vorinstanzen: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 13. März 2019 – 12 Sa 631/18 -, Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Juni 2019 – 6 Sa 70/19 – u.a. | Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 13. März 2019 – 12 Sa 631/18 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision sowie der Nebenintervention zu tragen.
Leitsatz
Erstreckt sich der persönliche Geltungsbereich eines Tarifvertrags, durch den nach § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG eine Vertretung errichtet ist, nur auf eine bestimmte Gruppe von im Flugbetrieb beschäftigten Arbeitnehmern, kann wegen der geltungsbereichsbezogenen Wirkung tariflicher Rechtsnormen zu betriebsverfassungsrechtlichen Fragen iSd. § 1 Abs. 1 TVG weder der Vertretung das Recht eingeräumt werden, eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber abzuschließen, die einen Sachverhalt gestaltet, der auch nicht vom Geltungsbereich erfasste Arbeitnehmer betrifft, noch kann der Arbeitgeber verpflichtet werden, den Abschluss einer solchen Vereinbarung zu versuchen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über einen Nachteilsausgleich.
2
Die Klägerin war als Flugbegleiterin bei der A PLC & Co. Luftverkehrs KG (Schuldnerin) beschäftigt. Am 1. November 2017 wurde über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet. Am selben Tag zeigte der Beklagte, der zunächst zum Sachwalter und ab Mitte Januar 2018 zum Insolvenzverwalter bestellt wurde, dem Insolvenzgericht die drohende Masseunzulänglichkeit an.
3
Bei der Schuldnerin war für das im Cockpit tätige Personal auf der Grundlage eines Tarifvertrags eine Personalvertretung Cockpit gebildet. Das in der Kabine tätige Personal wurde durch die Personalvertretung Kabine repräsentiert. Diese war auf der Grundlage des von der Schuldnerin mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) geschlossenen „Tarifvertrags Personalvertretung (TVPV) für das Kabinenpersonal der A PLC & Co. Luftverkehrs KG“ vom 7. Juni 2016 errichtet. Der TVPV lautet auszugsweise:
„…
schließen in Wahrnehmung der Ermächtigung des § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG den folgenden Tarifvertrag … ab:
§ 1
Errichtung der Personalvertretung
(1)
Im Flugbetrieb der A wählt das Kabinenpersonal eine Personalvertretung.
…
§ 2
Persönlicher Geltungsbereich
(1)
Dieser Tarifvertrag gilt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Kabinenpersonals der A, nachfolgend auch ‚Kabinenpersonal‘ oder (zusammenfassend) ‚Arbeitnehmer‘ genannt.
…
§ 44
Grundsätze für die Behandlung des Kabinenpersonals
(1)
Die A und [die] Personalvertretung haben darüber zu wachen, dass alle Angehörigen des Kabinenpersonals nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, …
…
§ 62
Unterrichtungs- und Beratungsrechte bei der Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung
(1)
Die A hat die Personalvertretung über die Planung
1. von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten von Verwaltungs- und sonstige[n] betrieblichen Räumen des Flugbetriebes,
…
5. rechtzeitig unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten.
…
§ 74
Mitbestimmung bei Kündigungen
…
(3)
Die Personalvertretung kann innerhalb der Frist des Abs. 2 Satz 1 der ordentlichen Kündigung widersprechen, wenn
…
3. der zu kündigende Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz im Flugbetrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann;
…
§ 80
Betriebsänderungen
Die A hat die Personalvertretung über geplante Änderungen des Flugbetriebes, die wesentliche Nachteile für das Kabinenpersonal insgesamt oder erhebliche Teile des Kabinenpersonals zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend zu unterrichten und die geplanten Änderungen mit der Personalvertretung zu beraten. …
Als Betriebsänderungen im Sinne des Satzes 1 gelten:
1. Einschränkung und Stilllegung des ganzen Flugbetriebes oder von wesentlichen Teilen (Stationen, soweit dort mehr als 5 % des Kabinenpersonals insgesamt, mindestens aber 30 Arbeitnehmer des Kabinenpersonals betroffen sind);
2. Verlegung des Flugbetriebes oder von wesentlichen Flugbetriebsstellen, d. h. jede nicht nur geringfügige Veränderung der örtlichen Lage unter Weiterbeschäftigung des Kabinenpersonals;
3. Zusammenschluss mit anderen Luftverkehrsbetrieben; dazu gehört die Bildung eines neuen, einheitlichen, aber auch die Aufnahme eines bestehenden Flugbetriebes;
4. Spaltung von Flugbetrieben;
5. Grundlegende Änderung der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder der Flugzeugmuster …
…
§ 81
Interessenausgleich über die Betriebsänderung, Sozialplan
(1)
Kommt zwischen der A und der Personalvertretung ein Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung zustande, so ist dieser schriftlich niederzulegen und von der A und der Personalvertretung zu unterschreiben. …
(2)
Kommt ein Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung oder eine Einigung über den Sozialplan nicht zustande, so können die A oder die Personalvertretung den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit um Vermittlung ersuchen, …
Erfolgt kein Vermittlungsersuchen oder bleibt der Vermittlungsversuch ergebnislos, so können die A oder die Personalvertretung die Einigungsstelle anrufen. …
(3)
Die A und [die] Personalvertretung sollen der Einigungsstelle Vorschläge zur Beilegung der Meinungsverschiedenheiten über den Interessenausgleich und den Sozialplan machen. Die Einigungsstelle hat eine Einigung der Parteien zu versuchen. Kommt eine Einigung zustande, so ist sie schriftlich niederzulegen und von den Parteien und vom Vorsitzenden zu unterschreiben.
…
(5)
Die Einigungsstelle hat bei ihrer Entscheidung nach Abs. 4 sowohl die sozialen Belange der betroffenen Angehörigen des Kabinenpersonals zu berücksichtigen …
…
2. … Sie soll Arbeitnehmer von Leistungen ausschließen, die in einem zumutbaren Arbeitsverhältnis im selben Flugbetrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens … weiterbeschäftigt werden können …
…
§ 82
Erzwingbarer Sozialplan bei Personalabbau
Besteht eine geplante Betriebsänderung im Sinne von § 80 Satz 4 Nr. 1 allein in der Entlassung von Arbeitnehmern, so findet § 81 Abs. 4 und 5 nur Anwendung, wenn
…
§ 83
Nachteilsausgleich
(1)
Weicht die A von einem Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung ohne zwingenden Grund ab, so können Arbeitnehmer, die infolge dieser Abweichung entlassen werden, beim Arbeitsgericht Klage erheben mit dem Antrag, die A zur Zahlung von Abfindungen zu verurteilen; § 10 des Kündigungsschutzgesetzes gilt entsprechend.
…
(3)
Die Abs. 1 und 2 geltend entsprechend, wenn die A eine geplante Betriebsänderung nach § 80 durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit der Personalvertretung versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden.
…
§ 86
Anwendung der Rechtsprechung
Für strittige Fragen beim Vollzug dieses Tarifvertrages ist die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Betriebsverfassungsgesetz zu beachten. Die Besonderheiten des Flugbetriebes sind zu berücksichtigen.“
4
Am 8. Dezember 2016 schloss die Schuldnerin mit ver.di den Tarifvertrag „TV A: Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ (TV Pakt). Dieser bestimmt ua.:
„§ 1
Grundlagen des Pakts für Wachstum und Beschäftigung
(1)
Das Management Board der A hat am 27.09.2016 das neue Geschäftsmodell der A auf Grundlage eines umfassenden Transformationsprozesses vorgestellt, welches den Bestand der Gesellschaft für die nächsten Jahre nachhaltig sichern soll.
(2)
Aus Anlass bevorstehender Umstrukturierungsmaßnahmen – wie zum Beispiel Wetleases, … – vereinbaren die Parteien zusammenzuwirken, um Wachstum für die A in ihren neuen Märkten und Beschäftigung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kabine zu sichern.
(3)
… Daher sagt A hiermit zu, dass
•
die heutigen Arbeitsverträge der A Beschäftigten in der Kabine bestehen bleiben,
•
Perspektiven für Wachstum, Karriereentwicklung und Beschäftigungssicherung in der Kabine geboten werden,
…
§ 2
Perspektiven für Wachstum, Karriereentwicklung und Beschäftigungssicherung in der Kabine
(1)
Zur Umsetzung der Wachstumsperspektiven in der Kabine wird A in 2016 und 2017 voraussichtlich insgesamt ca. 500 Cabin Crew Member … neu einstellen sowie zusätzlich ca. 40 freie Purser-Stellen und ca. 100 freie Stellen für Senior Cabin Crew Member … besetzen.
(2)
A geht bei erfolgreicher Umsetzung der Transformation nicht davon aus, betriebsbedingte Beendigungskündigungen durchführen zu müssen. Sollten diese, egal aus welchen Gründen, dennoch unvermeidbar werden, ist deren Ausspruch erst nach Abschluss eines Sozialtarifvertrages mit ver.di über einen Interessenausgleich und Sozialplan zulässig, der sich auf das gesamte Kabinenpersonal auf der Grundlage der Betriebszugehörigkeit ausrichtet.
(3)
Interessenausgleichs-/Sozialplanverhandlungen, deren Inhalt zur Umsetzung personeller Maßnahmen beschränkt ist auf Änderungskündigungen, sind weiterhin auf betrieblicher Ebene möglich. Sollten die Betriebsparteien nicht zu einer Einigung kommen, wird in Abweichung von § 81 TVPV nicht die Einigungsstelle angerufen, sondern ist ein Sozialtarifvertrag über einen Interessenausgleich und Sozialplan mit ver.di abzuschließen.
§ 3
Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen
Alle zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Tarifvertrages bei der A für das Kabinenpersonal geltenden Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen behalten während der Durchführung und nach der Umsetzung der bevorstehenden Umstrukturierungsmaßnahmen ihre Gültigkeit und kommen uneingeschränkt in ihrer jeweils gültigen Fassung zur Anwendung. Von diesen Vereinbarungen kann nur abgewichen werden, wenn dies zur langfristigen Sicherung des Bestandes der Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten des Kabinenpersonals führt …
§ 4
Betriebliche Mitbestimmung
Sollte die vorgesehene Transformation bei A zu Umstrukturierungen auch des das Kabinenpersonal betreffenden Flugbetriebs führen, gehen die Tarifvertragsparteien übereinstimmend davon aus, das[s] es auch in diesem Fall bei einer einheitlichen Personalvertretung für alle Beschäftigten des Kabinenpersonals der A bleiben muss und werden bei Bedarf den Tarifvertrag Personalvertretung … entsprechend unverzüglich anpassen.
§ 5
Regelungen für den Wetlease
…
(2)
Durch diesen TV A Pakt für Wachstum und Beschäftigung ist die wirtschaftliche Basis dafür gegeben, dass die im Rahmen des Wetlease fliegenden Kabinenbeschäftigten bei einer Beendigung des Wetlease in die Operation der neuen A auf die noch von A betriebenen Stationen wechseln können.“
5
Die Schuldnerin unterrichtete Anfang Oktober 2017 die Personalvertretung Kabine über die geplante Stilllegung ihres Geschäftsbetriebs zum 31. Januar 2018 und bat um Aufnahme von Verhandlungen über einen Interessenausgleich. Ende Oktober 2017 führte die Schuldnerin ihren letzten eigenwirtschaftlichen Flug durch. Vorübergehend erbrachte sie noch im „Wetlease“ Flugleistungen für andere Luftfahrtunternehmen. Ihre – ausnahmslos geleasten – Flugzeuge gab sie sukzessive zurück. Ende November 2017 – nach Abschluss von Interessenausgleichen mit der Personalvertretung Cockpit und dem bei der Schuldnerin gebildeten Gesamtbetriebsrat Boden – kündigte sie den bei ihr beschäftigten Piloten sowie dem Bodenpersonal. Ausgenommen hiervon waren lediglich die Mitarbeiter, zu deren Kündigungen noch Zustimmungen einzuholen waren.
6
Das Arbeitsgericht Berlin wies mit Beschluss vom 21. Dezember 2017 (- 41 BV 13752/17 -) einen Antrag der Schuldnerin nach § 122 Abs. 1 InsO mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig zurück. Zur Begründung führte es ua. aus, die Schuldnerin habe mit der Durchführung der Betriebsänderung bereits begonnen.
7
Nachdem die Schuldnerin Ende November 2017 die Verhandlungen mit der Personalvertretung Kabine über einen Interessenausgleich für gescheitert erklärt hatte, leitete sie Anfang Dezember ein Beschlussverfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle ein. Die aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs der Verfahrensbeteiligten zu den Regelungsgegenständen „Versuch eines Interessenausgleichs und Abschluss eines Sozialplans“ gebildete Einigungsstelle erklärte sich am 10. Januar 2018 für unzuständig.
8
Der Beklagte kündigte Ende Januar 2018 die Arbeitsverhältnisse der in der Kabine beschäftigten Arbeitnehmer, darunter auch das der Klägerin. Mit Ablauf des 31. Januar 2018 endete die Betriebsgenehmigung der Schuldnerin.
9
Der Beklagte zeigte am 30. April 2019 beim Insolvenzgericht Neumasseunzulänglichkeit an. Dieses erließ mit Beschluss vom selben Tag ein Zwangsvollstreckungsverbot für bis zum 30. April 2019 begründete Neumasseverbindlichkeiten.
10
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, ihr stehe – als Neumasseverbindlichkeit – ein Anspruch auf Nachteilsausgleich zu. Die Regelungen der §§ 80 ff. TVPV seien durch den TV Pakt nicht verdrängt worden. Die Schuldnerin habe durch den Ausspruch der Kündigungen gegenüber den Piloten eine Betriebsänderung durchgeführt, ohne zuvor einen Interessenausgleich mit der Personalvertretung Kabine versucht zu haben.
11
Die Klägerin hat – soweit für das Revisionsverfahren von Interesse – beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihr einen Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG und/oder § 83 TVPV zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch 49.400,00 Euro brutto nicht unterschreiten sollte;
hilfsweise
festzustellen, dass ihr gemäß § 83 TVPV ein Nachteilsausgleichsanspruch, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch einen Betrag iHv. 49.400,00 Euro brutto nicht unterschreiten sollte, als Masseverbindlichkeit gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO zusteht.
12
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
13
Nach Streitverkündung durch die Klägerin ist der Nebenintervenient dem Rechtsstreit auf Seiten des Beklagten beigetreten.
14
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin vor dem Landesarbeitsgericht blieb erfolglos. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
15
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung gegen die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die Klageanträge bleiben erfolglos.
16
I. Der auf die Zahlung eines Nachteilsausgleichs gerichtete Hauptantrag ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
17
1. Das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses soll verhindern, dass Rechtsstreitigkeiten in das Stadium der Begründetheitsprüfung gelangen, für die eine solche Prüfung nicht erforderlich ist. Bei Leistungsklagen ergibt sich ein Rechtsschutzbedürfnis regelmäßig aus der Nichterfüllung des behaupteten materiellen Anspruchs, dessen Vorliegen für die Prüfung des Interesses an seiner gerichtlichen Durchsetzung zu unterstellen ist (BAG 11. Dezember 2018 – 9 AZR 298/18 – Rn. 19, BAGE 164, 307). An einem Rechtsschutzbedürfnis für eine Leistungsklage fehlt es ausnahmsweise aber dann, wenn ein stattgebendes Urteil nicht vollstreckt werden kann, da es in diesem Fall keine über eine Feststellung hinausgehenden Wirkungen hätte (vgl. auch BGH 2. Mai 2019 – IX ZB 67/18 – Rn. 8).
18
2. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Das Insolvenzgericht hat mit rechtskräftigem Beschluss vom 30. April 2019 angeordnet, dass die Zwangsvollstreckung von Massegläubigern wegen Neumasseverbindlichkeiten, die bis zu diesem Tag begründet wurden, unzulässig ist. Der erst nach Abschluss des Berufungsverfahrens ergangene Beschluss ist von Amts wegen zu berücksichtigen, da er eine in jeder Lage des Verfahrens zu prüfende Sachurteilsvoraussetzung betrifft. Die mit der Klage geltend gemachte Forderung wäre – im Fall ihres Bestehens – von diesem Zwangsvollstreckungsverbot erfasst. Vor diesem Hintergrund hat die Klägerin kein rechtlich schützenswertes Interesse, den Erlass eines Leistungstitels (§ 704 ZPO) zu verfolgen, der nicht durchgesetzt werden könnte.
19
II. Der damit dem Senat zur Entscheidung anfallende Hilfsantrag ist zwar zulässig, jedoch unbegründet.
20
1. Die Zulässigkeit des Feststellungsantrags begegnet keinen Bedenken.
21
a) Der Antrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Klägerin konnte die Höhe der geforderten Abfindung in das Ermessen des Gerichts stellen. Nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 Halbs. 2 TVPV gilt für die Bemessung der Höhe der Abfindung § 10 KSchG entsprechend. Innerhalb der dort festgelegten Höchstgrenzen entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen. Dem Bestimmtheitserfordernis ist deshalb genügt, wenn – wie hier – die für die Bemessung der Abfindung maßgeblichen Umstände mitgeteilt werden (vgl. für § 113 BetrVG BAG 18. Oktober 2011 – 1 AZR 335/10 – Rn. 10, BAGE 139, 342).
22
b) Für die begehrte Feststellung besteht – auch soweit sie sich auf die insolvenzrechtliche Einordnung und damit den Rang des erstrebten Anspruchs bezieht – ein Feststellungsinteresse. Der Vorrang der Leistungsklage steht nicht entgegen.
23
2. Die Feststellungsklage ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV zu.
24
a) Das folgt nicht bereits daraus, dass § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV aufgrund der Bestimmungen in § 2 Abs. 2 und Abs. 3 TV Pakt nicht anwendbar wäre. Der TV Pakt erfasst den Fall der von der Schuldnerin geplanten vollständigen Einstellung ihres Geschäftsbetriebs nicht. Dies ergibt seine Auslegung (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen BAG 23. Oktober 2018 – 1 ABR 10/17 – Rn. 26 mwN).
25
aa) Der Tarifwortlaut gibt ein bestimmtes Auslegungsergebnis nicht notwendig vor. Zwar lässt die Formulierung in § 2 Abs. 2 Satz 2 TV Pakt, wonach die Zulässigkeit des Ausspruchs betriebsbedingter Beendigungskündigungen von dem vorherigen Abschluss eines Sozialtarifvertrags mit ver.di abhängt und zwar unabhängig davon, „aus welchen Gründen“ diese „unvermeidbar“ sind, den Schluss darauf zu, dass die dort und in Abs. 3 der Tarifnorm vorgesehenen Bestimmungen auch greifen sollen, wenn die Schuldnerin ihren Geschäftsbetrieb einstellt und infolgedessen alle Arbeitnehmer entlässt. Zwingend ist ein solches Verständnis jedoch nicht. Vielmehr deuten der inhaltliche Zusammenhang mit dem vorhergehenden Satz sowie die Verwendung des Konjunktionaladverbs „dennoch“ – das auch im Sinn von „gleichwohl“ oder „trotzdem“ zu verstehen ist – darauf hin, dass § 2 Abs. 2 Satz 2 TV Pakt nur solche Kündigungen erfassen soll, die auch im Fall der in Satz 1 angesprochenen „erfolgreichen Umsetzung der Transformation“ aus Sicht der Schuldnerin unerlässlich sind.
26
bb) Vor allem der Gesamtzusammenhang der Regelungen des TV Pakt und sein hieraus erkennbarer Sinn und Zweck sprechen dafür, dass er die Stilllegung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin nicht erfasst.
27
(1) Bereits die Bezeichnung des Tarifvertrags als „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ zeigt, dass es den Tarifvertragsparteien darum ging, Regelungen für den Fortbestand des von der Schuldnerin unterhaltenen Geschäftsbetriebs – und nicht für dessen Stilllegung – zu treffen. Bei einer Einstellung der betrieblichen Aktivitäten ist weder ein Wachstum noch eine weitere Beschäftigung der Arbeitnehmer möglich.
28
(2) Auch die Bestimmungen in § 1 TV Pakt („Grundlagen des Pakts …“) belegen dessen Zielrichtung und damit seinen – die Einstellung der unternehmerischen Tätigkeit nicht umfassenden – gegenständlichen Geltungsbereich. Anlass für den Abschluss des TV Pakt war gemäß seinem § 1 Abs. 1 das im September 2016 von der Schuldnerin vorgestellte „neue Geschäftsmodell“, das mit Hilfe eines „umfassenden Transformationsprozesses“ den Bestand des Unternehmens in den nächsten Jahren sichern sollte; die Umstrukturierungsmaßnahmen, die zu diesem Zweck ins Auge gefasst worden waren, sind in § 1 Abs. 2 TV Pakt beispielhaft genannt. Anlässlich dieser Maßnahmen vereinbarten die tarifvertragschließenden Parteien eine Zusammenarbeit, „um Wachstum … und Beschäftigung … zu sichern“. Diese Absprache ist mit einer Einstellung aller unternehmerischen Aktivitäten der Schuldnerin unvereinbar. Gleiches gilt für die Zusagen der Schuldnerin in § 1 Abs. 3 TV Pakt, wonach die Arbeitsverträge der Beschäftigten in der Kabine bestehen bleiben und „Perspektiven für Wachstum, Karriereentwicklung und Beschäftigungssicherung in der Kabine geboten werden“. Diese Zusicherungen können bei einer vollständigen Betriebsstilllegung nicht eingehalten werden.
29
(3) Die übrigen Regelungen im TV Pakt bestätigen seinen nicht geschäftsstilllegungsbezogenen Anwendungsbereich. Die in § 2 Abs. 1 TV Pakt geregelte Verpflichtung der Schuldnerin zur Einstellung weiterer Mitarbeiter im Bereich Kabine zielt auf deren personelle Expansion, nicht auf die Beendigung ihrer geschäftlichen Aktivitäten ab. Die in § 3 TV Pakt vereinbarte Gültigkeit und „uneingeschränkte“ Anwendung der für das Kabinenpersonal geschlossenen Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen knüpfen an die Durchführung und die Umsetzung der – damals – bevorstehenden Umstrukturierungsmaßnahmen an. Eine Abweichung von diesen Regelungswerken sollte nur möglich sein, wenn dies ua. „zur langfristigen Sicherung des Bestandes der Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten des Kabinenpersonals führt“. Eine solche Bestandssicherung ist bei der Einstellung jeglicher geschäftlicher Tätigkeit jedoch nicht möglich. Auch die Bestimmungen in § 4 und § 5 Abs. 2 TV Pakt belegen, dass der TV Pakt diese Situation trotz der möglicherweise bereits damals insolvenznahen wirtschaftlichen Lage der Schuldnerin nicht erfasst. § 4 TV Pakt geht von einem Fortbestand der Personalvertretung Kabine bei etwaigen Umstrukturierungen des das Kabinenpersonal betreffenden Flugbetriebs aus; § 5 Abs. 2 TV Pakt soll den im „Wetlease“ eingesetzten Kabinenbeschäftigten bei einer Beendigung dieser Leistungen die Rückkehr in die „Operation der neuen A“ sichern. Beide Vorgaben sind letztlich nicht einzuhalten, wenn die betrieblichen Aktivitäten vollständig eingestellt werden und infolgedessen keine Arbeitnehmer mehr beschäftigt werden können.
30
(4) Auf den Inhalt des im Dezember 2016 von ver.di herausgegebenen Informationsblatts zum TV Pakt kommt es nicht an. Als Erklärung einer der tarifvertragschließenden Parteien kommt ihm für das Verständnis eines normativ wirkenden Tarifwerks keine Bedeutung zu.
31
b) Die Klägerin hat jedoch deshalb keinen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV, weil die Voraussetzungen für dessen Gewährung nicht erfüllt sind. Die Schuldnerin hat die Betriebsänderung iSd. § 80 TVPV nicht durchgeführt, ohne zuvor über diese einen Interessenausgleich mit der Personalvertretung Kabine hinreichend versucht zu haben. Bei gesetzeskonformer Auslegung des § 81 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 2 Satz 2 TVPV bezog sich der tarifvertragliche Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine nur auf den Versuch einer Einigung über kabinenpersonalbezogene Maßnahmen. Einen solchen Einigungsversuch hat die Schuldnerin unternommen, bevor der Beklagte die Kündigungen des Kabinenpersonals erklärt hat. Damit hat die Schuldnerin den Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine nicht verletzt.
32
aa) Nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV steht den Arbeitnehmern ein Anspruch auf Nachteilsausgleich zu, wenn die Schuldnerin eine geplante Betriebsänderung nach § 80 TVPV durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit der Personalvertretung versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Die tarifliche Verpflichtung zur Gewährung eines Nachteilsausgleichs ist § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG nachgebildet. Die gesetzliche Norm bezweckt zum einen den präventiven Schutz der Einhaltung des auf einen Interessenausgleichsversuch gerichteten Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats. Zum anderen ist mit ihr – in Fällen, in denen Arbeitnehmer infolge der Maßnahme entlassen werden oder sonstige wirtschaftliche Nachteile erleiden – die Verletzung des betriebsverfassungsrechtlichen Verhandlungsanspruchs durch das Entstehen eines individuellen Abfindungsanspruchs sanktioniert (vgl. BAG 12. Februar 2019 – 1 AZR 279/17 – Rn. 16 mwN, BAGE 165, 336).
33
bb) Diesen Zielen dient – wie § 86 TVPV zeigt – auch die Regelung des § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV. Die Tarifnorm soll die Einhaltung des auf einen Interessenausgleichsversuch gerichteten Verhandlungsanspruchs der Personalvertretung Kabine sichern, indem sie dessen Vereitelung mit der Zahlung einer Abfindung an die entlassenen oder einen sonstigen wirtschaftlichen Nachteil erleidenden Arbeitnehmer sanktioniert.
34
cc) Der mit § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV verfolgte Präventions- und Sanktionszweck kann – und soll – dabei nicht weiter reichen als der der Personalvertretung Kabine rechtswirksam von den Tarifvertragsparteien eingeräumte personalvertretungsrechtliche Verhandlungsanspruch. Dies drückt sich sprachlich bereits darin aus, dass sich das nachteilsausgleichsauslösende „Durchführen“ der Betriebsänderung auf eben jene bezieht, über die ein Interessenausgleich zu versuchen ist („ohne über sie“). § 83 Abs. 3 TVPV stellt darauf ab, dass mit der Durchführung der (geplanten) Betriebsänderung der kollektivrechtliche Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine vereitelt wird.
35
dd) Der durch § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV flankierte Anspruch der Personalvertretung Kabine, mit ihr einen Interessenausgleich zu versuchen, bezieht sich in Zusammenhang mit der vorliegend von der Schuldnerin geplanten „Stilllegung des ganzen Flugbetriebes“ iSv. § 80 Satz 4 Nr. 1 TVPV ausschließlich auf beabsichtigte kabinenpersonalbezogene Maßnahmen. Zulässiger Inhalt eines – ggf. durch Anrufung der Einigungsstelle zu versuchenden – Interessenausgleichs sind lediglich Festlegungen zum „Ob“, „Wann“ und „Wie“ derartiger Maßnahmen. Einen Verhandlungsanspruch, der den Ablauf der geplanten Stilllegung des Flugbetriebs als organisatorische Einheit umfasst, gewährt § 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV der Personalvertretung Kabine wegen des in § 2 Abs. 1 TVPV vorgesehenen personellen Geltungsbereichs dieses Tarifvertrags nicht. Das geben zwar weder der Wortlaut noch die Systematik oder der Regelungszusammenhang der einschlägigen tariflichen Vorschriften vor. Ein solches Verständnis der Tarifnormen ist aber aufgrund einer wirkungserhaltend einschränkenden Auslegung zwingend geboten (vgl. zur einschränkend geltungserhaltenden Auslegung von Tarifverträgen zum Zwecke der Gesetzeskonformität BAG 17. April 2019 – 7 AZR 292/17 – Rn. 24 mwN).
36
(1) Sowohl nach dem Wortlaut als auch der Überschrift von § 81 Abs. 1 Satz 1 TVPV ist Gegenstand des (zu versuchenden) Interessenausgleichs die (geplante) „Betriebsänderung“. Den Begriff der Betriebsänderung haben die Tarifvertragsparteien in § 80 Satz 1 TVPV definiert. Hierbei handelt es sich um „Änderungen des Flugbetriebes, die wesentliche Nachteile für das Kabinenpersonal insgesamt oder erhebliche Teile des Kabinenpersonals zur Folge haben können“. Als Betriebsänderung in diesem Sinne gilt gemäß § 80 Satz 4 Nr. 1 TVPV ua. die „Stilllegung des ganzen Flugbetriebes“. Der TVPV knüpft damit nicht nur für das den Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine nach § 80 Satz 1 TVPV auslösende Moment an eine solche Stilllegung an, sondern macht dieses Ereignis auch zum Gegenstand eines zwischen der Personalvertretung Kabine und der Schuldnerin zu verhandelnden und – im Fall einer Einigung – von ihnen abzuschließenden Interessenausgleichs.
37
(2) Ausgehend vom Wortlaut, der Systematik und dem Regelungszusammenhang des TVPV bezeichnet der „Flugbetrieb“ keine ausschließlich kabinenpersonalbezogene, sondern eine organisatorische Einheit. Dem Begriff des „Flugbetriebs“ iSd. TVPV liegt ein räumlich-gegenständliches Verständnis zugrunde, das auch Betriebsmittel und deren organisatorische Zusammenfassung zur Verfolgung eines bestimmten – konkret: des fliegerischen – Zwecks einschließt.
38
(a) Für diese Annahme spricht allerdings nicht schon die Verwendung des – im TVPV nicht eigenständig definierten – Ausdrucks „Flugbetrieb“. Die Tarifvertragsparteien haben sich damit einer Begrifflichkeit bedient, die auch der Gesetzgeber in § 117 BetrVG verwandt hat. In solch einem Fall kann prinzipiell davon ausgegangen werden, dass der tarifliche Begriff dem Inhalt der gesetzlichen Kategorie entspricht (vgl. zum Verständnis gesetzlicher Rechtsbegriffe in Tarifverträgen BAG 19. November 2014 – 5 AZR 121/13 – Rn. 18, BAGE 150, 88). „Flugbetrieb“ iSv. § 117 BetrVG meint indes keine organisatorische Einheit, die sich – wie der Betriebsbegriff iSd. BetrVG – im Wesentlichen durch die Zusammenfassung materieller und immaterieller Betriebsmittel und die Steuerung der menschlichen Arbeitskraft durch einen einheitlichen Leitungsapparat auszeichnet (vgl. zum Betriebsbegriff BAG 17. Mai 2017 – 7 ABR 21/15 – Rn. 17 mwN). Vielmehr beschreibt die Formulierung „im Flugbetrieb beschäftigte Arbeitnehmer von Luftfahrtunternehmen“ eine Gruppe von Arbeitnehmern – das „fliegende Personal“ -, die aufgrund ihrer Tätigkeit bis zum 30. April 2019 uneingeschränkt aus dem Anwendungsbereich des BetrVG ausgenommen war (§ 117 Abs. 1 iVm. Abs. 2 Satz 1 BetrVG in der bis 30. April 2019 geltenden Fassung [aF]) und auf die seit dem 1. Mai 2019 das BetrVG anzuwenden ist, wenn keine Vertretung durch Tarifvertrag errichtet ist (vgl. § 117 Abs. 1 Satz 2 BetrVG idF vom 18. Dezember 2018 [nF]).
39
(aa) Für ein personalbezogenes Verständnis spricht bereits der Gesetzeswortlaut. § 117 Abs. 1 BetrVG aF sowie § 117 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nF ordnen ausdrücklich für Luftfahrtunternehmen die Anwendung des Gesetzes „auf“ deren „Landbetriebe“ an. In Abgrenzung hierzu ist in § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG in seiner seit dem 19. Januar 1972 geltenden Fassung semantisch nicht „auf Flugbetriebe“ abgestellt, sondern auf „im Flugbetrieb beschäftigte Arbeitnehmer von Luftfahrtunternehmen“. Der durch das Qualifizierungschancengesetz vom 18. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2651) zum 1. Mai 2019 in § 117 Abs. 1 BetrVG eingefügte Satz 2, der eine subsidiäre Geltung des BetrVG anordnet, enthält die wortlautidentische Formulierung. Dies spricht dafür, den „Flugbetrieb“ nicht als Ausdruck einer für die Errichtung einer tariflichen Arbeitnehmervertretung (oder eines Betriebsrats) maßgebenden Organisationseinheit zu verstehen, sondern als Beschreibung einer mit Flugbetriebstätigkeiten befassten Beschäftigtengruppe. Die Verwendung von „im“ – als buchstäbliches Zusammenziehen der Präposition „in“ und des Artikels „dem“ – impliziert zwar häufig einen räumlich-örtlichen Bezug. Aufgrund der in der Gesetzesformulierung enthaltenen personenbezogenen Verknüpfung („beschäftigte Arbeitnehmer“) ist damit aber eine bestimmte Tätigkeit – die des „fliegenden Personals“ – umschrieben. Auf diese Arbeitnehmer fand das Betriebsverfassungsgesetz nach § 117 Abs. 1 BetrVG aF keine Anwendung und findet nach § 117 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nF nur dann Anwendung, wenn keine Vertretung durch Tarifvertrag errichtet ist.
40
(bb) Systematische Erwägungen stützen die Annahme, dass mit dem Terminus „Flugbetrieb“ iSd. § 117 BetrVG keine betriebliche Organisationseinheit gemeint ist. In § 3 Abs. 5 BetrVG ordnet das Gesetz ausdrücklich an, dass die aufgrund eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG gebildeten betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheiten als Betriebe im Sinne dieses Gesetzes gelten. Auch § 114 Abs. 3 BetrVG legt fest, dass als Seebetrieb im Sinne dieses Gesetzes die Gesamtheit der Schiffe eines Seeschifffahrtsunternehmens einschließlich der in § 114 Abs. 2 Satz 2 BetrVG genannten Schiffe gelten. Zudem ist für den Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes in § 24 Abs. 2 KSchG eigens bestimmt, dass als Betrieb im Sinne dieses Gesetzes jeweils die Gesamtheit der Seeschiffe oder der Binnenschiffe eines Schifffahrtsbetriebs oder der Luftfahrzeuge eines Luftverkehrsbetriebs gelten. Eine vergleichbare (Fiktions-)Regelung enthält das Betriebsverfassungsgesetz für „Flugbetriebe“ nicht. Auch bei der Novellierung von § 117 BetrVG zum 1. Mai 2019 hat der Gesetzgeber weder einen etwaigen luftverkehrsspezifischen Flugbetriebsbegriff näher festgelegt noch eine entsprechende Fiktion in das BetrVG aufgenommen.
41
(cc) Insbesondere die Gesetzesmaterialien und der sich aus ihnen ergebende Sinn und Zweck des § 117 BetrVG (aF) belegen das personalbeschreibende Verständnis der Bezeichnung „im Flugbetrieb beschäftigte Arbeitnehmer“. Nach der Begründung zum Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes sollte „das sogenannte ‚fliegende Personal‘, d. h. in der Hauptsache die Besatzungsmitglieder von Flugzeugen, wegen der besonderen, nicht ortsgebundenen Art der Tätigkeit wie bisher aus seinem Geltungsbereich ausgenommen“ werden. „Für diesen Personenkreis“ sollte die Möglichkeit vorgesehen sein, „durch Tarifvertrag eine Regelung seiner Vertretung … zu vereinbaren“ (BT-Drs. VI/1786 S. 58). Damit wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass es für diese Arbeitnehmer wegen ihrer typischerweise regelmäßig wechselnden Aufenthalte an unterschiedlichen Flughäfen im In- und Ausland besonders schwierig ist, zusammen mit den Arbeitnehmern des Landbetriebs eine Interessenvertretung nach den Grundsätzen des Betriebsverfassungsgesetzes zu organisieren und sich an dieser aktiv zu beteiligen (ausf. BAG 14. September 1986 – 1 ABR 13/85 – zu B II 4 der Gründe). Die Herausnahme des „fliegenden Personals“ aus dem Geltungsbereich der gesetzlichen Betriebsverfassung wurde – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 117 BetrVG am 19. Januar 1972 bereits bestehenden Tarifverträge zu Betriebs- bzw. Personalvertretungen „für das Bordpersonal der DHL“ (vgl. dazu Darányi Die Bordbetriebsverfassung nach § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG unter Berücksichtigung europa- und verfassungsrechtlicher Vorgaben S. 41 ff.) – nicht damit begründet, dass Luftverkehrsunternehmen typischerweise mehrere, sich einerseits in „Landbetriebe“ und andererseits in „Flugbetriebe“ unterteilende betriebliche Organisationseinheiten unterhalten. Ausschlaggebend waren vielmehr allein die tätigkeitsspezifischen Umstände des „fliegenden Personals“. Entsprechend ist § 117 BetrVG normzweckorientiert – und nicht maßgebend durch die betriebliche Organisationseinheit oder luftverkehrsrechtliche Kategorien vorgegeben – auszulegen (vgl. BAG 20. Februar 2001 – 1 ABR 27/00 – zu B II 3 der Gründe, BAGE 97, 52; vgl. auch BAG 12. Juni 2019 – 1 ABR 39/17 – Rn. 17; 22. November 2005 – 1 ABR 49/04 – Rn. 20 ff., BAGE 116, 223). Mit der in § 117 BetrVG nF beibehaltenen Formulierung bringt der Gesetzgeber jedenfalls zum Ausdruck, dass er insoweit keinen Korrektur- oder Klarstellungsbedarf gesehen hat.
42
(b) Hiervon abweichend lassen die Systematik des TVPV und der Gesamtzusammenhang seiner Regelungen jedoch eindeutig erkennen, dass das tarifvertragliche Verständnis des Begriffs „Flugbetrieb“ nicht dem einer personalen Bereichsbeschreibung einer bestimmten Arbeitnehmergruppe in Form des „Flugpersonals“ oder – im Hinblick auf § 2 Abs. 1 TVPV – sogar nur des „Kabinenpersonals“ entspricht. Vielmehr ist damit eine betriebliche Organisationseinheit gemeint, deren arbeitstechnischer Zweck unmittelbar darauf gerichtet ist, die Beförderung von Personen oder Sachen durch Luftfahrzeuge tatsächlich auszuführen (vgl. in diesem Sinn auch das nach aktueller Rspr. überkommene Verständnis des „Flugbetriebs“ in BAG 14. Oktober 1986 – 1 ABR 13/85 – zu B II 3 a der Gründe).
43
(aa) Das belegt schon die Regelung des § 80 Satz 4 Nr. 1 TVPV. Die Tarifvertragsparteien haben die Teile des Flugbetriebs, die von einer Einschränkung oder Stilllegung betroffen sein können, durch die im Klammerzusatz enthaltene Angabe „Stationen“ konkretisiert. Damit stellen sie auf die (früher) bundesweit von der Schuldnerin unterhaltenen Stationen auf den Flughäfen ab, die ua. maßgebend für den Beginn der regelmäßigen Tätigkeit der Crewmitglieder waren. Zudem bringt § 82 TVPV zum Ausdruck, dass die Tarifvertragsparteien mit „Flugbetrieb“ nicht das (zusammengefasste) „Kabinenpersonal“ gemeint haben. Wenn unter bestimmten Voraussetzungen allein die Entlassung von Arbeitnehmern eine erzwingbare sozialplanpflichtige Betriebsänderung iSv. § 80 Satz 4 Nr. 1 TVPV und damit eine Einschränkung des Flugbetriebs oder eine Stilllegung von wesentlichen Teilen darstellt, kann eine solche auch in einem „Mehr“ oder jedenfalls in etwas anderem als dem bloßen Personalabbau bestehen.
44
(bb) Die sprachlichen Fassungen der – gleichfalls als Betriebsänderung geltenden – § 80 Satz 4 Nr. 2 bis Nr. 4 TVPV bieten hierfür ebenfalls Anhaltspunkte. Die in Nr. 2 angesprochene „Verlegung des Flugbetriebes oder von wesentlichen Flugbetriebsstellen“ als „jede nicht nur geringfügige Veränderung der örtlichen Lage unter Weiterbeschäftigung des Kabinenpersonals“ bezieht sich angesichts der situativen Umstände auf eine betriebliche Organisationseinheit. Gleiches gilt für Nr. 3 und Nr. 4, wonach die „Bildung“ eines einheitlichen bzw. die Aufnahme eines „bestehenden“ Flugbetriebs sowie die „Spaltung“ von Flugbetrieben eine Betriebsänderung darstellt. Diesen Regelungen liegt ein räumlich-gegenständliches Verständnis vom Flugbetrieb zugrunde.
45
(cc) Auch § 80 Satz 4 Nr. 5 TVPV spricht gegen eine personenbezogene Interpretation des Begriffs „Flugbetrieb“. Danach können sowohl grundlegende Änderungen der „Betriebsorganisation“ als auch des „Betriebszwecks“ das Beteiligungsrecht der Personalvertretung Kabine nach § 80 Satz 1 TVPV auslösen. Die Tatbestände stellen nicht nur auf einen betrieblichen Organisationszusammenhang ab, sondern auch auf einen mit diesem verfolgten Zweck. Die in der Norm aufgeführte Anknüpfung an (grundlegende) Änderungen des verwendeten Flugzeugmusters – also des Flugzeugtyps, der eingesetzt wird – lässt zudem darauf schließen, dass sich der „Flugbetrieb“ im Sinne des TVPV durch das Vorhandensein bestimmter Betriebsmittel auszeichnet.
46
(dd) Bestätigt wird dies durch den systematischen Vergleich mit anderen Bestimmungen des TVPV.
47
(aaa) Obwohl in dessen „Einleitungssatz“ als „Ermächtigung“ für den Tarifvertragsabschluss „§ 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG“ genannt und damit auf die Errichtung einer Vertretung „für im Flugbetrieb beschäftigte Arbeitnehmer von Luftfahrtunternehmen“ verwiesen ist, beschreibt § 1 Abs. 1 TVPV nicht diesen personellen Bezugspunkt, sondern drückt aus, dass eine bestimmte Arbeitnehmergruppe („das Kabinenpersonal“) „im Flugbetrieb“ eine Personalvertretung wählt. Entsprechend ist (erst) der persönliche Geltungsbereich des TVPV nach dessen § 2 Abs. 1 mit „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Kabinenpersonals“ beschrieben. Überdies bezieht sich der in § 62 Abs. 1 Nr. 1 TVPV verwandte Begriff des „Flugbetriebs“ nach der dort festgelegten Unterrichtungsverpflichtung auf eine betrieblich-gegenständliche Maßnahme („sonstige[n] betrieblichen Räumen des Flugbetriebes“). Eine entsprechende inhaltliche Bestimmung des Ausdrucks „Flugbetrieb“ wird ebenso anhand von § 74 Abs. 3 Nr. 3 TVPV deutlich, wonach es auf eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des zu kündigenden Kabinenpersonalmitglieds „an einem anderen Arbeitsplatz im Flugbetrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens“ ankommt. Die – auch in § 81 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 TVPV enthaltene – Gleichstellung des „Flugbetriebs“ mit anderen Betrieben zeigt gleichfalls, dass es sich nach dem Verständnis der Tarifvertragsparteien hierbei um eine Organisationseinheit und nicht nur um eine Zusammenfassung von bestimmten Arbeitnehmern handelt.
48
(bbb) Demgegenüber lässt § 44 Abs. 1 TVPV erkennen, dass in den Tarifregelungen sehr wohl zwischen beschäftigtengruppen- und organisationseinheitsbezogenen Anknüpfungspunkten unterschieden ist. Der dort tarifierte Grundsatz für die Behandlung des Kabinenpersonals ist arbeitnehmergruppenbezogen formuliert („alle Angehörigen des Kabinenpersonals“) und nicht wie in § 75 Abs. 1 BetrVG – dem die Tarifvorschrift ersichtlich nachgebildet ist – betriebsbezogen („alle im Betrieb tätigen Personen“).
49
(ee) Schließlich spricht der – in § 86 TVPV ausdrücklich betonte – Gleichlauf der Ausgestaltung der Beteiligung der Personalvertretung Kabine nach §§ 80 ff. TVPV mit der des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG dafür, dass dem TVPV ein organisationseinheitsdeterminierter Flugbetriebsbegriff zugrunde liegt. Die Tarifvertragsparteien haben in § 80 Satz 4 BetrVG eine mit § 111 Satz 3 BetrVG im Wesentlichen wortlautgleiche Bestimmung getroffen und insoweit lediglich – wenn auch nicht durchgängig – den Begriff „Betrieb“ durch „Flugbetrieb“ ersetzt. Die gesetzliche Geltungsanordnung für eine Betriebsänderung in § 111 Satz 3 BetrVG bezieht sich auf Tatbestände, die den „Betrieb“ im betriebsverfassungsrechtlichen Sinn betreffen. Das ist – abgesehen von den Betriebsfiktionsanordnungen des § 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG und § 114 Abs. 3 BetrVG – die organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, wozu die in der Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt und die menschliche Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert werden müssen (st. Rspr., vgl. BAG 23. November 2016 – 7 ABR 3/15 – Rn. 31 mwN). Nichts anderes – bezogen auf den arbeitstechnischen Zweck der Beförderung von Personen und Sachen durch Luftfahrzeuge – ist mit dem Begriff des „Flugbetriebs“ in §§ 80, 81 TVPV gemeint.
50
(c) Ein solches Tarifverständnis verbietet sich jedoch aus gesetzlichen Gründen. Es würde sich über die Wirkungsanordnung des § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG hinwegsetzen. Tarifverträge sind – sofern die Tarifnorm dies zulässt – grundsätzlich gesetzeskonform so auszulegen, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben (st. Rspr., vgl. BAG 21. März 2018 – 5 AZR 862/16 – Rn. 30, BAGE 162, 144). Das umfasst auch eine ggf. geltungserhaltend einschränkende Auslegung (vgl. BAG 17. April 2019 – 7 AZR 292/17 – Rn. 20, 24). Entsprechendes gilt, wenn einer tariflichen Regelung nur bei einem eingeschränkten Verständnis eine für ihre Geltung allein mögliche – und von den Tarifvertragsparteien auch beabsichtigte – normative Wirkung zukommen kann.
51
(aa) Nach § 1 Abs. 1 TVG können die Tarifvertragsparteien in einem Tarifvertrag Rechtsnormen zur Ordnung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen vereinbaren. Zu diesen betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsnormen gehören auch Bestimmungen, die – wie der TVPV – die Errichtung einer Vertretung für Arbeitnehmer des Flugbetriebs vorsehen und die Beziehungen zwischen dieser Interessenvertretung und dem Arbeitgeber näher ausgestalten. Dies zeigt der ausdrückliche Verweis in § 4a Abs. 3 TVG auf § 117 Abs. 2 BetrVG. Danach gilt § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG für „Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Absatz 1 und § 117 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes“ nur, wenn diese betriebsverfassungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer anderen Gewerkschaft geregelt ist.
52
(bb) Die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen kann in einem Tarifvertrag nur durch Bestimmungen erfolgen, denen Rechtsnormcharakter zukommt. Schuldrechtliche Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien scheiden als rechtliche Grundlage aus, da es ihnen an der erforderlichen unmittelbaren und zwingenden – mithin normativen – Wirkung fehlt. Betriebsverfassungsrechtliche Regelungen iSv. § 1 Abs. 1 TVG können nach § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG allerdings nur im Geltungsbereich des jeweiligen Tarifvertrags normativ wirken. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG ordnet an, dass die Vorschrift in Satz 1 „entsprechend“ für tarifliche Rechtsnormen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen gilt. Dieser Verweis bezieht sich nicht nur auf die Wirkungsweise derartiger Normen, sondern auch auf den in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG enthaltenen Geltungsbereichsvorbehalt.
53
(cc) Aus § 3 Abs. 2 TVG folgt nichts Gegenteiliges. Soweit die Norm vorsieht, dass Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebsverfassungsrechtliche Fragen für alle Betriebe gelten, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist, beschränkt sich ihre Bedeutung darauf, die – für eine normative Geltung erforderliche – Tarifgebundenheit des Arbeitgebers iSv. § 3 Abs. 1 TVG ausreichen zu lassen (vgl. BAG 18. November 2014 – 1 ABR 21/13 – Rn. 26, BAGE 150, 74). Die Vorschrift stellt damit eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, wonach die Rechtsnormen eines Tarifvertrags nur zwischen beiderseits Tarifgebundenen Anwendung finden (vgl. BAG 14. Januar 2014 – 1 ABR 66/12 – Rn. 51, BAGE 147, 113). Grund hierfür ist der Umstand, dass Regelungsgegenstand solcher Normen nicht der Inhalt der Arbeitsverhältnisse ist, sondern die Organisationsgewalt des Arbeitgebers als Betriebsinhaber (vgl. BAG 31. Januar 2018 – 10 AZR 279/16 – Rn. 28, BAGE 162, 1; 31. Januar 1995 – 1 ABR 35/94 – zu B II 4 a der Gründe). § 3 Abs. 2 TVG begründet hingegen keine über die geltungsbereichsbezogene Reichweite des § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG hinausgehende normative Wirkung von betriebsverfassungsrechtlichen Normen.
54
(dd) Beschränken die Tarifvertragsparteien – wie hier in § 2 Abs. 1 TVPV – im Rahmen ihrer Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) den Geltungsbereich des von ihnen vereinbarten Tarifvertrags über betriebsverfassungsrechtliche Normen in personeller Hinsicht auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern („Kabinenpersonal“), müssen sie die von ihnen selbst gesetzte Grenze auch bei der Ausgestaltung derjenigen Normen beachten, die die Kompetenzen der Arbeitnehmervertretung und damit die rechtlichen Beziehungen zwischen dieser und dem Arbeitgeber gestalten. Einer Interessenvertretung, die auf der Grundlage von § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG durch einen Tarifvertrag errichtet ist, dessen persönlicher Geltungsbereich nur eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern erfasst, kann wegen § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG nicht (mit normativer Wirkung) das Recht eingeräumt werden, Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber abzuschließen, die einen Sachverhalt gestalten, der auch nicht vom Geltungsbereich des Tarifvertrags erfasste Arbeitnehmer betrifft. Entsprechend kann der Arbeitgeber nicht (wirksam) normativ verpflichtet werden, den Abschluss einer solchen Vereinbarung zu versuchen.
55
(ee) Diese gesetzlichen Grenzen würden bei einem uneingeschränkten Verständnis der Regelungen in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV überschritten. Der Inhalt des mit der Personalvertretung Kabine zu verhandelnden – und dementsprechend von der Schuldnerin zu versuchenden – Interessenausgleichs würde das „Ob“, „Wann“ und „Wie“ der Stilllegung der organisatorischen Einheit „Flugbetrieb“ umfassen. Ein solcher Interessenausgleich beträfe keinen auf das Kabinenpersonal beschränkten Sachverhalt, sondern wirkte sich gleichermaßen auf das von der Stilllegung dieser organisatorischen Einheit ebenfalls betroffene Cockpitpersonal aus. Unerheblich ist, dass einem zwischen der Personalvertretung Kabine und der Schuldnerin geschlossenen Interessenausgleich iSv. § 81 Abs. 1 Satz 1 TVPV – ebenso wie einem Interessenausgleich nach § 112 Abs. 1 BetrVG (vgl. BAG 20. April 1994 – 10 AZR 186/93 – zu II 2 b der Gründe, BAGE 76, 255) – keine unmittelbare und zwingende Wirkung auf die Einzelarbeitsverhältnisse zukäme (vgl. § 86 TVPV). Denn die Vereinbarung begründete ein kollektivrechtliches Schuldverhältnis zwischen den interessenausgleichschließenden Parteien und verpflichtete die Schuldnerin, wollte sie sich nicht der Gefahr der Zahlung eines Nachteilsausgleichs nach § 83 Abs. 3 iVm. Abs. 1 TVPV aussetzen, die Vereinbarung entsprechend durchzuführen. Die inhaltliche Reichweite des in § 81 Abs. 1 Satz 1 TVPV vorgesehenen Interessenausgleichs überstiege damit die Reichweite der normativen Geltung des Tarifvertrags. Da der Personalvertretung Kabine Beteiligungsrechte eingeräumt wären, die über den persönlichen Geltungsbereich des TVPV hinausgingen, könnte die Schuldnerin desgleichen nicht rechtswirksam normativ verpflichtet werden, den Abschluss eines solchen Interessenausgleichs mit Hilfe einer Einigungsstelle nach § 81 Abs. 2 Satz 2 TVPV zu versuchen.
56
(ff) Angesichts dessen müssen die Regelungen in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV im Wege einer geltungserhaltenden Interpretation – mit der die Tarifvertragsparteien ihre Regelungen auch unterlegt haben, wie § 86 TVPV zeigt – einschränkend ausgelegt werden. Der Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine, dessen Einhaltung normativ rechtswirksam gesichert und dessen Verletzung entsprechend sanktioniert ist, bezieht sich lediglich auf solche Maßnahmen der Schuldnerin, die ausschließlich das vom Geltungsbereich des TVPV erfasste Kabinenpersonal betreffen. Möglicher Inhalt des ggf. durch Anrufung der Einigungsstelle zu versuchenden (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 2 TVPV) Interessenausgleichs sind nur Bestimmungen zum „Ob“, „Wann“ und „Wie“ derartiger personenbezogener Maßnahmen. Regelungen zu der von der Schuldnerin vorliegend geplanten „Stilllegung des ganzen Flugbetriebes“ als organisatorische Einheit, welche auch den die Beschäftigtengruppe der Piloten betreffenden Sachverhalt ausgestalten würden, umfasst der tariflich-personalvertretungsrechtliche Verhandlungsanspruch nicht.
57
(gg) Aus der Entscheidung des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 26. April 2007 (- 8 AZR 695/05 – Rn. 49) ergibt sich nichts anderes. Der Achte Senat hat angenommen, die im Flugbetrieb einer Fluggesellschaft errichteten Interessenvertretungen seien berechtigt, gemeinsam mit dem für die Landbetriebe errichteten Gesamtbetriebsrat Boden mehrgliedrige betriebsverfassungsrechtliche Vereinbarungen über einen Interessenausgleich zu schließen und die für die jeweils repräsentierte Gruppe von Arbeitnehmern geltenden Normen des Interessenausgleichs damit in einem einheitlichen Regelungswerk zusammen mit den Bestimmungen für das Kabinen- und Bodenpersonal zu vereinbaren. Mit der Frage der inhaltlichen Reichweite von Beteiligungsrechten einer auf tariflicher Grundlage errichteten Arbeitnehmervertretung befasst sich das Urteil nicht.
58
(d) Das Unionsrecht steht der vorliegenden Auslegung nicht entgegen. Es bedarf keiner Entscheidung, ob das eingeschränkte Verständnis von §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV mit den Anforderungen des Art. 4 Abs. 2 Buchst. c iVm. Abs. 4 Buchst. e und Art. 5 der Richtlinie 2002/14/EG sowie des – ohnehin erst zur Entfaltung seiner vollen Wirksamkeit durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts zu konkretisierenden (vgl. EuGH 15. Januar 2014 – C-176/12 – [Association de médiation sociale] Rn. 45) – Art. 27 GRC in Einklang steht. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, stünde dies der zum Zwecke der Geltungserhaltung gebotenen gesetzeskonformen Auslegung der Tarifnormen nicht entgegen. Eine etwaige Unvereinbarkeit mit den unionsrechtlichen Vorgaben könnte nicht dazu führen, dass die in §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV vorgesehene Verpflichtung der Schuldnerin, mit der Personalvertretung Kabine einen Interessenausgleich über die (gesamte) Stilllegung des Flugbetriebs (im Sinne einer betrieblichen Organisationseinheit) zu versuchen, uneingeschränkt normativ wirken könnte.
59
(aa) Zwar sind die nationalen Gerichte nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gehalten, bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (vgl. EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 24 mwN). Dies schließt auch eine unionsrechtskonforme Fortbildung des Rechts ein (vgl. BAG 24. März 2009 – 9 AZR 983/07 – Rn. 65, BAGE 130, 119). Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Schranken. Die Pflicht zur Verwirklichung eines Richtlinienziels im Auslegungsweg findet ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten (BVerfG 23. Mai 2016 – 1 BvR 2230/15 ua. – Rn. 41; 26. September 2011 – 2 BvR 2216/06 ua. – Rn. 47). Sie darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (EuGH 15. Januar 2014 – C-176/12 – [Association de médiation sociale] Rn. 39 mwN).
60
(bb) Diese methodische Grenze wäre vorliegend überschritten. Eine die Grenzen des § 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG übersteigende Normwirkung kann den §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV nach dem nationalen Recht nicht beigemessen werden.
61
ee) In Anwendung des eingeschränkten Verständnisses von §§ 80, 81 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 TVPV wurde der Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine nicht verletzt.
62
(1) Die Schuldnerin hat den Interessenausgleich mit der Personalvertretung Kabine einschließlich der Anrufung der – sich mit Beschluss vom 10. Januar 2018 für unzuständig erklärenden – Einigungsstelle hinreichend versucht, bevor der Beklagte Ende Januar 2018 ausschließlich das Kabinenpersonal betreffende unumkehrbare Maßnahmen durch den Ausspruch der Kündigungen der Arbeitsverhältnisse dieser Beschäftigten ergriffen hat.
63
(2) Der Versuch, noch vor dem Ausspruch der Kündigungen gegenüber dem Kabinenpersonal zu einem Interessenausgleich hierüber mit der Personalvertretung Kabine zu kommen, war ausreichend. Unschädlich ist, dass sich die Einigungsstelle in ihrer Sitzung am 10. Januar 2018 im Hinblick auf die Regelungen im TV Pakt für unzuständig erklärt hat. Ungeachtet dessen, dass entsprechende Beschlüsse der Einigungsstelle über ihre fehlende Zuständigkeit nicht gesondert vor Gericht angreifbar sind (vgl. BAG 26. September 2017 – 1 ABR 57/15 – Rn. 11, BAGE 160, 232), waren die Schuldnerin oder der Beklagte nicht gehalten, hiergegen gerichtliche Schritte einzuleiten.
64
(3) Auf sonstige von der Schuldnerin zur „Stilllegung des ganzen Flugbetriebes“ (als betriebliche Organisationseinheit) vorgenommene Maßnahmen – wie etwa die Kündigung der Piloten, die Rückgabe geleaster Flugzeuge oder die Abgabe sog. Slots – kommt es nach alldem nicht an. Nichts anderes folgt aus der Annahme des Zehnten Senats des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 4. Juni 2003 (- 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (4) der Gründe), wonach ein Arbeitgeber mit der Auflösung einer Organisationsebene und damit der Aufgabe der Betriebsorganisation durch deren Zerstörung begonnen hat, wenn er die Arbeitsverhältnisse der leitenden Angestellten im Hinblick auf eine geplante Betriebsstilllegung gekündigt hat. Der Verhandlungsanspruch der Personalvertretung Kabine betrifft nach dem von den Tarifvertragsparteien vereinbarten persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrags keine (flug-)betriebsstilllegenden Modalitäten, die über strikt kabinenpersonalbezogene Maßnahmen hinausgingen. Die durch den TVPV begründeten Beteiligungsrechte der Personalvertretung Kabine sind aufgrund der tariflichen und gesetzlichen Vorgaben (§ 4 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 TVG) beschäftigtengruppenbezogen. Bezugspunkt der Errichtung eines Betriebsrats und des ihm im Rahmen von §§ 111, 112 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 BetrVG gesetzlich vermittelten Beteiligungsrechts ist demgegenüber „der Betrieb“ als organisatorische Einheit (vgl. § 1 BetrVG). Allein auf eine solche Konstellation bezieht sich die Entscheidung des Zehnten Senats.
65
c) Der rechtskräftige Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 21. Dezember 2017 (- 41 BV 13752/17 -), mit dem ein Antrag der Schuldnerin auf gerichtliche Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung als unzulässig abgewiesen worden ist, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Zwar hat das Arbeitsgericht ua. angenommen, dem dortigen Begehren fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil die Schuldnerin mit der Durchführung der Betriebsänderung durch die Kündigung der Piloten ohne den ausreichenden Versuch eines Interessenausgleichs iSv. § 83 Abs. 3 TVPV bereits begonnen habe. Diesen Erwägungen kommt jedoch für das vorliegende Verfahren keine präjudizielle Bindungswirkung zu. Eine Verfahrensentscheidung, die ein Rechtsschutzbegehren als unzulässig abweist, ist in Bezug auf den behandelten verfahrensrechtlichen Punkt rechtskraftfähig (vgl. BAG 26. Juni 2018 – 1 ABR 37/16 – Rn. 38, BAGE 163, 108). Dies erstreckt sich aber lediglich auf die Feststellung, dass für das konkrete Rechtsschutzbegehren keine Sachentscheidung zugelassen ist. Die Feststellung materieller Rechtsbeziehungen, die einer Prozessentscheidung zugrunde liegen, hat als solche keine präjudizielle Bedeutung. Wird ein Rechtsschutzbegehren wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen, erwächst damit die Beurteilung von Vorfragen des materiellen Rechts, aus denen sich der konkrete Unzulässigkeitsgrund ableiten lässt, nicht in Rechtskraft (vgl. BGH 17. Januar 2007 – XII ZB 134/03 – Rn. 14).
66
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 Halbs. 1 ZPO.
Schmidt
K. Schmidt
Ahrendt
Hayen
Für den ehrenamtlichenRichter HannSchmidt |
bag_20-18 | 25.04.2018 | 25.04.2018
20/18 - Übergangsregelung zum Mindestlohn für Zeitungszusteller verfassungsgemäß - Nachtarbeitszuschlag
Die Übergangsregelung des § 24 Abs. 2 MiLoG*, die für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller einen bis zum 31. Dezember 2015 auf 75 %, ab dem 1. Januar bis zum 31. Dezember 2016 auf 85 % herabgesetzten und für das Jahr 2017 auf 8,50 Euro festgesetzten gesetzlichen Mindestlohn vorgesehen hat, ist verfassungsgemäß und verstößt insbesondere nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Erfolgt die Zeitungszustellung dauerhaft in Nachtarbeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes, haben Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller Anspruch auf einen Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 30 % des ihnen je Arbeitsstunde zustehenden Mindestlohns, sofern nicht eine höhere Vergütung vereinbart ist.
Die Klägerin ist seit 2013 bei der Beklagten als Zeitungszustellerin beschäftigt. Sie arbeitet mehr als zwei Stunden ausschließlich zur Nachtzeit und stellt die Zeitungen bis spätestens 6.00 Uhr morgens zu. Arbeitsvertraglich vereinbart sind eine Vergütung auf Stücklohnbasis und ein Nachtarbeitszuschlag von 25 % auf den Stücklohn. Tatsächlich zahlte die Beklagte seit dem 1. Januar 2015 den geminderten Mindestlohn nach § 24 Abs. 2 MiLoG. Die Klägerin hat geltend gemacht, § 24 Abs. 2 MiLoG verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und sei deshalb unwirksam. Sie hat mit ihrer Klage für den Zeitraum Januar 2015 bis April 2016 die Differenz zum vollen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Stunde (§ 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG) und einen höheren Nachtarbeitszuschlag verlangt. Dieser müsse nach § 6 Abs. 5 ArbZG** auf der Basis des gesetzlichen Mindestlohns berechnet werden und wegen Dauernachtarbeit 30 % betragen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage im Wesentlichen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, § 24 Abs. 2 MiLoG verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, so dass die Klägerin in den streitgegenständlichen Jahren 2015 und 2016 nur den geminderten Mindestlohn von 6,38 Euro brutto (2015) bzw. 7,23 Euro brutto (2016) beanspruchen konnte. Darauf sei für Nachtarbeit ein Zuschlag von 25 % zu zahlen. Es hat der Klägerin insgesamt 236,24 Euro brutto nebst Zinsen als weiteren Nachtarbeitszuschlag zugesprochen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Dagegen haben beide Parteien Revision eingelegt.
Die Revision der Beklagten, die einen Nachtarbeitszuschlag von 10 % auf den Mindestlohn für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller für angemessen hält, war vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos. Denn die Klägerin hat auf der Grundlage des § 6 Abs. 5 ArbZG wegen ihrer Dauernachtarbeit Anspruch auf einen Zuschlag von 30 % des ihr zustehenden Bruttoarbeitsentgelts. Insoweit war die Revision der Klägerin erfolgreich. Im Übrigen hat der Senat jedoch die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Diese hatte im Streitzeitraum nur Anspruch auf den abgesenkten Mindestlohn. § 24 Abs. 2 MiLoG verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber hat die ihm bei zeitlich begrenzten Übergangsvorschriften vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte besondere Gestaltungsfreiheit mit der auf drei Jahre begrenzten Sonderregelung des Mindestlohns für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller nicht überschritten.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Bremen
Urteil vom 7. Dezember 2016- 3 Sa 43/16 –
* § 24 Abs. 2 MiLoG lautet:
Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller haben ab dem 1. Januar 2015 einen Anspruch auf 75 Prozent und ab dem 1. Januar 2016 auf 85 Prozent des Mindestlohns nach § 1 Absatz 2 Satz 1. Vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2017 beträgt der Mindestlohn für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller brutto 8,50 Euro je Zeitstunde. Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller im Sinne der Sätze 1 und 2 sind Personen, die in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen; dies umfasst auch Zustellerinnen und Zusteller von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt.
** § 6 Abs. 5 ArbZG lautet:
Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Anzahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. | Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 7. Dezember 2016 – 3 Sa 43/16 – wird zurückgewiesen.
2. Auf die Revision der Klägerin wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 7. Dezember 2016 – 3 Sa 43/16 – teilweise aufgehoben und die Beklagte weiter verurteilt, an die Klägerin weitere 480,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 43,15 Euro seit dem 8. Februar 2015, aus 23,84 Euro seit dem 8. März 2015, aus 37,85 Euro seit dem 8. April 2015, aus 17,09 Euro seit dem 8. Mai 2015, aus 37,02 Euro seit dem 8. Juni 2015, aus 41,83 Euro seit dem 8. Juli 2015, aus 37,40 Euro seit dem 8. August 2015, aus 6,81 Euro seit dem 8. September 2015, aus 27,52 Euro seit dem 8. Oktober 2015, aus 40,96 Euro seit dem 8. November 2015, aus 35,27 Euro seit dem 8. Dezember 2015, aus 36,79 Euro seit dem 8. Januar 2016, aus 5,59 Euro seit dem 8. Februar 2016, aus 28,69 Euro seit dem 8. März 2016, aus 37,09 Euro seit dem 8. April 2016 und aus 23,60 Euro seit dem 8. Mai 2016 zu zahlen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 87 % und die Beklagte 13 % zu tragen.
Leitsatz
1. Die Übergangsregelung des § 24 Abs. 2 MiLoG, die für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller unter den dort genannten Voraussetzungen bis zum 31. Dezember 2017 einen abgesenkten Mindestlohn vorgesehen hat, verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
2. Erfolgt die Zeitungszustellung dauerhaft in Nachtarbeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes, haben Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller Anspruch auf einen Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 30 % des ihnen je Arbeitsstunde zustehenden Mindestlohns, sofern nicht eine höhere Vergütung vereinbart ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Differenzvergütung und dabei insbesondere darüber, ob die Klägerin nur den abgesenkten gesetzlichen Mindestlohn nach § 24 Abs. 2 MiLoG beanspruchen kann, eine Vertretungsprämie mindestlohnwirksam ist sowie die Höhe des Nachtarbeitszuschlags.
2
Die Klägerin ist seit dem 1. August 2013 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Zeitungszustellerin beschäftigt. Arbeitsvertraglich vereinbart ist eine Vergütung auf Stücklohnbasis. Daneben zahlte die Beklagte einen Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 25 % auf den Stücklohn sowie eine Vertretungsprämie, sofern die Klägerin neben den ihr zugewiesenen (vier) Zustellbezirken die Vertretung in einem weiteren Zustellbezirk übernahm.
3
Im Streitzeitraum Januar 2015 bis April 2016 arbeitete die Klägerin ausschließlich und mehr als zwei Stunden zur Nachtzeit (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Dabei trug sie die Tageszeitung „Weserkurier“ aus, ferner den „Kurier der Woche“, der aus zweitverwerteten Artikeln des Weserkuriers und Werbung besteht. Zur Zustelltätigkeit der Klägerin gehörte auch die Publikation „Werder Heimspiel“, die Dauerkartenbesitzer vor einem Bundesliga-Heimspiel des SV Werder Bremen erhalten.
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Mit ihrer am 12. August 2015 anhängig gemachten und mehrfach – zuletzt in der Berufungsinstanz – erweiterten Klage hat die Klägerin Differenzvergütung geltend gemacht und gemeint, sie habe seit dem 1. Januar 2015 Anspruch auf den vollen gesetzlichen Mindestlohn. Die Übergangsregelung für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, zudem lägen die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG nicht vor. Sie sei arbeitsvertraglich nicht ausschließlich zur Zustellung der dort genannten Produkte, sondern auch zum Austragen von Anzeigenblättern, Briefen und Werbematerialien verpflichtet. Der „Kurier der Woche“ sei nur ein scheinbares Anzeigenblatt ohne nennenswerten redaktionellen Inhalt, das „Werder Heimspiel“ keine periodische Zeitschrift. Die Vertretungsprämie sei nicht auf den Mindestlohn anrechenbar, weil sie nicht die Normalleistung abdecke, sondern die Übernahme von Mehrarbeit und die besondere Flexibilität der Klägerin honoriere. Schließlich sei der Nachtarbeitszuschlag auf der Basis des vollen gesetzlichen Mindestlohns zu berechnen und müsse wegen ihrer Dauernachtarbeit 30 % betragen.
5
Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.244,58 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach bestimmter Staffelung zu zahlen.
6
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die Klägerin könne aufgrund ihrer tatsächlichen Tätigkeit als Zeitungszustellerin nur den abgesenkten Mindestlohn nach § 24 Abs. 2 MiLoG beanspruchen, den sie erhalten habe. Die Vertretungsprämie erfülle den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn mit. Der Nachtarbeitszuschlag sei wie arbeitsvertraglich vereinbart zu berechnen, lege man den – abgesenkten – Mindestlohn zugrunde, sei ein Zuschlag von 10 % angemessen.
7
Das Arbeitsgericht hat der Klägerin als weiteren Mindestlohn für den Monat Mai 2015 65,37 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufungen beider Parteien hat das Landesarbeitsgericht – unter Zurückweisung der Berufungen im Übrigen – der Klägerin insgesamt 236,74 Euro brutto nebst Zinsen als weiteren Nachtarbeitszuschlag zuerkannt. Mit der vom Landesarbeitsgericht für beide Parteien zugelassenen Revision hält die Klägerin an ihrem weitergehenden Klageantrag fest, während die Beklagte die vollständige Klageabweisung begehrt.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision der Klägerin ist begründet, soweit sie die prozentuale Höhe des Nachtarbeitszuschlags angreift. Im Übrigen sind ihre Revision und die der Beklagten unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin im Streitzeitraum nur den abgesenkten Mindestlohn nach § 24 Abs. 2 MiLoG beanspruchen kann, die gezahlte Vertretungsprämie mindestlohnwirksam und Grundlage für den Zuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG der gesetzliche Mindestlohn ist, sofern die Arbeitsvertragsparteien keine höhere Vergütung vereinbart haben. Rechtsfehlerhaft ist lediglich die Annahme, im Streitfall sei ein Nachtarbeitszuschlag von 25 % und nicht ein solcher von 30 % angemessen.
9
I. Die Klägerin hat als Zeitungszustellerin für geleistete Arbeit im streitgegenständlichen Zeitraum nach § 24 Abs. 2 Satz 1 MiLoG lediglich Anspruch auf 75 % des Mindestlohns nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG und ab 1. Januar 2016 auf 85 % hiervon (zum Mindestlohn als Geldfaktor bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: vgl. BAG 6. Dezember 2017 – 5 AZR 699/16 – Rn. 17; 20. September 2017 – 10 AZR 171/16 – Rn. 24, jeweils mwN). Den Anspruch der Klägerin auf diesen abgesenkten Mindestlohn hat die Beklagte mit ihren Zahlungen vollständig erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB), denn auch die der Klägerin gewährte Vertretungsprämie ist mindestlohnwirksam, dh. geeignet, den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn zu erfüllen.
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1. Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller sind nach der Legaldefinition des § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG Personen, die in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen; dies umfasst auch Zustellerinnen und Zusteller von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt. Diese Voraussetzungen lagen bei der Klägerin im Streitzeitraum vor.
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a) Ob Beschäftigte Zeitungszustellerin oder Zeitungszusteller iSd. § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG sind, richtet sich nach der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit und nicht nach den arbeitsvertraglich (auch) geschuldeten Tätigkeiten, sofern und solange der Arbeitgeber im Rahmen seines Weisungsrechts (§ 106 GewO) von den vertraglich eröffneten Möglichkeiten keinen Gebrauch macht.
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aa) Der Wortlaut des § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG stellt ab auf „Personen, die in einem Arbeitsverhältnis (…) zustellen“. Maßgeblich ist danach – verdeutlicht durch das Verb „zustellen“ – die tatsächliche Tätigkeit des Beschäftigten, nicht seine arbeitsvertragliche Verpflichtung (im Ergebnis wie hier: HK-MiLoG/Jerchel/Trümmer 2. Aufl. § 24 Rn. 43; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 3; unklar Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 69). Ein Rückgriff auf den Arbeitsvertrag und die dort vereinbarten Tätigkeiten des jeweiligen Zustellers als Anknüpfungspunkt fehlt; es wird lediglich – wegen des persönlichen Anwendungsbereichs nach § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG an sich überflüssig – ein Arbeitsverhältnis als Grundlage der Zustellung verlangt.
13
bb) Das Abstellen auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit entspricht der Gesamtsystematik des Mindestlohngesetzes. Der Anspruch auf den Mindestlohn entsteht gemäß § 1 Abs. 2 iVm. §§ 20, 1 Abs. 1 MiLoG mit und für jede geleistete Arbeitsstunde, nicht jedoch für Zeiten ohne Arbeitsleistung (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 19 mwN, BAGE 155, 202; seither st. Rspr., vgl. 6. Dezember 2017 – 5 AZR 699/16 – Rn. 15 ff.).
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cc) Damit ist es entgegen der Auffassung der Klägerin unerheblich, dass ihr nach den arbeitsvertraglichen Vereinbarungen auch die Zustellung etwa von Briefen oder Werbeprospekten hätte angewiesen werden können. Von dieser Möglichkeit hat die Beklagte im Streitzeitraum unstreitig nicht Gebrauch gemacht.
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b) Die Klägerin hat im Streitzeitraum ausschließlich Presseerzeugnisse der in § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG genannten Art zugestellt.
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aa) Dass der „Weserkurier“ eine periodisch erscheinende Tageszeitung ist, stellt die Klägerin nicht in Abrede.
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bb) Der „Kurier der Woche“ besteht nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts aus Werbeprospekten, die von zweitverwerteten Artikeln des „Weserkuriers“ ummantelt werden. Ob er damit – wie das Landesarbeitsgericht meint – ein Anzeigenblatt mit redaktionellem Inhalt ist, kann dahingestellt bleiben. Denn anderenfalls handelte es sich um eine Wochenzeitung mit beigelegten Werbeprospekten. Für die von § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG verlangte Ausschließlichkeit ist es nach zutreffender einhelliger Auffassung im Schrifttum unschädlich, wenn einer zuzustellenden Zeitung Werbebeilagen bereits maschinell „eingeschossen“ oder von Dritten eingelegt sind, streitig ist lediglich, ob das Bestücken der Zeitung mit Werbebeilagen durch den Zusteller selbst dem Ausschließlichkeitsprinzip entgegensteht (bejahend etwa: Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 67; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 2; aA Pötters in Thüsing 2. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 15; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 3; Umgehungspotential befürchtend HK-MiLoG/Jerchel/Trümmer 2. Aufl. § 24 Rn. 39, 84). Dass sie Werbeprospekte oder Werbebeilagen in den „Kurier der Woche“ habe einlegen müssen, hat die Klägerin nicht behauptet.
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cc) Für den Begriff der Zeitung iSd. § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG ist es des Weiteren nicht konstitutiv, dass der redaktionelle Inhalt „neu“ oder „aktuell“ ist. Ein solches Erfordernis enthält die Norm – anders als etwa die für die Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit verlangte Tagesaktualität in § 10 Abs. 1 Nr. 8 ArbZG – nicht. Eine Wochenzeitung kann deshalb auch aus zweitverwerteten Artikeln einer Tageszeitung bestehen. Soweit die Klägerin erstmals in der Revisionsinstanz die Periodizität des „Kuriers der Woche“ in Frage stellen will, handelt es sich dabei um neues – noch dazu unsubstantiiertes – Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden kann (§ 559 ZPO).
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dd) Die Publikation „Werder Heimspiel“ ist ein (Fußball-)Magazin, das zu jedem Heimspiel des SV Werder Bremen erscheint. Rechtlich handelt es sich – was die Klägerin insoweit nicht in Abrede stellt – um eine Zeitschrift, die nicht nur Dauerkartenbesitzern, sondern jedermann zugänglich ist und die entgegen der Auffassung der Klägerin auch periodisch iSd. § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG erscheint. Dies ist bei einer Druckschrift der Fall, wenn eine bestimmte Zahl von Zeitungs- oder Zeitschriftennummern regelmäßig innerhalb eines bestimmten Zeitraums, der längstens ein Jahr betragen darf, erscheint und nicht nur gelegentlich publiziert werden soll (BGH 20. September 2012 – I ZR 116/11 – Rn. 32; Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 63). Das „Werder Heimspiel“ ist nach seiner Aufmachung und der bisherigen Praxis nicht nur auf gelegentliche Publikation angelegt, sondern auf regelmäßiges Erscheinen zu den Heimspielen des SV Werder Bremen. Bei 18 in der ersten Fußballbundesliga spielenden Vereinen ergeben sich 17 Heimspiele in der Hin- und Rückrunde und damit 17 Nummern jährlich.
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2. § 24 Abs. 2 MiLoG verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG (so auch die überwiegende Auffassung im Schrifttum, vgl. etwa Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 52 ff.; HWK/Sittard 8. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 8; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 66 Rn. 20; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 61 Rn. 9; aA etwa HK-MiLoG/Jerchel/Trümmer 2. Aufl. § 24 Rn. 83; Barczak/Pieroth Mindestlohnausnahme für Zeitungszusteller? 2014 S. 115 ff.; eine Verfassungsbeschwerde gegen die Übergangsregelung des § 24 Abs. 2 MiLoG hat das Bundesverfassungsgericht wegen unzureichender Begründung nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. BVerfG 25. Juni 2015 – 1 BvR 20/15 -).
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a) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt grundsätzlich ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 ua. – Rn. 94 f., st. Rspr.).
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Bei zeitlich begrenzten Übergangsvorschriften hat der Gesetzgeber eine besondere Gestaltungsfreiheit (BVerfG 12. Februar 2003 – 2 BvL 3/00 – zu C IV 3 b aa der Gründe, BVerfGE 107, 218) und verfügt über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, wenn er die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit, das Entgelt für berufliche Leistungen einzelvertraglich zu vereinbaren, durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzt, um sozialen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichten entgegenzuwirken, insbesondere Schutzvorschriften zugunsten des typischerweise unterlegenen Vertragsteils vorsieht. Dabei liegt die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers, ebenso die Vorausschau auf die künftige Entwicklung und die Wirkung seiner Regelung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, wozu er die einander entgegenstehenden Belange hinsichtlich ihrer Schutzbedürftigkeit gewichten muss (vgl. BVerfG 23. Oktober 2013 – 1 BvR 1842/11, 1 BvR 1843/11 – Rn. 70, BVerfGE 134, 204; 29. Juni 2016 – 1 BvR 1015/15 – Rn. 64, BVerfGE 142, 268). Dabei ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen von Übergangsvorschriften umso größer, je geringfügiger die Ungleichheit nach Dauer oder Höhe ist (vgl. BVerfG 19. April 1977 – 1 BvL 17/75 – zu II 1 der Gründe, BVerfGE 44, 283; 12. Februar 2003 – 2 BvL 3/00 – zu C IV 3 b aa der Gründe, BVerfGE 107, 218).
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b) Gemessen daran hat der Gesetzgeber mit der vorübergehenden Ungleichbehandlung der Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller durch die Übergangsregelung des § 24 Abs. 2 MiLoG, die auf Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales aufgenommen wurde, nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
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aa) Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Grundrecht der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, in dessen Schutzbereich auch der Vertrieb von Presseprodukten, etwa die Botenzustellung von Zeitungen, fällt (BVerfG 29. April 2003 – 1 BvR 62/99 – zu II 2 b der Gründe, BVerfGK 1, 136), die Übergangsregelung tatsächlich geboten hat (krit. etwa: Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 53 f.; Pötters in Thüsing 2. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 11; HK-MiLoG/Jerchel/Trümmer 2. Aufl. § 24 Rn. 67 ff.; sh. zum generellen Verlangen einer Ausnahme vom Mindestlohn für die Zeitungszustellung: die Rechtsgutachten Di Fabio, Mindestlohn und Pressefreiheit [2014] sowie Degenhart, Pressefreiheit als Vertriebsfreiheit [2013]) oder sie lediglich Ausdruck der besonderen Wertschätzung der freien Presse ist, die diese in den Gesetzgebungsorganen genießt (so MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 2). Denn jedenfalls hat der Gesetzgeber mit § 24 Abs. 2 MiLoG die ihm bei Übergangsregelungen eingeräumten Spielräume nicht überschritten.
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bb) Seine Einschätzung, eine „stufenweise Einphasung“ des Mindestlohns für den Bereich der Zustellung von Presseerzeugnissen sei geeignet und erforderlich zur Sicherung der Pressefreiheit, weil die mit der Einführung des Mindestlohns einhergehenden Mehrkosten insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen die Trägerzustellung beeinträchtigen (BT-Drs. 18/2010 [neu] S. 25), liegt innerhalb des ihm zustehenden weiten Beurteilungsspielraums (ähnlich: Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 58; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 61 Rn. 9; HWK/Sittard 8. Aufl. § 24 MiLoG Rn. 8) und seiner politischen Verantwortung für die prognostizierte Wirkung einer übergangslosen Einführung des vollen Mindestlohns in diesem Bereich. Die Annahme des Gesetzgebers, der für die übrigen Wirtschaftszweige in § 24 Abs. 1 MiLoG eröffnete Weg, über bundesweite, nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz erstreckte Tarifverträge vorübergehend vom Mindestlohn abzuweichen, sei wegen der besonderen Beschäftigten- und Entgeltstrukturen im Bereich der Zeitungszustellung nicht gangbar, jedenfalls nicht sachgerecht (BT-Drs. 18/2010 [neu] S. 25), ist ein einleuchtender Sachgrund für die Differenzierung zwischen allgemeiner (§ 24 Abs. 1 MiLoG) und besonderer (§ 24 Abs. 2 MiLoG) Übergangsregelung (im Ergebnis ebenso: Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 24 Rn. 57; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 61 Rn. 9; krit. Bayreuther NZA 2014, 865, 872; abl. HK-MiLoG/Jerchel/Trümmer 2. Aufl. § 24 Rn. 79).
26
cc) Die getroffene Übergangsregelung ist angemessen und auf einen relativ kurzen Zeitraum angelegt. Sie hat wegen der – nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MiLoG zu erwartenden – Anhebung des vollen Mindestlohns zum 1. Januar 2017 insgesamt drei Jahre angedauert. Innerhalb dieses Zeitraums hat sich zudem die Entgeltdifferenz jährlich vermindert. Der abgesenkte Mindestlohn für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller betrug 2015 75 %, 2016 85 % und 2017 96 % des vollen Mindestlohns. Der Gesetzgeber hat damit in einem überschaubaren Zeitraum in deutlichen Schritten eine Angleichung des Mindestlohns für Zeitungszusteller an den allgemeinen Mindestlohn vorgenommen. Die vorgenommene Differenzierung erweist sich deshalb im Ergebnis auch als verhältnismäßig im engeren Sinn und somit als verfassungskonform.
27
3. Den Anspruch der Klägerin auf den Mindestlohn nach § 24 Abs. 2 Satz 1 MiLoG und dessen Berücksichtigung als Geldfaktor bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 EFZG) hat die Beklagte – auch aus Sicht der Klägerin – mit ihren im Streitzeitraum geleisteten Zahlungen erfüllt, sofern die im Streitzeitraum gezahlte Vertretungsprämie mindestlohnwirksam ist. Das ist entgegen der Auffassung der Klägerin der Fall.
28
a) Mindestlohnwirksam, dh. geeignet den Mindestlohnanspruch zu erfüllen, sind alle im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen mit Ausnahme der Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung (zB § 6 Abs. 5 ArbZG) beruhen (st. Rspr. seit BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 32, BAGE 155, 202; zuletzt BAG 17. Januar 2018 – 5 AZR 69/17 – Rn. 16 mwN; zum Streitstand zwischen „Entgelttheorie“ und „Normalleistungstheorie“ im Schrifttum sh. nur Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 106 ff.; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 22 f., jeweils mwN). Dies beruht darauf, dass der Mindestlohn nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG „je Zeitstunde“ festgesetzt ist und das Gesetz den Anspruch nicht von der zeitlichen Lage der Arbeit oder den mit der Arbeitsleistung verbundenen Umständen oder Erfolgen abhängig macht. Entgegen der Auffassung der Klägerin gebietet die Entstehungsgeschichte des Mindestlohngesetzes kein anderes Verständnis. Der Begriff der „Normalleistung“ hat keinen Eingang in den Wortlaut des Mindestlohngesetzes gefunden (im Einzelnen BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 21, BAGE 157, 356; zust. Greiner Anm. AP MiLoG § 1 Nr. 3; HWK/Sittard 8. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 15b; kritisch Sagan RdA 2018, 121, 122).
29
b) Danach ist die der Klägerin gezahlte Vertretungsprämie mindestlohnwirksam. Sie ist im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachtes zusätzliches Arbeitsentgelt für Mehrarbeit und wird gerade für die tatsächliche Arbeitsleistung gewährt. Einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung unterliegt diese auf arbeitsvertraglicher Grundlage gezahlte Prämie nicht.
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II. Die Klägerin hat aufgrund ihrer Dauernachtarbeit Anspruch auf einen Zuschlag von 30 % auf den ihr nach § 24 Abs. 2 MiLoG zustehenden Mindestlohn.
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1. Die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin einen angemessenen, auf der Basis des Mindestlohns berechneten Ausgleich für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden zu gewähren, folgt nicht unmittelbar aus dem Mindestlohngesetz. Dieses bestimmt den Mindestlohn unabhängig von der zeitlichen Lage der Arbeit (st. Rspr., zuletzt BAG 17. Januar 2018 – 5 AZR 69/17 – Rn. 16) und sieht einen gesonderten Zuschlag für Nachtarbeit nicht vor (BAG 20. September 2017 – 10 AZR 171/16 – Rn. 29).
32
2. Der Anspruch ergibt sich aus § 6 Abs. 5 ArbZG.
33
a) Danach hat der Arbeitgeber, wenn – wie hier – eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung nicht besteht, dem Nachtarbeitnehmer (§ 2 Abs. 5 ArbZG) für die während der Nachtzeit (§ 2 Abs. 3 ArbZG) geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Anzahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Dabei kann das Wahlrecht des Arbeitgebers (§ 262 BGB) abbedungen werden, die Vertragsparteien können sich dauerhaft auf eine Variante des Ausgleichs festlegen (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 55, BAGE 153, 378; 15. Juli 2009 – 5 AZR 867/08 – Rn. 21, BAGE 131, 215).
34
b) Von der Möglichkeit, einen Ausgleich durch Zahlung von Geld zu vereinbaren, haben die Parteien arbeitsvertraglich Gebrauch gemacht. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 6 Abs. 5 ArbZG seien erfüllt, greift die Beklagte mit der Revision nicht an. Die Parteien streiten allein über die Höhe des zu zahlenden Nachtzuschlags.
35
3. Der in § 6 Abs. 5 ArbZG nur allgemein geregelte Anspruch auf angemessenen Ausgleich kann durch einzelvertragliche Regelung näher ausgestaltet werden (BAG 15. Juli 2009 – 5 AZR 867/08 – Rn. 17, BAGE 131, 215). Diese muss aber den Vorgaben des § 6 Abs. 5 ArbZG genügen, die Norm ist zwingend (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 19, BAGE 153, 378). Eine vertragliche Vereinbarung, die zum Nachteil des Arbeitnehmers hinter den gesetzlichen Vorgaben für einen angemessenen Ausgleich zurückbleibt, ist nach § 6 Abs. 5 ArbZG iVm. § 134 BGB unwirksam.
36
4. § 6 Abs. 5 ArbZG verlangt einen angemessenen Zuschlag auf das dem Arbeitnehmer für die Nachtarbeit zustehende Bruttoarbeitsentgelt.
37
a) Bei dem Merkmal „angemessen“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dessen Anwendung dem Tatsachengericht ein Beurteilungsspielraum zukommt. Dieser ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat oder bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 19, 36, BAGE 153, 378).
38
b) Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht in Gänze stand. Das Landesarbeitsgericht ist zwar vom zutreffenden Begriff des angemessenen Nachtarbeitszuschlags ausgegangen und hat zu Recht angenommen, dass dieser – sofern die Parteien keine höhere Vergütung vereinbart haben – auf der Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns zu berechnen ist. Seine Würdigung, es lägen Umstände vor, die eine „Abweichung nach unten“ gebieten würden, ist indes nicht frei von Rechtsfehlern. Dabei kann der Senat gemäß § 563 Abs. 3 ZPO selbst endentscheiden, weil alle für die Beurteilung der Angemessenheit des Ausgleichs maßgeblichen Tatsachen festgestellt sind und neuer Sachvortrag hierzu nicht zu erwarten ist.
39
aa) Der Zuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG knüpft an das dem Nachtarbeitnehmer für die Nachtarbeit „zustehende“ Bruttoarbeitsentgelt an.
40
(1) Zustehendes Bruttoarbeitsentgelt ist bei Fehlen einer günstigeren Regelung der gesetzliche Mindestlohn, denn dieser ist kraft Gesetzes (§§ 1, 3, 20 MiLoG) vom Arbeitgeber dem Arbeitnehmer als Gegenleistung für tatsächliche Arbeit zu zahlen (ebenso: BAG 20. September 2017 – 10 AZR 171/16 – Rn. 30; Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 178; wohl auch Bayreuther in Thüsing 2. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 113).
41
(2) Sinn und Zweck der Ausgleichsregelung bestätigen dieses aus dem Wortlaut der Norm und der Gesetzessystematik gewonnene Verständnis. Der vom Gesetzgeber mit dem Zuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG verfolgte Zweck, Nachtarbeit im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers zu verteuern und auf diesem Weg einzuschränken (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 18, BAGE 153, 378), käme nicht – voll – zum Tragen, stellte man bei der Beurteilung der Angemessenheit des Zuschlags nicht auf das wertmäßige Verhältnis zu dem Bruttoarbeitsentgelt ab, das dem Arbeitnehmer für die während der gesetzlichen Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden kraft Gesetzes zusteht, sondern auf ein niedrigeres arbeitsvertraglich vereinbartes Entgelt.
42
(3) Grundlage des der Klägerin zu gewährenden Nachtarbeitszuschlags kann deshalb entgegen der Auffassung der Beklagten nicht der arbeitsvertraglich vereinbarte Stücklohn sein, weil dieser unstreitig hinter dem gesetzlichen Mindestlohn zurückbleibt. Insoweit ist die vereinbarte Höhe des Nachtarbeitszuschlags unwirksam, § 6 Abs. 5 ArbZG iVm. § 134 BGB.
43
bb) Der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgend hat das Landesarbeitsgericht einen Zuschlag von 25 % auf das der Klägerin zustehende Bruttoarbeitsentgelt bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen als regelmäßig angemessenen Ausgleich für Nachtarbeit angenommen (vgl. BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 23 mwN, BAGE 153, 378). Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen keine Umstände vor, die es rechtfertigen, von dieser im Regelfall angemessenen Zuschlagshöhe nach unten abzuweichen. Vielmehr ist – wie die Revision der Klägerin zu Recht geltend macht – hiervon nach oben abzuweichen, weil die Klägerin dauerhaft Nachtarbeit iSd. Arbeitszeitgesetzes leistet.
44
(1) Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt, wie ihn die Beklagte mit ihrer Revision erstrebt, kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil zB in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist. Nach der Art der Arbeitsleistung ist auch zu beurteilen, ob der vom Gesetzgeber mit dem Entgeltzuschlag verfolgte Zweck, im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers Nachtarbeit zu verteuern und auf diesem Wege einzuschränken, zum Tragen kommen oder in einem solchen Fall nur die mit der Nachtarbeit verbundene Erschwernis ausgeglichen werden kann. Relevanz kann die letztgenannte Erwägung aber nur in den Fällen haben, in denen die Nachtarbeit aus zwingenden technischen Gründen oder aus zwingend mit der Art der Tätigkeit verbundenen Gründen bei wertender Betrachtung vor dem Hintergrund des Schutzzwecks des § 6 Abs. 5 ArbZG unvermeidbar ist (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 29 mwN, BAGE 153, 378).
45
(2) Hiervon ausgehend hat das Landesarbeitsgericht entgegen der Auffassung der Beklagten den der Klägerin zu gewährenden Nachtarbeitszuschlag nicht zu hoch angesetzt.
46
(a) Die Revision der Beklagten zeigt nicht auf, dass das Landesarbeitsgericht bei der Unterordnung des festgestellten Sachverhalts unter den Rechtsbegriff des angemessenen Ausgleichs Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungsgrundsätze verletzt oder wesentliche Umstände zu Lasten der Beklagten unberücksichtigt gelassen hätte oder zu einem widersprüchlichen Ergebnis gelangt wäre. Umstände, die vorliegend eine Abweichung von dem regelmäßig als angemessen anzusehenden Prozentsatz von 25 % nach unten rechtfertigen könnten, legt die Beklagte nicht substantiiert dar. Sie setzt lediglich die eigene Bewertung an die Stelle der vom Berufungsgericht vorgenommenen.
47
(b) Soweit sich die Beklagte in der Revision auf eine Entscheidung des Senats zur Nachtarbeit im Bewachungsgewerbe beruft, übersieht sie, dass der dortige Wachmann – anders als die Klägerin beim Zustellen – während seiner Nachtarbeit auch „Phasen der Entspannung“ hatte, weil er nur zu drei Kontrollgängen verpflichtet war und nur auf Einflüsse von außen reagieren musste (BAG 11. Februar 2009 – 5 AZR 148/08 – Rn. 15). Soweit diese Entscheidung – obwohl nicht streitgegenständlich – dahingehend verstanden werden könnte, der Senat erachte generell für Zeitungszusteller einen Nachtarbeitszuschlag von 10 % als angemessen, wird daran nicht festgehalten.
48
(c) Dass ein Zuschlag für Nachtarbeit von 25 % auf den Mindestlohn von Zeitungszustellerinnen und Zeitungszustellern die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Branche übersteigen würde, behauptet die Beklagte ohne weitere Substantiierung nur pauschal. Abgesehen davon, dass rein wirtschaftliche Erwägungen grundsätzlich nicht geeignet sind, eine Abweichung vom Regelwert nach unten zu begründen (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 30, BAGE 153, 378), hat der Gesetzgeber aus Rücksicht auf die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Pressefreiheit den mit der Einführung des Mindestlohns einhergehenden Mehrkosten für den Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften mit der Übergangsregelung des § 24 Abs. 2 MiLoG Rechnung getragen (vgl. BT-Drs. 18/2010 [neu] S. 25). Dagegen hat er in Kenntnis der üblichen frühmorgendlichen Zustellzeiten die Angemessenheit des Zuschlags für Nachtarbeit von Zeitungszustellerinnen und Zeitungszustellern nicht selbst bestimmt oder die Branche von der Zuschlagspflicht des § 6 Abs. 5 ArbZG ausgenommen und es somit bei den für alle Branchen geltenden, von der Rechtsprechung zu § 6 Abs. 5 ArbZG entwickelten Grundsätzen belassen.
49
(3) Bei der Festlegung der Höhe des Nachtarbeitszuschlags hat das Landesarbeitsgericht indes zu Lasten der Klägerin außer Betracht gelassen, dass sie im Streitzeitraum ihre reguläre Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit erbracht hat und damit ein Umstand vorliegt, der ein „Abweichen nach oben“ gebietet.
50
(a) Die Höhe des Zuschlags auf das Bruttoarbeitsentgelt kann sich erhöhen, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn ein Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag bzw. nach entsprechender Ausübung des Direktionsrechts durch den Arbeitgeber dauerhaft in Nachtarbeit tätig wird („Dauernachtarbeit“). Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 28 mwN, BAGE 153, 378; ErfK/Wank 18. Aufl. § 6 ArbZG Rn. 14; Schliemann ArbZG 3. Aufl. § 6 Rn. 87; Buschmann/Ulber ArbZG 8. Aufl. § 6 Rn. 30).
51
(b) Die Klägerin erbringt die von ihr geschuldete Arbeitsleistung nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ausschließlich zur Nachtzeit iSd. § 2 Abs. 3 ArbZG. Dabei arbeitet sie unstreitig pro Arbeitsnacht mehr als zwei Stunden, leistet also Nachtarbeit iSd. § 2 Abs. 4 ArbZG und ist – ebenfalls unstreitig – an mehr als 48 Tagen im Kalenderjahr tätig, also Nachtarbeitnehmerin (§ 2 Abs. 5 ArbZG). Sie hat deshalb grundsätzlich Anspruch auf einen Ausgleich nach § 6 Abs. 5 ArbZG durch Gewährung eines Zuschlags von 30 % auf den ihr – im Streitzeitraum nach § 24 Abs. 2 MiLoG – zustehenden Bruttostundenmindestlohn (vgl. BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 40, BAGE 153, 378).
52
(c) Umstände, die trotz der Dauernachtarbeit einen geringeren Zuschlag als die regelmäßig festzusetzenden 30 % auf das dem Nachtarbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt rechtfertigen würden, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt und sind von der Beklagten in den Tatsacheninstanzen auch nicht dargelegt worden.
53
(aa) Aus der Art der Tätigkeit als Zeitungszustellerin ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Belastung der Klägerin durch die Nachtarbeit sei geringer als diejenige anderer Beschäftigter, die Nachtarbeit leisten. Die Klägerin leistet beim Zustellen unstreitig Vollarbeit, Zeiten minderer Beanspruchung oder „Phasen der Entspannung“ (vgl. BAG 11. Februar 2009 – 5 AZR 148/08 – Rn. 15) fallen somit nicht an.
54
(bb) Unerheblich ist bei Dauernachtarbeit, ob es sich beim Zeitungszustellen – wie die Beklagte in der Revisionsinstanz geltend macht – um „im Grundsatz leichte Arbeit“ handelt. § 6 Abs. 5 ArbZG knüpft nicht an die Schwere der Tätigkeit als solcher, sondern an die besonderen Belastungen durch jede (Voll-)Arbeit in der Nachtzeit an. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf verweist, selbst Kinder ab 13 Jahren dürften Zeitungen zustellen (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 KindArbSchV), gilt dies gemäß § 2 Abs. 1 letzter Hs. KindArbSchV nur, wenn diese Beschäftigung nach § 5 Abs. 3 JArbSchG leicht und für sie geeignet ist. Zudem müssen die zulässigen Beschäftigungen für Kinder ab 13 Jahren im Übrigen den Schutzvorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes entsprechen, § 2 Abs. 3 KindArbSchV, so dass eine Zustellung von Zeitungen durch Kinder ab 13 Jahren in der Nachtzeit des ArbZG und vor 08:00 Uhr morgens ausgeschlossen ist, § 5 Abs. 3 Satz 3 JArbSchG.
55
(cc) Ohne Belang ist ferner, dass die Klägerin nicht die gesamte Nachtzeit von 23:00 bis 06:00 Uhr arbeitet. Denn der Ausgleich nach § 6 Abs. 5 ArbZG ist für jede Arbeitsstunde, die in die Nachtzeit des § 2 Abs. 3 ArbZG fällt, zu gewähren (allgA, vgl. nur Schliemann ArbZG 3. Aufl. § 6 Rn. 88). Das Arbeitszeitgesetz wertet damit die Belastung der Nachtarbeitnehmer durch Nachtarbeit – vorbehaltlich der Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 4 ArbZG – unabhängig davon, wie viele Arbeitsstunden in der Nachtzeit erbracht werden. Ist der Beschäftigte Nachtarbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 5 ArbZG, verbietet sich eine „Staffelung“ der Höhe des Zuschlags nach § 6 Abs. 5 ArbZG nach dem Umfang der geleisteten Nachtarbeitsstunden.
56
(dd) Auch die Annahme, die Zustelltätigkeit der Klägerin sei zwingend in der Nachtzeit erforderlich, so dass der mit dem Zuschlag verbundene Zweck, im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers Nachtarbeit zu verteuern und auf diesem Wege einzuschränken, nicht erreichbar sei, rechtfertigt vorliegend kein anderes Ergebnis. Kann bei Dauernachtarbeit mit dem Zuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur die mit der Nachtarbeit verbundene Erschwernis ausgeglichen werden, kommt ein „Abweichen nach unten“ nur dann in Betracht, wenn – wie etwa im Rettungswesen – überragende Gründe des Gemeinwohls die Nachtarbeit zwingend erfordern (vgl. BAG 31. August 2005 – 5 AZR 545/04 – zu I 4 b der Gründe, BAGE 115, 372; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 29, BAGE 153, 378). Solche liegen hier nicht vor.
57
5. Die tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zum Umfang der im Streitzeitraum von der Klägerin geleisteten Nachtarbeit und sein Rechenwerk zur Ermittlung des Differenzanspruchs haben weder die Beklagte noch die Klägerin mit ihren Revisionen angegriffen. Auf dieser Grundlage ergeben sich zu dem vom Landesarbeitsgericht bereits ausgeurteilten Betrag weitere 480,50 Euro brutto als Differenz zwischen dem nach § 6 Abs. 5 ArbZG geschuldetem und dem von der Beklagten gezahltem Zuschlag für die Nachtarbeit der Klägerin.
58
6. Den Anspruch der Klägerin auf den gesetzlichen Nachtarbeitszuschlag hat die Beklagte mit der Zahlung des Mindestlohns nach § 24 Abs. 2 MiLoG nicht erfüllen können. Der Anspruch auf den Nachtarbeitszuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG beruht auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung und steht neben dem Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach dem Mindestlohngesetz. Wie durch die Zahlung des Nachtarbeitszuschlags der Mindestlohnanspruch nicht erfüllt wird (st. Rspr., zuletzt BAG 17. Januar 2018 – 5 AZR 69/17 – Rn. 16 mwN), kann umgekehrt auch eine Entgeltzahlung, welche die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nicht übersteigt, den Anspruch auf den Nachtarbeitszuschlag nicht nach § 362 Abs. 1 BGB zum Erlöschen bringen.
59
7. Zinsen für die noch offene Forderung kann die Klägerin zu den beantragten Zeitpunkten nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 iVm. § 614 Satz 2 BGB beanspruchen.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.
Linck
Volk
Biebl
E. Bürger
J. Schubert |
bag_20-20 | 07.07.2020 | 07.07.2020
20/20 - Verfall des Urlaubs bei Krankheit - Gilt die 15-Monatsfrist auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers?
Zur Klärung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmerin bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen kann, hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.*
Die bei der Beklagten beschäftigte Klägerin ist seit ihrer Erkrankung im Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Von ihrem Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie 14 Urlaubstage nicht in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit der Klage begehrt die Klägerin festzustellen, dass ihr die restlichen 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 weiterhin zustehen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Urlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die Beklagte hat geltend gemacht, der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 sei spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Für die Entscheidung, ob der Urlaub der Klägerin aus dem Jahr 2017 am 31. März 2019 oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen ist, kommt es für den Neunten Senat auf die Auslegung von Unionsrecht an, die dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten ist.
Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf die ersten drei Monate des folgenden Kalenderjahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Diese Bestimmung hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts verschiedentlich unionsrechtskonform ausgelegt.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat der Neunte Senat erkannt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann nach § 7 Abs. 3 BUrlG am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, und ihn darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 9/19 vom 19. Februar 2019).
Für den Fall, dass der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war, versteht der Neunte Senat § 7 Abs. 3 BUrlG nach Maßgabe der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) außerdem dahin, dass gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 56/12 vom 7. August 2012).
Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es nunmehr einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 24. Juli 2019 – 5 Sa 676/19 –
*Der genaue Wortlaut der Frage kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:
1. Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsverfahren ausgesetzt.
Leitsatz
Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV über die Frage, ob das Unionsrecht das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können.
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta).
2
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten über das Bestehen von Urlaubsansprüchen der Klägerin aus dem Jahr 2017.
4
Die bei der Beklagten beschäftigte Klägerin ist seit ihrer Erkrankung im Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Ihren gesetzlichen Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie nicht vollständig in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit der Klage begehrt die Klägerin festzustellen, dass ihr die restlichen 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 weiterhin zustehen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Urlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die Beklagte hat geltend gemacht, der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 sei spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen.
5
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
6
B. Das einschlägige nationale Recht
7
Im Bundesurlaubsgesetz, das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet, heißt es ua.:
„§ 7
Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs
(1)
Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.
(2)
Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub aus diesen Gründen nicht zusammenhängend gewährt werden, und hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen, so muss einer der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfolgende Werktage umfassen.
(3)
Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.
(4)
Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
8
C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
9
Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:
„Artikel 7
Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
10
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:
„Artikel 31
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
…
(2)
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“
11
D. Nationale Rechtsprechung
12
I. Der gesetzliche Mindesturlaub entsteht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG für das Kalenderjahr als Urlaubsjahr und muss nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden; andernfalls erlischt er nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Bestimmungen unter Beachtung der Entscheidungen des Gerichtshofs unter zwei Aspekten richtlinienkonform ausgelegt:
13
1. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta hat das Bundesarbeitsgericht erkannt, dass bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG) erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
14
a) In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376). Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsobliegenheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern, den Urlaub in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 37 ff. mwN, 65; sh. auch 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 41 f.; BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376).
15
b) Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums (grundl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376). Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bezogen sich jeweils auf Sachverhalte, in denen die Arbeitnehmer nicht langzeiterkrankt waren.
16
2. Das Bundesarbeitsgericht hat außerdem unter Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom 20. Januar 2009 (- C-350/06 und C-520/06 – [Schultz-Hoff] Rn. 43, 49) und vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; bestätigt durch EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff. und zuletzt 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.) entschieden, dass der gesetzliche Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen. Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt in diesem Fall zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist damit erneut nach § 7 Abs. 3 BUrlG befristet. Er erlischt allerdings bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres (grundl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 23, 32 ff., BAGE 142, 371; vgl. auch 16. Oktober 2012 – 9 AZR 63/11 – Rn. 9; 18. März 2014 – 9 AZR 669/12 – Rn. 14).
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II. Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) bedurfte es bisher noch keiner Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darüber, ob und in welchen Fällen Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 23; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 15, BAGE 165, 376). Mit dem Gerichtshof geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass ein Erlöschen von Urlaubsansprüchen in Fällen, in denen es dem Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen, nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 73 ff.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Solche besonderen Umstände bestehen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich nicht, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, weil der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376), oder weil er den Arbeitnehmer in sonstiger Weise daran gehindert hat, seinen Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. im Einzelnen BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Die vom Senat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Rechtsgrundsätze zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers sind jedoch in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeitnehmern weiter aufeinander abzustimmen. In den folgenden Fallkonstellationen ist – nach dem Verständnis des Senats – eine mit dem Unionsrecht in Einklang stehende Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG möglich, ohne dass es insoweit einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf.
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1. Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig erfüllt, ist § 7 Abs. 3 BUrlG unverändert richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt. Besteht die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubsanspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitgebers vor dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen. Dies ist durch das Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juni 2020 (- C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.) geklärt (vgl. hierzu auch EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff.).
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2. Hat der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt und war es dem Arbeitnehmer bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres allein aufgrund durchgehend bestehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht möglich, den Urlaub zu nehmen, ist § 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Dies betrifft den Urlaub für Urlaubsjahre, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig krank war und deshalb – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat – überhaupt keinen Urlaub nehmen konnte. Auch in diesem Fall ist von besonderen Umständen auszugehen, die den Verfall des Urlaubsanspruchs rechtfertigen.
20
a) Allerdings bestehen – anders als von den Vorinstanzen im vorliegenden Rechtsstreit angenommen – die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers regelmäßig auch, wenn und solange der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist. Sie können ihren Zweck erfüllen, weil sich die Dauer der Erkrankung nicht von vornherein absehen lässt.
21
aa) Dem Arbeitgeber ist es möglich, den arbeitsunfähigen Arbeitnehmer entsprechend den gesetzlichen Vorgaben (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 41, 43, BAGE 165, 376) rechtzeitig und zutreffend über den Umfang und die Befristung des Urlaubsanspruchs unter Berücksichtigung des bei einer langandauernden Erkrankung geltenden Übertragungszeitraums zu unterrichten. Der Arbeitgeber ist nicht gehindert, den Arbeitnehmer rechtzeitig aufzufordern, den Urlaub bei Wiedergenesung vor Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann.
22
bb) Die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers sind auch nicht entbehrlich. Das Bundesurlaubsgesetz ermöglicht es dem Arbeitnehmer mit den Regelungen in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 BUrlG, durch seine Urlaubswünsche, die sich auf das gesamte Urlaubsjahr bzw. ggf. den zulässigen Übertragungszeitraum beziehen können, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant werden können (vgl. zum Urlaub im Übertragungszeitraum EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 38). Die rechtzeitige Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten stellt sicher, dass der Arbeitnehmer die durch das Bundesurlaubsgesetz mit § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG intendierte Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Zeitraums der Inanspruchnahme des Urlaubs nutzen und ab dem ersten Arbeitstag nach seiner Wiedergenesung Urlaub in Anspruch nehmen kann, sofern der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, die Gewährung von Urlaub nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BUrlG abzulehnen.
23
b) Jedoch ist die Befristung des Urlaubsanspruchs bei einem richtlinienkonformen Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es – was erst im Nachhinein feststellbar ist – objektiv unmöglich gewesen wäre, den Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren.
24
aa) Der Zweck der aus § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG abgeleiteten Obliegenheiten, zu verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert, weil er ihn in Unkenntnis der Befristung und des damit einhergehenden Risikos des Erlöschens nicht rechtzeitig gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 25, BAGE 165, 376), bestimmt nicht nur den Inhalt der rechtlich gebotenen Aufforderungen und Hinweise (vgl. hierzu BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40 f., aaO), sondern ist auch auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen.
25
(1) Regelmäßig ist dem Arbeitgeber die Berufung auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat, denn ein verständiger Arbeitnehmer hätte bei gebotener Aufforderung und Unterrichtung seinen Urlaub typischerweise rechtzeitig vor dem Verfall beantragt (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 16, 25, BAGE 165, 376).
26
(2) Anders verhält es sich, wenn auch bei Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten deren Zweck nicht hätte erreicht werden können, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376). Unter diesen Umständen ist es dem Arbeitgeber, der seinen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist, nicht verwehrt, sich auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zu berufen. War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig oder trat die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende Arbeitsunfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahres ein, ohne dass dem Arbeitnehmer vor deren Beginn (weiterer) Urlaub hätte gewährt werden können, sind nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal. Der Urlaubsanspruch ist auf eine bezahlte Befreiung von der Arbeitspflicht gerichtet (st. Rspr., vgl. BAG 24. September 2019 – 9 AZR 481/18 – Rn. 50; 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 17). Kann der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung krankheitsbedingt nicht erbringen, wird ihm die Arbeitsleistung unmöglich. Er wird nach § 275 Abs. 1 BGB von der Pflicht zur Arbeitsleistung frei. Eine Befreiung von der Arbeitspflicht durch Urlaubsgewährung ist deshalb rechtlich unmöglich (BAG 18. März 2014 – 9 AZR 669/12 – Rn. 16).
27
bb) Dieses Ergebnis steht nach Überzeugung des Senats im Einklang mit der durch den Gerichtshof gefundenen Auslegung des Unionsrechts. Die gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta bestehende Obliegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer ua. erforderlichenfalls mittels entsprechender Aufforderungen und Hinweise in die Lage zu versetzen, den Urlaub wahrzunehmen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.), dient nach Feststellung des Gerichtshofs der Vermeidung einer Situation, in der die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert würde, während der Arbeitgeber die Möglichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seinen eigenen Pflichten zu entziehen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 43). Ein Arbeitnehmer, der während des Bezugs- und/oder Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, kann seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben (st. Rspr. des EuGH, vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 24; 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 27). Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist – ohne dass es auf die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers ankäme – von vornherein ausgeschlossen, weil die Arbeitsunfähigkeit auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist (st. Rspr., vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 66; 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 32, 33 mwN).
28
E. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Erläuterung der Vorlagefragen
29
Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es einer Klärung durch den Gerichtshof, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat und der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest noch teilweise hätte nehmen können. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 ist das Unionsrecht bei der Auslegung und Anwendung des § 7 Abs. 3 BUrlG zu berücksichtigen (vgl. BAG 23. März 2010 – 9 AZR 128/09 – Rn. 101 ff., BAGE 134, 1; 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 25, BAGE 142, 371; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 18, BAGE 165, 376). Für das Verständnis der Bestimmung kommt es daher auf die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie von Art. 31 Abs. 2 der Charta an. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist.
30
I. Erläuterung der ersten Vorlagefrage
31
1. Nach Erkenntnis des Gerichtshofs ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Urlaub erlischt (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; zuletzt EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff.). Ein Zeitraum von 15 Monaten, in dem die Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub möglich ist, entspricht nach der Feststellung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Anforderungen der Richtlinie 2003/88/EG und läuft dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwider, weil er dessen positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit gewährleistet (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 43).
32
a) Gestattete es das Unionsrecht, diese Grundsätze auch im Fall einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden Erkrankung anzuwenden, obwohl der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben und der Urlaub vor der Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte genommen werden können, wäre die Revision der Klägerin unbegründet. Ihr Urlaubsanspruch für das Jahr 2017 wäre gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen (st. Rspr., vgl. grundl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 32, BAGE 142, 371).
33
b) Demgegenüber wäre die Revision der Klägerin im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht begründet, wenn das Unionsrecht unter den genannten Umständen bei unterlassenen Aufforderungen und Hinweisen des Arbeitgebers eine Auslegung von § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nicht zuließe, der zufolge der aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllbare gesetzliche Urlaubsanspruch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers mit Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten untergeht. Über das Bestehen des Urlaubsanspruchs der Klägerin wäre unter Beachtung der unionsrechtlichen Grundsätze erneut zu befinden.
34
2. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bislang – soweit ersichtlich – nicht zweifelsfrei geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Für diesen Fall stellt sich mit Blick – einerseits – auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) und – andererseits – ua. die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) die Frage, ob mit Rücksicht auf den Erholungszweck des Urlaubs der Grundsatz, dass das Erlöschen des Anspruchs von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängt, nur eingeschränkt gilt.
35
a) Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Gerichtshof vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]), dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines gemäß diesen Bestimmungen erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, automatisch, ohne vorherige Prüfung, ob der Arbeitgeber ihn tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, am Ende des Bezugszeitraums die ihm für diesen Zeitraum zustehenden Urlaubstage verliert(EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 55).
36
aa) In diesem Urteil hat der Gerichtshof betont, dass jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 42; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 39). Der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, habe die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen (EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 77; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 63).
37
bb) Gölten diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers eingetreten ist, träte ein Verfall des Urlaubs auch 15 Monate nach Ablauf dieses Urlaubsjahres insoweit nicht ein, als der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkrankung noch hätte in Anspruch nehmen können. Der Arbeitgeber hätte bei Unterlassen der gebotenen Aufforderung und Hinweise das Risiko zu tragen, dass der Urlaubsanspruch nicht vollständig verfällt, auch wenn der Arbeitnehmer über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Urlaubsjahres hinaus arbeitsunfähig ist. Er könnte dieses Risiko faktisch nur dann ausschließen, wenn er seinen Obliegenheiten bereits zu Beginn des Kalenderjahres nachkäme. Der Arbeitnehmer hätte unter den genannten Voraussetzungen (nur dann) das Risiko zu tragen, den Urlaubsanspruch wegen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden, unter Umständen langandauernden Arbeitsunfähigkeit nicht mehr in vollem Umfang realisieren zu können, wenn der Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheiten – in diesem Sinne – rechtzeitig erfüllt und damit die Voraussetzungen der Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG geschaffen hat.
38
b) Demgegenüber hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) erkannt, dass mit dem in Art. 31 Abs. 2 der Charta und in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Ein Recht auf ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, entspräche nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 30 f.). Dessen positive Wirkung für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers verliere zwar nicht an Bedeutung, wenn der Urlaub zu einer späteren Zeit genommen werde. Der Urlaub könne seiner Zweckbestimmung jedoch nur insoweit entsprechen, als der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreite. Über eine solche Grenze hinaus fehle dem Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit; erhalten bleibe ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 33).
39
aa) Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeitnehmern einen auf 15 Monate begrenzten Übertragungszeitraum vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 43 f.).
40
bb) Fänden diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr Anwendung, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers eingetreten ist, könnte dieser Urlaub 15 Monate nach Ablauf dieses Urlaubsjahres auch dann verfallen, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Vor der Erkrankung liegende Ansprüche aus dem Urlaubsjahr würden dann erlöschen, auch soweit der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkrankung noch hätte in Anspruch nehmen können.
41
c) Die Bewertung, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta im Hinblick auf den Erholungszweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub eine Einschränkung des Grundsatzes, demzufolge die Befristung des Urlaubsanspruchs die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten voraussetzt, zulassen, wenn Arbeitnehmer aus Krankheitsgründen daran gehindert waren, den Urlaub zu nehmen, sie den Urlaubsanspruch aber vor Eintritt ihrer Arbeitsunfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahres bei Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch hätten realisieren können, hat der Gerichtshof bisher nicht vorgenommen; die unter Rn. 35 f. genannten Entscheidungen betrafen nicht den Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern, die – wie die Klägerin – langzeiterkrankt waren. Die mit den Vorabentscheidungsersuchen gestellte erste Frage ist daher aus Sicht des Senats bisher durch den Gerichtshof nicht geklärt. Ebenso ist durch den Gerichtshof bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einen Zeitpunkt im Urlaubsjahr vorgeben, bis zu dem der Arbeitgeber spätestens seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nachzukommen hat, um den Anforderungen an deren „Rechtzeitigkeit“ im Sinne des Unionsrechts zu genügen, was für die unter Rn. 37 dargestellte und ggf. – unter Beachtung der Beantwortung des Vorlageersuchens durch den Gerichtshof – vorzunehmende Risikoverteilung von Bedeutung ist.
42
3. Der Senat kann erst nach der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof beurteilen, ob und inwieweit § 7 Abs. 3 BUrlG – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungsmethoden – so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet wird, ohne eine Auslegung contra legem zu erfordern (vgl. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31; BVerfG 17. November 2017 – 2 BvR 1131/16 – Rn. 37; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 19, BAGE 165, 376; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 39 f., BAGE 164, 117). Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Recht – wo dies nötig und möglich ist – das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ein (BAG 28. Juli 2016 – 2 AZR 746/14 (A) – Rn. 35, BAGE 156, 23; 17. März 2016 – 8 AZR 501/14 (A) – Rn. 51 mwN, BAGE 154, 285).
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4. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) ausgeführt, dass eine nationale Regelung über den Verfall des Urlaubs nicht anzuwenden sei, wenn sie nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe aber auch dann dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen könne, dass er ihn tatsächlich in die Lage versetzt habe, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht verliere (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 81). Stehe dem Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit ein staatlicher Arbeitgeber gegenüber, ergebe sich dieses Ergebnis aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 der Charta. Stehe ihm ein privater Arbeitgeber gegenüber, folge dies aus Art. 31 Abs. 2 der Charta (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 63 f., 74 ff.). Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), dh. ein privater Arbeitgeber. Sollte § 7 Abs. 3 BUrlG einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sein, was allerdings erst auf der Grundlage der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof festgestellt werden könnte, stellte sich die Frage, ob § 7 Abs. 3 BUrlG – ggf. teilweise – unangewendet zu lassen wäre.
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II. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
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Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, ist es für den Rechtsstreit entscheidungserheblich, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta unter den in der Frage zu 1. genannten Umständen der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegensteht der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn die Arbeitsunfähigkeit – wie bei der Klägerin – über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres hinaus ununterbrochen fortbesteht. Auch diese Frage ist bislang – soweit ersichtlich – durch die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) nicht zweifelsfrei geklärt, denn der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) erkannt, dass ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entspricht (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 30 f.).
46
1. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) tritt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der infolge unterlassener Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376; seither st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 16).
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2. Aus Sicht des Senats ist – bejahte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage – durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta es zuließen, dass der ggf. wegen unterlassener Aufforderung und Hinweise nicht verfallene Urlaubsanspruch aus dem fraglichen Urlaubsjahr – im Streitfall das Urlaubsjahr 2017 – bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit uneingeschränkt das Schicksal des im ersten Folgejahr – hier das Urlaubsjahr 2018 – entstehenden Urlaubsanspruchs teilt. Der Urlaub aus dem ersten Folgejahr wäre unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat, nach Ablauf von 15 Monaten verfallen, weil es objektiv unmöglich gewesen wäre, den schon zu Beginn des ersten Folgeurlaubsjahres weiterhin durchgehend krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. die Ausführungen unter Rn. 26 f.). Ließe das Unionsrecht diese zeitliche Begrenzung der Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu, wäre der Urlaubsanspruch der Klägerin aus dem Jahr 2017 aufgrund fortbestehender Arbeitsunfähigkeit spätestens 15 Monate nach Ablauf des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres 2018 erloschen, dh. am 31. März 2020.
48
3. Ebenfalls ungeklärt ist aus Sicht des Senats, ob der Arbeitgeber auch nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch erfüllen und so die Befristung des Urlaubsanspruchs und dessen Erlöschen zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres herbeiführen kann, wenn der Arbeitnehmer während der gesamten Zeit fortdauernd arbeitsunfähig krank bleibt und deshalb seinen Urlaubsanspruch nicht realisieren kann.
Kiel
Weber
Zimmermann
G. Müller
Lipphaus |
bag_21-18 | 26.04.2018 | 26.04.2018
21/18 - Entgeltumwandlung - Kündigung einer Direktversicherung im bestehenden Arbeitsverhältnis
Der bloße Geldbedarf eines Arbeitnehmers, für den der Arbeitgeber eine Direktversicherung zur Durchführung der betrieblichen Altersversorgung im Wege der Entgeltumwandlung abgeschlossen hat, begründet für sich genommen keinen Anspruch gegen den Arbeitgeber, den Versicherungsvertrag gegenüber der Versicherungsgesellschaft zu kündigen, damit der Arbeitnehmer den Rückkaufswert erhält.
Der Kläger schloss mit der beklagten Arbeitgeberin im Jahr 2001 eine Entgeltumwandlungsvereinbarung. Danach war die Arbeitgeberin verpflichtet, jährlich ca. 1.000,00 Euro in eine zugunsten des Klägers bestehende Direktversicherung, deren Versicherungsnehmerin sie ist, einzuzahlen. Die Versicherung, die von der Arbeitgeberin durch weitere Beiträge gefördert wird, ruht seit 2009. Mit seiner Klage verlangte der Kläger von der Beklagten die Kündigung des Versicherungsvertrags, weil er sich in einer finanziellen Notlage befinde.
Der Dritte Senat hat – wie die Vorinstanzen – die Klage abgewiesen. Der Kläger hat kein schutzwürdiges Interesse an der begehrten Kündigung. Die im Betriebsrentengesetz geregelte Entgeltumwandlung dient dazu, den Lebensstandard des Arbeitnehmers im Alter zumindest teilweise abzusichern. Mit dieser Zwecksetzung wäre es nicht vereinbar, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber verlangen könnte, die Direktversicherung lediglich deshalb zu kündigen, um dem versicherten Arbeitnehmer die Möglichkeit zu verschaffen, das für den Versorgungsfall bereits angesparte Kapital für den Ausgleich von Schulden zu verwenden.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 26. April 2018 – 3 AZR 586/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil vom 8. Juli 2016 – 9 Sa 14/16 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 8. Juli 2016 – 9 Sa 14/16 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
§ 241 Abs. 2 BGB verpflichtet den Arbeitgeber nicht, eine zugunsten des Arbeitnehmers zur Durchführung einer Entgeltumwandlung abgeschlossene Direktversicherung zu kündigen, wenn der Arbeitnehmer mit dem Rückkaufswert der Versicherung Verbindlichkeiten tilgen will.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, eine zugunsten des Klägers bestehende Direktversicherung zu kündigen und den Originalversicherungsschein an die Versicherung herauszugeben.
2
Der 1965 geborene Kläger ist seit dem 1. September 1986 bei der Beklagten beschäftigt. Die Parteien vereinbarten am 13. März 2001, dass ein Anspruch des Klägers auf Barlohn iHv. 2.000,00 DM jährlich in einen Anspruch auf Verschaffung eines Versicherungsschutzes umgewandelt werden soll. Die Beklagte verpflichtete sich, den umgewandelten Betrag in eine Direktversicherung bei der Versicherungsgesellschaft einzuzahlen. In der Umwandlungsvereinbarung wurden dem Kläger bzw. seinen Hinterbliebenen ein unwiderrufliches Bezugsrecht auf die Versicherungsleistung einschließlich der Überschussanteile eingeräumt.
3
Auf Antrag der Parteien wurde im Mai 2001 die Versicherungsnehmereigenschaft einer vom Kläger bereits im Dezember 2000 bei der A Lebensversicherung AG (im Folgenden Versicherungsgesellschaft) abgeschlossenen Lebensversicherung auf die Beklagte übertragen. Der Kläger ist Versicherter. Im Todesfall erhält seine Ehefrau die Versicherungsleistung. Die am 1. Dezember 2028 ablaufende Versicherung ruht seit dem Jahr 2009. Am 1. Dezember 2015 betrug ihr Vertragswert 6.932,83 Euro. Mit Schreiben vom 10. Januar 2013 kündigte der Kläger den Versicherungsvertrag. Die Beklagte weigerte sich, der Kündigung zuzustimmen oder den Vertrag selbst zu kündigen.
4
Der Kläger hat vorgetragen, er befinde sich in einer finanziellen Notlage, da er mit der Rückführung eines Baudarlehns iHv. 1.775,75 Euro im Rückstand sei. Er benötige das Geld aus der Direktversicherung, um zu verhindern, dass die Bank seinen Baudarlehnsvertrag kündige und die Zwangsvollstreckung seiner Immobilie einleite. Die Beklagte habe diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten mitverursacht. Denn sie habe Entgeltfortzahlungsansprüche aus dem Jahr 2012 erst erfüllt, nachdem er – der Kläger – diese gerichtlich geltend gemacht habe.
5
Der Kläger hat beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, den bei der A Lebensversicherung AG, bestehenden Lebensversicherungsvertrag Deutsche Fondspolice mit der Versicherungsscheinnummer, in dem er versicherte Person ist, zu kündigen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, die in ihrem Besitz befindliche Original-Versicherungspolice vom 9. Januar 2001 des fondsgebundenen Lebensversicherungsvertrags Deutsche Fondspolice der A Lebensversicherungs AG mit der Versicherungsscheinnummer an die A Lebensversicherung AG, zu übersenden.
6
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
7
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Antrag zu 2. ist dem Senat nicht zur Entscheidung angefallen.
9
I. Der zulässige Klageantrag zu 1. ist unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die zugunsten des Klägers bestehende Direktversicherung im laufenden Arbeitsverhältnis zu kündigen. Ein solcher Anspruch ergibt sich – mangels einer entsprechenden Regelung – nicht aus der von den Parteien geschlossenen Umwandlungsvereinbarung vom 13. März 2001. Auch auf § 241 Abs. 2 BGB kann sich der Kläger nicht mit Erfolg stützen.
10
1. Gemäß § 241 Abs. 2 BGB kann jede Partei nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet sein. Der Arbeitgeber ist daher gehalten, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitnehmers so zu wahren, wie dies unter Berücksichtigung der Interessen und Belange beider Vertragsparteien nach Treu und Glauben verlangt werden kann. Die Schutz- und Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers gilt auch für die Vermögensinteressen der Arbeitnehmer (vgl. etwa BAG 20. Juni 2017 – 3 AZR 179/16 – Rn. 86 mwN). Dies kann grundsätzlich zu der Verpflichtung des Arbeitgebers führen, bei der Wahrung oder Entstehung von Ansprüchen seiner Arbeitnehmer mitzuwirken, die diese gegenüber Dritten – auch privaten Versicherungsträgern – erwerben können (vgl. BAG 24. September 2009 – 8 AZR 444/08 – Rn. 14). Die Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers erfasst allerdings grundsätzlich nicht ausschließlich private Vermögensinteressen des Arbeitnehmers (vgl. MHdB/Reichold 4. Aufl. Bd. 1 § 91 Rn. 12; Ulbrich/Britz DB 2015, 247, 249; zur allgemeinen Pflicht des Arbeitgebers, die Vermögensinteressen des Arbeitnehmers wahrzunehmen: vgl. BAG 4. Oktober 2005 – 9 AZR 598/04 – Rn. 57, BAGE 116, 104; ErfK/Preis 18. Aufl. § 611a BGB Rn. 632).
11
2. Danach hat der Kläger kein schützenswertes Interesse an einer Auflösung des Versicherungsvertrags. Dies gilt auch, wenn man zu seinen Gunsten annimmt, dass die von ihm behauptete finanzielle Notlage mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang steht, weil die Beklagte Entgeltfortzahlungsansprüche aus dem Jahr 2012 erst nach gerichtlichen Auseinandersetzungen erfüllt hat. Dies hat das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt.
12
a) Das Landesarbeitsgericht hat – zusammengefasst – angenommen, der Kläger habe kein überwiegendes Interesse an der begehrten Kündigung. Es gebe andere Maßnahmen, um den noch ausstehenden, verhältnismäßig geringfügigen Restbetrag iHv. 1.775,75 Euro gegenüber der baufinanzierenden Bank auszugleichen. Der Beklagten drohten durch eine Kündigung der Direktversicherung ein hoher Verwaltungsaufwand sowie ein Haftungsrisiko aufgrund sozialversicherungs- und steuerrechtlicher Probleme. Sie sei auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten nicht verpflichtet, die Direktversicherung zu kündigen.
13
b) Bei der tatrichterlichen Interessenabwägung kommt dem Berufungsgericht ein Beurteilungsspielraum zu. Seine Würdigung ist vom Revisionsgericht deshalb nur darauf zu überprüfen, ob das Berufungsgericht bei der Unterordnung des Sachverhalts unter Rechtsnormen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle wesentlichen Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat. Eine eigene Abwägung durch das Revisionsgericht ist dann möglich, wenn die des Berufungsgerichts fehlerhaft oder unvollständig ist und sämtliche relevanten Tatsachen feststehen (vgl. etwa BAG 30. August 2017 – 7 AZR 864/15 – Rn. 41 mwN).
14
c) Es kann dahinstehen, ob die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das Interesse der Beklagten an einer Aufrechterhaltung der Direktversicherung überwiege, weil mildere Mittel als die Auflösung des Versicherungsvertrags möglich seien und durch die Beendigung des Versicherungsvertrags für die Beklagte nicht nur ein erhöhter Verwaltungsaufwand, sondern auch ein Haftungsrisiko entstehe, rechtsfehlerfrei ist. Denn jedenfalls ist das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass sozialpolitische Gesichtspunkte gegen eine Verpflichtung der Beklagten sprechen, die Direktversicherung gegenüber der Versicherungsgesellschaft zu kündigen. Der Kläger hat kein berechtigtes Interesse an der begehrten Kündigung dargetan.
15
aa) Der Arbeitgeber darf bei seiner Entscheidung, eine zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Direktversicherung nicht aufzulösen, sozialpolitische Erwägungen einbeziehen.
16
(1) Die sozialpolitische Funktion der betrieblichen Altersversorgung erfasst – entgegen der Auffassung des Klägers – nicht lediglich „generelle sozialpolitische Aspekte“ wie das staatliche Interesse, dass ein Arbeitnehmer im Alter nicht der Allgemeinheit zur Last fällt. Sie dient vielmehr auch der notwendigen Ergänzung der durch die Sozialversicherung gewährten Sicherung der Arbeitnehmer im Alter (BT-Drs. 7/1281 S. 19). Mit ihrer Hilfe soll der Lebensstandard des Arbeitnehmers oder gegebenenfalls seiner Hinterbliebenen nach Ausscheiden aus dem Berufs- bzw. Erwerbsleben zumindest teilweise gesichert werden, da das beständig sinkende Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. etwa Rentenversicherungsbericht 2017 der Bundesregierung S. 38) zu Versorgungslücken führt (vgl. ErfK/Steinmeyer 18. Aufl. § 1a BetrAVG Rn. 1 mwN; Höfer/Höfer BetrAVG Bd. I Stand März 2018 Kap. 1 Rn. 49). Insoweit liegt es auch im Interesse des einzelnen Arbeitnehmers, seine betriebliche Altersversorgung aufrecht zu erhalten (vgl. Ulbrich/Britz DB 2015, 247, 251; UFOD/Grünhagen bAV § 3 BetrAVG Rn. 4 f.).
17
(2) Mit der Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf Entgeltumwandlung in § 1a BetrAVG hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er dieses Interesse fördern will. Die Regelung steht im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung der Bevölkerungsstruktur und der daran geknüpften Senkung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Gesetzgeber wollte den eigenverantwortlichen Aufbau einer kapitalgedeckten privaten oder betrieblichen Altersversorgung begünstigen, den er zur Schließung drohender Versorgungslücken im Alter als unerlässlich ansah (vgl. BT-Drs. 14/4595 S. 1 und S. 37 f.; siehe hierzu auch BAG 12. Juni 2007 – 3 AZR 14/06 – Rn. 29, BAGE 123, 72).
18
(3) Der gesetzgeberische Wille, Arbeitnehmern den Aufbau einer betrieblichen Altersversorgung im Interesse der damit verbundenen Sicherungsfunktion zu ermöglichen, wird ergänzt durch die dem Betriebsrentengesetz zugrundeliegende Intention, Betriebsrentenanwartschaften angesichts ihrer zunehmenden Bedeutung für die spätere Alterssicherung der Arbeitnehmer möglichst lückenlos bis zum Eintritt des Versorgungsfalls zu sichern und zu erhalten (vgl. auch BT-Drs. 15/2150 S. 52; BT-Drs. 7/1281 S. 26). Es soll verhindert werden, dass unverfallbare Anwartschaften – wie die des Klägers – vor Eintritt des Versorgungsfalls ausgezahlt und für die Vermögensbildung, den Ausgleich von Schulden oder den Konsum statt für die vorgesehene Versorgung verwendet werden (vgl. hierzu auch BAG 17. Oktober 2000 – 3 AZR 7/00 – zu B II 2 b aa der Gründe, BAGE 96, 54; Blomeyer/Rolfs/Otto/Rolfs BetrAVG 6. Aufl. § 3 Rn. 2).
19
(4) Den besonderen Schutz von Versorgungsanwartschaften, jedenfalls soweit sie auf Zusagen beruhen, die – wie im Fall des Klägers – nach dem 31. Dezember 2000 erteilt wurden (vgl. § 30f Abs. 1 Satz 2 BetrAVG), hat der Gesetzgeber für die im Wege der Entgeltumwandlung erfolgende betriebliche Altersversorgung auch durch flankierende Regelungen zum Ausdruck gebracht. Dementsprechend sieht § 1b Abs. 5 BetrAVG vor, dass solche Anwartschaften sofort unverfallbar und damit sogleich nach § 7 Abs. 2 BetrAVG insolvenzgeschützt sind. § 1b Abs. 5 BetrAVG bestimmt, dass dem Arbeitnehmer bei einer Entgeltumwandlung im Durchführungsweg der Direktversicherung sofort ein unwiderrufliches Bezugsrecht einzuräumen ist, ihm alle Überschussanteile über eine Erhöhung der Versicherungsleistung zugutekommen müssen und der ausgeschiedene Arbeitnehmer das Recht zur Fortsetzung der Versicherung mit eigenen Beiträgen haben muss. Auch § 1a Abs. 4 BetrAVG lässt die Intention des Gesetzgebers, Lücken in der betrieblichen Altersversorgung zu vermeiden, erkennen. Die Vorschrift sieht für den Fall einer Entgeltumwandlungsabrede vor, dass der Arbeitnehmer auch im laufenden Arbeitsverhältnis das Recht hat, die Versicherung oder Versorgung mit eigenen Beiträgen fortzusetzen, wenn er kein Entgelt erhält. Damit wird dem Arbeitnehmer die Befugnis eingeräumt, unmittelbar eigene Mittel für den Aufbau seiner Altersversorgung einzusetzen. Eine Möglichkeit für den Arbeitnehmer, das angesammelte Kapital nach einer Auflösung des Versorgungsvertrags anderweitig zu verwenden, enthält die Regelung allerdings gerade nicht (vgl. LAG Hamm 19. Februar 2014 – 4 Sa 1384/13 – Rn. 21).
20
(5) Die den gesetzlichen Vorschriften zugrundeliegenden Wertungen sind auch für den Inhalt des zwischen den Parteien bestehenden Schuldverhältnisses im Hinblick auf die Direktversicherung prägend und deshalb bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der arbeitgeberseitigen Rücksichtnahmepflicht zu beachten. Eine Berechtigung des Arbeitnehmers, die Beendigung des Direktversicherungsvertrags vorzeitig zu erzwingen und das angesparte Kapital zur Tilgung von Schulden zu verwerten, widerspräche grundsätzlich dem Versorgungszweck der betrieblichen Altersversorgung. Unerheblich ist, dass die Entgeltumwandlungsabrede der Parteien bereits im Jahr 2001 und damit vor Inkrafttreten des durch Art. 9 Nr. 4 des Gesetzes vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1310) mit Wirkung zum 1. Januar 2002 (Art. 35 des Gesetzes) eingefügten § 1a BetrAVG abgeschlossen wurde. Nach § 1a Abs. 2 BetrAVG schließt eine schon bestehende Entgeltumwandlung Ansprüche nach § 1a BetrAVG aus. Damit behandelt das Gesetz eine vor dessen Inkrafttreten vereinbarte Entgeltumwandlung grundsätzlich gleichwertig mit einer auf gesetzlicher Grundlage begründeten Entgeltumwandlung.
21
bb) Der Kläger hat kein schützenswertes Interesse dargelegt, das geeignet wäre, die mit der Entgeltumwandlungsvereinbarung bezweckte Absicherung im Alter zu beseitigen.
22
(1) Mit der gesetzlichen Zwecksetzung einer Vereinbarung über die Umwandlung von Entgelt in Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ist es nicht vereinbar, wenn der Kläger von seiner Arbeitgeberin verlangen könnte, die Direktversicherung zu kündigen, um ihm zu ermöglichen, das für den Versorgungsfall bereits angesparte Kapital für den Ausgleich von Verbindlichkeiten zu verwenden. Es kann dahinstehen, ob etwas anderes gelten würde, wenn eine Zwangsversteigerung seines Hauses unmittelbar bevorstünde und die Auflösung der Direktversicherung mit der Auszahlung des Rückkaufswerts den Verlust des selbst genutzten Wohneigentums verhinderte. Eine solche akute Notlage hat der Kläger nicht vorgetragen. Er hat lediglich eine abstrakte Gefahr behauptet.
23
(2) Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass dem Kläger bzw. seinen Hinterbliebenen in der Entgeltumwandlungsvereinbarung ein unwiderrufliches Bezugsrecht auf die Versicherungsleistung einschließlich der Überschussanteile eingeräumt worden ist. Dies entspricht den für die Entgeltumwandlung geltenden gesetzlichen Vorgaben (§ 1b Abs. 5 Satz 2 BetrAVG). Hieraus kann der Kläger daher nichts Weitergehendes herleiten. Auch bei einer unwiderruflichen Bezugsberechtigung eines Dritten verbleibt das Recht, das Versicherungsverhältnis zu kündigen, beim Versicherungsnehmer (vgl. BGH 8. Juni 2016 – IV ZR 346/15 – Rn. 12 und 17 f.; 2. Dezember 2009 – IV ZR 65/09 – Rn. 14 mwN). Eine Obliegenheit, an der Auflösung des Versicherungsvertrags mitzuwirken, folgt hieraus nicht.
24
3. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer einen Anspruch darauf hat, dass der Arbeitgeber eine allein arbeitgeberseitig finanzierte betriebliche Altersversorgung im Wege der Direktversicherung kündigt, muss der Senat nicht entscheiden. Eine solche Fallgestaltung liegt nicht vor.
25
II. Der Klageantrag zu 2. ist dem Senat nicht zur Entscheidung angefallen. Es handelt sich nach der gebotenen Auslegung um einen unechten Hilfsantrag, der erkennbar nur für den Fall gestellt ist, dass dem Antrag zu 1. stattgegeben wird. Unschädlich ist, dass der Kläger das Eventualverhältnis nicht ausdrücklich in der Fassung seiner Anträge zum Ausdruck gebracht hat (vgl. etwa BAG 21. März 2017 – 3 AZR 464/15 – Rn. 46 mwN).
26
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Zwanziger
Ahrendt
Wemheuer
Schmalz
Schultz |
bag_21-19 | 16.05.2019 | 16.05.2019
21/19 - Verhältnis des Beschäftigungsanspruchs schwerbehinderter Menschen zur unternehmerischen Organisationsfreiheit
Im bestehenden Arbeitsverhältnis können Schwerbehinderte nach § 164 Abs. 4 SGB IX (bis 31. Dezember 2017: § 81 Abs. 4 SGB IX aF) von ihrem Arbeitgeber bis zur Grenze der Zumutbarkeit die Durchführung des Arbeitsverhältnisses entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation verlangen. Dies gibt schwerbehinderten Menschen jedoch keine Beschäftigungsgarantie. Der Arbeitgeber kann eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz des Schwerbehinderten durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Dessen besonderer Beschäftigungsanspruch ist dann erst bei der Prüfung etwaiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen freien Arbeitsplatz zu berücksichtigen.
Der schwerbehinderte Kläger war langjährig bei der insolventen Arbeitgeberin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterfiel einem tariflichen Sonderkündigungsschutz. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt im Rahmen des zunächst in Eigenverwaltung betriebenen Insolvenzverfahrens, nachdem sie mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste iSd. § 125 Abs. 1 InsO geschlossen hatte. Die Namensliste enthält den Namen des Klägers, dessen Arbeitsplatz wegen Umverteilung der noch verbliebenen Aufgaben nicht mehr besetzt werden muss. Die Hilfstätigkeiten, die er verrichtete, werden nunmehr von den verbliebenen Fachkräften miterledigt. Andere Tätigkeiten kann der Kläger nicht ausüben. Er hält die Kündigung dennoch für unwirksam und beruft sich auf den tariflichen Sonderkündigungsschutz sowie den Beschäftigungsanspruch aus § 81 Abs. 4 SGB IX aF.
Die Vorinstanzen haben seine Kündigungsschutzklage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die streitgegenständliche Kündigung hat das Arbeitsverhältnis beendet. Der tarifliche Sonderkündigungsschutz zeigt gemäß § 113 Satz 1 InsO keine Wirkung. Hiergegen bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Beschäftigungsanspruch aus § 81 Abs. 4 SGB IX aF kommt mangels geeigneter Weiterbeschäftigungsmöglichkeit nicht zum Tragen. Die Arbeitgeberin war nicht verpflichtet, für den Kläger einen Arbeitsplatz zu schaffen oder zu erhalten, den sie nach ihrem Organisationskonzept nicht mehr benötigt.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Mai 2019 – 6 AZR 329/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 5. Januar 2018 – 16 Sa 1410/16 – | Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 5. Januar 2018 – 16 Sa 1410/16 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Der Arbeitgeber darf bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz eines schwerbehinderten Menschen durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Die in § 164 Abs. 4 SGB IX (bis 31. Dezember 2017: § 81 Abs. 4 SGB IX aF) vorgesehenen Ansprüche schwerbehinderter Menschen sind lediglich bei der Prüfung einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu berücksichtigen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
2
Der 1961 geborene Kläger ist von Geburt an in seinen geistigen Erkenntnis- und Steuerungsmöglichkeiten eingeschränkt und deshalb als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Seit 1982 war er bei der G GmbH & Co. KG (im Folgenden Schuldnerin) beschäftigt. Die Schuldnerin betreibt eine Stahlgießerei. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen Anwendung. Gemäß § 20 Nr. 4 des Manteltarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen (MTV) vom 18. Dezember 2003 kann Beschäftigten, die das 55., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb/Unternehmen zehn Jahre angehören, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Dies gilt jedoch ua. nicht für betriebsbedingte Kündigungen aufgrund von Betriebsänderungen, wenn ein anderer zumutbarer Arbeitsplatz nicht vorhanden ist.
3
Der Kläger wurde laut arbeitsvertraglicher Vereinbarung als „Kernmacher – Anlernling“ angestellt. Dementsprechend führte der Kläger in der sog. Kernmacherei im Wesentlichen einfache Hilfstätigkeiten aus. An Maschinen und Anlagen in anderen Abteilungen wurde er nicht eingesetzt. Zur Übernahme höherwertiger Tätigkeiten war und ist er wegen seiner Behinderung nicht imstande. In der Kernmacherei waren neben dem Kläger vier Kernmacher beschäftigt.
4
Bereits seit dem Jahr 2012 verzeichnete die Schuldnerin erhebliche Umsatzrückgänge und Verluste. Während im Geschäftsjahr 2013 noch 915 Tonnen Fertigguss bearbeitet wurden, wurde im Jahr 2015 eine Tonnage von lediglich 596 Tonnen erreicht. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 29. März 2016 (- 100 IN 8/16 -) wurde über das Vermögen der Schuldnerin auf ihren Antrag hin das Insolvenzverfahren eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Noch am selben Tag vereinbarten die Schuldnerin und der bei ihr gebildete Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, der die betriebsbedingte Kündigung von 17 der damals 73 Mitarbeiter vorsieht, darunter die des Klägers. Für die Kernmacherei ist aufgrund der reduzierten Tonnage der Abbau eines Arbeitsplatzes vorgesehen. Die bislang vom Kläger durchgeführten Hilfstätigkeiten werden von den Kernmachern mitübernommen, die aufgrund der zurückgegangenen Auftragsmenge hierzu in der Lage sind. Hinsichtlich der Sozialauswahl enthält der Interessausgleich ein Punkteschema, welches Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung berücksichtigt. Der Betriebsrat bestätigt im Interessenausgleich, die entsprechenden Sozialdaten erhalten zu haben und das bezüglich der beabsichtigten Kündigungen nach § 102 BetrVG eingeleitete Anhörungsverfahren als abgeschlossen anzusehen. Nach § 5 des Interessenausgleichs sind sich die Betriebsparteien zudem darüber einig, dass mit dem Interessenausgleich zugleich die Auskunftserteilung und Unterrichtung gegenüber dem Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erfolgte und dessen Stellungnahme zur geplanten Massenentlassung gemäß § 125 Abs. 2 InsO iVm. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzt wird.
5
Am 30. März 2016 erstattete die Schuldnerin bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine auf den 29. März 2016 datierte Massenentlassungsanzeige. Ebenfalls am 30. März 2016 zeigte der Sachwalter beim Insolvenzgericht die drohende Masseunzulänglichkeit an.
6
Nachdem das Integrationsamt mit Schreiben vom 26. April 2016 die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung erteilt hatte, kündigte die Schuldnerin das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27. April 2016 zum 31. Juli 2016.
7
Mit seiner am 18. Mai 2016 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat er die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Sie verstoße gegen den tariflichen Sonderkündigungsschutz. Zudem sei kein hinreichender Kündigungsgrund gegeben. Die von ihm erbrachten Tätigkeiten seien auch künftig zu verrichten. Einer Übertragung seiner Aufgaben auf andere Mitarbeiter stehe sein gesetzlicher Beschäftigungsanspruch als schwerbehinderter Mensch entgegen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung; ab 1. Januar 2018: § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX). Zudem sei die getroffene Sozialauswahl grob fehlerhaft. Die Mitarbeiter F und M hätten nicht als sog. Leistungsträger aus der Sozialauswahl herausgenommen werden dürfen. In der sog. Waschkaue werde ein ebenfalls ungelernter Mitarbeiter weiterbeschäftigt.
8
Der Kläger hat vor dem Landesarbeitsgericht beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27. April 2016 nicht beendet worden ist,
2.
die Beklagte im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Kernmacher/Former weiterzubeschäftigen.
9
Die Schuldnerin hat die Abweisung der Klage beantragt. Die Kündigung sei rechtswirksam. Auf den tariflichen Sonderkündigungsschutz könne sich der Kläger gemäß § 113 Satz 1 InsO nicht berufen. Aufgrund des formgerecht zustande gekommenen Interessenausgleichs mit Namensliste greife die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 InsO. Diese habe der Kläger nicht widerlegt. Sein Arbeitsplatz sei durch die Umorganisation der Hilfstätigkeiten in der Kernmacherei entfallen. Angesichts der drohenden Masseunzulänglichkeit habe kein Handlungsspielraum bestanden, einen zusätzlichen Arbeitsplatz im bisherigen „einfachen“ Zuschnitt beizubehalten.
10
Die Sozialauswahl, die ohnehin nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen sei, sei nicht zu beanstanden. Der in der Waschkaue weiterbeschäftigte Mitarbeiter habe nach dem im Interessenausgleich vereinbarten Punkteschema 128,5 Punkte erreicht, der Kläger nur 127,5 Punkte. Die Mitarbeiter F und M seien in einer anderen Betriebsabteilung mit Aufgaben betraut, die der Kläger nicht beherrschen könne.
11
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageziele weiter. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 5. Juli 2018 wurde die Anordnung der Eigenverwaltung aufgehoben und der nunmehrige Beklagte zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin bestimmt. Der Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
12
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die Kündigungsschutzklage ist unbegründet. Der für den Fall des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag gestellte Weiterbeschäftigungsantrag ist daher nicht zur Entscheidung angefallen.
13
I. Die Revision ist zulässig. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist sie ausreichend begründet.
14
1. Zur ordnungsgemäßen Begründung der Revision müssen nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO die Revisionsgründe angegeben werden. Die Revisionsbegründung muss die Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs erkennbar sind. Daher muss die Revisionsbegründung eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen des angefochtenen Urteils enthalten (BAG 6. September 2018 – 6 AZR 836/16 – Rn. 11, BAGE 163, 257; 29. August 2018 – 7 AZR 144/17 – Rn. 11).
15
2. Die hier vorliegende Revisionsbegründung genügt diesen Anforderungen.
16
a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger habe die nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO bestehende Vermutung des Vorliegens dringender betrieblicher Erfordernisse, die seiner Weiterbeschäftigung entgegenstehen, nicht widerlegt. Auch bei Berücksichtigung der Schwerbehinderung des Klägers sei die Schuldnerin nicht verpflichtet gewesen, die beabsichtigte Umverteilung der Arbeitsaufgaben in der sog. Kernmacherei zu unterlassen bzw. wieder rückgängig zu machen. Sie sei auch nicht verpflichtet gewesen, für den Kläger einen anderen, zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten. Die damit verbundenen Aufwendungen seien angesichts der masseunzulänglichen Insolvenz nicht zumutbar gewesen. Die Kündigung sei auch nicht wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam. Sowohl die Betriebsratsanhörung als auch das Massenentlassungsverfahren seien ordnungsgemäß durchgeführt worden. Schließlich scheitere die Wirksamkeit der Kündigung auch nicht am Eingreifen des tariflichen Sonderkündigungsschutzes. Dieser gelte nicht, falls kein anderer zumutbarer Arbeitsplatz vorhanden sei. Zudem nehme § 113 Satz 1 InsO dem tariflichen Sonderkündigungsschutz die Wirkung.
17
b) Die Revision führt hiergegen an, die Schuldnerin habe dem gesetzlichen Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Klägers nicht dadurch „entgehen“ können, dass sie seine Tätigkeiten aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung von anderen Arbeitnehmern miterledigen lasse. Die Organisationsänderung sei rückgängig zu machen oder ein anderer Arbeitsplatz für den Kläger zu schaffen. Der gesetzliche Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Menschen werde durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht eingeschränkt. Hinsichtlich der angeblichen Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung fehle hinreichender Sachvortrag. Die Insolvenz bewirke für sich genommen auch bei Masseunzulänglichkeit nicht die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung. Zudem könne eine Masseunzulänglichkeit im Laufe des Insolvenzverfahrens wieder entfallen. Das Fehlen eines zumutbaren Arbeitsplatzes stehe dem Eingreifen des tariflichen Sonderkündigungsschutzes daher nicht entgegen. Dieser könne auch nicht gemäß § 113 Satz 1 InsO unbeachtet bleiben. Dem stünden mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtliche Bedenken entgegen.
18
c) Die Revision stützt sich damit hinsichtlich der Reichweite des Beschäftigungsanspruchs schwerbehinderter Menschen und der Verfassungskonformität des § 113 Satz 1 InsO auf Rechtsauffassungen, die zu einer anderen Entscheidung führen würden. Die Revisionsangriffe sind klar erkennbar. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist deshalb unerheblich, dass die Revisionsbegründung sich zu etwaigen weiteren Rechtsfragen nicht verhält. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere ohne Belang, dass das Landesarbeitsgericht die Revision „im Hinblick auf die entscheidungserhebliche Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Pflichten des Arbeitgebers aus § 164 Abs. 3 und 4 SGB IX dem Wegfall eines leidensgerechten Arbeitsplatzes durch Umverteilung der Aufgaben entgegenstehen“, zugelassen hat und die Revisionsbegründung sich mit § 164 Abs. 3 SGB IX nicht befasst. Das Landesarbeitsgericht hat mit seinen Ausführungen dazu, warum es die Revision zugelassen hat, nur verdeutlicht, inwieweit es dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat. Dies hat keine Auswirkungen auf die Begründungsanforderungen der Revision. Die Revision kann ohne Rücksicht auf den aus Sicht des Berufungsgerichts maßgeblichen Zulassungsgrund in zulässiger Weise begründet werden (vgl. GK-ArbGG/Mikosch Stand September 2017 § 72 Rn. 54; GWBG/Benecke ArbGG 8. Aufl. § 72 Rn. 51).
19
II. Die Revision ist jedoch unbegründet. Die streitgegenständliche Kündigung vom 27. April 2016 hat das Arbeitsverhältnis unter Wahrung der Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO zum 31. Juli 2016 aufgelöst.
20
1. Die Kündigung ist nicht wegen eines Verstoßes gegen den tariflichen Sonderkündigungsschutz unwirksam.
21
a) Nach § 20 Nr. 4 MTV kann Beschäftigten, die das 55., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb/Unternehmen zehn Jahre angehören, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung erfüllte der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für das Eingreifen des tariflichen Sonderkündigungsschutzes.
22
b) Dieser kommt jedoch gemäß § 113 Satz 1 InsO nicht zur Anwendung.
23
aa) Nach § 113 Satz 1 InsO kann ein Dienstverhältnis, bei dem der Schuldner der Dienstberechtigte ist, vom Insolvenzverwalter und vom anderen Teil ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden. Die Norm findet gemäß § 279 Satz 1 InsO auch in Fällen der Eigenverwaltung Anwendung (BAG 23. Februar 2017 – 6 AZR 665/15 – Rn. 29, BAGE 158, 214). Das Kündigungsrecht kann nicht durch einzelvertragliche, tarifvertragliche oder sonstige kollektivrechtliche Vereinbarung ausgeschlossen werden (BAG 17. November 2005 – 6 AZR 107/05 – Rn. 17, BAGE 116, 213). Tarifvertraglich unkündbare Arbeitsverhältnisse sind daher im Insolvenzverfahren ordentlich kündbar (BAG 20. September 2006 – 6 AZR 249/05 – Rn. 18 f.; 19. Januar 2000 – 4 AZR 70/99 – zu II 2 der Gründe).
24
bb) Dies stellt keinen ungerechtfertigten Eingriff in die nach Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie dar (MüKoInsO/Caspers 3. Aufl. § 113 Rn. 15; FK-InsO/Eisenbeis 9. Aufl. § 113 Rn. 29 f.; Giesen in Jaeger InsO § 113 Rn. 14 ff.; Röger/Hützen Insolvenzarbeitsrecht § 5 Rn. 45; APS/Künzl 5. Aufl. InsO § 113 Rn. 6; MHdB ArbR/Krumbiegel 4. Aufl. Bd. 2 § 122 Rn. 11; HK-InsO/Linck 9. Aufl. § 113 Rn. 16; Graf-Schlicker/Pöhlmann/Kubusch InsO 4. Aufl. § 113 Rn. 19; KPB/Moll InsO Stand September 2017 § 113 Rn. 124 ff.; kritisch Däubler/Deinert/Zwanziger/Däubler KSchR 10. Aufl. § 113 InsO Rn. 29 ff.; Zwanziger Arbeitsrecht der Insolvenzordnung 5. Aufl. § 113 Rn. 29 mwN).
25
(1) Der Kläger hat bereits nicht vorgetragen, dass der MTV auf das Arbeitsverhältnis mit der Schuldnerin kraft beiderseitiger Tarifbindung Anwendung fand. Nur in einem solchen Fall kommt jedoch eine Verletzung der Tarifautonomie überhaupt in Betracht. Bei bloßer Inbezugnahme gilt der tarifliche Kündigungsausschluss nur auf vertraglicher Grundlage und wird als Vertragsrecht ohne Weiteres von § 113 Satz 1 InsO verdrängt (Zwanziger Arbeitsrecht der Insolvenzordnung 5. Aufl. § 113 Rn. 33).
26
(2) Auch wenn zugunsten des Klägers unterstellt wird, dass beiderseitige Tarifbindung bestand, ist die Tarifautonomie durch § 113 Satz 1 InsO nicht verletzt. Zwar liegt dann ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vor. Gesetzliche Regelungen, die eine Beeinträchtigung des Art. 9 Abs. 3 GG bewirken, können jedoch zugunsten der Grundrechte Dritter sowie sonstiger mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte und Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 143, BVerfGE 146, 71). Das Bundesverfassungsgericht hat es als naheliegend angesehen, dass der Eingriff in die Tarifautonomie durch das vom Gesetzgeber mit § 113 InsO verfolgte Ziel gerechtfertigt sein könnte (BVerfG 8. Februar 1999 – 1 BvL 25/97 – zu II 2 b der Gründe; vgl. auch BVerfG 21. Mai 1999 – 1 BvL 22/98 – zu II 2 b bb der Gründe; KR/Spelge 12. Aufl. § 113 InsO Rn. 19).
27
(3) Dies ist der Fall. In der Insolvenzsituation ist die Unwirksamkeit eines tariflichen Sonderkündigungsschutzes gerechtfertigt. § 113 InsO dient dem Ausgleich zwischen den sozialen Belangen der Arbeitnehmer des insolventen Unternehmens auf der einen und den Interessen der Insolvenzgläubiger am Erhalt der Masse als Grundlage ihrer Befriedigung auf der anderen Seite (BAG 23. Februar 2017 – 6 AZR 665/15 – Rn. 50, BAGE 158, 214; 19. November 2015 – 6 AZR 559/14 – Rn. 39, BAGE 153, 271). Das Entstehen von Masseschulden durch fortbestehende Arbeitsverhältnisse soll begrenzt werden, da der Insolvenzverwalter in der Regel keinen Beschäftigungsbedarf mehr hat und zulasten der anderen Gläubiger Ansprüche ohne eine Gegenleistung entstünden, wodurch diese wiederum in ihrem Grundrecht nach Art. 14 Abs. 1 GG beeinträchtigt würden. Eine allzu lange Bindung an nicht mehr sinnvolle Arbeitsverhältnisse soll daher verhindert werden (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 148). Dem widersprechen (tarifvertragliche) Unkündbarkeitsklauseln (BAG 20. September 2006 – 6 AZR 249/05 – Rn. 19; 22. September 2005 – 6 AZR 526/04 – zu II 1 a der Gründe, BAGE 116, 19; 16. Juni 1999 – 4 AZR 191/98 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 92, 41). Neben einer übermäßigen Belastung der Masse könnte eine Fortgeltung tariflicher Bestandsschutzregelungen zudem eine mögliche Sanierung gefährden. Insbesondere würde die zu diesem Zweck durch § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 InsO ermöglichte Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur konterkariert, wenn eine bestimmte Beschäftigtengruppe ordentlich unkündbar wäre (vgl. BAG 19. Januar 2000 – 4 AZR 70/99 – zu II 4 der Gründe; Nerlich/Römermann/Hamacher InsO Stand November 2011 § 113 Rn. 50; Uhlenbruck/Zobel 15. Aufl. § 113 InsO Rn. 69). Eine solche Einschränkung der Sanierungsfähigkeit würde Gemeinwohlbelange missachten (vgl. zum Interesse der Allgemeinheit an Sanierungen BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 27, BAGE 147, 89). Die mit § 113 Satz 1 InsO verbundene Beeinträchtigung der Tarifautonomie steht auch nicht außer Verhältnis zu den dargestellten Zwecken dieser Norm. Zwar weist die Revision zu Recht darauf hin, dass die Durchbrechung des tariflichen Schutzes vor ordentlichen Kündigungen die betroffenen Arbeitnehmer erheblich und uU stärker als andere Insolvenzgläubiger belastet. Ohne die Möglichkeit des Insolvenzverwalters, sinnentleerte Arbeitsverhältnisse beenden zu können, lässt sich jedoch die Funktionsfähigkeit des Insolvenzverfahrens nicht sichern. Der Gesetzgeber hat die Schwere der Belastung der betroffenen Arbeitnehmer zudem dadurch gemildert, dass er keine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern eine Kündigungsfrist von drei Monaten vorgesehen hat. Darüber hinaus hat er in § 113 Satz 3 InsO eine – wenn auch lediglich im Range einer Insolvenzforderung stehende – finanzielle Entschädigung in Form des Anspruchs auf verschuldensunabhängigen Ersatz des sog. Verfrühungsschadens geschaffen. In der Gesamtschau ist die Durchbrechung tariflichen Sonderkündigungsschutzes durch § 113 InsO deshalb verhältnismäßig im engeren Sinn (vgl. KPB/Moll InsO Stand September 2017 § 113 Rn. 126; vgl. zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn BVerfG 21. März 2018 – 1 BvF 1/13 – Rn. 49, BVerfGE 148, 40).
28
2. Dessen ungeachtet würde der tarifliche Kündigungsschutz nach § 20 Nr. 4 MTV hier nicht eingreifen, da eine Betriebsänderung zum Wegfall des bisherigen Arbeitsplatzes des Klägers geführt hat und ein anderer zumutbarer Arbeitsplatz nicht vorhanden ist. Die Kündigung vom 27. April 2016 ist durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 Var. 3 KSchG bedingt, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen. Das Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die diesbezügliche Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht widerlegt ist.
29
a) Es liegt ein formwirksamer Interessenausgleich mit Namensliste vor, der bei unveränderter Sachlage (§ 125 Abs. 1 Satz 2 InsO) die Rechtsfolgen des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO auslöst. Die Schuldnerin war gemäß § 279 Satz 1 InsO im Rahmen der Eigenverwaltung berechtigt, einen solchen Interessenausgleich abzuschließen. Eine Betriebsänderung iSv. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG war gegeben. Um eine Betriebsänderung handelt es sich auch bei einem bloßen Personalabbau, wenn die Zahlen und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG erreicht sind (st. Rspr., vgl. zB BAG 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 17, BAGE 143, 150; 19. Juli 2012 – 2 AZR 352/11 – Rn. 17, BAGE 142, 339). Der Personalabbau überschritt hier die Zahlenwerte des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG. Von 73 Arbeitnehmern sollten 17 gekündigt werden. Dies sind mehr als zehn vom Hundert der Belegschaft. Insoweit besteht zwischen den Parteien kein Streit.
30
b) Aufgrund der namentlichen Benennung des Klägers in der Namensliste des Interessenausgleichs wird nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung vom 27. April 2016 durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen, bedingt ist. Diese Vermutung wäre widerlegt, wenn der Kläger substantiiert dargelegt und im Bestreitensfall bewiesen hätte, dass der nach dem Interessenausgleich in Betracht kommende betriebliche Grund in Wirklichkeit nicht besteht (BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 19, BAGE 147, 89) oder die beabsichtigte Änderung der betrieblichen Aufgabenverteilung aus rechtlichen Gründen nicht umgesetzt werden darf.
31
c) Dies ist dem Kläger nicht gelungen.
32
aa) Er bestreitet die Umverteilung seiner bisherigen Aufgaben auf die anderen in der Kernmacherei tätigen Mitarbeiter nicht und behauptet auch nicht, diese würden hierdurch übermäßig belastet (vgl. hierzu BAG 12. März 2009 – 2 AZR 418/07 – Rn. 24; ErfK/Gallner 19. Aufl. InsO § 125 Rn. 8). Insoweit greift er die gesetzliche Vermutung nicht an. Damit steht fest, dass nach dem neuen Organisationskonzept das Beschäftigungsbedürfnis für den Kläger auf seinem bisherigen Arbeitsplatz entfallen ist, auch wenn die von ihm bislang verrichteten Tätigkeiten – in geringerem Umfang – noch zu erledigen sind.
33
bb) Der Kläger verlangt jedoch unter Berufung auf seinen gesetzlichen Beschäftigungsanspruch als schwerbehinderter Mensch die Rückgängigmachung der Organisationsänderung, die zum Wegfall seines bisherigen Arbeitsplatzes geführt hat, oder die Schaffung eines zusätzlichen, auf ihn zugeschnittenen Arbeitsplatzes. Hierauf hat er keinen Anspruch. Der Arbeitgeber darf eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz des schwerbehinderten Menschen durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Dessen Beschäftigungsanspruch ist dann erst bei der Prüfung etwaiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen freien Arbeitsplatz zu berücksichtigen. Ist eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auch unter Beachtung dieses besonderen Anspruchs nicht vorhanden, kann eine betriebsbedingte Kündigung nach den kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften sozial gerechtfertigt sein.
34
(1) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist dem Senat eine Prüfung der Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung unter dem Gesichtspunkt der im SGB IX kodifizierten Beschäftigungspflicht nicht verwehrt, weil das Verwaltungsgericht Arnsberg mit Urteil vom 21. November 2017 – 11 K 5022/16 – bereits rechtskräftig entschieden hat, dass die Zustimmung des Integrationsamts zur ordentlichen Kündigung des Klägers zu Recht erteilt wurde. Das Verwaltungsgericht hat zwar ebenso wie das Integrationsamt die §§ 85 ff. SGB IX aF bezogen auf die beabsichtigte Kündigung des Klägers geprüft. Bei Berücksichtigung des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Gerichtszweige hindert dies die Gerichte für Arbeitssachen aber nicht an einer Prüfung der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften, auch wenn diese im Kontext zu Normen des SGB IX stehen, welche ebenso im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu beachten sind (vgl. BAG 23. Mai 2013 – 2 AZR 991/11 – Rn. 28, BAGE 145, 199).
35
(2) Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen gegenüber ihrem Arbeitgeber einen Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Dieser wird flankiert durch Ansprüche auf behinderungsgerechte Arbeitsstätten und Arbeitsplätze einschließlich der Arbeitsorganisation (vgl. § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX). Solche Ansprüche bestehen allerdings nicht, soweit ihre Erfüllung für den Arbeitgeber nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre (§ 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 3 SGB IX). Im bestehenden Arbeitsverhältnis können schwerbehinderte Menschen daher bis zur Grenze der Zumutbarkeit die Durchführung des Arbeitsverhältnisses entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation verlangen. Dies führt zu einer Einschränkung der Organisationsfreiheit des Arbeitgebers, denn dieser ist zu einer behinderungsgerechten (Um-)Gestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet, um den Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen zu erfüllen. Gegebenenfalls hat er eine diesem entgegenstehende betriebliche Umstrukturierung sogar rückgängig zu machen (vgl. BAG 14. März 2006 – 9 AZR 411/05 – Rn. 26; zur Einschränkung der unternehmerischen Freiheit vgl. auch Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 164 Rn. 178; Gutzler in Hauck/Noftz SGB IX Stand November 2017 K § 164 Rn. 38). Kann ein schwerbehinderter Arbeitnehmer die vertraglich geschuldeten Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dies nicht ohne Weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs. Er kann dann vielmehr einen Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht erfasst, eine entsprechende Vertragsänderung verlangen (BAG 15. Oktober 2013 – 1 ABR 25/12 – Rn. 24). Dabei ist er nicht verpflichtet, den Arbeitgeber vorab auf Zustimmung zur Vertragsänderung zu verklagen. Der Anspruch auf eine den Kenntnissen und Fähigkeiten des schwerbehinderten Menschen angepasste Beschäftigung (Neumann in Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben SGB IX 13. Aufl. § 164 Rn. 25) besteht vielmehr unmittelbar kraft Gesetzes (BAG 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – zu B II 1 der Gründe, BAGE 114, 299; insoweit kritisch Boecken RdA 2012, 210, 213). Der schwerbehinderte Mensch kann zudem beanspruchen, in einem seiner Behinderung Rechnung tragenden zeitlichen Umfang eingesetzt zu werden, wenn die verlangte Beschäftigung dem Arbeitgeber zumutbar ist (vgl. BAG 17. März 2016 – 6 AZR 221/15 – Rn. 43, BAGE 154, 268).
36
(3) § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX geben dem schwerbehinderten Menschen jedoch keine Beschäftigungsgarantie. Diese Vorgaben des SGB IX betreffen ausgehend von dem konkreten Gesundheitszustand des einzelnen schwerbehinderten Menschen nur die Durchführung des Arbeitsverhältnisses. Die unternehmerische Entscheidungsfreiheit bezüglich der Organisation des Betriebs bleibt im Übrigen unberührt. Der Arbeitgeber ist durch die gesetzliche Regelung nicht gehindert, eine Organisationsentscheidung zu treffen, die zum Entfall des Arbeitsplatzes eines schwerbehinderten Menschen führt. Die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung hängt dann bezogen auf das Beschäftigungsbedürfnis allein von der Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz ab. Ist eine Beschäftigung auf dem bisherigen oder einem anderen freien Arbeitsplatz nicht möglich, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, für den schwerbehinderten Menschen einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten (vgl. BAG 14. März 2006 – 9 AZR 411/05 – Rn. 19; 22. November 2005 – 1 ABR 49/04 – Rn. 33, BAGE 116, 223; 4. Oktober 2005 – 9 AZR 632/04 – Rn. 23, BAGE 116, 121; 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – zu B II 1 der Gründe, BAGE 114, 299; Neumann in Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben SGB IX 13. Aufl. § 164 Rn. 25; MHdB ArbR/Zimmermann 4. Aufl. Bd. 2 § 198 Rn. 61). Das SGB IX verlangt zudem nicht die Entlassung anderer Arbeitnehmer, um den Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Menschen verwirklichen zu können. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorhandensein freier Arbeitsplätze. Danach scheidet eine Pflicht des Arbeitgebers zur „Freikündigung“ jedenfalls dann aus, wenn der Inhaber der infrage kommenden Stelle den allgemeinen Kündigungsschutz genießt (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 664/13 – Rn. 32 ff. mwN).
37
(4) § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX verbieten dem Arbeitgeber dementsprechend nicht, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, welche das Beschäftigungsbedürfnis für einen schwerbehinderten Menschen entfallen lässt. Die Norm gewährt keinen absoluten Schutz vor einer betriebsbedingten Kündigung, wie der Kläger annimmt. Der gesetzliche Beschäftigungsanspruch hat vielmehr nur Bedeutung für die im Rahmen der allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzvorschriften zu prüfenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten.
38
(a) Findet der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (noch) keine Anwendung auf ein Arbeitsverhältnis, ist eine ordentliche Kündigung, die einen Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung diskriminiert, nach § 134 BGB iVm. § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG unwirksam (vgl. BAG 23. Juli 2015 – 6 AZR 457/14 – Rn. 23, BAGE 152, 134; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 14 ff., BAGE 147, 60). Bei der Prüfung von Kündigungen, die dem Kündigungsschutzgesetz unterfallen, sind die Diskriminierungsverbote des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als Konkretisierungen der Sozialwidrigkeit zu beachten (vgl. BAG 20. Juni 2013 – 2 AZR 295/12 – Rn. 36, BAGE 145, 296; 6. November 2008 – 2 AZR 523/07 – Rn. 34 ff., BAGE 128, 238). Auch einem schwerbehinderten Menschen kann daher wirksam gekündigt werden, wenn die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse, die seiner Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.
39
(aa) Dringende betriebliche Erfordernisse liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen Entscheidung spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Ein kündigungsrechtlich relevanter Rückgang des Arbeitskräftebedarfs kann auch aus einer organisatorischen Maßnahme des Arbeitgebers folgen, die ökonomisch nicht zwingend geboten war. Eine solche unternehmerische Entscheidung ist gerichtlich nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur daraufhin, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist (vgl. BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 32 f.). Im Insolvenzfall kommt bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO zum Tragen.
40
(bb) Dies gilt auch bei der Kündigung schwerbehinderter Menschen. Im Hinblick auf eine etwaige Sozialauswahl verschlechtert § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO die Rechtsposition dieser sogar, denn die Schwerbehinderung ist – anders als bei § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG – nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kein Kriterium bei der ohnehin eingeschränkten Nachprüfung der sozialen Auswahl (vgl. BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 22, BAGE 147, 89). Hinsichtlich des besonderen Kündigungsschutzes beschränkte sich das SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung darauf, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen nach § 85 SGB IX aF von der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts abhängig zu machen. Dieses sollte jedoch bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers unter den Voraussetzungen des § 89 Abs. 3 SGB IX aF seine Zustimmung erteilen. Hieran hat die Neufassung des SGB IX nichts geändert (vgl. §§ 168, 172 Abs. 3 SGB IX). Seit dem 1. Januar 2018 ist allerdings zudem die Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zu beteiligen, anderenfalls ist die Kündigung unwirksam (§ 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX).
41
(b) Der Gesetzgeber hat damit sowohl den allgemeinen als auch den besonderen Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen differenziert ausgestaltet. § 81 Abs. 4 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 SGB IX sind keine Bestandteile dieses Regelungssystems. Die Vorschriften beziehen sich auf die Durchführung, nicht auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen. Dementsprechend knüpfen § 81 Abs. 4 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 SGB IX jeweils an die konkrete Situation des schwerbehinderten Menschen in Bezug auf seinen Gesundheitszustand, seinen Bedarf an beruflicher Bildung sowie sein Arbeitsumfeld an. Der im SGB IX kodifizierte Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen geht von der Durchführung, dh. dem Fortbestand, des Arbeitsverhältnisses aus.
42
(5) Auch wenn § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX damit einer unternehmerischen Entscheidung, welche den Beschäftigungsbedarf durch eine Umverteilung der bisher von dem betroffenen schwerbehinderten Menschen ausgeübten Tätigkeiten entfallen lässt, nicht entgegenstehen, ist diese Entscheidung nicht gänzlich unangreifbar.
43
(a) In Fällen, in denen die Organisationsentscheidung des Arbeitgebers und sein Kündigungsentschluss praktisch deckungsgleich sind, muss der Arbeitgeber seine Entscheidung hinsichtlich ihrer organisatorischen Durchführbarkeit und zeitlichen Nachhaltigkeit verdeutlichen (BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 34 mwN; 24. Mai 2012 – 2 AZR 124/11 – Rn. 23). Es sollen Kündigungen vermieden werden, die zu einer rechtswidrigen Überforderung oder Benachteiligung des im Betrieb verbleibenden Personals führen. Außerdem soll verhindert werden, dass die unternehmerische Entscheidung lediglich als Vorwand benutzt wird, um Arbeitnehmer aus dem Betrieb zu drängen, obwohl Beschäftigungsbedarf und Beschäftigungsmöglichkeit fortbestehen und lediglich die Arbeitsvertragsinhalte und die gesetzlichen Kündigungsschutzbestimmungen als zu belastend angesehen werden (BAG 27. April 2017 – 2 AZR 67/16 – Rn. 34, BAGE 159, 82; vgl. auch BAG 18. Juni 2015 – 2 AZR 480/14 – Rn. 34, BAGE 152, 47). Diese gesteigerte Darlegungslast des Arbeitgebers schützt auch schwerbehinderte Arbeitnehmer. Eine Verschlechterung ihrer Position im Kündigungsschutzprozess müssen sie ebenso wie nicht behinderte Arbeitnehmer allenfalls durch § 1 Abs. 5 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO hinnehmen.
44
(b) Selbst wenn der Arbeitgeber die organisatorische Durchführbarkeit seiner Organisationsentscheidung dargelegt hat oder diese nach § 1 Abs. 5 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet wird, unterliegt seine unternehmerische Entscheidung noch einer Missbrauchskontrolle. Diese soll Verstöße gegen gesetzliche und tarifliche Normen genauso verhindern wie Diskriminierung und Umgehungsfälle (vgl. BAG 27. Januar 2011 – 2 AZR 9/10 – Rn. 18; 21. September 2006 – 2 AZR 607/05 – Rn. 31). Inhaltlich kommt die Missbrauchskontrolle dann einer echten Rechtskontrolle gleich (vgl. hierzu APS/Kiel 5. Aufl. KSchG § 1 Rn. 458; ErfK/Oetker 19. Aufl. KSchG § 1 Rn. 240; Däubler/Deinert/Zwanziger/Deinert KSchR 10. Aufl. § 1 KSchG Rn. 270). Einer solchen Kontrolle hält die Organisationsentscheidung nicht stand, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer beweisen kann, dass sie getroffen wurde, um sich den Belastungen zu entziehen, welche aus den besonderen Rechten schwerbehinderter Menschen folgen. Dies wäre eine nach § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG verbotene Diskriminierung wegen der Behinderung.
45
(6) Ist eine solch gesetzwidrige Zielsetzung nicht feststellbar und hält die unternehmerische Entscheidung auch sonst einer gerichtlichen Kontrolle stand, so kann die betriebsbedingte Kündigung eines schwerbehinderten Menschen bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen sozial gerechtfertigt sein, wenn für ihn im Kündigungszeitpunkt keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit besteht (vgl. hierzu BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 476/16 – Rn. 26, 31 mwN). Bei der Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit sind allerdings die in § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 SGB IX vorgesehenen Ansprüche schwerbehinderter Menschen zu berücksichtigen (siehe oben Rn. 37 ff., vgl. auch KR/Rachor 12. Aufl. § 1 KSchG Rn. 244). Dies hat zur Folge, dass der Arbeitgeber, soweit zumutbar, einem spezifischen Umschulungs- und Fortbildungsbedarf nachkommen muss und gegebenenfalls eine behinderungsgerechte Einrichtung des freien Arbeitsplatzes vorzunehmen hat.
46
(7) Im vorliegenden Fall ist die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht widerlegt. Ausgehend vom Sachvortrag des Klägers sind keine Anzeichen dafür ersichtlich, dass die Schuldnerin im Rahmen der Eigenverwaltung den vom Kläger besetzten Arbeitsplatz hat entfallen lassen, um ihren besonderen Verpflichtungen gegenüber dem schwerbehinderten Kläger zu „entgehen“. Der Kläger hat auch keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem freien Arbeitsplatz aufgezeigt, weder zu unveränderten noch zu veränderten Bedingungen. Er hat nur die Rückgängigmachung der Organisationsänderung oder die Schaffung eines neuen Arbeitsplatzes gefordert. Hierauf hat er – ohne dass es auf Zumutbarkeitserwägungen ankäme – aus den dargelegten Gründen keinen Anspruch.
47
(8) Die Schuldnerin erfüllte auch nach den auf der Grundlage des Interessenausgleichs mit Namensliste erfolgten Kündigungen noch die Mindestbeschäftigungsquote des § 71 Abs. 1 SGB IX aF bzw. § 154 Abs. 1 SGB IX. Dessen ungeachtet hätte ein Unterschreiten dieser Quote die unternehmerische Entscheidungsfreiheit der Schuldnerin bezogen auf die Anzahl der zu besetzenden Arbeitsplätze nicht nach § 81 Abs. 3 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 3 SGB IX eingeschränkt. Diese Vorschriften knüpfen zwar an die Beschäftigungspflicht nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF bzw. § 154 Abs. 1 SGB IX an und verpflichten den Arbeitgeber zur Schaffung der tatsächlichen Voraussetzungen dafür, dass im Rahmen der von ihm vorgegebenen Belegschaftsstärke wenigstens die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen eine möglichst dauerhafte behinderungsgerechte Beschäftigung finden kann. Sie begründen jedoch nur eine Organisationspflicht des Arbeitgebers, ohne Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen zu schaffen (FKS-SGB IX/Faber/Rabe-Rosendahl 4. Aufl. § 164 Rn. 27 ff., 32; Kohte in KKW 6. Aufl. SGB IX §§ 164, 165 Rn. 10). Eine Pflicht zur Schaffung oder Erhaltung nicht benötigter Arbeitsplätze besteht deshalb nach diesen Vorschriften nicht (vgl. ErfK/Rolfs 19. Aufl. SGB IX § 164 Rn. 8; MHdB ArbR/Zimmermann 4. Aufl. Bd. 2 § 198 Rn. 58; aA Fabricius in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX Stand 4. Februar 2019 § 164 Rn. 63 f.; Kossens in Kossens/von der Heide/Maaß SGB IX 4. Aufl. § 71 Rn. 6; für eine Verpflichtung, bei Reorganisationsmaßnahmen bereits beschäftigten schwerbehinderten Menschen Ersatzarbeitsplätze zur Verfügung zu stellen: Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 164 Rn. 175).
48
3. Die streitgegenständliche Kündigung ist nicht wegen grober Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO(vgl. hierzu BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 21 ff., BAGE 147, 89). Das Landesarbeitsgericht hat die Sozialauswahl ohne revisiblen Rechtsfehler auf grobe Fehler überprüft. Es hat dabei insbesondere eine fehlende Vergleichbarkeit des Klägers mit den Kollegen F und M festgestellt. Gegenüber dem Mitarbeiter in der Waschkaue bestehe keine höhere soziale Schutzbedürftigkeit des Klägers. Die Revision hat diese Beurteilung nicht angegriffen.
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4. Die Kündigung ist auch weder gemäß § 17 KSchG iVm. § 134 BGB noch gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Entsprechende Verfahrensfehler sind nicht ersichtlich und werden von der Revision nicht gerügt.
50
III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
Wollensak
Kreis |
bag_21-20 | 07.07.2020 | 07.07.2020
21/20 - Erwerbsminderungsrente - Verfall des Urlaubs - Gilt die 15-Monatsfrist auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers?
Zur Klärung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem eine volle Erwerbsminderung im Verlauf des Urlaubsjahres eingetreten ist, 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen kann, hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.*
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist seit dem Jahr 2000 als Frachtfahrer bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 2014 bezieht er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis August 2019 verlängert wurde. Er hat ua. geltend gemacht, ihm stünden gegen die Beklagte noch 34 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2014 zu. Diese Ansprüche seien nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei. Die Beklagte hat demgegenüber die Auffassung vertreten, der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers sei mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen. Sei der Arbeitnehmer – wie vorliegend der Kläger aufgrund der vollen Erwerbsminderung – aus gesundheitlichen Gründen langandauernd außerstande, seinen Urlaub anzutreten, trete der Verfall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten ein.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Für die Entscheidung, ob der Urlaub des Klägers aus dem Jahr 2014 am 31. März 2016 oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen ist, kommt es für den Neunten Senat auf die Auslegung von Unionsrecht an, die dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten ist.
Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf die ersten drei Monate des folgenden Kalenderjahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Diese Bestimmung hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts verschiedentlich unionsrechtskonform ausgelegt.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat der Neunte Senat erkannt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann nach § 7 Abs. 3 BUrlG am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, und ihn darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 9/19 vom 19. Februar 2019).
Für den Fall, dass der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war, versteht der Neunte Senat § 7 Abs. 3 BUrlG nach Maßgabe der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) außerdem dahin, dass gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 56/12 vom 7. August 2012).
Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es nunmehr einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung zumindest teilweise hätte nehmen können.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2020 – 9 AZR 245/19 (A) –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 7. März 2019 – 9 Sa 145/17 –
*Der genaue Wortlaut der Frage kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:
1. Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des Urlaubsjahres aus gesundheitlichen Gründen eine volle Erwerbsminderung eintritt, der den Urlaub aber vor Beginn seiner Erwerbsminderung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender voller Erwerbsminderung auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsverfahren ausgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta).
2
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten über das Bestehen von Urlaubsansprüchen des Klägers aus dem Jahr 2010, 2011 und 2014. Für das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren ist lediglich der Urlaub aus dem Jahr 2014 von Bedeutung. Hinsichtlich der Urlaubsansprüche aus den Jahren 2010 und 2011 wird die Revision bereits deshalb zurückzuweisen sein, weil die Berufung des Klägers insoweit mangels einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Begründung unzulässig war und deshalb unionsrechtliche Fragestellungen insoweit nicht entscheidungserheblich sind.
4
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist seit dem Jahr 2000 als Frachtfahrer bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 2014 bezieht er Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis August 2019 verlängert wurde. Er hat – soweit für das Vorabentscheidungsverfahren von Relevanz – geltend gemacht, ihm stünden gegen die Beklagte noch 34 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2014 zu. Diese Ansprüche seien nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei. Die Beklagte hat demgegenüber die Auffassung vertreten, der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers sei mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen. Sei ein Arbeitnehmer – wie vorliegend der Kläger aufgrund der vollen Erwerbsminderung – aus gesundheitlichen Gründen langandauernd außerstande, seinen Urlaub anzutreten, trete der Verfall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten ein.
5
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.
6
B. Das einschlägige nationale Recht
7
Im Bundesurlaubsgesetz, das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet, heißt es ua.:
„§ 7
Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs
(1)
Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.
(2)
Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub aus diesen Gründen nicht zusammenhängend gewährt werden, und hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen, so muss einer der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfolgende Werktage umfassen.
(3)
Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.
(4)
Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
8
Im Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) heißt es auszugsweise:
„§ 43 Rente wegen Erwerbsminderung
…
(2)
Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.“
9
C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
10
Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:
„Artikel 7
Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
11
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:
„Artikel 31
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
…
(2)
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“
12
D. Nationale Rechtsprechung
13
I. Der gesetzliche Mindesturlaub entsteht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG für das Kalenderjahr als Urlaubsjahr und muss nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden; andernfalls erlischt er nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Bestimmungen unter Beachtung der Entscheidungen des Gerichtshofs unter zwei Aspekten richtlinienkonform ausgelegt:
14
1. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta hat das Bundesarbeitsgericht erkannt, dass bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG) erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
15
a) In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376). Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsobliegenheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern, den Urlaub in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 37 ff. mwN, 65; sh. auch 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 41 f.; BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376).
16
b) Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums (grundl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376). Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bezogen sich jeweils auf Sachverhalte, in denen die Arbeitnehmer nicht voll erwerbsgemindert waren.
17
2. Das Bundesarbeitsgericht hat außerdem unter Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom 20. Januar 2009 (- C-350/06 und C-520/06 – [Schultz-Hoff] Rn. 43, 49) und vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; bestätigt durch EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff. und zuletzt 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.) entschieden, dass der gesetzliche Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen. Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt in diesem Fall zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist damit erneut nach § 7 Abs. 3 BUrlG befristet. Er erlischt allerdings bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres (grundl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 23, 32 ff., BAGE 142, 371; vgl. auch 16. Oktober 2012 – 9 AZR 63/11 – Rn. 9; 18. März 2014 – 9 AZR 669/12 – Rn. 14). Der Senat hat diese Rechtsprechung auch in Fällen angewendet, in denen der Arbeitnehmer eine Rente wegen Erwerbsminderung bezogen hat (vgl. BAG 16. Juli 2013 – 9 AZR 914/11 – Rn. 25 f.).
18
II. Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) bedurfte es bisher noch keiner Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darüber, ob und in welchen Fällen Urlaubsansprüche voll erwerbsgeminderter Arbeitnehmer bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 23; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 15, BAGE 165, 376). Mit dem Gerichtshof geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass ein Erlöschen von Urlaubsansprüchen in Fällen, in denen es dem Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen, nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 73 ff.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Solche besonderen Umstände bestehen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich nicht, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, weil der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376), oder weil er den Arbeitnehmer in sonstiger Weise daran gehindert hat, seinen Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. im Einzelnen BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Die vom Senat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Rechtsgrundsätze zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers sind jedoch in Fällen der vollen Erwerbsminderung von Arbeitnehmern weiter aufeinander abzustimmen. In den folgenden Fallkonstellationen ist – nach dem Verständnis des Senats – eine mit dem Unionsrecht in Einklang stehende Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG möglich, ohne dass es insoweit einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf.
19
1. Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig erfüllt, ist § 7 Abs. 3 BUrlG unverändert richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt. Besteht die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubsanspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitgebers vor dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen. Dies ist durch das Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juni 2020 (- C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.) geklärt (vgl. hierzu auch EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff.).
20
2. Hat der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt und war es dem Arbeitnehmer bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres allein aufgrund durchgehend bestehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht möglich, den Urlaub zu nehmen, ist § 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Dies betrifft den Urlaub für Urlaubsjahre, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig krank war und deshalb – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat – überhaupt keinen Urlaub nehmen konnte. Auch in diesem Fall ist von besonderen Umständen auszugehen, die den Verfall des Urlaubsanspruchs rechtfertigen.
21
a) Allerdings bestehen – anders als von den Vorinstanzen im vorliegenden Rechtsstreit angenommen – die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers regelmäßig auch, wenn und solange der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist. Sie können ihren Zweck erfüllen, weil sich die Dauer der Erkrankung nicht von vornherein absehen lässt.
22
aa) Dem Arbeitgeber ist es möglich, den voll erwerbsgeminderten Arbeitnehmer entsprechend den gesetzlichen Vorgaben (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 41, 43, BAGE 165, 376) rechtzeitig und zutreffend über den Umfang und die Befristung des Urlaubsanspruchs unter Berücksichtigung des bei einer langandauernden Erkrankung geltenden Übertragungszeitraums zu unterrichten. Der Arbeitgeber ist nicht gehindert, den Arbeitnehmer rechtzeitig aufzufordern, den Urlaub bei Wiedererlangung seiner Erwerbsfähigkeit vor Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann.
23
bb) Die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers sind auch nicht entbehrlich. Das Bundesurlaubsgesetz ermöglicht es dem Arbeitnehmer mit den Regelungen in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 BUrlG, durch seine Urlaubswünsche, die sich auf das gesamte Urlaubsjahr bzw. ggf. den zulässigen Übertragungszeitraum beziehen können, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant werden können (vgl. zum Urlaub im Übertragungszeitraum EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 38). Die rechtzeitige Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten stellt sicher, dass der Arbeitnehmer die durch das Bundesurlaubsgesetz mit § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG intendierte Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Zeitraums der Inanspruchnahme des Urlaubs nutzen und ab dem ersten Arbeitstag nach Wiedererlangung seiner Erwerbsfähigkeit Urlaub in Anspruch nehmen kann, sofern der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, die Gewährung von Urlaub nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BUrlG abzulehnen.
24
b) Jedoch ist die Befristung des Urlaubsanspruchs bei einem richtlinienkonformen Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es – was erst im Nachhinein feststellbar ist – objektiv unmöglich gewesen wäre, den Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren.
25
aa) Der Zweck der aus § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG abgeleiteten Obliegenheiten, zu verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert, weil er ihn in Unkenntnis der Befristung und des damit einhergehenden Risikos des Erlöschens nicht rechtzeitig gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 25, BAGE 165, 376), bestimmt nicht nur den Inhalt der rechtlich gebotenen Aufforderungen und Hinweise (vgl. hierzu BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40 f., aaO), sondern ist auch auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen.
26
(1) Regelmäßig ist dem Arbeitgeber die Berufung auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat, denn ein verständiger Arbeitnehmer hätte bei gebotener Aufforderung und Unterrichtung seinen Urlaub typischerweise rechtzeitig vor dem Verfall beantragt (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 16, 25, BAGE 165, 376).
27
(2) Anders verhält es sich, wenn auch bei Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten deren Zweck nicht hätte erreicht werden können, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376). Unter diesen Umständen ist es dem Arbeitgeber, der seinen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist, nicht verwehrt, sich auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zu berufen. War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres voll erwerbsgemindert oder trat die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende volle Erwerbsminderung im Verlauf des Urlaubsjahres ein, ohne dass dem Arbeitnehmer vor deren Beginn (weiterer) Urlaub hätte gewährt werden können, sind nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die volle Erwerbsminderung des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal. Der Urlaubsanspruch ist auf eine bezahlte Befreiung von der Arbeitspflicht gerichtet (st. Rspr., vgl. BAG 24. September 2019 – 9 AZR 481/18 – Rn. 50; 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 17). Kann der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung aufgrund einer vollen Erwerbsminderung nicht erbringen, wird ihm die Arbeitsleistung unmöglich. Er wird nach § 275 Abs. 1 BGB von der Pflicht zur Arbeitsleistung frei. Eine Befreiung von der Arbeitspflicht durch Urlaubsgewährung ist deshalb rechtlich unmöglich (vgl. BAG 18. März 2014 – 9 AZR 669/12 – Rn. 16).
28
bb) Dieses Ergebnis steht nach Überzeugung des Senats im Einklang mit der durch den Gerichtshof gefundenen Auslegung des Unionsrechts. Die gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta bestehende Obliegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer ua. erforderlichenfalls mittels entsprechender Aufforderungen und Hinweise in die Lage zu versetzen, den Urlaub wahrzunehmen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.), dient nach Feststellung des Gerichtshofs der Vermeidung einer Situation, in der die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert würde, während der Arbeitgeber die Möglichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seinen eigenen Pflichten zu entziehen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 43). Ein Arbeitnehmer, der während des Bezugs- und/oder Übertragungszeitraums krankheitsbedingt voll erwerbsgemindert ist, kann seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben (st. Rspr. des EuGH, vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 24; 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 27). Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist – ohne dass es auf die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers ankäme – von vornherein ausgeschlossen, weil die volle Erwerbsminderung auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist (st. Rspr., vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 66; 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 32, 33 mwN).
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E. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Erläuterung der Vorlagefragen
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Für die Entscheidung des Rechtstreits, soweit er den Urlaub aus dem Jahr 2014 betrifft, bedarf es einer Klärung durch den Gerichtshof, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs bei ununterbrochen fortbestehender voller Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat und der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Eintritt der vollen Erwerbsminderung zumindest noch teilweise hätte nehmen können. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 ist das Unionsrecht bei der Auslegung und Anwendung des § 7 Abs. 3 BUrlG zu berücksichtigen (vgl. BAG 23. März 2010 – 9 AZR 128/09 – Rn. 101 ff., BAGE 134, 1; 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 25, BAGE 142, 371; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 18, BAGE 165, 376). Für das Verständnis der Bestimmung kommt es daher auf die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie von Art. 31 Abs. 2 der Charta an. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist.
31
I. Erläuterung der ersten Vorlagefrage
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1. Nach Erkenntnis des Gerichtshofs ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Urlaub erlischt (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; zuletzt EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff.). Ein Zeitraum von 15 Monaten, in dem die Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub möglich ist, entspricht nach der Feststellung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Anforderungen der Richtlinie 2003/88/EG und läuft dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwider, weil er dessen positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit gewährleistet (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 43).
33
a) Gestattete es das Unionsrecht, diese Grundsätze auch im Fall einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden vollen Erwerbsminderung anzuwenden, obwohl der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben und der Urlaub vor der Arbeitsunfähigkeit infolge voller Erwerbsminderung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte genommen werden können, wäre die Revision des Klägers in vollem Umfang unbegründet. Sein Urlaubsanspruch für das Jahr 2014 wäre gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen (st. Rspr., vgl. grundl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 32, BAGE 142, 371).
34
b) Demgegenüber wäre die Revision des Klägers hinsichtlich des Urlaubsanspruchs für das Jahr 2014 begründet, wenn das Unionsrecht unter den genannten Umständen bei unterlassenen Aufforderungen und Hinweisen des Arbeitgebers eine Auslegung von § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nicht zuließe, der zufolge der aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllbare gesetzliche Urlaubsanspruch bei fortdauernder vollen Erwerbsminderung des Arbeitnehmers mit Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten untergeht, es sei denn, der Urlaubsanspruch wäre zu einem späteren Zeitpunkt erloschen (vgl. dazu die zweite Vorlagefrage).
35
2. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bislang – soweit ersichtlich – nicht zweifelsfrei geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des Urlaubsjahres eine volle Erwerbsminderung eintritt, bei seither ununterbrochen fortbestehender voller Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Für diesen Fall stellt sich mit Blick – einerseits – auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) und – andererseits – ua. die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) die Frage, ob mit Rücksicht auf den Erholungszweck des Urlaubs der Grundsatz, dass das Erlöschen des Anspruchs von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängt, nur eingeschränkt gilt.
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a) Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Gerichtshof vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]), dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines gemäß diesen Bestimmungen erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, automatisch, ohne vorherige Prüfung, ob der Arbeitgeber ihn tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, am Ende des Bezugszeitraums die ihm für diesen Zeitraum zustehenden Urlaubstage verliert(EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 55).
37
aa) In diesem Urteil hat der Gerichtshof betont, dass jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 42; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 39). Der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, habe die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen (EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 77; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 63).
38
bb) Gölten diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende volle Erwerbsminderung des Arbeitnehmers eingetreten ist, träte ein Verfall des Urlaubs auch 15 Monate nach Ablauf dieses Urlaubsjahres insoweit nicht ein, als der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner vollen Erwerbsminderung noch hätte in Anspruch nehmen können. Der Arbeitgeber hätte bei Unterlassen der gebotenen Aufforderung und Hinweise das Risiko zu tragen, dass der Urlaubsanspruch nicht vollständig verfällt, auch wenn der Arbeitnehmer über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Urlaubsjahres hinaus voll erwerbsgemindert ist. Er könnte dieses Risiko faktisch nur dann ausschließen, wenn er seinen Obliegenheiten bereits zu Beginn des Kalenderjahres nachkäme. Der Arbeitnehmer hätte unter den genannten Voraussetzungen (nur dann) das Risiko zu tragen, den Urlaubsanspruch wegen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden, unter Umständen langandauernden vollen Erwerbsminderung nicht mehr in vollem Umfang realisieren zu können, wenn der Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheiten – in diesem Sinne – rechtzeitig erfüllt und damit die Voraussetzungen der Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG geschaffen hat.
39
b) Demgegenüber hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) erkannt, dass mit dem in Art. 31 Abs. 2 der Charta und in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Ein Recht auf ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, entspräche nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 30 f.). Dessen positive Wirkung für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers verliere zwar nicht an Bedeutung, wenn der Urlaub zu einer späteren Zeit genommen werde. Der Urlaub könne seiner Zweckbestimmung jedoch nur insoweit entsprechen, als der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreite. Über eine solche Grenze hinaus fehle dem Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit; erhalten bleibe ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 33).
40
aa) Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeitnehmern einen auf 15 Monate begrenzten Übertragungszeitraum vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 43 f.).
41
bb) Fänden diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr Anwendung, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende volle Erwerbsminderung des Arbeitnehmers eingetreten ist, könnte dieser Urlaub 15 Monate nach Ablauf dieses Urlaubsjahres auch dann verfallen, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Vor der vollen Erwerbsminderung liegende Ansprüche aus dem Urlaubsjahr würden dann erlöschen, auch soweit der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkrankung noch hätte in Anspruch nehmen können.
42
c) Die Bewertung, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta im Hinblick auf den Erholungszweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub eine Einschränkung des Grundsatzes, dem zufolge die Befristung des Urlaubsanspruchs die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten voraussetzt, zulassen, wenn Arbeitnehmer wegen einer vollen Erwerbsminderung daran gehindert waren, den Urlaub zu nehmen, sie den Urlaubsanspruch aber vor Eintritt ihrer vollen Erwerbsminderung im Verlauf des Urlaubsjahres bei Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch hätten realisieren können, hat der Gerichtshof bisher nicht vorgenommen; die unter Rn. 36 f. genannten Entscheidungen betrafen nicht den Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern, die – wie der Kläger – über einen langen Zeitraum voll erwerbsgemindert waren. Die mit den Vorabentscheidungsersuchen gestellte erste Frage ist daher aus Sicht des Senats bisher durch den Gerichtshof nicht geklärt. Ebenso ist durch den Gerichtshof bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einen Zeitpunkt im Urlaubsjahr vorgeben, bis zu dem der Arbeitgeber spätestens seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nachzukommen hat, um den Anforderungen an deren „Rechtzeitigkeit“ im Sinne des Unionsrechts zu genügen, was für die unter Rn. 38 dargestellte und ggf. – unter Beachtung der Beantwortung des Vorlageersuchens durch den Gerichtshof – vorzunehmende Risikoverteilung von Bedeutung ist.
43
3. Der Senat kann erst nach der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof beurteilen, ob und inwieweit § 7 Abs. 3 BUrlG – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungsmethoden – so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet wird, ohne eine Auslegung contra legem zu erfordern (vgl. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31; BVerfG 17. November 2017 – 2 BvR 1131/16 – Rn. 37; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 19, BAGE 165, 376; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 39 f., BAGE 164, 117). Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Recht – wo dies nötig und möglich ist – das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ein (BAG 28. Juli 2016 – 2 AZR 746/14 (A) – Rn. 35, BAGE 156, 23; 17. März 2016 – 8 AZR 501/14 (A) – Rn. 51 mwN, BAGE 154, 285).
44
4. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) ausgeführt, dass eine nationale Regelung über den Verfall des Urlaubs nicht anzuwenden sei, wenn sie nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe aber auch dann dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen könne, dass er ihn tatsächlich in die Lage versetzt habe, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht verliere (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 81). Stehe dem Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit ein staatlicher Arbeitgeber gegenüber, ergebe sich dieses Ergebnis aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 der Charta. Stehe ihm ein privater Arbeitgeber gegenüber, folge dies aus Art. 31 Abs. 2 der Charta (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 63 f., 74 ff.). Die Beklagte ist eine Aktiengesellschaft (AG), dh. ein privater Arbeitgeber. Sollte § 7 Abs. 3 BUrlG einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sein, was allerdings erst auf der Grundlage der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof festgestellt werden könnte, stellte sich die Frage, ob § 7 Abs. 3 BUrlG – ggf. teilweise – unangewendet zu lassen wäre.
45
II. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
46
Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, ist es für den Rechtsstreit entscheidungserheblich, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta unter den in der Frage zu 1. genannten Umständen der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen steht, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn die volle Erwerbsminderung – wie bei dem Kläger – über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres hinaus ununterbrochen fortbesteht. Auch diese Frage ist bislang – soweit ersichtlich – durch die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) nicht zweifelsfrei geklärt, denn der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) erkannt, dass ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entspricht (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 30 f.).
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1. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) tritt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der infolge unterlassener Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376; seither st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 16).
48
2. Aus Sicht des Senats ist – bejahte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage – durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta es zuließen, dass der ggf. wegen unterlassener Aufforderung und Hinweise nicht verfallene Urlaubsanspruch aus dem fraglichen Urlaubsjahr – im Streitfall das Urlaubsjahr 2014 – bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit uneingeschränkt das Schicksal des im ersten Folgejahr – hier das Urlaubsjahr 2015 – entstehenden Urlaubsanspruchs teilt. Der Urlaub aus dem ersten Folgejahr wäre unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat, nach Ablauf von 15 Monaten verfallen, weil es objektiv unmöglich gewesen wäre, den schon zu Beginn des ersten Folgeurlaubsjahres weiterhin durchgehend voll erwerbsgeminderten Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. die Ausführungen unter Rn. 27 f.). Ließe das Unionsrecht diese zeitliche Begrenzung der Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu, wäre der Urlaubsanspruch des Klägers aus dem Jahr 2014 aufgrund fortbestehender voller Erwerbsminderung spätestens 15 Monate nach Ablauf des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres erloschen, dh. am 31. März 2017.
49
3. Ebenfalls ungeklärt ist aus Sicht des Senats, ob der Arbeitgeber auch nach Eintritt der vollen Erwerbsminderung des Arbeitnehmers seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch erfüllen und so die Befristung des Urlaubsanspruchs und dessen Erlöschen zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres herbeiführen kann, wenn der Arbeitnehmer während der gesamten Zeit fortdauernd voll erwerbsgemindert bleibt und deshalb seinen Urlaubsanspruch nicht realisieren kann.
Kiel
Suckow
Zimmermann
G. Müller
Lipphaus |
bag_22-19 | 16.05.2019 | 16.05.2019
22/19 - Schadensersatz eines/einer schwerbehinderten Beschäftigten wegen Ablehnung einer stufenweisen Wiedereingliederung
Der schwerbehinderte Kläger ist bei der beklagten Stadt als Technischer Angestellter beschäftigt. Von August 2014 bis einschließlich 6. März 2016 war er arbeitsunfähig erkrankt. Am 21. September 2015 fand eine betriebsärztliche Untersuchung des Klägers statt. In der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 wurde eine stufenweise Wiedereingliederung zur vorsichtigen Heranführung an die Arbeitsfähigkeit mit bestimmten Einschränkungen in der Tätigkeit befürwortet. Unter Vorlage des Wiedereingliederungsplans seines behandelnden Arztes vom 28. Oktober 2015 beantragte der Kläger bei der beklagten Stadt die stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben im Zeitraum vom 16. November 2015 bis zum 15. Januar 2016. Der Wiedereingliederungsplan des behandelnden Arztes sah keine Einschränkungen in der Tätigkeit vor. Als absehbaren Zeitpunkt der Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit gab der behandelnde Arzt den 18. Januar 2016 an. Die beklagte Stadt lehnte diesen Wiedereingliederungsplan am 5. November 2015 mit der Begründung ab, dass ein Einsatz des Klägers im bisherigen Aufgabengebiet/Tätigkeitsbereich wegen der in der betriebsärztlichen Beurteilung aufgeführten Einschränkungen nicht möglich sei. Dem vom Kläger vorgelegten zweiten Wiedereingliederungsplan, der eine Wiedereingliederung in der Zeit vom 4. Januar bis zum 4. März 2016 vorsah, und dem ein Bericht der behandelnden Psychologin beilag, wonach Einschränkungen in der Tätigkeit nicht mehr bestanden, stimmte die beklagte Stadt nach erneuter – nun positiver – Beurteilung durch die Betriebsärztin zu. Diese Wiedereingliederung war erfolgreich, der Kläger erlangte am 7. März 2016 seine volle Arbeitsfähigkeit wieder.
Der Kläger fordert mit seiner Klage von der beklagten Stadt den Ersatz der Vergütung, die ihm in der Zeit vom 18. Januar bis zum 6. März 2016 dadurch entgangen ist, dass die beklagte Stadt ihn nicht entsprechend den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans vom 28. Oktober 2015 beschäftigt hat. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage auf die Berufung des Klägers im Wesentlichen stattgegeben. Die Revision der beklagten Stadt hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg.
Die beklagte Stadt war nicht verpflichtet, den Kläger entsprechend den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans vom 28. Oktober 2015 in der Zeit vom 16. November 2015 bis zum 15. Januar 2016 zu beschäftigen. Zwar kann der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX in der bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF) verpflichtet sein, an einer Maßnahme der stufenweisen Wiedereingliederung derart mitzuwirken, dass er die/den Beschäftigte/n entsprechend den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans beschäftigt. Im Fall des Klägers lagen allerdings besondere Umstände vor, aufgrund derer die beklagte Stadt ihre Zustimmung zum Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 verweigern durfte. Es bestand aufgrund der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 die begründete Befürchtung, dass der Gesundheitszustand des Klägers eine Beschäftigung entsprechend diesem Wiedereingliederungsplan nicht zulassen würde. Die begründeten Zweifel an der Geeignetheit des Wiedereingliederungsplans ließen sich auch nicht bis zum vorgesehen Beginn der Maßnahme ausräumen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Mai 2019 – 8 AZR 530/17 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 7. August 2017 – 7 Sa 232/17 –
„§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF
Die schwerbehinderten Menschen haben gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf
1. Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können
…“ | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 7. August 2017 – 7 Sa 232/17 – teilweise aufgehoben und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 3. November 2016 – 21 Ca 3522/16 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung) kann der Arbeitgeber verpflichtet sein, an einer stufenweisen Wiedereingliederung eines/einer schwerbehinderten Beschäftigten in das Erwerbsleben dergestalt mitzuwirken, dass er diese(n) entsprechend den Vorgaben eines Wiedereingliederungsplans beschäftigt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger zum Schadensersatz verpflichtet ist.
2
Der mit einem Grad von zuletzt 70 als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist bei der beklagten Stadt (im Folgenden Beklagte) seit 1991 als Technischer Angestellter beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 2006 ist er im Straßenverkehrsamt tätig, zuletzt in der Tätigkeit eines Bauleiters mit einem Entgelt nach der Entgeltgruppe 12 TVöD. Als Bauleiter ist der Kläger mit folgenden Tätigkeiten betraut: Ingenieurmäßige Planung, Koordinierung, Überwachung, Bewirtschaftung und Abnahme von Baumaßnahmen im Bereich von verkehrstechnischen Projekten in Eigen- und Fremdplanung gemäß den Richtlinien zum Ablauf in der Vorbereitung, Durchführung und Dokumentation von Bauwerken der Beklagten mit Wahrnehmung der Bauherrenfunktion und der hoheitlichen Aufgaben bei Fremdplanungen.
3
Von August 2014 bis einschließlich 6. März 2016 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Auch in früheren Zeiträumen des Beschäftigungsverhältnisses war es zu längeren Krankheitszeiten gekommen; in den Jahren 2007 und 2011 waren erfolgreich Wiedereingliederungsmaßnahmen durchgeführt worden. Arbeitsmedizinische Gutachten hatten im Laufe der Zeit zunehmende Einschränkungen in der Einsatzfähigkeit attestiert und zuletzt eine negative Prognose hinsichtlich der Entwicklung krankheitsbedingter Ausfallzeiten gestellt.
4
Am 28. April 2015 fand auf Einladung der Beklagten ein Gespräch zwischen dem Kläger, seiner Vertrauensperson, einer Mitarbeiterin des Integrationsfachdienstes, dem Verwaltungsleiter sowie der Personalstellenleiterin des Straßenverkehrsamts statt. In diesem Gespräch erklärte der Kläger, dass er nach Ende der Arbeitsunfähigkeit bei seiner Rückkehr wieder an seinem bisherigen Arbeitsplatz als Bauleiter eingesetzt werden wolle.
5
Am 21. September 2015 fand eine betriebsärztliche Untersuchung des Klägers statt. In der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015, die der Kläger anschließend der Beklagten überreichte, wurde eine stufenweise Wiedereingliederung zur vorsichtigen Heranführung an die Arbeitsfähigkeit mit bestimmten Einschränkungen in der Tätigkeit befürwortet.
6
In der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 heißt es zudem:
„Herr K sollte keine Tätigkeiten ausüben, die mit
–
hohen Anforderungen an die Umstellungsfähigkeit und Flexibilität,
–
Anforderungen an die Teamfähigkeit
–
hohem Zeitdruck und
–
Kontakt zu Publikum sowie
–
mit der Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge verbunden sind.
Körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder oder überwiegend sitzender Körperhaltung,
–
mit klar definiertem Aufgabengebiet und
–
geregelten Rücksprachemöglichkeiten
kann Herr K voraussichtlich ausüben.
Soweit sein jetziges Aufgabengebiet diesen Kriterien bzw. Einschränkungen genügt, könnte Herr K seine bisherige Tätigkeit als technischer Angestellter im Straßenverkehrsamt weiterhin ausüben. Aufgrund der (wohl) immer wieder aufgetretenen Konflikte am bisherigen Arbeitsplatz wäre ein Wechsel der Stelle bzw. des Amtes möglicherweise sinnvoll im Hinblick auf die Stabilisierung des Gesundheitszustandes. Ein anderer Arbeitsplatz muss selbstverständlich auch den o.g. Kriterien entsprechen.
Maßnahmen zur Stabilisierung und Verbesserung seines Gesundheitszustandes hat Herr K bereits ergriffen, ob ggf. eine Intensivierung der therapeutischen Maßnahmen zu einer weiteren bzw. schnelleren Verbesserung des Gesundheitszustandes beitragen könnten, vermag von hier nicht beurteilt werden zu können, weil Herr K einer gegenseitigen Entbindung von der Schweigepflicht zwischen den behandelnden Ärzten bzw. Therapeuten und der Betriebsärztin nicht zugestimmt hat.
Vor dem Hintergrund des zur Chronifizierung neigenden Krankheitsbildes sind auch zukünftig erhöhte krankheitsbedingte Fehlzeiten nicht auszuschließen.…“
7
Mit dem Wiedereingliederungsplan des den Kläger behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie – Psychotherapie – vom 28. Oktober 2015, der bei der Beklagten im Amt 36 (Straßenverkehrsamt) am Montag, den 2. November 2015 einging, beantragte der Kläger bei der Beklagten eine stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben für den Zeitraum vom 16. November 2015 bis zum 15. Januar 2016. Die im Wiedereingliederungsplan aufgeführte zeitliche Stufung der stufenweisen Wiedereingliederung entsprach der in der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 vorgeschlagenen. Zu etwaigen Einschränkungen in der Tätigkeit waren keine Angaben enthalten. Als zuletzt ausgeübte Tätigkeit war „Technischer Angestellter“ und als absehbarer Zeitpunkt der Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit war der 18. Januar „2015“ (gemeint konnte nur sein: 2016) angegeben worden.
8
Die Beklagte lehnte diesen Wiedereingliederungsplan unter dem 5. November 2015 ab. Zur Begründung führte sie aus:
„Der Einsatz in Ihrem bisherigen Aufgabengebiet/Tätigkeitsbereich ist unter Berücksichtigung der in der betriebsärztlichen Beurteilung vom 12.10.2015 aufgeführten Kriterien und Einschränkungen nicht weiter möglich. Die Aufgabe eines Bauleiters … impliziert die Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge, welche Fähigkeiten, wie z.B. Flexibilität, Teamfähigkeit, Arbeiten unter stetigem Zeitdruck, Kontakt zu Publikum (Firmen, andere Ämter, Personal auf den Baustellen) zwingend und ständig voraussetzen. Auch die Unterbringung auf einem anderen adäquaten Arbeitsplatz innerhalb des Straßenverkehrsamtes ist nicht gegeben. …“
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Am 17. November 2015 fand ein Personalgespräch in der Personalvermittlungsstelle der Beklagten statt.
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Unter dem 7. Dezember 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Durchführung einer Maßnahme zur stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben, diesmal für die Zeit vom 4. Januar 2016 bis zum 4. März 2016. Auch dieser Wiedereingliederungsplan war von dem den Kläger behandelnden Facharzt für Neurologie und Psychiatrie – Psychotherapie – erstellt worden. Ausweislich dieses Plans war mit einer Wiederherstellung der vollen Arbeitsfähigkeit zum 7. März 2016 zu rechnen. Dem Wiedereingliederungsplan vom 7. Dezember 2015 beigefügt war ein Bericht der den Kläger behandelnden Diplom-Psychologin vom 26. November 2015. Darin heißt es ua., dass der Kläger sich in den vergangenen Wochen intensiv mit seinen Beschwerden auseinandergesetzt habe und dass eine Besserung der Symptomatik, im Besonderen in den vergangenen Wochen, stattgefunden habe. Die Beklagte stimmte diesem Wiedereingliederungsplan nach positiver Beurteilung durch die Betriebsärztin vom 18. Dezember 2015 zu.
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Nach erfolgreicher stufenweiser Wiedereingliederung in der Zeit vom 4. Januar 2016 bis zum 4. März 2016 war die volle Arbeitsfähigkeit des Klägers auf seinem bisherigen Arbeitsplatz am 7. März 2016 wiederhergestellt.
12
Unter dem 24. Januar 2017 erteilte der den Kläger behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie – Psychotherapie – dem Kläger eine nervenfachärztliche Bescheinigung zur Vorlage beim Arbeitsgericht. Darin heißt es ua.:
„Aus psychiatrischer Sicht wäre es möglich gewesen, dass bei Annahme des ersten Wiedereingliederungsplans tatsächlich ab Mitte Januar 2016 volle Arbeitsfähigkeit wieder vorhanden gewesen wäre. Der zweite Wiedereingliederungsplan hat ja dann schlussendlich zu voller beruflicher Belastbarkeit, freilich zu einem späteren Zeitpunkt, geführt.“
13
Der Kläger begehrt mit seiner Klage von der Beklagten die Zahlung von Schadensersatz. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei verpflichtet gewesen, schon dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 zuzustimmen. Die Wiedereingliederung, deren Ziel die Gewöhnung des Betroffenen an die volle Arbeitsleistung sei, habe nicht an fehlenden Einsatzmöglichkeiten scheitern können, da er mit weiteren Aufgaben eines Technischen Angestellten habe beschäftigt werden können. Durch die ungerechtfertigte Ablehnung des Wiedereingliederungsplans habe die Beklagte die Wiederherstellung seiner vollen Arbeitsfähigkeit zum 18. Januar 2016 verhindert. Aus diesem Grund sei sie ihm zum Schadensersatz verpflichtet. Sie habe ihm den Verdienstausfall zu ersetzen, der ihm in der Zeit vom 18. Januar 2016 bis zum 6. März 2016 entstanden sei.
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Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 8.486,75 Euro brutto abzüglich gezahlten Krankengeldes iHv. 1.692,81 Euro netto sowie gezahlten Arbeitslosengeldes iHv. 1.783,35 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14. Mai 2016 zu zahlen.
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Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, ihr falle keine Pflichtverletzung zur Last. Sie sei berechtigt gewesen, den ersten Wiedereingliederungsplan abzulehnen. Nach der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 sei von einem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht auszugehen gewesen. Erst mit der betriebsärztlichen Beurteilung vom 18. Dezember 2015 sei bescheinigt worden, dass die Wiedereingliederung gemäß dem Wiedereingliederungsplan vom 7. Dezember 2015 habe aufgenommen werden können. Erst dadurch, dass der Kläger das Schreiben der ihn behandelnden Diplom-Psychologin vom 26. November 2015 an die Personalstelle gesandt habe, sei es möglich gewesen, die Wiedereingliederung durchzuführen. Im Übrigen habe der Kläger die Kausalität zwischen der Ablehnung des ersten Wiedereingliederungsplans und des von ihm behaupteten Schadens nicht dargelegt. Er habe nicht dargetan, dass seine Arbeitsfähigkeit bei Durchführung der ersten Wiedereingliederungsmaßnahme bereits im Januar 2016 wiederhergestellt gewesen wäre.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des Klägers im Wesentlichen stattgegeben und dem Kläger 8.393,49 Euro brutto abzüglich gezahlten Krankengeldes und Arbeitslosengeldes nebst Zinsen zugesprochen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren nach vollständiger Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des Klägers zu Unrecht teilweise stattgegeben. Die zulässige Klage ist insgesamt unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung des begehrten Schadensersatzes.
18
I. Der Kläger kann seinen Schadensersatzanspruch nicht mit Erfolg auf § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden SGB IX aF) oder § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF stützen. Zwar war die Beklagte nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF grundsätzlich verpflichtet, an der stufenweisen Wiedereingliederung des schwerbehinderten Klägers in das Erwerbsleben dergestalt mitzuwirken, dass sie diesen entsprechend den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans vom 28. Oktober 2015 beschäftigte. Im vorliegenden Fall liegen allerdings besondere Umstände vor, aufgrund derer die Beklagte eine solche Beschäftigung des Klägers ausnahmsweise ablehnen durfte. Aus diesem Grund kann dahinstehen, ob der Kläger die Kausalität zwischen der von ihm behaupteten Pflichtverletzung der Beklagten und dem von ihm geltend gemachten Schaden hinreichend dargelegt hat.
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1. Die Beklagte war nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF grundsätzlich verpflichtet, an der stufenweisen Wiedereingliederung des schwerbehinderten Klägers in das Erwerbsleben dergestalt mitzuwirken, dass sie diesen den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans vom 28. Oktober 2015 entsprechend beschäftigte.
20
a) Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF kann der Arbeitgeber verpflichtet sein, an einer stufenweisen Wiedereingliederung eines/einer schwerbehinderten Beschäftigten in das Erwerbsleben dergestalt mitzuwirken, dass er diese(n) entsprechend den Vorgaben eines Wiedereingliederungsplans beschäftigt.
21
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts besteht zwar grundsätzlich kein Anspruch auf Mitwirkung des Arbeitgebers an einer stufenweisen Wiedereingliederung des Arbeitnehmers in das Erwerbsleben, insbesondere ergibt sich ein solcher Anspruch nicht aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis. Vielmehr ist das Wiedereingliederungsverhältnis ein Vertragsverhältnis eigener Art (sui generis), zu dessen Begründung es einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedarf, wobei für beide Seiten das Prinzip der Freiwilligkeit gilt (vgl. BAG 6. Dezember 2017 – 5 AZR 815/16 – Rn. 12 und 19; 29. Januar 1992 – 5 AZR 37/91 – zu II 3 der Gründe, BAGE 69, 272; vgl. auch BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 23 mwN, BAGE 118, 252). Anders als das Arbeitsverhältnis ist das Wiedereingliederungsverhältnis nicht durch den Austausch von Leistung und Gegenleistung gekennzeichnet, sondern durch den Rehabilitationszweck. Die Tätigkeit des Arbeitnehmers ist auf die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit und nicht auf die Erfüllung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung gerichtet. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind, weil die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers andauert, während des Wiedereingliederungsverhältnisses weiterhin von den Hauptleistungspflichten des Arbeitsverhältnisses gemäß § 275 Abs. 1, § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB befreit (vgl. BAG 6. Dezember 2017 – 5 AZR 815/16 – Rn. 12).
22
bb) Etwas anderes gilt jedoch, wenn es um die stufenweise Wiedereingliederung eines/einer schwerbehinderten oder gleichgestellten behinderten Beschäftigten in das Erwerbsleben geht. In einem solchen Fall kann der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF verpflichtet sein, an einer Maßnahme der stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben mitzuwirken und eine schwerbehinderte oder gleichgestellte behinderte Person entsprechend den Angaben im ärztlichen Wiedereingliederungsplan zu beschäftigen (BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 22, 24 ff., 34, BAGE 118, 252). Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF schließt die (krankheitsbedingte) Unfähigkeit zur Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung einen Beschäftigungsanspruch nicht aus. Die Mitwirkungspflicht nach dieser Bestimmung besteht demnach innerhalb des arbeitsvertraglichen Schuldverhältnisses. Sie gehört zu den typischen Nebenpflichten des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis iSv. § 241 Abs. 2 BGB. Verletzt der Arbeitgeber die ihn aus § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF treffende Nebenpflicht, kann dies einen Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers nach § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF begründen. Da es sich bei § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF zudem um ein Schutzgesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB handelt (vgl. bereits BAG 4. Oktober 2005 – 9 AZR 632/04 – Rn. 22, BAGE 116, 121; vgl. auch BAG 6. Dezember 2017 – 5 AZR 815/16 – Rn. 19), kann daneben auch ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF in Betracht kommen.
23
(1) Der Anspruch auf Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung setzt voraus, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine ärztliche Bescheinigung seines behandelnden Arztes vorlegt, aus der sich Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung, Beschäftigungsbeschränkungen, Umfang der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme ergeben. Die Bescheinigung muss eine Prognose enthalten, wann „voraussichtlich“ die Wiederaufnahme der Tätigkeit erfolgt (vgl. auch BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 31 mwN, BAGE 118, 252).
24
(a) Die ärztliche Bescheinigung muss ordnungsgemäß nach den Vorschriften des Sozialrechts erstellt sein und dem Arbeitgeber hinreichend deutlich machen, dass mit dem Wiedereingliederungsplan auch eine betrieblich nutzbare Tätigkeit wiedererlangt werden kann. Kein Anspruch besteht auf eine Mitwirkung an einer nur therapeutischen Erprobung, ohne dass in absehbarer Zeit das „Ob“ und „Wie“ einer möglichen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ersichtlich wären (BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 34, BAGE 118, 252).
25
(b) Nach den „Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung“ in der Anlage der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V (im Folgenden Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung) knüpfen sowohl die Feststellung von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als auch die Empfehlung zur Wiedereingliederung an die vom Arbeitnehmer bisher ausgeübte Tätigkeit an (vgl. insbesondere die Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung Nr. 2 und Nr. 5). Hiervon ausgehend setzt die Empfehlung zur stufenweisen Wiedereingliederung zunächst die Beurteilung voraus, der Arbeitnehmer sei (weiterhin) arbeitsunfähig. Hinzu kommen muss die Einschätzung, dass die arbeitsvertragliche Tätigkeit teilweise verrichtet werden könnte und schließlich muss der Arzt die Prognose treffen, dass eine stufenweise Heranführung des Arbeitnehmers an die berufliche Belastung seine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben fördert. Dabei muss sich die Prognose nicht zwingend auf das Ziel der Wiederherstellung der vollen Arbeitstätigkeit richten, auch wenn dies regelmäßig verfolgt wird. Auch die Befähigung zu einer nach Art, Dauer, zeitlicher und räumlicher Lage veränderten Arbeitstätigkeit kann stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben sein (vgl. zu einer Vorgängerfassung der Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 35 mwN, BAGE 118, 252).
26
(c) Der Arzt hat seine Feststellungen auf dem Vordruck der Sozialversicherungsträger zu bescheinigen. Dieses verlangt eine auf die Erkrankung und Behinderung des Arbeitnehmers und seine Tätigkeit abgestellte Empfehlung über die Art und Weise der Beschäftigung. Ebenso muss der Arzt eine Prognose zur Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers nach Durchführung der Maßnahme abgeben (BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 36, BAGE 118, 252).
27
(2) Die so erstellte Bescheinigung ist dem Arbeitgeber vorzulegen. Andernfalls kann er nicht beurteilen, ob er an der stufenweisen Wiedereingliederung mitwirken muss oder wegen der Art oder der voraussichtlichen Dauer der Maßnahme berechtigt ist, sie als unzumutbar iSv. § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX aF abzulehnen (BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 37, BAGE 118, 252).
28
b) Danach war die Beklagte nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF grundsätzlich verpflichtet, an der stufenweisen Wiedereingliederung des schwerbehinderten Klägers in das Erwerbsleben dergestalt mitzuwirken, dass sie diesen entsprechend den Vorgaben des Wiedereingliederungsplans vom 28. Oktober 2015 beschäftigte.
29
aa) Der Kläger hatte der Beklagten mit dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 eine ordnungsgemäß nach den Vorschriften des Sozialrechts auf dem Vordruck der Sozialversicherungsträger erstellte ärztliche Bescheinigung vorgelegt, aus der sich der Umfang der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sowie die Dauer der Maßnahme ergaben. Die Bescheinigung enthielt auch eine Prognose, wann die volle Arbeitsfähigkeit „voraussichtlich“ wiederhergestellt sein würde. Aus der Bescheinigung ergab sich zudem die Art und Weise der empfohlenen Beschäftigung. In der Bescheinigung war entsprechend den Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung die zuletzt ausgeübte Tätigkeit „Technischer Angestellter“ angegeben. Da der Kläger bei der Beklagten als Technischer Angestellter in der Tätigkeit eines Bauleiters beschäftigt wurde, war dies die empfohlene Beschäftigung.
30
bb) Dass die Beschäftigung des Klägers im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung entsprechend dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 für sie unzumutbar iSv. § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX aF gewesen wäre, hat die insoweit grundsätzlich darlegungs- und beweispflichtige Beklagte (vgl. etwa BAG 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – Rn. 40 ff. mwN, BAGE 114, 299) nicht geltend gemacht.
31
2. Im vorliegenden Fall lagen allerdings besondere Umstände vor, aufgrund derer die Beklagte eine Beschäftigung des Klägers dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 entsprechend ausnahmsweise ablehnen durfte. Aufgrund der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 durfte die Beklagte die Befürchtung hegen, dass der Gesundheitszustand des Klägers bei einem Einsatz auf seinem bisher innegehabten Arbeitsplatz als Bauleiter eine stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nicht zulassen würde. Diese Zweifel der Beklagten an der Geeignetheit des Wiedereingliederungsplans ließen sich auch nicht bis zu dem in diesem Plan vorgesehenen Beginn der Maßnahme am 16. November 2015 ausräumen.
32
a) Die Beklagte durfte aufgrund der Beurteilung der Betriebsärztin vom 12. Oktober 2015 die Befürchtung hegen, dass der Gesundheitszustand des Klägers eine Beschäftigung entsprechend dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 als Bauleiter nicht zulassen würde.
33
aa) Die Beklagte durfte – wenn nicht gar musste – aufgrund der betriebsärztlichen Beurteilung vom 12. Oktober 2015 davon ausgehen, dass die mit dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 begehrte Wiedereingliederung ihr Ziel verfehlen würde, weil dem Kläger bei einer Beschäftigung im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben auf seinem bisherigen Arbeitsplatz als Bauleiter nachteilige gesundheitliche Folgen erwachsen würden.
34
(1) Nach der betriebsärztlichen Beurteilung vom 12. Oktober 2015 sollte der Kläger keine Tätigkeiten ausüben, die mit hohen Anforderungen an die Umstellungsfähigkeit und Flexibilität, Anforderungen an die Teamfähigkeit, hohem Zeitdruck und Kontakt zu Publikum sowie mit der Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge verbunden sind. Damit hatte die Betriebsärztin aber genau die Tätigkeiten ausgeschlossen, die der Kläger in seiner Funktion als Bauleiter auszuüben hatte. Unter den Parteien ist nicht streitig, dass die Aufgabe eines Bauleiters als solche mit der Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge verbunden ist, die Fähigkeiten, wie zB Flexibilität, Teamfähigkeit, Arbeiten unter stetigem Zeitdruck, Kontakt zu Publikum (Firmen, andere Ämter, Personal auf den Baustellen) zwingend und ständig voraussetzen.
35
(2) Mit diesen betriebsärztlichen Einschätzungen setzt sich der ärztliche Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 nicht im Ansatz auseinander; etwaige, infolge der krankheitsbedingten Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Klägers zu vermeidende arbeitsbedingte Belastungen werden nicht angegeben, vielmehr wird – ohne jede Einschränkung – eine Beschäftigung des Klägers als Bauleiter empfohlen. Angesichts der Aktualität der betriebsärztlichen Beurteilung vom 12. Oktober 2015 wäre eine Auseinandersetzung mit den von der Betriebsärztin geäußerten Einschätzungen jedoch geboten gewesen.
36
(a) Über den Weg der stufenweisen Wiedereingliederung sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer individuell, dh. je nach ihrer Erkrankung und bisherigen Arbeitsunfähigkeitsdauer schonend, aber kontinuierlich bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit an die Belastungen ihres Arbeitsplatzes herangeführt werden. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Belastbarkeit entsprechend dem Stand der wiedererreichten körperlichen, seelischen und geistigen Leistungsfähigkeit zu steigern (vgl. Nr. 1 der Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung). Die stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben darf nicht dazu führen, dass für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachteilige gesundheitliche Folgen erwachsen. Diesem Anliegen tragen auch die Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung Rechnung, indem sie unter Nr. 5 vorsehen, dass Versicherte während der Phase der stufenweisen Wiedereingliederung in regelmäßigen Abständen von der behandelnden Ärztin oder vom behandelnden Arzt auf die gesundheitlichen Auswirkungen zu untersuchen sind, und dass dann, wenn sich während der Phase der Wiedereingliederung herausstellt, dass für die Versicherten nachteilige gesundheitliche Folgen erwachsen können, eine Anpassung an die Belastungseinschränkungen vorzunehmen oder die Wiedereingliederung abzubrechen ist. Vor diesem Hintergrund kann es, sofern bereits vor Beginn der stufenweisen Wiedereingliederung Umstände vorliegen, aufgrund derer die Befürchtung begründet ist, dass Beschäftigten aus der stufenweisen Wiedereingliederung nachteilige gesundheitliche Folgen erwachsen, geboten sein, dass sich der behandelnde Arzt/die behandelnde Ärztin im Wiedereingliederungsplan oder in einer Anlage zu diesem mit diesen Umständen auseinandersetzt und erläutert, ob und ggf. welche Folgen sich daraus ergeben.
37
(b) Danach wäre es vorliegend geboten gewesen, dass der den Kläger behandelnde Arzt mit dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 oder in einer Anlage zu diesem deutlich gemacht hätte, warum nach seiner ärztlichen Einschätzung bei einer stufenweisen Wiedereingliederung des Klägers auf dem von diesem bisher innegehabten Arbeitsplatz als Bauleiter trotz des Ergebnisses der betriebsärztlichen Begutachtung vom 12. Oktober 2015 keine für den Kläger nachteiligen gesundheitlichen Folgen zu gewärtigen gewesen wären.
38
bb) Aus der vom Kläger vor dem Arbeitsgericht vorgelegten fachärztlichen Bescheinigung vom 24. Januar 2017 kann dieser insoweit nichts zu seinen Gunsten ableiten. Dieser fachärztlichen Einschätzung kommt im vorliegenden Verfahren keine Bedeutung zu. Zwar ist anerkannt, dass der ärztliche Wiedereingliederungsplan bei gerichtlicher Geltendmachung des Beschäftigungsanspruchs nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht ergänzt werden kann (vgl. BAG 13. Juni 2006 – 9 AZR 229/05 – Rn. 31, BAGE 118, 252). Die Parteien streiten vorliegend aber nicht darüber, ob die Beklagte überhaupt verpflichtet ist, an einer Maßnahme zur stufenweisen Wiedereingliederung des Klägers in das Erwerbsleben dergestalt mitzuwirken, dass sie diesen – mit welcher Tätigkeit auch immer – beschäftigt. Der Kläger verlangt von der Beklagten nicht Beschäftigung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF, sondern nimmt die Beklagte auf Ersatz des Schadens in Anspruch, der ihm dadurch entstanden sein soll, dass die Beklagte ihn nicht entsprechend dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 ab einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ab dem 16. November 2015 beschäftigt hat. Damit kommt es auf den Zeitpunkt der angeblichen Pflichtverletzung der Beklagten an.
39
cc) Soweit der Kläger geltend macht, die Beklagte hätte ihn mit weiteren Aufgaben eines Technischen Angestellten beschäftigen können, bei deren Ausübung nachteilige gesundheitliche Folgen nicht zu befürchten gewesen wären, führt auch dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Im vorliegenden Rechtsstreit streiten die Parteien darüber, ob die Beklagte – wie unter Rn. 38 ausgeführt – dem Kläger den Schaden zu ersetzen hat, der diesem dadurch entstanden sein soll, dass die Beklagte ihn nicht entsprechend dem Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 ab dem 16. November 2015 beschäftigt hat. Dieser Wiedereingliederungsplan sah indes ausschließlich eine Beschäftigung auf dem zuvor innegehabten Arbeitsplatz als Bauleiter vor.
40
b) Die begründeten Zweifel an der Geeignetheit des Wiedereingliederungsplans ließen sich bis zu dem in diesem Plan vorgesehenen Beginn der Maßnahme am 16. November 2015 nicht ausräumen.
41
aa) Die Beklagte selbst war nicht in der Lage, geeignete Maßnahmen durchzuführen, mit denen ihre begründeten Zweifel an der Geeignetheit des Wiedereingliederungsplans hätten ausgeräumt werden können. Zwar können dem Arbeitgeber grundsätzlich auch im Zusammenhang mit einem Antrag auf stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben aus § 241 Abs. 2 BGB Hinweis- und Aufklärungspflichten erwachsen, insbesondere kann er unter den besonderen Umständen des Einzelfalls verpflichtet sein, von sich aus geeignete Hinweise zu geben und Aufklärungsmaßnahmen selbst durchzuführen (vgl. etwa BAG 21. Dezember 2017 – 8 AZR 853/16 – Rn. 32, BAGE 161, 245; 13. November 2014 – 8 AZR 817/13 – Rn. 22 mwN). Die Beklagte hat den Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 allerdings erst am Montag, den 2. November 2015 erhalten. Bis zu dem darin vorgesehenen Beginn der Maßnahme (Montag, den 16. November 2015) blieben nur zwei Wochen, die nicht einmal voll zur Verfügung standen, sofern dem Kläger die Entscheidung der Beklagten nicht „in letzter Minute“ mitgeteilt werden sollte. Es kommt hinzu, dass der Beklagten innerhalb der verbleibenden Zeit auch keine geeigneten Mittel zur Verfügung standen, um von sich aus eine weitere Aufklärung zu betreiben. Die berechtigten Zweifel der Beklagten an der Geeignetheit des Wiedereingliederungsplans vom 28. Oktober 2015 hätten – sofern dies innerhalb der bis zum vorgesehenen Beginn der Maßnahme zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt noch möglich gewesen wäre – nur dadurch ausgeräumt werden können, dass sich die Betriebsärztin und die behandelnden Ärzte des Klägers über etwaige krankheitsbedingte Leistungseinschränkungen des Klägers verständigt hätten (zur Erforderlichkeit einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen ua. den Beschäftigten, den behandelnden Ärzten, dem Arbeitgeber und den Betriebsärzten vgl. Nr. 2 der Empfehlungen zur Umsetzung der stufenweisen Wiedereingliederung). Dieser Weg war der Beklagten allerdings von vornherein verschlossen, weil der Kläger einer gegenseitigen Entbindung von der Schweigepflicht zwischen seinen behandelnden Ärzten und der Betriebsärztin nicht zugestimmt hatte.
42
bb) Dass der Kläger auf einen entsprechenden Hinweis der Beklagten in der Lage gewesen wäre, seinerseits bis zu dem im Wiedereingliederungsplan vom 28. Oktober 2015 vorgesehenen Beginn der Maßnahme durch Vorlage entsprechender ärztlicher Stellungnahmen die berechtigten Zweifel der Beklagten auszuräumen, hat er nicht geltend gemacht.
43
II. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts und der Rechtsauffassung des Klägers kann dieser seinen Schadensersatzanspruch auch nicht mit Erfolg auf § 84 Abs. 2 SGB IX aF bzw. auf § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 84 Abs. 2 SGB IX aF oder § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 84 Abs. 2 SGB IX aF stützen.
44
§ 84 Abs. 2 SGB IX aF gibt dem Arbeitgeber unter der Überschrift „Prävention“ auf, unter bestimmten Umständen ein betriebliches Eingliederungsmanagement als dialogisches, kooperatives und ergebnisoffenes Klärungsverfahren (Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 167 Rn. 4) einzuleiten. Zwar kann eine stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben das Ergebnis eines solchen Verfahrens sein. Einen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung entsprechend den Vorgaben eines Wiedereingliederungsplans räumt § 84 Abs. 2 SGB IX aF den Betroffenen allerdings nicht ein. Soweit es sich um schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte behinderte Menschen handelt, kann sich für diese ein Anspruch auf Beschäftigung im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben nur aus § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF ergeben. Demgegenüber haben nicht schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte behinderte Menschen – wie unter Rn. 21 ausgeführt – grundsätzlich keinen Anspruch auf Mitwirkung des Arbeitgebers an einer stufenweisen Wiedereingliederung; vielmehr ist das Wiedereingliederungsverhältnis in Fällen außerhalb von § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF ein Rechtsverhältnis eigener Art, das zu seiner Entstehung einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedarf.
Schlewing
Winter
Der Richter am BundesarbeitsgerichtDr. Vogelsang ist an der Unterschriftsleistungverhindert.Schlewing
Wein
Leitz |
bag_22-20 | 21.07.2020 | 21.07.2020
22/20 - Herabsetzung einer Pensionskassenrente - Einstandspflicht des Arbeitgebers - Eintrittspflicht des Pensions-Sicherungs-Vereins
Setzt eine Pensionskasse wegen ihrer mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eine Pensionskassenrente herab, hat insoweit der Arbeitgeber einzustehen, der die Rente zugesagt hat. Wird über das Vermögen des Arbeitgebers ein Insolvenzverfahren eröffnet, kommt eine Einstandspflicht des Pensions-Sicherungs-Vereins VVaG (PSV) für Sicherungsfälle vor dem 1. Januar 2022 nur dann in Betracht, wenn die Pensionskasse die nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers vorgesehene Leistung um mehr als die Hälfte kürzt oder das Einkommen des ehemaligen Arbeitnehmers wegen der Kürzung unter die von Eurostat für Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle fällt.
Der Kläger bezieht ua. eine Pensionskassenrente, die von der Pensionskasse aufgrund eines Beschlusses ihrer Mitgliederversammlung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten seit dem Jahr 2003 jährlich herabgesetzt wird. In der Vergangenheit hat die frühere Arbeitgeberin diese Leistungskürzungen wegen ihrer gesetzlichen Einstandspflicht aus § 1 Abs. 1 Satz 3 Betriebsrentengesetz (BetrAVG) ausgeglichen. Nachdem die frühere Arbeitgeberin insolvent geworden ist, fordert der Kläger vom PSV, für die von der Pensionskasse vorgenommenen Leistungskürzungen einzutreten. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Die Revision des PSV hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg.
Der Dritte Senat hat mit Beschluss vom 20. Februar 2018 – 3 AZR 142/16 (A) – den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ersucht zu klären, ob Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG eine Eintrittspflicht des PSV in derartigen Fällen verlangt. Mit Urteil vom 19. Dezember 2019 (- C-168/18 -) hat der EuGH die Vorlagefragen beantwortet. Eine unionsrechtliche Verpflichtung, die Betriebsrentner in derartigen Situationen abzusichern, besteht danach nur dann, wenn die Pensionskasse die nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers vorgesehene Leistung um mehr als die Hälfte kürzt oder das Einkommen des ehemaligen Arbeitnehmers wegen der Kürzung unter die von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, für Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle fällt.
In der Folge hat der Gesetzgeber durch Art. 8a des Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248) eine Haftung des PSV für die Einstandspflicht des Arbeitgebers im Falle einer Leistungskürzung einer Pensionskasse in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BetrAVG gesetzlich verankert. Ausnahmen gelten nur für Pensionskassen, die einem Sicherungsfonds angehören oder gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien sind. Für Sicherungsfälle vor dem 1. Januar 2022 kommt die Haftung nach einer Übergangsregelung in § 30 Abs. 3 BetrAVG jedoch nur unter den vom EuGH entwickelten Voraussetzungen in Betracht. Erst für spätere Sicherungsfälle haftet der PSV voll.
Im Streitfall ist der Sicherungsfall vor dem 1. Januar 2022 eingetreten und beide alternativen Voraussetzungen für eine Eintrittspflicht des PSV sind nicht erfüllt. Die Klage blieb deshalb erfolglos.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21. Juli 2020 – 3 AZR 142/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 2. Oktober 2015 – 10 Sa 4/15 –
Die maßgeblichen Vorschriften des Betriebsrentengesetzes lauten wie folgt:
„§ 1 Zusage des Arbeitgebers auf betriebliche Altersversorgung
(1)1Werden einem Arbeitnehmer Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung aus Anlass eines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber zugesagt (betriebliche Altersversorgung), gelten die Vorschriften dieses Gesetzes. 2Die Durchführung der betrieblichen Altersversorgung kann unmittelbar über den Arbeitgeber oder über einen … Versorgungsträger erfolgen. 3Der Arbeitgeber steht für die Erfüllung der von ihm zugesagten Leistungen auch dann ein, wenn die Durchführung nicht unmittelbar über ihn erfolgt.
… § 7 Umfang des Versicherungsschutzes
(1)1Versorgungsempfänger, deren Ansprüche aus einer unmittelbaren Versorgungszusage des Arbeitgebers nicht erfüllt werden, weil über das Vermögen des Arbeitgebers oder über seinen Nachlaß das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, und ihre Hinterbliebenen haben gegen den Träger der Insolvenzsicherung einen Anspruch in Höhe der Leistung, die der Arbeitgeber aufgrund der Versorgungszusage zu erbringen hätte, wenn das Insolvenzverfahren nicht eröffnet worden wäre. 2Satz 1 gilt entsprechend,
1. …
2. …
3. wenn über das Vermögen oder den Nachlass des Arbeitgebers, dessen Versorgungszusage von einem Pensionsfonds oder einer Pensionskasse durchgeführt wird, das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist und soweit der Pensionsfonds oder die Pensionskasse die nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers vorgesehene Leistung nicht erbringt; ein Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung besteht nicht, wenn eine Pensionskasse einem Sicherungsfonds nach dem Dritten Teil des Versicherungsaufsichtsgesetzes angehört oder in Form einer gemeinsamen Einrichtung nach § 4 des Tarifvertragsgesetzes organisiert ist. …
§ 30 Erstmalige Beitrags- und Leistungspflicht bei Insolvenzsicherung
(1) …
(2) Wenn die betriebliche Altersversorgung über eine Pensionskasse nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 durchgeführt wird, besteht ein Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung, wenn der Sicherungsfall nach dem 31. Dezember 2021 eingetreten ist. …
(3) Ist der Sicherungsfall nach Absatz 2 vor dem 1. Januar 2022 eingetreten, besteht ein Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung, wenn die Pensionskasse die nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers vorgesehene Leistung um mehr als die Hälfte kürzt oder das Einkommen des ehemaligen Arbeitnehmers wegen einer Kürzung unter die von Eurostat für Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle fällt. …“ | Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 2. Oktober 2015 – 10 Sa 4/15 – teilweise aufgehoben und hinsichtlich der Sachentscheidung zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Auf die Berufung des Klägers wird – unter Zurückweisung der weiter gehenden Berufung – das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 30. Januar 2014 – 6 Ca 3482/13 – teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ab Dezember 2014 jeweils im Dezember eines Jahres ein Weihnachtsgeld iHv. 1.451,05 Euro brutto zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen. Die Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens und der Berufung haben der Kläger zu 2/3 und der Beklagte zu 1/3 zu tragen.
Leitsatz
1. § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG bestimmt im Wege einer gesetzlich unwiderlegbaren Vermutung einen auf zwei Jahre begrenzten, objektiven Ausschluss und erfasst in seiner seit dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung auch Zusagen und Verbesserungen von bestehenden Zusagen – wie etwa Anpassungen nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG -, die auf einem (streitigen) Urteil beruhen.
2. Der Pensions-Sicherungs-Verein VVaG als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung haftet nach § 30 Abs. 3 BetrAVG idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248) für die Einstandspflicht (§ 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG) eines insolventen Arbeitgebers, wenn der Sicherungsfall vor dem 1. Januar 2022 eingetreten ist und die Pensionskasse die nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers vorgesehenen Leistungen um mehr als die Hälfte kürzt oder das Einkommen des ehemaligen Arbeitnehmers wegen der Kürzung unter die von Eurostat für Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle fällt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Pflicht des Beklagten als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung für gerichtlich durchgesetzte Anpassungen laufender Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zum 1. Dezember 2003 und zum 1. Dezember 2009 sowie für die Einstandspflicht des ehemaligen Arbeitgebers des Klägers für Leistungsherabsetzungen durch eine Pensionskasse einzutreten.
2
Der Kläger schloss im September 1977 mit der N GmbH – einem damals noch zum D-Konzern gehörenden Unternehmen – einen Arbeitsvertrag mit Wirkung vom 1. Oktober 1977. Dieser bestimmt in seinem § 7:
„Für das Arbeitsverhältnis gelten weiterhin die Arbeitsordnung der D in ihrer jeweiligen Fassung, die tariflichen Bestimmungen für die chemische Industrie, Tarifbereich Hessen, sowie die gesetzlichen Vorschriften. Die derzeit gültige Fassung der D-Arbeitsordnung ist beigefügt.“
3
Die vom Gesamtbetriebsrat und dem Vorstand der D gezeichnete D-Arbeitsordnung vom 24. Oktober 1974 bestimmt in ihrem Abschnitt B Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ua.:
„1. Pensionskasse
Jeder Arbeitnehmer ist verpflichtet, seine Aufnahme in die D-Pensionskasse zu beantragen, es sei denn, daß er satzungsgemäß nicht Mitglied werden kann. Nach seiner Aufnahme muß er während der Dauer des Arbeitsverhältnisses Mitglied bleiben.“
4
Der Arbeitsvertrag wurde dem Kläger mit einem Einstellungsschreiben vom 5. September 1977 übersandt. Darin ist ua. folgender Hinweis enthalten:
„Nach 6 Monaten Firmenzugehörigkeit werden Sie mit dem ersten Tag des folgenden Kalendervierteljahres Mitglied der D-Pensionskasse.“
5
Die Satzung der D-Pensionskasse regelt ua.:
„§ 1
Name, Form, Sitz und Zweck der Kasse
1.
Die Kasse führt den Namen D-Pensionskasse.
2.
Die Kasse ist ein kleinerer Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit im Sinne des § 53 des Versicherungsaufsichtsgesetzes.
3.
Der Sitz der Kasse ist F.
4.
Die Kasse hat den Zweck, ihren Mitgliedern und deren Hinterbliebenen nach dieser Satzung Pensionen (Ruhegeld, Witwengeld, Waisengeld) zu zahlen.
§ 2
Mitgliedschaft
1.
Die über 21 Jahre alten Beschäftigten der D können ordentliche Mitglieder der Kasse werden. …
…
3.
Der Kassenvorstand kann im Einvernehmen mit der D die Belegschaftsmitglieder einer anderen Firma (angeschlossene Firma) zur ordentlichen Mitgliedschaft zulassen. …
…
§ 3
Beginn und Ende der Mitgliedschaft
1.
Ein Beschäftigter, der die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 erfüllt, wird Kassenmitglied, wenn ihm nicht binnen einem Monat nach Eingang seiner Anmeldung bei der Kasse eine Ablehnung des Kassenvorstandes zugeht. Die Mitgliedschaft beginnt nach Ablauf einer 6-monatigen Zugehörigkeit zur D der zu der angeschlossenen Firma mit dem ersten Tage des folgenden Kalendervierteljahres.
…
§ 4
Einnahmen der Kasse
Die Kasse hat folgende Einnahmen:
1.
Mitgliederbeiträge,
2.
Ausgleichsbeiträge der D und der angeschlossenen Firmen,
…
§ 5
Mitgliederbeiträge
1.
Für ordentliche Mitglieder beträgt der monatliche Mitgliederbeitrag 2% des beitragspflichtigen Einkommens. …
2.
Der Mitgliederbeitrag ist monatlich nachträglich zu entrichten. Die D und die angeschlossenen Firmen behalten die Beiträge ihrer Beschäftigten vom Arbeitsentgelt ein und führen sie kostenfrei an die Kasse ab.
3.
Für angeschlossene Mitglieder wird das beitragspflichtige Einkommen vom Kassenvorstand festgesetzt. Angeschlossene Mitglieder zahlen zu ihren Mitgliederbeiträgen einen Zuschlag von 150%.
…
§ 6
Ausgleichsbeiträge
1.
Das Vermögen der Kasse wird durch Ausgleichsbeiträge der D und der angeschlossenen Firmen in dem Umfang aufgefüllt, wie es nach dem von der Aufsichtsbehörde genehmigten Geschäftsplan in Verbindung mit der nach § 21 aufzustellenden versicherungstechnischen Bilanz erforderlich ist. …“
6
Bei der N GmbH galt seit dem 1. Oktober 1976 eine „Betriebsvereinbarung über die Weihnachtsvergütung für Pensionäre“ vom 20. Oktober 1976, die auszugsweise lautet:
„§ 1
(1)
Jeder Ruhegeldempfänger der D-Pensionskasse (DuPk) und/oder Beamten-Pensionskasse der D (BPK), der als Belegschaftsmitglied der N in den Ruhestand getreten ist, erhält jedes Kalenderjahr als zusätzliche Versorgungsleistung – die historisch bedingt wegen des üblichen Auszahlungstermins als Weihnachtsvergütung für Pensionäre bezeichnet wird – einen Grundbetrag von 10 % seines letzten Monatseinkommens und dazu für jeden vollendete D/N-Dienstjahr einen Steigerungsbetrag von 1 % dieses Monatseinkommens. Das gleiche gilt für Mitarbeiter, die ohne Ruhegeldempfänger der DuPK und/oder BPK zu sein, Pensionsleistungen der N erhalten, auf die ein Rechtsanspruch besteht, sofern sie bis zum Eintritt des Pensionsfalls mindestens fünf anrechenbare N-Dienstjahre zurückgelegt haben. Bei unterbrochener Betriebszugehörigkeit besteht kein Rechtsanspruch auf Anrechnung der Dienstjahre, die vor der letzten Unterbrechung liegen.“
7
Darüber hinaus galt bei der N GmbH ab dem 1. August 1978 eine „Betriebsvereinbarung über die Zahlung einer Pensionszulage“ vom 31. Juli 1978. Diese regelt auszugsweise:
„§ 1
l.Die N gibt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit Ausnahme der Personen mit einzelvertraglicher Pensionsregelung für den Teil des Arbeitseinkommens, der über der Beitragsbemessungsgrenze der D-Pensionskasse (DuPK) liegt, eine Zusage über die Zahlung einer Pensionszulage.
Die Bezeichnung Pensionskasse der chemischen Industrie Deutschlands tritt für die dieser Kasse angehörigen Mitglieder an die Stelle der in dieser Betriebsvereinbarung genannten D-Pensionskasse (DuPK).
§ 2
(1)
Ein Anspruch auf Pensionszulage entsteht zugunsten von Personen, die wegen Erreichens der Altersgrenze oder wegen Arbeitsunfähigkeit in den Ruhestand getreten sind oder die nach ihrem Ausscheiden aus der N gesetzliche Ansprüche nach dem Betriebsrentengesetz erworben haben. Er entsteht außerdem für Hinterbliebene von Personen, die als Mitarbeiter der N oder als Empfänger einer Pensionszulage gemäß dieser Betriebsvereinbarung gestorben sind.
(2)
Die Pensionszulage wird mit Beginn des Monats gezahlt, der auf das Erreichen der Altersgrenze, den Beginn der Arbeitsunfähigkeit (Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit) oder auf den Todesfall folgt, aber nicht vor dem Zeitpunkt, zu dem die Zahlung eines Entgeltes aus dem Arbeitsverhältnis aufhört.“
8
Die N GmbH beendete mit Ablauf des 30. Juni 1980 ihre Stellung als angeschlossene Firma der D-Pensionskasse und schloss deshalb mit ihrem Betriebsrat unter dem 5. Mai 1980 die „Betriebsvereinbarung über die Mitgliedschaft in der Pensionskasse der Chemischen Industrie Deutschlands (PKCh)“. Diese beinhaltet ua. folgende Regelungen:
„§ 1
1.1
Im Einvernehmen mit dem Betriebsrat beendet die N ihre Stellung als angeschlossene Firma der D-Pensionskasse am 30.06.1980, 24.00 Uhr, und schließt sich ab 01.07.1980, 0.00 Uhr, als Kassenfirma der Pensionskasse der chemischen Industrie Deutschlands an.
1.2
Mit dem gleichen Datum endet die Mitgliedschaft aller bisherigen Kassenmitglieder der D-Pensionskasse. Sie werden ab 01.07.1980, 0.00 Uhr, Firmenmitglieder der Pensionskasse der chemischen Industrie Deutschlands. Das für jedes Mitglied errechnete Deckungskapital der D-Pensionskasse zum 30.06.1980 wird in voller Höhe auf die Pensionskasse der chemischen Industrie Deutschlands übertragen, um dort in eine Pensionsanwartschaft mit sofortigem Pensionsanspruch umgerechnet zu werden.
§ 2
Alle weiteren Rechte, Pflichten, Ansprüche, Berechnungen der Pensionsanwartschaften usw. regeln sich ab dem 01.07.1980 nach der Satzung der Pensionskasse der chemischen Industrie Deutschlands, sowie den allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) und Tarifbedingungen (TAB).“
9
Die Pensionskasse der chemischen Industrie Deutschlands heißt mittlerweile Pensionskasse für die Deutsche Wirtschaft (nachfolgend PKDW). Deren Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) und Tarifbedingungen (TaB) lauten in der Fassung vom 1. Dezember 1999 auszugsweise wie folgt:
„Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB)
…
§ 15 a
Überschußbeteiligung
1.
Damit der vereinbarte Versicherungsschutz zu jedem Zeitpunkt der Versicherungsdauer gewährleistet ist, werden für die eingegangenen Verpflichtungen Rückstellungen gebildet. Die zur Bedeckung dieser Rückstellungen erforderlichen Mittel werden angelegt und erbringen Kapitalerträge. Aus diesen Kapitalerträgen, den Versicherungsbeiträgen und den angelegten Mitteln werden die zugesagten Versicherungsleistungen erbracht, sowie die Kosten von Abschluß und Verwaltung des Vertrages gedeckt. Je größer die Erträge aus den Kapitalanlagen sind, je weniger Versicherungsfälle eintreten und je kostengünstiger die Pensionskasse arbeitet, umso größer sind dann entstehende Überschüsse. Die Überschußermittlung erfolgt nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuches (HGB) und des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) und den dazu erlassenen Rechtsverordnungen.
2.
Alle Versicherungsverträge werden nach Maßgabe des § 22 der Satzung angemessen und verursachungsgerecht am Überschuß beteiligt. Dies wird von der Aufsichtsbehörde überwacht.
…
§ 25
Berufsunfähigkeitspension
1.
Berufsunfähigkeitspension erhält das Mitglied, das nach Beginn des Versicherungsschutzes und während der Versicherungsdauer berufs- oder erwerbsunfähig geworden und deshalb gegebenenfalls aus dem Berufsleben ausgeschieden ist.
Bestand zu Beginn der Versicherung eine Erwerbsbeschränkung, so kann Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension erst erhoben werden, wenn mehr als die Hälfte der zu Beginn der Versicherung vorhanden gewesenen Erwerbsfähigkeit im Sinne von Ziffer 2 eingebüßt ist.
…
Tarifbedingungen (TaB)
Tarif A
A § 1
Beiträge
1.
Der Regelbeitrag beträgt 6 % des pensionsfähigen Arbeitsverdienstes (§ 12 AVB). Er ist zu 1/3 vom Mitglied (Mitgliedsanteil) und zu 2/3 von der Kassenfirma (Firmenanteil) zu tragen.
Die Pensionskasse kann auf Antrag ein anderes Aufteilungsverhältnis zulassen.
Für Einzelmitglieder gilt § 10 Ziffer 2 AVB.
…
A § 4
Pensionshöhe
1.
Der Jahresbetrag der Pension setzt sich aus Steigerungsbeträgen zusammen, die von den in jedem Kalenderjahr gezahlten Beiträgen sowie von dem Lebensalter des Mitglieds im Jahr der Beitragszahlung abhängig sind.
2.
Die Steigerungsbeträge ergeben sich aus den folgenden auf die laufenden Beiträge bezogenen Prozentsätzen:
…“
10
Im Februar 1998 ging der Geschäftsbereich „Behältertechnik“, in dem der Kläger eingesetzt war, im Wege eines Betriebsübergangs auf die neu gegründete L R GmbH – die ab dem Jahr 2010 als L S GmbH firmierte -, die spätere Insolvenzschuldnerin (nachfolgend Insolvenzschuldnerin), über.
11
Das zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis endete zum 30. November 2000. Ab dem 30. November/1. Dezember 2000 bezieht der Kläger eine betriebliche Invaliditätsversorgung. Diese setzt sich aus drei Bestandteilen zusammen und zwar einer Pensionszulage iHv. umgerechnet 398,90 Euro brutto monatlich, einem Weihnachtsgeld für Pensionäre iHv. umgerechnet 1.451,05 Euro brutto jährlich und einer Pensionskassenrente iHv. zunächst umgerechnet 877,81 Euro brutto monatlich. Letztere hat sich aufgrund der Zuweisung unbefristeter Gewinnanteile bis zum 30. Juni 2003 auf 899,23 Euro brutto erhöht. Von der Ausgangsrente iHv. 877,81 Euro brutto beruhten 585,21 Euro brutto auf Beiträgen der früheren Arbeitgeberinnen und 292,60 Euro brutto auf Eigenbeiträgen des Klägers. Ende Juni 2003 betrugen diese Werte 599,49 Euro brutto für den auf Arbeitgeberbeiträgen und 299,74 Euro brutto für den auf Eigenbeiträgen beruhenden Teil der Pensionskassenrente.
12
Zum 31. Dezember 2002 stellten die versicherungsmathematischen Sachverständigen der PKDW einen Fehlbetrag iHv. 153,5 Mio. Euro fest. Die Mitgliederversammlung der PKDW fasste unter dem 27. Juni 2003 den Beschluss, die einer Herabsetzung unterliegenden Pensionen jeweils zum 1. Juli eines Jahres, beginnend mit dem 1. Juli 2003, jährlich um 1,4 vH herabzusetzen, soweit die Pension zu diesem Zeitpunkt mindestens sechs Monate gewährt worden ist. Die Höhe der versicherten Anwartschaften blieb unverändert. Kapitalabfindungen wurden wertmäßig entsprechend angepasst. Der Wert der Leistungsherabsetzung ist dabei insgesamt auf den Wert der in der Vergangenheit gewährten Gewinnanteile beschränkt. Entsprechend diesem Beschluss wurden die Versorgungsansprüche der Pensionäre von der PKDW jeweils zum 1. Juli eines Kalenderjahres um 1,4 vH pro Jahr der von der PKDW gewährten Altersversorgung gekürzt. Die Versorgungsleistung für den Kläger wurde zunächst um 1,4 vH verringert; in den darauffolgenden Jahren wurde der Kürzungsfaktor auf 1,34 vH zum 1. Juli 2008, auf 1,31 vH zum 1. Juli 2009, auf 1,26 vH zum 1. Juli 2010 und auf 1,25 vH zum 1. Juli 2013 gesenkt. Für die weiteren Jahre ist die jährliche Herabsetzung auf 1,25 vH festgeschrieben.
13
Mit Schreiben vom 21. Dezember 2010 forderte der Kläger die spätere Insolvenzschuldnerin auf, die durch die PKDW seit dem 1. Juli 2003 vorgenommenen Kürzungen aufgrund ihrer Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG auszugleichen und die Pensionskassenrente nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG zum 1. Dezember 2003, zum 1. Dezember 2006 und zum 1. Dezember 2009 anzupassen. Mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2010 erhob der Kläger beim damaligen Arbeitsgericht Hanau Zahlungsklage gegen die spätere Insolvenzschuldnerin auf Ausgleich der bisherigen und künftigen Leistungsherabsetzungen durch die PKDW und auf die sich aus einer Anpassung der Pensionskassenrente nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG ergebenden Erhöhungsbeträge. Das Arbeitsgericht Hanau verurteilte die spätere Insolvenzschuldnerin mit Teilurteil vom 14. Juni 2011 zur Zahlung der durch die Leistungsherabsetzung eingetretenen Kürzungen der Pensionskassenrente für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2010 und zur Zahlung der sich aus einer Anpassung der Pensionskassenrente nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG zum 1. Dezember 2003 ergebenden Erhöhungsbeträge für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2010. Am 22. Juli 2011 legten die Prozessbevollmächtigten der späteren Insolvenzschuldnerin Berufung gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Hanau ein.
14
Bereits mit einem Schriftsatz vom 12. Juli 2011 hatte der Kläger seine Klage vor dem Arbeitsgericht Hanau auf Zahlung der sich aus einer Anpassung nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG zum 1. Dezember 2003, zum 1. Dezember 2006 und zum 1. Dezember 2009 ergebenden Erhöhungsbeträge der monatlichen Pensionszulage und des jährlichen Weihnachtsgelds erweitert.
15
Mit Schlussurteil vom 29. November 2011 verurteilte das Arbeitsgericht Hanau die spätere Insolvenzschuldnerin auch zur Zahlung der Erhöhung aufgrund einer Anpassung der Pensionskassenrente nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG zum 1. Dezember 2009 und zur Zahlung der entsprechenden Anpassungen der Pensionszulage und des Weihnachtsgelds jeweils zum 1. Dezember 2003 und zum 1. Dezember 2009. Hinsichtlich der Zahlungen aus einer Erhöhung der jeweiligen laufenden Leistungen zum 1. Dezember 2006 hat das Arbeitsgericht Hanau die Klage abgewiesen. Dieses Urteil wurde dem Kläger am 1. Dezember 2011 und der späteren Insolvenzschuldnerin am 6. Dezember 2011 zugestellt. Gegen dieses Schlussurteil wurde weder vom Kläger noch von der späteren Insolvenzschuldnerin Berufung eingelegt.
16
Mit Beschluss vom 30. Januar 2012 eröffnete das Amtsgericht Hanau das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin.
17
Der Beklagte teilte dem Kläger durch Leistungsbescheide vom 12. September 2012 mit, dass er die Pensionszulage iHv. 398,90 Euro brutto monatlich und das Weihnachtsgeld für Pensionäre iHv. 1.451,05 Euro brutto jährlich leisten werde.
18
Mit seiner Klage begehrt der Kläger von dem Beklagten einerseits die Zahlung der durch das Teil- und das Schlussurteil des Arbeitsgerichts Hanau erstrittenen Anpassungsforderungen auf die Pensionszulage, das Weihnachtsgeld für Pensionäre sowie die Pensionskassenrente und andererseits die Zahlung der – von der Insolvenzschuldnerin noch bis zum 30. November 2011 geleisteten – Auffüllbeträge für die von der PKDW vorgenommenen Herabsetzungen der Pensionskassenrente.
19
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei verpflichtet, die durch das Teil- und das Schlussurteil des Arbeitsgerichts Hanau – teilweise rechtskräftig – ausgeurteilten Anpassungsbeträge aufgrund von Anpassungen zum 1. Dezember 2003 und zum 1. Dezember 2009 auf die Pensionszulage und das Weihnachtsgeld zu leisten. Die Eintrittspflicht des Beklagten für diese Forderungen sei nicht ausgeschlossen. Die Anpassung nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG sei keine Verbesserung iSv. § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG. Außerdem lägen beide Anpassungstermine, auf die nach Sinn und Zweck der Norm abzustellen sei, außerhalb des Ausschlusszeitraums von zwei Jahren vor der Insolvenzeröffnung. Zudem sei bei einer gerichtlichen Entscheidung über die Anpassung ein Versicherungsmissbrauch ausgeschlossen.
20
Im Übrigen sei der Beklagte auch verpflichtet, für die Einstandspflicht der Insolvenzschuldnerin nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG einzutreten. Die Einstandspflicht sei insolvenzgeschützt. Soweit § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG zwischen unmittelbaren und mittelbaren Versorgungswegen differenziere, sei zu beachten, dass die Versorgungszusage, soweit es die Einstandspflicht betreffe, nicht mehr im mittelbaren Versorgungsweg durchgeführt werde, da die Einstandspflicht des Arbeitgebers nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG als unmittelbare Durchführung über den Arbeitgeber erfolge. Das ergebe sich nicht zuletzt aus steuerrechtlichen Vorschriften, da unmittelbare Versorgungsleistungen des Arbeitgebers nach § 19 EStG voll besteuert würden, Pensionskassenleistungen hingegen nur mit dem Ertragsanteil nach § 22 Nr. 1a EStG. Eine Haftung des Beklagten scheide auch nicht deswegen aus, weil die Insolvenzschuldnerin insoweit keine Beitragszahlungen geleistet habe.
21
Der Kläger hat zuletzt beantragt, den Beklagten zu verurteilen
1.
für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 30. Juni 2014 eine rückständige Pensionszulage iHv. 1.423,21 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten oberhalb des Basiszinssatzes aus monatlich je 45,91 Euro seit dem 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli, 1. August, 1. September, 1. Oktober, 1. November und 1. Dezember 2012 und 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli, 1. August, 1. September, 1. Oktober, 1. November und 1. Dezember 2013 und 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli 2014 zu zahlen;
2.
ein rückständiges Weihnachtsgeld für Pensionäre iHv. 243,39 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten oberhalb des Basiszinssatzes aus je 81,13 Euro seit dem 1. Januar 2012, 1. Januar 2013 und 1. Januar 2014 zu zahlen;
3.
für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 30. Juni 2014 eine rückständige Firmenrente (Auffüllung der Pensionskassenrente) iHv. 6.055,51 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten oberhalb des Basiszinssatzes aus monatlich je 183,85 Euro seit dem 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli 2012 und aus je 193,78 Euro seit dem 1. August, 1. September, 1. Oktober, 1. November und 1. Dezember 2012 und 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli 2013 und aus je 203,60 Euro seit dem 1. August, 1. September, 1. Oktober, 1. November und 1. Dezember 2013 und 1. Januar, 1. Februar, 1. März, 1. April, 1. Mai, 1. Juni, 1. Juli 2014 zu zahlen;
4.
ab Juli 2014 eine zusätzliche Firmenrente iHv. 249,51 Euro brutto monatlich zu zahlen;
5.
ab Dezember 2014 jeweils im Dezember eines Jahres ein Weihnachtsgeld für Pensionäre iHv. 1.532,18 Euro brutto zu zahlen.
22
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
23
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit seiner Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung der klageabweisenden Entscheidung des Arbeitsgerichts, betreffend den Antrag zu 5. jedoch nur hinsichtlich einer Verurteilung zur Zahlung von mehr als 1.451,05 Euro brutto jährlich. Der Kläger begehrt die Zurückweisung der Revision.
24
Mit Beschluss vom 20. Februar 2018 (- 3 AZR 142/16 (A) – BAGE 162, 22) hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union um Beantwortung von Fragen zu Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG ersucht, die der Gerichtshof mit Urteil vom 19. Dezember 2019 (- C-168/18 -) wie folgt beantwortet hat:
1.
Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ist dahin auszulegen, dass er auf eine Situation anwendbar ist, in der ein Arbeitgeber, der Leistungen der betrieblichen Altersversorgung über eine überbetriebliche Einrichtung gewährt, wegen seiner Zahlungsunfähigkeit nicht für den Ausgleich der Verluste einstehen kann, die sich aus der Kürzung der von dieser überbetrieblichen Einrichtung erbrachten Leistungen ergeben, wobei diese Kürzung von der diese Einrichtung überwachenden staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht genehmigt wurde.
2.
Art. 8 der Richtlinie 2008/94 ist dahin auszulegen, dass eine wegen der Zahlungsunfähigkeit seiner ehemaligen Arbeitgeberin erfolgte Kürzung der einem ehemaligen Arbeitnehmer gezahlten Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen wird, obwohl der Betroffene mindestens die Hälfte der sich aus seinen erworbenen Rechten ergebenden Leistungen erhält, wenn dieser ehemalige Arbeitnehmer wegen dieser Kürzung bereits unterhalb der von Eurostat für betreffenden Mitgliedstaat ermittelten Armutsgefährdungsschwelle lebt oder künftig leben müsste.
3.
Der eine Mindestschutzpflicht vorsehende Art. 8 der Richtlinie 2008/94 kann unmittelbare Wirkung entfalten, so dass er gegenüber einer privatrechtlichen Einrichtung geltend gemacht werden kann, die vom Staat als Träger der Arbeitgeberinsolvenzsicherung im Bereich der betrieblichen Altersversorgung bestimmt worden ist, wenn diese Einrichtung in Anbetracht der Aufgabe, mit der sie betraut ist, und der Bedingungen, unter denen sie sie erfüllt, dem Staat gleichgestellt werden kann, sofern sich die Aufgabe der Sicherung, mit der sie betraut ist, tatsächlich auf die Arten von Leistungen bei Alter erstreckt, für die der in Art. 8 dieser Richtlinie vorgesehene Mindestschutz verlangt wird.
Entscheidungsgründe
25
Die nur eingeschränkt eingelegte Revision des Beklagten ist begründet. Die zulässige Klage ist im noch zur Entscheidung stehenden Umfang unbegründet. Der Beklagte hat weder für die im Rechtsstreit zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin ausgeurteilten Anpassungen der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung noch für die von der PKDW vorgenommenen Leistungsherabsetzungen einzutreten.
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I. Die Revision wurde vom Beklagten nur eingeschränkt eingelegt. Die Beschränkung der Revision hinsichtlich des Antrags zu 5. auf einen Betrag iHv. 81,13 Euro brutto jährlich ist zulässig.
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1. Das Landesarbeitsgericht hat den gesamten Betrag des Weihnachtsgelds für Pensionäre iHv. 1.532,18 Euro brutto jährlich ausgeurteilt. Der Beklagte wendet sich mit seiner Revision ausdrücklich nur gegen die Verurteilung zur Zahlung eines 1.451,05 Euro brutto jährlich übersteigenden Betrags, mithin 81,13 Euro brutto jährlich. Diese Beschränkung erfolgte erkennbar vor dem Hintergrund, dass der Beklagte sich ausweislich seines Leistungsbescheids vom 12. September 2012 verpflichtet sieht, an den Kläger ein jährliches Weihnachtsgeld für Pensionäre iHv. 1.451,05 Euro brutto zu zahlen.
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2. Ein Revisionskläger ist berechtigt, ein Urteil nur hinsichtlich eines tatsächlich und rechtlich selbständigen sowie abtrennbaren Teils des Gesamtstreitstoffs anzugreifen. Voraussetzung hierfür ist eine Selbständigkeit des Streitstoffs in dem Sinne, dass dieser in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unabhängig von dem übrigen Prozessstoff beurteilt werden und auch kein Widerspruch zum nicht anfechtbaren Teil des Streitstoffs auftreten kann. Es muss sich hierbei weder um einen eigenen Streitgegenstand handeln noch muss der betroffene Teil des Streitstoffs auf der Ebene der Berufungsinstanz teilurteilsfähig sein; auch eine Beschränkung auf einen abtrennbaren Teil eines prozessualen Anspruchs ist möglich (vgl. BGH 15. März 2017 – VIII ZR 295/15 – Rn. 13 f. mwN).
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3. Die Fragen, ob der Beklagte zur Zahlung eines 1.451,05 Euro brutto übersteigenden Betrags jährlich einerseits verpflichtet ist und ob andererseits dieser Betrag nach § 16 Abs. 1 und Abs. 2 BetrAVG um einen Betrag iHv. 81,13 Euro brutto anzupassen ist, bestehen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unabhängig voneinander und können ohne Widerspruch zueinander beantwortet werden.
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II. Die Revision des Beklagten hat nicht schon deshalb teilweise Erfolg, weil der Kläger seinen Zahlungsanspruch in der Berufungsinstanz um spätere Zahlungszeiträume erweitert hat. Das Landesarbeitsgericht hat über die Anträge in der Sache entschieden. Daher hat der Senat in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO in der Revision nicht mehr zu prüfen, ob eine Klageänderung nach § 533 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG vorliegt und ob diese ggf. zulässig ist (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 32 mwN, BAGE 164, 261).
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III. Die Klage ist insgesamt zulässig.
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1. Die Klage ist insbesondere nicht aufgrund entgegenstehender Rechtskraft unzulässig. Zum einen ist aus dem zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin vor dem damaligen Arbeitsgericht Hanau geführten Rechtsstreit lediglich das Schlussurteil vom 29. November 2011 (- 2 Ca 463/10 -) rechtskräftig geworden. Der Rechtsstreit hinsichtlich der Streitgegenstände, über die mit dem vorangegangenen Teilurteil vom 14. Juni 2011 (- 2 Ca 463/10 -) entschieden wurde, ist nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht mehr nach § 240 ZPO unterbrochen, verfahrensrechtlich jedoch noch nicht erledigt. Zum anderen scheitert eine umfassende Rechtskrafterstreckung für das vorliegende Verfahren daran, dass im Vorprozess die Eintrittspflicht des Beklagten nicht Streitgegenstand war.
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2. Die Klage ist auch hinsichtlich der auf künftige Rentenzahlungen gerichteten Klageanträge zu 4. und zu 5. zulässig. Sie haben die Zahlung wiederkehrender Leistungen iSd. § 258 ZPO zum Gegenstand. Bei wiederkehrenden Leistungen, die – wie Betriebsrentenansprüche – von keiner Gegenleistung abhängen, können gemäß § 258 ZPO grundsätzlich auch künftig fällig werdende Teilbeträge eingeklagt werden. Im Gegensatz zu § 259 ZPO muss nicht die Besorgnis bestehen, dass der Schuldner sich der rechtzeitigen Leistung entziehen wird (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 3 AZR 150/18 – Rn. 13 mwN, BAGE 165, 345).
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IV. Die Klage ist in dem noch zur Entscheidung stehenden Umfang unbegründet. Der Beklagte ist weder verpflichtet, die vom Kläger seit dem 1. Dezember 2000 bezogenen laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung (Pensionszulage, Weihnachtsgeld für Pensionäre und Pensionskassenrente) zu den Anpassungsstichtagen 1. Dezember 2003 und 1. Dezember 2009 an den jeweils seit dem Eintritt des Versorgungsfalls eingetretenen Kaufkraftverlust anzupassen und die sich daraus ergebenden Erhöhungen zu zahlen, noch hat der Beklagte für die von der PKDW seit dem 1. Juli 2003 vorgenommenen Leistungsherabsetzungen bzgl. der Pensionskassenrente und die daran anknüpfende Einstandspflicht der Insolvenzschuldnerin aus § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG einzutreten.
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1. Die Eintrittspflicht des Beklagten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG umfasst – entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts – nicht die vom Kläger gegen die Insolvenzschuldnerin nach § 16 BetrAVG gerichtlich durchgesetzten Anpassungen zu den Stichtagen 1. Dezember 2003 und 1. Dezember 2009. Sie unterfallen – auch soweit über sie durch das Schlussurteil des Arbeitsgerichts Hanau vom 29. November 2011 (- 2 Ca 463/10 -) rechtskräftig gegenüber der Insolvenzschuldnerin erkannt wurde – dem Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG.
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a) Nach § 7 Abs. 5 Satz 1 BetrAVG besteht gegen den Beklagten kein Anspruch, soweit nach den Umständen des Falls die Annahme gerechtfertigt ist, dass der alleinige oder überwiegende Zweck einer Versorgungszusage oder ihrer Verbesserung gewesen ist, den Träger der Insolvenzsicherung in Anspruch zu nehmen. Diese Annahme ist nach § 7 Abs. 5 Satz 2 BetrAVG insbesondere dann gerechtfertigt, wenn bei Erteilung oder Verbesserung der Versorgungszusage wegen der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers zu erwarten war, dass die Zusage nicht erfüllt wird. Darüber hinaus schließt § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG einen Anspruch auf Leistungen gegen den Träger der Insolvenzsicherung bei Zusagen und Verbesserungen von Zusagen, die in den beiden letzten Jahren vor dem Eintritt des Sicherungsfalls erfolgt sind, vom Insolvenzschutz aus, soweit nicht eine Entgeltumwandlung oder eine Übertragung der Versorgung jeweils innerhalb bestimmter Grenzen vorliegt. Für die Anwendung von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG kommt es nicht darauf an, ob ein Versicherungsmissbrauch positiv festgestellt wird (Satz 1) oder widerleglich zu vermuten ist (Satz 2). § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG enthält eine unwiderlegbare Vermutung und damit einen zeitlich begrenzten objektiven Ausschlusstatbestand (vgl. BAG 19. Februar 2002 – 3 AZR 137/01 – zu II 1 der Gründe, BAGE 100, 271; 26. April 1994 – 3 AZR 981/93 – zu II 1 der Gründe, BAGE 76, 299; statt vieler Cisch/Lämpe BB 2016, 2167; Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 7 Rn. 296).
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Die Ausschlusstatbestände in § 7 Abs. 5 BetrAVG setzen voraus, dass die Versorgungszusage im Hinblick auf den gesetzlichen Insolvenzschutz erteilt oder verbessert worden ist, wobei nach § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG dafür ausschließlich die zeitliche Nähe zum Sicherungsfall genügt. Der Begriff der Verbesserung einer Versorgungszusage ist denkbar weit und erfasst auch die Erhöhung einer Betriebsrente nach Maßgabe des § 16 BetrAVG (BAG 18. März 2003 – 3 AZR 120/02 – zu I der Gründe, BAGE 105, 224; 25. Juni 2002 – 3 AZR 226/01 – zu II 2 der Gründe; 26. April 1994 – 3 AZR 981/93 – zu II 1 der Gründe, BAGE 76, 299; Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm BetrAVG 8. Aufl. § 7 Rn. 170; Langohr-Plato Betriebliche Altersversorgung 7. Aufl. Rn. 850; Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 7 Rn. 298; Wortmann in Schlewing/Henssler/Schipp/Schnitker Arbeitsrecht der betrieblichen Altersversorgung Stand Februar 2020 Teil 16 A Rn. 440; aA Höfer/Höfer BetrAVG Bd. I Stand März 2019 § 7 Rn. 281; UFOD/Braun bAV § 7 BetrAVG Rn. 222).
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b) Der Ausschlusstatbestand in der seit dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrVG erfasst auch Zusagen und Verbesserungen von Zusagen, die auf einem streitigen Urteil beruhen.
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aa) Zu § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung, wonach Verbesserungen der Versorgungszusagen bei der Bemessung der Leistungen des Trägers der Insolvenzsicherung nicht berücksichtigt wurden, soweit sie in dem letzten Jahr vor dem Eintritt des Sicherungsfalls größer gewesen sind als in dem diesem Jahr vorangegangenen Jahr, hat der Senat erkannt, dass auch durch (Versäumnis-)Urteil erstrittene rechtskräftige Anpassungen nach § 16 BetrAVG diesem Ausschlusstatbestand unterfallen (BAG 26. April 1994 – 3 AZR 981/93 – zu II 3 a der Gründe, BAGE 76, 299). Das Urteil ersetze lediglich die Entscheidung des Versorgungsschuldners und sei daher nicht anders zu behandeln als diese Entscheidung selbst.
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bb) Zu § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG in der vom 1. Januar 1999 bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung, wonach Verbesserungen der Versorgungszusagen bei der Bemessung der Leistungen des Trägers der Insolvenzsicherung nicht berücksichtigt wurden, soweit sie in den beiden letzten Jahren vor dem Eintritt des Sicherungsfalls vereinbart worden sind, hat der Senat angenommen, dass eine durch streitiges, rechtskräftiges Urteil erfolgte Anpassung nach § 16 BetrAVG, nach der die Betriebsrente zu einem länger als zwei Jahre vor dem Sicherungsfall liegenden Zeitpunkt erhöht wurde, keine vereinbarte Verbesserung in diesem Sinne darstellt (vgl. BAG 18. März 2003 – 3 AZR 120/02 – zu III 1 und 2 der Gründe, BAGE 105, 224). Der Senat hat dabei entscheidend auf den geänderten Wortlaut des Gesetzes abgestellt, wonach die Verbesserung durch eine Vereinbarung zustande gekommen sein musste. Ein streitiges Urteil war einer solchen Vereinbarung nicht gleichzustellen (vgl. BAG 18. März 2003 – 3 AZR 120/02 – zu III 1 der Gründe, aaO). Das galt jedenfalls uneingeschränkt dann, wenn der Zeitpunkt der Anpassung außerhalb des Zweijahreszeitraums des (damals geltenden) § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG lag (vgl. BAG 18. März 2003 – 3 AZR 120/02 – zu III 2 der Gründe, aaO).
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cc) Durch das Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – AltEinkG) vom 5. Juli 2004 (BGBl. I S. 1427) erhielt § 7 Abs. 5 Satz 3 Einleitungssatz BetrAVG mit Wirkung ab dem 1. Januar 2005 die derzeitige Fassung. Danach fehlt das in der Zeit vom 1. Januar 1999 bis zum 31. Dezember 2004 in § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG enthaltene Tatbestandsmerkmal der „vereinbarten“ Verbesserung. Die Begründung des Gesetzesentwurfs zur Neufassung von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG, der insoweit unverändert zum Gesetz wurde, enthält hierzu keine Erläuterung (vgl. BT-Drs. 15/2150 S. 54).
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dd) Aufgrund der Streichung des Erfordernisses der „vereinbarten“ Verbesserung mit Wirkung ab dem 1. Januar 2005 ist insoweit wieder der bis zum 31. Dezember 1998 gültige Rechtszustand hergestellt worden (ebenso Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm BetrAVG 8. Aufl. § 7 Rn. 171; Wortmann in Schlewing/Henssler/Schipp/Schnitker Arbeitsrecht der betrieblichen Altersversorgung Stand Februar 2020 Teil 16 A Rn. 440; aA Höfer/Höfer BetrAVG Bd. I Stand März 2019 § 7 Rn. 282; Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 7 Rn. 299, der eine Handlung des Arbeitgebers verlangt). Nach dem Wortlaut von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG in der seit dem 1. Dezember 2005 geltenden Fassung reicht für einen Ausschluss – wie bereits bis zum 31. Dezember 1998 – jede Zusage oder Verbesserung einer Zusage und damit auch eine Anpassungsentscheidung nach § 16 BetrAVG. Dies gilt unabhängig davon, ob die Anpassung auf einer eigenständigen Entscheidung des Arbeitgebers beruht oder auf einer diese Entscheidung ersetzenden gerichtlichen Gestaltungsentscheidung. Ein die Anpassungsentscheidung des Arbeitgebers ersetzendes Urteil ist nach Sinn und Zweck von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG nicht anders zu behandeln, als eine Anpassungsentscheidung des Arbeitgebers selbst. Der objektive Ausschlusstatbestand von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG ist zeitlich begrenzt (vgl. BAG 26. April 1994 – 3 AZR 981/93 – zu II 1 der Gründe, BAGE 76, 299) und dient dem Schutz des PSV und seiner Mitglieder (vgl. BT-Drs. 15/2150 S. 54 sowie BT-Drs. 7/2843 S. 9).
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Unerheblich ist auch, ob das die Anpassungsentscheidung des Arbeitgebers ersetzende Urteil als streitiges Urteil nach umfassender Prüfung der Sach- und Rechtslage oder als Versäumnisurteil ergeht. Der Beklagte ist in möglichen Fällen des Scheinprozesses oder der bewussten Täuschung des Gerichts nicht auf die Missbrauchsregelungen des § 7 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 BetrAVG zu verweisen (vgl. zur Rechtslage bis zum 31. Dezember 2004 BAG 18. März 2003 – 3 AZR 120/02 – zu III 3 der Gründe, BAGE 105, 224). Der Ausschlusstatbestand ist objektiv und unwiderleglich (vgl. BAG 26. April 1994 – 3 AZR 981/93 – zu II 1 b der Gründe, BAGE 76, 299), weshalb es – anders als bei den Sätzen 1 und 2 – auf eine – ohnehin nur schwer mögliche – Prüfung und Feststellung einer Missbrauchsabsicht nicht ankommt.
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Mit diesem Verständnis von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG wird einerseits eine mögliche Umgehung des Tatbestands durch die zum Schein erfolgende Durchführung eines Gerichtsverfahrens verhindert. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass Gerichtsverfahren – einschließlich möglicher Rechtsmittel gegen ergangene Entscheidungen – in Zeiten existenzieller Krisen für ein Unternehmen nicht mehr mit dem gebotenen Nachdruck geführt werden. Andererseits wird aufgrund der zeitlichen Begrenzung der betroffene Arbeitnehmer nicht übermäßig belastet. Das gilt auch in dem vorliegenden Fall, in dem es dem Kläger über mehrere Jahre offenstand, seine Ansprüche außerhalb der Zwei-Jahres-Frist geltend zu machen und ggf. gerichtlich durchzusetzen. Überdies wird allein mit diesem Verständnis von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG dem Sinn und Zweck der Norm entsprochen. Dazu ist eine klare Grenzziehung erforderlich. Dies entsprach auch bereits dem gesetzgeberischen Willen bei der Schaffung der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG. Ausdrücklich wird in dem „Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung“ vom 22. November 1974 ausgeführt (BT-Drs. 7/2843 S. 9):
„Eine zusätzliche Sicherung vor Mißbräuchen soll durch Satz 3 gewährleistet werden. Hiernach werden, ohne daß es eines – im Einzelfall schwierigen – Nachweises einer Mißbrauchsabsicht bedarf, Verbesserungen der Versorgungszusagen im letzten Jahr vor dem Sicherungsfall nur begrenzt berücksichtigt.“
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ee) Eine planwidrige Regelungslücke, die eine teleologische Reduktion des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG erlauben würde, ist nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber hat im Interesse der Rechtssicherheit eine pauschalierende Betrachtung gewählt (vgl. Wortmann in Schlewing/Henssler/Schipp/Schnitker Arbeitsrecht der betrieblichen Altersversorgung Stand Februar 2020 Teil 16 A Rn. 440). Damit wird jedwede Verbesserung erfasst und zwar auch dann, wenn sie auf (streitigen) Urteilen beruht und folglich auch die Anpassungen nach § 16 BetrAVG, die innerhalb der Zwei-Jahres-Frist rechtskräftig werden. Die dadurch bedingte Verbesserung der Zusage erfolgt erst mit der Rechtskraft und damit im Ausschlusszeitraum (Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm BetrAVG 8. Aufl. § 7 Rn. 171).
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ff) Hiernach bezieht sich der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG – entgegen der Auffassung des Klägers – auch auf Verbesserungen, deren Leistungszeiträume außerhalb der Zwei-Jahres-Frist liegen. Dem Kläger ist zwar zuzugeben, dass er mit dem die Anpassungsentscheidung ersetzenden Urteil, das sich zu großen Teilen auf Zeiträume außerhalb der Zwei-Jahres-Frist des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG bezieht, so gestellt wird, als hätte der Arbeitgeber die Anpassungsentscheidung rechtzeitig vorgenommen. Der Beklagte würde insofern nicht mit Zahlungen belastet, die er – bei ordnungsgemäßem Verhalten des Arbeitgebers – nicht hätte tragen müssen. Doch würde ein solches Verständnis der Norm ihrem Wortlaut widersprechen, der eine Differenzierung nach dem Zeitraum, auf den sich die Verbesserung bezieht, nicht vorsieht. Vor diesem Hintergrund muss es bei der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG und dem Ausschluss der vom Kläger erhobenen Ansprüche bleiben.
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Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass erst durch die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung die Anpassungsentscheidung getroffen ist und der Arbeitgeber in Verzug geraten kann. Dies könnte zwar dazu führen, dass der maßgebliche Zeitpunkt – etwa infolge von Verzögerungen, die der Versorgungsempfänger nicht zu vertreten hat und die er unter Umständen auch nicht beeinflussen kann – in die Zwei-Jahres-Frist des § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG fällt. Dies könnte für die vom Senat im Urteil vom 26. April 1994 (- 3 AZR 981/93 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 76, 299) erwogene Lösung, schon den Zeitpunkt der Klageerhebung als Zeitpunkt der „Verbesserung“ anzusehen, sprechen. Auch das würde dem Kläger allerdings nicht helfen, denn die Klage ist vorliegend erst am 28. Dezember 2010 und die Klageerweiterung erst am 12. Juli 2011 bei Gericht eingegangen und damit innerhalb der Zwei-Jahres-Frist.
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c) Der Ausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG ist unionsrechtlich nicht zu beanstanden. Er hält sich innerhalb der von Art. 12 Buchst. a Richtlinie 2008/94/EG vorgegebenen Grenzen. Dabei kann dahinstehen, ob Art. 12 Buchst. a Richtlinie 2008/94/EG nur auf den aus Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG resultierenden Mindestschutz oder auch auf den sich nach nationalem Recht ergebenden Insolvenzschutz zu beziehen ist.
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aa) Nach Art. 12 Buchst. a Richtlinie 2008/94/EG steht die Richtlinie nicht der Möglichkeit der Mitgliedstaaten entgegen, die zur Vermeidung von Missbräuchen notwendigen Maßnahmen zu treffen. Die Richtlinie eröffnet damit den Mitgliedstaaten einen weiten, kaum vorstrukturierten Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum (EuArbRK/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/94/EG Art. 12 Rn. 1). Die notwendigen Maßnahmen müssen im Sinne einer Verhältnismäßigkeit geeignet und erforderlich sein und dürfen nicht die volle Wirksamkeit und einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen (vgl. EuGH 10. Februar 2010 – C-30/10 – [Andersson] Rn. 26; 11. September 2003 – C-201/01 – [Walcher] Rn. 37).
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bb) Die in § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG bestimmte unwiderlegliche Missbrauchsvermutung bei Verbesserungen innerhalb der beiden letzten Jahre vor dem Eintritt des Sicherungsfalls hält sich innerhalb der von der Richtlinie insoweit gezogenen Grenzen. Sie ist zum Schutz des Beklagten und der ihn finanzierenden Mitglieder geeignet und erforderlich und hindert die volle Wirksamkeit und einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht. Der Gesetzgeber hat in einer plausiblen Einschätzung eine naheliegende Beweisregel geschaffen.
51
cc) Auch die den nationalen Gestaltungsmöglichkeiten durch das Gebot des effet utile gezogene immanente Grenze ist durch die Schaffung einer zeitlich auf zwei Jahre begrenzten unwiderleglichen Vermutung des Missbrauchs nicht überschritten (vgl. zu Beweisregelungen des nationalen Rechts EuGH 15. Juni 2000 – C-418/97, C-419/97 – Rn. 41 f.). Nationale Bestimmungen, die dem in Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG geregelten Insolvenzschutz seine praktische Wirksamkeit nehmen, weil sie den unionsrechtlich vermittelten Insolvenzschutz leerlaufen ließen, sind von Art. 12 Buchst. a Richtlinie 2008/94/EG nicht mehr gedeckt. Eine solche Regelung liegt hier aber aufgrund der nur sehr begrenzten Wirkung von § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG nicht vor.
52
dd) Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV bedarf es insoweit nicht (zu den Vorlagevoraussetzungen EuGH 6. Oktober 1982 – C-283/81 – [C.I.L.F.I.T.]).
53
2. Der Kläger hat gegen den Beklagten auch keinen Anspruch auf Zahlung der Differenz zwischen der gekürzten Pensionskassenrente und der nicht erhöhten Pensionskassenrente (Ausgangsrente) iHv. 877,81 Euro brutto bzw. iHv. 899,23 Euro brutto bei Beginn der Herabsetzungen durch die PKDW. Aus § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG folgt keine Eintrittspflicht des Beklagten für die sich aus der Kürzung seiner Pensionskassenrente ergebenden Ansprüche des Klägers gegen seine frühere Arbeitgeberin, die Insolvenzschuldnerin.
54
a) Zwar besteht eine Einstandspflicht der Insolvenzschuldnerin nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG bezogen auf den auf Beiträgen der Arbeitgeberinnen beruhenden Teil der Pensionskassenrente. Die vormalige Arbeitgeberin N GmbH und später die Insolvenzschuldnerin haben dem Kläger nicht lediglich eine reine Beitragszusage, sondern eine betriebsrentenrechtliche Versorgungszusage erteilt. Die Insolvenzschuldnerin war allerdings nur insoweit für die von der PKDW vorgenommenen Herabsetzungen der Pensionskassenrente nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG einstandspflichtig, wie die Pensionskassenrente auf Beiträgen der früheren Arbeitgeberinnen des Klägers beruht. Soweit sie auf dessen eigenen Beiträgen beruht, fehlt es an der Einstandspflicht, weil eine Umfassungszusage iSv. § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG nicht gegeben ist.
55
aa) Der Beklagte macht zu Unrecht geltend, die Pensionskassenrente des Klägers beruhe auf einer reinen Beitragszusage und nicht aufgrund einer § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG unterfallenden Versorgungszusage, mit der Folge, dass § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG auf die Pensionskassenrente insgesamt keine Anwendung fände.
56
(1) Eine reine Beitragszusage ist zwar rechtlich ohne Weiteres möglich. Sie unterfällt aber – abgesehen von der hier nicht einschlägigen Ausnahme des § 1 Abs. 2 Nr. 2a, §§ 21 ff. BetrAVG – nicht dem Recht der betrieblichen Altersversorgung. Mit ihr werden keine künftigen Versorgungsleistungen versprochen, wie dies § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG verlangt, sondern nur zusätzliche Zahlungen während des aktiven Arbeitslebens, die vergleichbar vermögenswirksamen Leistungen zur Bildung von Vermögen oder von Versorgungsanwartschaften an Dritte auszuzahlen sind und bei denen der Arbeitnehmer das volle Anlage- und Insolvenzrisiko trägt (BAG 7. September 2004 – 3 AZR 550/03 – zu B I 2 a der Gründe, BAGE 112, 1). Auf solche Zusagen passt weder der gesetzliche Verschaffungsanspruch aus § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG noch das Unverfallbarkeitsrecht des § 2 BetrAVG.
57
(2) Die N GmbH als Rechtsvorgängerin der Insolvenzschuldnerin hat dem Kläger jedoch keine reine Beitragszusage erteilt. Sie hat in dem an den Kläger gerichteten Einstellungsschreiben vom 5. September 1977 die Pflicht übernommen, den Kläger bei einer bestimmten Pensionskasse anzumelden. Damit wurde der Kläger Mitglied der Pensionskasse, an die bestimmte Beiträge abzuführen waren, mit der Folge, dass der Kläger gegen diese einen Versorgungsanspruch erwirbt. Damit hat sie eine typische betriebsrentenrechtliche Versorgungszusage erteilt, aufgrund derer sie verpflichtet war, dem Kläger Leistungen der betrieblichen Altersversorgung durch eine Pensionskasse zu verschaffen. Die D-Arbeitsordnung, die im Arbeitsvertrag des Klägers in Bezug genommen ist, sieht ebenfalls vor, dass jeder Mitarbeiter Mitglied der D-Pensionskasse wird und die Mitgliedschaft während der Dauer des Arbeitsverhältnisses beizubehalten hat. Die Versorgungszusage der früheren Arbeitgeberin des Klägers wird durch die Regelungen der D-Pensionskasse bzw. der PKDW ausgefüllt. Daraus ergibt sich hinreichend deutlich, dass dem Kläger insgesamt eine beitragsorientierte Leistungszusage iSv. § 1 Abs. 2 Nr. 1 BetrAVG erteilt worden ist. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die N GmbH dem Kläger eine reine Beitragszusage außerhalb des Betriebsrentenrechts erteilt hat.
58
bb) Die Insolvenzschuldnerin ist – anders als der Kläger meint – ihm gegenüber nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG allerdings nur insoweit einstandspflichtig, als der Teil seiner Pensionskassenrente herabgesetzt wurde, der auf den Beiträgen der Arbeitgeberinnen beruht. Die Versorgungszusage erstreckt sich nicht auch auf den Teil seiner Pensionskassenrente, dem eigene Beiträge des Klägers zugrunde liegen.
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(1) Ob eine Eigenbeitragszusage, wie sie hier vorliegt, betriebliche Altersversorgung ist und damit die Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG auslöst, richtet sich nach § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG. Diese Bestimmung wurde durch das Gesetz zur Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer Gesetze (Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-Neuregelungsgesetz – im Folgenden Neuregelungsgesetz) vom 21. Juni 2002 (BGBl. I S. 2167) in § 1 Abs. 2 BetrAVG eingefügt; sie trat am 1. Juli 2002 in Kraft (Art. 25 Neuregelungsgesetz). Nach der gesetzlichen Regelung liegt betriebliche Altersversorgung nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer Beiträge aus seinem Arbeitsentgelt zur Finanzierung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ua. an eine Pensionskasse erbringt und die Zusage des Arbeitgebers auch die Leistungen aus diesen Beiträgen umfasst. Hierdurch unterscheidet sich die Eigenbeitragszusage iSd. Betriebsrentengesetzes von der privaten Altersvorsorge. Entscheidend ist, welche Zusagen der Arbeitgeber im Hinblick auf die Versorgungsleistungen gemacht hat. Erstreckt sich die Zusage auch auf die auf den Arbeitnehmerbeiträgen beruhenden Leistungen, so liegt nach dem Betriebsrentengesetz betriebliche Altersversorgung vor. Daraus folgt die gesetzliche Einstandspflicht (vgl. BAG 10. Februar 2015 – 3 AZR 65/14 – Rn. 43). Dementsprechend heißt es in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/9007 S. 35): „Für den Charakter als betriebliche Altersversorgung ist entscheidend, dass eine Zusage des Arbeitgebers mit der hieraus folgenden Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 BetrAVG auch in Bezug auf die aus solchen Beiträgen beruhenden Leistungen besteht“.
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(2) § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG findet auch auf Versorgungszusagen Anwendung, die – wie die des Klägers – vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung erteilt wurden (ausführlich BAG 15. März 2016 – 3 AZR 827/14 – Rn. 35 ff., BAGE 154, 213) und zwar auch dann, wenn der Versorgungsempfänger – wie hier – bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes mit Eintritt eines Versorgungsfalls aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden ist.
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(3) Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG sind im Streitfall jedoch nicht erfüllt.
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(a) § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG erfordert nicht nur, dass der Arbeitnehmer Beiträge aus seinem Arbeitsentgelt zur Finanzierung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ua. an eine Pensionskasse leistet, sondern auch, dass die Zusage des Arbeitgebers die Leistungen aus diesen Beiträgen umfasst. Es reicht nicht aus, dass betriebliche Altersversorgung nach allgemeinen Regeln vorliegt, sondern es muss darüber hinaus deutlich werden, dass der Arbeitgeber für die aus Beiträgen der Arbeitnehmer resultierenden Leistungen einzustehen hat. Liegt keine ausdrückliche Zusage vor, müssen die Gesamtumstände den Schluss darauf zulassen, dass die Zusage des Arbeitgebers auch die auf den Arbeitnehmerbeiträgen beruhenden Leistungen umfassen soll (vgl. ausführlich BAG 15. März 2016 – 3 AZR 827/14 – Rn. 40, BAGE 154, 213; 10. Februar 2015 – 3 AZR 65/14 – Rn. 43 mwN).
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(b) Bei der gebotenen Würdigung, ob eine Umfassungszusage vorliegt, ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die durch § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG bezweckte Klarstellung der Rechtslage erst zum 1. Juli 2002 herbeigeführt hat. Dies hat zur Folge, dass bei Zusagen, die bis zum Inkrafttreten dieser Bestimmung erteilt und mit denen beitragsbezogene Leistungen einer Pensionskasse zugesagt wurden, die auch durch den Arbeitnehmer finanziert werden, an die Annahme, die Zusage des Arbeitgebers erfasse – mit der hieraus folgenden Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG – die auf den Beiträgen der Arbeitnehmer beruhenden Leistungen, erhöhte Anforderungen zu stellen sind (vgl. BAG 15. März 2016 – 3 AZR 827/14 – Rn. 41, BAGE 154, 213).
64
(c) Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine Zusage iSd. § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG vorliegt, obliegt dabei dem Versorgungsberechtigten, der Ansprüche aufgrund der Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG geltend macht (BAG 12. Mai 2020 – 3 AZR 158/19 – Rn. 31; 15. März 2016 – 3 AZR 827/14 – Rn. 42, BAGE 154, 213).
65
(d) Daran gemessen hat der Kläger nicht dargelegt, dass die ihm von der Arbeitgeberin erteilte Versorgungszusage auch die Leistungen umfasst, die auf seinen Eigenbeiträgen beruhen.
66
Zwar beinhaltete die Leistungszusage der Arbeitgeberin die Abrede, dass für den Anspruch des Klägers auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung die jeweils gültige Satzung und die jeweils gültigen Leistungsbedingungen der Pensionskasse maßgeblich sein sollen. Auch bestimmte sich die Höhe der zu zahlenden Alterspension ua. aus den in den einzelnen Kalenderjahren gezahlten Beiträgen. Gemäß § 5 Abs. 1 Satzung D-Pensionskasse waren diese Beiträge iHv. 2 vH des beitragspflichtigen Einkommens vom Mitglied, dh. vom Kläger zu leisten. Daneben zahlten die D bzw. die angeschlossenen Firmen sog. Ausgleichsbeiträge in etwa der eineinhalbfachen Höhe. Dies entspricht auch dem Grunde nach den Regelungen der Satzung der PKDW. Die reguläre Beteiligung des Klägers an der Finanzierung des Versorgungsversprechens stand damit nicht in seinem freien Belieben (vgl. zu diesem Aspekt: BAG 10. Februar 2015 – 3 AZR 65/14 – Rn. 47; 7. September 2004 – 3 AZR 550/03 – zu B I 2 b aa der Gründe, BAGE 112, 1). Zudem sind nicht zwei getrennte Rentenstämme zu bilden und zu berechnen (vgl. zu diesem Aspekt BAG 10. Februar 2015 – 3 AZR 65/14 – Rn. 47). Dies sind Indizien dafür, dass die Zusage des Arbeitgebers auch die auf den Beiträgen der Arbeitnehmer beruhenden Leistungen umfasst.
67
Diese Umstände lassen jedoch bei beitragsorientierten Versorgungszusagen, die – wie im Fall des Klägers – bereits vor Inkrafttreten des § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG am 1. Juli 2002 erteilt wurden, für sich genommen noch nicht den Schluss darauf zu, dass der Arbeitgeber damit auch die Leistungen zusagen wollte, die auf den Eigenbeiträgen der Arbeitnehmer beruhen. Vielmehr wurden damit eine Lastenverteilung und eine Berechnungsweise für die Höhe der Leistungen der betrieblichen Altersversorgung vereinbart. Aus der in § 5 Abs. 2 Satz 2 Satzung der D-Pensionskasse vorgesehenen Pflicht der Arbeitgeber, die Beiträge ihrer Beschäftigten vom Arbeitsentgelt einzubehalten und an die Pensionskasse kostenfrei abzuführen, sowie der in § 27 Abs. 2 Satzung PKDW vorgesehenen Haftung des Arbeitgebers auch für die Eigenbeiträge der Arbeitnehmer, ergibt sich ebenfalls nichts anderes. Die Satzung der D-Pensionskasse sieht lediglich die Abführungspflicht des Arbeitgebers zulasten des Arbeitsentgelts des Arbeitnehmers vor. Die in der Satzung PKDW vorgesehene Haftung dient lediglich dem Interesse der Funktionsfähigkeit der Pensionskasse (vgl. BAG 15. März 2016 – 3 AZR 827/14 – Rn. 46, BAGE 154, 213).
68
Schließlich ergibt sich auch aus der im Arbeitsvertrag vom September 1977 in Bezug genommenen Arbeitsordnung der D keine Umfassungszusage der früheren Arbeitgeberin.
69
cc) Die Einstandspflicht der Insolvenzschuldnerin nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG erfasst allerdings die von der PKDW dauerhaft gewährten Gewinnanteile, soweit sie auf die Arbeitgeberbeiträge bezogen sind. Das Versorgungsversprechen der Arbeitgeberin, das durch die Anmeldung des Klägers zum Tarif A bei der Pensionskasse infolge der Umstellung der Pensionskassenzusage von der D-Pensionskasse zur PKDW auf der Grundlage der Betriebsvereinbarung vom 5. Mai 1980 und der darin erfolgten Bezugnahme auf die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der PKDW gegeben wurde, umfasst nämlich die unbefristet gewährten Gewinnanteile, wie § 15a AVB (später § 15b AVB) sie vorsieht. Damit ist die Überschussbeteiligung Teil des Versorgungsversprechens, soweit sie auf die Beiträge der Arbeitgeberin bezogen ist. Die unbefristet gewährten Gewinnanteile bestimmen nach der Satzung und den AVB die Höhe des Versorgungsversprechens. Die in ihrer Gewährung liegenden Chancen sind integraler Bestandteil der Versorgungszusage. Die dauerhaft zugewiesenen Gewinnanteile sind in ihrer Höhe wesentlich durch die aufsichtsrechtlichen Vorgaben beeinflusst und damit nicht von willkürlichen Entscheidungen der Pensionskasse zum Nachteil der Beklagten abhängig. Die Gewinnanteile sind demnach kein Spiegelbild der Leistungsherabsetzung (BAG 13. Dezember 2016 – 3 AZR 342/15 – Rn. 42 f. mwN, BAGE 157, 230).
70
dd) Die Insolvenzschuldnerin war aufgrund der dem Kläger erteilten Versorgungszusage auch nicht lediglich zur Erbringung von nach § 22 Abs. 4 Satzung PKDW herabgesetzten Leistungen verpflichtet. Die in § 22 Abs. 4 Satzung PKDW vorgesehene Möglichkeit der Leistungskürzung ist nicht integraler Bestandteil des dem Kläger im arbeitsrechtlichen Grundverhältnis gegebenen Versorgungsversprechens. Sie dient nicht der Ausfüllung der Versorgungszusage, sondern regelt nur, ob und in welchem Umfang die PKDW gegenüber dem Kläger als Versichertem zu einer Leistungsherabsetzung befugt ist und betrifft damit lediglich die Ausgestaltung des Durchführungsverhältnisses (vgl. dazu ausführlich: BAG 10. Februar 2015 – 3 AZR 65/14 – Rn. 54 ff.; 30. September 2014 – 3 AZR 617/12 – Rn. 41 ff., BAGE 149, 212). Zudem entspricht es dem Zweck der Einstandspflicht, die sich aus der Wahl des Durchführungswegs ergebenden Risiken dem – die Versorgungszusage erteilenden – Arbeitgeber aufzuerlegen.
71
ee) Es kann dahinstehen, ob und ggf. in welchem Umfang die Insolvenzschuldnerin auf die Verwaltung des Vermögens und die Kapitalanlage der PKDW sowie auf deren Beschlussfassungen Einfluss nehmen konnte. Eine die grundrechtlichen Wertungen der Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG berücksichtigende „verfassungskonforme“ oder zumindest „verfassungsorientierte“ einschränkende Auslegung (vgl. dazu BAG 30. September 2014 – 3 AZR 617/12 – Rn. 52 mwN, BAGE 149, 212) des § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG kommt nicht in Betracht. Eine solche Auslegung führt nicht dazu, dass den Arbeitgeber keine Einstandspflicht trifft, wenn die Mitgliederversammlung einer Pensionskasse eine Herabsetzung der laufenden Pensionskassenrente beschließt. Die Insolvenzschuldnerin wird durch die Einstandspflicht weder in ihrer durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten wirtschaftlichen Handlungsfreiheit noch in ihrer durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit beeinträchtigt. Vielmehr stellt sich die Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG als Folge der Zusage von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung dar, die über einen externen Versorgungsträger durchgeführt werden (vgl. dazu bereits ausführlich BAG 30. September 2014 – 3 AZR 617/12 – Rn. 55 f., aaO).
72
ff) Die Insolvenzschuldnerin war deshalb nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG für die Herabsetzung der Pensionskassenrente einstandspflichtig, soweit diese auf Beiträgen der vormaligen Arbeitgeber einschließlich der hierauf entfallenden Gewinnanteile beruht. Nach dem Vorbringen der Parteien beruht die ursprüngliche Pensionskassenrente in Höhe eines Betrags von 585,21 Euro brutto, der sich bis zum 30. Juni 2003 auf 599,49 Euro brutto belief, auf solchen Arbeitgeberbeiträgen. Dabei sind die aus der Deckungsmittelübertragung von der D-Pensionskasse auf die PKDW zum 30. Juni 1980 rührenden Finanzmittel berücksichtigt. Auf Arbeitnehmerbeiträgen beruht danach eine Pensionskassenrente iHv. zunächst 292,60 Euro brutto und bis zum 30. Juni 2003 iHv. 299,74 Euro brutto.
73
b) Der Beklagte ist jedoch nicht verpflichtet, für die Einstandspflicht der Insolvenzschuldnerin nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG einzutreten. Die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs nach Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG oder § 30 Abs. 3 BetrAVG in der Fassung des Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248) liegen nicht vor.
74
aa) Der Beklagte war nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG in der bis zum 23. Juni 2020 geltenden Fassung (im Folgenden aF) nicht eintrittspflichtig für die Kürzungen der auf Arbeitgeberbeiträgen beruhenden Teile der Pensionskassenrente des Klägers infolge der Einstandspflicht der Insolvenzschuldnerin nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG (vgl. BAG 20. Februar 2018 – 3 AZR 142/16 (A) – Rn. 19, BAGE 162, 22). Er war dafür nicht zuständig.
75
(1) Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG aF hatten Versorgungsempfänger, deren Ansprüche aus einer unmittelbaren Versorgungszusage des Arbeitgebers nicht erfüllt werden, weil über das Vermögen des Arbeitgebers das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, gegen den Träger der Insolvenzsicherung einen Anspruch in Höhe der Leistung, die der Arbeitgeber aufgrund der Versorgungszusage zu erbringen hätte, wenn das Insolvenzverfahren nicht eröffnet worden wäre. Entsprechendes gilt für Ansprüche der Arbeitnehmer aus Direktversicherungen, wenn ein widerrufliches Bezugsrecht besteht, bei einem unwiderruflichen Bezugsrecht eine Abtretung oder Beleihung erfolgt ist (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BetrAVG) oder bei Unterstützungskassen sowie Pensionsfonds, wenn diese vorgesehene Versorgungsleistungen nicht erbringen, weil über das Vermögen oder den Nachlass des Trägerunternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet wurde (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BetrAVG). Hintergrund dieser Haftung des Beklagten ist die Vorstellung des Gesetzgebers, dass diese Durchführungswege grundsätzlich insolvenzgefährdet sind (vgl. Kemper/Kisters-Kölkes Arbeitsrechtliche Grundzüge der betrieblichen Altersversorgung 8. Aufl. Rn. 416). Der Arbeitgeber, der sich für eine betriebliche Altersversorgung in einem der vorgenannten Durchführungswege entscheidet, unterlag deshalb der Beitragspflicht beim Beklagten nach § 10 Abs. 1 BetrAVG aF.
76
(2) Der Durchführungsweg Pensionskasse ist nach dem damaligen Verständnis des Gesetzgebers nicht gleichermaßen insolvenzgefährdet (Kemper/Kisters-Kölkes Arbeitsrechtliche Grundzüge der betrieblichen Altersversorgung 8. Aufl. Rn. 420). Denn Pensionskassen unterliegen der Versicherungsaufsicht nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG). Diese Aufsicht erstreckt sich nicht nur auf eine Rechts-, sondern auch auf eine Finanzaufsicht, die die dauernde Erfüllbarkeit der Verpflichtungen zu überwachen hat. Bei Pensionskassen, die rechtlich selbständige Lebensversicherungsunternehmen sein müssen (§ 232 Abs. 1 VAG), ergibt sich dies über § 234 Abs. 1 iVm. § 212 Abs. 1 VAG aus § 294 VAG. Hauptziel dieser Beaufsichtigung ist gemäß § 294 Abs. 1 VAG der Schutz der Versicherungsnehmer und der Begünstigten von Versicherungsleistungen. Nicht zuletzt dadurch ist sichergestellt, dass auch die Belange der Versorgungsanwärter und Versorgungsempfänger bei der Durchführung der Aufsicht gewahrt werden. Durch diese Regelungen wird eine Insolvenz der beaufsichtigten Unternehmen zwar nicht ausgeschlossen, die Wahrscheinlichkeit verringert sich jedoch deutlich (vgl. BAG 12. Juni 2007 – 3 AZR 14/06 – Rn. 25, BAGE 123, 72). Der Arbeitgeber, der sich für eine betriebliche Altersversorgung über eine Pensionskasse entscheidet, unterlag deswegen auch nicht der Beitragspflicht bei dem Beklagten nach § 10 Abs. 1 BetrAVG aF (vgl. OVG Bremen 10. Mai 2017 – 2 LC 4/16 – zu 5 b bb (1) der Gründe). Derartige Zusagen waren vom Leistungssystem des Beklagten ausgenommen.
77
(3) Danach kam nach dem bis zum 23. Juni 2020 geltenden nationalen Recht eine Eintrittspflicht des Beklagten für die aus einer Kürzung einer Pensionskassenrente folgenden Ansprüche eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG mangels Zuständigkeit des Beklagten nicht in Betracht.
78
(a) Nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG steht der Arbeitgeber für die Erfüllung der von ihm zugesagten Leistungen auch dann ein, wenn die Durchführung nicht unmittelbar über ihn erfolgt. Der Arbeitgeber trägt deshalb das Risiko, bei Schwierigkeiten im Durchführungsweg die Leistung selbst erbringen zu müssen (BAG 12. Juni 2007 – 3 AZR 14/06 – Rn. 24, BAGE 123, 72). Dieses Risiko hat sich für die ehemalige Arbeitgeberin des Klägers, die Insolvenzschuldnerin, verwirklicht, und sie wurde aufgrund einer auf den Ausgleich von Leistungskürzungen durch die Pensionskasse gerichteten Klage des Klägers in erster Instanz zur Zahlung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG verurteilt.
79
(b) § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG aF erfasste bei Pensionskassenzusagen nicht die Einstandspflicht des Arbeitgebers aus § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG gegen den insolventen Arbeitgeber (Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber/Betz-Rehm BetrAVG 8. Aufl. § 7 Rn. 25; Cisch/Lämpe DB 2016, 2167; Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 7 Rn. 164; Rolfs BetrAV 2012, 469, 472 f.; Schlewing in Schlewing/Henssler/Schipp/Schnitker Arbeitsrecht der betrieblichen Altersversorgung Stand Februar 2020 Teil 5 G Rn. 24; Wortmann in Schlewing/Henssler/Schipp/Schnitker aaO Teil 16 A Rn. 124 und Rn. 148; missverständlich BAG 23. März 1999 – 3 AZR 631/97 (A) – zu II 5 b bb der Gründe, BAGE 91, 155, wo die Ausführungen zur Einstandspflicht des Arbeitgebers auf einen auf dem Gleichbehandlungsgrundsatz [vgl. heute § 1b Abs. 1 Satz 4 BetrAVG] beruhenden Anspruch bezogen sind; aA Reich in Festschrift für Reinhold Höfer zum 70. Geburtstag S. 187 ff.; Höfer DB 2016, 2843, 2844; Höfer/Reich BetrAVG Bd. I Stand März 2019 § 7 Rn. 146).
80
(aa) Bereits der Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG aF sprach gegen eine Eintrittspflicht und Zuständigkeit des Beklagten. Dieser stellte nur auf unmittelbare Versorgungszusagen des Arbeitgebers ab und enthielt keine Regelung zu Versorgungszusagen über Pensionskassen. Dem stand auch nicht entgegen, dass über die Einstandspflicht des Arbeitgebers nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG insoweit eine unmittelbare Versorgungszusage begründet und damit jede mittelbare Versorgungszusage zumindest potentiell immer auch eine unmittelbare enthält. Denn ein Arbeitgeber, der eine Pensionskassenzusage erteilt, haftet zwar unmittelbar selbst bei Schwierigkeiten im gewählten Durchführungsweg. Gleichwohl macht das aus seiner Versorgungszusage keine Direktzusage. Dies müsste dann für sämtliche mittelbaren Durchführungswege gelten und wäre mit der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG aF nicht in Übereinstimmung zu bringen.
81
(bb) Auch die Systematik des Betriebsrentengesetzes, nach der für Pensionskassenverbindlichkeiten – aufgrund des Bestehens eines anderen Sicherungsmechanismus – gerade keine Absicherung über den Beklagten vorgesehen war, sprach gegen die Eintrittspflicht in Fällen wie dem vorliegenden (ebenso Rolfs BetrAV 2012, 469, 473). Denn in § 7 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG aF wurden einzelne vom Gesetz vorgesehene mittelbare Durchführungswege benannt, für die ein Insolvenzschutz über den PSV bestand. Werden aber bestimmte mittelbare Versorgungswege ausdrücklich in den Insolvenzschutz einbezogen, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die nicht benannten Durchführungswege gerade vom Insolvenzschutz ausgenommen sein sollen. Ansonsten wäre die vom Gesetz angeordnete Einbeziehung einzelner mittelbarer Durchführungswege ohne Regelungsgehalt.
82
(cc) Schließlich sprach auch die Entstehungsgeschichte der Norm klar gegen eine Einbeziehung von Pensionskassenzusagen. Die differenzierte Ausgestaltung des Insolvenzschutzes von Zusagen der betrieblichen Altersversorgung war kein gesetzgeberisches Versehen, wie die Gesetzesmaterialien zeigen. Die Einbeziehung von Pensionskassenzusagen in den Anwendungsbereich von § 7 BetrAVG aF wurde vom Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung geprüft. Der „Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung“ vom 22. November 1974 enthält insofern folgende Stellungnahme (BT-Drs. 7/2843 S. 9):
„Ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion, auch Pensionskassen auf ihren Antrag in die Insolvenzsicherung einzubeziehen, wurde abgelehnt. Die Mehrheit des Ausschusses war der Ansicht, daß die Ansprüche gegen Pensionskassen durch die Versicherungsaufsicht und die gesetzlichen Anlagevorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes ausreichend gesichert seien.“
83
Vor diesem Hintergrund führte der Bundestagsabgeordnete Lutz als Berichterstatter in der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BT-Drs. 7/1281) in der 134. Sitzung des Deutschen Bundestags (unter Punkt 9060 (C)) aus:
„Mitglieder des Vereins müssen alle Arbeitgeber sein, die Versorgungszusagen gegeben haben, die vor Insolvenzen nicht geschützt erscheinen. Dies sind beliehene Lebensversicherungen, Direktzusagen und Unterstützungskassen. Befreit vom Insolvenzschutzzwang sind zwei Versorgungseinrichtungen: die unbelastete Lebensversicherung und die Pensionskasse. Beide Institute der betrieblichen Altersversorgung so schien es dem Ausschuß – sind durch strenge Bestimmungen der Versicherungsaufsicht vor Pleiten geschützt. Gerade auch jüngste Vorkommnisse haben den Ausschuß in dieser seiner Überzeugung nicht wankend machen können.“
84
Der durch diese Verlautbarungen zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wille wäre konterkariert, wenn Pensionskassenzusagen über den Umweg der Einstandspflicht des Arbeitgebers nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG in die Insolvenzsicherung des § 7 BetrAVG aF einbezogen und eine Zuständigkeit des Beklagten begründet würden.
85
(dd) Die Unterscheidung zwischen über den Beklagten abgesicherten und anderen Durchführungswegen hatte auch in der Beitragspflicht des § 10 Abs. 1 BetrAVG aF ihren Niederschlag gefunden (vgl. BVerfG 16. Juli 2012 – 1 BvR 2983/10 – Rn. 29) und darf über den Umweg des § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG nicht aufgelöst werden (ebenso Rolfs BetrAV 2012, 469, 473). Ansonsten wäre eine Haftung des Beklagten und seiner Mitglieder für – nicht bekannte und letztlich nicht kalkulierte – Risiken von Nichtmitgliedern etabliert worden. Das sah das Gesetz ersichtlich nicht vor. Es ist auch zweifelhaft, ob der mit einer Zwangsmitgliedschaft im PSV verbundene Eingriff in die Grundrechte der beitragspflichtigen Arbeitgeber noch zu rechtfertigen gewesen wäre, wenn er auch eine Haftung für Zusagen von Nichtmitgliedern in nicht dem Insolvenzschutz beim Beklagten unterfallenden Durchführungswegen vorgesehen hätte. Die Abgabenschuldner stellten eine homogene Gruppe dar und waren durch ihr gemeinsames Interesse an der Erfüllung des Zwecks ihrer Altersversorgungszusagen verbunden (vgl. BVerfG 16. Juli 2012 – 1 BvR 2983/10 – Rn. 29). Im Falle der Insolvenz nehme der Gesetzgeber bei ihnen aufgrund der rechtlichen Konstruktion der Durchführungswege ein abstraktes Ausfallrisiko an, das bei anderen, nicht gruppenzugehörigen Modellen der betrieblichen Altersversorgung so nicht bestehe (BVerfG 16. Juli 2012 – 1 BvR 2983/10 – Rn. 30).
86
(ee) § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG lässt aus dem mittelbaren Durchführungsweg Pensionskasse keine unmittelbare Versorgungszusage werden. Die Einstandspflicht ist allein als zusätzliches – zur Sicherung über die Versicherungsaufsicht bestehendes – Sicherungsmittel zugunsten der Arbeitnehmer zu verstehen, nicht aber als Weg zur Verschaffung einer Eintrittspflicht des Beklagten. Dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der durch das Gesetz zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes und anderer Gesetze vom 15. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3416) eingeführten Möglichkeit für Pensionskassen zum freiwilligen Beitritt bei der Protektor Lebensversicherungs-AG nach § 124 Abs. 2 Satz 1 VAG aF (heute § 221 Abs. 2 Satz 1 VAG) als gesetzlichem Sicherungsfonds kaum möglich.
87
Durch § 124 Abs. 2 Satz 1 VAG aF (heute § 221 Abs. 2 Satz 1 VAG) wurde für Pensionskassen die Möglichkeit geschaffen, sich freiwillig dem Sicherungsfonds für die Lebensversicherung anzuschließen, um somit eine Benachteiligung der Pensionskassen gegenüber den Lebensversicherungsunternehmen zu verhindern (Kaulbach/Bähr/Pohlmann/Pohlmann VAG 6. Aufl. § 221 Rn. 10; vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses BT-Drs. 15/3976 S. 34). Durch die Schaffung des Sicherungsfonds, über den Lebensversicherungen abgesichert sind, hat der Gesetzgeber gerade auch für die Direktversicherungen – soweit sie nicht unter § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BetrAVG fallen – einen eigenständigen, vom PSV unabhängigen Sicherungsmechanismus vorgesehen. Dies zeigt, dass der Gesetzgeber im Bereich der betrieblichen Altersversorgung neben der Insolvenzsicherung über den PSV für die Durchführungswege Direktzusage, Unterstützungskassenzusage, Pensionsfondszusage und einigen Zusagen aus dem Durchführungsweg Direktversicherung für die beiden weiteren etablierten mittelbaren Durchführungswege (unbelastete) Direktversicherung und Pensionskasse – auch nach der gesetzgeberischen Klarstellung durch § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG – eigene Wege beschritten hat.
88
(ff) Aus der steuerlichen Behandlung der Zahlungen der Pensionskasse einerseits und des Arbeitgebers nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG andererseits folgt keine abweichende Beurteilung. Hieraus lässt sich nicht auf einen Willen des Gesetzgebers schließen, die Einstandspflicht des Arbeitgebers nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG dem Insolvenzschutz des § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG aF zu unterstellen. Schließlich ist es unerheblich, ob die vom Kläger aufgestellte Behauptung zutrifft, wonach davon auszugehen sei, dass die Insolvenzschuldnerin für ihre Einstandspflicht Beiträge an den Beklagten abgeführt habe, sodass einem Insolvenzschutz auch Beitragszahlungen gegenüberstünden. Der Insolvenzschutz durch den Beklagten erfolgt allein auf gesetzlicher Grundlage. Selbst wenn die Insolvenzschuldnerin daher tatsächlich auch für ihre Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG Beiträge an den Beklagten abgeführt haben sollte, können jedenfalls allein aus diesen Beitragszahlungen keine Ansprüche der Versorgungsbegünstigten gegenüber dem Beklagten hergeleitet werden.
89
(gg) Schließlich zeigt gerade die Neufassung von §§ 7 ff. BetrAVG durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248), dass der Gesetzgeber dies ebenfalls so gesehen hat. Denn nunmehr hat er eine entsprechende Eintrittspflicht und Zuständigkeit des Beklagten unter den sich aus § 30 BetrAVG geregelten Voraussetzungen geschaffen.
90
(c) Die vom Gesetzgeber des Betriebsrentengesetzes angeordnete differenzierte Ausgestaltung der Insolvenzsicherung bei den in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht sehr unterschiedlichen Durchführungswegen der betrieblichen Altersversorgung stellt keine den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzende Ungleichbehandlung dar. Es fehlt an einer Vergleichbarkeit.
91
bb) Ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten folgt nicht unmittelbar aus Unionsrecht. Die dafür notwendigen Voraussetzungen liegen unstreitig nicht vor. Die Leistungsherabsetzungen durch die PKDW haben nicht zur Folge, dass diese ihre Leistungen um mehr als die Hälfte kürzt. Das Einkommen des Klägers als ehemaligem Arbeitnehmer fällt wegen der Leistungsherabsetzung auch nicht unter die von Eurostat für Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle.
92
(1) Der Gerichtshof hat erkannt, dass Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG dahin auszulegen ist, dass eine wegen der Zahlungsunfähigkeit seiner ehemaligen Arbeitgeberin erfolgte Kürzung der einem ehemaligen Arbeitnehmer gezahlten Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen wird, obwohl der Betroffene mindestens die Hälfte der sich aus seinen erworbenen Rechten ergebenden Leistungen erhält, wenn dieser ehemalige Arbeitnehmer wegen dieser Kürzung bereits unterhalb der von Eurostat für betreffenden Mitgliedstaat ermittelten Armutsgefährdungsschwelle lebt oder künftig leben müsste (EuGH 19. Dezember 2019 – C-168/18 – [Pensions-Sicherungs-Verein] Rn. 44).
93
(a) Die Leistungsherabsetzungen durch die PKDW führen nicht dazu, dass die dem Kläger zustehenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung um mehr als die Hälfte gekürzt werden. Ausgehend von einer auf Beiträgen früherer Arbeitgeber beruhenden Pensionskassenrente vor Beginn der Leistungsherabsetzungen iHv. 599,49 Euro brutto monatlich und einer auf diesen Teil der Pensionskassenrente entfallenden Kürzung bis Ende Juni 2014 iHv. 135,73 Euro (2/3 von 203,60 Euro) beträgt die Leistungsherabsetzung 22,64 vH und damit nicht mehr als die Hälfte.
94
(b) Die von Eurostat für die Bundesrepublik Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle belief sich – ausweislich der im Internet abrufbaren veröffentlichten Statistiken (https://ec.europa.eu/eurostat/de/home) – für alleinlebende Personen in der Bundesrepublik (60 vH des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung auf Basis des Haushaltsnettoeinkommens) im Jahr 2011 auf 11.426,00 Euro (952,17 Euro monatlich), im Jahr 2012 auf 11.757,00 Euro (979,75 Euro monatlich), im Jahr 2013 auf 11.749,00 Euro (979,08 Euro monatlich), im Jahr 2014 auf 11.840,00 Euro (986,66 Euro monatlich), im Jahr 2015 auf 12.401,00 Euro (1.033,42 Euro monatlich), im Jahr 2016 auf 12.765,00 Euro (1.063,75 Euro monatlich), im Jahr 2017 auf 13.152,00 Euro (1.096,00 Euro monatlich) und im Jahr 2018 auf 13.628,00 Euro (1.135,66 Euro monatlich).
95
Leben zwei Erwachsene (etwa ein Ehepaar) in einem Haushalt, so ist der jeweilige Wert um den Faktor 0,5 zu erhöhen. Zur Ermittlung des Äquivalenzeinkommens ist auf ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied abzustellen. Dieses wird ermittelt, indem das Haushaltsnettoeinkommen durch die Summe der Bedarfsgewichte der im Haushalt lebenden Personen geteilt wird. Nach EU-Standard wird zur Bedarfsgewichtung die neue OECD-Skale verwendet. Danach wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1 zugeordnet und für die weiteren im Haushalt lebenden Personen Bedarfsgewichtige < 1 (0,5 für weitere Personen im Alter von 14 und mehr Jahren; 0,3 für jedes Kind im Alter von unter 14 Jahren). Bei einem Haushalt bestehend aus einem Ehepaar ohne im Haushalt lebende Kinder ist deshalb der Wert 1,5 (1,0 + 0,5) anzusetzen. Entsprechend sind die Jahres- und Monatswerte mit 1,5 zu multiplizieren.
96
(2) Das Haushaltsnettoeinkommen des Klägers und seiner Ehefrau überschritt in den Streitjahren – ausweislich des im Revisionsverfahren unstreitig gestellten tatsächlichen Vorbringens der Parteien – die Grenze der von Eurostat für Deutschland ermittelten Schwelle der Armutsgefährdung, so dass insoweit die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Anspruchs nicht erfüllt sind.
97
cc) Der Kläger hat auch keinen Anspruch aufgrund der am 24. Juni 2020 in Kraft getretenen Änderungen des Betriebsrentengesetzes durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248). Die Gesetzesänderung ist zwar auch im vorliegenden Revisionsverfahren zu beachten (vgl. BAG 21. März 2013 – 6 AZR 401/11 – Rn. 44 mwN), gibt dem Kläger jedoch keinen Anspruch gegen den Beklagten.
98
(1) Ein solcher folgt nicht aus § 30 Abs. 2 BetrAVG. Eine Eintrittspflicht des Beklagten für die Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BetrAVG insolventer früherer Arbeitgeber aus über Pensionskassen durchgeführten Versorgungszusagen ist nach § 30 Abs. 2 BetrAVG erst für Sicherungsfälle vorgesehen, die nach dem 31. Dezember 2021 eintreten. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin wurde bereits mit Beschluss des Amtsgerichts Hanau – Insolvenzgericht – vom 30. Januar 2012 (- 70 IN 444/11 -) eröffnet und damit vor dem nach § 30 Abs. 2 BetrAVG maßgeblichen Stichtag.
99
(2) Der Kläger hat auch keinen Anspruch gegen den Beklagten nach § 30 Abs. 3 BetrAVG auf Ausgleich der von der PKDW vorgenommenen Leistungsherabsetzungen.
100
(a) Ist der Sicherungsfall nach § 30 Abs. 2 BetrAVG vor dem 1. Januar 2022 eingetreten, besteht nach § 30 Abs. 3 BetrAVG ein Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung, wenn die Pensionskasse die nach der Versorgungszusage des Arbeitgebers vorgesehene Leistung um mehr als die Hälfte kürzt oder das Einkommen des ehemaligen Arbeitnehmers wegen der Kürzung unter die von Eurostat für Deutschland ermittelte Armutsgefährdungsschwelle fällt.
101
(b) Diese Voraussetzungen sind – wie bereits ausgeführt – nicht erfüllt, weshalb es auf die weiteren – den unionsrechtlichen Anspruch aus Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG möglicherweise einschränkenden – Voraussetzungen nach § 30 Abs. 3 Satz 2 BetrAVG nicht ankommt.
102
V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Spinner
Roloff
Günther-Gräff
Holler
Schüßler |
bag_23-19 | 16.05.2019 | 16.05.2019
23/19 - Die Fraktionen des bayerischen Landtags sind keine öffentlichen Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF)
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung zu zahlen.
Die Beklagte ist eine Fraktion des Bayerischen Landtags. Im November 2016 schrieb sie zwei Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter aus. Der Kläger bewarb sich auf beide Stellen mit dem Hinweis auf seine Schwerbehinderung. Die Beklagte lud ihn nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein und teilte ihm mit, sie habe sich für andere Bewerber entschieden. Der Kläger hat die Beklagte mit seiner Klage auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genommen. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Dies folge aus einer Reihe von Verstößen der Beklagten gegen die zum Schutz und zur Förderung von Schwerbehinderten im SGB IX getroffenen Bestimmungen, insbesondere daraus, dass die Beklagte ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen habe. Die Beklagte sei ein öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte hat den Kläger nicht wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Sie hat keine zu Gunsten schwerbehinderter Menschen getroffenen Verfahrens- und/oder Förderpflichten verletzt, insbesondere war sie nicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Eine solche Pflicht trifft nur öffentliche Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Um einen solchen Arbeitgeber handelt es sich bei der Beklagten nicht, insbesondere ist diese keine sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts iSv. § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF, da ihr ein solcher Status nicht verliehen wurde.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 11. April 2018 – 10 Sa 820/17 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 11. April 2018 – 10 Sa 820/17 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
Die besondere Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF), schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, trifft nur öffentliche Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Hierzu zählt nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF auch jede sonstige Körperschaft, Anstalt und Stiftung des öffentlichen Rechts. Die besondere rechtliche Stellung der Körperschaft des öffentlichen Rechts iSv. § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF setzt einen entsprechenden staatlichen Hoheitsakt, nämlich die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts voraus.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen.
2
Die Beklagte ist eine Fraktion des Bayerischen Landtags. Im November 2016 stellte sie in das Stellenportal des öffentlichen Dienstes (Interamt.de) zwei Stellenangebote ein. Mit einem dieser Stellenangebote suchte sie eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in für die Fachgebiete Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Baurecht. Mit dem weiteren Stellenangebot suchte sie eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in für die Fachgebiete Schulische und Berufliche Bildung sowie Sport. Die Beklagte hatte wegen der zu besetzenden Stellen mit der Bundesagentur für Arbeit Verbindung aufgenommen und die Stellenausschreibungen auch bei dieser veröffentlicht.
3
Der Kläger, der zunächst eine Ausbildung zum Industriekaufmann sowie später ein Studium der Rechtswissenschaft mit Erfolg abgeschlossen und den Hochschulgrad „Diplomjurist“ erworben hatte, bewarb sich mit zwei Schreiben vom 13. November 2016 auf die beiden Stellenangebote der Beklagten. Im jeweils letzten Satz seiner Bewerbungsschreiben wies er darauf hin, dass er mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert sei und einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis habe.
4
Mit E-Mails vom 28. November 2016 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie sich wegen der im Fachgebiet Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Baurecht zu besetzenden Stelle für einen anderen Bewerber entschieden habe. Nachdem der Kläger die Beklagte unter dem 6. Dezember 2016 darüber informiert hatte, dass er am 5. Dezember 2016 das 2. Juristische Staatsexamen bestanden hatte, teilte die Beklagte ihm mit E-Mail vom 19. Dezember 2016 mit, dass auch die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters für die Fachgebiete Schulische und Berufliche Bildung sowie Sport mit einem anderen Bewerber besetzt worden sei.
5
Die Beklagte erfüllte zum damaligen Zeitpunkt die in § 71 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden SGB IX aF) bestimmte Beschäftigungspflichtquote nicht, sondern leistete Ausgleichszahlungen nach § 77 SGB IX aF.
6
Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 20. Dezember 2016 gegenüber der Beklagten erfolglos „einen Schadensersatzanspruch nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG wegen Diskriminierung als Schwerbehinderter“ geltend gemacht hatte, hat er mit seiner am 10. Januar 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage sein Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiterverfolgt.
7
Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet, da sie ihn im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Letzteres ergebe sich aus den folgenden Umständen: Die Beklagte habe die Schwerbehindertenvertretung und den Personalrat entgegen § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX aF nicht über seine Bewerbungen unterrichtet. Sie habe zudem die Schwerbehindertenvertretung bei der Prüfung gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 und Satz 6 SGB IX aF, ob der Arbeitsplatz für Schwerbehinderte geeignet sei, nicht beteiligt und seine Bewerbungen auch nicht an die Schwerbehindertenvertretung weitergeleitet. Dass bei der Beklagten weder ein Personal- oder Betriebsrat noch eine Schwerbehindertenvertretung eingerichtet seien, bestreite er. Insoweit sei die Beklagte beweispflichtig. Ein weiteres Indiz für seine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung sei der Umstand, dass die Beklagte ihn entgegen § 81 Abs. 1 Satz 8 SGB IX aF nicht angehört habe. Darüber hinaus habe die Beklagte ihn den Vorgaben von § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF zuwider nicht unverzüglich über ihre Entscheidung unterrichtet und die Gründe dafür in ihren Absageschreiben nicht dargelegt. Zudem wirke sich aus, dass er entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden sei. Die Beklagte sei als Landtagsfraktion Teil des Landtags und damit ein öffentlicher Arbeitgeber iSd. § 82 iVm. § 71 Abs. 3 Nr. 2 oder Nr. 4 SGB IX aF. Eine genaue Zuordnung zu den in § 71 Abs. 3 SGB IX aF unter den Nummern 1 bis 4 aufgeführten öffentlichen Arbeitgebern sei nicht erforderlich, da der Gesetzgeber mit § 71 Abs. 3 SGB IX aF alle öffentlichen Arbeitgeber erfasst habe. Letztlich sei zu berücksichtigen, dass die Beklagte die Beschäftigungspflichtquote nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF nicht erfülle, sondern Ausgleichszahlungen nach § 77 SGB IX aF leiste. Auch hierdurch habe sie zum Ausdruck gebracht, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht interessiert zu sein. Vor dem Hintergrund, dass er in zwei Bewerbungsverfahren wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert worden sei, schulde ihm die Beklagte für jeden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des AGG die Zahlung einer Entschädigung iHv. mindestens einem halben, auf der jeweiligen Stelle erzielbaren Bruttomonatsverdienst.
8
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädigung, jedoch mindestens 3.663,91 Euro zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 4. Januar 2017 zu zahlen.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
10
Sie hat die Auffassung vertreten, den Kläger nicht wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert zu haben. Ein Verstoß gegen § 81 Abs. 1 Satz 4 bis Satz 6 SGB IX aF scheide schon deshalb aus, da bei ihr weder eine Schwerbehindertenvertretung noch ein Personalrat oder ein Betriebsrat gebildet worden seien. Sie habe auch nicht gegen § 81 Abs. 1 Satz 7 und Satz 8 SGB IX aF verstoßen, da eine Erörterungs- und Anhörungspflicht ebenfalls nur dann bestünde, wenn eine Schwerbehindertenvertretung oder sonstige relevante Vertretung existiere. Auch eine Unterrichtungs- und Begründungspflicht nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF komme nur in Betracht, wenn zuvor eine Erörterung mit einer bestehenden Schwerbehindertenvertretung habe erfolgen können. Der Umstand, dass sie den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen habe, sei kein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, da sie kein öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF sei. Insbesondere sei sie kein öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF. Diese Vorschrift erfasse nur diejenigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, denen hoheitliche Befugnisse übertragen worden seien und die öffentliche Aufgaben erfüllten. Dies sei bei ihr nicht der Fall.
11
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
12
Die zulässige Revision hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.
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A. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF die Regelungen des AGG.
14
B. Die Beklagte hat den Kläger – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt.
15
I. Zwar wurde der Kläger dadurch, dass er von der Beklagten nicht eingestellt wurde, unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, denn er hat eine ungünstigere Behandlung erfahren als die letztlich eingestellten Personen.
16
II. Der Kläger hat diese unmittelbare Benachteiligung jedoch nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass keine Indizien iSv. § 22 AGG vorliegen, die für sich allein betrachtet oder in der Gesamtschau aller Umstände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem Grund iSv. § 1 AGG, hier der (Schwer)Behinderung, der nach § 7 Abs. 1 AGG erforderliche Kausalzusammenhang bestand.
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1. Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
18
a) Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv. § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund iSv. § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt(BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN).
19
b) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51).
20
aa) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 52 mwN).
21
bb) Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist (vgl. EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaƫia Accept] Rn. 55 mwN; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32; BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 24 mwN, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 54 mwN, BAGE 155, 149). Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN).
22
2. Danach hat der Kläger die unmittelbare Benachteiligung nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Es liegen keine Indizien iSv. § 22 AGG vor, die für sich allein betrachtet oder in der Gesamtschau aller Umstände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass zwischen der benachteiligenden Behandlung und der (Schwer)Behinderung des Klägers der erforderliche Kausalzusammenhang bestand. Zwar kann aus einem Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, grundsätzlich die Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung abgeleitet werden (BAG 28. September 2017 – 8 AZR 492/16 – Rn. 26 mwN). Die Beklagte hat jedoch – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – nicht gegen derartige, zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehende Bestimmungen verstoßen.
23
a) Die Beklagte hat weder gegen die in § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX aF bestimmte Verpflichtung verstoßen, wonach die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen über Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten haben, noch liegt ein Verstoß der Beklagten gegen § 81 Abs. 1 Satz 6 SGB IX aF vor, wonach die Arbeitgeber bei der Prüfung nach § 81 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF die Schwerbehindertenvertretung nach § 95 Abs. 2 SGB IX aF zu beteiligen und die in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen anzuhören haben. Die Beklagte hat auch nicht gegen die sich aus § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF ergebende Verpflichtung verstoßen, wonach der Arbeitgeber, der seine Beschäftigungspflicht nicht erfüllt, seine beabsichtigte Entscheidung unter Darlegung der Gründe mit der Schwerbehindertenvertretung und einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung zu erörtern hat, wenn die Schwerbehindertenvertretung oder eine in § 93 SGB IX aF genannte Vertretung mit der beabsichtigten Entscheidung des Arbeitgebers nicht einverstanden ist. Die Verpflichtungen aus § 81 Abs. 1 Satz 4, Satz 6 und Satz 7 SGB IX aF hätten die Beklagte nur getroffen, wenn bei ihr eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine der in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen bestanden hätte(n). Das Landesarbeitsgericht hat allerdings das Bestehen einer solchen Vertretung nicht feststellen können. Zwar liegt – anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat – in dem klägerseitigen Bestreiten des Vorbringens der Beklagten, bei ihr sei weder eine Schwerbehindertenvertretung noch eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF gebildet, zugleich die Behauptung des Klägers, dass bei der Beklagten sowohl eine Schwerbehindertenvertretung als auch eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF bestanden habe, weshalb das Landesarbeitsgericht einen Verstoß der Beklagten gegen die in § 81 Abs. 1 Satz 4, Satz 6 und Satz 7 SGB IX aF bestimmten Verpflichtungen nicht mit der Begründung verneinen durfte, der Kläger habe die Existenz einer solchen Vertretung nicht (substantiiert) dargetan. Allerdings hat der Kläger – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – das Bestehen einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung nicht bewiesen. Der insoweit beweispflichtige Kläger hatte, obgleich ihm dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre, keinen Beweis für seine Behauptung angetreten, dass bei der Beklagten eine Schwerbehindertenvertretung und/oder ein Personalrat bestanden.
24
aa) Entgegen der Auffassung des Klägers traf diesen die Beweislast für die Existenz einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer der in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen.
25
(1) Nach den im deutschen Zivilprozessrecht geltenden Grundsätzen, die auch im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren nach dem ArbGG Anwendung finden, trifft denjenigen, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen. Zu diesen anspruchsbegründenden Tatsachen gehören im Fall der Geltendmachung eines Anspruchs auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG auch die tatsächlichen Umstände, die die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen sollen, dass die klagende Partei die ungünstigere Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfahren hat. Ob die tatsächlichen Umstände die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG begründen, ist dann eine Frage der richterlichen Würdigung (vgl. BAG 25. April 2013 – 8 AZR 287/08 – Rn. 35).
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(2) Aus § 22 AGG ergibt sich insoweit nichts Abweichendes. § 22 AGG sieht in Übereinstimmung mit Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union(vgl. EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaƫia Accept] Rn. 55 mwN; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 30 f.) eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast – wie unter Rn. 21 ausgeführt – erst für den Fall vor, dass die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes besteht.
27
(3) Da die in § 81 Abs. 1 Satz 4, Satz 6 und Satz 7 SGB IX aF bestimmten Verpflichtungen den Arbeitgeber nur dann treffen können, wenn bei ihm eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF eingerichtet ist, gehört das Bestehen solcher Vertretungen zu den den Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG begründenden Tatsachen, für die den Kläger die Darlegungs- und Beweislast traf.
28
bb) Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – die Existenz einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung bei der Beklagten nicht bewiesen. Der insoweit beweispflichtige Kläger ist beweisfällig geblieben. Er hat für seine Behauptung, bei der Beklagten sei eine Schwerbehindertenvertretung und/oder ein Personalrat eingerichtet, keinen Beweis angeboten, obgleich ihm ein entsprechender Beweisantritt ohne Weiteres möglich gewesen wäre.
29
(1) Zwar handelt es sich bei der Frage, ob bei dem Arbeitgeber eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF besteht, um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners, in die ein externer Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat. Es kann dahinstehen, ob und ggf. unter welchen weitergehenden Voraussetzungen aus diesem Umstand eine Verpflichtung des Arbeitgebers folgen kann, den Bewerber in die Lage zu versetzen, insoweit Beweis anzubieten, etwa indem er diesem im Prozess die Personen benennt, die über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer Vertretung nach § 93 SGB IX aF Auskunft geben können. Für eine derartige Auskunftspflicht könnte sprechen, dass nach den unionsrechtlichen Vorgaben im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, sicherzustellen ist, dass eine Verweigerung von Informationen durch die beklagte Partei nicht die Verwirklichung der mit den Richtlinien 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2006/54/EG verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht (vgl. EuGH 19. April 2012 – C-415/10 – [Meister] Rn. 40).
30
(2) Dem Kläger waren hinreichend Personen bekannt, die zu der Frage, ob bei der Beklagten eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine andere Vertretung bestand, etwas aussagen konnten. Der Kläger kannte die Namen der mit den Aufgaben im Zusammenhang mit der Stellenausschreibung von der Beklagten betrauten Personen. So war die Mitarbeiterin der Fraktionsgeschäftsstelle, Frau N in den Stellenausschreibungen als Ansprechpartnerin benannt, diese hatte auch die an den Kläger gerichteten E-Mails verfasst. Zudem hatte sich der Kläger mit seinem Schreiben vom 20. Dezember 2016 unmittelbar an den Fraktionsvorsitzenden sowie an die Fraktionsgeschäftsführerin R gewandt, die daraufhin unter dem 9. Januar 2017 ein Antwortschreiben an den Kläger gerichtet hatte. Sowohl Frau R als auch Frau N waren darüber hinaus von der Beklagten im vorliegenden Verfahren mit Schriftsatz vom 12. Mai 2017 unter Angabe der ladungsfähigen Anschrift als Zeuginnen benannt. Danach wäre es dem Kläger ohne Weiteres möglich gewesen, für seine Behauptung, bei der Beklagten bestehe eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF Beweis anzutreten.
31
b) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers ergibt sich ein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers wegen der (Schwer)Behinderung auch nicht aus einem Verstoß der Beklagten gegen die in § 81 Abs. 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX aF bestimmten Verpflichtungen. Die Beklagte war weder nach § 81 Abs. 1 Satz 8 SGB IX aF verpflichtet, den Kläger anzuhören, noch traf sie nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF die Pflicht, diesen unverzüglich unter Darlegung der Gründe über die von ihr über die Besetzung der ausgeschriebenen Stellen getroffene Entscheidung zu unterrichten.
32
aa) Die Verpflichtungen aus § 81 Abs. 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX aF treffen den Arbeitgeber nur dann, wenn er nach § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF verpflichtet ist, seine beabsichtigte Entscheidung mit der Schwerbehindertenvertretung und/oder einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung unter Darlegung der Gründe zu erörtern. Die Auslegung der in § 81 Abs. 1 Satz 7 bis Satz 9 SGB IX aF getroffenen Bestimmungen nach ihrem Wortlaut und ihrer inneren Systematik ergibt, dass diese ein in sich geschlossenes Erörterungsverfahren vorsehen. Dies hat zur Folge, dass eine Verpflichtung nach § 81 Abs. 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX aF dann nicht besteht, wenn den Arbeitgeber keine Pflicht nach § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF trifft. Dies hat der Senat bereits mit Urteil vom 28. September 2017 (- 8 AZR 492/16 – Rn. 29 ff. mwN) entschieden und ausführlich begründet. Hieran hält der Senat fest.
33
bb) Danach musste die Beklagte den Kläger nicht nach § 81 Abs. 1 Satz 8 SGB IX aF anhören und ihn auch nicht nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF über die von ihr getroffene Entscheidung, die im November 2016 ausgeschriebenen Stellen eines wissenschaftlichen Mitarbeiters/einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin mit einem anderen Bewerber zu besetzen, unter Darlegung der Gründe unverzüglich unterrichten. Die Voraussetzungen des § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF sind nicht erfüllt. Dies folgt im vorliegenden Verfahren bereits daraus, dass der Kläger – wie unter Rn. 28 ff. ausgeführt – für das Bestehen einer der in dieser Bestimmung genannten Vertretungen beweisfällig geblieben ist.
34
c) Ein Indiz nach § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung folgt auch nicht aus dem Umstand, dass die Beklagte den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte. Die Beklagte war zu einer solchen Einladung nicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet. Die besondere Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, trifft nur öffentliche Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Die Beklagte ist indes – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – kein öffentlicher Arbeitgeber nach dieser Bestimmung.
35
aa) § 71 Abs. 3 SGB IX aF enthält mit seinen Nummern 1 bis 4 eine abschließende Aufzählung der Einheiten, die als öffentliche Arbeitgeber iSd. Teils 2 des SGB IX aF gelten. Nur diese trifft die besondere Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Darauf, ob Arbeitgeber ggf. nach anderen Regelungen öffentliche Arbeitgeber sind oder als solche gelten, kommt es demnach nicht an.
36
bb) Die Beklagte gehört nicht zu den Stellen, die durch § 71 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB IX aF als öffentliche Arbeitgeber bestimmt sind.
37
(1) Da § 71 Abs. 3 Nr. 1 SGB IX aF ausschließlich Einheiten auf Bundesebene betrifft, scheidet die Eigenschaft der Beklagten als öffentlicher Arbeitgeber nach dieser Bestimmung von vornherein aus.
38
(2) Die Beklagte ist – entgegen der Rechtsauffassung des Klägers – auch nicht öffentlicher Arbeitgeber nach § 71 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX aF. Sie fällt nicht unter die dort aufgezählten Einheiten, insbesondere gehört sie nicht zur Verwaltung des Landtags und ist auch keine „sonstige Landesbehörde“. Unter einer „Behörde“ wird allgemein eine Stelle verstanden, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt (vgl. auch § 1 Abs. 2 SGB X und § 1 Abs. 4 VwVfG). Derartige Aufgaben hat die Beklagte indes nicht wahrgenommen. Im Gegenteil, in Art. 1 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes zur Rechtsstellung und Finanzierung der Fraktionen im Bayerischen Landtag (im Folgenden BayFraktG) ist ausdrücklich bestimmt, dass die Fraktionen des Bayerischen Landtags nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind und keine öffentliche Gewalt ausüben (zur Frage, ob eine Bundestagsfraktion öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF ist vgl. LSG Berlin-Brandenburg 22. Mai 2014 – L 8 AL 62/13 – Rn. 25).
39
(3) Da es sich bei der Beklagten nicht um eine Gebietskörperschaft bzw. einen Verband von Gebietskörperschaften nach § 71 Abs. 3 Nr. 3 SGB IX aF handelt, und sie auch keine Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF ist, könnte sie die besondere Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch nach § 82 Satz 2 SGB IX aF nur treffen, wenn sie eine sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF oder in analoger Anwendung dieser Bestimmung wäre. Beides ist jedoch – wie das Landesarbeitsgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat – nicht der Fall.
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(a) Die Beklagte ist keine Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF.
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(aa) § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF knüpft – mangels abweichender Anhaltspunkte – mit den Begriffen „Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts“ an das allgemeine verwaltungsrechtliche Begriffsverständnis an. Danach sind Körperschaften des öffentlichen Rechts durch staatlichen Hoheitsakt geschaffene, rechtsfähige, mitgliedschaftlich verfasste Organisationen des öffentlichen Rechts, die regelmäßig staatliche Aufgaben mit idR hoheitlichen Mitteln unter staatlicher Aufsicht wahrnehmen (Maurer/Waldhoff Allgemeines Verwaltungsrecht 19. Aufl. § 23 Rn. 43; Forsthoff Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd. I Allgemeiner Teil 10. Aufl. S. 491; vgl. auch BayVGH 9. März 1988 – 4 B 86.03226 – zu 3 a der Gründe). Es kann vorliegend dahinstehen, was unter „staatlichen Aufgaben“ im Einzelfall zu verstehen ist; jedenfalls setzt die besondere rechtliche Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts einen entsprechenden staatlichen Hoheitsakt, die Verleihung des Körperschaftsstatus, voraus. Dadurch wird nach außen hin für jedermann erkennbar dokumentiert, welchen Einheiten ein solcher Status zukommt. Dies ist bei der Prüfung, ob ein Arbeitgeber ein öffentlicher Arbeitgeber nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF ist, von besonderer Bedeutung. Sowohl der Arbeitgeber als auch der Beschäftigte bzw. Bewerber müssen ohne Schwierigkeiten erkennen können, ob den Arbeitgeber die besonderen Pflichten eines öffentlichen Arbeitgebers nach § 82 Satz 2 SGB IX aF treffen.
42
(bb) Danach handelt es sich bei der Beklagten nicht um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF. Zwar könnenFraktionen nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayFraktG am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen und unter ihrem Namen klagen und verklagt werden. Ihnen wurde allerdings nicht durch Hoheitsakt der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen. Im Hinblick auf den Status von Fraktionen bestimmt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayFraktG vielmehr lediglich, dass diesemit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattete Vereinigungen im Bayerischen Landtag sind, zu denen sich Mitglieder des Bayerischen Landtags zusammengeschlossen haben, wobei Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayFraktG – wie unter Rn. 38 ausgeführt – zudem negativ hervorhebt, dass die Fraktionen des Bayerischen Landtags gerade nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind und keine öffentliche Gewalt ausüben.
43
(b) § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF ist auf die Beklagte als Fraktion des bayerischen Landtags auch nicht analog anwendbar.
44
(aa) Eine Analogie ist nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält. Die Lücke muss sich demnach aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem, dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergeben. Dabei muss die Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können. Andernfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden. Darüber hinaus muss der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand vergleichbar sein, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie beim Erlass der herangezogenen Norm, zum gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vgl. etwa BAG 25. Januar 2018 – 8 AZR 309/16 – Rn. 64 mwN, BAGE 161, 378).
45
(bb)Daran gemessen kommt eine analoge Anwendung von § 71 Abs. 3 SGB IX aF auf Landtagsfraktionen wie die Beklagte nicht in Betracht. Hierfür fehlt es bereits an der erforderlichen, positiv festzustellenden planwidrigen Regelungslücke. Die Aufzählung in § 71 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB IX aF ist abschließend. Das Gesetz enthält keine Formulierung wie „insbesondere“, „beispielsweise“ oder „etwa“, die auf eine nur beispielhafte und damit nicht abschließende Aufzählung hinweisen würde. Der Gesetzgeber hat mit dieser Bestimmung vielmehr neben der Zusammenfassung von Dienststellen erkennbar konkret regeln wollen, welche Arbeitgeber von Teil 2 des SGB IX aF erfasst werden sollen; er hat keine generalisierende Regelung unter Verwendung von Oberbegriffen getroffen und ist auch nicht von einem allgemeinen Begriffsverständnis des öffentlichen Arbeitgebers ausgegangen, sondern hat ganz bestimmte Einheiten – hiervon unabhängig – ausdrücklich als öffentliche Arbeitgeber iSd. Teils 2 des SGB IX aF bestimmt.
46
d) Entgegen der Auffassung des Klägers folgt ein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung auch nicht daraus, dass die Beklagte nicht die nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen beschäftigte. Dieser Umstand stellt für sich genommen kein Indiz für eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung dar. Zwar kann – wie unter Rn. 22 ausgeführt – aus einem Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, grundsätzlich die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung abgeleitet werden. § 71 Abs. 1 SGB IX aF bestimmt jedoch keine Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen in diesem Sinne. Rechtsfolge der Nichterfüllung der Beschäftigungspflichtquote nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF ist lediglich die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe gemäß § 77 SGB IX aF, die von der Beklagten unstreitig erfüllt wird. Bei der Verpflichtung nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF handelt es sich nur um eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers gegenüber dem Staat mit dem Inhalt, im Rahmen der festgelegten Pflichtzahl Schwerbehinderte auf einem entsprechenden Arbeitsplatz einzustellen und zu beschäftigen. Diese Verpflichtung besteht hingegen nicht den einzelnen Schwerbehinderten gegenüber (vgl. BAG 1. August 1985 – 2 AZR 101/83 – zu II 3 c der Gründe, BAGE 49, 214 zur Vorgängerregelung des § 5 SchwbG). Darüber hinaus kann das Nichterfüllen der Quote auf den unterschiedlichsten Gründen beruhen, darunter auch auf solchen, auf die der Arbeitgeber keinen Einfluss hatte und die daher keinen Rückschluss auf eine etwaige ablehnende Haltung des Arbeitgebers gegenüber der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zulassen. So kann der Umstand, dass der Arbeitgeber die Beschäftigungspflichtquote nicht erfüllt, beispielsweise darauf zurückzuführen sein, dass sich auf vorhandene Stellen keine schwerbehinderten Menschen beworben haben oder dass bisher beschäftigte schwerbehinderte Menschen die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses erklärt haben oder in den Ruhestand getreten sind. Soweit das Gesetz an anderer Stelle – wie beispielsweise in § 81 Abs. 1 Satz 7 bis Satz 9 SGB IX aF – an das Nichterfüllen der Beschäftigungspflichtquote nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF besondere arbeitsrechtliche Pflichten des Arbeitgebers knüpft, führt dies zu keiner anderen Bewertung. Erst wenn der Arbeitgeber gegen diese Verpflichtungen verstößt, kann sich hieraus ein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung des Bewerbers wegen seiner (Schwer)Behinderung ergeben.
Schlewing
Winter
Der Richter am BundesarbeitsgerichtDr. Vogelsang ist an derUnterschriftsleistung verhindert.Schlewing
Wein
Leitz |
bag_24-18 | 23.05.2018 | 23.05.2018
24/18 - Kein Zuschuss zum Mutterschaftsgeld für Tagesmütter
Wird eine selbständige „Tagesmutter“, die nach §§ 22 ff., § 43 SGB VIII als Tagespflegeperson Kinder in der Kindertagespflege betreut, schwanger, hat sie keinen Anspruch auf Zuschuss zum Mutterschaftsgeld nach dem Mutterschutzgesetz. Ein Anspruch folgt auch nicht aus Unionsrecht.
Die Klägerin ist als Tagespflegeperson in der Kindertagespflege tätig. Der beklagte Landkreis erteilte ihr als örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe die Erlaubnis zur Betreuung von bis zu fünf gleichzeitig anwesenden fremden Kindern in der Kindertagespflege. Die Betreuungszeiten wurden in Absprache zwischen der Klägerin und den Eltern festgelegt. Für die Betreuung gewährte der beklagte Landkreis der Klägerin laufende Geldleistungen nach § 23 SGB VIII in Höhe von 3,90 Euro pro Kind und Betreuungsstunde. Dieser Anerkennungsbetrag wurde pro Betreuungsjahr für bis zu sechs Wochen Urlaub und bis zu zwei Wochen Krankheit weitergezahlt.
Die Klägerin gebar im März 2014 ein Kind. Sie verlangt vom beklagten Landkreis für den Zeitraum der Mutterschutzfristen von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt die Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld in Höhe der durchschnittlichen wöchentlichen laufenden Geldleistungen. Sie meint, sie sei Arbeitnehmerin des beklagten Landkreises, jedenfalls sei sie als eine solche zu behandeln. Der Anspruch ergebe sich bei unionsrechtskonformer Auslegung des Mutterschutzgesetzes, des § 23 SGB VIII sowie unmittelbar aus der Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben.
Der Fünfte Senat hat – wie die Vorinstanzen – die Klage abgewiesen. Die Klägerin ist als Tagespflegeperson keine Arbeitnehmerin des beklagten Landkreises, und zwar auch nicht im Sinne des Unionsrechts. Sie verrichtet für diesen nicht Tätigkeiten nach dessen Weisung. Aus der Richtlinie 2010/41/EU folgt kein unmittelbarer Anspruch auf die begehrte Zahlung gegen den beklagten Landkreis, denn die Richtlinie bestimmt den Schuldner nicht hinreichend konkret. Gleiches gilt für die UN-Frauenrechtskonvention.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 23. Mai 2018 – 5 AZR 263/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urteil vom 29. März 2017 – 13 Sa 399/16 – | Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 29. März 2017 – 13 Sa 399/16 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Wird eine „Tagesmutter“, die nach §§ 22 ff., § 43 SGB VIII in ihrem Haushalt als Tagespflegeperson Kinder in der Kindertagespflege betreut, schwanger, hat sie keinen Anspruch auf Zuschuss zum Mutterschaftsgeld. Ein solcher Anspruch folgt auch nicht aus Unionsrecht.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld für Tagesmütter.
2
Die Klägerin ist als Tagespflegeperson in der Kindertagespflege tätig. Der beklagte Landkreis als örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe erteilte der Klägerin im Jahr 2010 die bis zum 31. März 2015 befristete Erlaubnis zur Betreuung von bis zu fünf gleichzeitig anwesenden fremden Kindern in der Kindertagespflege. Er gewährte ihr auf Grundlage des SGB VIII und nach Maßgabe der „Grundsätze zur Förderung von Kindern in der Tagespflege gemäß §§ 23 und 24 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) im Landkreis Stade“ (iF Grundsätze) eine laufende Geldleistung. In den Grundsätzen ist ua. bestimmt:
„III. Laufende Geldleistung an die Kindertagespflegeperson
1) Die laufende Geldleistung an die Kindertagespflegeperson nach § 23 Abs. 2 SGB VIII umfasst
•
die Erstattung angemessener Kosten, die der Kindertagespflegeperson für den Sachaufwand entstehen,
•
einen Betrag zur Anerkennung ihrer Förderleistung,
•
die Erstattung nachgewiesener Aufwendungen für Beiträge zu einer Unfallversicherung,
•
die hälftige Erstattung nachgewiesener Aufwendungen zu einer angemessenen Alterssicherung und
•
die hälftige Erstattung nachgewiesener Aufwendungen zu einer angemessenen Krankenversicherung und Pflegeversicherung.
2) Kindertagespflegepersonen, die geeignet und qualifiziert … sind, erhalten ein Tagespflegegeld je Kind von 3,90 € pro Betreuungsstunde …;
…
IV. Antrag, Betreuungsumfang und Zahlungsverfahren
1) Das Amt für Jugend und Familie zahlt die gesamte laufende Geldleistung an die Kindertagespflegeperson aus. Die Eltern … haben für die Inanspruchnahme der Förderleistung einen … Kostenbeitrag … zu entrichten. …
2) Damit ein Kind im Rahmen dieser Grundsätze gefördert werden kann, ist von den Eltern … ein schriftlicher Antrag beim Amt für Jugend und Familie zu stellen. …
…
4) Die Höhe des Tagespflegegeldes wird anhand des benötigten Betreuungsumfanges festgesetzt und monatlich pauschal ausgezahlt. Der Betreuungsumfang ergibt sich aus den durchschnittlichen wöchentlichen Betreuungszeiten, die im Einvernehmen zwischen den Eltern, der Tagespflegeperson und dem Amt für Jugend und Familie festgelegt werden.
…
6) Der Kindertagespflegeperson stehen pro Betreuungsjahr bis zu 6 Wochen Urlaub zu. Für diese Zeit wird die laufende Geldleistung weiter gezahlt. Die Kindertagespflegeperson hat ihre Urlaubszeiten zu Beginn des Jahres in Abstimmung mit den Eltern festzulegen.
7) Für sonstige betreuungsfreie Zeiten, wie Krankheit des Kindes oder der Kindertagespflegeperson, wird die laufende Geldleistung für bis zu 2 Wochen im Betreuungsjahr weiter gezahlt. …
…
11) Zwischen der Kindertagespflegeperson und den Eltern wird im Regelfall ein privatrechtlicher Betreuungsvertrag geschlossen. …“
3
Bis zum 17. Januar 2014 erbrachte die Klägerin Betreuungsleistungen. Der Beklagte zahlte bis einschließlich 31. Januar 2014 die laufende Geldleistung. Am 7. März 2014 gebar die Klägerin ein Kind.
4
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, sie habe Anspruch auf Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld für die Zeit der mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt ihres Kindes. Sie sei Arbeitnehmerin des Beklagten, jedenfalls wie eine solche zu behandeln. Das Mutterschutzgesetz und § 23 SGB VIII seien unionsrechtskonform auszulegen. Der Anspruch ergebe sich auch unmittelbar aus der Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, sowie der UN-Frauenrechtskonvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979.
5
Die Klägerin hat – soweit für die Revision von Bedeutung – sinngemäß beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin Mutterschaftsleistungen für die Zeit vom 24. Januar bis zum 2. Mai 2014 in Höhe von 7.273,45 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 23. Juli 2015 zu zahlen,
hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin Mutterschaftsleistungen iSd. Art. 8 der Richtlinie 2010/41/EU unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts für sechs Wochen vor und acht Wochen nach dem 7. März 2014 zu gewähren.
6
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er ist der Auffassung, zwischen den Parteien bestünden keine arbeitsvertraglichen, sondern allein öffentlich-rechtliche Beziehungen. Weder habe er eine arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis gegenüber der Klägerin noch sei diese in seine Organisation eingegliedert.
7
Die Klägerin erhob zunächst vor dem Verwaltungsgericht Klage auf Zahlung von Mutterschaftsleistungen für die Zeit vom 24. Januar bis zum 2. Mai 2014. Dieses verwies den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Klägerin wurde vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht rechtskräftig zurückgewiesen. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Anträge weiter.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision ist – soweit zulässig – unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht die Berufung der Klägerin gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld. In Bezug auf den Hilfsantrag ist die Revision bereits unzulässig.
9
I. Die Revision ist nur hinsichtlich des Hauptantrags zulässig. Für den Hilfsantrag fehlt es an der erforderlichen Revisionsbegründung. Daher ist die Revision insoweit unzulässig.
10
1. Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO gehört zum notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung die Angabe der Revisionsgründe (BAG 20. Juni 2017 – 3 AZR 540/16 – Rn. 96). Hat das Berufungsgericht über mehrere Streitgegenstände mit jeweils eigenständiger Begründung entschieden, muss die Revision für jeden Streitgegenstand begründet werden. Wird zu einem Streitgegenstand keine Begründung gegeben, ist das Rechtsmittel insoweit unzulässig. Diese Grundsätze gelten auch, wenn das Berufungsgericht über einen Haupt- und einen (echten) Hilfsantrag entschieden hat (BAG 25. Mai 2016 – 2 AZR 345/15 – Rn. 17, BAGE 155, 181).
11
2. In Bezug auf den Hilfsantrag enthält die Revisionsbegründung keine ausreichende Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils. Das Landesarbeitsgericht hat die Zulässigkeit des Hilfsantrags wegen fehlender Bestimmtheit (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) verneint. Hierauf geht die Klägerin in der Revisionsbegründung nicht ein. Sie äußert lediglich, dem Hilfsantrag hätte stattgegeben werden müssen, wenn dem Beklagten ein Beurteilungsspielraum bei Bestimmung der Leistung einzuräumen sei.
12
II. Soweit die Revision zulässig ist, ist sie unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld.
13
1. Ein Anspruch auf Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld folgt nicht aus § 14 Abs. 1 Satz 1 MuSchG aF. Zwischen den Parteien wurde im Streitzeitraum kein Arbeitsverhältnis im Sinne dieser Norm begründet.
14
a) Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Ein Arbeitsverhältnis unterscheidet sich von dem Rechtsverhältnis eines freien Dienstnehmers durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit, in der sich der zur Dienstleistung Verpflichtete befindet (BAG 14. Juni 2016 – 9 AZR 305/15 – Rn. 15, BAGE 155, 264).
15
b) Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, es habe keinen privatrechtlichen Vertrag zwischen den Parteien gegeben. Die Klägerin beruft sich auch selbst nicht darauf, mit dem Beklagten einen Vertrag abgeschlossen zu haben, dessen Gegenstand die Kinderbetreuung war. Sie war gegenüber dem Beklagten weder zu einer bestimmten Arbeitsleistung noch zu einem bestimmten Umfang an Betreuungszeiten arbeitsvertraglich verpflichtet. Die Pflicht zur Betreuung bestimmter Kinder und der Betreuungsumfang ergaben sich vielmehr nach Ziff. IV.4 Satz 2 der Grundsätze aus den Absprachen, die die Klägerin mit den Erziehungsberechtigten der Kinder getroffen hat.
16
c) Das Landesarbeitsgericht hat weiterhin rechtsfehlerfrei angenommen, die Klägerin sei nicht an Weisungen des Beklagten hinsichtlich Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Leistung gebunden gewesen.
17
aa) Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts gab der Beklagte der Klägerin inhaltlich kein Erziehungs- oder Betreuungskonzept vor. Die Klägerin hatte bei der Gestaltung ihrer Tätigkeit lediglich die gesetzlichen Bestimmungen (zB § 22 Abs. 2, Abs. 3 SGB VIII) und das Kindeswohl zu berücksichtigen. Die Klägerin hat darüber hinaus die Möglichkeit gehabt, die zu betreuenden Kinder selbst auszuwählen.
18
bb) Entgegen der Auffassung der Revision begründet die Erlaubnispflicht nach § 43 Abs. 1 SGB VIII keine Weisungsabhängigkeit der Tagespflegeperson im Sinne einer Arbeitnehmereigenschaft.
19
(1) Die Erteilung der Erlaubnis enthält keine Anweisungen dazu, wie die Kinderbetreuung durchzuführen ist. § 43 SGB VIII regelt zum Zweck der Sicherung eines Mindeststandards einen präventiven Erlaubnisvorbehalt für die – öffentlich oder privat finanzierte – Tagespflege des Kindes außerhalb seines elterlichen Haushalts (OVG für das Land Nordrhein-Westfalen 25. Februar 2013 – 12 A 56/13 – Rn. 3). Sein Schutzzweck ist die Sicherung des Kindeswohls (OVG für das Land Nordrhein-Westfalen 21. Juli 2015 – 12 B 606/15 – Rn. 26). Über das Merkmal der Eignung der Tagespflegeperson sollen Qualitätsstandards gesetzt und eine kindgerechte Pflege der zu betreuenden Kinder sichergestellt werden (OVG Rheinland-Pfalz 15. Oktober 2014 – 7 D 10243/14 – Rn. 6).
20
(2) Eine arbeitsrechtliche Weisungsabhängigkeit der Klägerin bestand auch nicht aufgrund des Rechts des Beklagten, Auflagen zu erteilen. Die dem Beklagten nachzuweisenden Anforderungen an die persönliche Qualifikation und die räumliche Ausstattung dienen lediglich der Umsetzung des gesetzlichen Auftrags des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe aus §§ 43, 46 und 79 SGB VIII. Die Pflicht, öffentlich-rechtlichen Vorgaben der Aufsichtsbehörde im Jugendhilferecht nachzukommen, trifft jedermann. Sie ist kein Merkmal arbeitsvertraglicher Weisungsgebundenheit (vgl. BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 347/04 – zu II 1 b der Gründe, BAGE 115, 1).
21
cc) Eine Weisungsgebundenheit der Klägerin in Bezug auf die Arbeitszeit bestand nicht. Die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, der Beklagte habe der Klägerin keine Vorgaben zu Betreuungszeiten gemacht, hat die Klägerin mit der Revision nicht angegriffen. Aus dem Umstand, dass die Betreuungszeiten an die üblichen Zeiten der Erwerbstätigkeit der Erziehungsberechtigten gebunden sind, ergibt sich nichts anderes. Die Betreuungszeiten wurden zwischen der Klägerin und den Erziehungsberechtigten der zu betreuenden Kinder abgestimmt, nicht zwischen der Klägerin und dem Beklagten.
22
dd) Die Klägerin war gegenüber dem Beklagten nicht hinsichtlich des Tätigkeitsorts weisungsgebunden. Nach den – ebenfalls nicht angegriffenen – tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hatte die Klägerin die Räumlichkeiten, in denen sie die Tagespflege betrieb, selbst ausgesucht. An die genehmigten Räume war sie jedoch nicht gebunden. Hätte sie die Räumlichkeiten wechseln wollen, wäre lediglich eine neue Genehmigung seitens des Beklagten erforderlich gewesen.
23
d) Eine Eingliederung der Klägerin in die Arbeitsorganisation des Beklagten lag nicht vor. Die Klägerin hat die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht angegriffen, dass sie die Urlaubszeit nicht mit dem Beklagten, sondern in Abstimmung mit den Eltern der betreuten Kinder festzulegen hatte, der Beklagte die Betreuungszeiten nicht erfasste, sie keine Arbeitsmittel des Beklagten nutzte, kein Mitarbeiter des Beklagten als Vorgesetzter der Klägerin fungierte und eine Vertretungsregelung nicht bestand. Auch aus § 23 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII folgt nichts anderes. Danach ist für Ausfallzeiten einer Tagespflegeperson eine andere Betreuungsmöglichkeit für das Kind sicherzustellen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Vertretungsregelung mit Bezug zu einem Arbeitsverhältnis. Die Betreuung kann nicht nur durch eine andere Tagespflegeperson, sondern auch in anderen Tagespflegeeinrichtungen erfolgen (Lakies in Münder ua. FK-SGB VIII 7. Aufl. § 23 Rn. 42).
24
e) Der Beklagte zahlte der Klägerin keine Vergütung im Sinne eines Arbeitsentgelts. Die Geldleistung nach § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII ist keine Vergütung für Dienste, die die Tagespflegeperson gegenüber dem Träger der Jugendhilfe erbringt (Kaiser in LPK-SGB VIII 5. Aufl. § 23 Rn. 12; aA Lakies in Münder ua. FK-SGB VIII 7. Aufl. § 23 Rn. 21).
25
aa) Bereits der Wortlaut des § 23 Abs. 2 SGB VIII steht der Einordnung als Vergütung für erbrachte Dienste entgegen. Danach setzt sich die Geldleistung aus der Erstattung von Versicherungsbeiträgen und Sachaufwand sowie einem „Betrag zur Anerkennung ihrer Förderungsleistung“ zusammen. Die Begriffe „Aufwendungsersatz“ und „Anerkennungsbetrag“ legen bereits sprachlich nahe, dass hiermit keine Gegenleistung im Sinne einer im Synallagma stehenden Vergütung gemeint ist (wohl anders BVerwG 25. Januar 2018 – 5 C 18.16 – Rn. 13, das – abweichend vom Gesetzeswortlaut – die Begriffe „Vergütung“ und „Entlohnung“ verwendet). Die Gesetzgebungsmaterialien geben ebenfalls keinen Aufschluss darüber, dass es sich bei dem Anerkennungsbetrag um Arbeitsentgelt handeln soll. Der noch in der Gesetzesbegründung verwendete Begriff der „Vergütung“ (vgl. BT-Drs. 16/9299 S. 15) hat keinen Eingang in den Gesetzestext gefunden.
26
bb) Selbst wenn in dem „Betrag zur Anerkennung ihrer Förderungsleistung“ eine „Vergütung“ zu sehen wäre, stünde damit nicht zugleich fest, dass es sich hierbei um Arbeitsentgelt für die Erbringung von Arbeitsleistungen in einem Arbeitsverhältnis handelt. Wie sich § 612 BGB entnehmen lässt, wird mit dem Begriff „Vergütung“ die Gegenleistung sowohl in einem freien Dienstverhältnis als auch in einem Arbeitsverhältnis sowie im Falle eines Geschäftsbesorgungsvertrags bezeichnet (vgl. MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 612 Rn. 5; Staudinger/Richardi/Fischinger [2016] BGB § 612 Rn. 2). Da zudem beispielsweise in einem Behandlungsvertrag (§ 630a Abs. 1 BGB) und einem Werkvertrag (§ 631 Abs. 1 BGB) die zu erbringende Gegenleistung eine „Vergütung“ ist, erlaubt dieser Begriff keinen Rückschluss auf die rechtliche Einordnung der Grundlage des Anspruchs.
27
2. Ein Anspruch auf Zahlung von Zuschuss zum Mutterschaftsgeld besteht auch nicht unter Zugrundelegung des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs bei Anwendung des § 1 Nr. 1 und des § 14 Abs. 1 MuSchG aF. Zwischen den Parteien bestand kein Arbeitsverhältnis im unionsrechtlichen Sinn.
28
a) Wesentliches Merkmal eines Arbeitsverhältnisses iSd. Unionsrechts ist, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 39; 9. Juli 2015 – C-229/14 – [Balkaya] Rn. 34; 17. November 2016 – C-216/15 – [Betriebsrat der Ruhrlandklinik] Rn. 27). Die rechtliche Einordnung dieses Verhältnisses nach nationalem Recht und seine Ausgestaltung ebenso wie die Art der zwischen beiden Personen bestehenden Rechtsbeziehung ist nicht ausschlaggebend (EuGH 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 40; 17. November 2016 – C-216/15 – [Betriebsrat der Ruhrlandklinik] Rn. 27).
29
b) Die Klägerin erbrachte als Tagespflegeperson keine Leistungen nach Weisungen des Beklagten. Sie war nur gegenüber den Erziehungsberechtigten der Kinder aufgrund der mit diesen getroffenen Absprachen zu Zeit, Umfang, und Inhalt der Betreuungsleistungen gebunden.
30
c) Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es für den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff nicht allein auf eine wirtschaftliche Abhängigkeit an. Auch nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache Danosa setzt ein Arbeitsverhältnis die Tätigkeit einer Person nach Weisungen der anderen Person voraus (EuGH 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 39, 51). Hieran fehlt es im Streitfall.
31
d) Eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es nicht. Danach müssen die nationalen Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, ihrer Vorlagepflicht nachkommen, wenn in einem bei ihnen schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts gestellt wird, es sei denn, sie haben festgestellt, dass die unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (EuGH 15. September 2005 – C-495/03 – [Intermodal Transports] Rn. 33; BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – Rn. 81, BAGE 156, 289). Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff ist durch eine gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bereits geklärt (EuGH 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 39; 9. Juli 2015 – C-229/14 – [Balkaya] Rn. 34; 17. November 2016 – C-216/15 – [Betriebsrat der Ruhrlandklinik] Rn. 27). Der Senat hat die vom Gerichtshof entwickelten Merkmale des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs seiner Würdigung des Sachverhalts zugrunde gelegt und angewendet.
32
3. § 14 Abs. 1 Satz 1 MuSchG aF kann nicht dahingehend unionsrechtskonform ausgelegt werden, dass auch selbständig Erwerbstätige iSd. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2010/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juli 2010 (RL 2010/41/EU) einen Anspruch auf Zuschuss zum Mutterschaftsgeld haben.
33
a) Ein nationales Gericht, das bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht auszulegen hat, muss seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einer einschlägigen Richtlinie ausrichten, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen (EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 24; BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 62/12 – Rn. 29, BAGE 158, 121). Ermöglicht es das nationale Recht, durch Anwendung seiner Auslegungsmethoden eine innerstaatliche Bestimmung so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, sind die nationalen Gerichte gehalten, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (EuGH 5. Oktober 2004 – C-397/01 bis C-403/01 – [Pfeiffer ua.] Rn. 116; BAG 24. März 2009 – 9 AZR 983/07 – Rn. 58, BAGE 130, 119). Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Schranken. Die Pflicht zur Verwirklichung eines Richtlinienziels im Auslegungsweg findet ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Sie darf nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen (EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 25; BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 62/12 – aaO). Der Gehalt einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen Regelung kann nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung in sein Gegenteil verkehrt werden (BAG 18. Februar 2003 – 1 ABR 2/02 – zu B IV 3 b dd (1) der Gründe, BAGE 105, 32).
34
b) Es widerspricht dem dokumentierten Willen des Gesetzgebers, §§ 1, 14 MuSchG aF auf selbständig Erwerbstätige zu erstrecken. Diese Regelungen setzen Art. 11 Nr. 2 Buchst. b und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 um, die nach ihrem Art. 2 ausschließlich für Arbeitnehmerinnen gilt. Hieran hat sich durch die zum 1. Januar 2018 in Kraft getretene Neuregelung des Mutterschutzgesetzes nichts geändert. Zwar gilt nunmehr nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 7 MuSchG dieses Gesetz grundsätzlich auch für Frauen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit arbeitnehmerähnliche Personen sind, dies jedoch mit der Maßgabe, dass die Regelungen zu Mutterschutzlohn, Mutterschaftsgeld und Zuschuss zum Mutterschaftsgeld nach §§ 18, 19 Abs. 2 und § 20 MuSchG auf diese Personen gerade nicht anwendbar sind. Nach der Gesetzesbegründung erfolgt diese Einschränkung, weil Art und Umfang der sozialen Absicherung in der Entscheidung der selbständig erwerbstätigen Frauen liegen und sie – wie bisher – Anspruch auf Mutterschaftsgeld nach § 24i SGB V haben, soweit sie (freiwillige) Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse sind und bei Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Krankengeld besteht (BT-Drs. 18/8963 S. 51). Die Neuregelung des Mutterschutzgesetzes belegt damit, dass nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers selbständig Erwerbstätige, auch wenn sie wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit arbeitnehmerähnliche Personen sind, keinen Anspruch auf Mutterschutzlohn und Zuschuss zum Mutterschaftsgeld nach dem Mutterschutzgesetz haben sollen. Der Gesetzgeber hat die Mutterschaftsleistungen für selbständig Erwerbstätige, die (freiwillig) Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung sind, vielmehr in § 24i Abs. 2 Satz 7 aF, § 44 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2, § 53 Abs. 6 SGB V geregelt. Danach haben diese Frauen Anspruch auf Mutterschaftsleistungen in Höhe des Krankengeldes. Schuldner der Leistungen ist die zuständige Krankenversicherung.
35
4. Die Klägerin hat gegen den Beklagten des Weiteren keinen Anspruch auf Zahlung eines Zuschusses zum Mutterschaftsgeld nach § 14 Abs. 1 Satz 1, § 24 Nr. 2, § 1 Nr. 2 MuSchG aF. Sie war keine in Heimarbeit Beschäftigte oder eine ihnen Gleichgestellte iSd. § 1 Abs. 1, Abs. 2, § 2 Abs. 1, Abs. 2 HAG. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, dass sie keine Tätigkeit im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern (§ 2 Abs. 1, Abs. 2 HAG) verrichtet. Die Klägerin war als Tagespflegeperson nicht im Auftrag des Beklagten selbst, sondern der Erziehungsberechtigten der betreuten Kinder tätig. Eine Gleichstellung iSd. § 1 Abs. 2 HAG ist mangels einer Entscheidung über die Gleichstellung nach § 1 Abs. 4, Abs. 5 HAG nicht gegeben.
36
5. Ein Zahlungsanspruch gegen den beklagten Landkreis folgt weder aus § 13 Abs. 1 MuSchG aF iVm. § 24i Abs. 1 bzw. Abs. 2 Satz 7 SGB V aF noch aus § 13 Abs. 2 MuSchG aF. Die Regelung des § 13 Abs. 1 MuSchG aF bildet keine eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern verweist lediglich auf § 24i SGB V aF (HWK/Hergenröder 7. Aufl. § 13 MuSchG Rn. 2; NK-GA/Boecken § 13 MuSchG Rn. 31). Der Anspruch auf Mutterschaftsgeld nach § 24i Abs. 1 bzw. Abs. 2 Satz 7 SGB V aF besteht gegenüber der Krankenversicherung, im Falle des § 13 Abs. 2 MuSchG aF gegenüber dem Bund mit dem Bundesversicherungsamt als Auszahlungsstelle (ErfK/Schlachter 17. Aufl. § 13 MuSchG Rn. 1; NK-GA/Boecken § 13 MuSchG Rn. 37).
37
6. Die Klägerin kann einen Zahlungsanspruch nicht aus § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII iVm. Ziff. III.2 der Grundsätze herleiten. Die Bestimmungen enthalten keine Anspruchsgrundlage für die streitgegenständlichen Ausfallzeiten.
38
a) Die Regelungen der § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII iVm. Ziff. III.2 der Grundsätze gewähren keinen Anspruch der Tagespflegeperson für Ausfallzeiten, denn sie stellen auf die tatsächlich erbrachte Betreuungsleistung ab.
39
aa) Nach Ziff. III.2 der Grundsätze ist die laufende Geldleistung von der tatsächlich erbrachten Betreuungsleistung abhängig. Das Tagespflegegeld je Kind von 3,90 Euro wird pro Betreuungsstunde gezahlt. Die Klägerin war jedoch im streitgegenständlichen Zeitraum nicht als Tagespflegeperson tätig. Lediglich in den ausdrücklich benannten Ausnahmefällen von bis zu sechs Wochen Urlaub im Betreuungsjahr gemäß Ziff. IV.6 und betreuungsfreier Zeiten gemäß Ziff. IV.7 der Grundsätze wird die laufende Geldleistung auch ohne tatsächlich erbrachte Betreuung gezahlt. Ein solcher Fall liegt nicht vor.
40
bb) Ein Anspruch besteht auch nicht teilweise gemäß Ziff. IV.7 Satz 1 der Grundsätze. Danach wird für sonstige betreuungsfreie Zeiten, wie Krankheit des Kindes oder der Kindertagespflegeperson, die laufende Geldleistung für bis zu zwei Wochen im Betreuungsjahr weiter gezahlt. Selbst wenn von den betreuungsfreien Zeiten im Sinne dieser Bestimmung auch die Ausfallzeiten aufgrund Schwangerschaft und Mutterschaft erfasst wären, wäre ein entsprechender Anspruch der Klägerin durch Erfüllung erloschen (§ 362 Abs. 1 BGB). Der Beklagte hat nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts die laufende Geldleistung bis Ende Januar 2014 gewährt, obwohl die Klägerin die Betreuungsleistung nur bis zum 17. Januar 2014 erbracht hat. Damit wäre ein Anspruch auf die laufende Geldleistung für die Dauer von zwei Wochen für betreuungsfreie Zeiten im Betreuungsjahr erfüllt.
41
b) Die Klägerin kann nicht mit dem Einwand gehört werden, der Anerkennungsbetrag, den der Beklagte gewähre, sei zu niedrig. Eine Erhöhung des Anerkennungsbetrags ist nicht Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens.
42
7. Entgegen der Auffassung der Klägerin verhilft der Klage weder eine unionsrechtskonforme Auslegung der Regelungen der § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII iVm. Ziff. III.2 der Grundsätze noch eine Auslegung unter Berücksichtigung des Art. 11 Abs. 2 Buchst. b iVm. Art. 24 der UN-Frauenrechtskonvention zum Erfolg.
43
a) Die Regelungen der § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII iVm. Ziff. III.2 der Grundsätze sind nicht unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die laufende Geldleistung auch für Zeiten des Mutterschaftsurlaubs nach Art. 8 Abs. 1 RL 2010/41/EU fortzuzahlen hat. Bestimmungen zu Mutterschaftsleistungen enthalten § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII nicht. Diese sind vielmehr in §§ 24c, 24i SGB V und §§ 13, 14 MuSchG aF abschließend geregelt. Damit widerspricht es dem dokumentierten Willen des Gesetzgebers, die laufende Geldleistung gemäß § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII als eine Mutterschaftsleistung iSd. Art. 8 RL 2010/41/EU zu betrachten und den Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Schuldner der Leistung zu verpflichten. Der Gesetzgeber hat in §§ 24c, 24i iVm. § 44 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2, § 53 Abs. 6 SGB V mit der zuständigen Krankenversicherung den Schuldner der Mutterschaftsleistungen für selbständig Erwerbstätige eindeutig festgelegt und den Leistungsumfang bestimmt.
44
b) Auch unter Berücksichtigung der UN-Frauenrechtskonvention folgen aus § 23 Abs. 2, Abs. 2a SGB VIII nicht die von der Klägerin begehrten Mutterschaftsleistungen. Art. 11 Abs. 2 Buchst. b UN-Frauenrechtskonvention bestimmt, dass die Vertragsstaaten, um eine Diskriminierung der Frau wegen Eheschließung oder Mutterschaft zu verhindern und ihr ein wirksames Recht auf Arbeit zu gewährleisten, geeignete Maßnahmen treffen zur Einführung des bezahlten oder mit vergleichbaren sozialen Vorteilen verbundenen Mutterschaftsurlaubs ohne Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes, des Dienstalters oder sozialer Zulagen. Solche Maßnahmen hat der Gesetzgeber in Bezug auf selbständig Erwerbstätige mit den Bestimmungen der §§ 24c, 24i Abs. 2 Satz 7 aF SGB V getroffen.
45
8. Der Zahlungsanspruch gegen den beklagten Landkreis folgt entgegen der Auffassung der Revision nicht aus einer unmittelbaren Anwendung der Art. 8 Abs. 1, Abs. 3, Art. 2 Buchst. a, Art. 16 Abs. 1 RL 2010/41/EU, selbst wenn man die derzeitige gesetzliche Regelung von Mutterschaftsleistungen für selbständig Erwerbstätige für unzureichend und nicht unionsrechtskonform erachtet. Es fehlt an der hinreichend genauen Bestimmung der Person des Schuldners durch die Richtlinie.
46
a) Der Einzelne kann sich in Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat (EuGH 15. Februar 2017 – C-592/15 – [British Film Institute] Rn. 13). Hierauf beruft sich die Klägerin in Bezug auf die RL 2010/41/EU, weil der beklagte Landkreis eine Einrichtung des öffentlichen Sektors sei (dazu EuGH 7. September 2006 – C-53/04 – [Marrosu und Sardino] Rn. 29).
47
b) Die Prüfung, ob die Bestimmungen einer Richtlinie unbedingt und hinreichend genau sind, erstreckt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf drei Gesichtspunkte: die Bestimmung des Personenkreises, dem die vorgesehene Leistung zugutekommen soll, den Inhalt dieser Leistung und schließlich die Person des Schuldners der Leistung (vgl. EuGH 19. November 1991 – C-6/90, C-9/90 – [Francovich ua.] Rn. 12).
48
c) Art. 8 RL 2010/41/EU erfüllt die Voraussetzung der hinreichenden Genauigkeit in Bezug auf die Person des Schuldners nicht.
49
aa) Nach Art. 8 Abs. 1 RL 2010/41/EU ergreifen die Mitgliedstaaten erforderliche Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ua. selbständig erwerbstätige Frauen im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht ausreichende Mutterschaftsleistungen erhalten können, die eine Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft während mindestens 14 Wochen ermöglichen. Jedoch bestimmt die Richtlinie nicht hinreichend genau, wer Schuldner der Mutterschaftsleistungen iSd. Art. 8 sein soll. Das ist – ebenso wie der Inhalt der Leistungen – dem Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten überlassen, die zudem nach Art. 8 Abs. 2 RL 2010/41/EU darüber entscheiden können, ob die Mutterschaftsleistungen auf obligatorischer oder freiwilliger Basis gewährt werden.
50
bb) Die Person des Schuldners folgt auch nicht mittelbar aus Art. 8 Abs. 3 RL 2010/41/EU. Danach sind die Mutterschaftsleistungen ausreichend, wenn sie der Leistung entsprechen, die die betreffende Person im Falle einer Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen erhalten würde (Buchst. a) und/oder dem durchschnittlichen Einkommens- oder Gewinnverlust gegenüber einem vergleichbaren vorherigen Zeitraum, vorbehaltlich etwaiger Obergrenzen nach innerstaatlichem Recht (Buchst. b) und/oder jeglicher anderer familienbezogenen Leistung nach innerstaatlichem Recht, vorbehaltlich etwaiger Obergrenzen nach innerstaatlichem Recht (Buchst. c). Als Stellen, die die Mutterschaftsleistungen zu gewähren haben, kommen demnach unterschiedlichste Einrichtungen in Betracht, etwa eine Krankenversicherung (Buchst. a), eine Arbeitslosenversicherung (Buchst. b) oder jegliche andere staatliche Einrichtung, die Leistungen zur Familienförderung erbringt (Buchst. c). Die Richtlinie bestimmt nicht, dass – wie der beklagte Landkreis – diejenige Person oder Einrichtung, die eine tätigkeitsbezogene Geldleistung vor Beginn der Mutterschutzfristen an die Person iSd. Art. 2 RL 2010/41/EU gezahlt hat, Schuldner sein muss.
51
9. Die Regelung des Art. 11 Abs. 2 Buchst. b der am 25. April 1985 ratifizierten UN-Frauenrechtskonvention (BGBl. II S. 647) gewährt gleichfalls keinen unmittelbaren Anspruch auf Mutterschaftsleistungen. Es mangelt an der hinreichenden Bestimmtheit.
52
a) Als ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag besitzt die UN-Frauenrechtskonvention den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. BVerfG 19. September 2006 – 2 BvR 2115/01, 2 BvR 2132/01, 2 BvR 348/03 – Rn. 53, BVerfGK 9, 174). Solche völkerrechtlichen Verträge können nur dann innerstaatlich unmittelbar anwendbares Recht werden, wenn sie alle Eigenschaften besitzen, die ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muss, um die Normadressaten berechtigen oder verpflichten zu können. Die Vertragsbestimmung muss nach Wortlaut, Zweck und Inhalt wie eine innerstaatliche Gesetzesvorschrift rechtliche Wirkungen auszulösen geeignet sein (BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvR 637/09 – Rn. 13, BVerfGE 142, 234). Dafür muss ihre Auslegung ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf (BSG 6. März 2012 – B 1 KR 10/11 R – Rn. 24, BSGE 110, 194; BVerwG 29. April 2009 – 6 C 16.08 – Rn. 46, BVerwGE 134, 1).
53
b) Art. 11 Abs. 2 Buchst. b UN-Frauenrechtskonvention kann ohne Ausfüllung durch innerstaatliche Umsetzungsmaßnahmen keine rechtliche Wirkung entfalten. Wie vom Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen, ist weder die Dauer eines bezahlten Mutterschaftsurlaubs noch die Höhe der Vergütung noch der Schuldner der Leistung benannt noch sind diese bestimmbar.
54
III. Die Klägerin hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen.
Linck
Biebl
Volk
Busch
Teichfuß |
bag_24-20 | 28.07.2020 | 28.07.2020
24/20 - Entgelttransparenzgesetz - Anspruch des Betriebsrats im Hinblick auf Bruttoentgeltlisten
Nach den Vorgaben im Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) ist der Betriebsrat in das individuelle Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit durch die Beantwortung von Auskunftsverlangen der Beschäftigten eingebunden. Zu diesem Zweck ist ein von ihm gebildeter Betriebsausschuss berechtigt, Bruttoentgeltlisten des Arbeitgebers einzusehen und auszuwerten (§ 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG)*. Dieses Einsichts- und Auswertungsrecht besteht daher nicht, wenn der Arbeitgeber die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung berechtigterweise an sich gezogen hat.
Die Arbeitgeberin ist ein Telekommunikationsunternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten. Nach Inkrafttreten des EntgTranspG machte sie von der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, die Verpflichtung zur Erfüllung von Auskunftsverlangen der Beschäftigten generell zu übernehmen. Über die in der ersten Jahreshälfte 2018 geltend gemachten Auskunftsverlangen informierte sie den Betriebsrat und gewährte ihm Einblick in spezifisch aufbereitete Bruttoentgeltlisten. Diese waren nach Geschlecht aufgeschlüsselt und wiesen sämtliche Entgeltbestandteile auf. Der Betriebsrat hat unter Hinweis auf § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG verlangt, die Listen dem Betriebsausschuss in bestimmten elektronischen Dateiformaten zur Auswertung zu überlassen.
Die Vorinstanzen haben das Begehren abgewiesen. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das Einsichts- und Auswertungsrecht in § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG korrespondiert mit der nach der Grundkonzeption des EntgTranspG dem Betriebsrat zugewiesenen Aufgabe, individuelle Auskunftsansprüche von Beschäftigten zu beantworten. Es besteht daher nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Arbeitgeber diese Aufgabe selbst erfüllt.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28. Juli 2020 – 1 ABR 6/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 8 TaBV 42/18 –
Die maßgeblichen Vorschriften des Entgelttransparenzgesetzes lauten wie folgt:
„§ 13 (1)1Im Rahmen seiner Aufgabe nach § 80 Absatz 1 Nummer 2a des Betriebsverfassungsgesetzes fördert der Betriebsrat die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Betrieb. 2Dabei nimmt der Betriebsrat insbesondere die Aufgaben nach § 14 Absatz 1 und § 15 Absatz 2 wahr. …
(2)1Der Betriebsausschuss nach § 27 des Betriebsverfassungsgesetzes oder ein nach § 28 Absatz 1 Satz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes beauftragter Ausschuss hat für die Erfüllung seiner Aufgaben nach Absatz 1 das Recht, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter im Sinne des § 80 Absatz 2 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes einzusehen und auszuwerten. …“ | Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 23. Oktober 2018 – 8 TaBV 42/18 – wird zurückgewiesen.
Leitsatz
Das entgeltlistenbezogene Einsichts- und Auswertungsrecht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG ist an die Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung individueller Auskunftsverlangen nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG gebunden. Es besteht nicht, wenn der Arbeitgeber die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung berechtigterweise an sich gezogen hat.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Übergabe von Bruttoentgeltlisten.
2
Die Zentralverwaltung der Arbeitgeberin ist ein Betrieb mit mehr als 4.000 Beschäftigten. Dort ist ein 27-köpfiger Betriebsrat gewählt. Dieser hat einen Betriebsausschuss gebildet.
3
Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (Entgelttransparenzgesetz – EntgTranspG -) hat die Arbeitgeberin von der dort vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Verpflichtung zur Erfüllung individueller Auskunftsverlangen von Beschäftigten generell zu übernehmen. Sie unterrichtet den Betriebsrat regelmäßig über konkrete Auskunftsverlangen und deren Beantwortung. In diesem Zusammenhang gewährt sie Einblick in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter, welche nach Geschlecht aufgeschlüsselt die Entgeltbestandteile einschließlich übertariflicher Zulagen und individuell ausgehandelter Zahlungen enthalten. Die Listen können entweder auf einem zur Verfügung gestellten Rechner als PDF-Datei oder als Ausdruck eingesehen werden. Es besteht die Möglichkeit, sich Notizen zu machen und Berechnungen anzustellen.
4
Der Betriebsrat hat in dem von ihm eingeleiteten Verfahren die Übergabe dieser Entgeltlisten an den Betriebsausschuss geltend gemacht. § 13 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG weise ihm die Aufgabe zu, die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Betrieb zu fördern. Dazu sei der Betriebsausschuss nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG berechtigt, die Bruttoentgeltlisten einzusehen und auszuwerten. Das Auswertungsrecht umfasse auch die Herausgabe der Listen in bearbeitungsfähigen Dateiformaten, hilfsweise in einer anderen auswertbaren (Papier-)Form.
5
Der Betriebsrat hat – soweit für die Rechtsbeschwerde noch von Interesse – zuletzt sinngemäß beantragt,
die Arbeitgeberin zu verpflichten, dem Betriebsausschuss für die nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG vorzunehmende Auswertung Listen über die Bruttoentgelte aller betriebsangehörigen Arbeitnehmer mit Ausnahme der leitenden Angestellten elektronisch im Format *.xls oder *.txt zu übergeben, die nach Geschlecht aufgeschlüsselt alle Entgeltbestandteile aller Arbeitnehmer des Betriebs enthalten, einschließlich übertariflicher Zulagen und solcher Zahlungen, die individuell ausgehandelt und gezahlt werden;
hilfsweise die Arbeitgeberin zu verpflichten, dem Betriebsausschuss die im Hauptantrag genannte Liste zu diesem Zweck in gedruckter Papierform zu übergeben, die geeignet ist, den Inhalt der Liste mittels elektronischer Zeichenerkennung (OCR) in elektronisches Format umzuwandeln.
6
Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Einsichts- und Auswertungsberechtigung nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG erweitere nicht den allgemeinen betriebsverfassungsrechtlichen Anspruch aus § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG um ein Recht auf Überlassung der Listen über die Bruttolöhne und -gehälter.
7
Das Arbeitsgericht hat die Anträge abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat sein Begehren weiter.
8
B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen dem in der Rechtsbeschwerde noch anfallenden Begehren des Betriebsrats nicht entsprochen. Der zulässige Hauptantrag ist unbegründet. Der Hilfsantrag fällt nicht zur Entscheidung an.
9
I. Der hauptsächlich gestellte Antrag ist – entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin – zulässig.
10
1. Er bedarf allerdings der Auslegung.
11
a) Der Betriebsrat bezieht die begehrte Übergabeverpflichtung nach ihrer sprachlichen Fassung auf Listen über Bruttoentgelte mit einem näher beschriebenen Inhalt. Damit sind die Listen bezeichnet, die von der Arbeitgeberin nach Maßgabe des § 13 Abs. 3 Satz 1 EntgTranspG aufbereitet werden und in die sie Einsicht gewährt. Es fehlt an jeglichem Anhaltspunkt, dass der Betriebsrat die Übergabe inhaltlich anderer – von der Arbeitgeberin noch herzustellender – Listen erstrebt.
12
b) Die Übergabe der bei der Arbeitgeberin bereits vorgehaltenen Listen soll in spezifischen Dokument-Dateitypen („elektronisch im Format *.xls oder *.txt“) erfolgen. Diese entsprechen nicht dem Dateiformat bei der gewährten Einsichtnahme (PDF-Datei oder Ausdruck). Damit sind sie Bestandteil der beanspruchten Verpflichtung.
13
c) Die – ausdrücklich erst in der Beschwerdeinstanz formulierte – Herausnahme der leitenden Angestellten bei der Listenbeschreibung hat lediglich klarstellenden Charakter. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Betriebsrat ein Rechtsschutzziel verfolgt, das über seinen Zuständigkeitsbereich hinausginge.
14
d) Soweit im Antrag der Übergabezweck angeführt ist, handelt es sich um ein bloßes Element der Antragsbegründung. Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass die streitbefangenen Entgeltlisten mit keiner anderen Intention als der ihrer Auswertung unter den Gesichtspunkten des EntgTranspG übergeben werden sollen. Streitig ist nach ihrem Vorbringen vielmehr, ob das Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG eine Pflicht der Arbeitgeberin zur Listenübergabe an den Betriebsausschuss begründet. Zwar „übermittelt“ die Arbeitgeberin die Entgeltlisten bereits in dem Sinn, als sie im PDF-Format eingesehen werden können und Gelegenheit besteht, Notizen zu fertigen und Berechnungen anzustellen. Es geht dem Betriebsrat aber um die Weitergabe der die Bruttoentgeltlisten darstellenden Daten in den bezeichneten Dateiformaten an den Betriebsausschuss zu dessen Verfügung.
15
2. In diesem Verständnis ist der Antrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Anders als die Arbeitgeberin eingewandt hat, ist das Übergabeverlangen nicht deshalb unzulänglich beschrieben, weil hinsichtlich der Entgeltlisten der Zeitpunkt des dort abzubildenden Personalbestands unklar wäre. Es geht dem Betriebsrat um keine anderen Listen als die, in welche die Arbeitgeberin – auch nach ihrem eigenen Vortrag – Einsicht gewährt.
16
II. Der Hauptantrag ist unbegründet.
17
1. Die Arbeitgeberin ist nicht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG zur Übergabe der Bruttoentgeltlisten verpflichtet. Dabei kann offenbleiben, ob das nach dieser Vorschrift bestehende Recht, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter iSd. § 80 Abs. 2 Satz 2 BetrVG einzusehen und auszuwerten, einen Anspruch auf deren Übergabe gewährt. Jedenfalls korrespondiert es mit der Aufgabe des Betriebsrats nach § 14 Abs. 1 Satz 1 bis Satz 3 EntgTranspG (bei tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern) bzw. nach § 15 Abs. 2 iVm. § 14 Abs. 1 Satz 1 bis Satz 3 EntgTranspG (bei nicht tarifgebundenen und nicht tarifanwendenden Arbeitgebern) im Zusammenhang mit der Erfüllung einer Auskunftsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG. Es besteht daher nicht, wenn es der Arbeitgeber – wie im vorliegenden Fall – nach § 14 Abs. 2 Satz 1 bzw. § 15 Abs. 2 EntgTranspG übernommen hat, die Auskunft selbst zu erteilen.
18
a) Entsprechend dem im Abschnitt 2 des EntgTranspG geregelten individuellen Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit haben Beschäftigte nach §§ 10 ff. EntgTranspG in Betrieben mit in der Regel mehr als 200 Beschäftigten bei demselben Arbeitgeber einen inhaltlich mit näheren Maßgaben versehenen individuellen Auskunftsanspruch. In dieses Verfahren ist der Betriebsrat eingebunden. An ihn wenden sich Beschäftigte tarifgebundener und tarifanwendender Arbeitgeber für ihr Auskunftsverlangen (§ 14 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG). Entsprechendes gilt für Beschäftigte nicht tarifgebundener und nicht tarifanwendender Arbeitgeber (§ 15 Abs. 2 EntgTranspG). Damit ist der Betriebsrat für die Erteilung der Auskunft grundsätzlich zuständig, wobei er die Verpflichtung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 EntgTranspG auf den Arbeitgeber übertragen kann. Der Arbeitgeber seinerseits ist berechtigt, nach Maßgabe von § 14 Abs. 2, § 15 Abs. 2 EntgTranspG die Erfüllung der Auskunftspflicht generell oder im Einzelfall an sich zu ziehen.
19
b) § 13 Abs. 2 und Abs. 3 EntgTranspG flankiert die von § 14 Abs. 1 und § 15 Abs. 2 EntgTranspG vorgesehene Stellung des Betriebsrats als Adressat eines individuellen Auskunftsverlangens nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG (BAG 7. Mai 2019 – 1 ABR 53/17 – Rn. 28, BAGE 166, 309). Hat der Arbeitgeber entsprechend der ihm gesetzlich eröffneten Möglichkeit die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung an sich gezogen, besteht das Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG nicht. Dieses ist an die Zuständigkeit des Betriebsrats für die Auskunftserteilung gebunden. Das geben Systematik und der Zweck der Norm vor.
20
aa) Allerdings lässt der Normwortlaut mehrere inhaltliche Deutungen zu.
21
(1) Er ist unmissverständlich dahingehend, dass das Recht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter iSd. § 80 Abs. 2 Satz 2 BetrVG einzusehen und auszuwerten, aufgabengebunden ist. Das legt bereits die Überschrift von § 13 EntgTranspG nahe, die dessen Regelungsgegenstände mit „Aufgaben und Rechte des Betriebsrates“ zusammenfasst. Den entsprechenden Aufgabenbezug verdeutlicht vor allem die Präposition „für“ im Zusammenhang mit dem textlichen Ausdruck „die Erfüllung seiner Aufgaben“. Das Possessivpronomen „seiner“ bezieht sich zwar grammatikalisch gesehen auf den dort angeführten Betriebsausschuss bzw. den nach § 28 Abs. 1 Satz 3 BetrVG beauftragten Ausschuss; diese werden jedoch insoweit anstelle des Betriebsrats tätig.
22
(2) Die Aufgaben selbst sind mit der inhaltsbezogenen Verweisung „nach Absatz 1“ beschrieben. Allerdings ist der gesamte „Absatz 1“ von § 13 EntgTranspG rechtstechnisch von vornherein ein nur bedingt verweisungstauglicher Text, denn sein Satz 3 beschreibt keine Aufgaben, sondern bestimmt, dass betriebsverfassungsrechtliche, tarifrechtliche oder betrieblich geregelte Verfahren unberührt bleiben.
23
(3) Soweit auf Satz 1 und Satz 2 von § 13 Abs. 1 EntgTranspG Bezug genommen wird, gibt deren Normtext ein bestimmtes inhaltliches Verständnis nicht zwingend vor. Die Formulierung, wonach der Betriebsrat „[i]m Rahmen seiner Aufgabe nach § 80 Absatz 1 Nummer 2a des Betriebsverfassungsgesetzes … die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Betrieb“ fördert, wobei er „insbesondere die Aufgaben nach § 14 Absatz 1 und § 15 Absatz 2“ EntgTranspG wahrnimmt, deutet zwar darauf hin, dass das Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG unabhängig davon besteht, ob der Betriebsrat die Auskunft zu erteilen hat oder ob – so in Betrieben unterhalb des Schwellenwerts von in der Regel mehr als 200 Beschäftigten – ein individueller Auskunftsanspruch iSv. §§ 10 ff. EntgTranspG überhaupt geltend gemacht werden kann (so MHdB ArbR/Arnold 4. Aufl. § 314 Rn. 34; Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 13 EntgTranspG Rn. 18; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. Juni 2020 EntgTranspG § 13 Rn. 5; DKW/Buschmann 17. Aufl. § 80 Rn. 130a; ErfK/Schlachter 20. Aufl. EntgTranspG § 13 Rn. 3; Weber GK-BetrVG 11. Aufl. § 80 Rn. 130; Günther/Heup/Mayr NZA 2018, 545, 547; HWK/Thies 9. Aufl. § 13 EntgTranspG Rn. 3; Kania NZA 2017, 819, 820; Kocher AuR 2018, 8, 15; Kuhn/Schwindling DB 2018, 509, 515; Oerder/Wenckebach EntgTranspG § 13 Rn. 4). Allerdings verschließt sich diese Aufgabenbeschreibung sprachlich auch keinem Verständnis dahingehend, dass mit Satz 1 von § 13 Abs. 1 EntgTranspG der bereits in § 80 Abs. 1 Nr. 2a BetrVG enthaltene Aspekt der Förderung einer Durchsetzung von Entgeltgleichheit – aus Gründen der Klarstellung – angeführt ist. Denn § 80 Abs. 1 Nr. 2a BetrVG zählt seinerseits bei der dort festgelegten Förderaufgabe des Betriebsrats zur Durchsetzung der tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter die hierfür einschlägigen Bereiche (Einstellung, Beschäftigung, Aus-, Fort- und Weiterbildung und beruflicher Aufstieg) nicht abschließend auf. Mit dem Adverb „insbesondere“ in Satz 2 von § 13 Abs. 1 EntgTranspG können daher auch lediglich die in § 14 Abs. 1 und § 15 Abs. 2 EntgTranspG geregelten spezifischen Zuständigkeitsaufgaben des Betriebsrats besonders betont sein, deren Wahrnehmung das Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG dient.
24
bb) Für letzteres Verständnis spricht die Normsystematik. Nach § 13 Abs. 2 Satz 2 EntgTranspG kann der einsichts- und auswertungsberechtigte Ausschuss „mehrere Auskunftsverlangen bündeln und gemeinsam behandeln“. Die gliederungsmäßige Stellung dieser Berechtigung lässt darauf schließen, das im Satz 1 der Vorschrift geregelte Einsichts- und Auswertungsrecht in Abhängigkeit von der Zuständigkeit des Betriebsrats zur Beantwortung von Auskunftsverlangen zu verstehen. Zudem kann zumindest § 13 Abs. 5 EntgTranspG ein sinnvoller Regelungsgehalt nur dann beigemessen werden, wenn entweder der Arbeitgeber von der ihm möglichen Übernahme der Beantwortung von Auskunftsverlangen keinen Gebrauch gemacht oder der Betriebsrat Entsprechendes nicht verlangt hat. Auch § 13 Abs. 4 EntgTranspG knüpft an Auskunftsverlangen – hier der leitenden Angestellten – an.
25
cc) Gesetzessystematische Überlegungen stützen dieses Verständnis.
26
(1) Die Regelungen des mit „Aufgaben und Rechte des Betriebsrates“ überschriebenen § 13 EntgTranspG finden sich im Gesetzesabschnitt „Individuelle Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit“. In diesem Abschnitt sind der Auskunftsanspruch und hierzu die Anspruchsberechtigung, Formalien, Bezugspunkt, Gegenstand und Reichweite ebenso festgelegt wie ein Verfahren zur Geltendmachung und Behandlung von Auskunftsverlangen mit regelhafter – vom Arbeitgeber sowie Betriebsrat aber auch „verzichtbarer“ – Einbindung des Betriebsrats. Sämtliche Vorschriften des § 13 EntgTranspG dürften damit eher die spezifischen Rechte und Aufgaben des Betriebsrats bei seiner regelhaften Verfahrenseinbindung betreffen. Dies zeigt auch § 10 Abs. 3 EntgTranspG, wonach ein Auskunftsverlangen mit einer Antwort „nach Maßgabe der §§ 11 bis 16“ – was die Regelungen in § 13 EntgTranspG einschließt – erfüllt ist. Ebenso nimmt § 14 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG – im unmittelbaren Anschluss an die in Satz 1 festgelegte Zuständigkeit des Betriebsrats für Auskunftsverlangen im Verfahren bei tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern – Bezug auf § 13 EntgTranspG. Die dort angesprochenen „Vorgaben … nach § 13“ greifen also im Zusammenhang mit einem Auskunftsverlangen von Beschäftigten.
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(2) Ein systematischer Normtextvergleich von § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG mit § 15 Abs. 4 Satz 5 EntgTranspG gebietet keine bestimmte Lesart. Die besondere Informationsverpflichtung des nicht tarifgebundenen und nicht tarifanwendenden Arbeitgebers nach § 15 Abs. 4 Satz 5 EntgTranspG knüpft zwar ausdrücklich an die Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung des Auskunftsverlangens an („[s]oweit“). Ein Gegenschluss zu § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG ist aber nicht zwingend, weil Satz 5 von § 15 Abs. 4 EntgTranspG nicht die Entgeltlisteneinsicht und -auswertung betrifft, sondern die Bereitstellung erforderlicher Informationen regelt.
28
(3) Der Umstand, dass die Übergangsbestimmung des § 25 Abs. 1 EntgTranspG allein den Auskunftsanspruch nach § 10 EntgTranspG – und nicht auch § 13 EntgTranspG – in Bezug nimmt, ist nicht aussagekräftig. Versteht man die Einsichts- und Auswertungsberechtigung als ein mit der Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung von Auskunftsverlangen korrespondierendes Recht, wäre eine gesonderte Übergangsbestimmung überflüssig. Aus ihrem Fehlen vermag daher nichts abgeleitet zu werden.
29
(4) Die auf Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 3 von § 13 EntgTranspG bezogene textvergleichende Regelungssystematik führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Norm des § 13 Abs. 3 Satz 3 EntgTranspG legt die inhaltlichen Anforderungen für die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Aufbereitung der Entgeltlisten fest. Die Formulierung in § 13 Abs. 3 EntgTranspG, die nicht ausdrücklich aufgabenbezogen ist, zwingt jedoch nicht zu dem Gegenschluss, bei den von § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG angesprochenen Aufgaben müsse es sich um weitergehende als die der Auskunftserteilung handeln.
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dd) Sinn und Zweck des Einsichts- und Auswertungsrechts streiten deutlich dafür, dass es eine Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung individueller Auskunftsverlangen voraussetzt.
31
(1) Damit der Betriebsrat individuelle Auskunftsansprüche der Beschäftigten nach § 10 EntgTranspG ordnungsgemäß erfüllen kann, bedarf es einer Berechtigung, die Entgeltlisten nicht nur einzusehen, sondern auch auszuwerten. Das ist durch den gesetzlichen Mindestinhalt und -umfang der Auskunft vorgegeben (§ 11 EntgTranspG). Die inhaltlichen Anforderungen an die Auskunftserteilung begründen einen spezifischen Informationsbedarf des nach der Regelkonzeption des EntgTranspG für die Beantwortung von Auskunftsverlangen zuständigen Betriebsrats. Im Hinblick darauf ist mit § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG eine über das Einblicksrecht des § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG hinausgehende entgeltlistenbezogene Auswertungsberechtigung festgelegt (vgl. zB ErfK/Schlachter 20. Aufl. EntgTranspG § 13 Rn. 3). Eine solche Notwendigkeit der Entgeltlistenauswertung ist der – genereller verfassten – Aufgabe des Betriebsrats zur Förderung der Durchsetzung der Entgeltgleichheit nicht in vergleichbarer Weise immanent. Hierzu bedarf es vielmehr der Darlegung des Betriebsrats, für welche konkreten Förderungsmaßnahmen bestimmte Auskünfte benötigt werden (vgl. dazu zB BAG 24. April 2018 – 1 ABR 6/16 – Rn. 34). Das gilt auch, wenn die – nach ihrem eindeutigen Wortlaut – auf eine „Förderung“ der Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern gerichtete Aufgabe des Betriebsrats eine solche zur Überwachung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots enthielte. Ungeachtet dessen, dass eine entsprechende Überwachungsaufgabe nicht aus § 80 Abs. 1 Nr. 2a BetrVG oder § 13 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG folgte, sondern aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (vgl. zB BAG 26. September 2017 – 1 ABR 27/16 – Rn. 17), stünde auch sie unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit einer Auswertung der Bruttoentgeltlisten. Hierfür reichten weder allgemein gehaltene Hinweise auf gesetzliche Aufgaben unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts aus noch wäre die Erforderlichkeit allein mit dem Bestehen einer Überwachungsaufgabe impliziert (vgl. zB BAG 9. April 2019 – 1 ABR 51/17 – Rn. 16 ff., BAGE 166, 269).
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(2) Die in den Gesetzesmaterialien verlautbarte Intention des Gesetzgebers zeigt deutlich die Bindung des Einsichts- und Auswertungsrechts an die regelhaft dem Betriebsrat zugewiesene Aufgabe der Erfüllung von Auskunftsverpflichtungen. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bestimmt der in „sechs Absätze gegliedert[e]“ Paragraph des § 13 EntgTranspG „die Aufgaben und Rechte des Betriebsrats und speziell des Betriebsausschusses im Rahmen des Auskunftsanspruchs der Beschäftigten nach § 10“ EntgTranspG (BT-Drs. 18/11133 S. 62). Zu Abs. 2 von § 13 EntgTranspG heißt es ua.:
„Satz 1 regelt, auf welcher Datengrundlage der Betriebsausschuss die Antwort auf das Auskunftsersuchen der Beschäftigten zu erstellen hat und wie er an die erforderlichen Informationen gelangt. Dazu bestimmt Satz 1, dass der Betriebsausschuss … für die Erfüllung seiner Aufgaben nach Absatz 1 das Recht hat, die in § 80 Abs. 2 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes genannten Listen über die Bruttolöhne und -gehälter einzusehen und auszuwerten.“
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Damit ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass das entgeltlistenbezogene Einsichts- und Auswertungsrecht der Beantwortung individueller Auskunftsverlangen dienen soll. Nach seinen Vorstellungen ist der Regelungszweck des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG mit der Zuständigkeit des Betriebsrats zur Beantwortung individueller Auskunftsverlangen verknüpft.
34
ee) Ein solches Normverständnis verbietet sich nicht deshalb, weil § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG dann kein anderer Regelungsgehalt zukäme als § 13 Abs. 3 EntgTranspG. Absatz 2 von § 13 EntgTranspG legt als Bezugsobjekt der Einsichts- und Auswertungsberechtigung die in § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG genannten Listen über die Bruttolöhne und -gehälter fest. Das bezieht sich – ggf. in einem für das Auskunftsverlangen relevanten Umfang – auf die vom Arbeitgeber tatsächlich geführten Listen. Demgegenüber verpflichtet Abs. 3 von § 13 EntgTranspG den Arbeitgeber nicht nur dazu, dem Betriebsausschuss Einblick „in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter der Beschäftigten“ zu gewähren, sondern die Listen auch nach näheren Maßgaben aufzubereiten. Das Einblicksrecht nach § 13 Abs. 3 EntgTranspG umfasst also spezifische Listen mit bestimmten Aufschlüsselungen und Angaben, was – anders als beim Einsichts- und Auswertungsrecht nach Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG – den Arbeitgeber verpflichtet, entsprechende Listen ggf. erst herzustellen (ganz hM vgl. zB Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 13 EntgTranspG Rn. 14; DKW/Buschmann § 80 Rn. 130a; Fitting BetrVG 30. Aufl. § 80 Rn. 111). Beide Vorschriften – das Recht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG und die Verpflichtung nach § 13 Abs. 3 EntgTranspG – sind mit der nach dem EntgTranspG konzeptionell-regelhaften Einbindung des Betriebsrats in das individuelle Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit verknüpft.
35
c) Danach kommt dem Betriebsrat auf der Grundlage der den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts das beanspruchte Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG schon dem Grunde nach nicht zu. Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob das in dieser Vorschrift genannte Auswertungsrecht auch ein Recht auf Überlassung der Entgeltlisten zur Verfügung des Betriebsausschusses umfasst. Die Arbeitgeberin hat die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung generell übernommen. Ihre Berechtigung hierzu folgt, sollte sie tarifgebunden oder tarifanwendend sein, aus § 14 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG oder, sollte sie nicht tarifgebunden und nicht tarifanwendend sein, aus § 15 Abs. 2 iVm. § 14 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Übernahme § 14 Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 EntgTranspG entspricht, ohne dass es darauf ankäme, welche Folge eine Verletzung der entsprechenden Vorschriften zur Übernahme zeitigte. Auch der Betriebsrat hat diesbezüglich keine Beanstandungen erhoben und die streitbefangene Listenübergabe nicht auf seine Zuständigkeit für die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung gestützt.
36
2. Im Übrigen folgt die mit dem Hauptantrag geltend gemachte Verpflichtung weder aus § 13 Abs. 3 EntgTranspG noch aus § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG oder aus § 80 Abs. 2 Satz 1 iVm. Satz 2 Halbs. 1 BetrVG.
37
a) § 13 Abs. 3 EntgTranspG und § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG tragen die streitbefangene Übergabeverpflichtung schon deshalb nicht, weil sie als Einblicksrechte in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter konzipiert sind. Das stellt auch der Betriebsrat nicht in Abrede. Entsprechend hat er sein Begehren im Wesentlichen mit der entgeltlistenbezogenen Auswertungsberechtigung begründet.
38
b) Auch die aus § 80 Abs. 2 Satz 1 iVm. Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG folgende Verpflichtung des Arbeitgebers, den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu unterrichten sowie ihm auf Verlangen jederzeit die zur Durchführung seiner Aufgaben erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, vermag die erstrebte Listenübergabe nicht zu begründen. Dabei kann zugunsten des Betriebsrats eine entgeltgleichheitsbezogene Aufgabe – welche allerdings nicht allein unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts von § 80 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2a BetrVG aufzuzeigen wäre – unterstellt werden. Denn der Auskunftsanspruch des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG wird zwar im Bereich der Löhne und Gehälter nicht durch die Regelung des Satzes 2 Halbs. 2 der Vorschrift verdrängt. Er begründete jedoch keinen entgeltlistenbezogenen Anspruch, der über eine Einblicknahme hinausginge (ausf. zur insoweit gebotenen teleologischen Reduktion von § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG BAG 30. September 2008 – 1 ABR 54/07 – Rn. 31, BAGE 128, 92).
39
III. Der Hilfsantrag fällt nicht zur Entscheidung an. Er steht unter der Bedingung, dass der vom Betriebsrat hauptsächlich erstrebte Anspruch allein daran scheitert, dass eine Übergabe der Listen nicht in den bezeichneten Dateiformaten verlangt werden kann. Wie im Hilfsantrag ausdrücklich formuliert, bezieht er sich auf die Übergabe der „im Hauptantrag genannten Liste“, nur in einer anderen Form (Papierform mit der Eignung zur Umwandlung in elektronisches Format). Die so verstandene Bedingung der Abweisung des Hauptantrags tritt nicht ein.
Schmidt
Ahrendt
K. Schmidt
Schwitzer
Rose |
bag_25-18 | 23.05.2018 | 23.05.2018
25/18 - Konzernbetriebsrat - Konzernspitze im Ausland
Nach § 54 Abs. 1 Satz 1, § 54 Abs. 2 BetrVG kann für einen Konzern iSv. § 18 Abs. 1 AktG durch Beschlüsse der Gesamtbetriebsräte bzw. Betriebsräte ein Konzernbetriebsrat errichtet werden. Hat das herrschende Unternehmen seinen Sitz im Ausland und besteht keine im Inland ansässige Teilkonzernspitze, die über wesentliche Entscheidungsbefugnisse in personellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten verfügt, kann ein Konzernbetriebsrat nicht errichtet werden.
Die zu 1. bis 5. beteiligten Unternehmen gehören einer weltweit tätigen Unternehmensgruppe an, deren Konzernobergesellschaft ihren Sitz in der Schweiz hat. Deren Tochtergesellschaft ist die in Deutschland ansässige Beteiligte zu 1., eine Holding ohne eigene Geschäftstätigkeit. Die Beteiligten zu 2. bis 5. sind „operative“ Tochtergesellschaften der Beteiligten zu 1. in Deutschland. Die Beteiligte zu 1. übt gegenüber den Beteiligten zu 2. bis 5. keine Leitungsfunktionen aus. Nachdem die zu 7. bis 9. beteiligten, in den Betrieben der Beteiligten zu 2. bis 4. bestehenden Betriebsräte jeweils beschlossen hatten, einen Konzernbetriebsrat zu errichten, lud der zu 9. beteiligte Betriebsrat zur konstituierenden Sitzung des zu 6. beteiligten Konzernbetriebsrats am 4. September 2014 ein. In dieser Sitzung wurde von den entsandten Mitgliedern der Beteiligten zu 7. bis 9. ein Vorsitzender sowie ein stellvertretender Vorsitzender des Konzernbetriebsrats bestimmt.
Die Vorinstanzen haben dem Antrag der Beteiligten zu 1. bis 5. festzustellen, dass der Beteiligte zu 6. als Konzernbetriebsrat für die Beteiligten zu 1. bis 5. nicht besteht, stattgegeben. Das Bundesarbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des zu 6. beteiligten Konzernbetriebsrats und der zu 7. bis 9. beteiligten Betriebsräte zurückgewiesen. Der zu 6. beteiligte Konzernbetriebsrat ist nicht wirksam errichtet, da sich die Konzernobergesellschaft als herrschendes Unternehmen in der Schweiz befindet und im Inland keine Teilkonzernspitze besteht, die über wesentliche Leitungsaufgaben in personellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten verfügt. Die Beteiligte zu 1. übt derartige Funktionen nicht aus.
Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 23. Mai 2018 – 7 ABR 60/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg
Beschluss vom 21. Juli 2016 – 5 TaBV 54/15 – | Tenor
Die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 6. bis 9. gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 21. Juli 2016 – 5 TaBV 54/15 – werden zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Errichtung eines Konzernbetriebsrats.
2
Die antragstellenden Arbeitgeberinnen (Beteiligte zu 1. bis 5.) sind Unternehmen der weltweit tätigen F-Unternehmensgruppe, deren Konzernspitze die F I H AG mit Sitz in der Schweiz ist (im Folgenden: FIH). Die FIH ist Alleingesellschafterin der zu 1. beteiligten Arbeitgeberin (im Folgenden: FHD). Die FHD ist eine in Deutschland ansässige Finanz-Holding, die weder eine eigene operative Geschäftstätigkeit entfaltet noch Arbeitnehmer beschäftigt. Der Geschäftsführer der FHD ist bei der FIH angestellt. Die FHD ist Alleingesellschafterin der zu 2. bis 4. beteiligten Arbeitgeberinnen und hält 60 vH der Anteile an der zu 5. beteiligten Arbeitgeberin. Insgesamt beschäftigen die Beteiligten zu 2. bis 5., die jeweils einen Betrieb unterhalten, 748 Arbeitnehmer.
3
Zwischen der FIH und den Beteiligten zu 2. bis 5. bestehen Beherrschungsverträge. Der Beherrschungsvertrag der FIH mit der Beteiligten zu 4. wurde am 10. November 2014 im Handelsregister eingetragen, derjenige mit der Beteiligten zu 5. am 28. Oktober 2014. Im Laufe des Rechtsbeschwerdeverfahrens wurden die ursprünglich zwischen der FHD und den Beteiligten zu 2. und 3. bestehenden Beherrschungsverträge mit Ablauf des 31. Dezember 2017 aufgehoben. Stattdessen schloss die FIH mit der Beteiligten zu 3. einen Beherrschungsvertrag, der am 15. März 2018 im Handelsregister eingetragen wurde, und einen Beherrschungsvertrag mit der Beteiligten zu 2., der am 9. Mai 2018 im Handelsregister eingetragen wurde. Die FHD übte und übt gegenüber den zu 2. bis 5. beteiligten Arbeitgeberinnen keine Leitungsfunktion aus. Die Geschäftsführer der Beteiligten zu 2. bis 5. berichten direkt an die FIH und erhalten allein von dort Weisungen, die auch personelle, soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten betreffen.
4
Bei den Beteiligten zu 7. bis 10. handelt es sich um die in den Betrieben der Beteiligten zu 2. bis 5. gewählten Betriebsräte. Nachdem die zu 7. bis 9. beteiligten Betriebsräte jeweils beschlossen hatten, einen Konzernbetriebsrat zu errichten, lud der zu 9. beteiligte Betriebsrat für den 4. September 2014 zur konstituierenden Sitzung des zu 6. beteiligten Konzernbetriebsrats ein. In der konstituierenden Sitzung bestellten die entsandten Mitglieder der zu 7. bis 9. beteiligten Betriebsräte einen Vorsitzenden des Konzernbetriebsrats sowie dessen Stellvertreter.
5
Die Arbeitgeberinnen haben die Auffassung vertreten, ein Konzernbetriebsrat könne aufgrund des Territorialitätsprinzips nicht gebildet werden, wenn das herrschende Unternehmen seinen Sitz im Ausland habe. Die Errichtung eines Konzernbetriebsrats für einen Konzern mit der in der Schweiz ansässigen FIH als Konzernspitze komme daher nicht in Betracht. Auch für einen Konzern mit der FHD als Konzernspitze könne kein Konzernbetriebsrat errichtet werden, weil bei der FHD Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Belegschaften der Beteiligten zu 2. bis 5. nicht getroffen würden. Die wesentlichen Leitungsfunktionen in personellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Beschäftigten der zu 2. bis 5. beteiligten Arbeitgeberinnen würden – unstreitig – allein von der FIH ausgeübt.
6
Die Arbeitgeberinnen haben beantragt
festzustellen, dass der Beteiligte zu 6. als Konzernbetriebsrat für die Beteiligten zu 1. bis 5. nicht besteht.
7
Der Konzernbetriebsrat und die zu 7. bis 9. beteiligten Betriebsräte haben beantragt, den Antrag abzuweisen. Sie haben einerseits die Auffassung vertreten, der Konzernbetriebsrat sei für einen Konzern mit der FHD als Teilkonzernspitze im Inland wirksam errichtet worden. Andererseits haben sie den Standpunkt eingenommen, ein Konzernbetriebsrat könne nach § 54 Abs. 1 BetrVG iVm. § 18 Abs. 1 AktG auch dann gebildet werden, wenn die Konzernobergesellschaft ihren Sitz im Ausland habe und die abhängigen Gesellschaften im Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes ansässig seien.
8
Die Vorinstanzen haben dem Antrag der Arbeitgeberinnen stattgegeben. Mit den vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden verfolgen der Konzernbetriebsrat und die zu 7. bis 9. beteiligten Betriebsräte die Abweisung des Antrags. Die Arbeitgeberinnen beantragen die Zurückweisung der Rechtsbeschwerden.
9
B. Die Rechtsbeschwerden des Konzernbetriebsrats und der zu 7. bis 9. beteiligten Betriebsräte sind nicht begründet. Die Vorinstanzen haben dem Antrag der Arbeitgeberinnen zu Recht entsprochen. Der Konzernbetriebsrat ist nicht wirksam errichtet. Die Voraussetzungen für die Bildung eines Konzernbetriebsrats liegen nicht vor.
10
I. Der Antrag ist nach der gebotenen Auslegung zulässig.
11
1. Der Antrag ist seinem Wortlaut nach darauf gerichtet festzustellen, dass der Konzernbetriebsrat für die zu 1. bis 5. beteiligten Arbeitgeberinnen nicht besteht. Die Auslegung des Antrags unter Berücksichtigung der Antragsbegründung ergibt, dass sich die von den Arbeitgeberinnen begehrte Feststellung nicht nur gegen das Bestehen des Konzernbetriebsrats für einen Konzern mit der im Inland ansässigen FHD als Konzernobergesellschaft richtet, sondern auch gegen die Errichtung eines Konzernbetriebsrats für einen Konzern mit der in der Schweiz ansässigen FIH als Konzernspitze. Die Arbeitgeberinnen halten die Bildung eines Konzernbetriebsrats in beiden Konstellationen für unzulässig. Der Antrag zielt nicht auf eine vergangenheitsbezogene, sondern auf die gegenwärtige Feststellung des Nichtbestehens eines Konzernbetriebsrats ab. Einem nur auf die Vergangenheit bezogenen Feststellungsantrag fehlte das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse (BAG 11. Februar 2015 – 7 ABR 98/12 – Rn. 15).
12
2. Der so verstandene Feststellungsantrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und auch im Übrigen zulässig.
13
a) Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse folgt aus den unterschiedlichen Auffassungen der Beteiligten über die Zulässigkeit der Errichtung eines Konzernbetriebsrats. Dieser Streit wird durch eine Entscheidung über den Feststellungsantrag einer umfassenden Klärung zugeführt (vgl. BAG 16. Mai 2007 – 7 ABR 63/06 – Rn. 16).
14
b) Die Arbeitgeberinnen verfolgen mit ihrem Feststellungsantrag eigene betriebsverfassungsrechtliche Rechte und sind daher antragsbefugt. Sie machen geltend, dass sie sich keinem Konzernbetriebsrat als betriebsverfassungsrechtlichem Gesprächspartner zur Verfügung stellen müssen, weil für dessen Errichtung die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien (vgl. BAG 11. Februar 2015 – 7 ABR 98/12 – Rn. 16; 13. Oktober 2004 – 7 ABR 56/03 – zu B I der Gründe mwN, BAGE 112, 166).
15
II. Der Feststellungsantrag der Arbeitgeberinnen ist begründet. Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG iVm. § 18 Abs. 1 AktG kann ein Konzernbetriebsrat für einen Konzern der zu 1. bis 5. beteiligten Unternehmen nicht errichtet werden. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.
16
1. Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG kann durch Beschlüsse der Gesamtbetriebsräte oder – unter den Voraussetzungen des § 54 Abs. 2 BetrVG – der Betriebsräte für einen Konzern (§ 18 Abs. 1 AktG) ein Konzernbetriebsrat errichtet werden.
17
Das Betriebsverfassungsgesetz bestimmt nicht selbst, wann ein Konzern besteht und welche Unternehmen ihm angehören. § 54 Abs. 1 BetrVG verweist vielmehr auf § 18 Abs. 1 AktG. Maßgeblich für den betriebsverfassungsrechtlichen Konzernbegriff sind daher die Regelungen des Aktiengesetzes. Aufgrund der Verweisung auf § 18 Abs. 1 AktG kann ein Konzernbetriebsrat nur in einem sog. Unterordnungskonzern errichtet werden. Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 AktG bilden ein herrschendes und ein oder mehrere abhängige Unternehmen einen Konzern, wenn sie unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefasst sind (sog. Unterordnungskonzern). Von einem abhängigen Unternehmen wird nach § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG vermutet, dass es mit dem herrschenden Unternehmen einen Konzern bildet (BAG 11. Februar 2015 – 7 ABR 98/12 – Rn. 23; 9. Februar 2011 – 7 ABR 11/10 – Rn. 24 f. mwN, BAGE 137, 123). Nach § 17 Abs. 1 AktG sind abhängige Unternehmen rechtlich selbständige Unternehmen, auf die ein anderes Unternehmen (herrschendes Unternehmen) unmittelbar oder mittelbar beherrschenden Einfluss ausüben kann. Nach § 17 Abs. 2 AktG wird von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen vermutet, dass es von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist. Gehört die Mehrheit der Anteile eines rechtlich selbständigen Unternehmens einem anderen Unternehmen, ist das Unternehmen nach § 16 Abs. 1 AktG ein in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen (BAG 11. Februar 2015 – 7 ABR 98/12 – Rn. 24; 9. Februar 2011 – 7 ABR 11/10 – Rn. 26 mwN, aaO). Nach § 18 Abs. 1 Satz 2 AktG wird unwiderleglich vermutet, dass Unternehmen, zwischen denen ein Beherrschungsvertrag (§ 291 AktG) besteht, als unter einheitlicher Leitung zusammengefasst anzusehen sind und eine Abhängigkeit gegeben ist (MüKoAktG/Bayer 4. Aufl. § 17 Rn. 64 mwN; Hüffer/Koch/Koch AktG 13. Aufl. § 17 Rn. 12; Koppensteiner in KK-AktG 3. Aufl. § 291 Rn. 16). Für das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von § 17 Abs. 1, § 18 Abs. 1 AktG ist es unerheblich, in welcher Rechtsform das herrschende und die abhängigen Unternehmen geführt werden. Der Unternehmensbegriff wird in §§ 15 ff. AktG rechtsformneutral verwendet (BAG 11. Februar 2015 – 7 ABR 98/12 – Rn. 24; 9. Februar 2011 – 7 ABR 11/10 – Rn. 26 mwN, aaO; 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 42 mwN, BAGE 121, 212).
18
2. Danach kommt die Errichtung eines Konzernbetriebsrats für die Unternehmen der zu 1. bis 5. beteiligten Arbeitgeberinnen nicht in Betracht.
19
a) Die Beteiligten zu 2. bis 5. sind nicht als abhängige Unternehmen unter der einheitlichen Leitung der zu 1. beteiligten FHD als herrschendem Unternehmen zusammengefasst. Die FHD hält zwar sämtliche Anteile an den Beteiligten zu 2. bis 4. und die Mehrheit der Anteile an der Beteiligten zu 5., so dass nach § 17 Abs. 2 AktG vermutet wird, dass die Beteiligten zu 2. bis 5. von der FHD abhängig sind. Die FHD ist jedoch nicht herrschendes Unternehmen iSv. § 18 Abs. 1 AktG. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts übte und übt die FHD keine Leitungsmacht gegenüber den Beteiligten zu 2. bis 5. aus. Damit ist die aufgrund der Abhängigkeit nach § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG bestehende Konzernvermutung widerlegt. Es besteht auch keine unwiderlegliche Konzernvermutung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 AktG mehr, nachdem die ursprünglich zwischen der FHD und den Beteiligten zu 2. und 3. abgeschlossenen Beherrschungsverträge nach § 291 AktG mit Wirkung zum 31. Dezember 2017 aufgehoben wurden. Die Leitungsmacht über die Beteiligten zu 2. bis 5. wird vielmehr von der in der Schweiz ansässigen FIH ausgeübt, die mit den Beteiligten zu 2. bis 5. inzwischen auch Beherrschungsverträge abgeschlossen hat.
20
b) Die Errichtung eines Konzernbetriebsrats für die zu 1. bis 5. beteiligten Unternehmen kommt auch nicht nach den Grundsätzen des Konzerns im Konzern in Betracht.
21
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann in einem mehrstufigen Konzern ein „Konzern im Konzern“ bestehen, wenn das herrschende Unternehmen („Mutter“) von seiner Leitungsmacht zwar in wesentlichem Umfang, aber doch nur teilweise (etwa als Richtlinienkompetenz) Gebrauch macht und einem abhängigen Unternehmen („Tochter“) noch wesentliche Leitungsaufgaben zur eigenständigen Ausübung gegenüber den diesem nachgeordneten Unternehmen („Enkel“) verbleiben (vgl. grundlegend BAG 16. Mai 2007 – 7 ABR 63/06 – Rn. 31; 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 49, BAGE 121, 212). Verfügt die Tochtergesellschaft über einen wesentlichen Entscheidungsspielraum in mitbestimmungspflichtigen (personellen, sozialen und wirtschaftlichen) Angelegenheiten in Bezug auf die ihr nachgeordneten Unternehmen, entspricht die Bildung eines Konzernbetriebsrats dem Sinn und Zweck der §§ 54 ff. BetrVG, die die Beteiligung der Arbeitnehmer des Konzerns an den Entscheidungen der Konzernleitung sicherstellen wollen. Mitbestimmung soll dort wahrgenommen werden, wo unternehmerische Leitungsmacht in personellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten konkret entfaltet und ausgeübt wird (BAG 27. Oktober 2010 – 7 ABR 85/09 – Rn. 35, BAGE 136, 114; 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 63, aaO).
22
bb) Danach bilden die Beteiligten zu 1. bis 5. keinen Konzern im Konzern mit der FHD als Teilkonzernspitze, da die FHD nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts gegenüber den Beteiligten zu 2. bis 5. keine Leitungsmacht ausübt.
23
3. Die Errichtung eines Konzernbetriebsrats für einen Konzern der zu 1. bis 5. beteiligten Unternehmen kommt auch nicht deshalb in Betracht, weil diese mit der FIH als herrschendem Unternehmen einen Konzern bilden. Dem steht entgegen, dass die FIH nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz ansässig ist. Ein Konzernbetriebsrat kann nach der Rechtsprechung des Senats nur gebildet werden, wenn das herrschende Unternehmen seinen Sitz im Inland hat oder eine Teilkonzernspitze im Inland besteht (BAG 16. Mai 2007 – 7 ABR 63/06 – Rn. 20 ff.; 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 40 ff., BAGE 121, 212; zuletzt offengelassen von BAG 27. Oktober 2010 – 7 ABR 85/09 – Rn. 39, BAGE 136, 114). Diese Rechtsprechung hat teilweise Kritik (vgl. etwa Bachmann RdA 2008, 107 ff.; Buchner FS Birk 2008 S. 11 ff.; Fitting 29. Aufl. § 54 Rn. 34 ff.; Gaumann/Liebermann DB 2006, 1157 ff.; HaKo-BetrVG/Schulze 5. Aufl. § 54 Rn. 21; DKKW/Trittin 16. Aufl. § 54 Rn. 48 ff.), aber auch Zustimmung erfahren (vgl. etwa Dzida/Hohenstatt NZA 2007, 945 ff.; Franzen GK-BetrVG 11. Aufl. § 54 Rn. 43; HWGNRH/Glock 10. Aufl. § 54 BetrVG Rn. 21; Henssler ZfA 2005, 289 ff.; Junker SAE 2008, 41 ff.; ErfK/Koch 18. Aufl. § 54 BetrVG Rn. 7; Kort NZA 2009, 464 ff.; Annuß in Richardi BetrVG 16. Aufl. § 54 Rn. 35; Ullrich DB 2007, 2710 ff.). Der Senat hält nach erneuter Prüfung an seiner Rechtsprechung fest.
24
a) § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG knüpft an den Konzerntatbestand des § 18 Abs. 1 AktG an. Das Aktiengesetz erstreckt sich nicht auf Konzerne, deren Obergesellschaft ihren Sitz im Ausland hat (so im Ausgangspunkt auch Fitting 29. Aufl. § 54 Rn. 34c). Damit kommt die Errichtung eines Konzernbetriebsrats nur in Betracht, wenn nicht nur die unter einer einheitlichen Leitung zusammengefassten Unternehmen, sondern auch eine Konzernobergesellschaft ihren Sitz im Inland hat (BAG 16. Mai 2007 – 7 ABR 63/06 – Rn. 29; 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 53, BAGE 121, 212).
25
b) Eine Durchbrechung des Territorialitätsprinzips in der Betriebsverfassung, das in § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG für die Bildung eines Konzernbetriebsrats durch die Bezugnahme auf § 18 Abs. 1 AktG ausdrücklich angeordnet wird, ist nicht durch eine am Sinn und Zweck der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung im Konzern ausgerichtete Auslegung geboten.
26
aa) Mit der möglichen Errichtung eines Konzernbetriebsrats will der Gesetzgeber einer Beeinträchtigung betriebsverfassungsrechtlicher Beteiligungsrechte infolge konzernspezifischer Entscheidungsstrukturen und der dadurch eröffneten faktischen und rechtlichen Einflussmöglichkeiten des herrschenden Konzernunternehmens entgegenwirken (BAG 27. Oktober 2010 – 7 ABR 85/09 – Rn. 35, BAGE 136, 114; 13. Oktober 2004 – 7 ABR 56/03 – zu B IV 1 e cc (1) der Gründe, BAGE 112, 166). Die originären Zuständigkeiten der betriebsverfassungsrechtlichen Organe werden durch das zwingende Prinzip der Zuständigkeitstrennung von Konzernbetriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Betriebsrat bestimmt (BAG 14. November 2006 – 1 ABR 4/06 – Rn. 34 mwN, BAGE 120, 146; 9. Dezember 2003 – 1 ABR 49/02 – zu B II 1 b aa der Gründe mwN, BAGE 109, 71). Die gesetzlich zwingende und unabdingbare Zuständigkeitsverteilung setzt aber voraus, dass die Errichtung eines Konzernbetriebsrats überhaupt rechtlich möglich ist. Kann ein Konzernbetriebsrat nicht errichtet werden, weil die Konzernobergesellschaft ihren Sitz im Ausland hat, gehen die an sich dem Konzernbetriebsrat zustehenden Beteiligungsrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz nicht ersatzlos unter, sondern werden von den Gesamtbetriebsräten und Betriebsräten der konzernangehörigen Unternehmen wahrgenommen (BAG 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 62, BAGE 121, 212; ErfK/Koch 18. Aufl. § 54 BetrVG Rn. 7; aA Kort NZA 2009, 464, 465; Annuß in Richardi BetrVG 16. Aufl. § 58 Rn. 21).
27
bb) Betriebsverfassungsrechtliche Beteiligungsrechte ergeben zudem nur dort einen Sinn, wo wesentliche Entscheidungen in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten getroffen werden und wo die gesetzlichen Mitbestimmungsrechte eingefordert, nötigenfalls gerichtlich durchgesetzt und ggf. auch vollstreckt werden können. Daran fehlt es bei einem Konzern mit einer im Ausland ansässigen Obergesellschaft. Ein im Inland gebildeter Konzernbetriebsrat hätte – anders als beim „Konzern im Konzern“ – keinen „Gegenspieler“ (ErfK/Koch 18. Aufl. § 54 BetrVG Rn. 7), gegen den Rechte der gesetzlichen Mitbestimmung durchgesetzt und Rechte (insbesondere aus Betriebsvereinbarungen) ggf. vollstreckt werden könnten. Es kann nicht der Entscheidung der im Ausland ansässigen Konzernobergesellschaft überlassen werden, wie sie den Anforderungen einer Konzernmitbestimmung Rechnung trägt (vgl. aber Buchner FS Birk 2008 S. 11, 21; Fitting 29. Aufl. § 54 Rn. 34d). Die Aufgaben des Konzernbetriebsrats lassen sich auch nicht darauf reduzieren, als eine „Plattform“ für einen Austausch zwischen den Belegschaftsvertretern verschiedener Unternehmen zu fungieren, der letztlich fruchtlos bleibt, wenn sich die Konzernobergesellschaft mit Auslandssitz einer Mitbestimmung verweigert (vgl. Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen 5. Aufl. Abschn. D Rn. 146). Derartiges sieht das Betriebsverfassungsgesetz nicht vor.
28
cc) Von der Notwendigkeit einer im Inland befindlichen Leitungsmacht geht im Übrigen auch § 82 Abs. 1 Satz 2 ArbGG aus. Danach ist für Angelegenheiten des Konzernbetriebsrats das Arbeitsgericht zuständig, in dessen Bezirk das Unternehmen, hier also die (Teil-)Konzernobergesellschaft, seinen Sitz hat. Eine Zuständigkeitsregelung für Angelegenheiten eines Konzernbetriebsrats in einem Konzern, dessen Konzernspitze sich im Ausland befindet, enthält das Gesetz nicht.
29
c) Die Errichtung eines Konzernbetriebsrats für die inländischen Tochtergesellschaften einer im Ausland ansässigen Konzernobergesellschaft kann auch nicht mit einer analogen Anwendung von § 5 Abs. 3 MitbestG begründet werden. Für eine analoge Anwendung von § 5 Abs. 3 MitbestG fehlt es an der dafür erforderlichen unbewussten Regelungslücke im Gesetz sowie an der Vergleichbarkeit der in § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG einerseits und in § 5 Abs. 3 MitbestG andererseits geregelten Sachverhalte (vgl. ausführlich BAG 14. Februar 2007 – 7 ABR 26/06 – Rn. 54 ff., BAGE 121, 212). Mangels einer Regelungslücke im Betriebsverfassungsgesetz kommt auch eine analoge Anwendung von § 2 Abs. 2 EBRG nicht in Betracht.
30
4. Ein Konzernbetriebsrat kann auch nicht allein deshalb errichtet werden, weil die von der in der Schweiz ansässigen FIH abhängigen Beteiligten zu 2. bis 5. ihren Sitz in Deutschland haben. Der Gesetzgeber geht in § 54 Abs. 1 BetrVG iVm. § 18 Abs. 1 AktG sowie in weiteren Vorschriften (vgl. §§ 56, 76 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5, Abs. 6 BetrVG) von der Existenz eines Konzernarbeitgebers als Träger von Rechten und Pflichten nach dem Betriebsverfassungsgesetz aus. Die inländischen Unternehmen können auch nicht als Verhandlungspartner des Konzernbetriebsrats fungieren. Sie sind rechtlich selbständige juristische Personen und nicht verpflichtet, als Einheit gegenüber dem Konzernbetriebsrat aufzutreten. Sie scheiden daher als „Gegenspieler“ zum Konzernbetriebsrat aus. Außerdem ist die Zuständigkeit auf Unternehmensebene dem jeweiligen Gesamtbetriebsrat vorbehalten, so dass der Konzernbetriebsrat nicht ebenfalls auf dieser Ebene verhandeln kann (vgl. Franzen GK-BetrVG 11. Aufl. § 58 Rn. 10). Der Schutzzweck der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung im Konzern ließe sich schließlich auch nicht erreichen, wenn der Konzernbetriebsrat auf Unterrichtungs- und Beratungsrechte gegenüber den Gesamtbetriebsräten bzw. den Betriebsräten beschränkt wäre, wie dies teilweise im Schrifttum vertreten wird (vgl. DKKW/Trittin 16. Aufl. § 54 Rn. 92; Bachmann RdA 2008, 107, 110; Gaumann/Liebermann DB 2006, 1157, 1158; vgl. auch Buchner FS Birk 2008 S. 11, 21). § 54 Abs. 1 Satz 1 BetrVG sieht eine hierauf reduzierte Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats nicht vor.
Gräfl
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bag_25-19 | 13.06.2019 | 13.06.2019
25/19 - Massenentlassung - Kündigung sofort nach Eingang der Massenentlassungsanzeige zulässig
Die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige kann auch dann wirksam erstattet werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist. Kündigungen im Massenentlassungsverfahren sind daher – vorbehaltlich der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen – wirksam, wenn die Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist.
Mit Beschluss vom 1. Juni 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die von ihm verfasste Massenentlassungsanzeige ging am 26. Juni 2017 zusammen mit einem beigefügten Interessenausgleich bei der Agentur für Arbeit ein. Mit Schreiben vom 26. Juni 2017 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ebenso wie die Arbeitsverhältnisse der anderen 44 zu diesem Zeitpunkt noch beschäftigten Arbeitnehmer ordentlich betriebsbedingt zum 30. September 2017. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 27. Juni 2017 zu. Dieser macht mit seiner Kündigungsschutzklage ua. geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) habe der Arbeitgeber auch seiner Anzeigepflicht vor einer Entscheidung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses nachzukommen. Darum dürfe die Unterschrift unter das Kündigungsschreiben, mit der die Kündigungserklärung konstitutiv geschaffen werde, erst erfolgen, nachdem die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei. Das Landesarbeitsgericht ist dem gefolgt und hat der Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts stattgegeben. Die Anzeige müsse die Agentur für Arbeit erreichen, bevor der Arbeitgeber die Kündigungsentscheidung treffe, was sich in der Unterzeichnung des Kündigungsschreibens manifestiere.
Die Revision des Beklagten hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg und führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht. Das selbstständig neben dem nach § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführenden Konsultationsverfahren stehende, in § 17 Abs. 1, Abs. 3 Sätze 2 bis 5 KSchG geregelte Anzeigeverfahren dient beschäftigungspolitischen Zwecken. Die Agentur für Arbeit soll rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Das setzt voraus, dass bereits feststeht, wie viele und welche Arbeitnehmer konkret entlassen werden sollen. Auf den Willensentschluss des Arbeitgebers zur Kündigung kann, soll und will die Agentur für Arbeit – anders als der Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens – keinen Einfluss nehmen. Die Kündigung darf allerdings erst dann erfolgen, dh. dem Arbeitnehmer zugehen (§ 130 Abs. 1 BGB), wenn die Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen ist. Dies ist durch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 3 und Art. 4 der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) geklärt, so dass der Senat von einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV abgesehen hat.
Der Senat konnte anhand der bisher getroffenen Feststellungen die Wirksamkeit der Kündigung nicht abschließend beurteilen. Das Landesarbeitsgericht wird aufzuklären haben, ob die Massenentlassungsanzeige inhaltlich den Vorgaben des § 17 Abs. 3 KSchG genügte und ob das Anhörungsverfahren gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ordnungsgemäß eingeleitet wurde.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21. August 2018 – 12 Sa 17/18 – | Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Mannheim – vom 21. August 2018 – 12 Sa 17/18 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige kann erst dann wirksam erstattet werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist. Kündigungen im Massenentlassungsverfahren sind daher – vorbehaltlich der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen – wirksam, wenn die ordnungsgemäße Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer als Teil einer Massenentlassung erklärten ordentlichen betriebsbedingten Kündigung, die der Beklagte in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter der P Produktionsgesellschaft mbH & Co. KG (im Folgenden Schuldnerin) erklärt hat.
2
Der Kläger war seit 1978 bei der Kommanditistin der Schuldnerin als Gussputzer beschäftigt. Zum 1. Januar 2004 ging das Arbeitsverhältnis im Wege des Betriebsübergangs auf die Schuldnerin über. Deren einzige Auftraggeberinnen waren in der Folgezeit die Kommanditistin sowie deren zwei Tochtergesellschaften, für die sie Gussteile herstellte. Mit Beschluss vom 17. März 2017 ordnete das zuständige Insolvenzgericht die vorläufige Insolvenzverwaltung über das Vermögen der Schuldnerin an und bestellte den Beklagten zum vorläufigen Insolvenzverwalter.
3
Der Beklagte informierte den bei der Schuldnerin gebildeten Betriebsrat, dem der Kläger angehörte, im April 2017 darüber, dass er keine Möglichkeit sehe, den Standort B und damit den Betrieb der Schuldnerin durch einen Betriebsübergang aufrechtzuerhalten. Die Schuldnerin habe weder Produktionsmittel noch Immobilieneigentum oder eigene Kunden. Das Aufsetzen eines Investorenprozesses sei daher von mehreren Firmen abgelehnt worden. Eine Übernahme der gesamten Unternehmensgruppe, zu der die Schuldnerin gehöre, sei von den Gesellschaftern der Gruppe abgelehnt worden. Darum sei zu befürchten, dass der Betrieb der Schuldnerin Ende Mai/Anfang Juni 2017 vollständig eingestellt werden müsse.
4
Im Mai 2017 übersandte der Beklagte vor dem Hintergrund einer nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung zum 30. September 2017 einen ersten Entwurf eines Interessenausgleichs an den Betriebsrat. Der Entwurf enthielt unter „§ 6 Stellungnahme des Betriebsrates zu § 17 KSchG“ ua. folgende Regelung:
„Die gemäß § 17 Abs. (2) KSchG erforderlichen Auskünfte wurden dem Betriebsrat am … von dem Insolvenzverwalter erteilt. Der Betriebsrat sieht abschließend keine Möglichkeiten, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. (2) KSchG ist somit abgeschlossen.“
5
Der durch einen Gewerkschaftsvertreter sowie einen Rechtsanwalt beratene Betriebsrat übersandte seinerseits im Juni 2017 Vereinbarungsentwürfe.
6
Durch Beschluss vom 1. Juni 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte die Schuldnerin noch 45 Arbeitnehmer.
7
Unter dem 21. Juni 2017 übersandte der Beklagte ein Schreiben folgenden Inhalts an den Betriebsrat:
„…
mit diesem Anschreiben möchten wir Sie im Auftrag des Insolvenzverwalters nochmals über die Situation bei der Insolvenzschuldnerin … unterrichten. Der Insolvenzverwalter selbst hat Ihnen ja bereits mündlich den Stand mitgeteilt.
…
Die Muttergesellschaft P und A hat eine Auftragsauslastung bis Ende September 2017 zugesichert. Danach soll die Produktion gänzlich nach Sp und S verlagert werden, so dass keine weiteren Aufträge in B mehr vorhanden sind.
Deshalb ist die Betriebsschließung für die P in B leider die einzige Möglichkeit.
Ein Übernehmer, der sowohl Arbeitnehmer, als auch Gewerbeimmobilie und Maschinenpark übernommen hätte, hat sich leider nicht gefunden. Dies lag wohl hauptsächlich daran, dass die Maschinen nicht der Insolvenzschuldnerin gehörten, sondern der Muttergesellschaft.
Um nunmehr die verbliebenen 45 Mitarbeiter freizusetzen, ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass bei so einer großen Anzahl von Entlassungen vorher eine Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit durchgeführt wird. Das entsprechende Formular habe ich bereits ausgefüllt.
Ihre Stellungnahme haben Sie bereits in dem Interessenausgleich vorgenommen, sodass dieses Schreiben lediglich noch als ergänzende Information zu sehen ist.
Sollten Sie zu der Angelegenheit noch Fragen haben, steht Ihnen der Unterzeichner oder der Insolvenzverwalter Dr. E gerne zur Verfügung.
…“
8
Am 22. Juni 2017 übergab der Beklagte die letzte Fassung des Interessenausgleichs an den vollzählig anwesenden Betriebsrat. Dieser zog sich gemeinsam mit seinem Rechtsanwalt sowie dem Gewerkschaftssekretär zur Beratung zurück, erschien nach etwa 15 Minuten wieder und gab den unterzeichneten Interessenausgleich zurück. Der Interessenausgleich, der die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer nicht benennt, enthält ua. folgende Regelungen:
„§ 2 Gegenstand und Durchführung der Betriebsänderung
Der Betrieb in B wird zum 30.09.2017 stillgelegt. Auf Grund der Stilllegung entfallen sämtliche Arbeitsplätze der Beschäftigten ersatzlos. Bis dahin werden die noch vorhandenen Aufträge abgearbeitet. Je nach Abwicklung der Aufträge kann der Abbau der Fertigungseinrichtung schon vor dem 30.09.2017 erfolgen.
…
§ 4 Weitere Beteiligungsrechte
(1) Der Arbeitgeber hat gegenüber dem Betriebsrat am 22.06.2017 die Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG schriftlich eingeleitet. Im Rahmen der Anhörungsverfahren gibt der Betriebsrat folgende Stellungnahme ab:
Der Betriebsrat hat seine Bedenken in Bezug auf die geplante Betriebsänderung im Rahmen der Beratungen über einen Interessenausgleich vorgebracht. Im Rahmen der Anhörungsverfahren nimmt der Betriebsrat auf seine vorgebrachten Bedenken Bezug und macht diese durch diese Stellungnahme zum Gegenstand der Anhörungsverfahren; damit sind die Anhörungsverfahren beendet.
(2) Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat am 22.06.2017 gemäß § 17 Abs. 2 KSchG schriftlich unterrichtet. Nachfolgend haben die Betriebsparteien die Beratungen gemäß § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG durchgeführt. Es besteht Einigkeit, dass die Unterrichtung und die Beratung mit Abschluss dieser Vereinbarung abgeschlossen sind. Der Interessenausgleich bildet gleichzeitig die Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG. Der Arbeitgeber wird diese Vereinbarung einer eventuell erforderlichen Anzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG als Anlage beifügen.“
9
Die vom Beklagten erstellte Massenentlassungsanzeige vom 22. Juni 2017, der der abgeschlossene Interessenausgleich beigefügt war, ging am Montag, den 26. Juni 2017 bei der Agentur für Arbeit ein. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers, ebenso wie diejenigen aller anderen Arbeitnehmer, mit Schreiben vom 26. Juni 2017 zum 30. September 2017. Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 27. Juni 2017 zu. Hiergegen hat der Kläger fristgerecht Kündigungsschutzklage erhoben.
10
Mit Schreiben vom 28. März 2018 erklärte der Beklagte vorsorglich eine weitere Kündigung zum 30. Juni 2018. Diese hat der Kläger nicht angegriffen.
11
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Kündigung vom 26. Juni 2017 sei rechtsunwirksam. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) habe der Arbeitgeber auch seiner Anzeigepflicht vor einer Entscheidung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses nachzukommen. Darum dürfe die Unterschrift unter das Kündigungsschreiben, mit der die Kündigungserklärung konstitutiv geschaffen werde, erst erfolgen, nachdem die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen sei. Das sei vorliegend nicht geschehen, so dass die Massenentlassungsanzeige nicht ordnungsgemäß erfolgt sei.
12
Ebenso wenig sei der Betriebsrat den Vorgaben des § 17 Abs. 2 KSchG gemäß konsultiert worden. Der Beklagte habe diesen nicht schriftlich unterrichtet. Auch habe keine Beratung stattgefunden. Vielmehr sei dem Betriebsrat am 22. Juni 2017 ein Stapel Blätter übergeben worden, mit dem er sich zur Beratung zurückgezogen habe. Von den beiden Beratern des Betriebsrats sei gesagt worden, das müsse jetzt unterschrieben werden. So sei der Betriebsrat dann verfahren.
13
Die Kündigung sei darüber hinaus unwirksam, weil der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß nach § 102 Abs. 1 BetrVG angehört worden sei. Ihm seien am 22. Juni 2017 keine Anhörungsbögen zu den einzelnen Kündigungen übergeben worden.
14
Schließlich verstoße die Kündigung gegen § 15 Abs. 4 KSchG, da eine Weiterbeschäftigung in S oder Sp möglich gewesen sei. Die dort ansässigen Tochtergesellschaften der Kommanditistin seien gemeinsam mit dieser sowie der Schuldnerin als ein einheitliches Unternehmen („P-Gruppe“) anzusehen. Auch sei aufgrund der unzureichenden Ausstattung der Schuldnerin mit Kapital und Betriebsmitteln an eine Durchgriffshaftung zu denken.
15
Der Kläger hat nach teilweiser Klagerücknahme in erster Instanz zuletzt beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 26. Juni 2017, dem Kläger am 27. Juni 2017 zugegangen, nicht aufgelöst worden ist.
16
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat behauptet, dem Betriebsrat seien am 22. Juni 2017 die Anhörungsbögen zu allen Kündigungen, einschließlich der des Klägers, übergeben worden. Eine Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 KSchG sei mit dem Schreiben vom 21. Juni 2017 erfolgt. Der Betriebsrat sei umfassend informiert worden. Die Ergebnisse der Beratungen seien in die vom Beklagten vorgelegte Fassung des Interessenausgleichs eingearbeitet worden, der – unstreitig – hauptsächlich vom Vertreter des Betriebsrats formuliert worden sei. Die vom Betriebsrat wiederholt angeregte Gründung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (BQG) habe mangels des dazu erforderlichen Kapitals nicht realisiert werden können. Der Betriebsrat habe im Interessenausgleich ausdrücklich bestätigt, dass er am 22. Juni 2017 schriftlich unterrichtet worden sei. Jedenfalls habe ausreichend Gelegenheit bestanden, die Sache insgesamt und speziell die Frage der Stilllegung des Betriebs mit allen Konsequenzen zu beraten. Der Interessenausgleich bilde zugleich die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 KSchG.
17
Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt. Mit seiner Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung der arbeitsgerichtlichen Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
18
Die Revision ist begründet. Mit der von ihm angenommenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht die Kündigung nicht gemäß § 134 BGB iVm. § 17 Abs. 1 KSchG als nichtig erachten. Seine Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Daher ist das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache, da der Senat die Wirksamkeit der Kündigung nicht abschließend selbst beurteilen kann, zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
19
I. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft die Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB iVm. § 17 Abs. 1 KSchG angenommen. Der Beklagte hat die Massenentlassungszeige wirksam vorgenommen. Dem steht nicht entgegen, dass er im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen war und das Kündigungsschreiben unterzeichnet hatte. Kündigungen im Massenentlassungsverfahren sind – vorbehaltlich der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen – wirksam, wenn die ordnungsgemäße Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist. Auf die nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht mögliche Feststellung des genauen Zeitpunkts der Unterzeichnung des Kündigungsschreibens kommt es daher nicht an.
20
1. Der Beklagte musste vor der Kündigung des Klägers das Massenentlassungsverfahren durchführen. Der nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG maßgebliche Schwellenwert war aufgrund der beabsichtigten Kündigung aller noch vorhandenen 45 Arbeitsverhältnisse überschritten.
21
2. Die Massenentlassungsanzeige ist am 26. Juni 2017 bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen und damit in Bezug auf die dem Kläger am 27. Juni 2017 zugegangene Kündigung rechtzeitig erfolgt.
22
a) § 17 Abs. 1 KSchG verpflichtet den Arbeitgeber bei richtlinienkonformem Verständnis dazu, die Anzeige vor der beabsichtigten Entlassung, das heißt der Kündigungserklärung, zu erstatten. Die Kündigung kann daher erst wirksam erklärt werden, wenn die Massenentlassungsanzeige erfolgt ist (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 17, BAGE 155, 245; vgl. EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 46 ff.; BAG 6. November 2008 – 2 AZR 935/07 – Rn. 25 ff., BAGE 128, 256). Anderenfalls ist die Kündigung nach § 134 BGB nichtig (vgl. BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 42, BAGE 144, 366; 22. November 2012 – 2 AZR 371/11 – Rn. 31, 37, BAGE 144, 47).
23
b) Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung rechtsfehlerhaft die Annahme zugrunde gelegt, dass der Kündigungsentschluss, der sich in der Unterzeichnung des Kündigungsschreibens manifestiere, wodurch – in der Diktion des Klägers – die Kündigungserklärung „konstitutiv geschaffen“ werde, vor Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit noch nicht tatsächlich gefasst worden sein darf. Die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige kann im Gegenteil erst dann wirksam erstattet werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist (ebenso LAG Berlin-Brandenburg 25. April 2019 – 21 Sa 1534/18 – zu II 1 e bb (2) der Gründe; 17. April 2019 – 15 Sa 2026/18 – zu B I 4.2 der Gründe; 29. März 2019 – 3 Sa 1253/18 – zu B I 5 c der Gründe; LAG Düsseldorf 29. März 2019 – 6 Sa 657/18 – zu A III 1 b aa ddd (5) der Gründe). Eine Kündigung kann darum schon unmittelbar nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erklärt werden.
24
aa) Zwar ist die Kündigungserklärung des Arbeitgebers die Entlassung iSd. § 17 KSchG (BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – Rn. 17 ff., BAGE 117, 281). Dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Eingangs der Anzeige bei der Agentur für Arbeit den Kündigungsentschluss noch nicht gefasst haben darf, ergibt sich aus dem Wortlaut des § 17 Abs. 1 KSchG jedoch nicht.
25
bb) Dem entspricht die Systematik des § 17 KSchG. Im Rahmen des Anzeigeverfahrens des Absatzes 1 hat die Anzeige zu erfolgen, bevor der Arbeitgeber „entlässt“. Entlassen, dh. eine Kündigung erklären, kann der Arbeitgeber aber nur, wenn der Adressat der Kündigungserklärung zuvor feststeht. Das korrespondiert mit der Regelung in § 17 Abs. 3 Satz 4 und Satz 5 KSchG. Die dort geforderten Angaben insbesondere zu Zahl, Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit sowie Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer können sinnvoll nur erfolgen, wenn die betroffenen Arbeitnehmer feststehen, dh. wenn sich der Kündigungsentschluss des Arbeitgebers auf bestimmte Arbeitnehmer konkretisiert hat (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 25. April 2019 – 21 Sa 1534/18 – zu II 1 e bb (2) (b) der Gründe). Anderenfalls liefe die Anzeigepflicht auf eine gesetzlich nicht zulässige (vgl. BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 638/15 – Rn. 27; 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 33, BAGE 154, 53) bloße Vorratsanzeige hinaus. Demgegenüber spricht das Gesetz bei dem in Absatz 2 geregelten Konsultationsverfahren davon, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat bereits dann zu konsultieren hat, wenn er „beabsichtigt“, anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen. In diesem Stadium des Verfahrens gedenkt der Arbeitgeber, eine Massenentlassung durchzuführen, ohne dass sich diese schon bis ins Detail konkretisiert hat (vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch 8. Aufl. Stichwort „beabsichtigen“).
26
cc) Auch der Sinn und Zweck des Anzeige- und Konsultationsverfahrens bestätigen, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Eingangs der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit zur Kündigung entschlossen sein muss.
27
(1) Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist das Konsultationsverfahren vorzunehmen, wenn der Arbeitgeber beabsichtigt, nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen. Es reicht die erkennbare Absicht, Arbeitsverhältnisse in einem anzeigepflichtigen Ausmaß beenden zu wollen (BAG 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 18, BAGE 151, 83). Dies entspricht der zugrunde liegenden Richtlinienbestimmung des Art. 2 der Richtlinie 98/59/EG (MERL). Hiernach entsteht die Konsultationspflicht, wenn der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt (EuGH 10. September 2009 – C-44/08 – [Akavan Erityisalojen Keskusliitto] Rn. 41). Das Konsultationsverfahren soll dem Betriebsrat ermöglichen, konstruktive Vorschläge unterbreiten zu können, um die Massenentlassung zu verhindern oder jedenfalls zu beschränken (BAG 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 60, BAGE 143, 150) bzw. die Folgen einer Massenentlassung durch soziale Begleitmaßnahmen zu mildern (EuGH 3. März 2011 – C-235/10 bis C-239/10 – [Claes ua.] Rn. 56).
28
(2) Hingegen dient das Anzeigeverfahren vornehmlich beschäftigungspolitischen Zwecken. Die Agentur für Arbeit soll rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können (vgl. EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 47; ebenso BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 27, BAGE 154, 53). Sie soll für eine anderweitige Beschäftigung der Betroffenen sorgen (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 24, BAGE 157, 1). Das setzt voraus, dass bereits feststeht, wie viele und welche Arbeitnehmer konkret entlassen werden sollen. Auf den Willensentschluss des Arbeitgebers zur Kündigung kann, soll und will die Agentur für Arbeit – anders als der Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens – keinen Einfluss mehr nehmen (vgl. Holler NZA 2019, 291, 293). Ihr Tätigwerden knüpft vielmehr an einen solchen Willensentschluss an. Diesen unterschiedlichen Zwecken entspricht der unterschiedliche Verfestigungsgrad, den die Planungen bzw. die „Absicht“ des Arbeitgebers in dem Zeitpunkt erreicht haben dürfen, in dem die ihn im Konsultations- bzw. Anzeigeverfahren treffenden Pflichten entstehen.
29
dd) Diese Unterschiede des Konsultations- und des Anzeigeverfahrens sind in den Vorgaben der MERL angelegt. Anders als in der deutschen Sprachfassung, die in Art. 2 Abs. 1 davon spricht, dass der Arbeitgeber „beabsichtigt“, Massenentlassungen vorzunehmen, und nach deren Art. 3 Abs. 1 alle „beabsichtigten“ Massenentlassungen anzuzeigen sind, finden sich in der französischen und englischen Sprachfassung mit den Worten „envisage“ bzw. „contemplate“ im Zusammenhang mit dem Konsultations- (Art. 2 Abs. 1 MERL) sowie „projet de licenciement collectif“ bzw. „projected collective redundancies“ im Zusammenhang mit dem Anzeigeverfahren (Art. 3 Abs. 1 MERL) unterschiedliche Begrifflichkeiten für den Grad der Verfestigung der Kündigungsabsicht. Ersteres hat die Bedeutung von „erwägen, darüber nachdenken“, während sich Letzteres mit „geplante Massenentlassung“ übersetzen lässt.
30
ee) Dieses Auslegungsergebnis steht im Einklang mit dem Unionsrecht. Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Klärung der Frage, ob der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Eingangs der Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Behörde bereits zur Kündigung entschlossen sein muss, bedarf es nicht. Diese Rechtsfrage ist bereits durch die Entscheidung des EuGH vom 27. Januar 2005 (- C-188/03 – [Junk]) geklärt. Vernünftige Zweifel daran bestehen nicht (EuGH 9. September 2015 – C-72/14 und C-197/14 – [van Dijk] Rn. 55 ff.; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38 ff.; grundlegend 6. Oktober 1982 – 283/81 – [C.I.L.F.I.T.] Rn. 21; siehe auch BVerfG 9. Mai 2018 – 2 BvR 37/18 – Rn. 24 mwN).
31
(1) Der Zweck der Anzeige besteht darin, es der zuständigen Behörde zu ermöglichen, innerhalb der Frist des Art. 4 Abs. 1 MERL (Entlassungssperre), die grundsätzlich 30 Tage beträgt, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 47, 51). Dieser vom EuGH Art. 3 und Art. 4 der MERL entnommene Zweck des Anzeigeverfahrens bedingt es jedoch, wie ausgeführt, dass die Kündigung im Zeitpunkt der Erstattung der Anzeige auf den einzelnen Arbeitnehmer „heruntergebrochen“, die Entscheidung, wie viele und welche Arbeitnehmer zu entlassen sind, also bereits gefallen ist. Nur dann kann die Agentur für Arbeit ihrer Aufgabe nachkommen, Lösungen für die konkret entlassenen Arbeitnehmer zu suchen und nur dann kann das Anzeigeverfahren seinen Zweck erfüllen (vgl. Weber in Schlachter/Heinig Europäisches Arbeits- und Sozialrecht [EnzEuR Bd. 7] § 9 Rn. 84; APS/Moll 5. Aufl. KSchG § 17 Rn. 125a).
32
(2) Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses des EuGH ist es konsequent, dass dieser in der Rechtssache Junk die zweite Vorlagefrage, ob für den Fall, dass unter „Entlassung“ die Kündigung zu verstehen ist, sowohl das Konsultations- als auch das Anzeigeverfahren vor Ausspruch der Kündigung abgeschlossen sein müssen, dahin beantwortet hat, dass die Massenentlassung nach dem Ende des Konsultationsverfahrens und während des Anzeigeverfahrens erfolgen darf, sofern nur die Kündigung erst nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung erfolgt (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 53 f.). Nach dem Verständnis des EuGH ist die Anzeigepflicht also zu erfüllen, bevor der Arbeitgeber durch die Mitteilung der Kündigung seiner Entscheidung, das Arbeitsverhältnis zu beenden, Ausdruck gegeben hat (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 36), nicht aber, bevor der Arbeitgeber seinen Kündigungsentschluss abschließend gefasst hat. Interne Willensbildungsprozesse spielen insoweit keine Rolle (Köhler EWiR 2019, 283, 284).
33
c) Kündigungen in Massenentlassungsverfahren sind daher – vorbehaltlich der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen – wirksam, wenn die ordnungsgemäße Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist. Das war hier der Fall.
34
aa) Der unionsrechtlich determinierte Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen knüpft an den Zeitpunkt der Entlassung und damit an den Zugang der Kündigungserklärung an (BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16 – Rn. 23, BAGE 158, 104 unter Verweis auf EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 39; in diesem Sinne schon BAG 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – Rn. 33; ebenso: LAG Berlin-Brandenburg 17. April 2019 – 15 Sa 2026/18 – zu B I 4.2 der Gründe; 29. März 2019 – 3 Sa 1253/18 – zu B I 5 c der Gründe; LAG Düsseldorf 29. März 2019 – 10 Sa 306/18 – zu I 1 f cc der Gründe; ErfK/Kiel 19. Aufl. KSchG § 17 Rn. 11; aA: LAG Berlin-Brandenburg 25. April 2019 – 21 Sa 1534/18 – zu II 1 e bb (1) der Gründe; LAG Düsseldorf 29. März 2019 – 6 Sa 657/18 – zu A III 1 b aa ddd (5) der Gründe: Abgabe der Kündigungserklärung mit Verlassen des Machtbereichs des Arbeitgebers; Wolff/Köhler BB 2017, 1078, 1079). Wann eine Kündigung als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, mit der ein Gestaltungsrecht ausgeübt wird (vgl. BAG 14. September 2016 – 4 AZR 534/14 – Rn. 37; 17. Februar 2016 – 2 AZR 613/14 – Rn. 26; 17. Dezember 2015 – 6 AZR 709/14 – Rn. 31, BAGE 154, 40), wirksam wird, richtet sich nach dem jeweiligen Recht des Mitgliedstaates (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 29 ff., Rn. 33) und darum nach § 130 Abs. 1 BGB. Der danach maßgebliche Zugang liegt vor, wenn die Willenserklärung derart in den Machtbereich des Empfängers gerät, dass dieser nach allgemeinen Umständen von ihr Kenntnis erlangen kann (zum Zugang unter Anwesenden LAG Rheinland-Pfalz 5. Februar 2019 – 8 Sa 251/18 – zu II 2 der Gründe). Dem Abstellen auf den Zugang der Kündigung in diesem Zusammenhang entspricht es, dass dieser zeitlicher Bezugspunkt für die Prüfung der Rechtmäßigkeit und damit Wirksamkeit der Kündigung ist (vgl. BAG 17. Februar 2016 – 2 AZR 613/14 – Rn. 26; 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – Rn. 66).
35
bb) Aus der Entscheidung des Senats vom 9. Juni 2016 (- 6 AZR 405/15 – Rn. 18, BAGE 155, 245) folgt entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nichts anderes. In dieser hatte das Arbeitsgericht über den Zeitpunkt der Kündigungserklärung Beweis erhoben. Die Beweiserhebung ergab, dass die Kündigungen erst nach der Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG unterschrieben und zur Post gegeben wurden, die Anzeige somit in jedem Fall rechtzeitig erfolgt war. Zu der Frage, ob für die Rechtzeitigkeit der Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG auf die Unterzeichnung des Kündigungsschreibens, das Verlassen des Kündigungsschreibens aus dem Machtbereich des Kündigenden oder den Zugang der Erklärung beim Empfänger abzustellen ist, kann der Entscheidung jedoch nichts entnommen werden. Mit der Entscheidung vom 26. Januar 2017 (- 6 AZR 442/16 – Rn. 23, BAGE 158, 104) hat der Senat dagegen ausdrücklich klargestellt, dass es aus den vorstehenden Gründen auf den Zugang der Erklärung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ankommt.
36
cc) Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt es nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot, dass § 130 BGB auf den Zugang von Willenserklärungen abstellt. In dieser Ausprägung verlangt Art. 3 Abs. 1 GG nicht, dass der Gesetzgeber unter mehreren möglichen Lösungen die zweckmäßigste oder vernünftigste wählt. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt vielmehr erst dann vor, wenn offenkundig ist, dass sich für die angegriffene gesetzliche Regelung und die durch sie bewirkte Ungleichbehandlung kein sachlicher Grund finden lässt (BVerfG 13. Juni 2006 – 1 BvR 1160/03 – Rn. 89, BVerfGE 116, 135). Ein solcher Fall liegt hier offenkundig nicht vor. Werden im Zuge einer Massenentlassung einzelne Kündigungen den Mitarbeitern vor Ort übergeben, andere wegen krankheits- oder urlaubsbedingter Abwesenheit versendet, führt das Abstellen auf den Zugang der Kündigungserklärung zu keiner sachfremden Differenzierung gleicher Sachverhalte. Die durch die gesetzliche Regelung bewirkten unterschiedlichen Zugangszeitpunkte unter Anwesenden und unter Abwesenden beruhen auf nicht vergleichbaren Ausgangslagen, die unterschiedlich geregelt werden dürfen.
37
dd) Nachdem vorliegend die Massenentlassungsanzeige am 26. Juni 2017 bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen und die Kündigung dem Kläger erst am 27. Juni 2017 zugegangen ist, erfolgte die Anzeige rechtzeitig.
38
II. Die angefochtene Entscheidung stellt sich auch nicht im Ergebnis als richtig dar (§ 561 ZPO).
39
1. Die Kündigung ist nicht gemäß § 134 BGB iVm. § 17 Abs. 2 KSchG wegen fehlerhafter Durchführung des Konsultationsverfahrens nichtig.
40
a) Der in § 17 KSchG geregelte besondere Kündigungsschutz bei Massenentlassungen unterfällt in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen, nämlich die in § 17 Abs. 2 KSchG normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats einerseits und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit andererseits. Das Konsultationsverfahren, das auch vor einer Betriebsstilllegung durchzuführen ist (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 22, BAGE 157, 1), steht selbständig neben dem Anzeigeverfahren. Beide Verfahren dienen in unterschiedlicher Weise der Erreichung des mit dem Massenentlassungsschutz verfolgten Ziels (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 20, BAGE 155, 245; 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 28, BAGE 144, 366; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 62). Jedes dieser beiden Verfahren stellt ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung dar (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – aaO; 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 15, BAGE 154, 53).
41
b) Das Konsultationsverfahren soll dem Betriebsrat Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen (vgl. BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16 – Rn. 25, BAGE 158, 104; siehe auch oben Rn. 27). Welche Informationen dazu erforderlich sind, hängt vom konkreten Einzelfall ab. Hat der Betriebsrat, etwa durch Verhandlungen über den Interessenausgleich oder auf andere Weise, schon Kenntnisse über die Umstände der beabsichtigten Massenentlassung erlangt, genügen auch schlagwortartige Informationen (Hützen ZInsO 2012, 1801, 1805; NK-GA/Boemke § 17 KSchG Rn. 97). Die danach erforderlichen Auskünfte sind seitens des Arbeitgebers zwar nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultationen zu erteilen, er hat sie aber „im Verlauf des Verfahrens“ zu vervollständigen und alle einschlägigen Informationen bis zu dessen Abschluss zu erteilen (EuGH 10. September 2009 – C-44/08 – [Akavan Erityisalojen Keskusliitto] Rn. 52, 53; BAG 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 29, BAGE 151, 83). Die Unterrichtungspflicht kann daher flexibel gehandhabt werden, jedoch darf der Arbeitgeber noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und damit noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen haben.
42
Die Konsultationspflicht ist der Sache nach regelmäßig erfüllt, wenn der Arbeitgeber bei einer Betriebsänderung iSv. § 111 BetrVG, soweit mit ihr ein anzeigepflichtiger Personalabbau verbunden ist oder sie allein in einem solchen besteht, einen Interessenausgleich abschließt und dann erst kündigt. Soweit die ihm obliegenden Pflichten aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit denen nach § 111 Satz 1 BetrVG übereinstimmen, kann der Arbeitgeber sie nämlich gleichzeitig erfüllen. Voraussetzung ist aber, dass der Betriebsrat klar erkennen kann, dass die Handlungen des Arbeitgebers (auch) der Erfüllung der Konsultationspflicht aus § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG dienen sollen (vgl. BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 21, BAGE 155, 245; 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 17, BAGE 151, 83; 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 47, BAGE 143, 150; 18. Januar 2012 – 6 AZR 407/10 – Rn. 34, BAGE 140, 261).
43
c) Das Konsultationsverfahren gilt nicht bereits deshalb als ordnungsgemäß durchgeführt, weil der Betriebsrat im Interessenausgleich vom 22. Juni 2017 bestätigt hat, dass er nach § 17 Abs. 2 KSchG unterrichtet wurde und die Beratung mit Abschluss des Interessenausgleichs abgeschlossen ist. Eine Verletzung der Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG kann auch bei Vorliegen eines Interessenausgleichs grundsätzlich nicht durch die bloße Erklärung des Betriebsrats, rechtzeitig und vollständig unterrichtet worden zu sein, unbeachtlich werden (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 32, BAGE 155, 245).
44
d) Der Beklagte hat das Konsultationsverfahren jedoch ordnungsgemäß eingeleitet, durchgeführt und abgeschlossen.
45
aa) Spätestens aus dem anwaltlichen Schreiben vom 21. Juni 2017 konnte der Betriebsrat entnehmen, dass die Verhandlungen über den Interessenausgleich – dass solche stattgefunden haben, ergibt sich bereits aus der E-Mail-Korrespondenz der anwaltlichen Vertreter der Betriebsparteien – nunmehr gleichfalls der Erfüllung der Konsultationspflicht nach § 17 Abs. 2 KSchG dienen sollten. Zwar enthält das Schreiben keinen expliziten Hinweis darauf, dass der Beklagte hiermit seinen Verpflichtungen nach § 17 Abs. 2 KSchG nachkommen wollte. Allerdings stellt es eine Zusammenfassung der vorherigen Erörterungen der Betriebsparteien dar. Auch wird in ihm darauf verwiesen, dass aufgrund der großen Anzahl von Entlassungen eine Anzeige an die Agentur für Arbeit durchgeführt werde und der Betriebsrat hierzu bereits seine Stellungnahme im Interessenausgleich vorgenommen habe, so dass dieses Schreiben nur noch als ergänzende Information zu sehen sei. Diesbezüglich sah bereits der im Mai 2017 an den Betriebsrat übersandte Entwurf eines Interessenausgleichs unter § 6 die „Stellungnahme des Betriebsrates zu § 17 KSchG“ vor. Auch wenn der in Bezug genommene Interessenausgleich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war, konnte der Betriebsrat aus der Formulierung des Schreibens vom 21. Juni 2017 erkennen, dass der Beklagte bereits von einer erfolgten Information nach § 17 Abs. 2 KSchG ausging und mit dem Schreiben diese ergänzen wollte. Eine solche ergänzende Information war auch möglich (vgl. EuGH 10. September 2009 – C-44/08 – [Akavan Erityisalojen Keskusliitto] Rn. 52, 53; BAG 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 29, BAGE 151, 83). Unumkehrbare Maßnahmen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht getroffen. Weder waren zum Zeitpunkt der Unterrichtung Kündigungen erklärt noch Gerätschaften an das Mutterunternehmen zurückgegeben worden.
46
bb) Die Unterrichtung genügte inhaltlich den Anforderungen des § 17 Abs. 2 KSchG. Sowohl im Schreiben vom 21. Juni 2017 als auch im Interessenausgleich vom 22. Juni 2017 wird die Betriebsschließung zum 30. September 2017 als Grund für die seitens des Beklagten avisierten Kündigungen aller Arbeitnehmer genannt. Eine solche schlagwortartige Bezeichnung war vorliegend ausreichend, da der Betriebsrat aufgrund der vorherigen Erörterungen und der beiderseitigen Korrespondenz Kenntnis von der beabsichtigten Massenentlassung und ihren Umständen hatte. Da allen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte, bedurfte es keiner Nennung von Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Das Fehlen einer ausdrücklichen Unterrichtung über die betroffenen Berufsgruppen war vorliegend ebenfalls unschädlich. Zwar muss der Arbeitgeber den Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 KSchG grundsätzlich über die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer unterrichten. Erfolgt die Unterrichtung nicht, kann dies bei der Entlassung aller Arbeitnehmer jedoch keine Folgen für die Prüfung konstruktiver Vorschläge zur Verhinderung oder Beschränkung der Massenentlassung durch den Betriebsrat haben. Wegen der offenkundigen Betroffenheit aller Berufsgruppen konnte der Betriebsrat aufgrund seines Kenntnisstandes in der von § 17 Abs. 2 KSchG vorgesehenen Weise am Konsultationsverfahren mitwirken. Der Unterrichtungsfehler konnte sich insoweit nicht zulasten der betroffenen Arbeitnehmer auswirken (vgl. BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 30, BAGE 155, 245; 18. Januar 2012 – 6 AZR 407/10 – Rn. 36, BAGE 140, 261). Auch das Fehlen der Mitteilung der für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien (§ 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 KSchG) führte unabhängig davon, ob vorliegend ein Sozialplan zustande gekommen ist, nicht zur Fehlerhaftigkeit der Unterrichtung. Enthält die Unterrichtung diesbezüglich keine Angaben, bringt der Arbeitgeber ausreichend zum Ausdruck, dass es keine Abfindungen geben soll (EuArbR/Spelge 2. Aufl. RL 98/59/EG Art. 2 Rn. 23; aA ErfK/Kiel 19. Aufl. KSchG § 17 Rn. 22).
47
cc) Die Unterrichtung erfolgte unter Einhaltung der gesetzlichen Formvorschrift. Der Beklagte hat dem Betriebsrat die Auskünfte nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 6 KSchG schriftlich erteilt. Die Wahrung der Textform entsprechend § 126b BGB reicht hierzu aus (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 42, BAGE 157, 1; noch offengelassen von: BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 27, BAGE 155, 245; 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 55 ff., BAGE 143, 150). Ob das Schreiben vom 21. Juni 2017 unterzeichnet war oder ob der Interessenausgleich zum Zeitpunkt der Überlassung an den Betriebsrat bereits die Unterschrift des Beklagten aufwies, kann daher dahinstehen.
48
dd) Die Beratung genügte den Anforderungen des § 17 Abs. 2 KSchG. Der Betriebsrat hat seine Vorstellungen vom Inhalt des Interessenausgleichs und des Sozialplans unterbreiten können. Erbetene Informationen, etwa zur Möglichkeit der Gründung einer BQG oder eines Betriebsübergangs, hat der Beklagte erteilt und sich mit den Vorschlägen des Betriebsrats ernsthaft auseinandergesetzt (vgl. BAG 26. Februar 2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 26, BAGE 151, 83) und so gezeigt, dass er mit dem ernstlichen Willen zu einer Einigung in die Beratungen gegangen ist (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 50, BAGE 157, 1). Er hat sogar begründet, warum er den Vorschlag zur Gründung einer BQG für nicht praktikabel hielt, obwohl im Unterschied zu § 92a Abs. 2 Satz 2 BetrVG eine solche Begründungspflicht weder die MERL noch § 17 Abs. 2 KSchG vorsehen. Entgegen der der Argumentation des Klägers zugrunde liegenden Annahme besteht kein Einigungszwang und erst recht kein Zwang, die Vorstellungen des Betriebsrats zu übernehmen (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – aaO).
49
ee) Der Beklagte hat das Konsultationsverfahren schließlich ordnungsgemäß abgeschlossen, bevor er die Massenentlassungsanzeige erstattet hat. Er konnte aufgrund der abschließenden Stellungnahme des Betriebsrats vom 22. Juni 2017 die Anzeige der Massenentlassungen gegenüber der Agentur für Arbeit ohne weitere Wartezeit vornehmen. Eine Frist von mindestens zwei Wochen zwischen der Unterrichtung des Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und den Entlassungen war vorliegend nicht einzuhalten.
50
(1) Zwar muss im Hinblick auf § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG die Unterrichtung des Betriebsrats im Regelfall mindestens zwei Wochen vor der Massenentlassungsanzeige erfolgen. Gibt der Betriebsrat aber vor Ablauf von zwei Wochen nach seiner ordnungsgemäßen Unterrichtung eine ausreichende und abschließende Stellungnahme ab und erklärt damit das Konsultationsverfahren aus seiner Sicht für abgeschlossen, steht der Massenentlassungsanzeige das Erfordernis einer rechtzeitigen Unterrichtung nicht (mehr) entgegen (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 5/12 – Rn. 53). Die Stellungnahme muss jedoch erkennen lassen, dass der Betriebsrat sich für ausreichend unterrichtet hält, keine (weiteren) Vorschläge unterbreiten kann oder will und die Zweiwochenfrist des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG nicht ausschöpfen will (BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 36, BAGE 155, 245; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 53).
51
(2) Der Beklagte hat im Nachgang zu seinem Schreiben vom 21. Juni 2017, der Übergabe des ausformulierten Interessenausgleichs vom 22. Juni 2017 und der damit erfolgten abschließenden Unterrichtung des Betriebsrats zunächst die Reaktion des Betriebsrats abgewartet und durfte nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs sowie der darin unter § 4 erfolgten Bestätigung über den Abschluss der Unterrichtung und Beratung davon ausgehen, dass seitens des Betriebsrats kein weiterer Beratungsbedarf besteht. Angesichts der Tatsache, dass die Betriebsparteien zeitgleich einen Interessenausgleich über die geplante Betriebsstilllegung geschlossen haben, welcher bereits im Vorfeld als Entwurf zwischen den Rechtsbeiständen der Betriebsparteien abgestimmt wurde, und damit alle in diesem Zusammenhang relevanten Fragen abschließend geklärt waren, war für den Beklagten auch nachvollziehbar, dass der Betriebsrat keinen weiteren Erörterungs- oder Verhandlungsbedarf mehr gesehen hat. Dass dieser bei Aushändigung des Interessenausgleichs „vor vollendete Tatsachen“ gestellt und regelrecht überrumpelt wurde, wovon der Kläger ausgeht, kann daher nicht angenommen werden. Der Betriebsrat hat sich, nachdem ihm ua. der Interessenausgleich übergeben wurde, zur Beratung zurückgezogen. Dass er nach dem klägerischen Vortrag bereits nach 15 Minuten einen unterzeichneten Interessenausgleich vorgelegt hat, in welchem die abschließende Stellungnahme enthalten war, ist angesichts des vorherigen Austausches der Entwürfe unschädlich. Eine Verhandlungsmindestdauer ist nicht vorgeschrieben (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 50, BAGE 157, 1), zumal die Aufforderung, der Interessenausgleich müsse jetzt unterschrieben werden, durch den den Betriebsrat beratenden Rechtsanwalt und den Gewerkschaftssekretär, hingegen nicht den Beklagten erfolgte.
52
Soweit der Kläger vorgebracht hat, der Interessenausgleich sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, da im Betriebsratsgremium keine Beratung stattgefunden habe, ist das unerheblich. Es gilt hier – wie im Verfahren nach § 102 BetrVG – die Sphärentheorie, nach der sich Mängel im Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich des Betriebsrats grundsätzlich nicht zulasten des Arbeitgebers auswirken (BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 60, BAGE 157, 1).
53
2. Die Kündigung ist nicht nach § 138 BGB nichtig. Die Gegenrüge des Klägers, die Gesellschafter der Schuldnerin hätten diese so ausgestaltet bzw. nicht ausgestaltet, dass Nachteile in der Geschäftstätigkeit notwendigerweise die Gläubiger der Schuldnerin treffen mussten, was die Gesellschafter auch billigend in Kauf genommen hätten, so dass ein Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden vorliege, ist unbegründet. Ein solcher Anspruch kann nur gegenüber den jeweiligen Gesellschaftern persönlich erhoben werden (Roth/Altmeppen/Altmeppen GmbHG 9. Aufl. § 13 Rn. 145) und daher nicht zur Nichtigkeit der durch den Beklagten erklärten Kündigung führen.
54
3. Der Rechtswirksamkeit der Kündigung steht zum jetzigen Zeitpunkt keine nach § 1 Abs. 2 iVm. § 15 Abs. 4 KSchG zu berücksichtigende Weiterbeschäftigungsmöglichkeit des Klägers bei der Kommanditistin der Schuldnerin bzw. deren Tochtergesellschaften entgegen (zur Prüfung einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auch im Falle des § 15 Abs. 4 KSchG vgl. BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 476/16 – Rn. 25). Ausreichender Sachvortrag des Klägers hierzu liegt bisher nicht vor. Es obliegt jedoch dem Arbeitnehmer, konkret aufzuzeigen, wie er sich eine anderweitige Beschäftigung vorstellt. Erst dann hat der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen, weshalb das nicht zu realisieren ist (vgl. BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 476/16 – Rn. 29, 50; 20. Juni 2013 – 2 AZR 583/12 – Rn. 22).
55
Unabhängig davon liegt entgegen der Annahme des Klägers ein einheitliches Unternehmen, bestehend aus der Schuldnerin, deren Kommanditistin sowie ihrer beiden Tochtergesellschaften, nicht vor. Bei diesen handelt es sich um jeweils eigenständige Rechtsträger (§ 13 GmbHG, § 161 iVm. § 124 Abs. 1 HGB), die eigenständige Unternehmen iSd. § 1 Abs. 2 KSchG sind. Nichts anderes ergäbe sich im Hinblick auf eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, sofern man das Vorbringen des Klägers dahin verstehen wollte, dass er sich auf eine bestehende Konzernstruktur berufen will. Das Kündigungsschutzgesetz ist, bis auf hier nicht vorliegende Ausnahmefälle, nicht konzernbezogen (vgl. hierzu sowie zu möglichen Ausnahmefällen: BAG 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – Rn. 56 f.; 23. April 2008 – 2 AZR 1110/06 – Rn. 22; 23. März 2006 – 2 AZR 162/05 – Rn. 20 f.; 23. November 2004 – 2 AZR 24/04 – zu B III 2 b aa und bb der Gründe). Auf das Vorliegen eines Gemeinschaftsbetriebs hat sich der Kläger nicht mehr berufen, zumal ein solcher im Hinblick auf die Schuldnerin mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. Juni 2017 geendet hätte (§ 728 Abs. 2 Satz 1 BGB; vgl. LAG Köln 28. Juni 2018 – 7 Sa 794/17 – zu II 2 a der Gründe; KR/Rachor 12. Aufl. § 1 KSchG Rn. 228; EuArbR/Spelge 2. Aufl. RL 98/59/EG Art. 1 Rn. 63; zu einer möglichen Fortführung bzw. Wiederbegründung durch den Insolvenzverwalter vgl. BAG 24. Februar 2005 – 2 AZR 214/04 – zu B I der Gründe).
56
III. Der Senat kann anhand der bisher getroffenen Feststellungen allerdings nicht abschließend beurteilen, ob die Kündigung im Übrigen wirksam ist. Bei seiner neuerlichen Verhandlung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht Folgendes zu berücksichtigen haben.
57
1. Auf der Grundlage des bisherigen Sachvortrags wird es zu prüfen haben, ob der Beklagte den Betriebsrat ordnungsgemäß gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG angehört hat.
58
a) Die Unwirksamkeit der Betriebsratsanhörung ist allerdings nicht aus dem Umstand herzuleiten, dass der Beklagte weder über die Abteilung informiert hat, in der der Kläger zuletzt beschäftigt wurde, noch über dessen Status als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender. Zum einen bedarf es hinsichtlich betriebsratsseitig bereits bekannter Tatsachen keiner Information seitens des Arbeitgebers (vgl. BAG 15. Dezember 1994 – 2 AZR 327/94 – zu B I 3 a (2) der Gründe). Dem Betriebsrat war jedenfalls die Position des Klägers als stellvertretender Vorsitzender bekannt. Zum anderen bedarf es keiner Nennung einer Abteilung, wenn diese Tatsache in Bezug auf den Kündigungsanlass keinem denkbaren rechtlichen Zweck dienen kann (vgl. KR/Rinck 12. Aufl. § 102 BetrVG Rn. 77). Sinn und Zweck des § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist es, den Betriebsrat in die Lage zu versetzen, sachgerecht auf den Arbeitgeber einzuwirken, dh. die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe zu überprüfen und sich über sie eine eigene Meinung zu bilden (BAG 23. Oktober 2014 – 2 AZR 736/13 – Rn. 22). Im Streitfall war dies dem Betriebsrat auch ohne die Angabe der Abteilung, in der der Kläger zuletzt beschäftigt war, möglich, da der beabsichtigten Kündigung die vollständige Stilllegung des gesamten Betriebs zugrunde lag.
59
b) Des Weiteren kann dahinstehen, ob die vom Kläger gerügten Verfahrensfehler im Rahmen der Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG vorlagen. Selbst wenn die Betriebsratssitzung nicht ordnungsgemäß einberufen oder die Beratung über die beabsichtigten Kündigungen nicht auf die Tagesordnung gesetzt worden wäre, zöge weder das eine noch das andere die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich. Nur wenn dem Arbeitgeber bei der ihm obliegenden Einleitung des Anhörungsverfahrens ein Fehler unterläuft, liegt darin eine Verletzung des § 102 Abs. 1 BetrVG mit der Folge der Unwirksamkeit der Kündigung. Mängel, die im Verantwortungsbereich des Betriebsrats entstehen, führen hingegen grundsätzlich nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung wegen fehlerhafter Anhörung (BAG 24. Juni 2004 – 2 AZR 461/03 – zu B II 2 b aa der Gründe). Dies gilt auch, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung weiß oder erkennen kann, dass der Betriebsrat die Angelegenheit nicht fehlerfrei behandelt hat. Solche Fehler gehen schon deshalb nicht zulasten des Arbeitgebers, weil der Arbeitgeber keine wirksamen rechtlichen Einflussmöglichkeiten auf die Beschlussfassung des Betriebsrats hat (BAG 24. Juni 2004 – 2 AZR 461/03 – zu B II 1 b der Gründe). Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn der Arbeitgeber den Fehler bei der Willensbildung des Betriebsrats durch unsachgemäßes Verhalten selbst veranlasst bzw. beeinflusst hat (BAG 24. Juni 2004 – 2 AZR 461/03 – zu B II 2 b cc der Gründe). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.
60
c) Auch die Rüge der Nichteinhaltung der Stellungnahmefrist des § 102 Abs. 2 BetrVG ist unbegründet. Hat der Betriebsrat gegen eine ordentliche Kündigung Bedenken, muss er diese unter Angabe der Gründe dem Arbeitgeber spätestens innerhalb einer Woche schriftlich mitteilen (§ 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG). Der Betriebsrat muss die Wochenfrist jedoch nicht vollständig ausschöpfen, sondern kann bereits vor diesem Zeitpunkt zur mitgeteilten Kündigungsabsicht des Arbeitgebers abschließend Stellung nehmen. Das Beteiligungsverfahren ist mit Eingang einer solchen Äußerung vorzeitig beendet und der Arbeitgeber kann die Kündigung umgehend erklären (vgl. BAG 23. Oktober 2014 – 2 AZR 736/13 – Rn. 13). Einer Äußerung des Betriebsrats während des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG kommt indes nur fristverkürzende Wirkung zu, wenn ihr der Arbeitgeber unzweifelhaft entnehmen kann, dass es sich um eine abschließende Stellungnahme handelt (BAG 25. Mai 2016 – 2 AZR 345/15 – Rn. 24, BAGE 155, 181). Das war hier aufgrund § 4 des Interessenausgleichs der Fall.
61
d) Das Landesarbeitsgericht wird indes zu prüfen haben, ob der Beklagte das Anhörungsverfahren durch Übergabe der Anhörungsbögen ordnungsgemäß eingeleitet hat. Nach den vom Landesarbeitsgericht im angefochtenen Urteil getroffenen und damit den Senat bindenden Feststellungen hat der Kläger den Vortrag des Beklagten, dem Betriebsratsvorsitzenden seien am 22. Juni 2017 gleichzeitig mit dem Interessenausgleich auch die Anhörungsbögen für jede Einzelkündigung übergeben worden, bestritten. Soweit sich aus dem Urteil des Arbeitsgerichts ergibt, der Kläger habe im Rahmen seiner Anhörung im Kammertermin eingeräumt, dass die Anhörungsschreiben betreffend die einzelnen Arbeitnehmer bezeichnet als „Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 BetrVG“ übergeben worden seien, wird das Landesarbeitsgericht unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens das arbeitsgerichtliche Urteil auf konkrete Anhaltspunkte für Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Tatsachenfeststellungen zu prüfen und etwaige Fehler zu beseitigen haben. Das Berufungsverfahren dient insoweit auch der Kontrolle und Korrektur fehlerhafter Tatsachenfeststellungen (vgl. BAG 12. September 2013 – 6 AZR 121/12 – Rn. 13).
62
2. Das Landesarbeitsgericht wird ferner zu prüfen haben, ob die rechtzeitig erfolgte Massenentlassungsanzeige im Übrigen ordnungsgemäß erfolgt ist, insbesondere ob sie den Vorgaben des § 17 Abs. 3 KSchG genügt. Der Beklagte hat weder im Einzelnen zu den nach § 17 Abs. 3 KSchG der Agentur für Arbeit mitzuteilenden Tatsachen vorgetragen noch die erstattete Anzeige zu den Akten gereicht, sondern lediglich die Bestätigung der Agentur für Arbeit über deren vollständigen Eingang. Aus der Bestätigung lässt sich jedoch weder entnehmen, welche Daten der Beklagte der Agentur für Arbeit übermittelt hat, noch führt diese dazu, dass die Prüfung, ob vor Ausspruch der Kündigung vom 26. Juni 2017 eine wirksame Massenentlassungsanzeige erstattet wurde, der gerichtlichen Kontrolle entzogen ist (vgl. BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 39, BAGE 144, 366). Dementsprechend wird das Landesarbeitsgericht dem Beklagten Gelegenheit zu geben haben, seinen Vortrag zu ergänzen.
63
3. Zuletzt wird das Landesarbeitsgericht bei seiner Kostenentscheidung zu beachten haben, dass der Kläger die Klage in der ersten Instanz teilweise zurückgenommen hat.
Spelge
Krumbiegel
Heinkel
Augat
C. Klar |
bag_25-20 | 28.07.2020 | 28.07.2020
25/20 - Betriebsvereinbarung - Inkrafttreten in Abhängigkeit von einem Belegschaftsquorum
Arbeitgeber und Betriebsrat können die Geltung einer Betriebsvereinbarung nicht davon abhängig machen, dass die betroffenen Arbeitnehmer zustimmen.
Die Arbeitgeberin schloss 2007 mit dem in ihrem Betrieb gebildeten Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zu variablen Vergütungsbestandteilen der im Lager beschäftigten Arbeitnehmer. Diese sollte unter der Bedingung in Kraft treten, dass ihr „80 % der abgegebenen Stimmen“ der in ihren Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer bis zum Ablauf einer von der Arbeitgeberin gesetzten Frist „einzelvertraglich“ schriftlich zustimmen. Für den Fall eines Unterschreitens des Zustimmungsquorums konnte die Arbeitgeberin „dies“ dennoch für ausreichend erklären. Der Betriebsrat hat die Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung geltend gemacht.
Die Vorinstanzen haben das Begehren abgewiesen. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die normative Wirkung einer Betriebsvereinbarung kann nicht von einem Zustimmungsquorum der Belegschaft abhängig gemacht werden. Eine solche Regelung widerspricht den Strukturprinzipien der Betriebsverfassung. Danach ist der gewählte Betriebsrat Repräsentant der Belegschaft. Er wird als Organ der Betriebsverfassung im eigenen Namen kraft Amtes tätig und ist weder an Weisungen der Arbeitnehmer gebunden noch bedarf sein Handeln deren Zustimmung. Eine von ihm abgeschlossene Betriebsvereinbarung gilt kraft Gesetzes unmittelbar und zwingend. Damit gestaltet sie unabhängig vom Willen oder der Kenntnis der Parteien eines Arbeitsvertrags das Arbeitsverhältnis und erfasst auch später eintretende Arbeitnehmer. Das schließt es aus, die Geltung einer Betriebsvereinbarung an das Erreichen eines Zustimmungsquorums verbunden mit dem Abschluss einer einzelvertraglichen Vereinbarung mit dem Arbeitgeber zu knüpfen.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28. Juli 2020 – 1 ABR 4/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Beschluss vom 15. Juni 2018 – 3 TaBV 6/18 – | Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts München vom 15. Juni 2018 – 3 TaBV 6/18 – teilweise aufgehoben.
Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 15. November 2017 – 37 BV 49/17 – teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt gefasst:
Unter Antragsabweisung im Übrigen wird festgestellt, dass die „Betriebsvereinbarung über variable Vergütung im Lager“ vom 22. Februar 2007 unwirksam ist.
Leitsatz
Die Betriebsparteien können die normative Geltung einer von ihnen geschlossenen Betriebsvereinbarung nicht an ein Zustimmungsquorum der Normunterworfenen binden.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung.
2
Die Arbeitgeberin erbringt logistische Dienstleistungen. Zu diesem Zweck unterhält sie in ihrem Betrieb, in dem der antragstellende Betriebsrat gewählt ist, ein Lager. Hinsichtlich der dort beschäftigten Arbeitnehmer schlossen die Betriebsparteien im Februar 2007 die – vom Betriebsrat mittlerweile gekündigte – „Betriebsvereinbarung über variable Vergütung im Lager“ (BV Verg). Nach deren § 2 Nr. 3 setzt sich ein im einzelnen bestimmter Vergütungsbestandteil aus einer nach Maßgabe des § 3 BV Verg geregelten anwesenheitsbezogenen und einer durch § 4 BV Verg ausgestalteten leistungsbezogenen Komponente zusammen. Die BV Verg lautet im Übrigen auszugsweise:
„§ 1
Geltungsbereich
1.
Diese Betriebsvereinbarung gilt für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (nachfolgend zusammenfassend Mitarbeiter) des Lagers des Betriebs in P unter Berücksichtigung von § 12.
…
§ 2
Gegenstand der vorliegenden Betriebsvereinbarung
1.
Die bei Unterzeichnung dieser Betriebsvereinbarung (Stichtag) beschäftigten Mitarbeiter erhalten derzeit zum Teil eine ‚Flexible Leistungs- und Anwesenheitsprämie‘ bzw. eine Zulage in Form einer Erfolgsbeteiligung oder sonstigen monatlichen Zulage (‚variable Vergütung‘). Die variable Vergütung wird vollumfänglich zum Gegenstand der vorliegenden Betriebsvereinbarung gemacht und richtet sich zukünftig nach den zwischen den Betriebsparteien gemäß den in der vorliegenden Betriebsvereinbarung geregelten Voraussetzungen.
…
§ 12
Schlussbestimmungen
1.
Diese Betriebsvereinbarung tritt für alle Mitarbeiter mit Wirkung ab dem 01.07.2007 unter der Bedingung in Kraft, dass 80% der abgegebenen Stimmen bis zum Ablauf der vom Unternehmen jeweils gesetzten Frist der Betriebsvereinbarung einzelvertraglich schriftlich zugestimmt haben. Hierzu erhalten die Mitarbeiter ein schriftliches Angebot des Unternehmens.
Wird diese Zustimmungsquote von 80% unterschritten, kann das Unternehmen dies dennoch für ausreichend erklären; in diesem Fall gilt die Betriebsvereinbarung im Geschäftsjahr 2008 (01.07.2007 bis 30.06.2008) nur für diejenigen Mitarbeiter, die der Geltung einzelvertraglich schriftlich zugestimmt haben. Beträgt die Zustimmungsquote mindestens 60%, aber weniger als 80% und hat das Unternehmen dies für ausreichend erklärt und beträgt der Zielerreichungsgrad im Geschäftsjahr 2008 mindestens 85% im Jahresdurchschnitt, gilt die Betriebsvereinbarung ab dem 01.07.2008 für alle Mitarbeiter, ansonsten gilt sie für alle Mitarbeiter, sobald in einem Geschäftsjahr der Zielerreichungsgrad von 85% überschritten wurde.
Für ab dem Stichtag neu eingestellte Mitarbeiter gilt die Betriebsvereinbarung ab In-Kraft-Treten.
…
5.
Die Betriebsvereinbarung kann mit einer Frist von 12 Monaten schriftlich gekündigt werden. …
6.
Nach Ablauf der Kündigungsfrist wirkt diese Betriebsvereinbarung nach, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt wird. …“
3
Der Betriebsrat hat mit seinem im Februar 2017 eingeleiteten Verfahren die Nichtigkeit, hilfsweise die Unwirksamkeit der BV Verg – äußerst hilfsweise einzelner ihrer Regelungen – geltend gemacht. Die BV Verg sei keine Betriebsvereinbarung. Jedenfalls verstoße sie gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG und das EFZG sowie – wegen der Absenkung arbeitsvertraglicher Entgelte – gegen das Günstigkeitsprinzip.
4
Der Betriebsrat hat – soweit für die Rechtsbeschwerde von Bedeutung – beantragt
festzustellen, dass die „Betriebsvereinbarung über variable Vergütung im Lager“ vom 22. Februar 2007 unwirksam ist;
hilfsweise festzustellen, dass §§ 2, 3, 4 und 12 der „Betriebsvereinbarung über variable Vergütung im Lager“ vom 22. Februar 2007 unwirksam sind.
5
Die Arbeitgeberin hat Antragsabweisung beantragt.
6
Das Arbeitsgericht hat die – dort hauptsächlich auf Nichtigkeit der BV Verg infolge einer erklärten Anfechtung gerichteten – Anträge des Betriebsrats abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 15. Januar 2019 hat der Senat die Rechtsbeschwerde hinsichtlich der Abweisung der in den Vorinstanzen hilfsweise angebrachten Feststellungsanträge für den Betriebsrat zugelassen. Diese verfolgt der Betriebsrat mit seiner Rechtsbeschwerde weiter.
7
B. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats gegen die – dessen Hilfsanträge abweisende – Entscheidung des Arbeitsgerichts zu Unrecht zurückgewiesen. Der auf die Feststellung der Unwirksamkeit der BV Verg gerichtete Hauptantrag ist zulässig und begründet.
8
I. Der Feststellungsantrag begegnet keinen Zulässigkeitsbedenken. Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt.
9
1. Die Geltung einer Betriebsvereinbarung kann als Rechtsverhältnis zum Gegenstand eines Feststellungsantrags in einem arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren erhoben werden (vgl. BAG 20. Januar 2015 – 1 ABR 1/14 – Rn. 16). Soweit der Betriebsrat (auch) die Ansicht vertreten hat, die BV Verg sei keine Betriebsvereinbarung, bewirkt das nicht die Unzulässigkeit seines auf die Feststellung ihrer Unwirksamkeit gerichteten Rechtsschutzziels. Die BV Verg ist ein von den Betriebsparteien vereinbartes betriebliches Regelungswerk, dem jedenfalls die Arbeitgeberin die Wirkungen einer Betriebsvereinbarung beimisst.
10
2. Für den Antrag besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO notwendige Feststellungsinteresse. Dieses ist aufgrund der Kündigung der BV Verg nicht entfallen. Die Betriebsparteien haben mit § 12 Nr. 6 BV Verg die Nachwirkung ihrer Regelungen vereinbart (vgl. dazu BAG 19. Februar 2008 – 1 ABR 84/06 – Rn. 20).
11
3. Die Mitwirkung des Betriebsrats am Abschluss der BV Verg steht der Geltendmachung ihrer Unwirksamkeit nicht entgegen. Die Arbeitgeberin qualifiziert die BV Verg als objektives betriebliches Recht. Sowohl im eigenen als auch im Interesse der von ihrem Geltungsbereich erfassten Arbeitnehmer muss der Betriebsrat deshalb die Möglichkeit haben, die Wirksamkeit der BV Verg zur gerichtlichen Überprüfung zu stellen (vgl. dazu BAG 27. Januar 2004 – 1 ABR 5/03 – zu B II der Gründe, BAGE 109, 227).
12
II. Der Antrag ist begründet. Die BV Verg ist eine Betriebsvereinbarung. Ihre Schlussbestimmungen in § 12 Nr. 1 sind unwirksam. Mit ihnen haben die Betriebsparteien ihre Regelungskompetenz überschritten. Das bewirkt die Unwirksamkeit der gesamten BV Verg.
13
1. Mit der BV Verg haben Arbeitgeberin und Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung geschlossen.
14
a) Die Maßgaben einer Betriebsvereinbarung sind gesetzlich nicht definiert. § 77 BetrVG sieht sie als Fall der in Abs. 1 genannten „Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber“ und enthält in Abs. 2 bis Abs. 6 Regelungen zu ihrem Zustandekommen, ihrer Wirkung und ihrer Beendigung. Danach ist sie eine schriftformgebundene (§ 77 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 BetrVG) Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber mit unmittelbarer und zwingender Geltung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG). Mit ihr ist objektives betriebliches Recht geschaffen, das automatisch auf jedes im Geltungsbereich der jeweiligen Betriebsvereinbarung bestehende Arbeitsverhältnis einwirkt. Dieser Charakter der Betriebsvereinbarung als privatrechtlich kollektiver und objektives Recht setzender Normenvertrag der Betriebsparteien (vgl. BAG 18. Februar 2003 – 1 ABR 17/02 – zu B II der Gründe, BAGE 105, 19) grenzt sie von der Regelungsabrede ab. Letztere wirkt nicht normativ. Sollen mit ihr Rechte und Pflichten für Arbeitnehmer begründet werden, bedarf sie der individuellen Umsetzung. Auch hängt ihre Wirksamkeit nicht von der Einhaltung der Schriftform ab.
15
b) Danach handelt es sich bei der BV Verg um eine Betriebsvereinbarung.
16
(1) Darauf deutet bereits neben ihrer Bezeichnung die in einer Vielzahl ihrer Bestimmungen – so etwa in § 2 Nr. 1 BV Verg – verwandte Terminologie „diese Betriebsvereinbarung“ hin. Auch ist die BV Verg schriftlich niedergelegt und von beiden Seiten unterzeichnet iSd. § 77 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Halbs. 1 BetrVG.
17
(2) Zudem zeigen die Regelungsinhalte der BV Verg, dass Arbeitgeberin und Betriebsrat mit der BV Verg keine Regelungsabrede getroffen haben, bei der sie sich ihrer normativen Gestaltungsmöglichkeit begeben hätten. Vor allem § 2 Nr. 1 BV Verg verdeutlicht unmissverständlich, dass die variable Vergütung mit unmittelbar anspruchsbegründender Wirkung für die in den Geltungsbereich der BV Verg fallenden Arbeitnehmer geregelt ist. Nichts anderes folgt – entgegen der Annahme des Betriebsrats – aus § 12 Nr. 1 BV Verg. Auch danach sollen die inhaltlichen Bestimmungen zu einer variablen Vergütung keiner Umsetzung auf vertraglicher Ebene bedürfen, sondern die BV Verg – nach Satz 1 der Regelung – „für alle“ Mitarbeiter mit Wirkung ab dem 1. Juli 2007 in Kraft treten, wenn ein näher festgelegtes Mindestquorum („80% der abgegebenen Stimmen“) erreicht ist (mit der Folge, dass die BV Verg dann für alle geltungsbereichsrelevanten Arbeitnehmer gilt), oder ihr Geltungsbereich unter bestimmten Hilfsbedingungen – nach Satz 2 und 3 der Regelung – anders festgelegt ist (mit der Folge, dass die BV Verg dann für einen Teil der Arbeitnehmer gilt). Ebenso zeigt die abschließende Regelung in § 12 Nr. 1 BV Verg, wonach „[f]ür ab dem Stichtag neu eingestellte Mitarbeiter … die Betriebsvereinbarung ab In-Kraft-Treten“ gilt, nachdrücklich den auf eine Normwirkung zielenden Abschluss einer Betriebsvereinbarung.
18
2. § 12 Nr. 1 BV Verg ist unwirksam. Die Vorschrift bestimmt für das Inkrafttreten der BV Verg neben einem zeitlichen Moment einen situativen Aspekt. Letzterer ist im Wesentlichen als Quorum „einzelvertraglich schriftlicher Zustimmungen“ der Mitarbeiter – was diejenigen meint, die unter den Geltungsbereich der BV Verg fallen – festgelegt. Damit haben Arbeitgeberin und Betriebsrat für die Wirkung der BV Verg eine (Suspensiv-)Bedingung geregelt. Hierzu vermittelt das Betriebsverfassungsgesetz keine Regelungsbefugnis.
19
a) Zwar ist der Abschluss einer Betriebsvereinbarung nicht per se bedingungsfeindlich. So kann ihre Wirksamkeit etwa an die Bedingung des Inkrafttretens eines Firmentarifvertrags geknüpft sein (vgl. BAG 15. Januar 2002 – 1 AZR 165/01 – zu B III 1 der Gründe) oder – im Bereich der betrieblichen Altersversorgung – von einer im Beschlussverfahren herbeizuführenden gerichtlichen Entscheidung über die Wirksamkeit der Ablösung einer Versorgungsordnung abhängig gemacht werden (BAG 17. Juni 2003 – 3 ABR 43/02 – zu B II 2 b der Gründe, BAGE 106, 301). Insoweit bestehen gegen den Abschluss einer Betriebsvereinbarung unter einer aufschiebenden Bedingung jedenfalls dann keine rechtlichen Bedenken, wenn der Eintritt der vereinbarten Bedingung für alle Beteiligten, auch für die Arbeitnehmer als Normunterworfene, ohne Weiteres feststellbar ist (BAG 15. Januar 2002 – 1 AZR 165/01 – aaO).
20
b) Mit ihrem § 12 Nr. 1 ist die Wirkung der BV Verg aber an die Bedingung des Erreichens einer vertraglichen Zustimmungsquote der (potentiell) Normunterworfenen geknüpft. Eine solche Gestaltung ist den Betriebsparteien verwehrt. Sie verstößt gegen die normative Geltungsanordnung für Betriebsvereinbarungen und widerspricht dem betriebsverfassungsrechtlichen Strukturprinzip der Repräsentation der Belegschaft durch den Betriebsrat.
21
aa) Soweit dem Betriebsrat Mitbestimmungs-, Mitwirkungs-, Beteiligungs- und Unterrichtungsrechte zukommen, ist er bei der Ausübung dieser Rechte in der Wahl seiner Mittel – in den Grenzen der allgemeinen Bestimmungen – frei (ErfK/Koch 20. Aufl. BetrVG § 1 Rn. 17). Hingegen stehen die Rechtswirkungen gewählter Mittel nicht zu seiner Disposition. Entsprechend können die Betriebsparteien nicht, wie hier mit § 12 Nr. 1 BV Verg bewirkt, den Normwirkungsbefehl des § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG außer Kraft setzen.
22
(1) Zur Wirkungsweise einer Betriebsvereinbarung enthält das BetrVG in seinem § 77 Abs. 4 Satz 1 – anders noch als das BetrVG 1952 – die ausdrückliche Anordnung einer unmittelbaren und zwingenden Geltung. Mit der 1972 erstmals kodifizierten Regelung wurde die schon zum BetrVG 1952 vertretene Auffassung zur Rechtswirkung einer Betriebsvereinbarung (vgl. hierzu BAG 16. März 1956 – GS 1/55 – BAGE 3, 1) gesetzlich bestätigt.
23
(a) Die unmittelbare Geltung einer Betriebsvereinbarung besagt, dass diese ebenso wie Gesetze von außen und unabhängig von der Kenntnis und dem Willen der Arbeitsvertragsparteien auf das Arbeitsverhältnis einwirken und nicht Inhalt des Arbeitsvertrags werden. Arbeitnehmer werden hierdurch heteronomen Regelungen unterworfen, die Arbeitgeber und der von den Arbeitnehmern gewählte Betriebsrat vereinbart haben. Das ist mit dem Grundgesetz vereinbar (ausf. BAG 12. Dezember 2006 – 1 AZR 96/06 – Rn. 17 ff., BAGE 120, 308).
24
(b) Die zwingende Geltung von Betriebsvereinbarungen liegt darin, dass abweichende arbeitsvertragliche Regelungen über den gleichen Regelungsgegenstand – soweit sie nicht für die Arbeitnehmer günstiger sind – ausgeschlossen sind (ausf. dazu zB Kreutz GK-BetrVG 11. Aufl. § 77 Rn. 254).
25
(2) § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG ist nicht abdingbar. Allenfalls können die Betriebsparteien die zwingende Geltung einer Betriebsvereinbarung für konkrete arbeitsvertragliche Abweichungen ähnlich wie Tarifvertragsparteien öffnen (vgl. zB Fitting BetrVG 30. Aufl. § 77 Rn. 130). Ein Zustimmungsvorbehalt oder Vetorecht (eines Teils) der Normunterworfenen im Zusammenhang mit der betrieblichen Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarungen läuft jedoch deren von Gesetzes wegen angeordneten unmittelbaren und zwingenden Geltung zuwider. Eine Betriebsvereinbarung gestaltet unabhängig vom Willen oder der Kenntnis der Parteien eines Arbeitsvertrags das Arbeitsverhältnis und erfasst auch später eintretende Arbeitnehmer. Das schließt es aus, ihre normative Geltung – wie hier mit § 12 Nr. 1 BV Verg geschehen – an das Erreichen eines Zustimmungsquorums verbunden mit dem Abschluss einer einzelvertraglichen Vereinbarung mit dem Arbeitgeber zu knüpfen.
26
bb) Auch widerspricht § 12 Nr. 1 BV Verg dem betriebsverfassungsrechtlichen Strukturprinzip der Repräsentation der Arbeitnehmer durch den Betriebsrat.
27
(1) Die Betriebsverfassung beteiligt Arbeitnehmer über abgestufte Beteiligungsrechte an Willensbildung und Entscheidungen des Arbeitgebers im Betrieb. Die Beteiligungsrechte werden nicht von der Belegschaft, sondern von den Kollektivvertretungen – insbesondere Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat – wahrgenommen. Diese sind als Organe der Betriebsverfassung im eigenen Namen kraft Amts tätig; das gilt auch für ihre Stellung gegenüber der Belegschaft und einzelnen Betriebsangehörigen. Als Repräsentant der Belegschaft ist der Betriebsrat von Weisungen oder vom Willen der Arbeitnehmer unabhängig. Er hat seine gesetzlichen Pflichten selbst zu erfüllen (vgl. § 23 Abs. 1 BetrVG). Ihm kommt weder ein imperatives Mandat zu noch wäre ein Misstrauensvotum der Belegschaft rechtlich von Bedeutung (vgl. bereits BVerfG 27. März 1979 – 2 BvR 1011/78 – zu III 2 a der Gründe, BVerfGE 51, 77).
28
(2) Die auf einer regelmäßigen demokratischen Wahl beruhende Repräsentanz der Belegschaft durch den Betriebsrat vermittelt dessen Legitimation zur betrieblichen Rechtsetzung durch die Betriebsparteien (ausf. BAG 12. Dezember 2006 – 1 AZR 96/06 – Rn. 17 ff., BAGE 120, 308). Sie ist zudem durch den im Grundsatz der Verhältniswahl verankerten Minderheitenschutz bei der Wahl des Betriebsrats sowie seiner Arbeit, Organisation und Geschäftsführung flankiert. Demgegenüber sind die Möglichkeiten der „Beeinflussung“ des gewählten Betriebsrats im Hinblick auf die Art und Weise der Ausübung der ihm obliegenden Aufgaben durch die Arbeitnehmer gesetzlich limitiert (vgl. § 43 Abs. 3 Satz 1, § 86a Satz 2 BetrVG). Das schließt eine inhaltliche Gremienarbeit des Betriebsrats unter Berücksichtigung verlautbarter oder eruierter Belegschaftsinteressen nicht aus. Eine unmittelbare Bindung der Normwirkung einer Betriebsvereinbarung an diese Interessen – wie hier mit § 12 Nr. 1 BV Verg bewirkt – ist jedoch mit der Stellung des Betriebsrats unvereinbar. Plebiszitäre Elemente bei der Normsetzung durch die Betriebsparteien sind der Betriebsverfassung fremd.
29
3. Die Unwirksamkeit ihrer Geltungsanordnung bedingt die Gesamtunwirksamkeit der BV Verg. Zwar ist eine Betriebsvereinbarung regelmäßig nur teilunwirksam, wenn der verbleibende Teil auch ohne die unwirksame Bestimmung noch eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung darstellt. Das folgt – nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB – aus ihrem Normcharakter, der es gebietet, im Interesse der Kontinuität eine einmal gesetzte Ordnung aufrechtzuerhalten, soweit sie ihre Funktion auch ohne den unwirksamen Teil entfalten kann (vgl. BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 65/17 – Rn. 38 mwN, BAGE 161, 305). Dies betrifft indes die Unwirksamkeit inhaltlicher Teilregelungen einer Betriebsvereinbarung. Der Rechtsgedanke trägt nicht, wenn der Unwirksamkeitsgrund nicht den Inhalt der normativen Vereinbarung betrifft, sondern deren Wirkung und damit die Frage, „ob“ sie als Normenvertrag überhaupt Geltung beansprucht.
Schmidt
Ahrendt
K. Schmidt
H. Schwitzer
Rose |
bag_26-18 | 24.05.2018 | 24.05.2018
26/18 - Vereinbarung eines Entgelts unterhalb des Vergütungsniveaus kirchlicher Arbeitsvertragsregelungen mit kirchlichem Arbeitgeber
Ein kirchlicher Arbeitgeber kann in den durch das staatliche Arbeitsrecht gesetzten Grenzen wirksam Arbeitsverträge abschließen, welche keine oder nur eine eingeschränkte Bezugnahme auf kirchliche Arbeitsvertragsregelungen vorsehen.
Die Klägerin war bei der Beklagten als Alltagsbegleiterin tätig. Die Beklagte ist eine gemeinnützige GmbH und Mitglied im Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V. Dessen Satzung verpflichtet die Beklagte ebenso wie kirchengesetzliche Regelungen zum Abschluss von Arbeitsverträgen, welche entweder die vom Diakonischen Dienstgeberverband Niedersachsen e.V. (DDN) geschlossenen einschlägigen Tarifverträge oder die Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie Deutschland (AVR-DD) in der jeweils geltenden Fassung zur Anwendung bringen. Die Klägerin wurde nach Entgeltgruppe 3 AVR-DD bezahlt. Die Beklagte vereinbarte mit ihr jedoch hinsichtlich der Entgeltsteigerungen und der in den AVR-DD vorgesehenen Jahressonderzahlung eine Vergütungshöhe, welche unterhalb des Niveaus der AVR-DD blieb. Hiergegen hat sich die Klägerin gewandt. Sie verlangt die sich aus der Abweichung ergebenden Differenzbeträge. Die entgegenstehenden vertraglichen Abreden seien unwirksam.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die verletzten kirchengesetzlichen Regelungen binden den kirchlichen Arbeitgeber nur im kirchlichen Rechtskreis. Er muss bei einer Nichtbeachtung kirchenrechtliche Konsequenzen befürchten und mit einer Zustimmungsverweigerung der Mitarbeitervertretung zur Eingruppierung rechnen. Die Missachtung kirchengesetzlicher Vorgaben bzgl. der Ausgestaltung von Arbeitsverträgen berührt aber per se nicht die Wirksamkeit einer anderslautenden vertraglichen Vereinbarung. Die einschlägigen Satzungsbestimmungen des Diakonischen Werks evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V. entfalten keine drittschützende Wirkung, welche die Klägerin in Anspruch nehmen könnte. Der Beklagten ist es auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auf den Inhalt des Arbeitsvertrags zu berufen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 27. April 2017 – 7 Sa 944/16 – | Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 27. April 2017 – 7 Sa 944/16 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Ein kirchlicher Arbeitgeber kann in den durch das staatliche Arbeitsrecht gesetzten Grenzen wirksam Arbeitsverträge abschließen, die keine oder nur eine eingeschränkte Bezugnahme auf kirchliche Arbeitsvertragsregelungen vorsehen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Differenzvergütungsansprüche aus einem beendeten Arbeitsverhältnis. Dem Rechtsstreit liegt die Frage zugrunde, ob sich die Höhe der Vergütung der Klägerin nach einer einzelvertraglichen Vereinbarung oder nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie Deutschland (AVR-DD) richtete.
2
Die Klägerin war vom 17. Februar 2014 bis zum 31. Januar 2016 bei der Beklagten als Alltagsbegleiterin tätig. Die Beklagte betreibt eine stationäre Altenhilfe, ambulante Pflege, Tagespflege sowie betreutes Wohnen. Sie ist eine gemeinnützige GmbH und Mitglied im Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V.
3
Nach § 9 Abs. 2 Buchst. b der Satzung des Diakonischen Werks in Niedersachsen e.V. in der Fassung vom 25. Oktober 2013 waren die Mitglieder ua. verpflichtet, „das nach Kirchengesetz anzuwendende kirchliche Arbeitsrecht“ anzuerkennen und zu beachten. Das Kirchengesetz der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen zur Regelung des Arbeitsrechts für Einrichtungen der Diakonie (Arbeitsrechtsregelungsgesetz Diakonie – ARRG-D) vom 3. November 1997 bestimmte in § 3, dass für alle privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse schriftliche Arbeitsverträge abzuschließen seien, in denen die aufgrund der Beschlüsse der Arbeitsrechtlichen Kommission und der Schlichtungskommission zustande gekommenen Regelungen in der jeweils geltenden Fassung vollständig und unverändert vereinbart sind. § 9 Abs. 4 der Satzung des Diakonischen Werks sah bei einem Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 9 Abs. 2 Buchst. b der Satzung nach einer erfolglosen Erinnerung durch den Vorstand als Sanktion zunächst eine Ermahnung durch den Aufsichtsrat und ggf. ein Ruhen der Mitgliedschaftsrechte vor. Als letzte Konsequenz konnte ein Mitglied ausgeschlossen werden.
4
Am 25. Juni 2014 wurde die Satzung neu gefasst und entsprechend dem geänderten Vereinsnamen als „Satzung des Diakonischen Werkes evangelischer Kirchen in Niedersachsen e.V.“ bezeichnet. Nach § 9 Abs. 2 Buchst. b dieser Satzung sind alle Mitglieder ua. verpflichtet, das am 8. März 2014 neu gefasste Kirchengesetz der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen zur Regelung der Arbeitsbedingungen in Einrichtungen der Diakonie (ARRG-D nF) und mit ihm das Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland (ARGG-EKD) anzuerkennen und zu beachten. Die schon bisher in § 9 Abs. 4 der Satzung vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten blieben erhalten.
5
Nach § 2 Abs. 1 iVm. § 3 ARRG-D nF haben die Rechtsträger der Diakonie mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Arbeitsvertrag die von dem Diakonischen Dienstgeberverband Niedersachsen e.V. (DDN) geschlossenen einschlägigen Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung zu vereinbaren. Hiervon abweichend hat ein Rechtsträger der Diakonie jedoch nach § 2 Abs. 2 ARRG-D nF die AVR-DD anzuwenden, wenn er diese bis zum Inkrafttreten des ARRG-D nF einheitlich angewandt hatte. Nach § 2 Abs. 3 ARRG-D nF dürfen Rechtsträger der Diakonie auf dem Gebiet der Kirchen der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen ein anderes kirchliches Arbeitsrecht als das nach Abs. 1 oder Abs. 2 des § 2 ARRG-D nF bestimmte nur anwenden, wenn die schriftliche Zustimmung der jeweils zuständigen Tarifvertragsparteien nach § 3 ARRG-D nF vorliegt.
6
Nach § 4 ARGG-EKD in der Fassung des Gesetzes vom 13. November 2013 dürfen Arbeitsverträge nur auf der Grundlage dieses Kirchengesetzes geschlossen werden. Für die Arbeitsverträge sind danach entweder die im Verfahren der Arbeitsrechtsregelung durch Arbeitsrechtliche Kommissionen oder die im Verfahren kirchengemäßer Tarifverträge getroffenen Regelungen verbindlich. Auf dieser Grundlage getroffene Arbeitsrechtsregelungen sind für den Dienstgeber verbindlich. Von ihnen darf nicht zu Lasten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen abgewichen werden. Ergänzende Regelungen der Gliedkirchen müssen dies gewährleisten.
7
Das Arbeitsverhältnis der Parteien gründete sich auf einen ursprünglich bis zum 28. Februar 2015 befristeten Arbeitsvertrag vom 23. Januar 2014. Demnach trat die Klägerin zum 17. Februar 2014 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 11 Stunden in den Dienst der Beklagten. Der Arbeitsvertrag lautete auszugsweise wie folgt:
„Arbeitsvertrag
…
3.
…
Die Gewährung des Jahresurlaubs richtet sich:
☒ nach den Bestimmungen des AVR-EKD
☐ nach der beim Arbeitgeber üblichen Regelung.
…
4.
Höhe und Zusammensetzung der Vergütung richten sich:
☐ nach den Bestimmungen des
☐ nach der üblichen Regelung;
☐ nach der hier folgenden Vereinbarung.
Anerkannt werden Monate förderlicher Vorzeit in der im Arbeitsvertrag bezeichneten Tätigkeit.
Im Einzelnen gilt:
☐ Das Arbeitsentgelt erfolgt nach Entgeltgruppe 3 des AVR-EKD in der Stufe
☒
Einarbeitungs-stufe
/ ☐ Basisstufe
/ ☐
Erfahrungsstufe
☐ Stundenlohn EUR
Familienstand bzw. Zuschlagsberechtigung der Kinder müssen nachgewiesen werden.
5.
Die Bestimmungen der Ziffer 4 sollen sich mit Wirkung ab wie folgt ändern:
…
16.
Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden. Lehnt die Gegenseite den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von drei Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich erhoben wird.
17.
Zusätzlich wird vereinbart:
…
☒
Im Stundenlohn ist insbesondere die Jahressonderzahlung anteilmäßig enthalten.“
8
Unter Ziff. 5 des Arbeitsvertrags war keine Änderung der unter Ziff. 4 getroffenen Abrede vorgesehen.
9
Ebenfalls unter dem 23. Januar 2014 trafen die Parteien unter der Überschrift „Änderung der Arbeitsbedingungen mit Wirkung ab Juli 2011 bis Dezember 2015“ eine weitere Vereinbarung. Diese lautet ua. wie folgt:
„1.
In der Zeit vom 01.07.2011 bis 31.12.2015 erhöht sich mein monatliches Entgelt um jeweils 1,25 % jeweils zum 1.7. dieser Jahre. Weitere Erhöhungen des monatlichen Entgeltes finden nicht statt.
2.
Ein Anspruch auf Jahressonderzuwendung besteht nur zur Hälfte; die zweite Hälfte kann für 2011 bis 2015 auch dann nicht beansprucht werden, wenn das Betriebsergebnis positiv sein sollte.
Die damit nicht zur Auszahlung an mich gelangenden Gehaltsanteile stelle ich meinem Arbeitgeber, der Diakonie A gGmbH, uneingeschränkt zur Verfügung.
Ich erkläre hiermit ausdrücklich, dass ich diese Vereinbarung freiwillig und ohne Zwang unterschreibe.
Alle sonstigen Punkte des Arbeitsvertrages sowie bereits getroffene Zusatzvereinbarungen behalten ihre Gültigkeit, sofern diese hiermit nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden.“
10
Mit Zusatzvereinbarungen vom 25. Juli 2014 und 16. Februar 2015 vereinbarten die Parteien eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 25 Stunden sowie Verlängerungen des Arbeitsverhältnisses letztlich bis zum 31. Januar 2016. Alle sonstigen Punkte des Arbeitsvertrags sowie bereits getroffene Zusatzvereinbarungen behielten ihre Gültigkeit. Zudem wurde in den beiden Zusatzvereinbarungen die bereits im ursprünglichen Arbeitsvertrag vom 23. Januar 2014 enthaltene Ausschlussfristenregelung nochmals wiedergegeben.
11
Die Klägerin wurde entsprechend Ziff. 4 des Arbeitsvertrags vom 23. Januar 2014 nach Entgeltgruppe 3 AVR-DD vergütet. Entsprechend ihrer Verpflichtung aus Nr. 1 der Änderung der Arbeitsbedingungen vom 23. Januar 2014 erhöhte die Beklagte das Entgelt zum 1. Juli 2014 und 1. Juli 2015. Dies blieb unter den Entgeltsteigerungen, die für die Vergütung nach AVR-DD von der Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen wurden.
12
Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 29. Oktober 2015 forderte die Klägerin vergeblich rückwirkend eine vollumfängliche Vergütung nach Maßgabe der AVR-DD einschließlich der in Anlage 14 AVR-DD vorgesehenen Jahressonderzahlung. Nach Anlage 14 AVR-DD erhalten die Beschäftigten, die sich am 1. November eines Jahres in einem Beschäftigungsverhältnis befinden, das mindestens bis zum 31. Dezember des Jahres besteht, eine Jahressonderzahlung, deren Höhe der Durchschnittssumme bestimmter Bezüge der Monate Januar bis einschließlich Oktober des Jahres entspricht. Die erste Hälfte der Jahressonderzahlung wird im November des laufenden Jahres geleistet, die zweite Hälfte im Juni des Folgejahres. Die Höhe der Jahressonderzahlung kann sich abhängig vom Betriebsergebnis der jeweiligen Einrichtung verringern. Für das Jahr 2014 verlangte die Klägerin im Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 29. Oktober 2015 bezogen auf die Monate November 2014 und Juni 2015 erfolglos eine hälftige Jahressonderzahlung von jeweils 457,03 Euro brutto, dh. insgesamt 914,06 Euro brutto.
13
Mit ihrer Klage vom 12. Februar 2016 hat die Klägerin ihre Ansprüche ab Oktober 2014 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht. Dies hat eine Jahressonderzahlung für das Jahr 2015 in Höhe von insgesamt 1.259,58 Euro brutto umfasst, welche zur Hälfte (jeweils 629,79 Euro brutto) auf die Monate November 2015 und Januar 2016 aufgeteilt wurde. Daraufhin hat die Beklagte im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens für das Jahr 2015 eine hälftige Jahressonderzahlung in Höhe von 509,93 Euro brutto auf Grundlage der vertraglich vorgesehenen Vergütung gezahlt.
14
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr habe eine dynamisierte Vergütung einschließlich einer Jahressonderzahlung nach den Vorgaben der AVR-DD zugestanden. Der ursprüngliche Arbeitsvertrag vom 23. Januar 2014 sehe uneingeschränkt eine Vergütung nach Entgeltgruppe 3 AVR vor. Die am selben Tag vereinbarte Abänderung sei unwirksam. Es handle sich um überraschende Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen iSd. § 305c Abs. 1 BGB. Zudem sei die Änderungsvereinbarung intransparent. Es sei nicht hinreichend erkennbar, dass sie benachteiligende Regelungen enthalte.
15
Die vertragliche Vergütungsvereinbarung sei auch sittenwidrig iSd. § 138 BGB und unwirksam, weil sie gegen kirchenrechtliche Vorgaben, an welche die Beklagte nach der Satzung des Diakonischen Werks gebunden sei, verstoße. Die Beklagte wende weder die einschlägigen kirchlichen Tarifverträge noch die AVR-DD vollumfänglich an. Die von ihr vorgesehenen vertraglichen Vergütungsregelungen seien weder mit den Grundgedanken der Diakonie noch mit denen des kirchlichen Arbeitsrechts, insbesondere mit dem Leitbild der Dienstgemeinschaft, vereinbar. Die Beklagte berufe sich auf eine arbeitsvertragliche Regelung, obwohl sie durch ihre Zugehörigkeit zum Diakonischen Werk den Eindruck erwecke, sich nach den kirchlichen Vorgaben zu richten. Sie handle damit rechtsmissbräuchlich iSd. § 242 BGB. Ihr Vorgehen entspreche nicht der Verkehrssitte.
16
Durch den Verstoß gegen die Satzung des Diakonischen Werks und die Nichtumsetzung der kirchlichen Vorschriften habe die Beklagte sich jedenfalls wegen Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis schadensersatzpflichtig gemacht. Die Regelungen des ARRG-D stellten Schutznormen iSd. § 823 Abs. 2 BGB dar, da sie ähnlich wie sozialversicherungsrechtliche Normen auch den Schutz des einzelnen Beschäftigten verfolgten. Kirchenrechtliche Vorgaben sollten einheitliche Vergütungsbedingungen im Bereich der Diakonie sichern.
17
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 4.714,44 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2016 zu zahlen.
18
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Nach den vertraglichen Regelungen stehe der Klägerin keine dynamische Vergütung nach den AVR-DD zu. Die Vertragsgestaltung sei weder überraschend noch intransparent. Ein Verstoß gegen kirchen- oder satzungsrechtliche Vorgaben sei für die geltend gemachten Vergütungsansprüche der Klägerin ohne Bedeutung. Die kirchengesetzlichen Vorgaben hätten ebenso wie die Regelungen der AVR-DD keine normative Wirkung auf die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten. Die Satzung des Diakonischen Werks binde nur die Mitglieder des Diakonischen Werks und entfalte keine Wirkung zu Gunsten der dort Beschäftigten. Etwaige Ansprüche der Klägerin seien ohnehin nach der vertraglich vereinbarten Ausschlussfrist jedenfalls teilweise verfallen.
19
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
20
Die Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Differenzvergütung.
21
I. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass die Beklagte während der Dauer des Arbeitsverhältnisses das Tabellenentgelt der Entgeltgruppe 3 AVR-DD einschließlich der in der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 vorgesehenen Erhöhungen zum 1. Juli 2014 und 1. Juli 2015 bezahlt hat. Damit wurden die vertraglich begründeten Entgeltansprüche der Klägerin bezogen auf das Tabellenentgelt erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB). Für weiter gehende Entgeltsteigerungen bestand keine Anspruchsgrundlage.
22
1. Die Klägerin hatte keinen vertraglichen Anspruch auf Entgeltsteigerungen, die sich aus einer dynamischen Anwendung der AVR-DD ergeben.
23
a) Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen wie den AVR-DD um Allgemeine Geschäftsbedingungen, welchen mangels normativer Wirkung in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen nur über Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen Wirkung verschafft werden kann (vgl. BAG 23. November 2017 – 6 AZR 683/16 – Rn. 12; 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 – Rn. 107, BAGE 143, 354; 22. Februar 2012 – 4 AZR 24/10 – Rn. 18). Eine normative Wirkung besteht nicht, weil das säkulare Recht für kirchliche Arbeitsrechtsregelungen keine unmittelbare und zwingende Geltung anordnet. Es fehlt eine etwa § 4 Abs. 1 TVG entsprechende Bestimmung (BAG 13. November 2002 – 4 AZR 73/01 – zu I 3 b bb der Gründe, BAGE 103, 353; zur Frage einer normativen Wirkung kirchlicher Dienstvereinbarungen vgl. BAG 22. März 2018 – 6 AZR 835/16 – Rn. 28 ff.).
24
b) Der Inhalt Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist nach einem objektiv-generalisierenden Maßstab zu ermitteln. Sie sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden. Dabei sind die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 705/15 – Rn. 14). Ansatzpunkt für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Diese Grundsätze finden nach ständiger Rechtsprechung auch auf die Auslegung von Bezugnahmeklauseln auf kirchliche Regelungswerke wie Arbeitsvertragsrichtlinien Anwendung (vgl. BAG 22. Juli 2010 – 6 AZR 847/07 – Rn. 12, BAGE 135, 163; 10. Dezember 2008 – 4 AZR 801/07 – Rn. 17, BAGE 129, 1). Bei der Auslegung einer solchen Bezugnahmeklausel ist von der allgemeinen Funktion von Verweisungsklauseln im kirchlichen Arbeitsverhältnis auszugehen. Diese sind grundsätzlich dahin auszulegen, dass sie dem kirchlichen Arbeitsrecht im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis umfassend Geltung verschaffen (vgl. BAG 16. Februar 2012 – 6 AZR 573/10 – Rn. 29 mwN, BAGE 141, 16). Ein Arbeitnehmer, der einen Arbeitsvertrag mit einem kirchlichen Arbeitgeber schließt, kann davon ausgehen, dass sein Arbeitgeber mit einer im Vertrag enthaltenen dynamischen Bezugnahmeklausel das spezifisch kirchliche Vertragsrecht in seiner jeweiligen Fassung zum Gegenstand des Arbeitsverhältnisses machen und damit idR kirchenrechtlichen Geboten genügen will. Typischerweise liegt es auch im Interesse beider Vertragsparteien, dass das kirchliche Arbeitsrecht durch eine solche Klausel in seiner jeweiligen Fassung zur Anwendung gebracht wird (vgl. BAG 23. November 2017 – 6 AZR 683/16 – Rn. 12; 28. Juni 2012 – 6 AZR 217/11 – Rn. 40 ff., BAGE 142, 247). Dies gilt auch bezüglich der Anwendbarkeit des kirchlichen Mitarbeitervertretungsrechts und der auf dessen Grundlage geschlossenen Dienstvereinbarungen (BAG 22. März 2018 – 6 AZR 835/16 – Rn. 47 ff.).
25
c) Eine solche Bezugnahme ist hier nicht erfolgt. Die Parteien haben unter Ziff. 3 und Ziff. 4 des Arbeitsvertrags vom 23. Januar 2014 zwar die Gewährung des Jahresurlaubs nach den Bestimmungen der AVR-EKD (nunmehr AVR-DD) und eine Vergütung nach deren Entgeltgruppe 3 vereinbart. Hierbei handelt es sich aber nur um eine punktuelle Inbezugnahme. Bezüglich der Entgeltsteigerungen haben die Parteien mit der „Änderung der Arbeitsbedingungen“ vom 23. Januar 2014 eine Abweichung von den AVR-DD vorgenommen. Diese hält einer Rechtskontrolle stand.
26
aa) Die in Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 enthaltene Allgemeine Geschäftsbedingung zur Entgeltsteigerung ist keine überraschende Klausel iSd. § 305c Abs. 1 BGB und nicht intransparent iSd. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
27
(1) Bei beiden Verträgen vom 23. Januar 2014 handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen. Darauf lässt schon das äußere Erscheinungsbild der formularmäßigen Vertragsgestaltung schließen (vgl. BAG 25. Juni 2015 – 6 AZR 383/14 – Rn. 23, BAGE 152, 82). Bei der Änderungsvereinbarung wird der Formularcharakter auch dadurch deutlich, dass eine Änderung der Arbeitsbedingungen „mit Wirkung ab Juli 2011 bis Dezember 2015“ vereinbart wurde, obwohl die Klägerin erst zum 17. Februar 2014 und zunächst befristet bis zum 28. Februar 2015 eingestellt wurde.
28
(2) Zu Gunsten der Klägerin kann unterstellt werden, dass die in Ziff. 4 des Arbeitsvertrags vom 23. Januar 2014 getroffene Vergütungsabrede für sich genommen als dynamische Verweisung auf die Entgeltgruppe 3 AVR-DD zu verstehen ist und die von der Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossenen Entgeltsteigerungen daher Teil der geschuldeten Vergütung gewesen wären (zum regelmäßigen Verständnis einer Bezugnahme als dynamische Verweisung vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 4 AZR 65/11 – Rn. 25; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 206 Rn. 31).
29
(3) Eine solche dynamische Verweisung wurde aber durch Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 abgeändert. Entgeltsteigerungen sollten unabhängig von den Beschlüssen der Arbeitsrechtlichen Kommission nur um 1,25 % zum jeweils 1. Juli der Jahre 2014 und 2015 stattfinden. Diese Vereinbarung ist wirksam.
30
(a) Diese Regelung ist keine überraschende Klausel iSd. § 305c Abs. 1 BGB. Sie wurde zum Vertragsbestandteil.
31
(aa) Nach § 305c Abs. 1 BGB werden Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags, so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Vertragsbestandteil. Überraschenden Klauseln muss ein „Überrumpelungseffekt“ innewohnen. Zwischen den durch die Umstände bei Vertragsschluss begründeten Erwartungen und dem tatsächlichen Vertragsinhalt muss ein deutlicher Widerspruch bestehen. Da sich das Überraschungsmoment auch aus dem Erscheinungsbild des Vertrags ergeben kann, ist es möglich, dass auch das Unterbringen einer Klausel an einer unerwarteten Stelle im Text sie deswegen als Überraschungsklausel erscheinen lässt. Das Überraschungsmoment ist umso eher zu bejahen, je belastender die Bestimmung ist. Im Einzelfall muss der Verwender darauf besonders hinweisen oder die Klausel drucktechnisch hervorheben (BAG 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 71 mwN; zum subjektiven Überraschungsmoment vgl. auch: BAG 19. März 2014 – 5 AZR 252/12 (B) – Rn. 59, BAGE 147, 342; Hoefs in Clemenz/Kreft/Krause AGB-Arbeitsrecht § 305c Rn. 10; Däubler/Bonin/Deinert/Däubler AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht 4. Aufl. § 305c Rn. 13; HWK/Gotthardt/Roloff 7. Aufl. § 305c BGB Rn. 4).
32
(bb) Ein solches Überraschungsmoment ist hier nicht gegeben. Dies gilt auch bei Berücksichtigung des Umstands, dass Ziff. 5 des ursprünglichen Vertrags vom 23. Januar 2014 keine Änderung der voranstehenden Entgeltabrede vorsieht, weil der hierfür vorgesehene Freiraum nicht ausgefüllt wurde. Inhaltlich ist es bei einer entgeltgruppenbezogenen Vergütungsabrede nicht überraschend, dass die Entgelterhöhungen für einen bestimmten Zeitraum gesondert geregelt werden. Es handelt sich um unterschiedliche Regelungsmaterien. Dem wird die hier vorgenommene Vertragsgestaltung gerecht. Die abweichende Regelung in Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ist nicht unerwartet in derselben Vertragsurkunde oder in einem Anhang enthalten, sondern Teil einer gesonderten Vereinbarung. Durch die Verwendung zweier Vertragsformulare ergibt sich das Bild einer Grundlagenregelung (Vergütung nach Entgeltgruppe 3 AVR-DD) in Verbindung mit einer Sonderregelung ua. bezüglich der Entgeltsteigerung. Es mag ungewöhnlich sein, dass ein Arbeitsvertrag noch am Tag seines Abschlusses abgeändert wird. Eine Überrumpelung ergibt sich hieraus aber vorliegend nicht. Durch die gesonderte Vertragsurkunde wurde vielmehr auf die Bedeutung der besonderen Vergütungsregelungen hingewiesen. Selbst wenn bei Abschluss eines Arbeitsvertrags mit einem kirchlichen Arbeitgeber grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass kirchliches Arbeitsrecht zur Anwendung kommen soll, ist es nicht ausgeschlossen, dass der kirchliche Arbeitgeber eigenständige Vertragsinhalte vereinbaren will. § 305c Abs. 1 BGB schränkt diese Vertragsfreiheit nicht ein.
33
(b) Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ist auch nicht intransparent iSd. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
34
(aa) Das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verpflichtet den Verwender Allgemeiner Geschäftsbedingungen, die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar, verständlich und durchschaubar darzustellen (BAG 24. August 2017 – 8 AZR 378/16 – Rn. 18). Dabei ist zwischen dem Gebot der Abschlusstransparenz und dem der Abwicklungstransparenz zu differenzieren. Erstere soll die zutreffende Information des Arbeitnehmers über die Umstände sicherstellen, die es ihm ermöglichen, die Vor- und Nachteile der beabsichtigten vertraglichen Abreden für den Vertragsabschluss zu beurteilen. Letztere soll die Wahrung seiner Rechte während der Vertragsdurchführung gewährleisten. Bei den an eine hinreichende Abschlusstransparenz zu stellenden Anforderungen ist zu berücksichtigen, dass nach allgemeiner Ansicht eine Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Bereich der Hauptleistung unterbleibt (vgl. nur BAG 12. März 2015 – 6 AZR 82/14 – Rn. 23, BAGE 151, 108) und insoweit gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB nur eine Transparenzkontrolle stattfindet (vgl. BAG 21. April 2016 – 8 AZR 474/14 – Rn. 61). Die bei Begründung des Arbeitsverhältnisses gestellten Allgemeinen Geschäftsbedingungen müssen deshalb die tatbestandlichen Voraussetzungen und den Umfang der Hauptleistungspflichten des Arbeitsverhältnisses so genau beschreiben, dass der Arbeitnehmer die konkret geschuldete Arbeit, den Arbeitszeitumfang und die Höhe der dafür vom Arbeitgeber nach Vertragsschluss zu zahlenden Vergütung entnehmen kann. Sonst kann er bei Vertragsschluss nicht erkennen, „was auf ihn zukommt“ (BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 671/15 – Rn. 22 mwN, BAGE 158, 81).
35
(bb) Diesem Prüfungsmaßstab hält Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 stand. Der Wortlaut ist eindeutig. Sowohl die Höhe der Entgeltsteigerung als auch ihr Zeitpunkt sind benannt. Der angegebene Zeitraum („vom 01.07.2011 bis 31.12.2015“) ist zwar offensichtlich nicht auf das ursprünglich bis zum 28. Februar 2015 befristete Arbeitsverhältnis der Klägerin zugeschnitten, er umfasst aber zweifelsfrei die gesamte zunächst vereinbarte Dauer des Arbeitsverhältnisses. Die Klägerin wurde auch nicht darüber im Unklaren gelassen, dass diese Entgeltsteigerungen im Vergleich zu den regulären Steigerungen der AVR-Vergütung voraussichtlich nachteilig sind. Dies ergibt sich nicht nur aus der Klarstellung, dass „weitere Erhöhungen des monatlichen Entgelts nicht stattfinden“. Noch deutlicher wird die Nachteiligkeit durch den Passus, dass die nicht zur Auszahlung gelangenden Gehaltsanteile der Arbeitgeberseite „uneingeschränkt zur Verfügung gestellt“ würden. Eine nicht zu beanspruchende Vergütung kann zwar niemandem „zur Verfügung gestellt werden“. Die Formulierung macht aber mehr als deutlich, dass hier eine Art von Sanierungsbeitrag geleistet werden soll und deshalb eine Abweichung von der regulären AVR-Vergütung vereinbart wird. Eine solche Vergütung wurde damit nicht zum Vertragsinhalt (vgl. demgegenüber zum Fall eines Verzichts auf eine vertraglich bereits begründete Rechtsposition BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 478/15 – Rn. 30, BAGE 157, 284).
36
bb) Eine Unwirksamkeit von Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ergibt sich auch nicht aus dem kirchlichen Arbeitsrecht. Die Beklagte konnte als kirchlicher Arbeitgeber in den durch das säkulare Recht gesetzten Grenzen Arbeitsverträge abschließen, die keine oder nur eine eingeschränkte Bezugnahme auf kirchliches Arbeitsrecht wie die AVR-DD vorsahen.
37
(1) Das originäre Kirchenrecht ist Ausdruck des nach Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 90, BVerfGE 137, 273; zu den Rechtsquellen des evangelischen Kirchenrechts vgl. Anke in Anke/de Wall/Heinig HevKR § 4 Rn. 25 ff.). Kirchengesetzliche Regelungen wie § 2 ARRG-D nF binden den kirchlichen Arbeitgeber als Normadressaten im kirchlichen Rechtskreis. Der kirchliche Arbeitgeber muss bei einer Nichtbeachtung ggf. kirchenrechtliche Konsequenzen befürchten und mit einer Zustimmungsverweigerung der Mitarbeitervertretung zur Eingruppierung rechnen (vgl. für die katholische Kirche: KAGH 12. Oktober 2007 – M 03/07 – ZMV 2008, 29; 30. November 2006 – M 02/06 – ZMV 2007, 81; Eder ZTR 2018, 191; für die evangelische Kirche KGH.EKD 10. Dezember 2012 – II-0124/U5-12 – ZMV 2013, 210; zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit einer nicht einschlägigen Arbeitsrechtsregelung vgl. KGH.EKD 8. September 2011 – I-0124/S67-10 – ZMV 2011, 324).
38
(2) Eine Verletzung kirchengesetzlicher Vorgaben, welche die Schaffung einer vertraglichen Grundlage für die vollumfängliche Geltung des kirchlichen Arbeitsrechts anordnen, berührt jedoch per se nicht die Wirksamkeit einer anderslautenden vertraglichen Vereinbarung. Die von einem kirchlichen Arbeitgeber abgeschlossenen Arbeitsverträge sind nicht (teil-)unwirksam, sofern sie die Vorgabe der Inbezugnahme kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen missachten und eigenständige Regelungen vorsehen (vgl. zum Fall einer unter der auflösenden Bedingung einer kirchlichen Ausnahmegenehmigung stehenden Bezugnahme auf eine vom kirchlichen Arbeitgeber selbstgesetzte Arbeitsordnung BAG 24. Februar 2011 – 6 AZR 634/09 – Rn. 22 ff.). Das säkulare Recht ordnet die Unwirksamkeit einer vertraglichen Regelung aus diesem Grund nicht an. Die kirchengesetzlichen Vorgaben können eine Anwendung der einschlägigen Arbeitsrechtsregelungen nicht erzwingen, da die Kirchen nicht die Rechtsmacht haben, eine normative Wirkung dieser Regelungen im privaten Arbeitsverhältnis anzuordnen (vgl. BAG 16. Februar 2012 – 6 AZR 592/10 – Rn. 16; zum kirchlichen Mitarbeitervertretungsrecht vgl. BAG 22. März 2018 – 6 AZR 835/16 – Rn. 28 ff.). Ein Arbeitnehmer, mit dem eine nicht den kirchlichen Regelungen entsprechende Vereinbarung geschlossen wird, kann sich deshalb nicht darauf berufen, die Kirche habe sich durch die Einrichtung des Arbeitsrechtsregelungssystems darauf festgelegt, dass nicht zu seinem Nachteil von der kirchlichen Arbeitsvertragsordnung abgewichen werden dürfe (so aber Richardi Arbeitsrecht in der Kirche 7. Aufl. § 15 Rn. 69, 70). Die staatliche Arbeitsgerichtsbarkeit hat nicht die Aufgabe, im Urteilsverfahren für die Aufrechterhaltung der kirchlichen Ordnung zu sorgen. Dies bleibt den nach Kirchenrecht zuständigen kirchlichen Autoritäten vorbehalten (vgl. Eder ZTR 2018, 191 f.).
39
cc) Ein Verstoß der Vertragspraxis der Beklagten gegen die Satzung des Diakonischen Werks hat bezogen auf die streitgegenständlichen Entgeltansprüche der Klägerin keine Auswirkungen. Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ist nicht wegen eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 2 Buchst. b der Satzung des Diakonischen Werks unwirksam. Bei der Satzung eines eingetragenen Vereins handelt es sich zwar um staatliches Recht. Dessen Wirkung ist jedoch grundsätzlich auf die Vereinsmitglieder beschränkt (vgl. BeckOK BGB/Schöpflin Stand 1. November 2017 § 25 Rn. 15 ff.; Staudinger/Weick (2005) § 25 Rn. 9 f.). Die Frage, ob eine Satzungsbestimmung analog § 328 BGB als Regelung zu Gunsten Dritter ausgelegt werden kann und hierdurch Ansprüche gegen den Verein oder seine Mitglieder begründet werden können, stellt sich vorliegend nicht. § 9 Abs. 2 Buchst. b der Satzung des Diakonischen Werks kann weder in deren Fassung vom 25. Oktober 2013 noch in der vom 25. Juni 2014 entnommen werden, dass dadurch unmittelbar Arbeitnehmerrechte begründet werden sollen, welche gegenüber den Vereinsmitgliedern als Arbeitgeber eingefordert werden können. Dies gilt auch bei Berücksichtigung des Umstands, dass § 9 Abs. 2 Buchst. b der Satzung in der Fassung vom 25. Juni 2014 die Beachtung von § 4 ARGG-EKD verlangt, der eine Abweichung zu Lasten der Beschäftigten verbietet. Die Satzung verpflichtet offensichtlich nur die Mitglieder mit dem Zweck, die kirchenrechtliche Ordnung zu wahren und den kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen im Sinne einer einheitlichen Handhabung Geltung zu verschaffen. Für den Fall eines Verstoßes sieht die Satzung in § 9 Abs. 4 entsprechende Sanktionen des Diakonischen Werks vor. Dementsprechend hat der Kirchengerichtshof der EKD bezogen auf eine Vorgängerregelung des § 9 Abs. 2 Buchst. b der Satzung des Diakonischen Werks entschieden, dass die Satzungsregeln des Diakonischen Werks, dem die betreffende Dienststelle angehört, keine individualschützende Drittwirkung haben (KGH.EKD 8. September 2011 – I-0124/S67-10 – ZMV 2011, 324; vgl. zu diesem Fall auch BAG 15. Januar 2014 – 10 AZR 403/13 – Rn. 34 ff.).
40
dd) Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ist auch nicht gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig.
41
(1) Nach § 138 Abs. 1 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, nichtig. Das ist der Fall, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmenden Gesamtcharakter mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren ist. Dies ist aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung aller zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorliegenden relevanten Umstände zu beurteilen (BAG 21. April 2016 – 8 AZR 474/14 – Rn. 31).
42
(2) Aus den hier relevanten Umständen lässt sich keine Sittenwidrigkeit von Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ableiten. Es handelt sich um eine für sich genommen nicht zu beanstandende Vereinbarung bezüglich der Vergütungssteigerung, welche die Parteien in Ausübung ihrer Privatautonomie vorgenommen haben. Der Verstoß gegen kirchenrechtliche Vorgaben änderte daran entgegen der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vertretenen Ansicht nichts, selbst wenn die kirchliche Ordnung und deren Wertvorstellungen bei der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen wären (vgl. hierzu Palandt/Ellenberger 77. Aufl. BGB § 138 Rn. 2). Die Beklagte durfte sich als kirchliche Arbeitgeberin des staatlichen Arbeitsrechts zur Gestaltung des Rechtsverhältnisses bedienen. Die Parteien haben sich mit der Vereinbarung einer Vergütung nach Entgeltgruppe 3 AVR-DD an der kirchlich vorgesehenen Grundvergütung orientiert und nur die Entgeltsteigerungen eigenständig festgelegt. Das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ als Maßstab für den Inhalt der guten Sitten (vgl. BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 145/12 – Rn. 48; Staudinger/Sack/Fischinger (2017) § 138 Rn. 57; Erman/Schmidt-Räntsch BGB 15. Aufl. § 138 Rn. 12) ist hierdurch nicht verletzt.
43
2. Der Beklagten ist es nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwehrt, sich auf Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 zu berufen. Entgegen der Auffassung der Revision verletzt die Vertragspraxis der Beklagten auch bei Berücksichtigung ihrer Zugehörigkeit zum Diakonischen Werk die Verkehrssitte iSd. § 242 BGB nicht.
44
a) Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 ist nicht Ausfluss eines institutionellen Rechtsmissbrauchs der Beklagten (vgl. hierzu BAG 18. Juli 2012 – 7 AZR 443/09 – Rn. 38, BAGE 142, 308). Die Beklagte hat lediglich von der Privatautonomie Gebrauch gemacht und eine zulässige Vertragsgestaltung vorgenommen.
45
b) Die Verweigerung der streitgegenständlichen Entgeltsteigerungen ist auch nicht wegen widersprüchlichen Verhaltens der Beklagten treuwidrig. Zwar kann eine Rechtsausübung gemäß § 242 BGB unzulässig sein, wenn sich eine Partei damit in Widerspruch zu ihrem eigenen vorausgegangenen Verhalten setzt und für die andere Partei ein schützenswerter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn sonstige besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (BAG 27. April 2017 – 6 AZR 367/16 – Rn. 31). Dies ist hier aber nicht der Fall. Die Beklagte hat die Vergütung der Klägerin entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen erhöht und keinen Vertrauenstatbestand auf eine höhere Vergütung geschaffen. Ein solcher kann auch nicht allein aus der Zugehörigkeit der Beklagten zum Diakonischen Werk abgeleitet werden. Diese weckte allenfalls Erwartungen, welche bereits mit Vorlage der Vertragsformulare enttäuscht wurden.
46
3. Die Klägerin kann die Differenz, die sich aus einer nach den Beschlüssen der Arbeitsrechtlichen Kommission gesteigerten Vergütung und den gezahlten Beträgen ergibt, auch nicht im Wege des Schadensersatzes verlangen.
47
a) Ein Anspruch aus § 280 Abs. 1 iVm. § 241 Abs. 2 BGB besteht nicht. Die Beklagte hat die Klägerin bezogen auf das Tabellenentgelt der Entgeltgruppe 3 AVR-DD vertragsgemäß vergütet. Eine vertragliche Nebenpflicht zur Vereinbarung und Leistung einer nach den Beschlüssen der Arbeitsrechtlichen Kommission gesteigerten Vergütung bestand entgegen der Ansicht der Revision nicht. Die Klägerin kann aus den kirchen- und satzungsrechtlichen Vorgaben keine individuellen Rechte ableiten. Wie dargestellt, handelt es sich bei diesen Regelungen letztlich um internes Organisationsrecht der Kirche, dessen Nichtbefolgung arbeitsrechtlich allenfalls durch die Mitarbeitervertretung im Rahmen ihrer Mitwirkungsrechte geltend gemacht werden kann. Die von der Revision behauptete Vergleichbarkeit der kirchenrechtlichen Verpflichtungen mit sozialversicherungsrechtlichen Arbeitgeberpflichten besteht nicht. Es handelt sich um völlig unterschiedliche Regelungswerke des kirchlichen und des staatlichen Rechtskreises. Sie stimmen weder hinsichtlich der Regelungsmaterie noch hinsichtlich der Zielsetzung überein.
48
b) Mangels individualrechtlichen Bezugs wurde durch Nr. 1 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 auch kein Schutzgesetz iSd. § 823 Abs. 2 BGB verletzt. Hinsichtlich des Fehlens eines Schutzzweckes der kirchlichen Regelungen wird auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen.
49
II. Die Klägerin hat auch bezogen auf die Jahressonderzahlungen keinen Differenzentgeltanspruch.
50
1. Dabei kann offenbleiben, ob Ziff. 17 des ursprünglichen Arbeitsvertrags vom 23. Januar 2014, wonach die Jahressonderzahlung „im Stundenlohn“ bereits enthalten sein sollte, einem Anspruch auf eine neben dem Tabellenentgelt zu leistende Jahressonderzahlung nach Anlage 14 AVR-DD hätte entgegenstehen können. Die Parteien haben mit Nr. 2 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 eine hinreichend transparente Neuregelung bezüglich der Jahressonderzahlung vorgenommen. Diese bestimmt, dass der Anspruch auf die „Jahressonderzuwendung“, wobei offensichtlich die Jahressonderzahlung nach den AVR-DD gemeint ist, nur zur Hälfte bestehe und die zweite Hälfte auch bei einem positiven Betriebsergebnis nicht beansprucht werden könne. Die Aufteilung in „zwei Hälften“ sowie der Bezug zum Betriebsergebnis entspricht Anlage 14 AVR-DD. Mit Abschluss der Änderungsvereinbarung haben die Parteien somit einen Anspruch der Klägerin auf eine neben dem Tabellenentgelt zu leistende Jahressonderzahlung vorgesehen, deren Höhe jedoch auf die im November des jeweiligen Jahres zu leistende erste Hälfte beschränkt ist. Diese Reduzierung der Ansprüche nach Anlage 14 AVR-DD widerspricht zwar den kirchen- und satzungsrechtlichen Vorgaben. Wie ausgeführt, bewirkt dies aber weder die Unwirksamkeit der Vereinbarung noch werden hierdurch Schadensersatzansprüche ausgelöst.
51
2. Der Klägerin stehen aus Nr. 2 der Änderungsvereinbarung vom 23. Januar 2014 keine weiteren Ansprüche zu.
52
a) Ihr Anspruch auf eine Jahressonderzahlung für das Jahr 2014 ist verfallen.
53
aa) Ziff. 16 des Arbeitsvertrags vom 23. Januar 2014 und die Zusatzvereinbarungen vom 25. Juli 2014 und 16. Februar 2015 enthalten eine identische Ausschlussfristenregelung. Diese sieht – anders als § 45 AVR-DD – auf der ersten Stufe einen Verfall von Ansprüchen vor, welche nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden. Diese vertragliche Regelung ist als Allgemeine Geschäftsbedingung bei einem typisierten Verständnis nicht zu beanstanden (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 17; 28. September 2017 – 8 AZR 67/15 – Rn. 55 ff.; 20. Juni 2013 – 8 AZR 280/12 – Rn. 22). Sie kann hier auch den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht entgegen § 3 Satz 1 MiLoG beschränken, da sich die Jahressonderzahlung für das Jahr 2014 aus Bezügen für das Jahr 2014 errechnet und der seit dem 1. Januar 2015 zu entrichtende Mindestlohn daher nicht betroffen ist. Der den Schutz des Mindestlohnanspruchs bezweckende § 3 Satz 1 MiLoG setzt eine zeitliche Parallelität von arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltansprüchen einerseits und dem Mindestlohnanspruch andererseits voraus (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 20 ff.).
54
bb) Die erste Hälfte der Jahressonderzahlung für das Jahr 2014 war im November 2014 zur Zahlung fällig. Das Geltendmachungsschreiben vom 29. Oktober 2015 konnte die dreimonatige Ausschlussfrist daher nicht wahren.
55
b) Der Anspruch auf die erste Hälfte der Jahressonderzahlung für das Jahr 2015 wurde gemäß § 362 Abs. 1 BGB erfüllt. Die Beklagte hat die sich aus der vertraglichen Vergütungsabrede ergebenden Ansprüche befriedigt, indem sie während des erstinstanzlichen Verfahrens diesbezüglich einen Betrag von 509,93 Euro brutto geleistet hat. Einen auf die Entgeltsteigerungen nach den Beschlüssen der Arbeitsrechtlichen Kommission gestützten Differenzbetrag kann die Klägerin aus den genannten Gründen nicht beanspruchen.
56
III. Die Klägerin hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
M. Geyer
Kohout |
bag_27-19 | 26.06.2019 | 26.06.2019
27/19 - Pauschalvergütung von Überstunden durch Betriebsvereinbarung
Eine tarifvertragsersetzende Gesamtbetriebsvereinbarung zwischen einer Gewerkschaft und ihrem Gesamtbetriebsrat ist unwirksam, soweit sie bestimmt, dass Gewerkschaftssekretäre, die im Rahmen vereinbarter Vertrauensarbeitszeit regelmäßig Mehrarbeit leisten, als Ausgleich hierfür pauschal eine näher bestimmte Anzahl freier Arbeitstage im Kalenderjahr erhalten. Sie bestimmt die Voraussetzungen des Mehrarbeitsausgleichs nicht hinreichend klar und verletzt zudem den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.
Der Kläger ist bei der beklagten Gewerkschaft als Gewerkschaftssekretär mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden beschäftigt. Die Parteien haben „Vertrauensarbeitszeit“ vereinbart, dh. der Kläger hat über Beginn und Ende der Arbeitszeit grundsätzlich selbst zu entscheiden. Auf das Arbeitsverhältnis finden die in Form einer Gesamtbetriebsvereinbarung abgeschlossenen „Allgemeinen Arbeitsbedingungen für die ver.di-Beschäftigten“ (AAB) Anwendung. Diese sehen vor, dass Gewerkschaftssekretäre, die regelmäßig Mehrarbeit leisten, als Ausgleich neun freie Arbeitstage im Kalenderjahr erhalten. Die anderen Beschäftigten haben dagegen für jede geleistete Überstunde Anspruch auf einen Freizeitausgleich von einer Stunde und achtzehn Minuten (= 30 % Überstundenzuschlag) bzw. auf eine entsprechende Überstundenvergütung.
Der Kläger hat für vier Monate, in denen er neben seinen sonstigen Aufgaben in einem Projekt arbeitete, die Vergütung von Überstunden in Höhe von 9.345,84 Euro brutto verlangt. Unter Berufung auf von seinen Vorgesetzten in dieser Zeit abgezeichnete Zeiterfassungsbögen hat er vorgetragen, er habe in diesen Monaten insgesamt 255,77 Überstunden geleistet. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, sämtliche Überstunden des Klägers seien mit den neun Ausgleichstagen nach den AAB abgegolten. Zudem hat sie bestritten, dass der Kläger Überstunden in dem von ihm behaupteten Umfang geleistet habe und diese von ihr angeordnet, gebilligt oder geduldet worden seien.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision des Klägers war vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolgreich. Die AAB sind teilunwirksam, soweit sie für bestimmte Gewerkschaftssekretäre eine Pauschalvergütung von Überstunden vorsehen. Der Anwendungsbereich der Norm verstößt mit der Voraussetzung „regelmäßiger Mehrarbeit“ gegen das Gebot der Normenklarheit, weil für die Beschäftigten nicht hinreichend klar ersichtlich ist, in welchem Fall eine solche anzunehmen ist und in welchem Fall nicht. Außerdem genügt die Regelung nicht dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Eine – wie auch immer geartete – „Regelmäßigkeit“ von Überstunden ist kein taugliches Differenzierungskriterium dafür, ob die Vergütung von Überstunden pauschaliert oder „spitz“ nach den tatsächlich geleisteten Überstunden gezahlt wird. Der Kläger hat deshalb Anspruch auf Vergütung der Mehrarbeitsstunden zzgl. des in den AAB vorgesehenen Zuschlags von 30 %. Über die Höhe der dem Kläger noch zustehenden Vergütung konnte der Senat anhand der bisher getroffenen Feststellungen nicht entscheiden und hat deshalb die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dieses wird nun feststellen müssen, wie viele Überstunden der Kläger im Streitzeitraum tatsächlich geleistet hat.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Juni 2019 – 5 AZR 452/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 12. April 2018 – 3 Sa 221/17 – | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 12. April 2018 – 3 Sa 221/17 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. Wird die Arbeitszeit des Arbeitnehmers (elektronisch) erfasst und zeichnet der Arbeitgeber oder für ihn ein Vorgesetzter des Arbeitnehmers die entsprechenden Arbeitszeitnachweise ab, kann der Arbeitnehmer im Überstundenprozess der ihm obliegenden Darlegungslast für die Leistung von Überstunden schon dadurch genügen, dass er schriftsätzlich die vom Arbeitgeber abgezeichneten Arbeitsstunden und den sich ergebenden Saldo vorträgt.
2. Darauf muss der Arbeitgeber im Rahmen der abgestuften Darlegungslast substantiiert erwidern, dass, aus welchen Gründen und in welchem Umfang die von ihm oder einem für ihn handelnden Vorgesetzten des Arbeitnehmers abgezeichneten Arbeitsstunden nicht geleistet wurden oder der behauptete Saldo sich durch konkret darzulegenden Freizeitausgleich vermindert hat. Anderenfalls gelten die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Arbeitsstunden als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Vergütung von Überstunden.
2
Der Kläger ist bei der beklagten Gewerkschaft ver.di seit dem 1. Januar 2003 als Gewerkschaftssekretär beschäftigt, zuletzt mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden und einem Bruttomonatsgehalt von 5.542,00 Euro. Im Rahmen des Projekts „Perspektive 2015 – ver.di wächst“ war er ab dem 1. Oktober 2015 mit einem Stellenanteil von 50 % befristet in das „Team 5 Recht und Beratung M“ versetzt worden. Im Übrigen behielt er seine sog. Ebenenaufgaben bei.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die in Form einer Gesamtbetriebsvereinbarung abgeschlossenen „Allgemeinen Arbeitsbedingungen für die ver.di-Beschäftigten“ (AAB) Anwendung, deren dynamische Geltung die Parteien überdies arbeitsvertraglich vereinbart haben. Die AAB sehen zu Überstunden Folgendes vor:
„§ 10 Überstunden und Zeitzuschläge
(1)
Überstunden sind auf Anordnung geleistete Arbeitsstunden, die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehen.
(2)
…
(3)
Beschäftigte mit Ausnahme der Gewerkschaftssekretär/innen nach Abs. 5, erhalten für angeordnete und geleistete Überstunden, für Arbeit an Samstagen, Sonn- und Feiertagen sowie für Nachtarbeit einen Freizeitausgleich, der wie folgt zu fakturieren ist:
a)
Überstunden plus 30%
…
(4)
Überstunden sind grundsätzlich durch entsprechende Arbeitsbefreiung auszugleichen; die Arbeitsbefreiung ist möglichst bis zum Ende des nächsten Kalendermonats, spätestens zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ableistung der Überstunden zu erteilen.
Für die Zeit, in der Überstunden ausgeglichen werden, werden das Entgelt und die in Monatsbeträgen festgelegten Zulagen fortgezahlt.
Für jede nicht ausgeglichene Überstunde wird eine Überstundenvergütung (nach § 10 Absatz 3) gezahlt.
(5)
Ausgleichstage für Gewerkschaftssekretär/innen werden nur unter der Voraussetzung regelmäßiger Mehrarbeit und/oder Arbeit zu ungünstigen Zeiten sowie Mehrarbeit an Wochenenden oder Feiertagen gewährt.
Dies gilt ebenso für Sekretär/innen in Einarbeitung.
Der Ausgleich beträgt neun Arbeitstage im Kalenderjahr. Diese sind nicht übertragbar.
…“
4
In einer „Niederschriftserklärung AG“ zu § 10 Abs. 5 AAB heißt es:
„Die Arbeitgeberseite erklärt, der typische Fall, in dem die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind, sei der/die FachbereichssekretärIn im Bezirk, Landesbezirk und der Bundesverwaltung.
Andere Beschäftigte, die den Anspruch geltend machen, müssten mit diesen Beispielen vergleichbare zeitliche Belastungen nachweisen.“
5
Außerdem gibt es eine „gemeinsame Protokollerklärung“ zu § 10 Abs. 5 AAB, die lautet:
„Die Verhandlungsparteien geben folgende gemeinsame Erklärungen zu Protokoll:
…
3.)
zu § 10 Absatz 5
‚Die Parteien sind sich darüber einig, dass Gewerkschaftssekretär / innen, die nicht die Voraussetzungen des Absatz 5 erfüllen, Anspruch auf Überstunden- und Zeitzuschläge nach Absatz 3 und 4 haben.‘“
6
Der Kläger, der als Gewerkschaftssekretär Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit grundsätzlich selbst bestimmen kann, erhält jährlich neun Ausgleichstage nach § 10 Abs. 5 AAB, jedoch keine (weitere) Überstundenvergütung. In den Monaten Januar bis April 2016 hielt er nach Vorgabe der Beklagten seine Arbeitszeit in Zeiterfassungsbögen fest. Diese enthalten neben der täglichen Arbeitszeit – bezogen jeweils auf den Monat – die Sollarbeitszeit, die erbrachte Arbeitszeit und einen Saldo. Letzterer betrug im Januar 2016 88 Stunden und 28 Minuten, im Februar 2016 81 Stunden und 26 Minuten, im März 2016 46 Stunden und 30 Minuten und im April 2016 39 Stunden und 22 Minuten. Die Zeiterfassungsbögen wurden in den ersten beiden Monaten vom Bezirksgeschäftsführer des ver.di-Bezirks M, in den Folgemonaten von dessen Stellvertreterin unter „Datum, Unterschrift: Vorgesetze/r“ abgezeichnet.
7
Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung hat der Kläger mit der am 28. September 2016 anhängig gemachten Klage unter Berufung auf die von seinen Vorgesetzten abgezeichneten Zeiterfassungsbögen vorgetragen, er habe im Zeitraum Januar bis April 2016 insgesamt 255,77 Überstunden geleistet. Er hat gemeint, die Auslegung von § 10 Abs. 3 bis Abs. 5 AAB ergebe, dass Abs. 5 nur die Zuschläge aus Abs. 3 pauschaliere, Gewerkschaftssekretäre wie er indes wie die anderen Beschäftigten nach Abs. 4 Anspruch auf Vergütung von Überstunden hätten. Eine andere Auslegung verletze den Bestimmtheitsgrundsatz und verstoße gegen Art. 3 GG.
8
Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 9.345,84 Euro brutto nebst Zinsen nach bestimmter Staffelung zu zahlen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Ausgleich für Mehrarbeit in Höhe von 255,77 Stunden zu gewähren.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, bei Gewerkschaftssekretären wie dem Kläger seien sämtliche Überstunden mit den neun Ausgleichstagen nach § 10 Abs. 5 AAB abgegolten. Der Kläger leiste Dienste höherer Art und könne im Wesentlichen seine Arbeitszeit frei einteilen und selbst Prioritäten setzen. Zudem hat die Beklagte bestritten, dass der Kläger Überstunden in dem von ihm behaupteten Umfang geleistet habe und diese von ihr angeordnet, gebilligt oder geduldet worden seien.
10
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter, während die Beklagte die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
11
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts, § 10 Abs. 5 AAB schließe für unter die Norm fallende Gewerkschaftssekretäre eine über die Pauschalvergütung von Überstunden in Form von neun Ausgleichstagen hinausgehende Überstundenvergütung wirksam aus, kann die Klage nicht abgewiesen werden. Vielmehr hat der Kläger für die im Streitzeitraum geleisteten Überstunden Anspruch auf Vergütung nach § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AAB. Über dessen Höhe kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
12
I. Die Klage ist im Hauptantrag zulässig, insbesondere streitgegenständlich hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger begehrt für den Streitzeitraum Januar bis April 2016 die Vergütung von insgesamt 255,77 Überstunden in Form von Geld, hilfsweise in Form von Zeitausgleich. Er hat den Umfang der nach seinem Vorbringen geleisteten Überstunden anhand der auf den Zeiterfassungsbögen festgehaltenen Salden monatlich quantifiziert. Eine weitere Detailierung war im Rahmen der Zulässigkeit nicht erforderlich, denn es handelt sich für den streitbefangenen Zeitraum um eine abschließende Gesamtklage.
13
II. Die Klage ist nicht im Umfang von neun Ausgleichstagen, die bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden (§ 9 Abs. 1 AAB) 63 Arbeitsstunden und bei dem vom Kläger angesetzten Stundensatz (36,54 Euro brutto) rechnerisch 2.302,02 Euro brutto entsprechen, unschlüssig.
14
Zwar hat der Kläger nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts jährlich und auch im Jahr 2016 neun Ausgleichstage nach § 10 Abs. 5 AAB erhalten. Doch muss er sich diese nicht von der Klageforderung abziehen lassen. Denn nach seinem Verständnis betrifft § 10 Abs. 5 AAB nur den Überstundenzuschlag nach § 10 Abs. 3 Buchst. a AAB. Für die geltend gemachten 255,77 Überstunden würde rechnerisch ein (Zeit-)Zuschlag von 30%, also von 76,73 Stunden anfallen, die den „Stundenwert“ der neun Ausgleichstage überschreiten. Entsprechend seiner Rechtsauffassung macht der Kläger konsequent nur die (Grund-)Vergütung für die von ihm behauptete Überstundenleistung, nicht aber den in § 10 Abs. 3 Buchst. a AAB vorgesehenen (Zeit-)Zuschlag geltend.
15
III. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts, § 10 Abs. 5 AAB schließe für unter die Norm fallende Gewerkschaftssekretäre eine über die Pauschalvergütung von Überstunden in Form von neun Ausgleichstagen hinausgehende Überstundenvergütung nach § 10 Abs. 3 AAB wirksam aus, kann die Klage nicht abgewiesen werden.
16
1. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht allerdings angenommen, der Kläger könne den Anspruch auf Überstundenvergütung nicht auf § 10 Abs. 4 AAB stützen. Das ergibt die Auslegung des § 10 Abs. 3 bis Abs. 5 AAB (zu den Grundsätzen der Auslegung einer Betriebsvereinbarung vgl. etwa BAG 23. Oktober 2018 – 1 ABR 10/17 – Rn. 26 mwN).
17
a) Grundnorm für die Vergütung von Überstunden ist § 10 Abs. 3 AAB mit der Bestimmung, dass die Beschäftigten (ua.) für angeordnete und geleistete Überstunden einen Freizeitausgleich erhalten, der in bestimmter Weise („plus 30%“) zu fakturieren ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Beschäftigten für jede Überstunde einen Freizeitausgleich von einer Stunde und 18 Minuten erhalten. § 10 Abs. 3 AAB ist damit einheitliche Anspruchsgrundlage für die Überstundenvergütung.
18
b) Daran anknüpfend regelt § 10 Abs. 4 AAB die Modalitäten der Überstundenvergütung nach Abs. 3. Vorrangig ist danach ein Ausgleich durch „entsprechende Arbeitsbefreiung“ – also dem nach Abs. 3 ermittelten fakturierten Freizeitausgleich – innerhalb bestimmter Fristen; weiter wird festgelegt, welche Vergütung für die Zeit der Arbeitsbefreiung zu zahlen ist. Schließlich bestimmt § 10 Abs. 4 AAB die Rechtsfolge für den Fall, dass Überstunden nicht durch Arbeitsbefreiung innerhalb der vorgesehenen Fristen ausgeglichen werden (können). Dann ist „die Überstundenvergütung“ zu zahlen, wobei der Klammerzusatz „nach § 10 Absatz 3“ belegt, dass die Betriebsparteien die Anspruchsgrundlage für die Überstundenvergütung dort, und nicht in § 10 Abs. 4 AAB verorten.
19
c) Von diesem „Regelfall“ werden Gewerkschaftssekretäre, die die Voraussetzungen des § 10 Abs. 5 AAB erfüllen, ausgenommen. Sie erhalten anstelle eines „spitz“ gerechneten Freizeitausgleichs (bzw. einem diesem entsprechenden Geldbetrag) für Überstunden eine pauschale Vergütung in Form von neun Ausgleichstagen im Kalenderjahr, an denen sie unter Fortzahlung der Vergütung von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt sind.
20
d) Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass der Kläger ein Gewerkschaftssekretär ist, der die Voraussetzungen des § 10 Abs. 5 AAB erfüllt. Damit wäre – ist die Norm wirksam – eine über die Pauschalvergütung von Überstunden in Form von neun Ausgleichstagen jährlich hinausgehende Überstundenvergütung ausgeschlossen.
21
2. § 10 Abs. 5 AAB ist indes unwirksam. Dies hat das Landesarbeitsgericht verkannt.
22
a) Bei den AAB handelt es sich um eine – tarifvertragsersetzende – Gesamtbetriebsvereinbarung (zu deren Zulässigkeit vgl. BAG 10. Dezember 2013 – 1 ABR 39/12 – Rn. 44 mwN, BAGE 147, 19) zwischen dem ver.di-Bundesvorstand und dem Gesamtbetriebsrat von ver.di. Die in ihr enthaltenen Normen (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) müssen dem Gebot der Bestimmtheit und Normenklarheit genügen (vgl. BAG 26. Mai 2009 – 1 ABR 12/08 – Rn. 17; 11. Dezember 2018 – 1 ABR 12/17 – Rn. 18 mwN; zum Gebot der Normenklarheit bei Tarifnormen sh. auch BAG 12. März 2019 – 1 AZR 307/17 – Rn. 38), anderenfalls sie unwirksam sind (vgl. BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 85). Weil der in § 10 Abs. 5 AAB genannte Personenkreis vom Anwendungsbereich des Abs. 3 ausgenommen und ihm damit bei der Vergütung von Überstunden eine „Spitzabrechnung“ verwehrt werden soll, muss sich der Anwendungsbereich des Abs. 5 hinreichend klar aus der betriebsverfassungsrechtlichen Norm selbst ergeben. Die normunterworfenen Arbeitnehmer müssen unschwer erkennen können, ob sie Anspruch auf eine nach der tatsächlichen Leistung berechnete Überstundenvergütung nach Abs. 3 haben oder auf eine Pauschalvergütung nach Abs. 5 verwiesen sind.
23
b) Diesen Anforderungen genügt § 10 Abs. 5 AAB nicht.
24
aa) Die Anwendungsvoraussetzung „regelmäßige Mehrarbeit“ lässt nach ihrem Wortlaut mannigfache Deutungsmöglichkeiten zu und sich mit einer Vielzahl denkbarer Inhalte ausfüllen. Weil die Norm selbst keine „Regel“ enthält, nach der sich bestimmen ließe, unter welchen Voraussetzungen Mehrarbeit „regelmäßig“ geleistet sein soll, ist ihr Regelungsgehalt auch durch Auslegung nicht näher ermittelbar und für die Normunterworfenen nicht hinreichend klar ersichtlich, in welchem Falle bei der Leistung von Überstunden § 10 Abs. 5 AAB eingreift und in welchem Falle nicht. Zudem wirft die Verwendung des Begriffs „Mehrarbeit“ die Frage auf, ob damit die in den vorherigen Absätzen 3 und 4 genannten Überstunden gemeint sind, oder mit dem Wechsel der Begrifflichkeit verdeutlicht werden soll, dass Mehrarbeit nicht gleich Überstunde ist (sh. zu den Begriffen etwa ErfK/Preis 19. Aufl. BGB § 611a Rn. 486; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 69 Rn. 4). Unklar bleibt auch die alternative Voraussetzung der „Arbeit zu ungünstigen Zeiten“, weil die Betriebsparteien diese in § 10 Abs. 5 AAB nicht näher definieren. Die Normunterworfenen können deshalb nur vermuten, dass es sich dabei um die in § 10 Abs. 3 Buchst. b bis Buchst. e AAB genannten „zuschlagspflichtigen“ Zeiten (Nachtarbeit, Arbeit an Wochenenden und an Feiertagen) handelt, Gewissheit darüber haben sie indes nicht.
25
bb) Die Niederschriftserklärung der Arbeitgeberseite zu § 10 Abs. 5 AAB vermag den Verstoß gegen das Gebot der Normklarheit nicht zu „heilen“. Es handelt sich dabei um eine nur einseitige Interpretation der Norm und eine Selbstbindung der Arbeitgeberseite, bei bestimmten Fachbereichssekretären das Vorliegen einer der Voraussetzungen des § 10 Abs. 5 AAB anzunehmen. Verbindlichkeit für die normunterworfenen Beschäftigten hat sie nicht. Zudem ist dieses (einseitige) Normverständnis geeignet, diejenigen Fachbereichssekretäre zu benachteiligen, die nur gelegentlich, dann aber in großem Umfang Überstunden leisten (dazu Rn. 28).
26
c) Darüber hinaus verstößt § 10 Abs. 5 AAB mit der Pauschalierung der Überstundenvergütung für gewisse Gewerkschaftssekretäre gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz.
27
aa) Die Regelungsbefugnis der Betriebsparteien unterliegt Binnenschranken. Nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB findet zwar bei Betriebsvereinbarungen keine Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 305 ff. BGB statt (zur Pauschalvergütung von Überstunden mittels AGB sh. BAG 16. Mai 2012 – 5 AZR 331/11 – Rn. 20 ff., BAGE 141, 324). Doch sind die Betriebsparteien beim Abschluss ihrer Vereinbarungen gemäß § 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG an die Grundsätze von Recht und Billigkeit gebunden (BAG 12. April 2011 – 1 AZR 412/09 – Rn. 20, BAGE 137, 300; 7. Juni 2011 – 1 AZR 807/09 – Rn. 36; vgl. zur Wahrung grundrechtlich geschützter Freiheitsrechte auch BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 71) und müssen den auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zurückzuführenden betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz beachten (vgl. BAG 15. Mai 2018 – 1 AZR 20/17 – Rn. 10 mwN). Dieser zielt darauf ab, eine Gleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Sachverhalten sicherzustellen und eine gleichheitswidrige Gruppenbildung auszuschließen. Dabei ist bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung der Gleichheitssatz bereits dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass diese die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (BAG 26. April 2016 – 1 AZR 435/14 – Rn. 21 mwN).
28
bb) Gemessen daran verstößt die unterschiedliche Vergütung von Überstunden – Pauschalvergütung bei Arbeitnehmern, die „regelmäßig“ Überstunden leisten, und „Spitzabrechnung“ bei jenen, die „unregelmäßig“ Überstunden leisten, – gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn der Arbeitgeber wegen des Fehlens einer Obergrenze – wie bei § 10 Abs. 5 AAB – auch bei einer vorübergehend ungewöhnlich hohen Zahl von Überstunden dem Arbeitnehmer nur die Zahlung einer Pauschale schuldet, die deutlich unter der konkret berechneten Überstundenvergütung liegt, und der Arbeitnehmer tatsächlich nicht die Möglichkeit hat, einen wesentlichen Teil dieser außergewöhnlich hohen Zahl an Überstunden durch bezahlte Freizeit auszugleichen. Die Regelmäßigkeit der Leistung von Überstunden ist – unabhängig davon, wann von „regelmäßig“ anfallenden Überstunden konkret auszugehen ist – kein taugliches Differenzierungskriterium, weil der außergewöhnlich hohe Anfall von Überstunden jedenfalls außerhalb der Regelmäßigkeit liegt.
29
cc) Dass bei der Beklagten Gewerkschaftssekretäre – wie der Kläger – grundsätzlich ihre Arbeitszeit frei einteilen können, ändert daran nichts.
30
(1) Der Kläger, der im Landesbezirk Bayern der Beklagten arbeitet, unterfällt als „Sekretär mit Betreuungsbereich“ nicht der Betriebsvereinbarung zur Regelung der Arbeitszeit zwischen dem ver.di-Landesbezirk Bayern und dem Betriebsrat des ver.di-Landesbezirks Bayern und nimmt unstreitig nicht an dortigen Regelungen zur Arbeitszeit und deren Erfassung teil. Vielmehr kann er Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit ohne Kontrolle grundsätzlich selbst bestimmen und arbeitet damit in Vertrauensarbeitszeit (zum Begriff sh. etwa BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 31, BAGE 152, 315; 15. Mai 2013 – 10 AZR 325/12 – Rn. 26; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 160 Rn. 33 ff., jeweils mwN).
31
(2) Vertrauensarbeitszeit schließt indes weder die Abgeltung eines aus Mehrarbeit des Arbeitnehmers resultierenden Zeitguthabens aus (BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 31, BAGE 152, 315), noch bedeutet sie, dass ein Anspruch auf Vergütung von Überstunden generell nicht bestünde. Hat der Arbeitnehmer es durch den Umfang der vom Arbeitgeber zugewiesenen Arbeit schlichtweg nicht mehr in der Hand, „Überstunden“ durch die Selbstbestimmung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit „auszugleichen“, sind diese – soweit sie nicht auf einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden – nach § 611 Abs. 1, § 611a Abs. 2 BGB oder – fehlt es an einer ausdrücklichen Vergütungsvereinbarung – nach § 612 Abs. 1 BGB zu vergüten.
32
(3) Vertrauensarbeitszeit könnte deshalb die ungleiche Vergütung von Überstunden bei den Gewerkschaftssekretären, die „regelmäßig“ Überstunden leisten und denjenigen, die „nicht regelmäßig“ Überstunden leisten, allenfalls dann rechtfertigen, wenn erstere es durch die Vertrauensarbeitszeit in der Hand hätten, einen „übermäßigen“ Überstundenanfall zu verhindern. Dazu hat die Beklagte aber nicht aufgezeigt, dass und in welcher Weise – gerade in Phasen übermäßiger Belastung – Gewerkschaftssekretäre wie der Kläger Überstunden in nennenswertem Umfang durch bezahlte Freizeit „vermeiden“ können und welche Regelungen dazu bei ihr bestehen. Ein solcher Vortrag war der Beklagten bereits deshalb nicht möglich, weil sie bei Gewerkschaftssekretären, wie dem Kläger, entgegen § 16 Abs. 2 ArbZG nicht deren über § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit aufzeichnet (zur Aufzeichnungspflicht auch bei Vertrauensarbeitszeit vgl. BAG 6. Mai 2003 – 1 ABR 13/02 – zu B II 2 d cc der Gründe, BAGE 106, 111; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 160 Rn. 35; zu – arbeitszeitrechtlichen – Vorgaben des Unionsrechts sh. neuerdings EuGH 14. Mai 2019 – C-55/18 – [CCOO] Rn. 40 ff.). Dementsprechend hat sie sich auch nicht darauf berufen, die streitgegenständlichen Überstunden seien ganz oder teilweise in der Folgezeit vom Kläger durch seine Arbeitseinteilung ausgeglichen worden oder hätten von ihm ausgeglichen werden können. Soweit die Beklagte ganz allgemein behauptet hat, der Kläger hätte zB nach Abendveranstaltungen am Folgetag auch später ins Büro kommen können, dürfte damit wohl nur der aus § 5 Abs. 1 ArbZG folgenden Pflicht zur Gewährung einer Ruhezeit von elf Stunden genügt worden sein.
33
d) Die Unwirksamkeit von § 10 Abs. 5 AAB führt nicht dazu, dass die AAB als Gesamtbetriebsvereinbarung insgesamt nichtig wären.
34
aa) Nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB ist eine Betriebsvereinbarung nur teilunwirksam, wenn der verbleibende wirksame Teil auch ohne die unwirksame Bestimmung eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung darstellt. Das folgt aus ihrem Normcharakter, der es gebietet, im Interesse der Kontinuität eine einmal gesetzte Ordnung aufrechtzuerhalten, soweit sie ihre Funktion auch ohne den unwirksamen Teil entfalten kann (BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 84; 23. Januar 2018 – 1 AZR 65/17 – Rn. 38 mwN, BAGE 161, 305).
35
bb) Danach ist keine Gesamtunwirksamkeit der AAB anzunehmen. Mit dem Wegfall von § 10 Abs. 5 AAB entfällt die Herausnahme bestimmter Gewerkschaftssekretäre aus dem Anwendungsbereich des § 10 Abs. 3 AAB mit der Folge, dass der Anspruch auf Überstundenvergütung und dessen Modalitäten sich einheitlich für alle Beschäftigten nach § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AAB richtet. Auch ohne § 10 Abs. 5 AAB enthält die Gesamtbetriebsvereinbarung damit eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung zur Vergütung von Überstunden aller Beschäftigten der Beklagten.
36
IV. In welcher Höhe die Klage begründet ist, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Das Landesarbeitsgericht hat – aus seiner Sicht konsequent – die Anzahl der vom Kläger geleisteten Überstunden nicht festgestellt.
37
1. Der Kläger hatte für geleistete, von der Beklagten veranlasste Überstunden zunächst einen Vergütungsanspruch in Form eines Freizeitausgleichs nach § 10 Abs. 3 AAB. Weil eine entsprechende Arbeitsbefreiung nicht spätestens zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ableistung der Überstunden erfolgte, hat sich dieser gemäß § 10 Abs. 4 AAB in einen Geldanspruch gewandelt. Dass der Kläger in Vertrauensarbeitszeit arbeitet, schließt den Anspruch auf Überstundenvergütung nicht aus (sh. oben Rn. 31). Auf das Bestehen einer objektiven Vergütungserwartung kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht an. § 612 Abs. 1 BGB kann als Anspruchsgrundlage für die Vergütung von Überstunden nur dann herangezogen werden, wenn eine solche arbeitsvertraglich weder positiv noch negativ geregelt ist (vgl. zB BAG 16. Mai 2012 – 5 AZR 347/11 – Rn. 18 mwN, BAGE 141, 330). Im Streitfall ist indes – unbeschadet der unmittelbaren und zwingenden Wirkung der AAB nach § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG – durch die dynamische Bezugnahme auf die AAB im Arbeitsvertrag die Vergütung von Überstunden positiv geregelt.
38
2. Der Kläger hat die Leistung der geltend gemachten Überstunden ausreichend dargelegt.
39
a) Im Überstundenprozess gilt – nicht anders als im Prozess auf Vergütung tatsächlich geleisteter Arbeit in der Normalarbeitszeit – eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast (vgl. nur BAG 18. April 2012 – 5 AZR 248/11 – BAGE 141, 144 und 16. Mai 2012 – 5 AZR 347/11 – BAGE 141, 330, st. Rspr.). Dabei genügt der Arbeitnehmer auf der ersten Stufe der Darlegung seiner Vortragslast, indem er vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber substantiiert erwidern und im Einzelnen vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – nicht – nachgekommen ist. Trägt er nichts vor oder lässt er sich nicht substantiiert ein, gelten die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Arbeitsstunden als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
40
b) Im Streitfall kommt hinzu, dass der Kläger die behauptete Überstundenleistung – auch – auf Arbeitszeitnachweise stützt, die er im Streitzeitraum auf Weisung der Beklagten und auf von dieser zur Verfügung gestellten (elektronischen) Zeiterfassungsbögen geführt hat und die vom Bezirksgeschäftsführer oder dessen Stellvertreterin abgezeichnet wurden. Bei einer derartigen Zeiterfassung – unabhängig davon, welchem Zweck sie dienen soll – stellt der Arbeitgeber mit der Unterzeichnung der Aufzeichnungen eine sich daraus ergebende Überstundenleistung zunächst streitlos. Zwar wird ihm damit im Überstundenprozess regelmäßig nicht der Nachweis abgeschnitten, dass die von ihm abgezeichneten Arbeitsstunden vom Arbeitnehmer tatsächlich nicht wie festgehalten geleistet wurden. Jedoch genügt der Arbeitnehmer in einem solchen Falle der ihm im Überstundenprozess obliegenden Darlegungslast für die Leistung von Überstunden auf der ersten Stufe schon dadurch, dass er schriftsätzlich die vom Arbeitgeber abgezeichneten Arbeitsstunden und den sich daraus ergebenden Saldo darlegt. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber im Rahmen der abgestuften Darlegungslast substantiiert erwidern, dass, aus welchen Gründen und in welchem Umfang die von ihm oder einem für ihn handelnden Vorgesetzten des Arbeitnehmers abgezeichneten Arbeitsstunden nicht geleistet wurden oder der behauptete Saldo sich durch konkret darzulegenden Freizeitausgleich vermindert hat.
41
c) Nach diesen Grundsätzen wird das Landesarbeitsgericht im fortgesetzten Berufungsverfahren von Folgendem auszugehen haben:
42
aa) Es ist nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen, dass der Kläger im Streitzeitraum Überstunden geleistet hat. Denn die Beklagte hat die in den Zeiterfassungsbögen erfassten und abgezeichneten Arbeitszeiten bislang nicht in Gänze substantiiert bestritten und keinen Sachvortrag geleistet, aus dem sich ergeben könnte, dass die dort zu Gunsten des Klägers festgehaltenen Salden überhaupt nicht bestünden.
43
bb) Doch ist die konkrete Anzahl der geleisteten Überstunden streitig. Die Beklagte ist in der Berufungsbeantwortung für einzelne Tage dem Sachvortrag des Klägers substantiiert entgegengetreten, indem sie Diskrepanzen zwischen den Zeiterfassungsbögen und der schriftsätzlichen Darlegung der Arbeitszeiten in der Berufungsbegründung aufgezeigt und einzelne Tätigkeiten benannt hat, die dem Kläger angeblich nicht oblagen. Auch hat sie bestritten, dass der Kläger in den vier Monaten des Streitzeitraums keine Pause gemacht habe. Darauf hat der Kläger im Schriftsatz vom 13. Februar 2018 substantiiert und unter Beweisantritt erwidert. Soweit danach die Behauptungen der Parteien divergieren, ist es Aufgabe des Landesarbeitsgerichts als Tatsachengericht, sich nach den Vorgaben des § 286 Abs. 1 ZPO die – revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbare (vgl. dazu etwa BAG 27. März 2018 – 4 AZR 151/15 – Rn. 63) – Überzeugung zu bilden, welche der tatsächlichen Behauptungen für wahr und welche für unwahr zu erachten seien und auf dieser Grundlage die Anzahl der vom Kläger im Streitzeitraum geleisteten Überstunden festzustellen. Es wird dabei ggf. angebotene Beweise zu erheben haben. Sollte die vollständige Aufklärung aller maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden sein, die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis stehen, ist die Anzahl der geleisteten Überstunden nach Maßgabe des § 287 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO zu schätzen (zu den Anforderungen sh. BAG 25. März 2015 – 5 AZR 602/13 – Rn. 21 ff., BAGE 151, 180).
44
3. Im Übrigen wird das Landesarbeitsgericht davon auszugehen haben, dass nach derzeitigem Verfahrensstand die weitere Voraussetzung für die Vergütung von Überstunden, nämlich die arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung (vgl. dazu im Einzelnen BAG 10. April 2013 – 5 AZR 122/12 – Rn. 13 ff.) gegeben ist. Denn die Beklagte hat die vom Kläger auf den Zeiterfassungsbögen festgehaltenen Arbeitszeiten durch den Bezirksgeschäftsführer oder dessen Stellvertreterin abgezeichnet und damit jedenfalls gebilligt (vgl. BAG 10. April 2013 – 5 AZR 122/12 – Rn. 19). Dabei ist es unerheblich, ob – wie das Landesarbeitsgericht ausführt – mit der Unterzeichnung eine „Vergütungspflicht konstituiert“ werden sollte oder nicht. Entscheidend ist allein, dass mit der Abzeichnung der erfassten Arbeitszeit und der monatlichen Salden der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zu erkennen gibt, dass er mit der erfolgten Überstundenleistung einverstanden ist. Anhaltspunkte dafür, der Bezirksgeschäftsführer und/oder dessen Stellvertreterin hätten als Vorgesetzte des Klägers an einer Manipulierung der Zeiterfassung mitgewirkt, hat die Beklagte nicht vorgebracht.
45
V. Der Hilfsantrag ist dem Senat nicht zur Entscheidung angefallen.
Linck
Berger
Biebl
Hepper
Naumann |
bag_27-20 | 18.08.2020 | 18.08.2020
27/20 - Unternehmensmitbestimmung in einer durch Umwandlung gegründeten SE
Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gerichtet. Mit diesem sollen die Anforderungen an eine auf Vereinbarung beruhende Unternehmensmitbestimmung bei der Gründung einer Societas Europaea (SE) durch Umwandlung einer paritätisch mitbestimmten Aktiengesellschaft geklärt werden.
Die Arbeitgeberin hatte ursprünglich die Rechtsform einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts. Für sie galt das Mitbestimmungsgesetz. Demzufolge war bei ihr ein 16köpfiger Aufsichtsrat gebildet, der jeweils zur Hälfte von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer besetzt war. Zwei Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer waren von Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem von den Wahlen der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang gewählt worden. Im Jahr 2014 wurde die Arbeitgeberin in eine SE umgewandelt. Derzeit verfügt sie über einen 18köpfigen – ebenfalls paritätisch besetzten – Aufsichtsrat, bei dem ein Teil der auf die Arbeitnehmer entfallenden Sitze für von Gewerkschaften vorgeschlagene und von den Arbeitnehmern zu wählende Personen reserviert ist. Die dazu zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium abgeschlossene Beteiligungsvereinbarung nach dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) sieht die Möglichkeit einer Verkleinerung des Aufsichtsrats auf zwölf Mitglieder vor. In diesem Fall können die Gewerkschaften zwar Wahlvorschläge für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten; ein getrennter Wahlgang findet insoweit aber nicht statt.
Die antragstellenden Gewerkschaften haben geltend gemacht, die Regelungen über die Bildung des verkleinerten Aufsichtsrats seien unwirksam; sie verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG*. Nach der Umwandlung in eine SE müsse den Gewerkschaften weiterhin ein ausschließliches Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Sitzen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zustehen. Die Vorinstanzen haben das Begehren abgewiesen.
Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat den EuGH angerufen. Bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer paritätisch mitbestimmten Aktiengesellschaft gibt § 21 Abs. 6 SEBG vor, dass in der Beteiligungsvereinbarung zur Mitbestimmung ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu gewährleisten ist. Für den Senat ist entscheidungserheblich, ob dieses Verständnis des nationalen Rechts mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar ist.** Für deren Auslegung ist der EuGH zuständig.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 18. August 2020 – 1 ABR 43/18 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Oktober 2018 – 19 TaBV 1/18 –
*§ 21 Abs. 6 SEBG lautet wie folgt:
„Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu anderen Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. …“
** Der genaue Wortlaut der Frage kann unter www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht:
Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar?
II. Das Rechtsbeschwerdeverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht:
Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar?
Entscheidungsgründe
1
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
2
Die Beteiligten streiten – soweit für das Vorabentscheidungsverfahren von Bedeutung – über die Wirksamkeit von Regelungen in einer von der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium geschlossenen Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Societas Europaea (Beteiligungsvereinbarung) im Sinne von § 21 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG).
3
Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 3.) ist eine SE mit dualistischem System. Bei ihr sind ein SE-Betriebsrat (Beteiligter zu 4.) und ein Konzernbetriebsrat (Beteiligter zu 5.) gebildet. Antragstellerinnen sind zwei im Unternehmen der Arbeitgeberin vertretene Gewerkschaften. Am Verfahren sind zudem weitere bei der Arbeitgeberin bzw. in deren Konzern vertretene Gewerkschaften beteiligt (Beteiligte zu 6. bis 8.).
4
Die Arbeitgeberin hatte ursprünglich die Rechtsform einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts. Bei ihr bestand nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG) ein Aufsichtsrat, der sich aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzte. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG befanden sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften. Bei den beiden Vertretern der Gewerkschaften handelte es sich um Personen, die nach § 16 Abs. 2 MitbestG von im Konzern der Arbeitgeberin repräsentierten Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem von den Wahlen der übrigen sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer getrennten Wahlgang gewählt wurden.
5
Im Jahr 2014 wurde die Arbeitgeberin in eine SE umgewandelt. Seitdem verfügt sie über einen aus 18 Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat. Gemäß der von der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium am 10. März 2014 geschlossenen Beteiligungsvereinbarung sind hiervon neun Aufsichtsratsmitglieder Arbeitnehmervertreter. Die Beteiligungsvereinbarung regelt nähere Vorgaben für deren Bestimmung. Nach Teil II Nr. 3.1 der Beteiligungsvereinbarung können zum Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nur S-Arbeitnehmer oder Vertreter der im S-Konzern repräsentierten Gewerkschaften vorgeschlagen und bestellt werden. Dabei steht den Gewerkschaften nach Teil II Nr. 3.3 der Beteiligungsvereinbarung für einen bestimmten Teil der auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter ein ausschließliches Vorschlagsrecht zu; die Wahl der von ihnen vorgeschlagenen Personen durch die Arbeitnehmer erfolgt in einem getrennten Wahlgang.
6
Die Beteiligungsvereinbarung enthält in ihrem Teil II Nr. 3.4 zudem Regelungen für die Bildung eines auf zwölf Mitglieder verkleinerten Aufsichtsrats. In diesem Fall müssen dem Aufsichtsrat sechs Arbeitnehmervertreter angehören. Die von den ersten vier Sitzen auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter werden von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt. Dabei können die im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvorschläge für einen Teil der auf Deutschland entfallenden Sitze machen; ein getrennter Wahlgang für die von ihnen vorgeschlagenen Personen findet aber nicht statt.
7
Die Antragstellerinnen haben in dem von ihnen eingeleiteten Beschlussverfahren geltend gemacht, die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung über die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat seien unwirksam. Sie sind der Ansicht, diese verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG, da den Gewerkschaften kein ausschließliches – also durch einen getrennten Wahlgang abgesichertes – Vorschlagsrecht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gewährt werde.
8
Die Arbeitgeberin ist der Auffassung, das in § 7 Abs. 2 iVm. § 16 Abs. 2 MitbestG vorgesehene ausschließliche Vorschlagsrecht der Gewerkschaften werde durch § 21 Abs. 6 SEBG nicht geschützt.
9
Die Vorinstanzen haben die Anträge der Antragstellerinnen abgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragstellerinnen ihr Begehren weiter.
10
B. Das einschlägige nationale Recht
11
I. Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG) vom 4. Mai 1976 (BGBl. I S. 1153, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. April 2015 – BGBl. I S. 642) lautet auszugsweise:
„§ 7
Zusammensetzung des Aufsichtsrats
(1) Der Aufsichtsrat eines Unternehmens
1.
mit in der Regel nicht mehr als 10 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je sechs Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;
2.
mit in der Regel mehr als 10 000, jedoch nicht mehr als 20 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;
3.
mit in der Regel mehr als 20 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer.
…
(2) Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer müssen sich befinden
1.
in einem Aufsichtsrat, dem sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, vier Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;
2.
in einem Aufsichtsrat, dem acht Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;
3.
in einem Aufsichtsrat, dem zehn Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sieben Arbeitnehmer des Unternehmens und drei Vertreter von Gewerkschaften.
…
(5) Die in Absatz 2 bezeichneten Gewerkschaften müssen in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sein, dessen Arbeitnehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen.
…
§ 16
Wahl der Vertreter von Gewerkschaften in den Aufsichtsrat
…
(2) Die Wahl erfolgt auf Grund von Wahlvorschlägen der Gewerkschaften, die in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sind, dessen Arbeitnehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen. …“
12
II. Das Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz – SEBG) vom 22. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3675, 3686, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Mai 2020 – BGBl. I S. 1044) lautet in der seit dem 1. März 2020 geltenden Fassung auszugsweise:
„§ 2
Begriffsbestimmungen
…
(8) Beteiligung der Arbeitnehmer bezeichnet jedes Verfahren – einschließlich der Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung -, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung in der Gesellschaft Einfluss nehmen können.
…
(12) Mitbestimmung bedeutet die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch
1.
die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder
2.
die Wahrnehmung des Rechts, die Bestellung eines Teils oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen oder abzulehnen.
…
§ 21
Inhalt der Vereinbarung
(1) In der schriftlichen Vereinbarung zwischen den Leitungen und dem besonderen Verhandlungsgremium wird, unbeschadet der Autonomie der Parteien im Übrigen und vorbehaltlich des Absatzes 6, festgelegt:
…
(3) Für den Fall, dass die Parteien eine Vereinbarung über die Mitbestimmung treffen, ist deren Inhalt festzulegen. Insbesondere soll Folgendes vereinbart werden:
1.
die Zahl der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen oder bestellen können oder deren Bestellung sie empfehlen oder ablehnen können;
2.
das Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mitglieder wählen oder bestellen oder deren Bestellung empfehlen oder ablehnen können und
3.
die Rechte dieser Mitglieder.
…
(6) Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu anderen Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Dies gilt auch bei einem Wechsel der Gesellschaft von einer dualistischen zu einer monistischen Organisationsstruktur und umgekehrt.“
13
C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
14
Artikel 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (ABl. EG L 294 vom 10. November 2001 S. 22) lautet auszugsweise:
„Inhalt der Vereinbarung
(1) Das jeweils zuständige Organ der beteiligten Gesellschaften und das besondere Verhandlungsgremium verhandeln mit dem Willen zur Verständigung, um zu einer Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb der SE zu gelangen.
(2) Unbeschadet der Autonomie der Parteien und vorbehaltlich des Absatzes 4 wird in der schriftlichen Vereinbarung nach Absatz 1 zwischen dem jeweils zuständigen Organ der beteiligten Gesellschaften und dem besonderen Verhandlungsgremium Folgendes festgelegt:
…
(4) Unbeschadet des Artikels 13 Absatz 3 Buchstabe a muss in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.“
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D. Entscheidungserheblichkeit und Erläuterung der Vorlagefrage
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Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die sich aus § 21 Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen zur Ausgestaltung einer Beteiligungsvereinbarung über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar sind.
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I. Der Antrag der Antragstellerinnen, mit dem diese – soweit vorliegend von Interesse – die Feststellung der Unwirksamkeit der in der Beteiligungsvereinbarung vom 10. März 2014 vorgesehenen Regelungen zur Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat begehren, hätte unter Zugrundelegung ausschließlich nationalen Rechts Erfolg.
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1. Der Antrag ist zulässig.
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Das Begehren der Antragstellerinnen beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Regelungen zum zwölfköpfigen Aufsichtsrat in Teil II Nr. 3.4 der für die Arbeitgeberin geltenden Beteiligungsvereinbarung wegen des Fehlens eines durch einen getrennten Wahlgang abgesicherten Vorschlagsrechts der im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften unwirksam sind. Damit zielt der Antrag auf die Feststellung eines gegenwärtigen Rechtsverhältnisses ab. Die zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium geschlossene Beteiligungsvereinbarung ist eine Kollektivvereinbarung sui generis, der trotz fehlender ausdrücklicher Anordnung im SEBG von Gesetzes wegen eine normative Wirkung zukommt. Der Antrag der Antragstellerinnen richtet sich auch auf die Feststellung des Nichtbestehens eines abgrenzbaren Teils dieses Rechtsverhältnisses, da er nur die Regelungen über die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat betrifft. Zudem verfügen die Antragstellerinnen über das erforderliche rechtliche Interesse an der begehrten Feststellung. Sie machen eigene Rechte geltend und können nicht darauf verwiesen werden, eine Verkleinerung des Aufsichtsrats der Arbeitgeberin auf zwölf Mitglieder abzuwarten. Ein anderweitiges – gegebenenfalls effektiveres – gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung ihrer geltend gemachten Rechte steht den Antragstellerinnen nicht zur Verfügung. Ein Statusverfahren (Art. 9 Abs. 1 Buchst. c lit. ii der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 iVm. § 98 AktG) scheidet schon deshalb aus, weil die Zivilgerichte in einem solchen Verfahren nicht die Wirksamkeit einer für die Unternehmensmitbestimmung maßgebenden Beteiligungsvereinbarung nach dem SEBG prüfen können. Diese Prüfung hat der Gesetzgeber mit § 2a Abs. 1 Nr. 3e ArbGG ausschließlich den Gerichten für Arbeitssachen zugewiesen.
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2. Der Antrag wäre auch begründet. Die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin vom 10. März 2014 zur Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat wären unwirksam. Sie verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG.
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a) Grundsätzlich können die Parteien einer Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 1 SEBG Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 8 SEBG autonom ausgestalten. Dies ermöglicht es ihnen, speziell auf die Bedürfnisse der geplanten SE zugeschnittene Regelungen zu treffen und neben der Nutzung bewährter Beteiligungssysteme auch Mischformen oder neue Konzepte oder Verfahren zu entwickeln. Damit soll ein sinnvoller Ausgleich der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Rechtslagen gewährleistet und zugleich eine sachgerechte Anpassung an die Bedürfnisse und Strukturen der zu gründenden SE sichergestellt werden (vgl. BT-Drs. 15/3405 S. 41).
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b) Die den Parteien einer Beteiligungsvereinbarung eingeräumte Autonomie steht nach § 21 Abs. 1 SEBG allerdings unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der in Abs. 6 der Norm vorgesehenen Gewährleistung. Danach muss bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft in der Vereinbarung in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll (§ 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG). Damit schränkt das Gesetz die Verhandlungsautonomie der Parteien bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft zugunsten eines strengeren Bestandsschutzes ein (vgl. BT-Drs. 15/3405 S. 51 f.).
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c) Nach den für das nationale Recht maßgebenden Auslegungsmethoden gebietet § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zur Überzeugung des Senats, dass die Parteien der Beteiligungsvereinbarung bei der Gründung einer SE durch Umwandlung in dieser sicherstellen müssen, dass die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 8 SEBG in gleichwertigem Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten bleiben. Diese Elemente sind zunächst – jeweils bezogen auf die in der umzuwandelnden Aktiengesellschaft schon vorhandenen Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSv. § 2 Abs. 8 SEBG – auf der Grundlage des hierfür maßgebenden nationalen Rechts festzustellen. Die hiernach für die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente sind in gleichem Ausmaß auch in der SE sicherzustellen. Dabei ist zu beachten, dass § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG keine vollständige Aufrechterhaltung der in der umzuwandelnden Gesellschaft vorhandenen Verfahren und des dort bestehenden Rechtszustands anordnet. Die Verfahrenselemente, die die Einflussnahme der Arbeitnehmervertreter in der umzuwandelnden Gesellschaft maßgebend kennzeichnen, müssen daher in der für die SE geltenden Beteiligungsvereinbarung in qualitativ gleichwertigem Maß gewährleistet sein.
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d) Ausgehend hiervon wären die Regelungen zur Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem aus zwölf Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin nicht mit den Vorgaben des § 21 Abs. 6 SEBG vereinbar.
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aa) Zu den die Einflussnahme der Arbeitnehmer prägenden Verfahrenselementen der Unternehmensmitbestimmung bei einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft deutschen Rechts gehört das nach § 16 MitbestG gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.
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(1) Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG müssen sich bei einem Aufsichtsrat, der sich aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzt, unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften befinden. Die Wahl der Gewerkschaftsvertreter erfolgt in einem von der Wahl der übrigen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer getrennten Wahlgang aufgrund von Wahlvorschlägen der Gewerkschaften, die im Unternehmen oder in einem anderen Unternehmen, dessen Arbeitnehmer an der Wahl teilnehmen, vertreten sind (§ 16 Abs. 2 Satz 1 MitbestG). Während die anderen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer im Unternehmen oder in einem zu dessen Konzern gehörenden Unternehmen beschäftigt sein müssen, sind die Gewerkschaften berechtigt, externe Personen für die Wahl vorzuschlagen; diese müssen weder Mitglied der vorschlagenden Gewerkschaft noch bei dieser beschäftigt sein.
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(2) Das im Mitbestimmungsgesetz vorgesehene – durch ein gesondertes Wahlverfahren abgesicherte – Recht der Gewerkschaften, für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen, beruht auf der Erkenntnis des deutschen Gesetzgebers, dass die Beteiligung von durch Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertretern ein gerade wegen deren Unabhängigkeit wichtiges Element der Meinungsbildung im Aufsichtsrat darstellt (vgl. BT-Drs. 7/4845 S. 5). Das Gesetz geht seit seinem Inkrafttreten am 1. Juli 1976 unverändert davon aus, dass zu einer gleichberechtigten und vor allem auch gleichgewichtigen Beteiligung der Anteilseigner und der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der Unternehmen auf der Arbeitnehmerseite zwingend die Teilnahme von Vertretern der überbetrieblich organisierten Arbeitnehmerschaft, also der im Unternehmen oder Konzern repräsentierten Gewerkschaften gehört (vgl. BT-Drs. 7/2172 S. 17). Eine ausschließliche Beschränkung der möglichen Arbeitnehmervertreter auf Personen, die Mitglieder des Unternehmensverbands sind, liegt danach nicht im Interesse der Arbeitnehmer selbst (vgl. den Bericht der Sachverständigenkommission „Mitbestimmung im Unternehmen“, BT-Drs. VI/334 S. 107, auf dessen Erkenntnisse der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ausdrücklich Bezug nimmt, BT-Drs. 7/4845 S. 5). Nach den gesetzlichen Wertungen haben die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat – deren Repräsentanz durch die Wahl der Arbeitnehmer legitimiert ist – eine die Mitbestimmung der Arbeitnehmer stärkende Funktion. Damit soll sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat Personen angehören, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügen, und gleichzeitig externer Sachverstand vorhanden ist (vgl. BVerfG 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 ua. – zu C III 2 b cc der Gründe, BVerfGE 50, 290).
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bb) Damit stellt das durch einen getrennten Wahlgang abgesicherte Recht der Gewerkschaften, Vorschläge für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu unterbreiten, für das Verfahren der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft ein prägendes Element dar, das bei einer Umwandlung in eine SE in der Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 6 SEBG in qualitativ gleichwertigem Umfang gewährleistet werden muss (im Ergebnis ebenso: WKS/Kleinsorge 5. Aufl. EU-Recht Rn. 110; Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen Handbuch zur Europäischen Gesellschaft (SE) 6. Abschn. Rn. 149; Freis in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG, SCEBG, MgVG 3. Aufl. § 21 SEBG Rn. 44; Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055; Grüneberg/Hay/Jerchel/Sick AuR 2020, 297, 300 ff.; KK-AktG/Feuerborn 3. Aufl. § 21 SEBG Rn. 76; Güntzel Die Richtlinie über die Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) und ihre Umsetzung in das deutsche Recht S. 233; Köstler in Theisen/Wenz Die Europäische Aktiengesellschaft 2. Aufl. S. 349; ders. DStR 2005, 745, 747; Nagel AuR 2007, 329, 332; HaKo-BetrVG/Sick 5. Aufl. Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung Rn. 12; Lörcher Anm. AuR 2020, 329; aA: MüKoAktG/Jacobs 4. Aufl. § 21 SEBG Rn. 53; Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht 4. Aufl. § 21 SEBG Rn. 58; Oetker FS Birk 2008, 557, 570 ff.; Habersack in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig 10 Jahre SE S. 21; Habersack/Drinhausen/Hohenstatt/Müller-Bonanni SE-Recht § 21 SEBG Rn. 31; Habersack/Drinhausen/Seibt SE-Recht Art. 40 SE-VO Rn. 71; Kuhnke/Hoops in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht § 2 Rn. 287; KK-AktG/Paefgen 3. Aufl. Art. 40 SE-VO Rn. 110; Rudolph in Annuß/Kühn/Rudolph/Rupp Europäisches Betriebsräte-Gesetz § 21 SEBG Rn. 40; Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG S. 203 f.; ders. in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig 10 Jahre SE S. 76; Linden Die Mitbestimmungsvereinbarung der dualistisch verfassten Societas Europaea (SE) S. 98 f.; Schmid Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) S. 185; Scheibe Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems S. 149; Löw/Stolzenberg NZA 2016, 1489, 1496; Seibt ZIP 2010, 1057, 1063; Schubert Anm. EWiR 2019, 107; Otte-Gräbener Anm. GWR 2018, 448; Ubber Anm. DB 2019, 375).
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(1) In der Beteiligungsvereinbarung sicherzustellen wäre danach das Recht von Gewerkschaften, für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen. Zudem bedürfte es insoweit eines – vom Bestimmungsvorgang der übrigen Arbeitnehmervertreter – gesonderten Auswahlverfahrens für diese Personen durch die Arbeitnehmer oder ihre Vertreter. Nur bei einem derart abgesicherten Nominierungsrecht ist die nach den Vorstellungen des deutschen Gesetzgebers durch § 7 Abs. 2 Nr. 2 iVm. § 16 Abs. 2 MitbestG bezweckte gleichberechtigte und gleichgewichtige Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat und damit die vor der Umwandlung bestehende Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft iSd. § 2 Abs. 8 SEBG bei der Mitbestimmung iSv. § 2 Abs. 12 SEBG auch in der SE in gleichem Ausmaß weiterhin gegeben.
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(2) Die Gewährleistung des § 21 Abs. 6 SEBG wirkte sich auch bei der Anzahl der von Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter aus, die durch ein gesondertes Bestimmungsverfahren auszuwählen wären. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 MitbestG sind bei einem zwölf- und sechzehnköpfigen Aufsichtsrat einer deutschen Aktiengesellschaft von den sechs bzw. acht Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zwei Vertreter von Gewerkschaften. Bei einem aus zwanzig Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat sind von den zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer drei Vertreter von Gewerkschaften (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm. Abs. 2 Nr. 3 MitbestG). Diese vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene Gewichtung bestimmt das Ausmaß der durch § 21 Abs. 6 SEBG gesicherten Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft. Daher muss sie – soweit rechnerisch möglich – im Aufsichtsrat der SE anteilig bezogen auf die durch die Größe des Aufsichtsrats bedingte Anzahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer weiter gewährleistet sein. Bei einer Verkleinerung des Aufsichtsrats – wie im Ausgangsverfahren möglich – von ehemals 16 Mitgliedern in der Aktiengesellschaft auf zwölf in der SE wären die Parteien der Beteiligungsvereinbarung daher gehalten, den Gewerkschaften zumindest für ein Aufsichtsratsmitglied der Arbeitnehmer ein ausschließliches Vorschlagsrecht zuzubilligen.
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(3) Das in der Beteiligungsvereinbarung sicherzustellende ausschließliche Vorschlagsrecht der Gewerkschaften für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer müsste sich dabei nicht auf die im Unternehmen oder Konzern vertretenen deutschen Gewerkschaften beschränken. Mit der Verhandlungslösung wird den Parteien der Beteiligungsvereinbarung – unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 21 Abs. 6 SEBG – die Möglichkeit eröffnet, speziell auf die Bedürfnisse der geplanten SE zugeschnittene Regelungen zu treffen, um eine sachgerechte Anpassung an deren Strukturen zu ermöglichen. Zu den Eigenheiten einer SE gehört die unionsweite Beteiligung der Arbeitnehmer und die dadurch bedingte Internationalisierung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Dem widerspräche es, würde nur auf deutsche Gewerkschaften abgestellt.
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e) Diesen sich aus § 21 Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen genügen die Regelungen über den zwölfköpfigen Aufsichtsrat in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin vom 10. März 2014 nicht. Zwar können die im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvorschläge für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten. Da für diese jedoch kein gesondertes Auswahlverfahren vorgesehen ist, stellen die Regelungen in Teil II Nr. 3.4 der Beteiligungsvereinbarung nicht ausreichend sicher, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat auch tatsächlich eine von Gewerkschaften vorgeschlagene Person befindet.
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II. Für den Senat stellt sich allerdings die Frage, ob diese – von ihm vorzunehmende – Auslegung des § 21 Abs. 6 SEBG mit den Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar ist.
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Die unionsrechtliche Regelung sieht vor, dass unbeschadet des Art. 13 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden muss, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Sollte der Norm ein – gegebenenfalls von allen Mitgliedstaaten in gleichem Maß sicherzustellendes – anderes Verständnis mit einem unionsweit einheitlichen, geringeren Schutzniveau zugrunde liegen, wäre der Senat gehalten, § 21 Abs. 6 SEBG dementsprechend unionsrechtskonform auszulegen.
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Welche – von den Mitgliedstaaten umzusetzenden – Anforderungen sich aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG für das in der Beteiligungsvereinbarung zugunsten der Arbeitnehmer zu gewährleistende Schutzniveau ergeben, lässt sich nicht mit der für ein letztinstanzliches Gericht gebotenen Sicherheit beurteilen. Die Regelung war bislang nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist auch nicht offenkundig. Die damit erforderliche Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG obliegt dem Gerichtshof der Europäischen Union.
Schmidt
K. Schmidt
Ahrendt
Hayen
Fritz |
bag_28-19 | 20.08.2019 | 20.08.2019
28/19 - Heimarbeit - Verdienstsicherung und Urlaubsabgeltung
Ein Heimarbeiter kann nach Maßgabe des Heimarbeitsgesetzes (HAG) eine Sicherung seines Entgelts für die Dauer der Kündigungsfrist sowie Urlaubsabgeltung nach dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) verlangen.
Der Kläger erbrachte für die Beklagte regelmäßig Leistungen als selbstständiger Bauingenieur/Programmierer in Heimarbeit. Nachdem die Beklagte beschlossen hatte, ihr Unternehmen aufzulösen und zu liquidieren, wies sie dem Kläger seit Dezember 2013 keine Projekte mehr zu. Das Heimarbeitsverhältnis endete durch Kündigung der Beklagten mit Ablauf des 30. April 2016. Für diesen Zeitraum hat der Kläger von der Beklagten verlangt, ihm Vergütung iHv. 171.970,00 Euro brutto zu zahlen sowie 72 Werktage Urlaub iHv. 15.584,94 Euro brutto abzugelten.
Die Vorinstanzen haben der Klage teilweise stattgegeben. Soweit die Klage abgewiesen wurde, verlangt der Kläger mit der Revision die Zahlung weiterer 130.460,00 Euro brutto wegen Nichtausgabe von Heimarbeit sowie Urlaubs-abgeltung für das Jahr 2014 iHv. 4.091,71 Euro brutto sowie iHv. 5.194,83 Euro brutto für das Jahr 2015. Die Revision vor dem Neunten Senat des Bundes-arbeitsgerichts hatte nur hinsichtlich der begehrten Urlaubsabgeltung Erfolg.
Neben dem Entgelt, das die Beklagte für die Dauer der fiktiven Kündigungsfrist, während der sie keine Heimarbeit ausgab, schuldete, kann der Kläger keine weitere Vergütung verlangen. Ein Anspruch unter den Gesichtspunkten des Annahme-verzugs oder Schadensersatzes besteht nicht. Es fehlt an einer besonderen Absprache der Parteien, dem Kläger Projekte in einem bestimmten Umfang zuzuweisen. Heimarbeiter haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Ausgabe einer bestimmten Arbeitsmenge. Da sie aber regelmäßig auf Aufträge angewiesen sind, sehen die Bestimmungen des Heimarbeitsgesetzes zum Kündigungsschutz eine Entgeltsicherung vor. Kündigt der Auftraggeber das Heimarbeitsverhältnis, kann der Heimarbeiter gemäß § 29 Abs. 7 HAG für die Dauer der Kündigungsfrist Fortzahlung des Entgelts beanspruchen, das er im Durchschnitt der letzten 24 Wochen vor der Kündigung durch Heimarbeit erzielt hat. § 29 Abs. 8 HAG sichert das Entgelt, wenn der Auftraggeber nicht kündigt, jedoch die Arbeitsmenge, die er mindestens ein Jahr regelmäßig an einen Heimarbeiter ausgegeben hat, um mindestens ein Viertel verringert. Die Entgeltsicherung nach § 29 Abs. 7 und Abs. 8 HAG steht dem Heimarbeiter jedoch nur alternativ zu.
Die Höhe der bei Beendigung des Heimarbeitsverhältnisses geschuldeten Urlaubsabgeltung ist nach § 12 Nr. 1 BUrlG auf der Grundlage des Entgelts des Heimarbeiters in der Zeit vom 1. Mai des vergangenen bis zum 30. April des laufenden Jahres zu ermitteln. Für den Urlaub aus dem Jahr 2014 ist deshalb im Streitfall auf das Entgelt abzustellen, das der Kläger in der Zeit vom 1. Mai 2013 bis zum 30. April 2014 erzielt hat. Die hierfür erforderlichen Tatsachen wird das Landesarbeitsgericht nach der insoweit erfolgten Zurückverweisung der Sache aufzuklären haben. Für das Jahr 2015 steht dem Kläger Urlaubsabgeltung iHv. 1.103,12 Euro brutto zu.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. August 2019 – 9 AZR 41/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 15. November 2018 – 6 Sa 1225/17 – | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 15. November 2018 – 6 Sa 1225/17 – im Kostenpunkt insgesamt und in der Sache insoweit aufgehoben, als es die Anschlussberufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 16. November 2017 – 2 Ca 355/16 – hinsichtlich der Urlaubsabgeltung für das Jahr 2014 in Höhe eines 1.103,12 Euro brutto übersteigenden Betrags und hinsichtlich der Urlaubsabgeltung für das Jahr 2015 iHv. 1.103,12 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25. Mai 2017 zurückgewiesen hat.
2. Hinsichtlich der Urlaubsabgeltung für das Jahr 2015 wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 16. November 2017 – 2 Ca 355/16 – auf die Anschlussberufung des Klägers teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an ihn 1.103,12 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25. Mai 2017 zu zahlen.
3. Hinsichtlich der Urlaubsabgeltung für das Jahr 2014 wird die Sache im Umfang der diesbezüglichen Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. Hat der Auftraggeber den bis zur Beendigung des Heimarbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub eines Heimarbeiters abzugelten, ist für die Berechnung der Abgeltung nach § 12 Nr. 1 BUrlG der Zeitraum vom 1. Mai des dem Urlaubsjahr vorausgehenden Jahres bis zum 30. April des Urlaubsjahres maßgeblich.
2. Die Entgeltsicherung, die § 29 Abs. 7 und Abs. 8 Satz 1 HAG zugunsten des in Heimarbeit Beschäftigten vorsehen, ist eine in sich geschlossene, einheitliche Regelung, die in zeitlicher Hinsicht nicht weiter reicht als die gesetzlichen Kündigungsfristen nach § 29 Abs. 2 bis Abs. 5 HAG. Kündigt der Auftraggeber das Heimarbeitsverhältnis nach Ablauf des Zeitraums, für den er nach § 29 Abs. 8 Satz 1 HAG Entgeltsicherung schuldet, besteht kein Entgeltanspruch des in Heimarbeit Beschäftigten nach § 29 Abs. 7 HAG für einen weiteren Zeitraum.
Tatbestand
1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Zahlung von Vergütung und Abgeltung von Urlaub aus einem Heimarbeitsverhältnis in Anspruch.
2
Der Kläger erbrachte seit dem 1. Juli 1992 für die Beklagte Leistungen als Bauingenieur/Programmierer in Heimarbeit gegen eine Stundenvergütung iHv. zuletzt 37,50 Euro. Im Nachgang zu ihrem Beschluss, das Unternehmen mit Ablauf des 31. Dezember 2013 aufzulösen und zu liquidieren, gab die Beklagte an den Kläger ab dem 1. Dezember 2013 keine Heimarbeit mehr aus. Unter dem 14. September 2015 kündigte sie das Heimarbeitsverhältnis mit Wirkung zum 30. April 2016.
3
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte schulde ihm Vergütung wegen Annahmeverzugs. Das Heimarbeitsverhältnis der Parteien falle in den Anwendungsbereich des § 615 BGB, da es als Dienstverhältnis iSd. § 611 Abs. 1 BGB zu qualifizieren sei. Die Beklagte sei darüber hinaus zum Schadensersatz verpflichtet, da sie ihre über die Jahre gewachsene Verpflichtung, ihm eine bestimmte Arbeitsmenge zuzuweisen, verletzt habe. Jedenfalls habe er für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 30. April 2016 gemäß § 29 Abs. 7 und Abs. 8 HAG Anspruch auf Entgeltsicherung. Darüber hinaus sei die Beklagte verpflichtet, seinen Urlaub aus den Jahren 2014 und 2015 abzugelten. Für die Berechnung des Abgeltungsbetrags sei die Vergütung maßgebend, die er in der Zeit vom 1. Mai des Urlaubsjahres bis zum 30. April des Folgejahres erhalten habe.
4
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 171.970,00 Euro brutto abzüglich Zwischenverdienst von 24.999,96 Euro brutto zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus jeweils 5.930,00 Euro brutto seit dem 1. Januar 2014, 1. Februar 2014, 1. März 2014, 1. April 2014, 1. Mai 2014, 1. Juni 2014, 1. Juli 2014, 1. August 2014, 1. September 2014, 1. Oktober 2014, 1. November 2014, 1. Dezember 2014, 1. Januar 2015, 1. Februar 2015, 1. März 2015, 1. April 2015, 1. Mai 2015, 1. Juni 2015, 1. Juli 2015, 1. August 2015, 1. September 2015, 1. Oktober 2015, 1. November 2015, 1. Dezember 2015, 1. Januar 2016, 1. Februar 2016, 1. März 2016, 1. April 2016 und 1. Mai 2016 zu zahlen;
hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, an ihn 157.060,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus jeweils 5.930,00 Euro brutto seit dem 1. Januar 2014, 1. Februar 2014, 1. März 2014, 1. April 2014, 1. Mai 2014, 1. Juni 2014, 1. Juli 2014, 1. August 2014 sowie aus jeweils 5.220,00 Euro brutto seit dem 1. September 2014, 1. Oktober 2014, 1. November 2014, 1. Dezember 2014, 1. Januar 2015, 1. Februar 2015, 1. März 2015, 1. April 2015, 1. Mai 2015, 1. Juni 2015, 1. Juli 2015, 1. August 2015, 1. September 2015, 1. Oktober 2015, 1. November 2015, 1. Dezember 2015, 1. Januar 2016, 1. Februar 2016, 1. März 2016, 1. April 2016 und 1. Mai 2016 zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn Urlaubsabgeltung iHv. 15.584,94 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2016 zu zahlen.
5
Die Beklagte hat die Abweisung der Klage mit der Begründung beantragt, die Bestimmungen über die Entgeltsicherung in § 29 Abs. 7 und Abs. 8 HAG gingen als Spezialregelungen der allgemeinen Verzugsvorschrift des § 615 BGB vor. Mangels Pflichtverletzung ihrerseits kämen Ansprüche des Klägers auf Schadensersatz nicht in Betracht. Das Konkurrenzverhältnis zwischen § 29 Abs. 7 und Abs. 8 HAG schließe eine gleichzeitige Anwendung beider Vorschriften aus. Schließlich laufe der dem Grunde nach bestehende Anspruch aus § 29 Abs. 7 HAG im Streitfall leer, da der Kläger in den letzten 24 Wochen vor dem Ausspruch der Kündigung keinen Verdienst erzielt habe.
6
Soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, liegt der Revision des Klägers die folgende Prozessgeschichte zugrunde: Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte ua. rechtskräftig verurteilt, an den Kläger als Entgeltsicherung nach § 29 Abs. 8 HAG für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis zum 30. Juni 2014 einen Bruttobetrag iHv. 41.510,00 Euro abzüglich eines auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangenen Nettobetrags iHv. 3.637,43 Euro nebst anteiligen Zinsen zu zahlen. Darüber hinaus hat es die Beklagte verurteilt, an den Kläger Schadensersatz iHv. 107.019,00 Euro nebst Zinsen zu zahlen, Urlaub des Klägers aus dem Jahr 2013 mit einem Bruttobetrag iHv. 5.194,83 Euro abzugelten und hierauf Zinsen zu entrichten. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil ua. abgeändert, soweit die Beklagte zur Zahlung von Schadensersatz iHv. 107.019,00 Euro nebst Zinsen verurteilt worden ist, und die Klage insoweit abgewiesen. Auf die Anschlussberufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil teilweise abgeändert und dem Kläger Urlaubsabgeltung für das Jahr 2014 iHv. 1.103,12 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen. Im Übrigen hat das Landesarbeitsgericht die Rechtsmittel der Parteien – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – zurückgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger von der Beklagten weiterhin einen Ausgleich für die Nichtausgabe von Heimarbeit in dem Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 30. April 2016. Des Weiteren verlangt er Urlaubsabgeltung für die Jahre 2014 und 2015, soweit das Landesarbeitsgericht seine diesbezügliche Berufung zurückgewiesen hat.
Entscheidungsgründe
7
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet, soweit er die Abgeltung des aus dem Jahr 2014 stammenden Urlaubs mit einem weiteren Bruttobetrag iHv. 4.091,71 Euro sowie die Abgeltung des aus dem Jahr 2015 stammenden Urlaubs mit einem weiteren Bruttobetrag iHv. 1.103,12 Euro jeweils nebst Zinsen verlangt. Während das angefochtene Urteil hinsichtlich des ersten Klageanspruchs aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen war, konnte der Senat über den zweiten Klageanspruch abschließend entscheiden. Im Übrigen hat das Landesarbeitsgericht die Anschlussberufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Landesarbeitsgerichts, soweit hierüber im Revisionsverfahren zu befinden war, zu Recht zurückgewiesen.
8
A. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts durfte dem Kläger die von ihm begehrte Abgeltung des aus dem Jahr 2014 stammenden Urlaubs nicht versagt werden. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe die Beklagte nach der Beendigung des Heimarbeitsverhältnisses verpflichtet ist, Urlaub abzugelten, den der Kläger im Jahr 2014 erwarb.
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I. Für die in Heimarbeit Beschäftigten, zu denen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HAG Heimarbeiter – wie im Streitfall der Kläger – zählen, gelten gemäß § 12 BUrlG die allgemeinen Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes mit Ausnahme der §§ 4 bis 6, § 7 Abs. 3 und Abs. 4 und § 11 BUrlG mit weiteren Maßgaben. Der bis zur Beendigung des Heimarbeitsverhältnisses nicht genommene Urlaub ist nicht nach der allgemeinen Vorschrift des § 7 Abs. 4 BUrlG, sondern nach der speziellen Bestimmung des § 12 Nr. 1 BUrlG, die eine eigenständige Abgeltungsregelung enthält, abzugelten (vgl. BAG 11. Juli 2006 – 9 AZR 516/05 – Rn. 36, BAGE 119, 31). Danach berechnet sich das Urlaubsentgelt nach dem in der Zeit vom 1. Mai bis zum 30. April des Folgejahres oder bis zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses verdienten Arbeitsentgelts.
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II. Das Landesarbeitsgericht hat zur Berechnung des Urlaubsabgeltungsanspruchs für das Jahr 2014 rechtsfehlerhaft auf den Referenzzeitraum vom 1. Mai 2014 bis zum 30. April 2015 und nicht auf die Zeit vom 1. Mai 2013 bis zum 30. April 2014 abgestellt. Maßgebend ist der Zeitraum vom 1. Mai des dem Urlaubsjahr vorausgehenden Jahres bis zum 30. April des Urlaubsjahres. Dies ergibt die Auslegung des § 12 Nr. 1 BUrlG (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen im Einzelnen BAG 7. Februar 2019 – 6 AZR 75/18 – Rn. 16).
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1. Der Wortlaut des § 12 Nr. 1 BUrlG bestimmt den Referenzzeitraum für die Berechnung des Urlaubsentgelts nicht eindeutig. Die Vorschrift stellt auf die „Zeit vom 1. Mai bis zum 30. April des folgenden Jahres“ ab, ohne festzulegen, welche beiden Jahre maßgebend sind. Soweit ein Teil des arbeitsrechtlichen Schrifttums aus der gesetzlichen Formulierung ableitet, der bezeichnete Zeitraum liege im laufenden Jahr, dh. im Urlaubsjahr und dem sich daran anschließenden Jahr (vgl. Schaub ArbR-HdB/Linck 18. Aufl. § 104 Rn. 140; Neumann in: Neumann/Fenski/Kühn BUrlG 11. Aufl. § 12 Rn. 19; MAH ArbR/Jacobsen 4. Aufl. § 27 Rn. 198; BeckOK ArbR/Lampe Stand: 1. März 2019 BUrlG § 12 Rn. 4), ist dieser Schluss nicht zwingend. Weder stellt die Vorschrift für den Beginn des Berechnungszeitraums auf das „laufende“ Jahr ab noch stützt die Verwendung der Wörter „folgendes Jahr“ im Zusammenhang mit dem Datum des 30. April allein eine in die Zukunft gerichtete Berechnung. Wird der Zeitraum seit dem 1. Mai des vorangegangenen Jahres für die Berechnung herangezogen, liegen die ihm folgenden Monate von Januar bis April ebenfalls im „folgenden Jahr“ (ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 12 Rn. 12; Schmidt/Koberski/Tiemann/Wascher HAG 4. Aufl. Anh. § 19 Rn. 112).
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2. Der systematische Zusammenhang, in den § 12 Nr. 1 BUrlG gestellt ist, spricht entscheidend gegen das Auslegungsergebnis, zu dem das Landesarbeitsgericht gelangt ist.
13
a) Zu dem gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch nach § 12 BUrlG tritt gemäß § 208 SGB IX der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. § 210 Abs. 3 Satz 1 SGB IX, dem zufolge die Bezahlung des zusätzlichen Urlaubs der in Heimarbeit beschäftigten schwerbehinderten Menschen nach den für die Bezahlung ihres sonstigen Urlaubs geltenden Berechnungsgrundsätzen erfolgt, ordnet für den Fall, dass eine besondere Regelung nicht besteht, einen Gleichlauf des Urlaubsentgelts für den Zusatzurlaub und des Urlaubsentgelts für den Mindesturlaub an. Anders als in § 12 Nr. 1 BUrlG ist der Wortlaut des § 210 Abs. 3 Satz 2 SGB IX eindeutig. Schwerbehinderte Menschen erhalten danach als zusätzliches Urlaubsgeld 2 % des in der Zeit vom 1. Mai des vergangenen bis zum 30. April des laufenden Jahres verdienten Arbeitsentgelts ausschließlich der Unkostenzuschläge.
14
b) Für eine auf den Zeitraum vom 1. Mai des dem Urlaubsjahr vorausgehenden Jahres bis zum 30. April des Urlaubsjahres bezogene Referenzperiode spricht zudem die Regelung des § 12 Nr. 3 BUrlG. Danach soll das Urlaubsentgelt für die in § 12 Nr. 1 bezeichneten Personen bei der letzten Entgeltzahlung vor Antritt des Urlaubs ausgezahlt werden. Dieser Vorschrift liegt die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, dass bereits bei Urlaubsantritt das dem Heimarbeiter zustehende Urlaubsentgelt im Regelfall zutreffend berechnet werden kann. Dies ist nur dann möglich, wenn sich der Berechnungszeitraum – zumindest zum überwiegenden Teil – auf einen zurückliegenden Zeitraum bezieht (Schmidt/Koberski/Tiemann/Wascher HAG 4. Aufl. Anh. § 19 Rn. 112).
15
3. Die im Wesentlichen retrospektive Berechnung des Urlaubsentgelts entspricht zudem dem Sinn und Zweck des § 12 Nr. 1 BUrlG. Die Vorschrift ersetzt die für den Geldfaktor geltende Bemessungsvorschrift des § 11 Abs. 1 BUrlG, dem zufolge sich das Urlaubsentgelt nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, den ein Arbeitnehmer in den letzten 13 Wochen vor dem Beginn des Urlaubs erhalten hat, mit Ausnahme des zusätzlich für die Überstunden gezahlten Arbeitsverdienstes, bemisst. § 12 Nr. 1 BUrlG trägt den Besonderheiten der Heimarbeit Rechnung, indem er den Berechnungszeitraum von 13 Wochen auf ein Jahr ausdehnt. In Anbetracht der Schwankungen, denen das Entgelt eines Heimarbeiters üblicherweise unterworfen ist, geht der Gesetzgeber ersichtlich davon aus, ein 13 Wochen umfassender Referenzzeitraum sei für die Ermittlung des Durchschnittsverdienstes nicht hinreichend repräsentativ, da sich bei Anwendung des § 11 Abs. 1 BUrlG die Gefahr von Zufallsergebnissen merklich erhöhte (vgl. BeckOK ArbR/Lampe Stand 1. März 2019 BUrlG § 12 Rn. 4). Das Gesetz bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass neben der Erweiterung des Berechnungszeitraums auch die weitere Systematik des § 11 Abs. 1 BUrlG modifiziert werden sollte. Es liegt deshalb nahe, dass der Berechnungszeitraum des § 12 Nr. 1 BUrlG ebenso wie der des § 11 Abs. 1 BUrlG – auch – einen Vergangenheitsbezug aufweist. Während § 11 Abs. 1 BUrlG auf die letzten 13 Wochen vor dem Beginn des Urlaubs abstellt, setzt der Berechnungszeitraum des § 12 Nr. 1 BUrlG am 1. Mai des Jahres vor dem Bezugszeitraum für den Urlaub an.
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4. Für eine – im Wesentlichen – rückblickende Ermittlung des Urlaubsentgelts sprechen schließlich praktische Erwägungen. Stellt man auf einen in der Zukunft liegenden Zeitraum ab, führt dies unweigerlich zu einer Berechnung, die mit aus der schwankenden Auftragsentwicklung resultierenden Prognoseunsicherheiten belastet ist. Nach dem 30. April des dem Urlaubsjahr folgenden Jahres müsste eine Nachberechnung durchgeführt werden, die gegebenenfalls im Falle einer Überzahlung zu einer Erstattung und im Falle einer zu geringen Entgeltzahlung zu Nachzahlungen führen würde (vgl. Schmidt/Koberski/Tiemann/Wascher HAG 4. Aufl. Anh. § 19 Rn. 113).
17
5. Das Unionsrecht gibt kein abweichendes Ergebnis vor.
18
a) Das Unionsrecht ist für die Auslegung des § 12 Nr. 1 BUrlG nicht maßgebend. Die Bestimmungen der RL 2003/88/EG sind nur auf Arbeitnehmer anwendbar (EuGH 20. November 2018 – C-147/17 – [Sindicatul Familia Constanta ua.] Rn. 40). Heimarbeiter, die nicht Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie RL 2003/88/EG sind, werden von deren Art. 7 nicht erfasst.
19
aa) Der Arbeitnehmerbegriff kann für die Zwecke der Anwendung der RL 2003/88/EG nicht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt werden, sondern hat eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung. Er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnet. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisungen Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Hieraus folgt, dass das Arbeitsverhältnis das Vorliegen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber voraussetzt. Ob ein solches gegeben ist, muss in jedem Einzelfall anhand aller Gesichtspunkte und aller Umstände, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen, geprüft werden (EuGH 20. November 2018 – C-147/17 – [Sindicatul Familia Constanta ua.] Rn. 41 f. mwN).
20
Die formale Einstufung als Selbständiger nach innerstaatlichem Recht steht der Annahme, ein Beschäftigter sei Arbeitnehmer, nicht entgegen, wenn die Selbständigkeit nur fiktiv ist und damit ein Arbeitsverhältnis verschleiert (EuGH 4. Dezember 2014 – C-413/13 – [FNV Kunsten Informatie en Media] Rn. 35; 11. November 2010 – C-232/09 – [Danosa] Rn. 41; 13. Januar 2004 – C-256/01 – [Allonby] Rn. 71). Die Eigenschaft als „Arbeitnehmer“ iSd. Unionsrechts wird demnach nicht dadurch berührt, dass eine Person aus steuerlichen, administrativen oder verwaltungstechnischen Gründen nach innerstaatlichem Recht als selbstständiger Dienstleistungserbringer beschäftigt wird, sofern sie nach Weisung ihres Arbeitgebers handelt, insbesondere was ihre Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt ihrer Arbeit angeht, nicht an den geschäftlichen Risiken dieses Arbeitgebers beteiligt ist, während der Dauer des Vertragsverhältnisses in dessen Unternehmen eingegliedert ist und daher mit ihm eine wirtschaftliche Einheit bildet (EuGH 4. Dezember 2014 – C-413/13 – [FNV Kunsten Informatie en Media] Rn. 36 mwN).
21
bb) Nach diesen Grundsätzen sind Heimarbeiter iSd. § 2 Abs. 1 Satz 1 HAG keine Arbeitnehmer iSd. Unionsrechts. Es handelt sich nicht um „Scheinselbstständige“ iSd. Rechtsprechung des Gerichtshofs, sondern um Selbstständige, auch wenn sie die Verwertung der Arbeitsergebnisse dem Auftraggeber überlassen. Sie können die Zeit, die Durchführung sowie den Ort ihrer Arbeitsleistung frei bestimmen, Hilfspersonen hinzuziehen und die Werkzeuge sowie die Arbeitsmethode selbstständig wählen. Sie sind – anders als Arbeitnehmer – nicht in das Unternehmen des Auftraggebers eingegliedert. Dass dies auch auf die Person des Klägers zutrifft, hat der Senat in seiner Entscheidung vom 14. Juni 2016 (- 9 AZR 305/15 – Rn. 21 ff., BAGE 155, 264) festgestellt.
22
cc) Eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es nicht. Mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die unionsrechtlichen Grundsätze, die für den Anwendungsbereich der RL 2003/88/EG und den hierfür maßgebenden Arbeitnehmerbegriff maßgebend sind, als geklärt anzusehen (EuGH 20. November 2018 – C-147/17 – [Sindicatul Familia Constanta ua.] Rn. 40 ff. mwN).
23
b) Im Übrigen gestaltet § 12 Nr. 1 BUrlG den Urlaubsanspruch eines Heimarbeiters unionsrechtskonform aus. Mit dem in Art. 7 RL 2003/88/EG geregelten Anspruch eines Arbeitnehmers auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen korrespondiert die Verpflichtung des Arbeitgebers, das Arbeitsentgelt für die Dauer des Jahresurlaubs im Sinne dieser Richtlinie weiter zu gewähren. Der Arbeitnehmer muss für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten. Dadurch soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (vgl. EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 32 f. mwN). Diese Vorgaben des Unionsrechts hat der Gesetzgeber in § 12 Nr. 1 BUrlG umgesetzt. Durch den Rückgriff auf einen einjährigen Referenzzeitraum ist sichergestellt, dass der Heimarbeiter ein Urlaubsentgelt erhält, das dem Entgelt vergleichbar ist, das er erzielt hätte, wenn er im Urlaubszeitraum tatsächlich gearbeitet hätte.
24
III. Das Urteil stellt sich insoweit weder aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO) noch ist dem Senat eine eigene Sachentscheidung möglich (§ 563 Abs. 3 ZPO). Das Landesarbeitsgericht hat – unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung konsequent – keine Feststellungen über die Höhe des vom Kläger im Zeitraum vom 1. Mai 2013 bis zum 30. April 2014 erzielten Entgelts getroffen. Diese wird es nach der Zurückverweisung der Sache nachzuholen haben.
25
B. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage hinsichtlich des auf die Abgeltung des Urlaubs aus dem Jahr 2015 gerichteten Antrags zu Unrecht insgesamt abgewiesen. Der Senat kann insoweit nach § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst entscheiden. Der Leistungsantrag ist teilweise begründet.
26
I. Der dem Kläger nach § 12 Nr. 1 BUrlG für das Jahr 2015 zustehende Urlaub ist mit einem Betrag iHv. 1.103,12 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25. Mai 2017 abzugelten. Nach der insoweit rechtskräftigen Entscheidung des Arbeitsgerichts betrug das Entgelt, das der Kläger im maßgebenden Berechnungszeitraum vom 1. Mai 2014 bis zum 30. April 2015 erzielte, insgesamt 12.122,24 Euro brutto (im Mai und im Juni 2014 jeweils 6.061,12 Euro brutto). Hieraus errechnet sich ein Abgeltungsanspruch iHv. 1.103,12 Euro brutto (9,1 vH von 12.122,24 Euro brutto).
27
II. Die Zinsentscheidung beruht auf § 291, § 288 Abs. 1 BGB. Der Zinsanspruch besteht allerdings nicht bereits ab dem 1. Mai 2016, sondern erst ab dem 25. Mai 2017.
28
1. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung entsteht mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wird grundsätzlich zu diesem Zeitpunkt fällig (vgl. BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 45/16 – Rn. 30 mwN). Für die Leistung der Abgeltung ist jedoch nicht eine Zeit nach dem Kalender bestimmt, wie dies § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB verlangt (vgl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 44 f., BAGE 142, 371).
29
2. Mangels vorheriger Mahnung stehen dem Kläger lediglich Prozesszinsen nach § 291 iVm. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB zu. Ein auf die Abgeltung von Urlaub bezogenes Prozessrechtsverhältnis ist zwischen den Parteien erst am 24. Mai 2017 begründet worden, als der Beklagten der Schriftsatz des Klägers vom 18. Mai 2017 zugestellt worden ist. Der Zinsanspruch des Klägers besteht ab dem Tag nach der Zustellung (vgl. BAG 19. Juni 2018 – 9 AZR 615/17 – Rn. 69 mwN, BAGE 163, 72).
30
C. Im Übrigen ist die Revision unbegründet.
31
I. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Vergütung für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 30. April 2016.
32
1. Die gebotene Auslegung der Revisionsanträge (vgl. hierzu BAG 8. Mai 2018 – 9 AZR 531/17 – Rn. 14) ergibt, dass der Kläger die Beklagte in der Revisionsinstanz ua. auf die Zahlung weiterer Vergütung iHv. 130.460,00 Euro brutto in Anspruch nimmt. Soweit der Kläger mit dem Revisionsantrag zu 1 „zusätzlich zu dem in Ziffer 2 des Tenors ausgeurteilten Betrag“ weitere 48.440,96 Euro brutto geltend macht, bezieht er sich auf den Bruttobetrag, den das Arbeitsgericht ihm unter Ziffer 2 des Urteils zugesprochen hat. Nachdem das Landesarbeitsgericht die Klage insoweit abgewiesen hat, begehrt der Kläger mit der Revision die Zahlung dieses Betrags (82.019,04 Euro brutto) zuzüglich des im Revisionsantrag zu 1 bezifferten Betrags (48.440,96 Euro brutto). Diesen Anspruch verfolgt er primär unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs (§ 615 Satz 1 BGB) und des Schadensersatzes bei Pflichtverletzungen des Schuldners (§ 280 Abs. 1 Satz 1 BGB). Hilfsweise stützt der Kläger sein Klageverlangen in Höhe eines Teilbetrags (115.550,00 Euro brutto) auf die Bestimmungen über die Entgeltsicherung im Heimarbeitsverhältnis (§ 29 Abs. 7 und 8 HAG).
33
2. Die von dem Kläger begehrte Vergütung aus Annahmeverzug (§ 615 Satz 1 BGB) steht ihm nicht zu. Hierbei bedarf es keiner Entscheidung, ob mit dem Landesarbeitsgericht davon auszugehen ist, dass Heimarbeitsverhältnisse dem Anwendungsbereich des § 615 BGB entzogen sind, weil § 29 Abs. 7 und Abs. 8 HAG abschließende, den Besonderheiten des Heimarbeitsverhältnisses angepasste Regelungen zur Entgeltsicherung enthalten. Die Beklagte befand sich nicht im Verzug mit der Annahme von Diensten, die der Kläger schuldete.
34
a) § 615 Satz 1 BGB gewährt keinen eigenständigen Anspruch, sondern perpetuiert unter den dort genannten Voraussetzungen den ursprünglichen Erfüllungsanspruch. Die gesetzliche Vergütungspflicht knüpft nach § 611 Abs. 1 BGB an die Leistung der „versprochenen“ Dienste an. In Annahmeverzug kann der Auftraggeber nur geraten, wenn zum Zeitpunkt des Angebots der Leistung ein erfüllbares Dienstverhältnis besteht, aufgrund dessen der Dienstnehmer berechtigt ist, die Dienstleistung zu erbringen, und es dem Auftraggeber obliegt, die Dienstleistung anzunehmen (vgl. BAG 27. Januar 2016 – 5 AZR 9/15 – Rn. 16 mwN, BAGE 154, 100). Fehlt es an einer Leistungspflicht des Schuldners, kann der Gläubiger folgerichtig nicht in Annahmeverzug geraten (vgl. Staudinger/Richardi/Fischinger [2016] § 615 BGB Rn. 46; MüKoBGB/Henssler 7. Aufl. § 615 BGB Rn. 13; ErfK/Preis 19. Aufl. BGB § 615 Rn. 10).
35
b) In der Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum 30. April 2016 bestand weder eine Verpflichtung der Beklagten, Heimarbeit an den Kläger auszugeben, noch eine Verpflichtung, Leistungen des Klägers anzunehmen.
36
aa) Ein Heimarbeitsverhältnis ist durch Merkmale des Arbeitsrechts wie auch des Werkvertragsrechts gekennzeichnet. Es unterscheidet sich von einem Arbeitsverhältnis maßgeblich durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit. Der Heimarbeiter kann seinen Arbeitsplatz sowie Zeitpunkt und Zeitdauer seiner Tätigkeit frei bestimmen, dabei Hilfspersonen hinzuziehen und seine Werkzeuge und Geräte sowie seine Arbeitsmethode selbständig wählen. Er gestaltet damit seine Tätigkeit im Wesentlichen frei. Anders als ein Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis wird ein Heimarbeiter mit der Begründung des Heimarbeitsverhältnisses nicht ohne weiteres „zur Leistung der versprochenen Dienste“ und der Auftraggeber nicht unmittelbar „zur Gewährung der vereinbarten Vergütung“ (§ 611 Abs. 1 BGB) verpflichtet. Vorbehaltlich besonderer Absprachen folgt aus der bloßen Begründung eines Heimarbeitsverhältnisses auch nicht, dass der Heimarbeiter einen Anspruch auf die Ausgabe einer bestimmten Arbeitsmenge und der Auftraggeber einen Anspruch auf Erledigung eines bestimmten Arbeitspensums hat (vgl. BAG 11. Juli 2006 – 9 AZR 516/05 – Rn. 20, BAGE 119, 31). Vielmehr werden die Leistungspflichten erst mit der Ausgabe und Entgegennahme der Heimarbeit begründet (vgl. Otten NZA 1995, 289, 290 f.).
37
bb) Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, dass die Beklagte dem Kläger nicht zugesagt hat, ihm monatlich eine bestimmte Arbeitsmenge anzudienen.
38
(1) Die Auslegung des Verhaltens der Parteien durch das Landesarbeitsgericht unterliegt ebenso wie die Auslegung einer ausdrücklichen nichttypischen Willenserklärung einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle. Revisionsrechtlich ist sie nur dahin zu überprüfen, ob die Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB verletzt worden sind, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder Umstände, die für die Auslegung von Bedeutung sein können, außer Betracht gelassen worden sind (vgl. BAG 24. Oktober 2018 – 10 AZR 19/18 – Rn. 15).
39
(2) Diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die Auslegung des Landesarbeitsgerichts stand.
40
(a) Zutreffend ist der rechtliche Ausgangspunkt des Landesarbeitsgerichts, dem zufolge sich durch die jahrelange Ausgabe einer bestimmten Arbeitsmenge und hinzutretende Begleitumstände die Rechte und Pflichten der Parteien eines Heimarbeitsvertrags dahin konkretisieren können, dass eine bestimmte Menge vom Auftraggeber auszugeben und vom Heimarbeiter zu bearbeiten ist (BAG 13. September 1983 – 3 AZR 270/81 – zu I 3 b der Gründe, BAGE 44, 124). Dass der Auftraggeber an einen Heimarbeiter für einen bestimmten Zeitraum in bestimmtem Umfang Heimarbeit ausgibt, reicht für sich genommen nicht aus, um eine Vertragsänderung anzunehmen. Bei der Ausgabe von Heimarbeit handelt es sich um ein tatsächliches Verhalten, dem nicht notwendig ein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Vertragsinhalt zukommt. Stattdessen ist auf die ausdrücklichen oder konkludenten Absprachen abzustellen, die der Ausgabe von Heimarbeit zugrunde liegen (vgl. BAG 26. September 2012 – 10 AZR 336/11 – Rn. 14). Im Rahmen der rechtlichen Bewertung der Vertragsdurchführung kann ua. von Bedeutung sein, auf wessen Initiative die Ausgabe von Heimarbeit zurückgeht und wie die Arbeitsmenge zwischen den Parteien des Heimarbeitsvertrags festgelegt wird.
41
(b) Das Landesarbeitsgericht hat im Einklang mit diesen Grundsätzen angenommen, eine konkludente Vertragsänderung sei im Streitfall nicht anzunehmen, da keine Umstände ersichtlich seien, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf die Beibehaltung des bisherigen Leistungsumfangs begründeten. Bei seiner Auslegung hat das Landesarbeitsgericht die maßgeblichen tatsächlichen Umstände des Streitfalls berücksichtigt. Es hat in seine Überlegung einbezogen, dass die Beklagte dem Kläger in der Vergangenheit regelmäßig nach Fertigstellung eines Projektes ein neues zugewiesen hat. Allerdings stand es dem Kläger frei, die ihm angebotenen Projekte zu bearbeiten. Er erledigte die ihm angedienten Aufgaben nach eigener Vorstellung in dem zeitlichen Rahmen, den er selbst für erforderlich und angemessen hielt. Sonstige Begleitumstände, die über den bloßen Vollzug des Heimarbeitsverhältnisses hinaus für eine vertragliche Festlegung einer bestimmten Arbeitsmenge sprechen, ergeben sich weder aus den weiteren Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch aus dem Vorbringen der Parteien.
42
3. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB zu leisten. Der Tatbestand, an den das Gesetz für den Fall, dass eine Vertragspartei eine ihr obliegende Pflicht verletzt, eine Haftung knüpft, ist im Streitfall nicht erfüllt. Haben die Parteien des Heimarbeitsvertrags ausdrücklich oder konkludent vereinbart, dass eine bestimmte Auftragsmenge vom Auftraggeber auszugeben und vom Heimarbeiter zu bearbeiten ist, kann dem Heimarbeiter ein Schadensersatzanspruch zustehen, wenn der Auftraggeber die Auftragsmenge vertragswidrig kürzt (vgl. BAG 13. September 1983 – 3 AZR 270/81 – zu I 3 b der Gründe, BAGE 44, 124). Diese Voraussetzungen liegen im Verhältnis der Parteien zueinander nicht vor. Zwischen den Parteien bestand weder eine ausdrückliche noch eine konkludente Abrede, der zufolge die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, dem Kläger eine bestimmte Menge an Heimarbeit zuzuweisen.
43
4. Der für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag gestellte Hilfsantrag fällt damit dem Senat zur Entscheidung an. Der Hilfsantrag ist unbegründet. Die Beklagte ist nicht gemäß § 29 Abs. 7 und Abs. 8 Satz 1 HAG verpflichtet, an den Kläger für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 30. April 2016 Entgeltsicherung iHv. 115.550,00 Euro brutto zu zahlen. Gibt der Auftraggeber – wie im Streitfall die Beklagte – im fortbestehenden Heimarbeitsverhältnis keine Heimarbeit aus oder verringert er sie iSd. § 29 Abs. 8 Satz 1 HAG, schuldet er die Zahlung des durchschnittlichen Entgelts der zurückliegenden 24 Wochen für die Dauer der Kündigungsfrist. Der Entgeltschutz des Heimarbeiters nach § 29 Abs. 7 und Abs. 8 Satz 1 HAG reicht zeitlich nicht weiter als die gesetzlichen Kündigungsfristen nach § 29 Abs. 2 bis Abs. 5 HAG. Dies bedeutet im Ergebnis, dass dem Heimarbeiter der gesetzliche Entgeltschutz nur einmal zusteht. Kündigt der Auftraggeber das Heimarbeitsverhältnis, nachdem der Zeitraum, für den er nach § 29 Abs. 8 Satz 1 HAG Entgeltsicherung schuldet, verstrichen ist, besteht kein Entgeltanspruch des Heimarbeiters nach § 29 Abs. 7 HAG für einen weiteren Zeitraum. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.
44
a) Kündigt der Auftraggeber das Heimarbeitsverhältnis, hat der Heimarbeiter gemäß § 29 Abs. 7 HAG für die Dauer der Kündigungsfrist nach den Absätzen 2 bis Abs. 5 auch bei Ausgabe einer geringeren Arbeitsmenge Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts, das er im Durchschnitt der letzten 24 Wochen vor der Kündigung aus der Heimarbeit erzielt hat. Die Höhe des Entgelts bemisst sich nach Zwölfteln und beträgt in Abhängigkeit zur Länge der Kündigungsfrist zwischen einem Zwölftel und sechs Zwölfteln des im Berechnungszeitraum erzielten Gesamtbetrags. Sinn und Zweck der Bestimmung ist es, dem Heimarbeiter für die Dauer der Kündigungsfrist auch bei einer Verringerung der Auftragsmenge die Vergütung in der bisherigen Höhe zu erhalten. Dadurch wird der Schutzzweck der Kündigungsfristen des § 29 Abs. 2 bis Abs. 5 HAG verwirklicht. Auch wenn der Heimarbeiter grundsätzlich keinen Anspruch auf die Ausgabe einer bestimmten Auftragsmenge hat, so ist er doch im Regelfall wirtschaftlich auf die Aufträge des Auftraggebers angewiesen. Mit der Einräumung eines Anspruchs auf Arbeitsentgelt für die Dauer der Kündigungsfrist stellt das Gesetz sicher, dass der Auftraggeber die aus sozialen Gründen eingeräumte Kündigungsfrist nicht dadurch unterläuft, dass er an den Heimarbeiter eine geringere Menge an Arbeit aushändigt als in der Vergangenheit (vgl. BAG 11. Juli 2006 – 9 AZR 516/05 – Rn. 20, BAGE 119, 31).
45
b) Neben § 29 Abs. 7 HAG enthält das Gesetz mit § 29 Abs. 8 HAG eine weitere Vorschrift, die sicherstellt, dass der Kündigungsschutz, den ein Heimarbeiter nach § 29 Abs. 2 bis Abs. 5 HAG genießt, nicht durch den Auftraggeber wirtschaftlich entwertet wird. Nach dieser Bestimmung gilt § 29 Abs. 7 HAG entsprechend, wenn der Auftraggeber die Arbeitsmenge, die er mindestens ein Jahr regelmäßig an einen Beschäftigten, auf den die Voraussetzungen der Absätze 2, 3, 4 oder 5 des § 29 HAG zutreffen, ausgegeben hat, um mindestens ein Viertel verringert. Die Vorschrift garantiert dem Heimarbeiter für die Dauer der für ihn geltenden ordentlichen Kündigungsfrist das bisherige Einkommen auch dann, wenn der Auftraggeber die Auftragsmenge erheblich verringert, ohne zugleich eine Kündigung auszusprechen. Der Auftraggeber muss sich in diesen Fällen so behandeln lassen, als hätte er das Heimarbeitsverhältnis gekündigt (vgl. BAG 13. September 1983 – 3 AZR 270/81 – zu I 2 der Gründe, BAGE 44, 124).
46
c) § 29 Abs. 7 und Abs. 8 HAG enthalten eine in sich geschlossene, einheitliche Regelung. Nach Ausspruch der Kündigung räumt § 29 Abs. 7 HAG dem Heimarbeiter eine Entgeltgarantie für die Dauer der Kündigungsfrist ein. § 29 Abs. 8 HAG erhält dem Heimarbeiter das Einkommen bei einer erheblichen Verringerung der Arbeitsmenge, ohne dass der Auftraggeber zuvor eine Kündigung ausgesprochen hat. Beide Vorschriften schaffen einen Ausgleich dafür, dass der Heimarbeiter keinen Anspruch auf Ausgabe einer bestimmten Arbeitsmenge hat und der Auftraggeber grundsätzlich berechtigt ist, die Auftragsmenge herabzusetzen. Ein Heimarbeiter soll für den Zeitraum, in dem der Auftraggeber keine Arbeit ausgibt oder diese erheblich verringert, so gestellt sein, als wäre ihm die volle Arbeitsmenge zugeteilt worden und als hätte er die Arbeitsleistung erbracht. Die Entgeltsicherung, die der Heimarbeiter genießt, ist jedoch zeitlich befristet. Das bisherige Einkommen wird – unabhängig vom Ausspruch einer Kündigung – insgesamt nur für die Dauer der Kündigungsfrist garantiert (vgl. BAG 13. September 1983 – 3 AZR 270/81 – zu I 3 a der Gründe, BAGE 44, 124).
47
d) Sowohl die Bezugnahme in § 29 Abs. 8 HAG auf die Entgeltgarantie bei der Kündigung nach § 29 Abs. 7 HAG als auch das einheitliche Regelungsziel bedingen ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Absätzen 7 und 8 des § 29 HAG, das eine Anwendung beider Vorschriften nebeneinander ausschließt. Der Anspruch nach § 29 Abs. 8 HAG knüpft an die Entgeltgarantie für die Dauer der gesetzlichen Kündigungsfristen an. Der Schutz des Heimarbeiters besteht darin, dass sein Entgelt für die Dauer der Kündigungsfrist gesichert ist. Ob diese Frist tatsächlich durch die Kündigung in Gang gesetzt wird oder nur fiktiv anzuwenden ist, weil die Arbeitsausgabe wesentlich reduziert oder ganz eingestellt wurde, hat keine rechtliche Bedeutung (BAG 13. September 1983 – 3 AZR 270/81 – zu I 2 der Gründe, BAGE 44, 124). Verringert der Auftraggeber die Ausgabe von Heimarbeit dauerhaft auf null, bleibt dem Heimarbeiter das Arbeitsentgelt in der bisherigen Höhe nur einmalig für die Dauer der Kündigungsfrist erhalten. Die Kündigung des ausgesetzten Heimarbeitsverhältnisses stellt keinen neuen Tatbestand dar, der einen weiteren Anspruch auf Entgeltsicherung auslöst. Denn durch die vorausgegangene Nichtausgabe von Heimarbeit war das Heimarbeitsverhältnis bereits gegenstandslos; hieran ändert die nachfolgende Kündigung nichts.
48
e) Nach diesen Grundsätzen kann der Kläger ab dem 1. Juli 2014 die Gewährung einer weiteren Entgeltsicherung weder nach § 29 Abs. 8 HAG noch nach § 29 Abs. 7 HAG verlangen. Das Landesarbeitsgericht hat dem Kläger bereits für den Zeitraum vom 1. Dezember 2013 bis zum 30. Juni 2014, der der für ihn geltenden Kündigungsfrist nach § 29 Abs. 4 Nr. 7 HAG entspricht, rechtskräftig eine Entgeltsicherung nach § 29 Abs. 8 HAG zugesprochen. Für eine weitere Entgeltsicherung bleibt daher kein Raum.
49
II. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den im Jahr 2015 entstandenen Urlaub mit einem 1.103,12 Euro übersteigenden Bruttobetrag abzugelten. Auf der Grundlage eines im Zeitraum vom 1. Mai 2014 bis zum 30. April 2015 erzielten Entgelts iHv. insgesamt 12.122,24 Euro beläuft sich der Abgeltungsanspruch des Klägers auf einen Bruttobetrag iHv. 1.103,12 Euro brutto (9,1 vH von 12.122,24 Euro brutto). Ein darüber hinausgehender Betrag steht ihm nicht zu.
Kiel
Pessinger
Suckow
Starke
Lücke |
bag_28-20 | 27.08.2020 | 27.08.2020
28/20 - Kopftuchverbot - Benachteiligung wegen der Religion
Die Klägerin ist Diplom-Informatikerin; sie bezeichnet sich als gläubige Muslima und trägt als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Die Klägerin bewarb sich beim beklagten Land im Rahmen eines Quereinstiegs mit berufsbegleitendem Referendariat für eine Beschäftigung als Lehrerin in den Fächern Informatik und Mathematik in der Integrierten Sekundarschule (ISS), dem Gymnasium oder der Beruflichen Schule. Das beklagte Land lud sie zu einem Bewerbungsgespräch ein. Im Anschluss an dieses Gespräch, bei dem die Klägerin ein Kopftuch trug, sprach sie ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz* an. Die Klägerin erklärte daraufhin, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen.
Nachdem ihre Bewerbung erfolglos geblieben war, nahm die Klägerin das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach dem AGG in Anspruch. Sie hat die Auffassung vertreten, das beklagte Land habe sie entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihrer Religion benachteiligt. Zur Rechtfertigung dieser Benachteiligung könne das beklagte Land sich nicht mit Erfolg auf § 2 Berliner Neutralitätsgesetz berufen. Das darin geregelte pauschale Verbot, innerhalb des Dienstes ein muslimisches Kopftuch zu tragen, verstoße gegen die durch Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit. Das beklagte Land hat demgegenüber eingewandt, das Berliner Neutralitätsgesetz sei verfassungsgemäß und auch unionsrechtskonform. Die darin geregelte Verpflichtung der Lehrkräfte, im Dienst ua. keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG bzw. der unionsrechtlichen Vorgaben dar. Angesichts der Vielzahl von Nationalitäten und Religionen, die in der Stadt vertreten seien, sei eine strikte Neutralität im Unterricht aus präventiven Gründen erforderlich; des Nachweises einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität bedürfe es nicht. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verurteilt. Gegen diese Entscheidung hat das beklagte Land Revision eingelegt, mit der es sein Begehren nach Klageabweisung weiterverfolgt. Die Klägerin hat Anschlussrevision eingelegt, mit welcher sie die Zahlung einer höheren Entschädigung begehrt.
Sowohl die Revision des beklagten Landes als auch die Anschlussrevision der Klägerin hatten vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Klägerin kann von dem beklagten Land nach § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des AGG die Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verlangen. Die Klägerin hat als erfolglose Bewerberin eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Der Umstand, dass ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle die Klägerin im Anschluss an das Bewerbungsgespräch auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz angesprochen und die Klägerin daraufhin erklärt hat, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen, begründet die Vermutung, dass die Klägerin wegen der Religion benachteiligt wurde. Diese Vermutung hat das beklagte Land nicht widerlegt. Die Benachteiligung der Klägerin ist nicht nach § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Das beklagte Land kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf die in § 2 Berliner Neutralitätsgesetz getroffene Regelung berufen, wonach es Lehrkräften ua. untersagt ist, innerhalb des Dienstes auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke und damit auch ein sog. islamisches Kopftuch zu tragen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an die der Senat nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden ist, führt eine Regelung, die – wie § 2 Berliner Neutralitätsgesetz – das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs durch eine Lehrkraft im Dienst ohne Weiteres, dh. schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule verbietet, zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG, sofern das Tragen des Kopftuchs – wie hier im Fall der Klägerin – nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. § 2 Berliner Neutralitätsgesetz ist in diesen Fällen daher verfassungskonform dahin auszulegen, dass das Verbot des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt. Eine solche konkrete Gefahr für diese Schutzgüter hat das beklagte Land indes nicht dargetan. Aus den Vorgaben von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, die der nationale Gesetzgeber mit § 8 Abs. 1 AGG in das nationale Recht umgesetzt hat, und aus den in Art. 10 und Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union getroffenen Regelungen ergibt sich für das vorliegende Verfahren nichts Abweichendes. Den Bestimmungen in §§ 2 bis 4 Berliner Neutralitätsgesetz fehlt es bereits an der unionsrechtlich erforderlichen Kohärenz. Mit den Ausnahmeregelungen in den §§ 3 und 4 Berliner Neutralitätsgesetz stellt der Berliner Gesetzgeber sein dem § 2 Berliner Neutralitätsgesetz zugrundeliegendes Regelungskonzept selbst in Frage. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Höhe der der Klägerin zustehenden Entschädigung hielt im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Kontrolle stand.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. August 2020 – 8 AZR 62/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. November 2018 – 7 Sa 963/18 –
*§ 2 Neutralitätsgesetz
Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht. | Tenor
Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. November 2018 – 7 Sa 963/18 – wird zurückgewiesen.
Die Anschlussrevision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. November 2018 – 7 Sa 963/18 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Leitsatz
Die Regelung in § 2 Berliner NeutrG, wonach es Lehrkräften und anderen Beschäftigten mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen ohne weiteres ua. verboten ist, innerhalb des Dienstes auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke, mithin auch ein islamisches Kopftuch zu tragen, ist, sofern das Tragen dieses Kleidungsstücks nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist, verfassungskonform dahin auszulegen, dass sie das Tragen des Kopftuchs innerhalb des Dienstes nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität verbietet.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung wegen der Religion zu zahlen.
2
Die Klägerin ist Diplom-Informatikerin. Sie bezeichnet sich als gläubige Muslima und trägt als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Die Klägerin bewarb sich beim beklagten Land im Rahmen eines Quereinstiegs mit berufsbegleitendem Referendariat auf eine Stelle als Lehrerin in den Fächern Informatik und Mathematik in der Integrierten Sekundarschule (ISS), dem Gymnasium oder der beruflichen Schule. Sie teilte ferner mit, dass sie regional für einen Einsatz in den Bezirken „Mitte“, „Friedrichshain-Kreuzberg“, „Tempelhof-Schöneberg“, „Neukölln“ sowie „Treptow-Köpenick“ zur Verfügung stehe.
3
Mit E-Mail vom 3. Januar 2017 lud das beklagte Land die Klägerin „im Rahmen der Auswahlverfahren für unbefristete Einstellungen in den Berliner Schuldienst“ zu einem Bewerbungsgespräch am 11. Januar 2017 ein. Während des Bewerbungsgesprächs trug die Klägerin ein Kopftuch. Als die den Raum verließ, sprach sie der Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle S auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz an, wobei der genaue Inhalt dieses Gesprächs zwischen den Parteien streitig ist. Die Klägerin erklärte daraufhin, sie werde das Kopftuch im Unterricht nicht ablegen.
4
Das Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin vom 27. Januar 2005 (sog. Berliner Neutralitätsgesetz, im Folgenden Berliner NeutrG) hat ua. folgenden Wortlaut:
„Präambel
Alle Beschäftigten genießen Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Keine Beschäftigte und kein Beschäftigter darf wegen ihres oder seines Glaubens oder ihres oder seines weltanschaulichen Bekenntnisses diskriminiert werden. Gleichzeitig ist das Land Berlin zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Deshalb müssen sich Beschäftigte des Landes Berlin in den Bereichen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen ist, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis zurückhalten.
…
§ 2
Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.
§ 3
§ 2 Satz 1 findet keine Anwendung auf die beruflichen Schulen im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 des Schulgesetzes sowie auf Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 des Schulgesetzes. Die oberste Dienstbehörde kann für weitere Schularten oder für Schulen besonderer pädagogischer Prägung Ausnahmen zulassen, wenn dadurch die weltanschaulich-religiöse Neutralität der öffentlichen Schulen gegenüber Schülerinnen und Schülern nicht in Frage gestellt und der Schulfrieden nicht gefährdet oder gestört wird.
§ 4
Für Beamtinnen und Beamte im Vorbereitungsdienst und andere in der Ausbildung befindliche Personen können Ausnahmen von den §§ 1 und 2 zugelassen werden. Die beamtenrechtliche Entscheidung trifft die Dienstbehörde, die Entscheidung in den übrigen Fällen die jeweils zuständige Personalstelle.“
5
Nachdem die Klägerin vom beklagten Land in der Folgezeit weder eine Zu- noch eine Absage erhalten hatte, machte sie diesem gegenüber mit Schreiben vom 10. März 2017 einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung wegen ihrer Religion geltend. Das beklagte Land antwortete hierauf nicht.
6
Mit ihrer am 9. Juni 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen und dem beklagten Land am 15. Juni 2017 zugestellten Klage hat die Klägerin ihr auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gerichtetes Begehren weiterverfolgt, wobei die Entschädigung nicht unter drei auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttomonatsgehältern liegen sollte.
7
Die Klägerin hat behauptet, das beklagte Land habe sie entgegen den Vorgaben des AGG benachteiligt. Sie sei wegen ihres Kopftuchs und damit wegen ihrer Religion nicht eingestellt worden. Anlässlich des Bewerbungsgesprächs am 11. Januar 2017 habe sie der Mitarbeiter der zentralen Bewerbungsstelle S ausdrücklich auf ihr Kopftuch angesprochen und gesagt: „Sie wissen, dass das Tragen eines Kopftuchs an einer öffentlichen Schule verboten ist. Die anderen Kolleginnen machen das so, dass sie es ablegen. Wie wollen Sie das machen?“ Sie habe daraufhin erklärt, dass sie nicht bereit sei, das Kopftuch abzulegen. Zudem habe sie darauf hingewiesen, dass Referendarinnen im berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst mit Kopftuch unterrichten würden, was nicht verboten sei. Herr S habe hierauf erwidert, dass eine Einstellung mit Kopftuch nicht möglich sei.
8
Die Benachteiligung wegen ihrer Religion sei auch nicht ausnahmsweise zulässig. Die Anforderung an Lehrkräfte, im Dienst keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG dar. Das beklagte Land könne sich zur Rechtfertigung der Benachteiligung nicht mit Erfolg auf § 2 Berliner NeutrG stützen. Das darin enthaltene Verbot, innerhalb des Dienstes ein islamisches Kopftuch zu tragen, verstoße gegen Art. 4 GG. Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 27. Januar 2015 (- 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 -) geforderte hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität habe das beklagte Land nicht dargetan. Konkrete Konflikte an den Berliner Schulen seien nicht benannt worden. Solche seien auch nicht im Rahmen der Beschäftigung von Referendarinnen mit Kopftuch aufgetreten. Jedenfalls falle sie als Quereinsteigerin mit berufsbegleitendem Referendariat unter die Ausnahmeregelung des § 4 Berliner NeutrG.
9
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an sie eine angemessene Entschädigung wegen einer Benachteiligung wegen der Religion zu zahlen, deren genaue Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird.
10
Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat behauptet, die Klägerin sei nicht deshalb nicht eingestellt worden, weil sie ein Kopftuch getragen habe, sondern weil es für die Region, die sie als gewünschten Einsatzort genannt habe, für die an den Berufsbildenden Schulen zu besetzenden Stellen mit dem Fach Informatik ausreichend Laufbahnbewerber gegeben habe. Zwei mit der Klägerin vergleichbare Quereinsteiger seien für eine andere Region eingestellt worden. Der Mitarbeiter der zentralen Bewerbungsstelle S habe die Klägerin am 11. Januar 2017 neutral und ohne Bezug auf eine konkrete Stelle beim Hinausbegleiten auf die Rechtslage nach dem Berliner NeutrG im Hinblick auf das Kopftuch hingewiesen. Eine Absage habe die Klägerin deshalb nicht erhalten, weil die Bewerber/innen, die zunächst nicht ausgewählt worden seien, ggf. im Nachrückverfahren Berücksichtigung gefunden hätten. Dass man der Klägerin keine Absage erteilt habe, sei zwar ein Fehler gewesen, aber nicht mit böser Absicht geschehen, sondern habe der damaligen Praxis entsprochen.
11
Jedenfalls wäre eine Nichtberücksichtigung der Klägerin wegen ihres Kopftuchs nach dem Berliner NeutrG auch gerechtfertigt gewesen. Die in § 2 Berliner NeutrG geregelte Verpflichtung der Lehrkräfte, im Dienst keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG dar. § 2 Berliner NeutrG sei verfassungsgemäß und unionrechtskonform; des Nachweises einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität bedürfe es nicht. Angesichts der Vielzahl von Nationen und Religionen, die in der Stadt vertreten seien, sei eine strikte Neutralität im Unterricht aus präventiven Gründen erforderlich. Dies verdeutliche ein Appell der Berliner Schulleiter und Schulleiterinnen sowie der Gewerkschaft, die sich für einen Erhalt des Gesetzes eingesetzt hätten. Empirisches Material über Konfliktsituationen wegen des Tragens eines Kopftuchs an Berliner Schulen sei zwar nicht vorhanden; insoweit lägen lediglich Zeitungsartikel und Berichte direkt aus den Schulen vor. Aus einzelnen Hilferufen aus Berliner Brennpunktschulen werde aber deutlich, dass sich dort muslimische Mädchen und Jungen gegenseitig als bessere oder schlechtere Muslime mobbten und bedrohten. Ggf. müsse ein Sachverständigengutachten über die Gefahrenlage eingeholt werden. Sofern das Berliner NeutrG als nicht verfassungsgemäß erachtet werden sollte, sei eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht erforderlich. Eine verfassungskonforme Auslegung dieses Gesetzes komme nicht in Betracht.
12
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verurteilt. Mit der Revision verfolgt das beklagte Land sein Begehren nach vollständiger Klageabweisung weiter. Die Klägerin begehrt mit der Anschlussrevision die Zahlung einer höheren Entschädigung.
Entscheidungsgründe
13
Die Revision des beklagten Landes und die Anschlussrevision der Klägerin sind unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das beklagte Land zu Recht zur Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verurteilt. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das beklagte Land hat die Klägerin entgegen den Vorgaben von § 7 Abs. 1 AGG wegen ihrer Religion benachteiligt. Diese Benachteiligung war nicht nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Das beklagte Land kann sich insoweit nicht mit Erfolg auf die Regelung in § 2 Berliner NeutrG berufen, wonach Lehrkräften ua. das Tragen auffallender religiös geprägter Kleidungsstücke, mithin auch das Tragen eines islamischen Kopftuchs, innerhalb des Dienstes ohne Weiteres verboten ist. Diese Bestimmung ist, sofern das Tragen des Kopftuchs – wie hier – nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist, verfassungskonform dahin auszulegen, dass sie das Tragen des Kopftuchs nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität verbietet. Eine solche Gefahr hat das beklagte Land schon nicht dargelegt. Das beklagte Land kann hiergegen nicht mit Erfolg einwenden, aus den Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG und von Art. 10 Abs. 1 sowie Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden Charta) ergebe sich, dass eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden und/oder die staatliche Neutralität nicht gefordert werden dürfe. Die Bemessung der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht auf 5.159,88 Euro ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
14
A. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, hat die Klägerin gegen das beklagte Land aus § 15 Abs. 2 AGG einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung.
15
I. Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet.
16
Für die Klägerin ergibt sich dies aus § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Diese Bestimmung enthält einen formalen Bewerberbegriff, wonach derjenige Bewerber ist, der eine Bewerbung eingereicht hat (zum formalen Bewerberbegriff vgl. etwa: BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 32, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 62, BAGE 155, 149). Das beklagte Land ist Arbeitgeber iSv. § 6 Abs. 2 AGG.
17
II. Die Klägerin hat ihren Entschädigungsanspruch den Vorgaben von § 15 Abs. 4 AGG sowie § 61b Abs. 1 ArbGG entsprechend geltend gemacht und eingeklagt.
18
1. Die Klägerin hat den Entschädigungsanspruch mit Schreiben vom 10. März 2017 formgerecht geltend gemacht. Die in § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG bestimmte zweimonatige Frist zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs nach § 15 Abs. 2 AGG hatte – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – nicht zu laufen begonnen.
19
a) Nach § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG beginnt die Frist im Falle einer Bewerbung mit dem Zugang der Ablehnung, wobei dieser Zeitpunkt der frühestmögliche Zeitpunkt des Fristbeginns ist (vgl. etwa BAG 29. Juni 2017 – 8 AZR 402/15 – Rn. 27, BAGE 159, 334). Eine „Ablehnung durch den Arbeitgeber“ setzt eine auf den Beschäftigten bezogene ausdrückliche oder konkludente Erklärung des Arbeitgebers voraus, aus der sich für den Beschäftigten aus der Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers eindeutig ergibt, dass seine Bewerbung keine Aussicht (mehr) auf Erfolg hat. Danach ist es zwar nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber den Bewerber formal „bescheidet“; allerdings reicht ein Schweigen oder Untätigbleiben des Arbeitgebers grundsätzlich nicht aus, um die Frist des § 15 Abs. 4 AGG in Lauf zu setzen. Ebenso wenig reicht es aus, wenn der Bewerber nicht durch den Arbeitgeber, sondern auf andere Art und Weise erfährt, dass seine Bewerbung erfolglos war (vgl. etwa BAG 29. Juni 2017 – 8 AZR 402/15 – Rn. 20, aaO).
20
b) Da das beklagte Land der Klägerin auf ihre Bewerbung hin keine Absage erteilt hatte, hatte die in § 15 Abs. 4 AGG bestimmte Frist für die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs nicht zu laufen begonnen.
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2. Mit der am 9. Juni 2017 beim Arbeitsgericht eingegangen Klage, die dem beklagten Land am 15. Juni 2017 und damit demnächst iSv. § 167 ZPO zugestellt wurde, hat die Klägerin auch die dreimonatige Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt.
22
III. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 AGG liegen – wie das Landesarbeitsgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat – vor. Das beklagte Land hat die Klägerin entgegen den Vorgaben des § 7 Abs. 1 AGG wegen ihrer Religion benachteiligt. Diese Benachteiligung war nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig.
23
1. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen der Religion.
24
2. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klägerin dadurch, dass sie in dem Auswahlverfahren für unbefristete Einstellungen in den Berliner Schuldienst nicht berücksichtigt wurde, unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt wurde. Auf die Frage, ob § 2 Berliner NeutrG eine unmittelbare Diskriminierung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG, der vom nationalen Gesetzgeber mit § 3 Abs. 1 AGG in das innerstaatliche Recht umgesetzt wurde, bewirkt, oder eine mittelbare Diskriminierung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie, der vom nationalen Gesetzgeber mit § 3 Abs. 2 AGG in das innerstaatliche Recht umgesetzt wurde, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
25
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Wie der Begriff „erfahren würde“ verdeutlicht, muss nach dieser Bestimmung die Vergleichsperson nicht eine reale, sondern kann auch ein fiktive bzw. hypothetische sein (BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 28).
26
b) Vor diesem Hintergrund erfährt ein erfolgloser Bewerber – unabhängig davon, ob er bereits vorab aus dem Bewerbungs-/Stellenbesetzungsverfahren ausgeschieden wurde, ob es andere Bewerber für die Stelle gab und eine andere Bewerbung Erfolg hatte, sowie unabhängig davon, ob die Stelle überhaupt besetzt wurde – stets eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, weil er eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde (BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 29). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass es tatsächlich einen bzw. mehrere Mitbewerber/innen gab, deren Bewerbungen erfolgreich waren.
27
3. Die Klägerin hat die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG auch wegen der Religion erfahren.
28
a) Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
29
aa) Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv. § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund iSv. § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN).
30
bb) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51 mwN, BAGE 164, 117).
31
(1) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 52 mwN, BAGE 164, 117).
32
(2) Besteht die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt ist. Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (vgl. etwa BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 36 mwN; 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN).
33
(3) Sowohl die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen Tatsachen eine Benachteiligung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG vermuten lassen, als auch deren Würdigung, ob die von dem Arbeitgeber vorgebrachten Tatsachen belegen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligungen vorgelegen hat, sind nur eingeschränkt revisibel. In beiden Fällen beschränkt sich die revisionsgerichtliche Kontrolle darauf, ob die Würdigung der Tatsachengerichte möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 67; 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 48 mwN, BAGE 156, 107).
34
b) Danach besteht zwischen der Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, die die Klägerin durch ihre Nichtberücksichtigung im Auswahlverfahren erfahren hat, und der Religion der nach § 7 Abs. 1 AGG erforderliche Kausalzusammenhang. Sowohl die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass Indizien vorliegen, die eine Benachteiligung der Klägerin wegen der Religion vermuten lassen, als auch seine Würdigung, dass das beklagte Land diese Vermutung nicht widerlegt hat, halten einer revisionsgerichtlichen Kontrolle stand.
35
aa) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass Indizien vorliegen, die eine Benachteiligung der Klägerin wegen der Religion vermuten lassen, ist frei von revisiblen Rechtsfehlern.
36
(1) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe hinreichend Indizien dafür vorgetragen, dass sie in dem Auswahlverfahren für unbefristete Einstellungen in den Berliner Schuldienst wegen ihrer Religion nicht berücksichtigt wurde. Dabei könne dahinstehen, ob bei dem Bewerbungsgespräch am 11. Januar 2017 nur Schulleiter und Schulleiterinnen der berufsbegleitenden Schulen anwesend gewesen seien und die Klägerin für die berufsbegleitenden Schulen allein aus fachlichen Gründen nicht ausgewählt worden sei, weil es zum damaligen Zeitpunkt hinreichend Laufbahnbewerber gegeben habe. Die Bewerbung der Klägerin sei nicht auf die berufsbegleitenden Schulen beschränkt gewesen. Vielmehr habe sie sich auch für einen Einsatz in der Integrierten Sekundarschule (ISS) und den Gymnasien beworben. Einen solchen Einsatz habe das beklagte Land nicht in Erwägung gezogen, was sich schon daraus ergebe, dass es selbst einräume, die Klägerin hätte eine Absage erhalten sollen, dies sei lediglich versehentlich unterblieben. Ein Einsatz an der Integrierten Sekundarschule (ISS) und den Gymnasien sei nicht in Erwägung gezogen worden, weil die Klägerin im Unterricht ein Kopftuch habe tragen wollen. Indiz dafür sei das Gespräch über das Kopftuch der Klägerin zwischen dieser und dem Mitarbeiter der zentralen Bewerbungsstelle S anlässlich des Bewerbungsgesprächs am 11. Januar 2017. Dabei könne dahinstehen, mit welchem genauen Inhalt dieses Gespräch geführt worden sei. Denn auch bei Zugrundelegung des vom beklagten Land zuletzt geschilderten Wortlauts sei Gegenstand des Gesprächs gewesen, ob die Klägerin bereit wäre, das Kopftuch im Unterricht abzulegen, was diese abgelehnt habe. Dies indiziere aber, dass die Klägerin deshalb nicht für eine Einstellung in der Integrierten Sekundarschule (ISS) bzw. den Gymnasien in Erwägung gezogen worden sei, weil sie ein Kopftuch trage und nicht bereit gewesen sei, auf das Tragen des Kopftuchs im Unterricht zu verzichten. Sei die Klägerin aber aus dem Bewerbungsverfahren insgesamt ausgegliedert worden, weil sie beabsichtigte, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen, liege eine Benachteiligung wegen ihrer dieser Entscheidung zugrundeliegenden religiösen Überzeugung vor. Das Tragen des Kopftuchs sei Ausdruck eines von der Klägerin als verpflichtend empfundenen religiösen Gebots.
37
(2) Diese Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist möglich und in sich widerspruchsfrei und verstößt nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze.
38
(a) Dies gilt zunächst, soweit das Landesarbeitsgericht angenommen hat, das zwischen der Klägerin und dem Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle S geführte Gespräch sei ein Indiz, das mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lasse, dass die Klägerin für einen Einsatz an der Integrierten Sekundarschule (ISS) und an den Gymnasien nicht berücksichtigt worden sei, weil sie in diesem Gespräch erklärt hatte, das Kopftuch im Unterricht nicht ablegen zu wollen. Der Umstand, dass der Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle S die Klägerin auf die Rechtslage nach § 2 Berliner NeutrG angesprochen hat, wonach Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke und damit auch kein sog. islamisches Kopftuch tragen dürfen, lässt ohne weiteres den Schluss zu, dass das Tragen eines solchen Kopftuchs im Dienst vom beklagten Land als mit den Pflichten einer Lehrkraft unvereinbar angesehen wurde und dass die Bereitschaft der Klägerin, entsprechend den Vorgaben des Berliner NeutrG auf das Tragen des Kopftuchs zu verzichten, ein für die Auswahlentscheidung maßgebliches persönliches Eignungskriterium war. Andernfalls hätte es eines solchen Gesprächs nicht bedurft. Mit ihrer Erklärung, das Kopftuch auch im Unterricht nicht abzulegen, hat die Klägerin sodann zum Ausdruck gebracht, dass sie als Lehrkraft nicht beabsichtige, den Pflichten nach dem Berliner NeutrG nachzukommen.
39
(b) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass die Klägerin in dem Auswahlverfahren „wegen ihrer Religion“ benachteiligt wurde. Das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs im Dienst durch eine Lehrkraft fällt als Bekundung ihres religiösen Glaubens unter den Begriff der „Religion“ in § 1 AGG. Ob die Annahme einer Benachteiligung der Klägerin „wegen“ der Religion iSv. § 1 AGG, dh. die Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen ihrer Benachteiligung und der Religion darüber hinaus voraussetzt, dass diese sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet fühlt, ein solches Kopftuch zu tragen, bedurfte keiner Entscheidung. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit zu Recht angenommen, dass für die Klägerin das Tragen des Kopftuchs Ausdruck eines von ihr als verpflichtend empfundenen religiösen Gebots ist.
40
(aa) § 1 AGG nimmt mit dem Begriff „Religion“ den entsprechenden Begriff der Richtlinie 2000/78/EG auf. Zwar wird der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG verwendete Begriff der Religion in dieser Richtlinie nicht definiert. Der Unionsgesetzgeber hat allerdings im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG auf die Grundrechte Bezug genommen, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden EMRK) gewährleistet sind. Damit hat er auch Art. 9 EMRK in Bezug genommen, der bestimmt, dass jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, wobei dieses Recht ua. die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Der Unionsgesetzgeber hat sich im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG zudem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts bezogen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta bekräftigt wurden, gehört das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. Wie sich aus den Erläuterungen zur Charta (ABl. EU C 303 vom 14. Dezember 2007 S. 17) ergibt, entspricht das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem durch Art. 9 EMRK garantierten; es hat nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 25 – 28; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 27 – 30; BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 57, BAGE 164, 117). Damit umfasst der Begriff der Religion der Richtlinie 2000/78/EG auch das „forum externum“, dh. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit (vgl. BAG 30. Januar 2019 – 10 AZR 299/18 (A) – Rn. 53, BAGE 165, 233). Das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs in der Öffentlichkeit stellt eine solche Bekundung des religiösen Glaubens dar.
41
(bb) Es kann dahinstehen, ob die Annahme einer Benachteiligung der Klägerin „wegen“ der Religion iSv. § 1 AGG darüber hinaus voraussetzt, dass diese sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet fühlt, ein solches Kopftuch zu tragen, das Tragen des Kopftuchs mithin Ausdruck eines von ihr als verpflichtend empfundenen religiösen Gebots ist.
42
Gegen eine solche Anforderung dürfte allerdings bereits der Umstand sprechen, dass das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 Halbs. 1 AGG wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes nach § 7 Abs. 1 Halbs. 2 AGG auch dann eingreift, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt. Zudem hat der Gerichtshof der Europäischen Union – allerdings für den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43/EG – angenommen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz, den diese Richtlinie zum Gegenstand hat, nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern nach Maßgabe der in ihrem Art. 1 genannten Gründe anwendbar ist, so dass er auch für Personen zu gelten hat, die zwar nicht selbst das entsprechende Merkmal aufweisen, aber gleichwohl aus einem dieser Gründe weniger günstig behandelt werden oder in besonderer Weise benachteiligt werden (EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 56). Vor diesem Hintergrund spricht nach Auffassung des Senats viel dafür, dass die Annahme einer Benachteiligung der Klägerin „wegen“ der Religion iSv. § 1 AGG nicht voraussetzt, dass sich diese aufgrund ihres Glaubens verpflichtet fühlt, ein solches Kopftuch zu tragen.
43
Diese Frage kann im vorliegenden Verfahren jedoch dahinstehen. Denn die Klägerin hat ausreichend dargetan, dass sie sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet fühlt, ein sog. islamisches Kopftuch zu tragen. Sie bezeichnet sich selbst als gläubige Muslima und das Tragen des Kopftuchs als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung. Sie hat zudem bekundet, dass sie das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen werde. Dieses – unbestrittene – Vorbringen lässt nur den Schluss zu, dass das Tragen des Kopftuchs als Ausdruck des religiösen Bekenntnisses der Klägerin auf ein als verpflichtend empfundenes religiöses Gebot zurückgeht. Anhaltspunkte für das Vorliegen anderer Motive für das Tragen eines Kopftuchs bestehen demgegenüber nicht. Der Umstand, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sog. Bedeckungsgebot vertreten werden, wirkt sich insoweit nicht aus, da die religiöse Fundierung nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung jedenfalls hinreichend plausibel ist (vgl. BVerfG 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17 – Rn. 80 mwN, BVerfGE 153, 1).
44
bb) Auch die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das beklagte Land habe die Vermutung einer Benachteiligung der Klägerin wegen der Religion nach § 22 AGG nicht widerlegt, ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.
45
Das Landesarbeitsgericht hat insoweit angenommen, das beklagte Land habe nicht dargetan, dass die Nichtberücksichtigung der Klägerin keinen Bezug zu ihrem Kopftuch gehabt habe. Soweit es sich auf besser qualifizierte Mitbewerber berufe, beträfen seine Ausführungen ausschließlich Bewerber für die berufsbegleitenden Schulen. Soweit es im Hinblick auf die Gymnasien und die Integrierte Sekundarschule (ISS) darauf verweise, dass deren Schulleitungen in dem Bewerbungsgespräch am 11. Januar 2017 nicht anwesend gewesen seien, reiche dies zur Widerlegung der Vermutung nicht aus. Denn die Klägerin sei insgesamt mit ihrer Bewerbung nicht mehr berücksichtigt worden. Dass für die beiden anderen Schultypen keine freien Stellen vorhanden gewesen seien, behaupte das beklagte Land selbst nicht. Dies sei in Anbetracht der Notwendigkeit, überhaupt Quereinsteiger einzustellen, auch nicht naheliegend. Auch diese Würdigung des Landesarbeitsgerichts lässt revisible Rechtsfehler nicht erkennen. Solche werden von der Revision auch nicht gerügt.
46
4. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes ist die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, die die Klägerin wegen der Religion erfahren hat, nicht nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig.
47
a) Nach dieser Bestimmung ist die unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt.
48
aa) § 8 Abs. 1 AGG dient der Umsetzung von ua. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht. Danach können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 der Richtlinie genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.
49
bb) § 8 Abs. 1 AGG ist unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit der Richtlinie unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union eng auszulegen (BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 37; 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 101, BAGE 156, 71).
50
(1) Danach kann nicht der Grund iSv. § 1 AGG, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern nur ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen (vgl. EuGH 7. November 2019 – C-396/18 – [Cafaro] Rn. 59; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 37; 15. November 2016 – C-258/15 – [Salaberria Sorondo] Rn. 33; 13. November 2014 – C-416/13 – [Vital Pérez] Rn. 36; 13. September 2011 – C-447/09 – [Prigge ua.] Rn. 66; 12. Januar 2010 – C-229/08 – [Wolf] Rn. 35; vgl. auch BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 38).
51
(2) Ein solches Merkmal – oder sein Fehlen – ist zudem nur dann eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSd. § 8 Abs. 1 AGG, wenn davon die ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit abhängt (vgl. etwa EuGH 13. September 2011 – C-447/09 – [Prigge ua.] Rn. 66; 12. Januar 2010 – C-229/08 – [Wolf] Rn. 35 f.; BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 39; 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 101, BAGE 156, 71 mwN). Der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ iSd. Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union bezieht sich auf eine Anforderung, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen erstrecken (EuGH 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 40), die nicht durch entsprechende objektive Analysen belegt sind. Es muss ein direkter, objektiv überprüfbarer Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit bestehen (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 63; dazu BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 39; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 65, BAGE 164, 117). Dabei ist es nicht entscheidend, wenn einige der Aufgaben nicht das Vorhandensein des betreffenden Merkmals erfordern (vgl. EuGH 13. November 2014 – C-416/13 – [Vital Pérez] Rn. 39).
52
(3) Im Übrigen wirkt sich aus, dass bei der Festlegung der Reichweite einer Ausnahme von einem Grundrecht wie dem auf Gleichbehandlung zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört. Danach dürfen Ausnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist (EuGH 11. Januar 2000 – C-285/98 – [Kreil] Rn. 23). Aus diesem Grund muss die berufliche Anforderung über den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG hinaus nicht nur angemessen, sondern auch erforderlich sein (vgl. BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 40).
53
cc) § 8 Abs. 1 AGG enthält eine für den Arbeitgeber günstige Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der Diskriminierung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, hier der Religion (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 99, BAGE 156, 71; zur Richtlinie 2006/54/EG vgl. etwa: EuGH 6. März 2014 – C-595/12 – [Napoli] Rn. 41 mwN; 26. Oktober 1999 – C-273/97 – [Sirdar] Rn. 23), weshalb den Arbeitgeber – hier das beklagte Land – bereits nach den allgemeinen Regeln des nationalen Rechts die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen trifft (vgl. etwa BAG 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 41; 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – aaO; vgl. im Zusammenhang verschiedener Antidiskriminierungsrichtlinien: EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 55 mwN; 21. Juli 2011 – C-159/10, C-160/10 – [Fuchs und Köhler] Rn. 78; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32). Er hat im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass sich die geltend gemachte Anforderung tatsächlich als notwendig erweist (vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 67).
54
b) Ausgehend hiervon ist die Benachteiligung der Klägerin nicht nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig.
55
aa) Das beklagte Land hat zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 AGG keinen substantiierten Vortrag geleistet, sondern sich insoweit ausschließlich auf § 2 Berliner NeutrG gestützt, wonach es Lehrkräften ohne Weiteres, dh. schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ua. untersagt ist, während des Dienstes auffallende religiös geprägte Kleidungsstücke und damit auch ein sog. islamisches Kopftuch zu tragen.
56
§ 2 Berliner NeutrG regelt zwar nicht explizit eine Einstellungsvoraussetzung, sondern Anforderungen an das Verhalten der Lehrkräfte im Dienst. Dennoch enthält die Bestimmung eine berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG, die sich nicht nur im Rahmen eines bereits mit einer Lehrkraft bestehenden Beschäftigungsverhältnisses, sondern auch schon im Rahmen des Auswahl- bzw. Stellenbesetzungsverfahrens auswirken kann. Nach § 2 Berliner NeutrG gehört zum Stellen- bzw. Anforderungsprofil für das Lehramt auch, dass die Lehrkraft innerhalb des Dienstes ua. keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke trägt. Gibt ein/e Bewerber/in zu erkennen, dass er/sie nicht bereit ist, den Verhaltensanforderungen nach § 2 Berliner NeutrG zu entsprechen und innerhalb des Dienstes auf das Tragen eines solchen Kleidungsstücks zu verzichten, kann im Einzelfall auf die fehlende persönliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle zu schließen sein. Zu der für die Einstellung einer Lehrkraft erforderlichen Eignung gehört es nämlich, dass der/die Bewerber/in bereit ist, seinen/ihren gesetzlichen Pflichten als Lehrkraft nachzukommen.
57
bb) Aus der in § 2 Berliner NeutrG getroffenen Regelung, nach der ua. das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs als auffallendes religiös konnotiertes Kleidungsstück im Dienst schon wegen seiner bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität untersagt ist, kann das beklagte Land allerdings bereits deshalb nichts für eine Zulässigkeit der Benachteiligung der Klägerin wegen der Religion herleiten, weil diese Bestimmung verfassungskonform dahin auszulegen ist, dass, sofern das Tragen eines solchen Kleidungsstücks nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist, zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität vorliegen muss, und das beklagte Land das Vorliegen einer solchen konkreten Gefahr nicht dargetan hat.
58
(1) Nach der Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 2015 (- 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 83, BVerfGE 138, 296) gewährleistet der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG) auch den Pädagoginnen und Pädagogen in der öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die Freiheit, den Regeln ihres Glaubens gemäß einem religiösen Bedeckungsgebot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs der Fall sein könne, wenn dies hinreichend plausibel begründet werde.
59
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seinem Beschluss vom 27. Januar 2015 (- 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 80 ff., BVerfGE 138, 296) ferner ausgeführt, dass das in § 57 Abs. 4 SchulG NW enthaltene generelle Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild, namentlich des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs, das bereits die abstrakte Gefahr einer Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausreichen lasse, mit Blick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Lehrkraft jedenfalls dann unangemessen und damit unverhältnismäßig sei, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen sei. Ein angemessener, der Glaubensfreiheit der sich auf ein religiöses Bedeckungsgebot berufenden Pädagoginnen hinreichend Rechnung tragender Ausgleich mit den gegenläufigen verfassungsrechtlich verankerten Positionen – nämlich der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern nach Art. 4 Abs. 1 GG, des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG und des staatlichen Erziehungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG, der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu erfüllen sei – erfordere in diesem Fall eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm dahin, dass zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die staatliche Neutralität oder den Schulfrieden vorliegen müsse (BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 101, 115, aaO; in diesem Sinne auch BVerfG 18. Oktober 2016 – 1 BvR 354/11 – Rn. 61).
60
(2) An diese, sich aus den tragenden Gründen der zu § 57 Abs. 4 SchulG NW ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 2015 (- 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 80 ff., BVerfGE 138, 296) ergebenden Grundsätze ist der Senat nach § 31 Abs. 1 BVerfGG auch für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der mit § 57 Abs. 4 SchulG NW im wesentlichen vergleichbaren Bestimmung („Parallelvorschrift“) in § 2 Berliner NeutrG gebunden.
61
(a) Nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Dabei entfaltet sich die Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG für die Gerichte über den entschiedenen Einzelfall hinaus insofern, als die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen der Entscheidung ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung von den Gerichten in allen künftigen Fällen beachtet werden müssen (BVerfG 8. September 2010 – 2 BvL 3/10 – Rn. 12; 10. Juni 1975 – 2 BvR 1018/14 – Rn. 13 f., BVerfGE 40, 88; vgl. hierzu auch Hecker NVwZ 2019, 1476, 1478 ff.).
62
(b) Es kann dahinstehen, ob – wie das beklagte Land meint – eine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG ausnahmsweise dann nicht besteht, wenn ein Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer Rechtsfrage entschieden hat, obgleich nach § 16 Abs. 1 BVerfGG eine Entscheidung des Plenums beider Senate geboten gewesen wäre (vgl. hierzu Hecker NVwZ 2019, 1476, 1479).
63
(aa) Nach § 16 Abs. 1 BVerfGG entscheidet das Plenum des Bundesverfassungsgerichts, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen will. Durch diese Bestimmung soll verhindert werden, dass beide Senate in Entscheidungen zu der gleichen Rechtsfrage verschiedene Auffassungen vertreten. Das ist zwar nicht nur dann der Fall, wenn in Entscheidungen der beiden Senate gegensätzliche Rechtsauffassungen, die die Entscheidung tragen, ausdrücklich ausgesprochen werden, sondern nach dem Zweck der Bestimmung auch dann, wenn die Rechtsauffassung, die der Entscheidung eines Senats unausgesprochen zugrunde liegt, nach ihrem Sinn und Inhalt, zu Ende gedacht, mit einer von dem anderen Senat vertretenen Auffassung nicht vereinbar ist (vgl. BVerfG 20. Juli 1954 – 1 PBvU 1/54 – zu 2 der Gründe, BVerfGE 4, 27). In jedem Fall muss es sich allerdings um eine Rechtsfrage handeln, auf der die Entscheidung des anderen Senats beruht; die Rechtsauffassung muss entscheidungstragende Bedeutung haben (BVerfG 3. Juli 2012 – 2 PBvU 1/11 – Rn. 10, BVerfGE 132, 1; 9. November 2004 – 1 BvR 684/98 – zu B II 1 der Gründe, BVerfGE 112, 50).
64
(bb) Danach bestand für den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2015 – entgegen der Rechtsauffassung des beklagten Landes – mit Blick auf die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 (- 2 BvR 1436/02 – BVerfGE 108, 282) erkennbar keine Veranlassung, eine Entscheidung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen. Zwar führt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 24. September 2003 (- 2 BvR 1436/02 – Rn. 49, aaO) aus, dass in dem Fall, dass bereits bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden sollen, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage vorausgesetzt werde, die dies erlaube. Tragend für die Entscheidung des Zweiten Senats waren allerdings ausschließlich seine Ausführungen zu der aus dem Grundsatz des Parlamentsvorbehalts, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Demokratiegebot folgenden verfassungsrechtlichen Notwendigkeit für den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Hingegen hatten die Erwägungen des Zweiten Senats zu etwaigen Möglichkeiten einer Beschränkung des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs keine entscheidungstragende Bedeutung. Diese Ausführungen könnten sich vielmehr allenfalls als bloße „obiter dicta“ darstellen (vgl. Hecker NVwZ 2019, 1476, 1479).
65
(cc) Dass für den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2015 keine Veranlassung bestand, eine Entscheidung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts nach § 16 Abs. 1 BVerfGG herbeizuführen, wird auch durch den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Januar 2020 (- 2 BvR 1333/17 – BVerfGE 153, 1) bestätigt. In dieser Entscheidung ist der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht von der Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts abgerückt, wonach eine Regelung, die – wie auch § 2 Berliner NeutrG – das Tragen eines sog. islamischen Kopftuchs durch eine Lehrkraft im Dienst ohne Weiteres, dh. schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule verbietet, zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG führt, sofern das Tragen des Kopftuchs nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Zwar hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 14. Januar 2020 (- 2 BvR 1333/17 – aaO) ein sog. Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen bei Tätigkeiten, bei denen diese als Repräsentanten des Staates wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können, zu beurteilen und hat dieses Verbot als verfassungsgemäß erachtet. Allerdings hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zugleich betont, dass der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit höherer Beeinträchtigungswirkung gegenübertrete als im Bereich einer bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule, in der sich gerade die religiös-pluralistische Gesellschaft widerspiegeln solle (BVerfG 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17 – Rn. 95, aaO). Dabei hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich auf die diesbezüglichen Ausführungen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts unter Rn. 105 des Beschlusses vom 27. Januar 2015 (- 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – BVerfGE 138, 296) Bezug genommen und damit zum Ausdruck gebracht, dass er sich hiervon keinesfalls distanziert, sondern insoweit dieselbe Rechtsauffassung vertritt.
66
(3) Nach alledem erfordert ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags (sh. hierzu im Einzelnen Ausführungen unter Rn. 59) – eine verfassungskonforme Auslegung von § 2 Berliner NeutrG dahin, dass dann, wenn das Tragen des Kopftuchs nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist, zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität vorliegen muss. Eine solche verfassungskonforme Auslegung von § 2 Berliner NeutrG ist entgegen der Ansicht des beklagten Landes auch möglich. Sie überschreitet nicht die Grenzen verfassungskonformer Norminterpretation.
67
(a) Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze dort, wo sie zum Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. Der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber verbietet es, im Wege der Auslegung einem nach Sinn und Wortlaut eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn beizulegen oder den normativen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu zu bestimmen (BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 132, BVerfGE 138, 296).
68
(b) Weder der Wortlaut noch der Sinn und Zweck von § 2 Berliner NeutrG stehen einer einschränkenden Auslegung der Bestimmung in dem unter Rn. 57 angeführten Sinn entgegen. Der Wortlaut von § 2 Berliner NeutrG schließt das Erfordernis einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität nicht von vornherein aus. Aus dem Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich insoweit nichts Abweichendes. So heißt es in der Präambel des Berliner NeutrG ua., dass keine Beschäftigte und kein Beschäftigter wegen ihres oder seines Glaubens oder ihres oder seines weltanschaulichen Bekenntnisses diskriminiert werden dürfe. Gleichzeitig sei das Land Berlin zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet. Bereits diese Formulierungen lassen erkennen, dass die Bestimmungen des Berliner NeutrG auf einer Abwägung gegenläufiger verfassungsrechtlich verankerter Positionen beruhen. Dies wird in der Begründung der Beschlussvorlage zum Berliner NeutrG (vgl. Drucksache 15/3249 des Abgeordnetenhauses Berlin S. 5) ausdrücklich bestätigt, in der es heißt: „Die Regelungen sind … Ergebnis einer Abwägung der Verfassungsgüter der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses der Beschäftigten mit dem verfassungsrechtlichen Gebot zu staatlicher Neutralität im Bereich von Religion und Weltanschauung“. Aus der Begründung der Beschlussvorlage zum Berliner NeutrG geht ferner hervor, dass es dem Gesetzgeber vornehmlich darum ging, die Vorgaben aus der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003 (- 2 BvR 1436/02 – BVerfGE 108, 282) umzusetzen. Insoweit heißt es: „Der Gesetzgeber reagiert damit auf die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, den erforderlichen Ausgleich zwischen der Neutralitätspflicht des Staates, der positiven Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit von Beschäftigten und der negativen Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit Andersdenkender durch ein allgemeines Gesetz zu regeln und nicht der exekutiven Entscheidung im Einzelfall zu überlassen“ (vgl. Drucksache 15/3249 des Abgeordnetenhauses Berlin S. 5; vgl. auch Punkt „A. Problem“ im Vorblatt zur Beschlussvorlage). Im Übrigen hat der Berliner Gesetzgeber mit den in § 3 und § 4 Berliner NeutrG normierten Ausnahmebestimmungen zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei § 2 Berliner NeutrG um einen Grundsatz handelt, der durchaus der Ausnahme fähig ist.
69
(c) Entgegen der Auffassung des beklagten Landes verbleibt bei einer verfassungskonformen Auslegung von § 2 Berliner NeutrG in dem unter Rn. 57 ausgeführten Sinn auch ein hinreichender Anwendungsbereich für das in dieser Bestimmung geregelte Verbot für Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag, im Dienst sichtbare religiöse oder weltanschauliche Symbole sowie auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke zu tragen. Zwar dürfte sich nicht nur das in § 2 Berliner NeutrG bestimmte voraussetzungslose Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuchs, sondern zB auch das Verbot des Tragens einer jüdischen Kippa sowie des Habits einer Ordensgemeinschaft regelmäßig als unverhältnismäßiger Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) der Lehrkraft darstellen, weil auch das Tragen dieser Kleidungsstücke regelmäßig nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. § 2 Berliner NeutrG behält aber jedenfalls Bedeutung für all die Fälle, in denen das Tragen sichtbarer religiöser oder weltanschaulicher Symbole sowie auffallender religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidungsstücke nicht auf ein nachvollziehbar als imperativ verstandenes Glaubensgebot zurückgeht. Hier kann die Untersagungsvorschrift auch in einer Interpretation, die schon die abstrakte Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität ausreichen lässt, ihren Anwendungsbereich haben.
70
(d) In der unter Rn. 57 ausgeführten verfassungskonformen Auslegung ist § 2 Berliner NeutrG auch hinreichend bestimmt.
71
Das Merkmal einer hinreichend konkreten Gefahr für den zur Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG) notwendigen Schulfrieden und/oder die staatliche Neutralität ist ausreichend konkret. Insoweit ist die Frage zu beantworten, ob im Einzelfall aufgrund bestehender Konfliktlagen, die ihre Ursache im Tragen auffallender religiös konnotierter Kleidungsstücke haben oder durch diese geschürt werden, die schulischen Abläufe und/oder die staatliche Neutralität tatsächlich ernsthaft in einem Maße beeinträchtigt sind, dass von einer konkreten Gefahr für diese Schutzgüter gesprochen werden kann (vgl. BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 113, BVerfGE 138, 296). Diese Einschätzung ist auf der Grundlage der tatsächlichen objektiven Gegebenheiten vorzunehmen. Zwar beruhen Konfliktlagen auf dem Verhalten der beteiligten Personen; das ändert aber – entgegen der Rechtsauffassung des beklagten Landes – nichts daran, dass sich die Frage, ob substantielle Konflikte (vgl. hierzu BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 114, aaO) tatsächlich bestehen und diese die schulischen Abläufe oder die staatliche Neutralität tatsächlich in einem für die Annahme einer Gefahr für diese Schutzgüter erheblichen Maße beeinträchtigen, nicht nach rein subjektiven Erwägungen der Lehrerinnen und Lehrer, der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern beantwortet.
72
(4) Das beklagte Land hat das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 2 Berliner NeutrG in verfassungskonformer Auslegung nicht dargetan. Es fehlt an jeglichem substantiierten Vorbringen dazu, dass an Berliner Gymnasien, Integrierten Sekundarschulen (ISS) oder beruflichen Schulen substantielle Konfliktlagen bestanden, die ihre Ursache im Tragen auffallender religiös konnotierter Kleidungsstücke durch eine Lehrkraft hatten oder durch diese geschürt wurden und dass hierdurch die schulischen Abläufe und/oder die staatliche Neutralität tatsächlich ernsthaft in einem Maße beeinträchtigt wurden, dass von einer konkreten Gefahr für diese Schutzgüter gesprochen werden könnte.
73
cc) Das beklagte Land kann hiergegen nicht mit Erfolg einwenden, § 2 Berliner NeutrG sei unionsrechtskonform, diese Bestimmung stehe, soweit sie Lehrkräften das Tragen eines islamischen Kopftuchs im Dienst ohne weiteres, dh. allein wegen der abstrakten Eignung dieses Kleidungsstücks zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität untersage, mit den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 10 Abs. 1 und Art. 24 der Charta in Einklang, weshalb das Vorliegen einer hinreichend konkreten Gefahr für den zur Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags notwendigen Schulfrieden oder die staatliche Neutralität nicht gefordert werden könne.
74
Dabei kann dahinstehen, ob § 2 Berliner NeutrG, soweit diese Bestimmung das Tragen eines islamischen Kopftuchs verbietet, eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Religion iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG, den der nationale Gesetzgeber mit § 3 Abs. 1 AGG in das nationale Recht umgesetzt hat, bewirkt, oder ob dieses Verbot – als dem Anschein nach neutrale Bestimmung – dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligt werden können iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG, den der nationale Gesetzgeber mit § 3 Abs. 2 Halbs. 1 AGG in das innerstaatliche Recht umgesetzt hat. Offenbleiben kann ferner, ob eine etwaige unmittelbare Benachteiligung nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, deren Vorgaben der nationale Gesetzgeber mit § 8 Abs. 1 AGG in das innerstaatliche Recht umgesetzt hat, zulässig wäre und ob eine etwaige mittelbare Benachteiligung nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78/EG, der vom nationalen Gesetzgeber mit § 3 Abs. 2 Halbs. 2 AGG in das nationale Recht umgesetzt wurde, nicht anzunehmen wäre, weil das Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuchs durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wäre. Nicht geklärt werden muss zudem, ob und welche Bedeutung den in Art. 24 der Charta bestimmten Rechten der Kinder im vorliegenden Verfahren zukommt und ob es sich dabei auswirkt, dass die Klägerin sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet fühlt, ein solches Kopftuch zu tragen, das Tragen des Kopftuchs mithin Ausdruck eines von der Klägerin als verpflichtend empfundenen religiösen Gebots ist. Letztlich kann auch offenbleiben, ob und ggf. welche Auswirkungen der Umstand hat, dass das Grundgesetz zwar für den Staat die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität begründet, die danach gebotene Neutralität allerdings nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen ist, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung und dass dies auch für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Schule gilt, für den seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren (vgl. BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 108 ff., BVerfGE 138, 296).
75
Unabhängig von der Frage, ob § 2 Berliner NeutrG, soweit er Lehrkräften das Tragen eines islamischen Kopftuchs im Dienst ohne weiteres, dh. allein wegen der abstrakten Eignung dieses Kleidungsstücks zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität untersagt, den Vorgaben von Art. 10 Abs. 1 und Art. 24 der Charta sowie der Richtlinie 2000/78/EG entspricht, fehlt es den Bestimmungen in den §§ 2 bis 4 Berliner NeutrG bereits an der unionsrechtlich erforderlichen Kohärenz. Aus diesem Grund bedurfte es im vorliegenden Verfahren – anders als das beklagte Land meint – auch keiner Vorabentscheidung über die Auslegung dieser Bestimmungen des Unionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.
76
(1) Eine nationale Regelung ist nur dann geeignet, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. etwa EuGH 2. April 2020 – C-670/18 – [Comune di Gesturi] Rn. 50; 29. Juli 2019 – C-209/18 – [Kommission/ Österreich] Rn. 94; 21. Juli 2011 – C-159/10 und C-160/10 – [Fuchs und Köhler] Rn. 85; 10. März 2009 – C-169/07 – [Hartlauer] Rn. 55; jeweils mwN). Ausnahmen von den Bestimmungen eines Gesetzes können in bestimmten Fällen dessen Kohärenz beeinträchtigen, insbesondere, wenn sie wegen ihres Umfangs zu einem Ergebnis führen, das dem mit dem Gesetz verfolgten Ziel widerspricht (vgl. etwa EuGH 5. Juli 2017 – C-190/16 – [Fries] Rn. 48; 21. Juli 2011 – C-159/10 und C-160/10 – [Fuchs und Köhler] Rn. 86).
77
(2) Ausgehend hiervon fehlt es den Bestimmungen in den §§ 2 bis 4 Berliner NeutrG an der unionsrechtlich erforderlichen Kohärenz. Das Berliner NeutrG enthält in seinen §§ 3 und 4 Regelungen, die dazu führen, dass das von der Grundregel in § 2 Satz 1 Berliner NeutrG verfolgte Ziel nicht in kohärenter und systematischer Weise erreicht werden kann.
78
(a) Während mit der Grundregel in § 2 Satz 1 Berliner NeutrG das Ziel verfolgt wird, der Entstehung von Gefahren für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität bereits (präventiv) vorzubeugen, indem sie Lehrkräften und anderen Beschäftigten mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz für das Land Berlin (im Folgenden SchulG) das Tragen sichtbarer religiöser oder weltanschaulicher Symbole und auffallender religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidungsstücke im Dienst ohne weiteres, dh. schon wegen ihrer bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität untersagt, findet nach § 3 Satz 1 Berliner NeutrG der § 2 Satz 1 des Gesetzes keine Anwendung auf die beruflichen Schulen iSv. § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SchulG (jetzt § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SchulG) sowie auf Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs iSv. § 17 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 SchulG (jetzt § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SchulG). An diesen Schulen und Einrichtungen dürfen die Lehrkräfte innerhalb des Dienstes demnach „ohne weiteres“ sichtbare religiöse oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, sowie auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke tragen.
79
Diese Differenzierung bewirkt schon deshalb eine Inkohärenz, weil sowohl an den in § 2 Satz 1 Berliner NeutrG genannten Schulen als auch an den von § 3 Satz 1 Berliner NeutrG erfassten Schulen und Bildungseinrichtungen Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II iSv. § 17 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 SchulG, also ab Klasse 11, unterrichtet werden. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Gesetzgeber im Fall der Schülerinnen und Schüler derselben Jahrgangsstufen an Berufsschulen nicht nur kein Bedürfnis gesehen hat, der Entstehung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität vorzubeugen, die durch das Tragen sichtbarer religiöser oder weltanschaulicher Symbole bzw. auffallender religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidungsstücke verursacht werden können, sondern es darüber hinaus nicht für notwendig erachtet hat, mit einem Verbot des Tragens solcher Symbole oder Kleidungsstücke eine Möglichkeit zu schaffen, auf eine tatsächlich bestehende Gefahr für die og. Schutzgüter zu reagieren.
80
Entgegen der Auffassung des beklagten Landes stellt die Freiwilligkeit des Schulbesuchs an Berufsschulen schon deshalb kein geeignetes Differenzierungskriterium dar, weil die Schulpflicht, die gemäß § 41 Abs. 3 Satz 1 SchulG die allgemeine Schulpflicht und die Berufsschulpflicht umfasst, im Land Berlin nach § 42 Abs. 4 Satz 1 SchulG zehn Jahre beträgt, also regelmäßig auch bei Eintritt in die gymnasiale Oberstufe erfüllt ist. Davon unabhängig erschließt sich ohnehin nicht, warum die Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen bei einem freiwilligen Schulbesuch zu einem anderen Ergebnis führen sollte. Maßgeblich kann insoweit nur sein, dass die Schule besucht wird.
81
Auch das Zurücktreten des staatlichen Erziehungszwecks in Berufsschulen, auf den in der Vorlage zur Beschlussfassung zum Berliner NeutrG abgestellt wird (vgl. Drucksache 15/3249 des Abgeordnetenhauses Berlin S. 9), gilt in gleicher Weise für die Schüler der gymnasialen Oberstufe. Soweit in der Vorlage zur Beschlussfassung ferner angeführt wird, im Hinblick auf die Gesamtschulen und Gymnasien sei eine einheitliche Regelung geboten, weil die beschäftigten Lehrkräfte sowohl in der Mittelstufe als auch in der Oberstufe eingesetzt seien und damit ständig Schülerinnen und Schülern beider Stufen gegenüberträten, rechtfertigt dieser Aspekt keine Ausnahme von der Bestimmung in § 2 Satz 1 Berliner NeutrG. Eine solche Ausnahme wird den unionsrechtlichen Anforderungen der Kohärenz nicht gerecht. Allein der Umstand, dass Lehrkräfte an Gesamtschulen und Gymnasien auch regelmäßig Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe begegnen, ist kein nachvollziehbarer Grund dafür, ihnen – anders als Lehrkräften an Berufsschulen – ohne weiteres zu verbieten, innerhalb des Dienstes sichtbare religiöse oder weltanschauliche Symbole sowie auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke zu tragen. Die hiervon möglicherweise ausgehende Gefahr für die unionsrechtlich geschützten Rechtsgüter der Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern besteht nämlich regelmäßig nur dann, wenn sich die Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts oder anlässlich der Wahrnehmung von Aufsichtstätigkeiten durch die Lehrkraft ohne Ausweichmöglichkeit einer/m vom Staat angestellten Lehrer/in gegenübersehen, die/der solche Symbole oder Kleidungsstücke – zB ein islamisches Kopftuch – trägt (vgl. in diesem Sinne BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 104, BVerfGE 138, 296). Von Begegnungen im Schulgebäude oder auf dem Schulgelände in anderen Fällen geht dagegen regelmäßig keine höhere Gefahr für diese Schutzgüter aus als von Begegnungen in anderen Lebensbereichen. Insoweit gilt jedoch für Berufsschulen auf der einen Seite und Gesamtschulen und Gymnasien auf der anderen Seite nichts Abweichendes.
82
(b) Zur Inkohärenz der in den §§ 2 bis 4 Berliner NeutrG getroffenen Regelungen führt insbesondere die Bestimmung in § 3 Satz 2 Berliner NeutrG, wonach die oberste Dienstbehörde für weitere Schularten oder für Schulen besonderer pädagogischer Prägung Ausnahmen zulassen kann, wenn dadurch die weltanschaulich-religiöse Neutralität der öffentlichen Schulen gegenüber Schülerinnen und Schülern nicht in Frage gestellt und der Schulfrieden nicht gefährdet oder gestört wird. Mit dieser Bestimmung stellt der Berliner Gesetzgeber sein dem § 2 Berliner NeutrG zugrundeliegendes Regelungskonzept selbst in Frage. Warum in den in § 3 Satz 2 Berliner NeutrG genannten Fällen kein Bedürfnis gesehen wurde, mit einem Verbot des Tragens sichtbarer religiöser oder weltanschaulicher Symbole bzw. auffallender religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidungsstücke bereits der Entstehung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität vorzubeugen, erschließt sich nicht. Insoweit wird das mit der Grundregel in § 2 Berliner NeutrG verfolgte Ziel, mit Hilfe eines solchen präventiven Verbots Gefahren für die og. Schutzgüter erst gar nicht entstehen zu lassen, aufgegeben.
83
(c) Ebenso zur Inkohärenz trägt schließlich die weitere Ausnahmeregelung in § 4 Satz 1 Berliner NeutrG bei, wonach für Beamtinnen und Beamte im Vorbereitungsdienst und andere in der Ausbildung befindliche Personen Ausnahmen von den §§ 1 und 2 Berliner NeutrG zugelassen werden können. Insoweit ergibt sich aus dem Gesetz schon nicht, unter welchen Voraussetzungen solche Ausnahmen zulässig sind, insbesondere, ob es darauf ankommt, inwieweit gerade im Zusammenhang mit der Tätigkeit der betroffenen Personen, hier der Referendarinnen und Referendare, die im Rahmen ihrer Ausbildung ebenfalls unterrichten, keine oder nur geringe Gefahren für die unionsrechtlich durch Art. 10 Abs. 1 und Art. 24 der Charta geschützten Grundrechte bestehen.
84
B. Die Bemessung der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht auf 5.159,88 Euro ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
85
I. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG kann der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
86
1. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat eine Doppelfunktion: Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist.
87
Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG muss einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte gewährleisten. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss die Härte der Sanktionen der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 63 mwN zur Richtlinie 2000/78/EG; 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 25 zur Richtlinie 76/207/EWG; 10. April 1984 – 14/83 – [von Colson und Kamann] Rn. 23 f. ebenfalls zur Richtlinie 76/207/EWG; BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 161). Sie muss auf jeden Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinien nicht gerecht. Vielmehr sind die tatsächlich entstandenen Nachteile gemäß den anwendbaren staatlichen Regeln in vollem Umfang auszugleichen (vgl. etwa BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 18 f. mwN).
88
2. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ist zudem verschuldensunabhängig.
89
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss in dem Fall, dass sich ein EU-Mitgliedstaat – wie hier Deutschland – für eine Sanktion entscheidet, die sich in den Rahmen einer Regelung über die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers einfügt – wie hier § 15 Abs. 2 AGG -, der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot für sich genommen ausreichen, um die volle Haftung seines Urhebers auszulösen (EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 18). Im nationalen Recht vorgesehene Rechtfertigungsgründe können nicht berücksichtigt werden (EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] aaO; 8. November 1990 – C-177/88 – [Dekker] Rn. 25). Nach dieser Rechtsprechung kommt es weder auf Verschulden als Voraussetzung an, noch ist ein fehlendes Verschulden oder ein geringer Grad des Verschuldens des Arbeitgebers bei der Bemessung der Entschädigung zulasten der benachteiligten Person bzw. zugunsten des benachteiligenden Arbeitgebers berücksichtigungsfähig. Dass die Haftung verschuldensunabhängig ist und demnach auch keine Benachteiligungsabsicht voraussetzt, entspricht ausweislich der Gesetzesbegründung auch dem Willen des nationalen Gesetzgebers (BT-Drs. 16/1780 S. 38). Hiervon geht auch der Senat in ständiger Rechtsprechung aus (vgl. zuletzt BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 21 mwN).
90
3. Bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmten Grenze von drei Monatsgehältern handelt es sich nicht um eine Grenze in dem Sinne, dass sich die geschuldete Entschädigung – sofern der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, was vom Arbeitgeber darzulegen und ggf. zu beweisen wäre (vgl. zur Darlegungs- und Beweislast BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 102) – von vornherein nur innerhalb eines Rahmens von „null“ und „drei“ auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) erzielbaren Bruttomonatsentgelte bewegen dürfte. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor. Bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG handelt es sich vielmehr um eine Kappungs- bzw. Höchstgrenze (vgl. BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 22 mwN). Dies bedeutet, dass – in einem ersten Schritt – die Höhe der angemessenen Entschädigung ohne Rücksicht auf irgendeine Begrenzung zu ermitteln und diese ggf. sodann – in einem zweiten Schritt – zu kappen ist, sofern sie drei Bruttomonatsentgelte übersteigen sollte.
91
Als Kappungs- bzw. Höchstgrenze verstanden begegnet die in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmte Grenze auch keinen unionsrechtlichen Bedenken (vgl. hierzu ausf. BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 23).
92
4. Im Fall einer Nichteinstellung ist für die Bemessung der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG an das Bruttomonatsentgelt anzuknüpfen, das der/die erfolglose Bewerber/in (ungefähr) erzielt hätte, wenn er/sie die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Auch dies folgt aus der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG getroffenen Bestimmung, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
93
a) Dem steht nicht entgegen, dass das infolge der Nichteinstellung entgangene Arbeitsentgelt ein möglicher Schadensposten im Rahmen eines auf den Ausgleich materieller Schäden nach § 15 Abs. 1 AGG gerichteten Schadensersatzanspruchs sein kann, während mit der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nicht der materielle, sondern der immaterielle Schaden ausgeglichen wird. Das auf der Stelle (ungefähr) erzielbare Entgelt ist für die Bemessung der angemessenen Entschädigung nicht bedeutungslos. Soweit es – wie hier – um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich nicht nur eine Sanktion dafür, dass der/die erfolglose Bewerber/in nicht die Chance zur Entfaltung seiner/ihrer individuellen Persönlichkeit durch eine bestimmte Beschäftigung erhält, sondern ebenso eine Sanktion dafür, dass er/sie nicht die Chance erhält, ein Arbeitseinkommen zu erzielen und dadurch auch in seinem/ihrem Geltungs- bzw. Achtungsanspruch berührt ist. In beiden Fällen ist nicht der materielle, sondern der immaterielle Teil des Persönlichkeitsrechts betroffen.
94
b) Die Anknüpfung an das auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) zu erwartende Bruttomonatsentgelt steht auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat eine solche Anknüpfung in seinem Urteil vom 22. April 1997 (- C-180/95 – [Draehmpaehl] zur Richtlinie 76/207/EWG) grundsätzlich gebilligt.
95
5. Bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden nach § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten nach § 287 Abs. 1 ZPO ein weiter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falls zu berücksichtigen haben. § 15 Abs. 2 AGG entspricht insoweit der Regelung zur billigen Entschädigung in § 253 BGB, wobei § 15 Abs. 2 AGG als speziellere Norm der in § 253 BGB getroffenen Regelung vorgeht (vgl. BT-Drs. 16/1780 S. 38). Soweit der Senat in der Vergangenheit ausgeführt hat, § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG räume dem Gericht bei der Festsetzung der Höhe der Entschädigung einen „Beurteilungsspielraum“ ein (vgl. etwa BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 85; 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 – Rn. 20; 16. Februar 2012 – 8 AZR 697/10 – Rn. 69; 18. März 2010 – 8 AZR 1044/08 – Rn. 39), war dies in Anknüpfung an die Ausführungen des Gesetzgebers in der Begründung des Gesetzesentwurfs geschehen, wo untechnisch von einem „Beurteilungsspielraum“ die Rede war (vgl. etwa BT-Drs. 16/1780 S. 38). Trotz dieser Wortwahl geht es der Sache nach um einen Ermessensspielraum (BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 27).
96
Hängt die Höhe der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG demnach von einem Ermessensspielraum ab, dann ist die Bemessung des Anspruchs grundsätzlich Sache des Tatsachengerichts. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht unterliegt infolgedessen nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht. Sie kann nur darauf überprüft werden, ob die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten wurde und ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, indem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen (vgl. etwa BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 28).
97
II. Ausgehend hiervon ist die Bemessung der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
98
1. Bei der Bemessung der Entschädigung hat das Landesarbeitsgericht allerdings zu Unrecht berücksichtigt, dass das beklagte Land einer gesetzlichen Regelung, nämlich § 2 Berliner NeutrG habe gerecht werden wollen. Damit hat es in unzulässiger Weise Umstände zugunsten des beklagten Landes und damit zulasten der Klägerin berücksichtigt, die die Motivation des beklagten Landes betrafen. Wie unter Rn. 88 f. ausgeführt, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich verschuldensunabhängig. Darüber hinaus hat das Landesarbeitsgericht auf eine gesetzliche Bestimmung abgestellt, deren Urheber das beklagte Land selbst ist.
99
2. Der Senat, der aufgrund der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen abschließend über die Höhe der nach § 15 Abs. 2 AGG geschuldeten Entschädigung entscheiden kann, hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine solche iHv. 5.159,88 Euro – wie vom Landesarbeitsgericht zugesprochen – für angemessen. Mit diesem Betrag, der ca. 1,5 auf der Stelle erzielbare Bruttomonatsentgelten entspricht, wird die Klägerin angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung – ausschließlich – wegen der Religion erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zugleich auch erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. Da es – wie unter Rn. 88 f. ausgeführt – auf ein Verschulden nicht ankommt, können Gesichtspunkte, die mit einer etwaigen Abwesenheit oder einem geringen Grad von Verschulden zusammenhängen, nicht mindernd bei der Bemessung der Entschädigung berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite sind aber auch keine Umstände erkennbar, die einen höheren Grad von Verschulden des beklagten Landes belegen, weshalb auch keine Veranlassung besteht, die Entschädigung höher festzusetzen (vgl. BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn. 39).
100
Angesichts der erfolgten Bemessung der Entschädigung auf ca. 1,5 auf der Stelle erzielbare Bruttomonatsentgelte kommt es auf die Frage, ob die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG drei Monatsgehälter nicht übersteigen durfte, weil die Klägerin auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, nicht an.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Schirp
Andreas Henniger |
bag_29-19 | 21.08.2019 | 21.08.2019
29/19 - Sachgrundlose Befristung - Vorbeschäftigung
Wird ein Arbeitnehmer 22 Jahre nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses erneut bei demselben Arbeitgeber eingestellt, gelangt das in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG bestimmte Verbot der sachgrundlosen Befristung nach einer Vorbeschäftigung in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift regelmäßig nicht zur Anwendung.
Die Klägerin war in der Zeit vom 22. Oktober 1991 bis zum 30. November 1992 bei der Beklagten als Hilfsbearbeiterin für Kindergeld beschäftigt. Mit Wirkung zum 15. Oktober 2014 stellte die Beklagte die Klägerin als Telefonserviceberaterin im Servicecenter erneut ein. Das zunächst bis zum 30. Juni 2015 sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnis wurde später bis zum 30. Juni 2016 verlängert. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass ihr Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Befristung am 30. Juni 2016 geendet hat. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben.
Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte Erfolg. Die Befristung des Arbeitsvertrags ist ohne Sachgrund wirksam. Nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes zwar nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni 2018 (- 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 -) können und müssen die Fachgerichte jedoch durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken, soweit das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar ist, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung kann danach ua. dann unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt. Um einen solchen Fall handelt es sich vorliegend, da die Vorbeschäftigung bei der erneuten Einstellung 22 Jahre zurücklag. Besondere Umstände, die dennoch die Anwendung des in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG bestimmten Verbots gebieten könnten, liegen nicht vor.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21. August 2019 – 7 AZR 452/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 27. Juli 2017 – 4 Sa 221/16 – | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 27. Juli 2017 – 4 Sa 221/16 – aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Neumünster vom 15. Juni 2016 – 1 Ca 358 b/16 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat auch die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Leitsatz
Nach Ablauf von 22 Jahren seit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses kann bei der erneuten Einstellung des Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber in der Regel eine Befristung ohne Sachgrund vereinbart werden. In einem solchen Fall ist es geboten, § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift nicht anzuwenden, soweit nicht besondere Umstände vorliegen, die die Anwendung des Verbots dennoch gebieten könnten.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses aufgrund einer sachgrundlosen Befristung.
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Zwischen den Parteien bestand in der Zeit vom 22. Oktober 1991 bis zum 30. November 1992 ein Arbeitsverhältnis. Ausweislich des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 31. Oktober 1991 war die Klägerin als Aushilfsangestellte zur Vertretung beim Arbeitsamt N eingestellt. Ihr war laut Verfügung vom 31. Oktober 1991 eine Tätigkeit als Hilfsbearbeiterin für Kindergeld zugewiesen. Nach dem im Jahre 1993 ausgestellten Zeugnis gehörten zu den Aufgaben der Klägerin die entscheidungsreife Bearbeitung von Kindergeldanträgen, einfacher Schriftverkehr insbesondere durch die Verwendung von Formblättern sowie die Erteilung von telefonischen Auskünften in Kindergeldangelegenheiten.
3
Mit Wirkung zum 15. Oktober 2014 stellte die Beklagte die Klägerin erneut auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags vom 1. Oktober 2014 zunächst befristet bis zum 30. Juni 2015 ein. Durch Änderungsvereinbarung vom 3. Juni 2015 wurde das Arbeitsverhältnis bis zum 30. Juni 2016 verlängert. Die Klägerin übte eine Tätigkeit als Telefonserviceberaterin im Servicecenter aus.
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Mit ihrer am 21. März 2016 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 24. März 2016 zugestellten Klage hat die Klägerin die Unwirksamkeit der Befristung zum 30. Juni 2016 geltend gemacht und die Auffassung vertreten, die Befristung sei wegen ihrer Vorbeschäftigung nicht nach § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt.
5
Die Klägerin hat – soweit für die Revision von Interesse – beantragt
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis vom 1. Oktober 2014 / 3. Juni 2015 nicht aufgrund der Befristung mit Ablauf des 30. Juni 2016 geendet hat.
6
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, das frühere Arbeitsverhältnis stehe einer Befristung ohne Sachgrund nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht entgegen, da das Ende des vorangegangenen Arbeitsverhältnisses bei der erneuten Einstellung ca. 22 Jahre zurückgelegen habe. Auch sei die Tätigkeit der Klägerin im Rahmen des ersten Arbeitsverhältnisses sowohl inhaltlich als auch ihrer Art nach anders gewesen als im Rahmen des sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisses. Die Anwendung des Verbots der sachgrundlosen Befristung nach einer Vorbeschäftigung sei daher im vorliegenden Fall unzumutbar.
7
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht abgeändert und der Klage stattgegeben. Die zulässige Klage ist unbegründet.
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I. Die Klage ist zulässig. Der Klageantrag ist bei gebotener Auslegung hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
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1. Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss der Streitgegenstand so konkret umschrieben werden, dass der Umfang der Rechtskraftwirkung für die Parteien nicht zweifelhaft ist (BAG 27. Juli 2016 – 7 ABR 16/14 – Rn. 13 mwN). Bei einer Befristungskontrollklage sollte zwar das Datum der Befristungsabrede neben dem streitbefangenen Beendigungstermin im Klageantrag bezeichnet werden, um die notwendige Bestimmtheit eindeutig zu gewährleisten (vgl. KR/Bader 12. Aufl. § 17 TzBfG Rn. 11; ErfK/Müller-Glöge 19. Aufl. TzBfG § 17 Rn. 15). Es genügt aber, wenn sich der Vertrag, der die angegriffene Befristung enthält, im Wege der Auslegung aus dem weiteren Klagevorbringen ergibt (vgl. BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 – Rn. 9 mwN).
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2. Dies ist hier der Fall. Zwar begehrt die Klägerin mit dem Klageantrag die Feststellung, „dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis vom 1. Oktober 2014 / 3. Juni 2015 nicht aufgrund der Befristung mit Ablauf des 30. Juni 2016 geendet hat“. Damit ist im Klageantrag sowohl der 1. Oktober 2014 als auch der 3. Juni 2015 als Datum der Befristungsabrede genannt. Die Klägerin hat jedoch bereits in der Klageschrift vom 18. März 2016 unter Beifügung der entsprechenden Vertragsunterlagen dargestellt, dass die Parteien zunächst unter dem 1. Oktober 2014 einen zum 30. Juni 2015 befristeten Arbeitsvertrag geschlossen hatten und diese Befristung mit der Änderungsvereinbarung vom 3. Juni 2015 bis zum 30. Juni 2016 verlängert wurde. Daraus ergibt sich mit der erforderlichen Klarheit, dass die Klägerin die letzte, am 3. Juni 2015 vereinbarte Befristung angreifen will.
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II. Die Klage ist unbegründet. Die Befristung ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts wirksam.
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1. Die Befristung zum 30. Juni 2016 gilt allerdings nicht schon nach § 17 Satz 2 TzBfG iVm. § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam. Die Klägerin hat rechtzeitig iSd. § 17 Satz 1 TzBfG Befristungskontrollklage erhoben. Die Klageschrift wurde der Beklagten am 24. März 2016 zugestellt. Eine Klageerhebung noch vor dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsverhältnisses wahrt die Frist des § 17 Satz 1 TzBfG (st. Rspr. vgl. nur BAG 27. September 2017 – 7 AZR 629/15 – Rn. 11 mwN).
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2. Die Befristung ist jedoch nach § 14 Abs. 2 TzBfG ohne Vorliegen eines Sachgrundes zulässig.
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a) Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig. Bis zu dieser Gesamtdauer ist nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG auch die höchstens dreimalige Verlängerung eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags zulässig. Nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.
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b) Die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Voraussetzungen wurden mit der Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses von ca. einem Jahr und neun Monaten sowie der einmaligen Vertragsverlängerung eingehalten. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die Parteien hätten wegen der Vorbeschäftigung der Klägerin in der Zeit vom 22. Oktober 1991 bis zum 30. November 1992 gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG keine sachgrundlose Befristung vereinbaren können. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts erfasst das Verbot in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht ausnahmslos jede frühere Beschäftigung des Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber. Der Anwendungsbereich des Verbots ist vielmehr in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift einzuschränken in Fällen, in denen das Verbot für die Parteien unzumutbar wäre. Dies ist hier der Fall. Das hat das Landesarbeitsgericht verkannt.
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aa) Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG entgegen der vom Senat im Jahr 2011 vertretenen Auffassung nicht verfassungskonform dahin auszulegen ist, dass die Vorschrift der sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsvertrags nicht entgegensteht, wenn ein vorangegangenes Arbeitsverhältnis zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien mehr als drei Jahre zurückliegt (vgl. BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 23 ff., BAGE 139, 213; ähnlich BAG 6. April 2011 – 7 AZR 716/09 – Rn. 27, BAGE 137, 275: „verfassungsorientierte Auslegung“). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überschreitet die Annahme, eine sachgrundlose Befristung des Arbeitsvertrags sei nur dann unzulässig, wenn eine Vorbeschäftigung weniger als drei Jahre zurückliegt, die Grenzen vertretbarer Auslegung gesetzlicher Vorgaben durch die Gerichte, weil der Gesetzgeber gerade dieses Regelungsmodell erkennbar nicht wollte (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – BVerfGE 149, 126).
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bb) Allerdings verlangt auch das Bundesverfassungsgericht eine verfassungskonforme Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 62 f., BVerfGE 149, 126).
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(1) Die Vorschrift schränkt die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und die Vertragsfreiheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein. Diese Beeinträchtigungen wiegen schwer. Sie erweisen sich jedoch in der Abwägung mit dem Schutz der Beschäftigten im Arbeitsverhältnis (Art. 12 Abs. 1 GG) und den im Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG verankerten sozial- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen grundsätzlich als zumutbar. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG bezweckten Schutzes tatsächlich bedürfen, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten und auch eine Gefahr für die soziale Sicherung durch eine Abkehr vom unbefristeten Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform besteht (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 53, BVerfGE 149, 126). Die mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einhergehenden Beeinträchtigungen der Rechte der Arbeitsplatzsuchenden und der Arbeitgeber, erneut einen Arbeitsvertrag sachgrundlos zu befristen, stehen auch nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zwecken, da die Arbeitsgerichte die Anwendung der Norm in verfassungskonformer Auslegung auf Fälle ausschließen können, in denen dies für die Beteiligten unzumutbar wäre (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 55, aaO).
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(2) Ein Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber ist danach unzumutbar, soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Der mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG verfolgte Schutzzweck kann in diesen Fällen das Verbot einer sachgrundlos befristeten Wiedereinstellung nicht rechtfertigen, soweit das legitime Interesse der Arbeitssuchenden an einer auch nur befristeten Beschäftigung und das ebenfalls legitime Flexibilisierungsinteresse der Arbeitgeber entgegensteht (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 62, BVerfGE 149, 126). Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 63, aaO). So liegt es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts etwa bei geringfügigen Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studien- oder Familienzeit, bei Werkstudierenden und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen ihrer Berufsqualifizierung (vgl. dazu BAG 6. April 2011 – 7 AZR 716/09 – Rn. 2, BAGE 137, 275) oder bei einer erzwungenen oder freiwilligen Unterbrechung der Erwerbsbiographie, die mit einer beruflichen Neuorientierung oder einer Aus- und Weiterbildung einhergeht (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 63 mwN, aaO).
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cc) Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommt nach § 31 Abs. 2 iVm. § 13 Nr. 11 BVerfGG Gesetzeskraft zu. Jedenfalls dann, wenn der Tenor – wie hier – ausdrücklich auf die Entscheidungsgründe Bezug nimmt, erstreckt sich die Bindungswirkung auch auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu der verfassungskonformen Auslegung einer einfachgesetzlichen Norm (vgl. BVerfG 30. Juni 1976 – 2 BvR 284/76 – zu B der Gründe, BVerfGE 42, 258; 10. Juni 1975 – 2 BvR 1018/74 – zu B I 3 der Gründe, BVerfGE 40, 88; BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 – Rn. 22 mwN). Dementsprechend hat der Senat seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2011 zur zeitlichen Einschränkung des Verbots in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG inzwischen aufgegeben (BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 – Rn. 18; – 7 AZR 13/17 – Rn. 15; – 7 AZR 161/15 – Rn. 14; vgl. auch BAG 20. März 2019 – 7 AZR 409/16 – Rn. 24).
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dd) Danach liegen die Voraussetzungen einer verfassungskonformen Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im vorliegenden Fall vor. Die Anwendung des Verbots wäre für die Parteien unzumutbar.
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(1) Das Bundesverfassungsgericht hat nicht näher definiert, wann eine Vorbeschäftigung „sehr lang“ zurückliegt, „ganz anders“ geartet oder „von sehr kurzer“ Dauer war. Dies ist unter Berücksichtigung des Grundes für die verfassungskonforme Auslegung, die Anwendung von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG auf Fälle, in denen das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar wäre, auszuschließen, sowie unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht genannten Beispielsfälle zu beurteilen. Letztlich bedarf es hierzu einer Würdigung des Einzelfalls (BAG 17. April 2019 – 7 AZR 323/17 – Rn. 22 mwN; 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 – Rn. 24 mwN).
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(2) Danach ist vorliegend das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht zumutbar. Im Zeitpunkt der erneuten Einstellung der Klägerin lag ihre Vorbeschäftigung fast 22 Jahre zurück. Nach einer solchen Zeitspanne ist es in der Regel geboten, § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift nicht anzuwenden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts genügt es zwar nicht, dass die Vorbeschäftigung lang zurückliegt, sie muss vielmehr sehr lang zurückliegen. Das ist jedoch bei einem Zeitraum von mehr als 22 Jahren regelmäßig anzunehmen, sofern nicht besondere Umstände dennoch eine Anwendung des Verbots erfordern. Bei einer solchen Zeitspanne besteht keine Gefahr der Kettenbefristung. Auch der vom Gesetzgeber mit der Regelung in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG verfolgte Zweck, das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten (vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 49, BVerfGE 149, 126; BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 – Rn. 26), ist nicht gefährdet.
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Bei der Frage, ob der Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einer verfassungskonformen Einschränkung bedarf, ist zu beachten, dass die sachgrundlose Befristung bei der erneuten Einstellung eines Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber auf Ausnahmefälle beschränkt ist (BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 – Rn. 26). Das bleibt gewährleistet, wenn dieselben Arbeitsvertragsparteien nach 22 Jahren erneut einen Arbeitsvertrag mit einer sachgrundlosen Befristung abschließen können. Da ein Erwerbsleben bei typisierender Betrachtung ca. 40 Jahre umfasst (vgl. BAG 18. März 2014 – 3 AZR 69/12 – Rn. 27, BAGE 147, 279), ist bei der erneuten Einstellung des Arbeitnehmers mehr als ein halbes Berufsleben vergangen. Eine nochmalige – dritte – Einstellung des Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber mit einem sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag nach Ablauf weiterer 22 Jahre kommt typischerweise nicht in Betracht, da der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt bereits die Regelaltersgrenze erreicht hat. Damit bleibt die sachgrundlose Befristung die Ausnahme. Dafür, dass ein Zeitraum von 22 Jahren als sehr lang im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzusehen ist, spricht auch die ebenfalls den Bestandsschutz betreffende Regelung des § 622 Abs. 2 Nr. 7 BGB, nach der die längste Kündigungsfrist nach einer Dauer von 20 Jahren eingreift.
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Besondere Umstände, die im vorliegenden Fall dennoch eine Anwendung von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG gebieten könnten, sind nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich.
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(3) Der Senat kann selbst darüber entscheiden, ob die Vorbeschäftigung der Klägerin bei der Beklagten der streitgegenständlichen sachgrundlosen Befristung entgegensteht. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 6. Juni 2018 (- 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – BVerfGE 149, 126) andere Kriterien für die Ausnahme von dem Verbot der erneuten sachgrundlosen Befristung aufgestellt als der Senat in seinen im Jahr 2011 getroffenen Entscheidungen. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien enthalten Wertungsspielräume („sehr lang“ zurückliegend, „ganz anders“ geartet, „von sehr kurzer“ Dauer). Grundsätzlich obliegt diese Bewertung den Tatsacheninstanzen. Sind alle für die Bewertung maßgeblichen Tatsachen festgestellt, kann der Senat diese Bewertung allerdings auch selbst vornehmen. Die Klägerin hat mit ihren Schriftsätzen vom 27. Juli 2018 und vom 19. Dezember 2018 zu den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts Stellung genommen, die Beklagte mit Schriftsatz vom 11. September 2018. Weiterer Tatsachenvortrag war daher nicht zu erwarten. Insbesondere bedurfte es keiner weiteren Feststellungen in Bezug auf das legitime Interesse der Klägerin an einer auch nur befristeten Beschäftigung und das legitime Flexibilisierungsinteresse der Beklagten. Diese typischerweise bestehenden Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind nach dem Bundesverfassungsgericht der Anlass für die Prüfung der Unzumutbarkeit des Verbots (vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 62, aaO) und müssen nicht im Einzelfall gesondert festgestellt werden (teilw. aA wohl Lembke/Tegel NZA 2019, 1029, 1034). Einer Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung bedurfte es daher nicht.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Gräfl
M. Rennpferdt
Klose
Meißner
Glatt-Eipert |
bag_3-17 | 25.01.2017 | 25.01.2017
3/17 - Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen - Sozialkassenverfahren des Baugewerbes (AVE VTV 2013)
Die Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 29. Mai 2013 und 25. Oktober 2013 sind mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nach § 5 TVG aF* unwirksam. Die nach damaligem Rechtsstand erforderliche 50%-Quote war nicht erreicht. Überdies war die seinerzeit zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales nicht mit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) vom 25. Oktober 2013 befasst.
Auf Antrag der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 29. Mai 2013 den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 gemäß § 5 TVG in der damals geltenden Fassung mit bereits im Antrag enthaltenen Einschränkungen bezüglich des betrieblichen Geltungsbereichs („Große Einschränkungsklausel“) für allgemeinverbindlich erklärt (AVE VTV 2013 I). Am 25. Oktober 2013 erfolgte die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV vom 3. Mai 2013 (AVE VTV 2013 II).
Der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag regelt das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe. Bei den Sozialkassen des Baugewerbes (SOKA-BAU) handelt es sich um gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes (Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt – IG BAU -, Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V. – HDB – und Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e.V. – ZDB -). Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse erbringt Leistungen im Urlaubs- und Berufsbildungsverfahren, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes zusätzliche Altersversorgungsleistungen, die jeweils in gesonderten Tarifverträgen näher geregelt sind. Zur Finanzierung dieser Leistungen werden nach Maßgabe des VTV Beiträge von den Arbeitgebern erhoben. Durch die AVE gelten die Tarifverträge nicht nur für die tarifgebundenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien, sondern auch für alle anderen Arbeitgeber der Branche. Sie sind hiernach zur Beitragszahlung verpflichtet. Sowohl die Arbeitgeber als auch ihre Beschäftigten erhalten Leistungen von den Sozialkassen.
Bei den Antragstellern handelt es sich überwiegend um Arbeitgeber, die nicht Mitglied einer Arbeitgebervereinigung sind und deshalb nur auf Grundlage der Allgemeinverbindlicherklärungen zu Beitragszahlungen herangezogen wurden. Sie haben die Auffassung vertreten, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärungen hätten nicht vorgelegen. Insbesondere hätten die tarifgebundenen Arbeitgeber der Baubranche nicht 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigt (50%-Quote). Auch habe kein öffentliches Interesse für die Allgemeinverbindlicherklärungen vorgelegen. Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge zurückgewiesen und festgestellt, dass die angegriffenen Allgemeinverbindlicherklärungen wirksam sind.
Die vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerden hatten vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Allgemeinverbindlicherklärungen vom 29. Mai 2013 und 25. Oktober 2013 des VTV sind unwirksam. Der Senat hat unter Bezugnahme auf die ausführlich begründete Leitentscheidung vom 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – (dazu Pressemitteilung 50/16) betont, dass es keine tragfähige Grundlage für die Annahme des BMAS gibt, wonach zum Zeitpunkt des Erlasses der Allgemeinverbindlicherklärungen in der Baubranche mindestens 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt waren. Die AVE VTV 2013 II ist überdies unwirksam, weil die damals zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, nicht mit dem Normsetzungsakt befasst war. Darin liegt ein Verstoß gegen das in Art. 20 GG verankerte Demokratieprinzip.
Die Feststellung der Unwirksamkeit der AVE VTV 2013 I und II wirkt gemäß § 98 Abs. 4 ArbGG für und gegen jedermann. Sie hat zur Folge, dass im maßgeblichen Zeitraum nur für tarifgebundene Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu den Sozialkassen des Baugewerbes bestand. Andere Arbeitgeber der Baubranche sind nicht aufgrund der AVE verpflichtet, für das Jahr 2013 Beiträge zu leisten (zu den weiteren Rechtsfolgen Pressemitteilungen 50/16 und 51/16).
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 25. Januar 2017 – 10 ABR 34/15 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8. Juli 2015 – 4 BVL 5004/14 und 4 BVL 5005/14 –
*§ 5 TVG in der bis 15. August 2014 geltenden Fassung lautete auszugsweise:
„Allgemeinverbindlichkeit
(1) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn
1. die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und
2. die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.
Von den Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 kann abgesehen werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erforderlich erscheint.
…
(4) Mit der Allgemeinverbindlicherklärung erfassen die Rechtsnormen des Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
…“ | Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 7., 14., 18. bis 25. und 27. wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Juli 2015 – 4 BVL 5004/14 – und – 4 BVL 5005/14 – teilweise aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 29. Mai 2013 (BAnz. AT 7. Juni 2013 B5) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezember 2009 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 unwirksam ist.
2. Auf die Rechtsbeschwerden der Beteiligten zu 7., 14., 18. bis 20., 23. bis 25. und 27. wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Juli 2015 – 4 BVL 5004/14 – und – 4 BVL 5005/14 – teilweise aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 25. Oktober 2013 (BAnz. AT 4. November 2013 B2 in der berichtigten Fassung vom 13. März 2014 BAnz. AT 14. März 2014 B2) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 3. Mai 2013 unwirksam ist.
3. Die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 17. gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 8. Juli 2015 – 4 BVL 5004/14 – und – 4 BVL 5005/14 – wird zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) vom 29. Mai 2013 (BAnz. AT 7. Juni 2013 B5) betreffend den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 in der Fassung vom 17. Dezember 2012 (AVE VTV 2013 I) sowie der AVE vom 25. Oktober 2013 (BAnz. AT 4. November 2013 B2 in der berichtigten Fassung vom 13. März 2014 BAnz. AT 14. März 2014 B2) betreffend den VTV vom 3. Mai 2013 (AVE VTV 2013 II).
2
Die Beteiligte zu 6. – die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) – einerseits sowie der Beteiligte zu 4. – der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e. V. (ZDB) – und der Beteiligte zu 5. – der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e. V. (HDB) – andererseits sind Tarifvertragsparteien von Tarifverträgen für das Baugewerbe, ua. des VTV vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 und des VTV vom 3. Mai 2013. Der VTV regelt die Durchführung des in weiteren Tarifverträgen festgelegten Urlaubskassenverfahrens, der zusätzlichen Altersversorgung und der Berufsbildung im Baugewerbe.
3
Der Beteiligte zu 3. ist die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK), eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit Rechtsfähigkeit aufgrund staatlicher Verleihung. Er ist die gemeinsame Einzugsstelle für die im Urlaubskassen- und Berufsbildungsverfahren zu zahlenden tariflich festgelegten Beiträge. Darüber hinaus zieht er bei Arbeitgebern mit Sitz in den alten Bundesländern die Beiträge der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG (ZVK) sowie die Beiträge der regionalen Kassen in Bayern und Berlin ein.
4
Mit Schreiben vom 17. Dezember 2012 beantragte der Beteiligte zu 5., zugleich namens und in Vollmacht der Beteiligten zu 4. und 6., bei dem Beteiligten zu 2., dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), den VTV vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 mit Einschränkungen beim betrieblichen Geltungsbereich (sog. Große Einschränkungsklausel) mit Wirkung zum 1. Januar 2013 für allgemeinverbindlich zu erklären.
5
Dabei führte der Beteiligte zu 5. mit Ergänzungen aus einem Schreiben vom 24. Januar 2013 insbesondere aus, dass – beruhend auf Erhebungen des Beteiligten zu 3. einerseits und der Beteiligten zu 4. und 5. andererseits – zum Stichtag 30. September 2012 in den Betrieben der tarifvertragschließenden Arbeitgeberverbände 433.326 Arbeitnehmer (330.362 gewerbliche Arbeitnehmer, 75.235 Angestellte und 27.729 Auszubildende) beschäftigt gewesen seien (sog. Kleine Zahl). In den vom Beteiligten zu 3. erfassten Betrieben seien zum Stichtag 30. September 2012 660.195 Arbeitnehmer (526.591 gewerbliche Arbeitnehmer, 100.525 Angestellte sowie 33.079 Auszubildende) beschäftigt gewesen (sog. Große Zahl). Tatsächlich hatte der Beteiligte zu 3. weitere 23.202 gewerbliche Arbeitnehmer und 3.751 Angestellte in von ihm erfassten Betrieben, für die bereits ein Beitragskonto eingerichtet war, die Baubetriebseigenschaft jedoch noch streitig war, an die Tarifvertragsparteien gemeldet. Die Nennung in der Antragstellung unterblieb versehentlich.
6
Der Antrag wurde an die obersten Arbeitsbehörden der Länder zur Stellungnahme übermittelt und ebenso wie der Termin für die Verhandlung des Tarifausschusses im Bundesanzeiger bekannt gemacht.
7
Mit am 6. bzw. 8. März 2013 eingegangenen Schreiben übersandten die Beteiligten zu 4. und 5. dem Beteiligten zu 2. die Rücklaufbögen zur Ermittlung der in den Mitgliedsunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 14. März 2013 teilte der Beteiligte zu 4. dem BMAS mit, es seien anstelle der versehentlich angegebenen 27.729 Auszubildenden tatsächlich nur 25.735 Auszubildende in den Mitgliedsverbänden der tarifvertragschließenden Verbände beschäftigt gewesen, sodass sich die „Kleine Zahl“ auf 431.332 verringere.
8
Laut einem Vermerk vom 19. März 2013 prüften zwei Mitarbeiter des Referats IIIa6 des BMAS das Vorliegen der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG in der bis zum 15. August 2014 geltenden Fassung (künftig TVG aF). Dabei stellten sie zunächst fest, dass die AVE nur mit Einschränkung des betrieblichen Geltungsbereichs, wie sie sich aus der Großen Einschränkungsklausel ergebe, ergehen solle. Zur Ermittlung der Großen Zahl seien die verfügbaren Erkenntnismittel wie die Daten des Beteiligten zu 3., der Bundesagentur für Arbeit (BA), des Zentralverbands des Deutschen Handwerks und des Statistischen Bundesamts auszuwerten. Für die Kleine Zahl zogen sie die von den Beteiligten zu 4. und 5. ermittelte und im Schreiben des Beteiligten zu 4. vom 14. März 2013 mitgeteilte Zahl von 431.332 Arbeitnehmern heran. Es bestünden keine Gründe, an dieser Zahl zu zweifeln. Auf dieser Grundlage errechneten die Referatsmitarbeiter die folgenden Quoten:
Datenquelle
Große Zahl
Kleine Zahl
Tarifbindung
ULAK
660.195
431.332(Stand 30.09.2012)
65,3 %
(Stand 30.09.2012)
BA
1.066.378
40,4 %
(Stand 30.06.2012)
StBa
733.476
58,8 %
(Stand 30.06.2012)
ZDH
–
–
9
In der anschließenden Würdigung bevorzugten sie bezüglich der Großen Zahl die vom Beteiligten zu 3. (ULAK) mitgeteilte Zahl. Allein diese bilde den Geltungsbereich des VTV in der zur AVE beantragten Form ab. Die Zahlen der anderen Datenquellen seien letztlich ungeeignet, da sie keinen Bezug zum Geltungsbereich des VTV hätten.
10
Am 20. März 2013 tagte der Tarifausschuss und befürwortete die beantragte AVE.
11
Laut einem Vermerk vom 17. April 2013 prüfte ein Mitarbeiter des Referats IIIa6 des BMAS erneut die Voraussetzungen für den Ausspruch der AVE, wobei er die nunmehr verfügbare Beschäftigtenstatistik der BA mit Stand vom 30. September 2012 berücksichtigte. Er führte aus, dass ein öffentliches Interesse an der AVE bestehe.
12
Am 29. Mai 2013 unterzeichnete der Referatsleiter, Herr B, für den Beteiligten zu 2. die Bekanntmachung der AVE VTV 2013 I mit Wirkung vom 1. Januar 2013. Die Veröffentlichung im Bundesanzeiger erfolgte am 7. Juni 2013.
13
Mit Schreiben vom 24. Mai 2013 beantragte die Beteiligte zu 6., zugleich namens und in Vollmacht der Beteiligten zu 4. und 5., beim BMAS, den VTV vom 3. Mai 2013 mit der Großen Einschränkungsklausel mit Wirkung vom 1. Juli 2013 für allgemeinverbindlich zu erklären.
14
Die Ausführungen der Beteiligten zu 6. insbesondere zum Vorliegen der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF deckten sich dabei inhaltlich mit den Angaben der Beteiligten zu 4. und 5. in dem die AVE VTV 2013 I betreffenden Verfahren.
15
Der Antrag wurde an die obersten Arbeitsbehörden der Länder zur Stellungnahme übermittelt und ebenso wie der Termin für die Verhandlung des Tarifausschusses im Bundesanzeiger bekannt gemacht.
16
Mit Schreiben vom 13. August 2013 legte das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr gemäß § 5 Abs. 3 TVG Einspruch gegen die beantragte AVE VTV 2013 II ein.
17
Laut einem Vermerk vom 20. August 2013 prüften zwei Mitarbeiter des Referats IIIa6 des BMAS das Vorliegen der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF. Dabei stellten sie zunächst fest, dass die AVE nur mit Einschränkung des betrieblichen Geltungsbereichs, wie sie sich aus der Großen Einschränkungsklausel ergebe, ergehen solle. Zur Ermittlung der Großen Zahl seien die verfügbaren Erkenntnismittel wie die Daten des Beteiligten zu 3., der Bundesagentur für Arbeit, des Zentralverbands des Deutschen Handwerks und des Statistischen Bundesamts auszuwerten. Für die Kleine Zahl zogen sie die von den Beteiligten zu 4. und 5. ermittelte und im Antrag auf AVE erneut mitgeteilte Zahl von 431.332 Arbeitnehmern heran. Es bestünden keine Gründe, an dieser Zahl zu zweifeln. Auf dieser Grundlage errechneten die Referatsmitarbeiter die folgenden Quoten:
Datenquelle
Große Zahl
Kleine Zahl
Tarifbindung
ULAK
660.195
431.332(Stand 30.09.2012)
65,3 %
(Stand 30.09.2012)
BA
1.094.205
39,4 %
(Stand 30.09.2012)
StBa
733.476
58,8 %
(Stand 30.06.2012)
ZDH
–
–
18
In der anschließenden Würdigung bevorzugten sie bezüglich der Großen Zahl die vom Beteiligten zu 3. (ULAK) mitgeteilte Zahl. Allein diese bilde den Geltungsbereich des VTV in der zur Allgemeinverbindlichkeit beantragten Form unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel ab. Die Zahlen der anderen Datenquellen seien letztlich ungeeignet, da sie keinen Bezug zum Geltungsbereich des VTV hätten.
19
Am 27. August 2013 tagte der Tarifausschuss und befürwortete die beantragte AVE.
20
Wegen der aufgrund des Einspruchs des Freistaats Sachsen nach § 5 Abs. 3 TVG erforderlichen Zustimmung der Bundesregierung wandte sich die Abteilung III des BMAS mit Schreiben vom 10. Oktober 2013 an Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. Diese richtete ein Schreiben vom 11. Oktober 2013 an die Bundesregierung, mit dem sie unter Angabe näherer Erwägungen die Zustimmung zur Stattgabe des Antrags auf AVE beantragte. Die Bundesregierung stimmte der AVE in ihrer Kabinettssitzung am 16. Oktober 2013 zu.
21
Laut einem Vermerk vom 18. Oktober 2013 prüfte eine Mitarbeiterin des Referats IIIa6 des BMAS erneut die Voraussetzungen für den Ausspruch der AVE und führte aus, dass ein öffentliches Interesse an der AVE bestehe.
22
In den vom Beteiligten zu 2. kopierten Verfahrensakten, die für das Beschlussverfahren vorgelegt wurden, ist weder die AVE VTV 2013 II selbst noch eine Verfügung zu ihrer Bekanntmachung enthalten. Die Veröffentlichung der Bekanntmachung der AVE VTV 2013 II vom 25. Oktober 2013 mit Wirkung vom 1. Juli 2013 erfolgte am 4. November 2013 im Bundesanzeiger. Unter dem Text der Veröffentlichung befindet sich der gedruckte Zusatz „Bundesministerium für Arbeit und Soziales Im Auftrag B“. Am 13. März 2014 unterzeichnete der Referatsleiter B die Berichtigung der Bekanntmachung über die AVE VTV 2013 II, die am 14. März 2014 im Bundesanzeiger veröffentlicht wurde.
23
Am 17. Dezember 2013 wurde der VTV vom 3. Mai 2013 mit Wirkung ab 1. Januar 2014 geändert. Die geänderte Fassung wurde durch AVE vom 17. März 2014 (BAnz. AT 19. März 2014 B1) rückwirkend zum 1. Januar 2014 ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärt.
24
Der Beteiligte zu 3. macht als Kläger in einem durch rechtskräftigen Beschluss ausgesetzten Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Wiesbaden (- 4 Ca 540/14 -) Beitragsansprüche gegen einen nicht kraft Mitgliedschaft in einem der tarifschließenden Verbände tarifgebundenen Arbeitgeber für den Zeitraum Mai 2013 bis April 2014 geltend, deren Berechtigung allein von der Wirksamkeit der AVE VTV 2013 I und AVE VTV 2013 II abhängt. Die Beteiligten zu 7., 14., 19. bis 25. und 27. sind natürliche bzw. juristische Personen, die, ohne Mitglied in einem der tarifvertragschließenden Arbeitgeberverbände gewesen zu sein, von dem Beteiligten zu 3. auf Beitragszahlungen für das Jahr 2013 in Anspruch genommen werden, und zwar mit Ausnahme der Beteiligten zu 21. und 22. auch für Zeiträume nach dem 30. Juni 2013. Die entsprechenden Verfahren sind zum Teil gemäß § 98 Abs. 6 ArbGG ausgesetzt.
25
Der Beteiligte zu 17. ist der Bundesinnungsverband der Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH). Gemäß seiner Satzung hat er die Aufgabe, Tarifverträge abzuschließen, soweit und solange solche nicht durch Innungen oder Innungsverbände für ihren Bereich abgeschlossen werden. Zu den von ihm abgeschlossenen Tarifverträgen gehören ein „Tarifvertrag über ein Mindestentgelt in den Elektrohandwerken“ aus dem Jahr 1997 nebst Folgetarifverträgen, ein „Tarifvertrag zur Förderung der betrieblichen Altersvorsorge“ aus dem Jahr 2002 sowie ein „Tarifvertrag zur überregionalen Regelung der kollegialen Arbeitnehmerüberlassung“ aus den Jahren 2009 und 2010. Vor dem Verwaltungsgericht Berlin führte der Beteiligte zu 17. seit Juli 2012 ein Verfahren mit dem Ziel, die Unwirksamkeit verschiedener AVE des VTV feststellen zu lassen. Dieser Rechtsstreit, der weder die AVE VTV 2013 I noch die AVE VTV 2013 II betraf, wurde nach Inkrafttreten des § 98 ArbGG in der ab 16. August 2014 geltenden Fassung durch übereinstimmende Erledigungserklärungen beendet.
26
Die Beteiligte zu 18. ist Beitragsforderungen des Beteiligten zu 3. für den Zeitraum Dezember 2011 bis November 2012 ausgesetzt. Im Rahmen der mündlichen Anhörung vor dem Senat im Verfahren – 10 ABR 48/15 – hat der dortige Beteiligte zu 7. (hiesiger Beteiligter zu 3.) mitgeteilt, er behalte sich die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Jahr 2014 gegen den dortigen Beteiligten zu 11. vor, bei dem es sich um den hiesigen Beteiligten zu 18. handelt.
27
Die Beteiligten zu 7., 14., 17. bis 25. und 27. haben die Auffassung vertreten, die AVE des VTV vom 29. Mai 2013 und vom 25. Oktober 2013 seien aus formellen und materiellen Gründen unwirksam. Es fehle bereits an der Unterschrift der verantwortlichen Ministerin. Die AVE verstießen gegen Grundrechte der Antragsteller und gegen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch sei ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 16 GRC, zweifelhaft, was eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erforderlich mache.
28
Der VTV vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 sowie der VTV vom 3. Mai 2013 seien unwirksam, da die Beteiligten zu 4., 5. und 6. nicht tariffähig und/oder tarifzuständig gewesen seien. Insbesondere sei den Beteiligten zu 4. und 5. als Spitzenverbänden die Tariffähigkeit von ihren Mitgliedsverbänden nicht vollständig vermittelt worden. Letztere seien im Übrigen teilweise selbst weder tariffähig noch tarifwillig gewesen.
29
Die materiellen Voraussetzungen der AVE hätten nicht vorgelegen. Eine Richtigkeitsvermutung für ministerielle Entscheidungen gebe es nicht. Der Beteiligte zu 2. habe zur Ermittlung der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF hinsichtlich der Großen Zahl nicht alle greifbaren Quellen ausgeschöpft. Schon deshalb sei der Rechtsakt der Verwaltung nichtig; eine gerichtliche Nachbesserung komme nicht in Betracht. Die Zahlen der ULAK seien materiell unbrauchbar, da sie sich nicht mit dem Geltungsbereich des VTV deckten und von Eigeninteressen geprägt seien. In Wirklichkeit sei zum Zeitpunkt des jeweiligen Erlasses der AVE eine sehr viel größere Anzahl von Beschäftigten unter den Geltungsbereich des VTV gefallen. Dies ergebe sich beispielsweise aus Zahlen der Bundesagentur für Arbeit oder der Berufsgenossenschaft Bau. Die Angaben der Beteiligten zu 4. und 5. zur Kleinen Zahl seien unzutreffend. Diese beruhten teilweise auf Schätzungen, bei denen kein einheitlicher Maßstab angelegt worden sei. Der Beteiligte zu 2. habe nicht einmal eine stichprobenartige Überprüfung vorgenommen.
30
Das öffentliche Interesse sei lediglich formel- und floskelhaft bejaht und der Beurteilungsspielraum nicht ausgeübt worden. Es habe seitens des Beteiligten zu 2. keine Abwägung der für und gegen eine AVE vorgebrachten Gesichtspunkte gegeben, vielmehr sei lediglich die Empfehlung des Tarifausschusses vollzogen worden. Der Erhalt der tariflichen Einrichtung dürfe nicht im Wege des Zirkelschlusses das öffentliche Interesse an seinem Erhalt begründen. Die herangezogenen Argumente, insbesondere die behauptete erhöhte Fluktuation im Baugewerbe, seien unzutreffend.
31
Die Beteiligten zu 7., 14., 17. bis 25. und 27. haben beantragt
festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 20. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 gemäß der Bekanntmachung vom 29. Mai 2013, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 7. Juni 2013, unwirksam ist.
32
Die Beteiligten zu 7., 14., 17. bis 20., 23. bis 25. und 27. haben weiter beantragt
festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 3. Mai 2013 gemäß der Bekanntmachung vom 25. Oktober 2013, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 4. November 2013 mit Berichtigung im Bundesanzeiger vom 14. März 2014, unwirksam ist.
33
Der Beteiligte zu 3. hat beantragt
festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 20. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 gemäß der Bekanntmachung vom 29. Mai 2013, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 7. Juni 2013, und die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 gemäß der Bekanntmachung vom 25. Oktober 2013, veröffentlicht im Bundesanzeiger vom 4. November 2013 mit Berichtigung im Bundesanzeiger vom 14. März 2014, wirksam sind.
34
Die Beteiligten zu 2. und 4. bis 6. haben, soweit für die Rechtsbeschwerde von Bedeutung, beantragt, die negativen Feststellungsanträge zurückzuweisen.
35
Die Beteiligten zu 2. bis 6. haben die Auffassung vertreten, den Antragstellern fehle die Antragsbefugnis, soweit sie geltend machten, nicht vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfasst zu sein. Im Übrigen seien die angegriffenen AVE wirksam. Die Tarifzuständigkeit der Verbände sei nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht Gegenstand des Verfahrens. Ernsthafte Zweifel an deren Vorliegen bestünden im Übrigen nicht.
36
Bei der gerichtlichen Prüfung der Rechtmäßigkeit einer AVE sei keine Ermittlung „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern es sei detaillierter Vortrag der Beteiligten erforderlich, der Zweifel an dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen aufkommen lasse. Solcher Vortrag fehle. Im Übrigen habe der Beteiligte zu 2. ordnungsgemäß entschieden. Die Zahlen der ULAK seien die „geborene Erkenntnisquelle“ für die Große Zahl. Zusätzlich zu den tarifvertraglich vorgeschriebenen Meldungen ermittle die ULAK auch selbst beitragspflichtige Betriebe und erhalte hierzu Hinweise und Informationen von verschiedenen Institutionen, wie zB dem Zoll. Besondere Bedeutung komme ihrer Funktion als gesetzliche Einzugsstelle für die Winterbeschäftigungsumlage zu. Mit Einrichtung des Beitragskontos werde der Betrieb als Baubetrieb erfasst. Bei der Bestimmung der Großen Zahl seien Einschränkungen der AVE hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs aufgrund von Sinn und Zweck der Quote zu berücksichtigen. Der Beteiligte zu 2. habe die gemeldeten Zahlen einer Plausibilitätskontrolle durch Vergleich mit den Zahlen des Statistischen Bundesamts unterzogen, die, wenn überhaupt, die einzig heranzuziehenden Zahlen seien. Andere Zahlen seien ungeeignet, da sie weit über den Geltungsbereich des VTV hinausgingen.
37
Aus der jährlichen Verbandsumfrage zur Beschäftigtenzahl in tarifgebunden Betrieben, die gekoppelt mit der Beitragsveranlagung erfolge, ergäben sich zuverlässige Angaben über die Kleine Zahl. Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften seien zwar nicht generell auszuschließen, sie führten aber zu keiner Verfälschung.
38
Das öffentliche Interesse an der AVE sei mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung, die sich praktisch bewährt habe, zu Recht bejaht worden. Im Baugewerbe seien weniger als 50 % der Beschäftigten ununterbrochen in einem Kalenderjahr bei einem Arbeitgeber beschäftigt, über 60 % der teilnehmenden Betriebe hätten nicht mehr als fünf Beschäftigte. Mit den drei Sozialkassensystemen würden unterschiedliche sozial- und tarifpolitische Zwecke verfolgt. Dies seien zum einen die Portabilität der Urlaubsansprüche, der Ausgleich von Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund unterjähriger Beschäftigung und vorzeitiger Erwerbsminderung und die Bereitstellung einer ausreichenden und qualifizierten Anzahl von Ausbildungsplätzen zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses.
39
Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge aller damaligen Antragsteller auf Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der AVE VTV 2013 I und der AVE VTV 2013 II zurückgewiesen und dem positiven Feststellungsantrag des Beteiligten zu 3. stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgen die Beteiligten zu 7., 14., 17. bis 25. und 27. ihr Begehren weiter. Der frühere Beteiligte zu 16. hat seinen Antrag bereits im ersten Rechtszug zurückgenommen. Das Verfahren ist hinsichtlich dieses Beteiligten durch das Landesarbeitsgericht eingestellt worden. Die erstinstanzlich Beteiligten zu 1., 8. bis 13. haben keine Rechtsbeschwerde eingelegt. Die Beteiligten zu 15. und zu 26. haben die von ihnen eingelegte Rechtsbeschwerde mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2016 zurückgenommen.
40
B. Die Rechtsbeschwerden sind zulässig und, soweit eine Antragsbefugnis der Antragsteller gegeben ist (dazu I.), begründet. Die Überprüfung der Wirksamkeit der AVE erfolgt im Beschlussverfahren, in dem der Amtsermittlungsgrundsatz gilt (dazu II.). Hiernach verstoßen die AVE weder gegen Verfassungsrecht noch die EMRK. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der Vereinbarkeit der AVE mit Unionsrecht ist unbeschadet der fehlenden Entscheidungserheblichkeit nicht geboten (dazu III.). Ebenso wenig kommt eine Aussetzung nach § 97 Abs. 5 ArbGG in Betracht (dazu IV.). Beim Erlass der beiden AVE hat das BMAS das öffentliche Interesse zu Recht bejaht (dazu V.) und keine verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften verletzt (dazu VI.). Die AVE vom 29. Mai 2013 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezember 2009 idF vom 17. Dezember 2012 (AVE VTV 2013 I) ist jedoch ebenso wie die AVE vom 25. Oktober 2013 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 3. Mai 2013 (AVE VTV 2013 II) unwirksam, weil nicht festgestellt werden kann, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber bei Erlass der jeweiligen AVE nicht weniger als 50 vH der unter den Geltungsbereich des VTV fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben (dazu VII.). Die AVE VTV 2013 I ist überdies unwirksam, weil die zuständige Ministerin sich vor dem Erlass hiermit nicht befasst hat (dazu VIII.). Der Beteiligte zu 2. hat gemäß § 98 Abs. 4 Satz 3 ArbGG die Entscheidungsformel dieses Beschlusses im Bundesanzeiger bekannt zu machen (dazu IX.).
41
I. Die Antragsteller sind – mit Ausnahme des Antragstellers zu 17. – antragsbefugt und haben ein Interesse an den jeweils begehrten Feststellungen. Alle am Verfahren zu beteiligenden Vereinigungen oder Stellen sind beteiligt worden.
42
1. Das Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ist hinsichtlich der angegriffenen AVE statthaft. Unschädlich ist, dass sowohl die AVE VTV 2013 I als auch die AVE VTV 2013 II vor Inkrafttreten des § 98 ArbGG nF am 16. August 2014 erlassen wurden und dass der VTV vom 3. Mai 2013 idF vom 3. Dezember 2013, durch den der VTV vom 3. Mai 2013 abgelöst wurde, mit Bekanntmachung vom 17. März 2014 rückwirkend ab 1. Januar 2014 ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärt wurde (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 36 ff.).
43
2. Die Frage der örtlichen Zuständigkeit des Landesarbeitsgerichts ist gemäß § 98 Abs. 3 Satz 1 iVm. § 93 Abs. 2, § 65 ArbGG im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht zu prüfen. Zur Klarstellung ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gemäß § 98 Abs. 2 ArbGG örtlich zuständig war, da das die AVE erlassende BMAS seinen ersten Dienstsitz in Berlin hat (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 39).
44
3. Bei dem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG handelt es sich um ein Normenkontrollverfahren, dessen Durchführung eine Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 oder Abs. 6 ArbGG voraussetzt. Das Verfahren kann grundsätzlich auch hinsichtlich bereits außer Kraft getretener AVE oder VO eingeleitet werden, sofern der jeweilige Antragsteller weiterhin ein rechtlich anerkennenswertes Feststellungsinteresse an einer entsprechenden Entscheidung darlegt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 40).
45
a) Nach § 98 Abs. 1 ArbGG ist antragsbefugt, wer geltend macht, durch die AVE oder VO oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden (dazu im Einzelnen BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 41 bis 52).
46
b) Hiernach besteht eine Antragsbefugnis der Beteiligten zu 7., 14., 18. bis 25. und 27. für deren negative Feststellungsanträge ebenso wie eine Antragsbefugnis des Beteiligten zu 3. für dessen positiven Feststellungsantrag. Nicht antragsbefugt ist der Beteiligte zu 17.
47
aa) Die Antragsbefugnis der Beteiligten zu 7., 14., 19. bis 25. und 27. ergibt sich aus § 98 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG. Sie werden vom Beteiligten zu 3. auf Zahlung von Sozialkassenbeiträgen für den Geltungszeitraum der jeweils von ihnen angegriffenen AVE in Anspruch genommen, ohne Mitglied der tarifvertragschließenden Parteien gewesen zu sein. Die Ablösung der AVE VTV 2013 I und der AVE VTV 2013 II durch eine zeitlich jeweils nachfolgende AVE ändert hieran nichts, da die entsprechenden Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind. Dies gilt unabhängig davon, ob der jeweilige Antragsteller im Ausgangsverfahren leugnet, unter den Geltungsbereich des VTV zu fallen. Für eine mögliche Rechtsverletzung ist vielmehr ausreichend, dass er vom Beteiligten zu 3. auf Beitragszahlung in Anspruch genommen wird. Seine rechtlichen Argumente gegen eine Inanspruchnahme werden weder durch § 98 Abs. 1 ArbGG beschränkt, noch muss er ein Klageverfahren oder andere drohende Nachteile abwarten, bevor er einen Antrag nach § 98 Abs. 1 ArbGG stellen kann. Dies wird gesetzessystematisch dadurch bestätigt, dass die Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 ArbGG gleichrangig neben der nach Abs. 6 steht und nur letztere eine klagweise Inanspruchnahme voraussetzt (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 55).
48
bb) Der Beteiligte zu 3. ist nach § 98 Abs. 6 Satz 2 ArbGG für seinen positiven Feststellungsantrag antragsbefugt. Mindestens ein Gerichtsverfahren, in dem er Kläger ist und Beiträge auf Grundlage der beiden angegriffenen AVE geltend macht, ist nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG ausgesetzt.
49
cc) Auch die Beteiligte zu 18. ist nach § 98 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG antragsbefugt. Zwar ist sie nach ihrem Vortrag Beitragsforderungen des Beteiligten zu 3. nur bis einschließlich November 2012 ausgesetzt, dh. nicht im von den angegriffenen AVE betroffenen Zeitraum. Da der Beteiligte zu 3. im Rahmen der mündlichen Anhörung vor dem Senat im Verfahren – 10 ABR 48/15 – (als dortiger Beteiligter zu 7.) jedoch mitgeteilt hat, er behalte sich die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Jahr 2014 gegen den hiesigen Beteiligten zu 18. vor, droht diesem höchstwahrscheinlich auch eine Inanspruchnahme durch den Beteiligten zu 3. für Beiträge im Kalenderjahr 2013. Für eine mögliche Rechtsverletzung ist dies ausreichend.
50
dd) Der Beteiligte zu 17. ist nicht antragsbefugt. Er hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit der streitgegenständlichen AVE nicht hinreichend dargelegt.
51
(1) Bei dem Beteiligten zu 17. handelt es sich um eine Vereinigung von Arbeitgebern iSv. § 98 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG, die geltend macht, in ihren koalitionsmäßigen Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt zu sein, da ihr tarifpolitischer Spielraum vergangenheits- und zukunftsbezogen durch die AVE beschränkt werde. Dies kann grundsätzlich eine Antragsbefugnis und ein Feststellungsinteresse begründen, wenn die angegriffene AVE oder VO noch in Kraft ist. Gleiches muss regelmäßig dann gelten, wenn diese erst während des laufenden Verfahrens außer Kraft getreten sind. Andernfalls könnten Koalitionen wegen der typischerweise begrenzten Laufzeit der erstreckten Tarifverträge keinen wirksamen Rechtsschutz nach § 98 ArbGG erlangen (vgl. zur Reichweite des Justizgewährleistungsanspruchs zB BAG 18. Mai 2016 – 7 ABR 81/13 – Rn. 28). Etwas anderes gilt jedoch, wenn ein Normenkontrollverfahren erst zu einem Zeitpunkt eingeleitet wird, zu dem die AVE oder VO bereits außer Kraft getreten war. Dann bedarf es zur Begründung des Feststellungsinteresses nach § 98 Abs. 1 ArbGG weiterer Darlegungen zur anhaltenden oder anstehenden Rechtsverletzung.
52
(2) Der durch die streitgegenständliche AVE VTV 2013 I mit Wirkung ab dem 1. Januar 2013 für allgemeinverbindlich erklärte VTV vom 18. Dezember 2009 idF des Änderungstarifvertrags vom 17. Dezember 2012 wurde durch den VTV vom 3. Mai 2013 abgelöst, der durch die streitgegenständliche AVE VTV 2013 II mit Wirkung ab dem 1. Juli 2013 für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Ab dem 1. Januar 2014 trat sodann der VTV vom 3. Mai 2013 idF des Änderungstarifvertrags vom 3. Dezember 2013 in Kraft, der durch die AVE VTV 2014 rückwirkend zum 1. Januar 2014 für allgemeinverbindlich erklärt wurde (zur Unwirksamkeit der AVE VTV 2014 vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 -).
53
(3) Der Beteiligte zu 17. hat sich erstmals im Februar 2015 am vorliegenden Verfahren beteiligt. Die Klage in dem vom Beteiligten zu 17. vor Inkrafttreten des § 98 ArbGG nF eingeleiteten verwaltungsgerichtlichen Verfahren hatte er zwar schon im Juli 2012 erhoben. Sie betraf jedoch weder die AVE VTV 2013 I noch die AVE VTV 2013 II. Darüber hinaus hat der Beteiligte zu 17. selbst vorgebracht, er habe während der Geltungsdauer der angegriffenen AVE Tarifverträge abgeschlossen, deren Geltungsbereiche sich mit dem des VTV teilweise überschnitten haben. Welche Auswirkungen die Entscheidung über die Wirksamkeit der AVE VTV 2013 I und der AVE VTV 2013 II auf sein aktuelles oder zukünftiges Handeln als Tarifvertragspartei und auf seine Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG haben könnte, hat er trotz eines Hinweises des Senats nicht näher dargelegt. Aus der von ihm angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Januar 2010 (- 8 C 38.09 – Rn. 55, BVerwGE 136, 75) ergibt sich nichts anderes. Das dortige Verfahren ist zu einem Zeitpunkt eingeleitet worden, als die AVE noch in Kraft war.
54
4. Alle nach § 98 Abs. 3, § 83 Abs. 3 ArbGG zu beteiligenden Vereinigungen und Stellen sind im vorliegenden Verfahren vom Landesarbeitsgericht beteiligt worden. Hierzu gehören die Behörde, die den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt hat, die Antragsteller sowie die Tarifvertragsparteien, die den für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag abgeschlossen haben (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 77 bis 85).
55
II. Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer AVE oder einer entsprechenden VO nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 iVm. § 98 ArbGG sind gemäß § 2a Abs. 2 ArbGG im Beschlussverfahren auszutragen. Nach § 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG erforscht das Gericht hierbei den Sachverhalt im Rahmen der gestellten Anträge von Amts wegen, wobei die am Verfahren Beteiligten nach § 83 Abs. 1 Satz 2 ArbGG an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken haben. Diese Grundsätze gelten gemäß § 98 Abs. 3 Satz 1 ArbGG entsprechend im Verfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit einer AVE oder VO (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 87 bis 93).
56
III. Die AVE von Tarifverträgen nach § 5 TVG verstößt entgegen der in einigen Rechtsbeschwerden vertretenen Auffassung weder gegen Verfassungsrecht noch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht geboten (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 95 bis 116).
57
IV. Das Verfahren ist nicht nach § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen, da es auf die Frage der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer der tarifvertragschließenden Parteien nicht entscheidungserheblich ankommt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 118 bis 122).
58
V. Die AVE sind entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden nicht bereits deshalb unwirksam, weil sie nicht im öffentlichen Interesse geboten erscheinen, wie § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG aF verlangt.
59
1. Die Entscheidung des Beteiligten zu 2., ein öffentliches Interesse für die streitgegenständlichen AVE anzunehmen, ist nur in beschränktem Umfang gerichtlich nachprüfbar, da ihm ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Spiegelbildlich führt diese begrenzte gerichtliche Überprüfbarkeit des Vorliegens eines öffentlichen Interesses zu erhöhten Anforderungen hinsichtlich des Erfordernisses einer demokratischen Legitimation für diese Entscheidung (vgl. dazu unten VII.). Für die AVE sprechen mehrere Umstände von erheblichem Gewicht. Nicht tarifgebundenen Arbeitgebern entstehen dadurch keine so großen Nachteile, dass die Entscheidung des Beteiligten zu 2. schlechthin unvertretbar oder unverhältnismäßig und damit das ihm zustehende normative Ermessen bei Rechtssetzungsakten überschritten wäre (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 124 bis 131).
60
2. Soweit die Beteiligten zu 24., 25. und 27. hiergegen einwenden, der Beteiligte zu 2. habe das Vorliegen eines öffentlichen Interesses nicht geprüft, sondern nur festgestellt, sodass ein Abwägungsausfall vorliege, verkennen sie, dass etwaige Mängel im Abwägungsvorgang irrelevant wären, da es nur darauf ankommt, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspricht (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 135). Die weiteren Ausführungen der Beteiligten zu 24., 25. und 27. geben keinen Anlass zu der Annahme, dass auch im Ergebnis kein öffentliches Interesse an den AVE besteht. Diesbezüglich unterliegt der (politische) Bewertungsprozess des Beteiligten zu 2. nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Diese eingeschränkte Überprüfung der AVE ist gerechtfertigt, weil zugleich eine zustimmende persönliche Befassung des zuständigen Ministers oder Staatssekretärs erfolgen muss und hierdurch der Normsetzungsakt die gebotene demokratische Legitimation erhält (dazu unten VII.). In einer Gesamtschau kann nicht angenommen werden, dass die äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis des Beteiligten zu 2. überschritten wären (vgl. hierzu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 131).
61
VI. Die streitgegenständlichen AVE sind ebenso wenig wegen Verletzung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften unwirksam. Die AVE sind weder an Art. 80 Abs. 1 GG noch am Maßstab des § 24 VwVfG zu messen. Anderweitige Bedenken hinsichtlich der Erfüllung der weiteren verfahrensrechtlichen Voraussetzung der AVE VTV 2012 nach dem TVG bzw. der TVG-DVO bestehen nicht (dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 133 bis 137).
62
1. Die aufgrund des Einspruchs des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr vom 13. August 2014 gegen die beantragte AVE VTV 2013 II erforderliche Zustimmung der Bundesregierung gemäß § 5 Abs. 3 TVG wurde erteilt. Bezüglich der AVE VTV 2013 I war eine Zustimmung der Bundesregierung nicht erforderlich, da gegen den diesbezüglichen Antrag kein Einspruch eingelegt wurde.
63
2. Zweifel an der Wirksamkeit wegen Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften bestehen gegen die AVE VTV 2013 II, weil weder die AVE selbst noch eine Verfügung zu ihrer Bekanntmachung in den dem Gericht überlassenen kopierten Verfahrensakten enthalten sind. Ob dies einen zur Unwirksamkeit der AVE VTV 2013 II führenden Verfahrensfehler darstellt und ob dieser ggf. durch die vom Referatsleiter B am 13. März 2014 unterschriebene Bekanntmachung der Berichtigung der Bekanntmachung über die AVE VTV 2013 II geheilt wurde, kann jedoch dahinstehen. Die AVE VTV 2013 II ist jedenfalls deshalb unwirksam, weil die 50 %-Quote des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF nicht erfüllt ist (dazu VII.).
64
VII. Die AVE VTV 2013 I und die AVE VTV 2013 II sind unwirksam, weil nicht festgestellt werden kann, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber bei Erlass der AVE nicht weniger als 50 vH der unter den Geltungsbereich des VTV fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF; sog. 50 %-Quote).
65
1. Die AVE eines Tarifvertrags durfte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG in der hier maßgeblichen Fassung nur erfolgen, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 vH der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Zur Feststellung der Einhaltung dieser 50 %-Quote war dabei zunächst die Große Zahl zu ermitteln, dh. die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, unabhängig davon, ob eine Tarifbindung vorliegt oder nicht.
66
a) Für die Ermittlung der Großen Zahl kommt es darauf an, wie viele Arbeitnehmer insgesamt unter den räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags fallen. Maßgeblich ist dabei der Begriff des Geltungsbereichs, wie er im TVG auch an anderer Stelle (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) verwendet wird. Ist der Geltungsbereich im Tarifvertrag selbst beschränkt, beispielsweise durch Ausnahmen iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV, sind in solchen Betrieben beschäftigte Arbeitnehmer nicht bei der Ermittlung der Großen Zahl zu berücksichtigen. Für die Ermittlung der Großen Zahl ist es entgegen der Auffassung der Beteiligten zu 2. bis 6. und des Landesarbeitsgerichts im angegriffenen Beschluss unerheblich, ob die AVE mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ergangen ist. Vielmehr ist auch im Fall eines bereits eingeschränkten Antrags auf AVE oder einer Einschränkung der AVE ohne Antrag durch das BMAS auf den tariflichen Geltungsbereich abzustellen. Dies ergibt eine Auslegung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF (dazu im Einzelnen BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 186 bis 200).
67
b) Die im vorliegenden Verfahren von den Beteiligten zu 3., 4. und 6. insoweit gegen den Beschluss des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 -) erhobenen Einwendungen sind nicht überzeugend.
68
aa) Wie bereits im Senatsbeschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 189) ausgeführt, deutet schon der Wortlaut von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF darauf hin, dass bei der Ermittlung der Großen Zahl die Große Einschränkungsklausel nicht zu berücksichtigen ist. Der in dieser Norm angesprochene „Geltungsbereich des Tarifvertrags“ kann nicht anders verstanden werden als die entsprechende Regelung im Tarifvertrag selbst. In § 1 VTV ist unter der gleichlautenden Überschrift dessen „Geltungsbereich“ geregelt, ohne dass dort die Große Einschränkungsklausel, die allein Gegenstand der AVE ist und außerhalb des Tarifvertrags steht, Erwähnung findet. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff „Geltungsbereich des Tarifvertrags“ etwas anderes gemeint haben könnte als üblicherweise in den Tarifverträgen geregelt wird.
69
bb) Anders als vom Beteiligten zu 3. offenbar angenommen, besteht der Zweck der 50 %-Quote nicht allein in der Verhinderung einer Majorisierung durch eine Minderheit. Die Regelung soll vielmehr darüber hinaus sicherstellen, dass nur Tarifverträge, die in ihrem von den Tarifvertragsparteien selbst gewählten örtlichen, fachlichen und persönlichen Verbreitungsgebiet repräsentativ sind, Gegenstand einer AVE sein können. Dieser Zweck kann nur erreicht werden, wenn auf den Geltungsbereich des Tarifvertrags ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel abgestellt wird.
70
cc) Wie der Beteiligte zu 3. im Übrigen zutreffend ausführt, bewirkt eine Einschränkung der AVE von Tarifverträgen, „dass die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse gerade nicht erfassen, obwohl sie unter den Geltungsbereich fallen.“ Die weiteren Ausführungen des Beteiligten zu 3., dass durch die Große Einschränkungsklausel der „Anwendungsbereich“ des Tarifvertrags eingeschränkt werde, sind in diesem Zusammenhang ohne Belang und führen zu einer unzutreffenden Begriffsverschiebung. Sie berücksichtigen nicht, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF gerade auf den „Geltungsbereich“ und nicht den „Anwendungsbereich“ des Tarifvertrags abstellt.
71
dd) Dass es, anders als vom Beteiligten zu 3. erneut vorgetragen, im Hinblick auf Nachbindung und Nachwirkung eines Tarifvertrags durchaus von tarifrechtlicher Relevanz ist, ob schon dessen Geltungsbereich beschränkt ist oder ob sein „Anwendungsbereich“ durch eine Einschränkungsklausel bei der AVE begrenzt wird, hat der Senat bereits ausgeführt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 197). Die Beteiligten zu 4. bis 6. hätten im Übrigen bei Abschluss des Tarifvertrags den Geltungsbereich des VTV beschränken können, wie es in § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV für Teilbereiche geschehen ist, statt in den AVE-Antrag eine Große Einschränkungsklausel aufzunehmen. Davon haben sie aber offenbar deshalb abgesehen, um dem VTV einen möglichst großen Geltungsbereich zu geben.
72
ee) Die Beteiligte zu 6. nimmt zu Unrecht an, dass nur bei Berücksichtigung der eingeschränkten AVE die Frage beantwortet werden könne, ob es sich im Hinblick auf den Geltungsbereich, für den die Erstreckung beantragt wurde, um einen repräsentativen Tarifvertrag handelt. Maßgebliches Kriterium bei der Betrachtung ist vielmehr die Repräsentativität des Tarifvertrags selbst. Dabei hat die Große Einschränkungsklausel außer Betracht zu bleiben. Anderenfalls könnte ein nicht repräsentativer Tarifvertrag mit einem weiten Geltungsbereich und wenig tarifgebundenen Arbeitnehmern in einem durch eine Einschränkungsklausel gezielt zurechtgeschnittenen Teilbereich dennoch für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dies würde dem Erfordernis der Repräsentativität des (gesamten) Tarifvertrags aber nicht gerecht.
73
ff) Soweit die Beteiligte zu 6. eine angeblich „ständige, unbeanstandete Verwaltungspraxis, die Große Zahl stets unter Berücksichtigung der beantragten Einschränkungen zu bestimmen“, hervorhebt, ist dieses unbeachtlich. Eine ständige unbeanstandete Staatspraxis kann von Bedeutung sein, wenn die Nichtigkeit einer Norm (allein) auf Verfahrensfehlern im Normsetzungsverfahren beruhen würde, nicht aber bei inhaltlichen Fehlern (vgl. BVerfG 11. Oktober 1994 – 1 BvR 337/92 – zu B II 2 c der Gründe, BVerfGE 91, 148). Bloße Mängel im Verfahren der Zahlenermittlung, als dessen Ergebnis der Beteiligte zu 2. „zufällig“ doch eine zutreffende Quote ermittelt hätte, wären gegebenenfalls ohne Bedeutung, weil insoweit nur das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens zu beurteilen ist. Die Frage der Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Bestimmung der Großen Zahl ist aber keine Frage des Verfahrens „bei“ Erlass der AVE, sondern betrifft die inhaltlichen Tatbestandsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF „für“ ihren Erlass. Entscheidend ist, ob die vom gesetzlichen Tatbestand verlangten materiellen Voraussetzungen für die AVE vorliegen oder nicht. Das Fehlen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die AVE kann auch nicht nach der herangezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter Berufung auf eine „ständige unbeanstandete Staatspraxis“ ausgeglichen werden.
74
gg) Der Auffassung der Beteiligten zu 6., die Feststellung der Unwirksamkeit der AVE wegen Nichterreichens der 50 %-Quote sei unverhältnismäßig, ist nicht zu folgen. Sie geht unzutreffend davon aus, dass wegen vielfältiger Belange Betroffener die Wirksamkeit der AVE VTV 2013 I und der AVE VTV 2013 II generell nicht infrage gestellt werden dürfe und vermengt unzulässig Fragen des öffentlichen Interesses gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG aF mit der erforderlichen 50 %-Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF. Der Senat hat – anders als die Ausführungen der Beteiligten zu 6. offenbar glauben machen sollen – in seinem Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 -) auch nicht den VTV kritisiert oder das Instrument der AVE als solches infrage gestellt, sondern lediglich verlangt, dass die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für eine AVE eingehalten werden.
75
hh) Soweit sich die Beteiligte zu 6. auf „historische Betrachtungen“ bezieht, rechtfertigen diese keine andere Beurteilung. Der Senat hat in seinem Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 189) ausgeführt, dass die in der Begründung zu Art. 5 des Tarifautonomiestärkungsgesetzes vertretene Auffassung, bereits bisher sei bei der Ermittlung der 50 %-Quote berücksichtigt worden, „wenn der besondere Geltungsbefehl der Allgemeinverbindlicherklärung nur für einen Teil des Geltungsbereichs erfolgt“ (BT-Drs. 18/1558 S. 48), unzutreffend ist. Tatsächlich hat das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit stets – entsprechend der Formulierung in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF – auf den „Geltungsbereich des Tarifvertrags“ abgestellt. Eine Einschränkung der AVE hat das Bundesarbeitsgericht nie als maßgeblich für die Ermittlung der Großen Zahl angesehen. Den Ausführungen des Senats zur Entstehungsgeschichte von § 5 TVG (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 199) stellt die Beteiligte zu 6. keine substantiierten Einwendungen entgegen.
76
2. Der Beteiligte zu 2. ist bei der Bestimmung der Quote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF von einer falschen Schätzgrundlage für die Bestimmung der Großen Zahl ausgegangen.
77
a) Für die Bestimmung der Großen Zahl müssen die Arbeitnehmer, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, zugrunde gelegt werden. Der Beteiligte zu 2. hat jedoch vor der AVE nicht ermittelt, wie viele Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des VTV fallen. Er hat vielmehr die Zahlen des Beteiligten zu 3. übernommen, aus denen sich nur ergibt, wie viele Arbeitnehmer im Geltungsbereich des VTV unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel zur AVE beschäftigt werden. Dies folgt aus dem Inhalt der Verfahrensakte. Der Beteiligte zu 2. hat in den die AVE VTV 2013 I und die AVE VTV 2013 II vorbereitenden Vermerken mehrfach darauf Bezug genommen, dass die Statistik der ULAK die Zahl der in den Geltungsbereich des VTV unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel fallenden Beschäftigten mit Abstand am genauesten abbilde und sich die Große Zahl unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel ergebe. Auch die Beteiligten des Verfahrens gehen davon aus, dass der Beteiligte zu 3. nur Betriebe unter Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel erfasst (und dies – so die Beteiligten zu 2. bis 6. – auch rechtlich die zutreffende Zahl sei).
78
b) Die Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Ermittlung der Großen Zahl macht die vom Beteiligten zu 2. verwendete Schätzgrundlage unbrauchbar. Sie führt dazu, dass die Große Zahl (alle Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags) systematisch zu klein ist, wodurch die hierdurch bestimmte Quote (der Anteil der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer) generell zu hoch bewertet wird. Denn anders als bei einer Einschränkung des Geltungsbereichs im Tarifvertrag selbst – wie in § 1 Abs. 2 Abschn. VII VTV – wirkt sich die Große Einschränkungsklausel nicht auf die Zahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer (Kleine Zahl) aus.
79
c) Bei der durch die Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel eintretenden Veränderung der nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF zu ermittelnden Quote handelt es sich nicht um einen vernachlässigbaren Effekt. Die Große Einschränkungsklausel hat, wie ihr Name zutreffend verdeutlicht, einen bedeutenden Umfang. Sie umfasst einschließlich der Anhänge mehrere Druckseiten und betrifft ganz unterschiedliche Fallgestaltungen. Wesentliche Handwerks- und Industriebereiche werden – insbesondere soweit anderweitige Tarifgebundenheit besteht – von der AVE ausgenommen. Dies lässt schon nach Umfang und Vielgestaltigkeit der Regelung nicht die Annahme zu, dass die Nichtberücksichtigung von Arbeitnehmern, die unter die Große Einschränkungsklausel fallen, nur eine kleine Gruppe betrifft und unbedeutend wäre. Die Große Einschränkungsklausel ist ausgesprochen differenziert und verschachtelt formuliert, sodass es nicht möglich ist, einen gegebenenfalls statistisch leicht erfassbaren Bereich zu benennen, um damit unter Zuhilfenahme anderweitigen zum Zeitpunkt der Entscheidungen über die AVE vorhandenen Datenmaterials eine Hochrechnung der vom Beteiligten zu 3. angegebenen Arbeitnehmerzahlen auf den rechtlich zutreffenden „Geltungsbereich des VTV“ vorzunehmen. Die Angaben des Beteiligten zu 3. zur Großen Zahl sind damit offensichtlich keine geeignete Grundlage für die vorzunehmende Schätzung der Großen Zahl und somit auch nicht für die Prüfung der 50 %-Quote.
80
3. Eine weitere Sachaufklärung zur Ermittlung der 50 %-Quote ist nicht geboten. Es ist nicht ersichtlich, dass anderes geeignetes statistisches Material zum Zeitpunkt der AVE objektiv vorlag, auf dessen Grundlage das Erreichen der 50 %-Quote hätte festgestellt werden können.
81
a) Maßstab für die gerichtliche Kontrolle sind allein die zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen 16. November 2012 – 4 A 46/11 – zu II 1 a der Gründe mwN). Eine nachträgliche Erhebung oder statistische Aufbereitung von Daten mit dem Ziel, diese zu einem Zeitpunkt nach der ministeriellen Entscheidung verwendbar zu machen, scheidet aus. Von der Behörde kann nicht verlangt werden, im Rahmen der ihr auferlegten und zukommenden sorgfältigen Prüfung auch Daten zu berücksichtigen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt erhoben werden und verfügbar sind. Bei der gerichtlichen Überprüfung ist kein anderer Zeitpunkt zugrunde zu legen als bei der zu überprüfenden Entscheidung. Dies ist der Zeitpunkt des Erlasses der AVE. Bei einer Berücksichtigung erst später vorliegender Daten zu den Verhältnissen im Entscheidungszeitpunkt könnte es sonst von Zufälligkeiten wie dem Zeitpunkt der Einleitung und der Dauer eines Verfahrens nach § 98 ArbGG abhängen, ob die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer AVE festgestellt wird. Damit können für die Bestimmung der Großen Zahl und einer etwaigen Korrektur der sich aus der Großen Einschränkungsklausel ergebenden Fehler nur zum Zeitpunkt der ministeriellen Entscheidung objektiv zur Verfügung stehende und bereits verwertbare Informationen berücksichtigt werden.
82
b) Zum Zeitpunkt der ministeriellen Entscheidung gab es keine anderen verwertbaren Daten, aus denen man die Große Zahl zutreffend hätte ableiten oder die zumindest Grundlage für eine einigermaßen sichere, qualifizierte Schätzung hätten sein können. Weder die Zahlen des Statistischen Bundesamts, der Bundesagentur für Arbeit, der Berufsgenossenschaft Bau, der Deutschen Rentenversicherung, der Handwerkszählung oder anderer von den Beteiligten genannten Stellen sind geeignet, als Grundlage einer Schätzung für die Große Zahl iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF zu dienen. Die Zahlenwerke anderer datenerhebender Stellen treffen keine Aussagen zu der sehr speziellen Frage der von der Großen Einschränkungsklausel erfassten Betriebe und Beschäftigten sowie ihrer Auswirkung auf die vom Beteiligten zu 3. mitgeteilten Zahlen. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 208 bis 217) Bezug genommen, der eine entsprechende Konstellation betrifft.
83
c) Angesichts der vorstehenden Ausführungen muss nicht weiter darauf eingegangen werden, dass der Beteiligte zu 2. hinsichtlich der Großen Zahl nicht den Beteiligten zu 3. – als von ihm angenommene geeignete Auskunftsstelle – unmittelbar um Mitteilung der Beschäftigtenzahlen gebeten, sondern die von den Beteiligten zu 4. bis 6. weitergegebenen Zahlen seiner Betrachtung zugrunde gelegt hat. Allerdings wäre es unter Berücksichtigung des Gebots der Objektivität und Genauigkeit durchaus naheliegend, für die Entscheidung über eine AVE erforderliche Daten unmittelbar bei der datenerhebenden Stelle abzufragen und sich nicht auf eine Informationsvermittlung der die AVE beantragenden Beteiligten zu verlassen. Möglicherweise hätte so auch die unterbliebene Meldung der weiteren knapp 27.000 Beschäftigten berücksichtigt werden können, die vom Beteiligten zu 3. bei der Berechnung der Großen Zahl als berücksichtigungsbedürftig angesehen wurden.
84
d) Soweit sich der Beteiligte zu 3. nunmehr im Rechtsbeschwerdeverfahren darauf beruft, auch ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel bei der Bestimmung der Großen Zahl ergebe sich eine Quote von über 50 % iSv. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF, ist dies unbeachtlich.
85
aa) Die vom Beteiligten zu 3. in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017 erstmals mitgeteilte Große Zahl ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel und die daraus resultierende Quote stellen keine zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen dar. Es handelt sich vielmehr um eine nachträgliche statistische Aufbereitung von Daten mit dem Ziel, diese zu einem Zeitpunkt nach der ministeriellen Entscheidung verwendbar zu machen. Der Senat hat bereits in seinem Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – Rn. 206) darauf hingewiesen, dass dies schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil es sonst von Zufälligkeiten wie dem Zeitpunkt der Einleitung und der Dauer eines Verfahrens nach § 98 ArbGG abhängen würde, ob die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer AVE festgestellt wird.
86
bb) Der Vortrag des Beteiligten zu 3. im Rechtsbeschwerdeverfahren, er habe über diese Zahlen schon zum Zeitpunkt der AVE-Antragstellung verfügt, steht im offenen Widerspruch zu seinen Ausführungen in mehreren Anhörungsrügeverfahren betreffend die Beschlüsse des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – und – 10 ABR 48/15 -). Dort hat er eidesstattliche Versicherungen vorgelegt, wonach Mitarbeiter erst ab dem 22. September 2016 mit der nachträglichen Auswertung von Akten beauftragt worden seien, diese aber auch Mitte Dezember 2016 noch nicht abgeschlossen gewesen sei (vgl. dazu BAG 25. Januar 2017 – 10 ABR 81/16 (F) – Rn. 14). Auch im vorliegenden Verfahren gibt der Beteiligte zu 3. in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017 auf Seite 12 selbst an, dass das Zahlenwerk erst nach den Beschlüssen vom 21. September 2016 erstellt worden sei. Es ist damit nach dem Vortrag des Beteiligten zu 3. weder erkennbar, dass zum Zeitpunkt der Entscheidungen des Beteiligten zu 2. im Mai und Oktober 2013 über die streitgegenständlichen AVE die nunmehr vorgetragenen Zahlen – unabhängig von deren Bewertung – beim Beteiligten zu 2. in verwertbarer und verwendbarer Form vorgelegen haben, noch hat der Beteiligte zu 2. diese vor der Entscheidung bei den tarifvertragschließenden Parteien oder beim Beteiligten zu 3. angefordert. Angesichts dessen kann offenbleiben, ob die weiteren Ausführungen des Beteiligten zu 3. in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2017 zur Herleitung der Großen Zahl schlüssig oder wenigstens plausibel sind.
87
4. Im Hinblick auf die Ausführungen zur Großen Zahl kann dahinstehen, ob die Kleine Zahl zutreffend ermittelt wurde und ob die von den Beteiligten zu 4. und 5. an den Beteiligten zu 2. übermittelten Zahlen zumindest eine Plausibilitätskontrolle erforderlich gemacht und ob sie einer solchen standgehalten hätten (vgl. hierzu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 48/15 – Rn. 209 ff., betreffend die AVE VTV 2014).
88
5. Da die verwendeten Daten des Beteiligten zu 2. als Schätzgrundlage ungeeignet sind und keine geeigneten anderen zum Zeitpunkt des Erlasses der AVE vorhandenen und verwertbaren Daten zur Verfügung standen, andererseits aber das Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF positiv feststehen muss, hätten die streitgegenständlichen AVE nicht erfolgen dürfen. Auf Antrag der Beteiligten zu 7., 14., 17. bis 25. und 27. ist deshalb unter teilweiser Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg festzustellen, dass die AVE VTV 2013 I unwirksam ist. Weiter ist auf Antrag der Beteiligten zu 7., 14., 17. bis 20., 23. bis 25. und 27. unter teilweiser Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg festzustellen, dass die AVE VTV 2013 II unwirksam ist.
89
VIII. Die AVE VTV 2013 I ist darüber hinaus unwirksam, weil sich die zuständige Ministerin damit nicht vor deren Erlass befasst hat. Die AVE VTV 2013 II ist dagegen hinreichend demokratisch legitimiert.
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1. Da es sich bei der AVE eines Tarifvertrags um einen Akt der exekutiven Normsetzung handelt, muss sich der zuständige Minister oder der zuständige Staatssekretär persönlich in einer Weise damit befasst haben, die aktenkundig verdeutlicht, dass er die beabsichtigte AVE billigt. Dies folgt aus den Grundsätzen des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips, Art. 20 Abs. 1 bis Abs. 3 GG, ohne dass dem eine abweichende ständige, unbeanstandete Verwaltungspraxis des Beteiligten zu 2. entgegenstünde (- 10 ABR 33/15 – Rn. 139 bis 181).
91
2. Danach erweist sich die AVE VTV 2013 I auch deshalb als unwirksam, weil sich weder die zuständige Ministerin Dr. von der Leyen noch ihr Staatssekretär damit in einer Weise befasst hat, die aktenkundig verdeutlicht, dass sie die beabsichtigte AVE VTV 2013 I billigen. Die Ministeriumsakte des Beteiligten zu 2. beinhaltet lediglich eine Verfügung vom 29. Mai 2013, die durch den damaligen Referatsleiter des Beteiligten zu 2., Herrn B, am 29. Mai 2013 „im Auftrag“ unterzeichnet wurde. Eine zustimmende Befassung der zuständigen Ministerin Dr. von der Leyen oder ihres Vertreters im Amt mit der AVE VTV 2013 I ist nicht aktenkundig. Zweifel an der Vollständigkeit der Akte bestehen insoweit nicht, zumal auch der Beteiligte zu 2. nicht vorgetragen hat, die Ministerin oder ihr Vertreter im Amt hätten sich mit der AVE VTV 2013 I befasst, ohne dass dies Eingang in die Akten gefunden habe. Auf die gegen das Erfordernis der aktenkundigen Dokumentation der Ministerbefassung (dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 165 bis 169) geäußerten Bedenken des Beteiligten zu 2. kommt es daher nicht an.
92
a) Das Demokratieprinzip verlangt für die Ausübung von Staatsgewalt bei Entscheidungen von Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrags jedenfalls, dass die Letztentscheidung eines dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert ist (sog. Verantwortungsgrenze; BVerfG 24. Mai 1995 – 2 BvF 1/92 – zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 93, 37). Damit ist entgegen der Auffassung der Beteiligten zu 6. keineswegs die Forderung verbunden, der Minister oder der Staatssekretär müsse ausnahmslos bei allen hoheitlichen Entscheidungen persönlich tätig werden. Die AVE als Normsetzungsakt ist jedoch eine Entscheidung von besonderer Bedeutung, weil die Normsetzung grundsätzlich der Legislative vorbehalten ist. Soweit ausnahmsweise die Exekutive damit betraut ist, handelt es sich um einen Sonderfall, der die herausgehobene Bedeutung der Maßnahme für die Behörde unterstreicht (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 156). Hiervon ausgehend hat der Senat der AVE als Normsetzungsakt eine besondere Bedeutung innerhalb der verschiedenen Exekutivhandlungen beigemessen, weshalb die AVE unabhängig vom Inhalt des erstreckten Tarifvertrags einer besonderen Legitimation bedarf. Der Beteiligte zu 2. lässt bei seiner Kritik an der Senatsrechtsprechung das Zusammenspiel von eingeschränkter Überprüfung der Entscheidung über das öffentliche Interesse an der AVE und dem Erfordernis der Ministerbefassung außer Acht. Das Bestehen eines öffentlichen Interesses an der AVE als Normsetzungsakt ist nur deshalb einer lediglich eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung zugänglich, weil zugleich ein hohes Legitimationsniveau bei Erlass der AVE verlangt wird. Diese kurze Legitimationskette rechtfertigt die Einschränkung der gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten.
93
b) Entgegen der Auffassung des Beteiligten zu 2. hat die AVE eines Tarifvertrags nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG aF auch dann besondere Bedeutung, wenn es sich „nur“ um einen Änderungstarifvertrag zu einem bereits für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag handelt, weil selbst bei einer nur geringfügigen Änderung eines bereits für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags die – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 157) – Frage des öffentlichen Interesses erneut für den gesamten Tarifvertrag in der Fassung des jeweiligen Änderungstarifvertrags geprüft werden muss.
94
c) Soweit der Beteiligte zu 2. die besondere Bedeutung einer AVE zu relativieren versucht, indem er sie als Normvollzug qualifiziert, übersieht er, dass das Bundesverfassungsgericht den Normsetzungscharakter der AVE ausdrücklich hervorgehoben und daraus insbesondere das unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips bestehende Erfordernis einer eigenverantwortlichen Prüfung des Bundesministers (nach aktueller Terminologie des Bundesministeriums) hergeleitet hat (BVerfG 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 – zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 44, 322). Diesen Umstand blendet der Beteiligte zu 2. auch bei seiner Argumentation aus, wonach der – die gerichtliche Kontrolle exekutiver Akte betreffende – Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1994 (- 2 BvL 8/88 – BVerfGE 91, 367; Gruppenprinzip bei Personalratswahl) für das Erfordernis der Ministerbefassung nichts hergebe. Dass eine zustimmende Ministerbefassung die förmliche Zeichnung durch den Minister nicht erfordert, hat der Senat bereits klargestellt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 164).
95
d) Der Umstand, dass der Beteiligte zu 2. das einfachrechtlich nicht näher bestimmte Verfahren der Normsetzung kraft der ihm zukommenden Organisationsgewalt innerbehördlich geregelt hat, entbindet die Gerichte nicht von der Verpflichtung zu überprüfen, ob diese Regelungen den Anforderungen des Demokratieprinzips genügen. Damit wird entgegen der vom Beteiligten zu 2. geäußerten Befürchtung nicht in dessen Organisationsgewalt eingegriffen, vom Gericht wird vielmehr lediglich überprüft, ob der Normsetzungsakt AVE mit höherrangigem Recht im Einklang steht.
96
e) Die vom Beteiligten zu 2. erneut angeführte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1994 (BVerfG 11. Oktober 1994 – 1 BvR 337/92 – BVerfGE 91, 148) hat der Senat in seinen Beschlüssen vom 21. September 2016 bereits eingehend berücksichtigt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 173 ff.). Der Beteiligte zu 2. beachtet bei seinem weiteren Vorbringen nicht, dass die Staatspraxis Gegenstand und nicht Maßstab der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Akten der öffentlichen Gewalt ist. Die Staatspraxis kann nicht die eindeutigen oder durch Auslegung ermittelten Anforderungen einer Verfassungsnorm verdrängen (so ausdrücklich BVerfG 11. Oktober 1994 – 1 BvR 337/92 – zu B II 2 a cc (1) der Gründe, BVerfGE 91, 148). Ebenso lässt der Beteiligte zu 2. außer Acht, dass es bei der gerichtlichen Überprüfung der Wirksamkeit einer AVE im Verfahren nach § 98 ArbGG nicht um die Kontrolle ministerieller Organisationsakte geht, sondern um die Kontrolle ausgeübter Staatsgewalt durch Normsetzung. Dabei ist der Beteiligte zu 2. – anders als die Bundesregierung in dem vom Bundesverfassungsgericht am 11. Oktober 1994 entschiedenen Verfahren (- 1 BvR 337/92 -) – bei der AVE von Tarifverträgen nicht gemäß einer ständigen, unbeanstandeten Staatspraxis verfahren. Dies hat der Senat im Beschluss vom 21. September 2016 im Einzelnen dargelegt (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 173 bis 178). Der erneute Hinweis des Beteiligten zu 2. auf die angeblich mangelnde Evidenz des Verfahrensfehlers verfängt deshalb ebenso wenig wie der Einwand der Beteiligten zu 3., 4. und 6., sie hätten auf die Rechtmäßigkeit der jahrzehntelang geübten Praxis des Beteiligten zu 2. vertraut (vgl. dazu BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 173 bis 184) und es habe sich die Praxis im Baugewerbe auf die Wirksamkeit der AVE eingestellt.
97
f) Dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 24. Mai 1977 (- 2 BvL 11/74 -) das Vorliegen einer zustimmenden Ministerbefassung nicht geprüft hat, macht diese entgegen der Auffassung des Beteiligten zu 2. nicht entbehrlich. Der Entscheidung kann weder entnommen werden, ob die Ministerbefassung im dortigen Verfahren problematisiert wurde, noch ist erkennbar, ob dem Bundesverfassungsgericht die Ministeriumsakten vorlagen. Allein aus dem Schweigen der Entscheidung zur Frage der Ministerbefassung kann deshalb nicht auf deren Entbehrlichkeit geschlossen werden. Der Beteiligte zu 2. blendet bei seiner Argumentation überdies aus, dass der Gesetzgeber zwischenzeitlich durch den Erlass der Regelungen in §§ 3 ff. AEntG die Gleichwertigkeit der Normsetzung durch Rechtsverordnung und AVE bestätigt hat (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 158), weshalb auch die Befassung des Ministers mit dem jeweiligen Normsetzungsakt jedenfalls im Grundsatz gleichwertig sein muss.
98
g) Schließlich hat der Beteiligte zu 2. die Ausführungen des Senats zur aktenkundigen Dokumentation einer Ministerbefassung offensichtlich falsch verstanden (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 165 ff.). Der Senat hat nicht angenommen, ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsgebot ergebe sich bereits aus der mangelnden Dokumentation. Er hat vielmehr, wie der Beteiligte zu 2. an anderer Stelle zutreffend darlegt, ausgeführt, dass es nach Aktenlage keine Ministerbefassung gegeben habe. Da der Beteiligte zu 2. eine solche auch nicht behauptet hat, ist der Senat insoweit gerade von der Richtigkeit und Vollständigkeit der Akten ausgegangen.
99
3. Die AVE VTV 2013 II erweist sich allerdings nicht wegen fehlender Befassung der zuständigen Ministerin bzw. des zuständigen Staatssekretärs mit der AVE als unwirksam. Vor Normerlass hat sich die zuständige Ministerin Dr. Ursula von der Leyen in ausreichender Form mit dieser AVE befasst und sie in ihren Willen aufgenommen. Aufgrund des Einspruchs des Freistaats Sachsen gegen die beabsichtigte AVE hat sich die Abteilung III des Beteiligten zu 2. nach der Sitzung des Tarifausschusses, in der dieser seine Zustimmung zu der von den Tarifvertragsparteien beantragten AVE VTV 2013 II erklärt hatte, mit Schreiben vom 10. Oktober 2013 an Frau Ministerin Dr. von der Leyen gewandt und ihr den Sachverhalt geschildert. Dabei wurde hervorgehoben, dass die Voraussetzungen für eine AVE nach § 5 Abs. 1 TVG aF – insbesondere das erforderliche öffentliche Interesse – vorlägen. Frau Ministerin Dr. von der Leyen hat daraufhin durch ihren Staatssekretär ein Schreiben vom 11. Oktober 2013 an die Bundesregierung richten lassen, um deren nach § 5 Abs. 3 TVG erforderliche Zustimmung einzuholen. Damit ist aktenkundig, dass sich die Ministerin mit der AVE VTV 2013 II zustimmend befasst hat. Die Bundesregierung hat die nach § 5 Abs. 3 TVG erforderliche Zustimmung in der Kabinettssitzung vom 16. Oktober 2013 erteilt.
100
IX. Der Beteiligte zu 2. hat gemäß § 98 Abs. 4 Satz 3 ArbGG die Entscheidungsformeln zu 1. und 2. dieses Beschlusses im Bundesanzeiger bekannt zu machen.
101
C. Im vorliegenden Verfahren werden Kosten nicht erhoben, § 2 Abs. 2 GKG.
Linck
W. Reinfelder
Brune
D. Schumann
Frese |
bag_3-19 | 23.01.2019 | 23.01.2019
3/19 - Sachgrundlose Befristung - Vorbeschäftigung
Die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags ist nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht zulässig, wenn zwischen dem Arbeitnehmer und der Arbeitgeberin bereits acht Jahre zuvor ein Arbeitsverhältnis von etwa eineinhalbjähriger Dauer bestanden hat, das eine vergleichbare Arbeitsaufgabe zum Gegenstand hatte.
Der Kläger war vom 19. März 2004 bis zum 30. September 2005 als gewerblicher Mitarbeiter bei der Beklagten tätig. Mit Wirkung zum 19. August 2013 stellte die Beklagte den Kläger erneut sachgrundlos befristet für die Zeit bis zum 28. Februar 2014 als Facharbeiter ein. Die Parteien verlängerten die Vertragslaufzeit mehrfach, zuletzt bis zum 18. August 2015. Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt nicht geendet hat.
Die Klage hatte in allen drei Instanzen Erfolg. Nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrags ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Im Jahr 2011 hatte das Bundesarbeitsgericht zwar entschieden, § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG erfasse in verfassungskonformer Auslegung nicht solche Vorbeschäftigungen, die länger als drei Jahre zurückliegen. Diese Rechtsprechung kann jedoch auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni 2018 (- 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 -) nicht aufrechterhalten werden. Danach hat das Bundesarbeitsgericht durch die Annahme, eine sachgrundlose Befristung sei nur dann unzulässig, wenn eine Vorbeschäftigung weniger als drei Jahre zurückliege, die Grenzen vertretbarer Auslegung gesetzlicher Vorgaben überschritten, weil der Gesetzgeber eine solche Karenzzeit erkennbar nicht regeln wollte. Allerdings können und müssen die Fachgerichte auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch verfassungskonforme Auslegung den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einschränken, soweit das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar ist, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Das Verbot der sachgrundlosen Befristung kann danach insbesondere unzumutbar sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist. Um einen solchen Fall handelt es sich vorliegend nicht, insbesondere lag das vorangegangene Arbeitsverhältnis acht Jahre und damit nicht sehr lang zurück. Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, die Befristung im Vertrauen auf die im Jahr 2011 ergangenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vereinbart zu haben. Sie musste bei Abschluss der Verträge mit dem Kläger jedenfalls die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene verfassungskonforme Auslegung der Norm vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben könnte.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. Januar 2019 – 7 AZR 733/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 11. August 2016 – 3 Sa 8/16 – | Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 11. August 2016 – 3 Sa 8/16 – wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
1. Die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 2 TzBfG ist bei der erneuten Einstellung eines Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber nur zulässig, wenn die Anwendung des in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG bestimmten Verbots der sachgrundlosen Befristung bei einer Vorbeschäftigung für die Arbeitsvertragsparteien unzumutbar wäre. In einem solchen Fall ist der Anwendungsbereich des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im Wege verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift einzuschränken. Dazu genügt allein ein Zeitablauf von acht Jahren seit dem Ende der Vorbeschäftigung nicht. Der Senat gibt seine Rechtsprechung, wonach die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags zulässig ist, wenn die Vorbeschäftigung des Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber mehr als drei Jahre zurückliegt (BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – BAGE 139, 213; 6. April 2011 – 7 AZR 716/09 – BAGE 137, 275), auf.
2. Ein Arbeitgeber, der im Hinblick auf die Rechtsprechung des Senats eine sachgrundlose Befristung mit einem Arbeitnehmer vereinbart hat, der bereits länger als drei Jahre zuvor bei ihm beschäftigt war, kann sich nicht auf ein rechtlich schützenswertes Vertrauen in die Senatsrechtsprechung berufen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses aufgrund einer sachgrundlosen Befristung.
2
Der Kläger war vom 19. März 2004 bis zum 30. September 2005 als gewerblicher Mitarbeiter bei der Beklagten, einer Automobilherstellerin, tätig. Mit Wirkung zum 19. August 2013 stellte die Beklagte ihn erneut auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags vom 18. Juli 2013 befristet für den Zeitraum bis zum 28. Februar 2014 als Facharbeiter im Bereich „Produktion und Logistik“ ein. Im Zusammenhang mit der beabsichtigten Begründung des Arbeitsverhältnisses gab der Kläger in einem Personalbogen der Beklagten seine Vorbeschäftigung wahrheitsgemäß an. Mit Zusatzvereinbarungen vom 23. Januar 2014, 17. Juli 2014 und 12. Februar 2015 vereinbarten die Parteien jeweils eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses, zuletzt bis zum 18. August 2015.
3
Mit der am 17. August 2015 beim Arbeitsgericht eingegangenen, der Beklagten am 24. August 2015 zugestellten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Befristung zum 18. August 2015 geltend gemacht und die Auffassung vertreten, die Befristung sei wegen seiner Vorbeschäftigung nicht nach § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt.
4
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Interesse – beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgrund Befristung mit Ablauf des 18. August 2015 beendet worden ist;
2.
die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Bedingungen als Facharbeiter im Bereich „Produktion und Logistik“ weiter zu beschäftigen.
5
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Befristung gelte als wirksam, weil der Kläger die Klagefrist nicht gewahrt, sondern seine Klage zu früh erhoben habe. Unabhängig davon stehe das frühere Arbeitsverhältnis einer weiteren sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht entgegen, da das Ende des vorangegangenen Arbeitsverhältnisses länger als drei Jahre zurückliege. Diese Rechtsauffassung habe bei Abschluss des Arbeitsvertrags mit dem Kläger im August 2013 im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gestanden. Sie habe den Arbeitsvertrag mit dem Kläger im Vertrauen auf den Fortbestand dieser Rechtsprechung abgeschlossen. Eine mögliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung dürfe in solch einem Fall keine Berücksichtigung finden.
6
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
7
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Befristungskontrollklage zu Recht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat nicht aufgrund der in der Zusatzvereinbarung vom 12. Februar 2015 vereinbarten Befristung mit Ablauf des 18. August 2015 geendet. Der Weiterbeschäftigungsantrag fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an.
8
I. Der Klageantrag zu 1. ist zulässig und begründet.
9
1. Der Antrag, mit dem der Kläger die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund Befristung mit Ablauf des 18. August 2015 beendet worden ist, ist zulässig. Insbesondere ist er hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der jeweilige Streitgegenstand muss nach dieser Vorschrift so konkret umschrieben werden, dass der Umfang der Rechtskraftwirkung für die Parteien nicht zweifelhaft ist (BAG 27. Juli 2016 – 7 ABR 16/14 – Rn. 13 mwN). Zwar sollte das Datum des die Befristung enthaltenden Vertrags neben dem streitbefangenen Beendigungstermin im Klageantrag bezeichnet werden, um die notwendige Bestimmtheit eindeutig zu gewährleisten (vgl. KR/Bader 12. Aufl. § 17 TzBfG Rn. 11; ErfK/Müller-Glöge 19. Aufl. TzBfG § 17 Rn. 15). Es genügt aber, wenn sich der Vertrag, der die angegriffene Befristung enthält, im Wege der Auslegung aus dem weiteren Klagevorbringen ergibt (vgl. BAG 15. Mai 2012 – 7 AZR 6/11 – Rn. 9; 20. Januar 2010 – 7 AZR 542/08 – Rn. 9; APS/Backhaus 5. Aufl. TzBfG § 17 Rn. 55; Sievers TzBfG 6. Aufl. § 17 Rn. 29).
10
Zwar hat der Kläger den Arbeitsvertrag, in dem die Befristungsabrede enthalten ist, im Antrag nicht ausdrücklich genannt. Er hat jedoch bereits in der Klageschrift sowohl den Arbeitsvertrag vom 18. Juli 2013 als auch die Zusatzvereinbarungen vom 23. Januar 2014, vom 17. Juli 2014 und vom 12. Februar 2015 benannt und in Kopie zur Akte gereicht. Damit hat er hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich mit seiner Klage gegen die in der Zusatzvereinbarung vom 12. Februar 2015 enthaltene Befristung des Arbeitsverhältnisses zum 18. August 2015 wendet.
11
2. Der Befristungskontrollantrag ist begründet. Die zwischen den Parteien vereinbarte Befristung ist unwirksam.
12
a) Die Befristung gilt nicht nach § 17 Satz 2 TzBfG iVm. § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam. Der Kläger hat rechtzeitig innerhalb der Dreiwochenfrist nach § 17 Satz 1 TzBfG Befristungskontrollklage erhoben. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es für die Wahrung der Klagefrist unerheblich, dass die Klageschrift bereits am 17. August 2015 und damit einen Tag vor dem vereinbarten Vertragsende beim Arbeitsgericht eingegangen ist.
13
aa) Nach § 17 Satz 1 TzBfG muss der Arbeitnehmer, der die Rechtsunwirksamkeit der Befristung seines Arbeitsvertrags geltend machen will, innerhalb von drei Wochen nach dem vereinbarten Ende des befristeten Arbeitsvertrags Befristungskontrollklage beim Arbeitsgericht erheben. Die Erhebung der Klage erfolgt nach § 253 Abs. 1 ZPO durch Zustellung der Klageschrift. Bezüglich der Frist des § 17 Satz 1 TzBfG kommt es daher – vorbehaltlich der Regelung des § 167 ZPO – grundsätzlich darauf an, wann die Klage zugestellt und damit rechtshängig geworden ist.
14
bb) Die Zustellung der Klage erfolgte vorliegend am 24. August 2015, mithin zu einem Zeitpunkt nach dem Ablauf der Vertragslaufzeit am 18. August 2015 und vor dem Ablauf der Dreiwochenfrist des § 17 Satz 1 TzBfG.
15
cc) Im Übrigen kann die Befristungskontrollklage bei einer kalendermäßigen Befristung entgegen der Rechtsansicht der Beklagten auch schon vor Fristablauf erhoben werden (st. Rspr. vgl. nur BAG 27. September 2017 – 7 AZR 629/15 – Rn. 11 mwN). Auch eine Klageerhebung vor dem 18. August 2015 hätte daher die Frist des § 17 Satz 1 TzBfG gewahrt.
16
b) Ohne Rechtsfehler haben die Vorinstanzen angenommen, dass die Befristung des Arbeitsvertrags nicht nach § 14 Abs. 2 TzBfG gerechtfertigt ist. Zwar wurden die in § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG genannten Grenzen mit der Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses von zwei Jahren und der dreimaligen Vertragsverlängerung eingehalten. Der Wirksamkeit der Befristung steht jedoch § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG entgegen. Nach dieser Vorschrift ist die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass das erste zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis in der Zeit vom 19. März 2004 bis zum 30. September 2005 der Vereinbarung einer sachgrundlosen Befristung des zum 19. August 2013 begründeten Arbeitsverhältnisses entgegenstand, obwohl zwischen dem Ende des ersten und der Begründung des neuen Arbeitsverhältnisses ein Zeitraum von mehr als drei Jahren lag.
17
aa) Der Senat hatte § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG in seiner jüngeren Rechtsprechung verfassungskonform dahingehend ausgelegt, dass die Vorschrift der sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsvertrags nicht entgegensteht, wenn ein vorangegangenes Arbeitsverhältnis zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien mehr als drei Jahre zurückliegt (vgl. BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 23 ff., BAGE 139, 213; ähnlich BAG 6. April 2011 – 7 AZR 716/09 – Rn. 27, BAGE 137, 275: verfassungsorientierte Auslegung).
18
bb) An dieser Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG kann nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni 2018 (- 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 -) nicht festgehalten werden. Danach überschreitet die Annahme, eine sachgrundlose Befristung des Arbeitsvertrags sei nur dann unzulässig, wenn eine Vorbeschäftigung weniger als drei Jahre zurückliegt, die Grenzen vertretbarer Auslegung gesetzlicher Vorgaben durch die Gerichte, weil der Gesetzgeber gerade dieses Regelungsmodell erkennbar nicht wollte (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 71, 76 ff.). In § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfGkommt die gesetzgeberische Grundentscheidung zum Ausdruck, dass sachgrundlose Befristungen zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich nur bei der erstmaligen Einstellung zulässig sein sollen. Der Gesetzgeber hat sich damit zugleich gegen eine zeitliche Begrenzung des Verbots entschieden (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 77). Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, der Regelungsgehalt des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfGergebe sich zwar nicht eindeutig aus dem Wortlaut der Norm und auch die Systematik gebe kein zwingendes Ergebnis der Auslegung vor. Doch zeigten die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte, welche gesetzgeberische Konzeption der Norm zugrunde liege. Sie dokumentierten die konkrete Vorstellung von Bedeutung, Reichweite und Zielsetzung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG, verliehen dessen Wortlaut („bereits zuvor“) seinen Bedeutungsgehalt und ordneten so dem Gesetzeszweck ein Mittel der Umsetzung zu (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 78 ff.).
19
cc) Allerdings verlangt auch das Bundesverfassungsgericht eine verfassungskonforme Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 62 f.).
20
(1) Die Vorschrift schränkt die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit und die Vertragsfreiheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein. Diese Beeinträchtigungen wiegen schwer. Sie erweisen sich jedoch in der Abwägung mit dem Schutz der Beschäftigten im Arbeitsverhältnis (Art. 12 Abs. 1 GG) und den im Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG verankerten sozial- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen grundsätzlich als zumutbar. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG bezweckten Schutzes tatsächlich bedürfen, weil eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten und auch eine Gefahr für die soziale Sicherung durch eine Abkehr vom unbefristeten Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform besteht (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 53). Die mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einhergehenden Beeinträchtigungen der Rechte der Arbeitsplatzsuchenden und der Arbeitgeber, erneut einen Arbeitsvertrag sachgrundlos zu befristen, stehen auch nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zwecken, da die Arbeitsgerichte die Anwendung der Norm in verfassungskonformer Auslegung auf Fälle ausschließen können, in denen dies für die Beteiligten unzumutbar wäre (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 55; kritisch hierzu Bayreuther NZA 2018, 905, 908; Höpfner RdA 2018, 321, 331 f.).
21
Ein Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber ist danach unzumutbar, soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten nicht besteht und das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht erforderlich ist, um das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten. Der mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG verfolgte Schutzzweck kann in diesen Fällen das Verbot einer sachgrundlos befristeten Wiedereinstellung nicht rechtfertigen, soweit das legitime Interesse der Arbeitssuchenden an einer auch nur befristeten Beschäftigung und das ebenfalls legitime Flexibilisierungsinteresse der Arbeitgeber entgegensteht (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 62). Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 63). So liegt es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts etwa bei geringfügigen Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studien- oder Familienzeit (vgl. Bauer NZA 2011, 241, 243; Löwisch BB 2001, 254; Rudolf BB 2011, 2808, 2810), bei Werkstudierenden und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen ihrer Berufsqualifizierung (vgl. dazu BAG 6. April 2011 – 7 AZR 716/09 – Rn. 2, BAGE 137, 275) oder bei einer erzwungenen oder freiwilligen Unterbrechung der Erwerbsbiographie, die mit einer beruflichen Neuorientierung oder einer Aus- und Weiterbildung einhergeht (vgl. Staudinger/Preis [2016] § 620 Rn. 182; ähnlich Löwisch BB 2001, 254 f.).
22
(2) Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommt nach § 31 Abs. 2 iVm. § 13 Nr. 11 BVerfGG Gesetzeskraft zu. Jedenfalls dann, wenn der Tenor – wie hier – ausdrücklich auf die Entscheidungsgründe Bezug nimmt, erstreckt sich die Bindungswirkung auch auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu der verfassungskonformen Auslegung einer einfachgesetzlichen Norm (vgl. BVerfG 30. Juni 1976 – 2 BvR 284/76 – zu B der Gründe, BVerfGE 42, 258; 10. Juni 1975 – 2 BvR 1018/74 – zu B I 3 der Gründe, BVerfGE 40, 88; Pestalozza Verfassungsprozessrecht 3. Aufl. § 20 Rn. 92; Lechner/Zuck BVerfGG 7. Aufl. § 31 Rn. 32; differenzierend Seetzen NJW 1976, 1997, 1998 f.).
23
dd) Danach liegen die Voraussetzungen einer verfassungskonformen Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im vorliegenden Fall nicht vor.
24
(1) Das Bundesverfassungsgericht hat nicht näher definiert, wann eine Vorbeschäftigung „sehr lang“ zurückliegt, „ganz anders“ geartet oder „von sehr kurzer“ Dauer war (zu Bedenken wegen erhöhter Rechtsunsicherheit durch die Rspr. des BVerfG vgl. Bayreuther NZA 2018, 905, 908; ErfK/Müller-Glöge 19. Aufl. TzBfG § 14 Rn. 98). Dies ist unter Berücksichtigung des Grundes für die verfassungskonforme Auslegung, den Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG auf Fälle, in denen das Verbot der sachgrundlosen Befristung unzumutbar wäre, einzuschränken, sowie unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht genannten Beispielsfälle zu beurteilen. Letztlich bedarf es hierzu einer Würdigung des Einzelfalls (Löwisch SAE 2018, 36, 38; Wank Anm. AP TzBfG § 14 Nr. 170).
25
(2) Danach ist vorliegend das Verbot der sachgrundlosen Befristung nicht unzumutbar.
26
(a) Im Zeitpunkt der erneuten Einstellung des Klägers lag seine Vorbeschäftigung entgegen der Ansicht der Beklagten nicht so lange zurück, dass die Nichtanwendung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG verfassungsrechtlich geboten wäre. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts genügt es nicht, dass das Vorbeschäftigungsverhältnis lang zurückliegt, es muss vielmehr sehr lang zurückliegen. Das kann bei einem Zeitraum von acht Jahren nicht angenommen werden. Aufgrund dieses Zeitablaufs ist das Verbot der sachgrundlosen Befristung für die Arbeitsvertragsparteien nicht unzumutbar. Zwar dürfte bei dieser Zeitspanne eine Gefahr der Kettenbefristung eher gering sein. Allerdings würde die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung bei einer erneuten Einstellung acht Jahre nach dem Ende der Vorbeschäftigung allein wegen des Zeitablaufs den vom Gesetzgeber mit der Regelung in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG verfolgten Zweck, das unbefristete Arbeitsverhältnis als Regelbeschäftigungsform zu erhalten, gefährden. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren soziale Sicherung und insbesondere auch die Versorgung im Alter maßgeblich an die Erwerbstätigkeit anknüpft, sind auf langfristige und unbefristete Arbeitsverhältnisse angewiesen (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 46). Die sachgrundlose Befristung soll daher nach der gesetzgeberischen Konzeption die Ausnahme bleiben, weil dies dazu beiträgt, das unbefristete Dauerarbeitsverhältnis als Regelfall der Beschäftigung zu erhalten (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 49). Dies ist auch bei der Beurteilung, ob das Verbot der sachgrundlosen Befristung bei der erneuten Einstellung eines Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber für die Arbeitsvertragsparteien unzumutbar ist, zu berücksichtigen, denn die von den Gerichten ggf. im Wege verfassungskonformer Auslegung vorzunehmende Einschränkung des Anwendungsbereichs des in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG normierten Verbots muss im Einklang mit dem sozialpolitischen Zweck des Schutzes der unbefristeten Beschäftigung als Regelfall stehen (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 33). Bei der Frage, ob der Anwendungsbereich von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG einer verfassungskonformen Einschränkung bedarf, ist daher zu beachten, dass die sachgrundlose Befristung bei der erneuten Einstellung eines Arbeitnehmers bei demselben Arbeitgeber auf Ausnahmefälle beschränkt ist. Das wäre nicht gewährleistet, wenn dieselben Arbeitsvertragsparteien nach Ablauf von acht Jahren erneut einen Arbeitsvertrag mit einer sachgrundlosen Befristung abschließen könnten. Da ein Erwerbsleben bei typisierender Betrachtung mindestens 40 Jahre umfasst (vgl. BAG 18. März 2014 – 3 AZR 69/12 – Rn. 27, BAGE 147, 279), könnte ein Arbeitgeber jedenfalls vier sachgrundlos befristete Arbeitsverträge von jeweils zweijähriger Dauer mit demselben Arbeitnehmer schließen. Damit wäre die sachgrundlose Befristung nicht mehr die Ausnahme. Dadurch würde das angestrebte Ziel einer langfristigen und dauerhaften Beschäftigung gefährdet.
27
(b) Die vom Kläger während seiner Vorbeschäftigung in den Jahren 2004 und 2005 geschuldeten Tätigkeiten waren auch keine ganz anderen als jene, die der Kläger ab dem 19. August 2013 zu erbringen hatte. Ausweislich des zu den Akten gereichten „Personalbogens“ ist der Kläger ausgebildeter Kfz-Mechaniker. Seine Funktion während des Vorbeschäftigungsverhältnisses bei der Beklagten bezeichnet er als „Montagearbeiter“, seine wichtigsten Aufgaben als „Schweiß- und Montagearbeiten“. Ausweislich des Arbeitsvertrags vom 18. Juli 2013 hat der Kläger in dem ab dem 19. August 2013 begründeten Arbeitsverhältnis die Funktion eines Facharbeiters im Bereich „Produktion und Logistik“ übernommen. Dies sind im Vergleich zur Vorbeschäftigung keine ganz anders gearteten Aufgaben.
28
(c) Das erste zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis war auch nicht von sehr kurzer Dauer. Die Laufzeit betrug ca. 1,5 Jahre. Die Höchstdauer eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG beträgt zwei Jahre. Ein Arbeitnehmer erwirbt gemäß § 1 Abs. 1 KSchG nach Ablauf von sechs Monaten Kündigungsschutz. Mit einer vorübergehenden Aushilfe kann gemäß § 622 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 BGB einzelvertraglich keine kürzere als die in Absatz 1 genannte Kündigungsfrist vereinbart werden, wenn das Arbeitsverhältnis über die Zeit von drei Monaten hinaus fortgesetzt wird. Im Hinblick auf diese Fristen ist ein Zeitraum von etwa 18 Monaten im vorliegenden Zusammenhang keinesfalls als sehr kurz anzusehen.
29
(d) Sonstige Umstände, die im vorliegenden Fall eine verfassungskonforme Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG gebieten könnten, sind nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich.
30
ee) Der Senat kann selbst darüber entscheiden, ob die Vorbeschäftigung des Klägers bei der Beklagten der streitgegenständlichen sachgrundlosen Befristung entgegensteht. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 6. Juni 2018 (- 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 -) andere Kriterien für die Ausnahme von dem Verbot der erneuten sachgrundlosen Befristung aufgestellt als der Senat in seinen im Jahr 2011 getroffenen Entscheidungen. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien enthalten Wertungsspielräume („sehr lang“ zurückliegend, „ganz anders“ geartet, „von sehr kurzer“ Dauer). Grundsätzlich obliegt diese Bewertung den Tatsacheninstanzen. Sind alle für die Bewertung maßgeblichen Tatsachen festgestellt, kann der Senat diese Bewertung allerdings auch selbst vornehmen. Bei der verfassungskonformen Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG handelt es sich um eine Rückausnahmevorschrift (vgl. Wank Anm. AP TzBfG § 14 Nr. 170). Der Vortrag von entsprechenden Tatsachen obliegt grundsätzlich demjenigen, der sich darauf beruft. Das ist hier die Beklagte. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde mit den Parteien in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erörtert. Die Beklagte hat dabei insbesondere die Auffassung vertreten, die Vorbeschäftigung liege im vorliegenden Fall bereits „ganz lang“ zurück. Sie hat jedoch nicht geltend gemacht, in Bezug auf die weiteren Kriterien des Bundesverfassungsgerichts noch neue Tatsachen vortragen zu wollen. Einer Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung bedurfte es daher nicht.
31
ff) Auch die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht geboten.
32
(1) Die im Vergleich zur früheren Rechtsprechung des Senats weitergehende Beschränkung der Möglichkeit zur (erneuten) sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen steht im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 1999/70/EG zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (vgl. Preis/Sagan/Brose EuArbR 2. Aufl. Rn. 13.181). Es kann dahingestellt bleiben, ob der nationale Gesetzgeber mit § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG über das beabsichtigte Ziel der Richtlinie hinausgegangen ist. Eine Überschreitung des Schutzstandards, den eine Richtlinie gewährleisten will, bleibt dem nationalen Gesetzgeber unbenommen (BAG 13. Mai 2004 – 2 AZR 426/03 – zu B I 2 b bb der Gründe; 6. November 2003 – 2 AZR 690/02 – zu B I 2 b bb der Gründe, BAGE 108, 269; aA wohl – ohne nähere Begründung – Wank RdA 2012, 361, 362). Ausdrücklich bestimmt § 8 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, dass die Mitgliedstaaten günstigere Bestimmungen für Arbeitnehmer bei der Umsetzung beibehalten oder einführen können, als sie in der Rahmenvereinbarung vorgesehen sind.
33
(2) Es bedarf keiner Klärung der Frage, ob das in der Richtlinie 2000/78/EG geregelte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verlangt, an der früheren Rechtsprechung des Senats festzuhalten, wie die Beklagte meint. Selbst wenn die Richtlinie es gebieten würde, eine sachgrundlose Befristung nach einer dreijährigen Karenzzeit zu ermöglichen, könnte § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht in diesem Sinne richtlinienkonform ausgelegt werden.
34
(a) Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung verlangt, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht (EuGH 6. November 2018 – C-569/16, C-570/16 – [Bauer] Rn. 67; 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 27). Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 25; BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 31 mwN, BAGE 142, 371). Mit dem Verbot, das nationale Recht contra legem auszulegen, konkretisiert der Gerichtshof der Europäischen Union die verfassungsrechtlichen Prinzipien der richterlichen Gesetzesbindung und der Gewaltenteilung, die es den nationalen Gerichten untersagen, an die Stelle des Gesetzgebers zu treten (Preis/Sagan/Sagan EuArbR 2. Aufl. Rn. 1.151 mwN).
35
(b) Bei Anwendung dieser Grundsätze kommt die von der Beklagten geforderte richtlinienkonforme Auslegung nicht in Betracht. Eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG würde gegen das Verbot verstoßen, contra legem zu judizieren. Die frühere Annahme des Senats, eine sachgrundlose Befristung des Arbeitsvertrags sei nur dann unzulässig, wenn eine Vorbeschäftigung weniger als drei Jahre zurückliege, überschreitet die Grenzen vertretbarer Auslegung gesetzlicher Vorgaben durch die Gerichte, weil der Gesetzgeber gerade dies klar erkennbar nicht wollte (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 71, 76 ff.).
36
(3) Es stellt sich auch keine entscheidungserhebliche Frage bezüglich der Auslegung des Art. 21 Abs. 1 GRC. Aus der Vorschrift ergibt sich keine Verpflichtung der deutschen Arbeitsgerichte, § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG in der verfassungskonformen Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht unangewendet zu lassen (vgl. zur Pflicht, nationale Vorschriften bei einem Konflikt mit Art. 21 Abs. 1 GRC unangewendet zu lassen EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 79).
37
(a) Zwar schützt die Vorschrift auch gegen mittelbare Diskriminierungen (vgl. EuArbR/Mohr 2. Aufl. GRC Art. 21 Rn. 94 mwN). Die Beklagte hat jedoch schon nicht dargetan, dass es sich bei § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht um eine dem Anschein nach neutrale Vorschrift handelt, die Personen eines bestimmten Alters in besonderer Weise benachteiligen könnte. Die Beklagte hat für ihre Behauptung, die „statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein älterer Bewerber zufällig bereits in weit entfernter Vergangenheit beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt war, … signifikant höher [sei] als bei einem jungen Bewerber, der aufgrund seines Lebensalters noch keine weit entfernte berufliche Vergangenheit aufweisen“ könne, keine statistischen Nachweise vorgelegt. Zwar können mittelbare Diskriminierungen nicht nur statistisch nachgewiesen werden, sondern sich auch aus anderen Umständen ergeben (BAG 22. April 2010 – 6 AZR 966/08 – Rn. 20, BAGE 134, 160). Es reicht aus, wenn das fragliche Kriterium bei wertender, typisierender Betrachtung geeignet ist, diskriminierend zu wirken. Ein weitgehend unbeschränktes Verbot zum Abschluss eines erneuten sachgrundlos befristeten Vertrags bei jeder Vorbeschäftigung bei demselben Arbeitgeber führt aber bei einer typisierenden Betrachtung nicht notwendig zu einer Benachteiligung älterer Arbeitnehmer. Zwar erhöht sich mit zunehmendem Lebensalter die Wahrscheinlichkeit, dass der Arbeitnehmer bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis hatte. Im Hinblick auf die hohe Anzahl von Arbeitgebern in Deutschland ist aber nicht erkennbar, dass sich aufgrund des Lebensalters auch die Wahrscheinlichkeit signifikant erhöht, gerade bei dem Arbeitgeber beschäftigt gewesen zu sein, der nun die sachgrundlos befristete Stelle besetzen will. Dies hängt vielmehr von zahlreichen anderen Kriterien ab (Ausbildung, Branche, regionale Strukturen etc.).
38
(b) Eine etwaige Ungleichbehandlung wegen des Alters stünde im Übrigen im Einklang mit Art. 21 Abs. 1 GRC, weil sie den in Art. 52 Abs. 1 GRC angeführten Kriterien entspräche. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat darauf hingewiesen, dass gemäß Art. 52 Abs. 1 GRC jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (EuGH 5. Juli 2017 – C-190/16 – [Fries] Rn. 36). Dies ist vorliegend der Fall. Die Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG ist gerechtfertigt, um die Gefahr einer Kettenbefristung in Ausnutzung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten auszuschließen und die unbefristete Beschäftigung als Regelfall zu sichern. Insofern kann auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs Bezug genommen werden (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 53). Diese Ziele sind von der Europäischen Union anerkannt. Ausweislich der Präambel der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge sollen unbefristete Arbeitsverträge die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern darstellen. Nach § 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zu vermeiden.
39
Im Übrigen dürfte eine Unvereinbarkeit des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG mit den Vorgaben des Art. 21 Abs. 1 GRC nicht zu einer Nichtanwendung der Regelung führen. Dem stünde entgegen, dass dies letztlich die unbeschränkte Möglichkeit zur wiederholten sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG zur Folge hätte. Dieses Ergebnis wäre mit den Vorgaben der Richtlinie 1999/70/EG nicht zu vereinbaren (vgl. BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 34, BAGE 139, 213). Die von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG eröffnete Möglichkeit sachgrundloser Befristungen muss schon wegen § 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung notwendig beschränkt werden.
40
c) Entgegen der Ansicht der Revision ist die Klage nicht deshalb abzuweisen, weil die Beklagte den Arbeitsvertrag mit dem Kläger im Vertrauen auf die Rechtsprechung des Senats in den Urteilen vom 6. April 2011 (- 7 AZR 716/09 – BAGE 137, 275) und vom 21. September 2011 (- 7 AZR 375/10 – BAGE 139, 213) abgeschlossen hat. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob der Senat schon aufgrund der Gesetzeswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gehindert wäre, § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im vorliegenden Fall abweichend von den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Anwendung zu bringen, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Wirkungen seiner Entscheidung in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt hat. Das Vertrauen der Beklagten ist jedenfalls nicht derart schützenswert, dass die Klage entgegen der objektiven Rechtslage abzuweisen wäre.
41
aa) Höchstrichterliche Rechtsprechung ist kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Eine in der Rechtsprechung bislang vertretene Gesetzesauslegung aufzugeben, verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Die über den Einzelfall hinausreichende Geltung fachgerichtlicher Gesetzesauslegung beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält. Soweit durch gefestigte Rechtsprechung ein Vertrauenstatbestand begründet wurde, kann diesem erforderlichenfalls durch Bestimmungen zur zeitlichen Anwendbarkeit oder Billigkeitserwägungen im Einzelfall Rechnung getragen werden (BVerfG 25. April 2015 – 1 BvR 2314/12 – Rn. 13; 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07 – Rn. 85 mwN, BVerfGE 122, 248; vgl. dazu auch BAG 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 24, BAGE 144, 306; 19. Juni 2012 – 9 AZR 652/10 – Rn. 27 mwN, BAGE 142, 64). Dabei ist zu beachten, dass im Zivilprozess die Begünstigung der einen Partei durch die Gewährung von Vertrauensschutz stets zu einer Belastung der anderen Partei führt (Koch SR 2012, 159, 160).
42
Die Gewährung von Vertrauensschutz in eine aufgegebene höchstrichterliche Rechtsprechung setzt zunächst voraus, dass die betroffene Partei auf die Fortgeltung einer bisherigen Rechtsprechung vertrauen durfte (BAG 29. August 2007 – 4 AZR 765/06 – Rn. 31; 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – Rn. 33, BAGE 117, 281; 1. Februar 2007 – 2 AZR 15/06 – Rn. 8 ff., beachte dazu aber BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 -). Dem kann etwa entgegenstehen, dass die frühere Rechtsprechung auf so erhebliche Kritik gestoßen ist, dass der unveränderte Fortbestand dieser Rechtsprechung nicht gesichert erscheinen konnte (vgl. BVerfG 26. Juni 1991 – 1 BvR 779/85 – Rn. 43, BVerfGE 84, 212).
43
bb) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob in Bezug auf die Auslegung des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG überhaupt eine gefestigte Rechtsprechung vorlag (zum Erfordernis einer ständigen Rechtsprechung vgl. Koch SR 2012, 159, 161). Immerhin hatte das Bundesarbeitsgericht § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zunächst über Jahre dahin ausgelegt, dass dieselben Arbeitsvertragsparteien nur bei der erstmaligen Einstellung eine sachgrundlose Befristung vereinbaren können; jede spätere sachgrundlose Befristung sei gemäß § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG unwirksam (vgl. BAG 29. Juli 2009 – 7 AZN 368/09 – Rn. 2; 13. Mai 2004 – 2 AZR 426/03 –; 6. November 2003 – 2 AZR 690/02 – BAGE 108, 269). Erst im Jahr 2011 änderte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung und ging davon aus, dass § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG der sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsverhältnisses nicht entgegensteht, wenn ein vorangegangenes Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt (BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 23 ff., BAGE 139, 213; 6. April 2011 – 7 AZR 716/09 – Rn. 16 ff., BAGE 137, 275), wobei der Senat in der Entscheidung vom 21. September 2011 seine in dem Urteil vom 6. April 2011 gegebene Begründung noch modifizierte (verfassungskonforme statt verfassungsorientierte Auslegung, vgl. BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 28, aaO).
44
Der von der Beklagten zur Begründung ihrer Rechtsauffassung zudem herangezogene Beschluss des Senats vom 30. April 2014 (- 7 AZN 119/14 -) über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 30. Januar 2014 (- 5 Sa 1/13 -) ist vom Bundesverfassungsgericht für gegenstandslos erklärt worden, da es das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg aufgehoben hat (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 89).
45
cc) Jedenfalls durfte die Beklagte auf den Fortbestand dieser Rechtsprechung nicht vertrauen. Die Senatsrechtsprechung aus dem Jahr 2011 war von Anfang an auf erhebliche Kritik gestoßen (vgl. Nachw. bei APS/Backhaus 5. Aufl. TzBfG § 14 Rn. 381d; KR/Lipke 12. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 566; vgl. auch BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 23, BAGE 139, 213). Bereits deshalb konnte der Fortbestand dieser Rechtsprechung nicht als gesichert angesehen werden (Vertrauensschutz deshalb verneinend auch Lembke/Tegel NZA-RR 2018, 175, 179 mwN zur Rspr. der Landesarbeitsgerichte; KR/Lipke 12. Aufl. § 14 TzBfG Rn. 573; ErfK/Müller-Glöge 19. Aufl. TzBfG § 14 Rn. 99).
46
Entgegen der Ansicht der Beklagten war ihr Vertrauen auch nicht deshalb schutzwürdig, weil sich das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 21. September 2011 mit kritischen Stimmen im Schrifttum auseinandergesetzt und dennoch an seiner Rechtsprechung festgehalten hat. Gerade auch in dieser zweiten Entscheidung war die Unvereinbarkeit des unbeschränkten Vorbeschäftigungsverbots mit dem Grundgesetz ein tragender Bestandteil der Urteilsbegründung (BAG 21. September 2011 – 7 AZR 375/10 – Rn. 28, BAGE 139, 213: „Entscheidend gegen ein Verständnis des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG im Sinne eines zeitlich völlig uneingeschränkten Verbots der Vorbeschäftigung sprechen verfassungsrechtliche Erwägungen“). Die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz kann nur das Bundesverfassungsgericht abschließend beurteilen (vgl. Art. 100 GG; zum sog. Verwerfungsmonopol vgl. nur Schenke JuS 2017, 1141, 1142 mwN). Das Bundesverfassungsgericht hat zwar kein Auslegungsmonopol für das Grundgesetz, es hat aber die Kompetenz zur Kontrolle der Verfassungsauslegung durch die Fachgerichte (Höpfner RdA 2018, 321, 335 unter Bezugnahme auf Alleweldt Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit S. 98). Es kann offenbleiben, ob es darüber hinaus dem Bundesverfassungsgericht allein obliegt, Normen im Wege der verfassungskonformen Auslegung im Ergebnis (teilweise) für unwirksam zu erklären (in diesem Sinne Höpfner RdA 2018, 321, 335 f.; ähnlich bereits Skouris Teilnichtigkeit von Gesetzen S. 112 f.; aA Seetzen NJW 1976, 1997, 2000). Jedenfalls prüft das Bundesverfassungsgericht, ob das ordentliche Gericht die Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Gebiet des bürgerlichen Rechts zutreffend beurteilt hat (BVerfG 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51 – zu B II 1 der Gründe, BVerfGE 7, 198; vgl. zum Prüfprogramm des BVerfG Korioth FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht Bd. 1 S. 55, 65 mwN). Das Bundesarbeitsgericht ist bei der Auslegung und Anwendung spezifischen Verfassungsrechts (zum Begriff vgl. BVerfG 10. Juni 1964 – 1 BvR 37/63 – zu B II 3 a der Gründe, BVerfGE 18, 85) nicht die „höchste“ Instanz, so dass insofern auch kein entsprechend geschütztes Vertrauen auf den Fortbestand einer „höchstrichterlichen“ Rechtsprechung entstehen kann.
47
Da die Rechtsprechung des Senats aus dem Jahr 2011 im Zeitpunkt der Begründung des erneuten Arbeitsverhältnisses zwischen den Parteien noch nicht vom Bundesverfassungsgericht überprüft und bestätigt worden war, konnte und durfte die Beklagte den unveränderten Fortbestand der Rechtsprechung nicht als gesichert erachten. Sie musste vielmehr die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die vom Senat vorgenommene verfassungskonforme Auslegung von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben könnte.
48
II. Der Weiterbeschäftigungsantrag fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an. Dieser Antrag wurde unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Großen Senats vom 27. Februar 1985 (- GS 1/84 – BAGE 48, 122) gestellt und ist damit auf die vorläufige Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens bezogen. Die Entscheidung des Senats über die Befristungskontrollklage wird mit der Verkündung rechtskräftig.
49
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Gräfl
M. Rennpferdt
Klose
Die ehrenamtliche Richterin Jacobiist verhindert, die Unterschriftbeizufügen.Gräfl
Schiller |
bag_3-20 | 21.01.2020 | 21.01.2020
3/20 - Betriebliche Altersversorgung der IKK classic - Abrechnungsverband Ost der VBL
Auch im sog. Abrechnungsverband Ost der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) haben die Arbeitnehmer der IKK classic nach den dort geltenden Tarifverträgen einen Eigenanteil zu ihrer betrieblichen Altersversorgung zu tragen.
Der Kläger ist seit 1995 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin angestellt. In seinem Arbeitsvertrag wird ua. auf sonstige Tarifverträge in der jeweils für die Beklagte geltenden Fassung Bezug genommen. Bei der Beklagten gelten „Tarifverträge über die betriebliche Altersversorgung“ bei den Innungskrankenkassen und ihren Verbänden, die von Arbeitgeberseite zum einen mit der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft (ver.di) und zum anderen mit der Gewerkschaft der Sozialversicherung (GdS) abgeschlossen wurden. Bezüglich Inhalt und Umfang der Versorgungsleistungen wird auf die Satzung der VBL in der jeweils gültigen Fassung verwiesen. Zur Finanzierung ist bestimmt, dass sich diese durch den Arbeitgeber nach den Vorgaben der VBL-Satzung richtet. Die Beklagte behielt ab dem 1. Januar 2003 von der monatlichen Vergütung des Klägers, dessen Arbeitsverhältnis zum sog. Abrechnungsverband Ost der VBL gehört, jeweils einen prozentualen Anteil entsprechend der jeweils geltenden VBL-Satzung als Arbeitnehmerbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung ein und führte diesen an die VBL ab. Die auf Zahlung von einbehaltenen Arbeitnehmerbeiträgen zur betrieblichen Altersversorgung gerichtete Klage ist von den Vorinstanzen abgewiesen worden.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Nach den vorliegend einschlägigen Vereinbarungen sowohl in der mit ver.di als auch in der mit der GdS vereinbarten Fassung ergibt sich, dass Arbeitnehmer der Beklagten im sog. Abrechnungsverband Ost einen Eigenanteil zu ihrer betrieblichen Altersversorgung bei der VBL zu tragen haben. Das folgt aus deren Auslegung. Die Verweisung in den maßgeblichen Tarifverträgen auf die Satzung der VBL zur Regelung von Inhalt und Umfang der betrieblichen Altersversorgung ist rechtlich zulässig.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21. Januar 2020 – 3 AZR 73/19 –
Vorinstanz: Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Januar 2019 – 3 Sa 291/18 –
Die Klage in einem weiteren am heutigen Tag verhandelten Verfahren (- 3 AZR 225/19 -), das rechtlich ähnlich gelagert ist, war ebenfalls erfolglos. | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 22. Januar 2019 – 3 Sa 291/18 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, einen Eigenanteil am Beitrag zur betrieblichen Altersversorgung von der Nettovergütung des Klägers einzubehalten und abzuführen.
2
Die Beklagte, eine bundesunmittelbare rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, ist eine Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung mit Sitz in D.
3
Der Kläger ist seit dem 24. Juli 1995 auf Grundlage des Arbeitsvertrags vom 22. Juni 1995 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin angestellt. Sein Arbeitsvertrag lautet in § 2:
„Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach den Vorschriften des Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT/IKK) und den sonstigen Tarifverträgen in der jeweils für den Bereich der Krankenkasse geltenden Fassung.“
4
Der Kläger ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (im Folgenden ver.di). In dem für den Rechtsstreit relevanten Zeitraum wurde er als Sozialversicherungsfachangestellter in der Geschäftsstelle der Beklagten in P beschäftigt und erhielt eine Vergütung nach der Vergütungsgruppe 8 Stufe 10 IKK-TV iHv. 4.172,95 Euro brutto. Die Beklagte hat den Kläger bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (im Folgenden VBL) als Versicherten angemeldet.
5
Unter dem 13. Dezember 2002 unterzeichneten der damals noch bestehende Bundesverband der Innungskrankenkassen (im Folgenden IKK-Bundesverband), dessen Mitglied die Beklagte zum damaligen Zeitpunkt war, und ver.di sowie die Gewerkschaft der Sozialversicherung (im Folgenden GdS) jeweils inhaltsgleiche Tarifverträge über die betriebliche Altersversorgung bei den Innungskrankenkassen und ihren Verbänden (im Folgenden ATV/IKK ver.di bzw. ATV/IKK GdS 2002), die rückwirkend zum 1. Januar 2001 in Kraft getreten sind. In beiden ist Folgendes geregelt:
„§ 1
Geltungsbereich
Dieser Tarifvertrag gilt für Beschäftigte, die unter den
a)
IKK-TV
b)
MTV/IKK Arbeiter
c)
MTV-Auszubildende/IKK
fallen und deren Arbeitgeber Beteiligter bei der VBL ist.
§ 2
Versorgungsanspruch
(1) Die Beschäftigten haben Anspruch auf eine betriebliche Altersversorgung.
(2) Inhalt und Umfang der Versorgungsleistungen folgen der Satzung der VBL in der jeweils gültigen Fassung.
§ 3
Finanzierung
(1) Die Finanzierung durch den Arbeitgeber richtet sich nach den Vorgaben der VBL-Satzung in der jeweils gültigen Fassung.
(2) Der Umlageanteil der Arbeitnehmer im Abrechnungsverband West beträgt ab 1. Januar 2002 1,33%, ab 1. Januar 2003 1,41 %.
(3) Der Arbeitgeber hat die auf ihn entfallende Umlage bis zu einem Betrag von 146,00 € pauschal zu versteuern, solange die Pauschalversteuerung rechtlich möglich ist.
(4) Die Beschäftigten, deren zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung im Wege der Höherversicherung bis 31. Dezember 1997 durchgeführt wurde, sind weiterhin nicht zu versichern. Der Arbeitgeber zahlt einen Zuschuss zur Verwendung für eine zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung von 66,47 € monatlich.
(5) Die Bemessungsgrundlage in Absatz 6 der Ausführungsbestimmungen zu § 64 Abs. 4 der VBL-Satzung greift für Altersteilzeitfälle, die nach dem 30. September 2003 vereinbart werden.
§ 4
In-Kraft-Treten
(1) Dieser Tarifvertrag tritt zum 1. Januar 2001 in Kraft. Er kann jederzeit, frühestens zum 31. Dezember 2007 gekündigt werden.
(2) Der Tarifvertrag über die Versorgung der Arbeitnehmer bei den Innungskrankenkassen und ihren Verbänden (Versorgungs-TV/IKK) vom 30. Dezember 1966 i.d.F. vom 4. Dezember 2001 tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2000 außer Kraft.“
6
§ 46 des Manteltarifvertrags idF vom 1. Februar 2005 (im Folgenden MTV) lautet wie folgt:
„§ 46
Zusätzliche Alters- und Hinterbliebenversorgung
Die Beschäftigten der Innungskrankenkassen und ihrer Verbände haben Anspruch auf Versicherung unter eigener Beteiligung zum Zwecke einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung nach Maßgabe eines besonderen Tarifvertrages.
Soweit allgemein oder für einzelne Gruppen von Beschäftigten oder einzelne Beschäftigte bereits Regelungen einer Alters- und Hinterbliebenenversorgung ohne eigene Beteiligung bestehen, werden sie hiervon nicht berührt.“
7
Unter dem 30. November 2016 wurde nach einer dem Senat vorliegenden Kopie im Namen der IKK und, der IKK gesund plus, der IKK Südwest, der Beklagten auf der einen und der GdS auf der anderen Seite der Änderungstarifvertrag zum Tarifvertrag über die betriebliche Altersversorgung bei den Innungskrankenkassen und ihren Verbänden (im Folgenden ATV/IKK GdS 2016) unterzeichnet. Dieser hat folgenden Inhalt:
„§ 1
Änderung des ATV/IKK
Der ATV/IKK für die Beschäftigten der IKK und, der IKK classic, der IKK gesund plus und der IKK Südwest wird wie folgt geändert:
1. § 3 Absatz 1 erhält folgende Fassung:
‚Die Finanzierung durch den Arbeitgeber und die Beschäftigten richtet sich nach den Vorgaben der VBL-Satzung in der jeweils gültigen Fassung.‘
2. § 3 Absatz 2 wird wie folgt geändert:
Für die Beschäftigten im Abrechnungsverband Ost betragen die Beiträge zur Kapitaldeckung der Beschäftigten abweichend von Abs. 1 für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 30.06.2017 weiterhin 2,0 % und für den Zeitraum vom 01.07.2017 bis 31.12.2017 2,75 %.
§ 2
Inkrafttreten
Dieser Tarifvertrag tritt mit Wirkung vom 1. Januar 2017 in Kraft.“
8
Ein vergleichbarer Tarifvertrag wurde mit ver.di nicht abgeschlossen.
9
Die VBLS enthielt in dem für den Rechtsstreit relevanten Zeitraum ua. nachfolgende Bestimmungen:
„§ 63 Aufwendungen für die Pflichtversicherung
(1) Der Beteiligte ist Schuldner der
a)
Umlagen (§ 64 Abs. 1),
b)
Sanierungsgelder (§ 65) und
c)
Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren (§ 66)
einschließlich einer tarif- oder arbeitsvertraglich vereinbarten Eigenbeteiligung der Pflichtversicherten.
(2) …
§ 64 Umlage, Versorgungskonto I*
(1) Der Beteiligte hat monatliche Umlagen in Höhe des nach Absatz 2 festgesetzten Vomhundertsatzes des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts des Pflichtversicherten einschließlich eines vom Pflichtversicherten erhobenen Umlage-Beitrags nach Absatz 3 zu zahlen.
(2) Im Abrechnungsverband West beträgt der Umlagesatz vom 1. Januar 1999 an 7,7 Prozent und seit dem 1. Januar 2002 7,86 Prozent des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts. Eine über 7,86 Prozent hinausgehende Anhebung dieses Umlagesatzes erfolgt nicht; dies setzt die versicherungsmathematische Feststellung voraus, dass die Sanierungsgelder ausschließlich zur Finanzierung der vor dem 1. Januar 2002 begründeten Ansprüche und Anwartschaften und nicht zur Finanzierung der seit dem 1. Januar 2002 nach dem Punktemodell neu erworbenen Ansprüche und Anwartschaften (§§ 33 ff.) dienen.
Im Abrechnungsverband Ost/Umlage beträgt der Umlagesatz vom 1. Januar 1997 an 1,0 Prozent, vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2003 1,2 Prozent und vom 1. Januar 2004 an 1,0 Prozent des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts. Für Pflichtversicherungen von Beschäftigten, deren zusatzversorgungspflichtiges Entgelt sich nach Tarifvertragsregelungen für das Tarifgebiet West bemisst, gilt der Umlagesatz nach Satz 1 auch nach einem Wechsel auf einen Arbeitsplatz im Beitrittsgebiet bei demselben Arbeitgeber; Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren im Abrechnungsverband Ost/Beitrag (§ 66 a) sind in diesem Fall nicht zu leisten.
(3) Für Pflichtversicherte, für die nach Absatz 2 der Umlagesatz des Abrechnungsverbandes West maßgeblich ist, beträgt der Eigenanteil der Pflichtversicherten an der Umlage nach Absatz 2 Satz 1 entsprechend tarifvertraglicher Regelung vom 1. Januar 1999 an 1,25 Prozent und seit dem 1. Januar 2002 1,41 Prozent des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts (Umlage-Beitrag West). Eine über 1,41 Prozent hinausgehende Anhebung dieses Umlage-Beitrages erfolgt nicht.
Für Pflichtversicherte, für die nach Absatz 2 der Umlagesatz des Abrechnungsverbandes Ost/Umlage maßgeblich ist, beträgt der Eigenanteil der Pflichtversicherten an der Umlage nach Absatz 2 Satz 3 entsprechend tarifvertraglicher Regelung vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2003 0,2 Prozent des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts (Umlage-Beitrag Ost).
(4) …
§ 66 Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren, Versorgungskonto II
(1) Die VBL kann Beiträge für eine schrittweise Umstellung des Finanzierungsverfahrens auf eine Kapitaldeckung erheben oder zulassen.
(2) Die Beiträge im Sinne des Absatzes 1 einschließlich der darauf entfallenden Erträge sowie die daraus zu finanzierenden Verbindlichkeiten werden im Abrechnungsverband Ost/Beitrag verwaltet.
§ 66 a Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren im Abrechnungsverband Ost/Beitrag
(1) Im Abrechnungsverband Ost/Beitrag hat der Beteiligte monatliche Beiträge nach § 66 Abs. 1 in Höhe des nach Absatz 2 festgesetzten Vomhundertsatzes des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts des Pflichtversicherten einschließlich eines vom Pflichtversicherten erhobenen Eigenanteils nach Absatz 3 zu zahlen.
(2) Der Beitrag beträgt vom 1. Januar 2004 an 1,0 Prozent des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts. Für jeden Prozentpunkt, um den der allgemeine Bemessungsgrundsatz Ost über den Bemessungssatz von 92,5 Prozent angehoben wird, erhöht sich der Beitrag zeitgleich um 0,4 Prozentpunkte. Soweit die Anhebung des Bemessungssatzes Ost nicht in vollen Prozentpunkten erfolgt, erhöht sich der Beitrag anteilig. Im Zeitpunkt des Erreichens eines Bemessungssatzes Ost von 97 Prozent steigt der Beitrag auf den Höchstsatz von 4,0 Prozent.
(3) Der Eigenanteil der Pflichtversicherten am Beitrag zum Kapitaldeckungsverfahren beträgt jeweils die Hälfte des Beitrags nach Absatz 2.
(4) § 64 Abs. 6 gilt entsprechend.“
10
In dem satzungsergänzenden Beschluss des Verwaltungsrats der VBL vom 20. Mai 2016 zur Umsetzung der Tarifeinigung in den Tarifverhandlungen der Länder vom 28. März 2015 sowie von Bund und VKA vom 29. April 2016 zu §§ 64 und 66a der VBLS heißt es ua.:
„1. …
2. Im Abrechnungsverband Ost/Beitrag führen Arbeitgeber an die VBL ergänzend zu dem Arbeitnehmerbeitrag zur Kapitaldeckung in Höhe von 2,0 v. H. nach § 66a Abs. 2 und 3 VBLS einen zusätzlichen Arbeitnehmerbeitrag zur Kapitaldeckung in folgender Höhe ab:
a) …
b) …
c) Beteiligte, die nicht unter die Buchstaben a oder b fallen,
aa) spätestens ab 1. Januar 2017 in Höhe von 0,75 Prozent
bb) ab 1. Juli 2017 in Höhe von 1,5 Prozent und
cc) ab 1. Juli 2018 in Höhe von 2,25 Prozent des zusatzversorgungspflichtigen Entgelts.
…
3. Die zusätzlichen Arbeitnehmerbeiträge sind auch dann vom Arbeitgeber zu zahlen, wenn tarif- oder arbeitsvertraglich kein entsprechender Arbeitnehmerbeitrag vereinbart worden ist.“
11
Ab dem 1. Januar 2003 zog die Beklagte von der monatlichen Vergütung des Klägers jeweils einen prozentualen Anteil als Arbeitnehmerbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung ab, der in den Gehaltsabrechnungen als „ZV-Beitrag“ ausgewiesen ist, und führte diesen an die VBL ab. In den streitgegenständlichen Monaten Juni 2017 bis Januar 2018 erfolgten Abzüge in nachfolgender Höhe:
·
Juni 2017:
88,17 Euro netto
·
Juli bis November 2017:
je 121,23 Euro netto
·
Dezember 2017:
291,65 Euro netto
·
Januar 2018:
154,30 Euro netto
12
Mit Schreiben vom 28. November 2017 legte der Kläger „Widerspruch“ gegen die Abführung der Umlagebeiträge ein und forderte die Beklagte auf, keine Arbeitnehmeranteile mehr an die VBL abzuführen und ihm die ab Juni 2017 abgeführten Beträge zu erstatten. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 11. Dezember 2017 ab.
13
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte sei nicht zum Abzug eines Arbeitnehmerbeitrags zur betrieblichen Altersversorgung vom monatlichen Gehalt berechtigt. Er habe auf der Grundlage der zwischen dem IKK-Bundesverband und ver.di abgeschlossenen Tarifverträge Anspruch auf eine ausschließlich arbeitgeberfinanzierte Alters- und Hinterbliebenenversorgung. Für Arbeitnehmer im Abrechnungsverband Ost sei ein eigener Umlageanteil nicht vereinbart. Auf die Regelungen in der VBLS könne nicht abgestellt werden, da § 3 Abs. 1 ATV/IKK vom 13. Dezember 2002 in der geltenden Fassung nur hinsichtlich der Finanzierung durch den Arbeitgeber auf die VBLS verweise. Nur für die Arbeitnehmer im Abrechnungsverband West sehe § 3 Abs. 2 ATV/IKK einen eigenen Umlageanteil vor. Hinzuweisen sei auch auf § 63 Abs. 1 VBLS, wonach die Eigenbeteiligung der Pflichtversicherten tarif- oder arbeitsvertraglich zu vereinbaren sei. Soweit dies nicht erfolgt sei, seien die zusätzlichen Beiträge durch den Arbeitgeber zu zahlen. Hier fehle es an so einer Regelung. Dieses Ergebnis stehe nicht in Widerspruch zu § 46 Satz 1 MTV, denn dieser normiere keinen zwingenden Eigenanteil der Arbeitnehmer, sondern überlasse eine entsprechende Regelung einem besonderen Tarifvertrag.
14
Der Kläger hat beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für Juni 2017 iHv. 88,17 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. Juni 2017 zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für Juli 2017 iHv. 121,23 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. Juli 2017 zu zahlen;
3.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für August 2017 iHv. 121,23 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. August 2017 zu zahlen;
4.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für September 2017 iHv. 121,23 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. September 2017 zu zahlen;
5.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für Oktober 2017 iHv. 121,23 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. Oktober 2017 zu zahlen;
6.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für November 2017 iHv. 121,23 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. November 2017 zu zahlen;
7.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für Dezember 2017 iHv. 219,65 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. Dezember 2017 zu zahlen;
8.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für Januar 2018 iHv. 154,30 Euro netto nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 1. Januar 2018 zu zahlen.
15
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
16
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seine Anträge weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
17
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
18
I. Die Klage ist zulässig. Der Kläger macht Ansprüche auf Zahlung rückständiger Nettovergütung für die Zeit von Juni 2017 bis einschließlich Januar 2018 geltend. Eine Nettolohnklage ist prozessrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist insbesondere hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO (BAG 30. Mai 2006 – 3 AZR 273/05 – Rn. 14; 26. Februar 2003 – 5 AZR 223/02 – zu I der Gründe, BAGE 105, 181).
19
Mit seinen Zahlungsanträgen fordert der Kläger zugleich Zinsen in gesetzlicher Höhe. Dabei ist davon auszugehen, dass er solche iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz begehrt.
20
II. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung rückständiger Entgeltansprüche. Ein Anspruch könnte sich nur aus § 611a Abs. 2 BGB iVm. dem Arbeitsvertrag ergeben. Die Beklagte hat die Ansprüche des Klägers jedoch auch in Bezug auf die streitgegenständlichen Entgeltbestandteile mit Abführung der Arbeitnehmeranteile zur betrieblichen Altersversorgung an die VBL erfüllt. Der Kläger ist verpflichtet, einen Eigenbeitrag für seine betriebliche Altersversorgung bei der VBL zu leisten. Diese folgt – unabhängig von einer Tarifbindung des Klägers – aus § 2 seines Arbeitsvertrags iVm. § 3 ATV/IKK GdS 2016 bzw. 2002 bzw. § 3 ATV/IKK ver.di. Dies ergibt die Auslegung. Die tarifvertragliche Verweisung in § 3 Abs. 1 ATV/IKK auf die VBLS ist wirksam.
21
1. Nach § 611a Abs. 2 BGB schuldet und schuldete die Beklagte dem Kläger grundsätzlich die vereinbarte Vergütung iHv. 4.172,95 Euro brutto monatlich sowie den sich daraus ergebenden Nettobetrag.
22
2. Diesen Vergütungsanspruch des Klägers hat die Beklagte vollumfänglich erfüllt, § 362 Abs. 1 und Abs. 2 BGB. Sie war entgegen der Ansicht des Klägers berechtigt, die streitgegenständlichen Entgeltbestandteile einzubehalten und an die VBL zur Finanzierung der betrieblichen Altersversorgung des Klägers abzuführen. Das ergibt sich aus der Verweisungsklausel in § 2 des Arbeitsvertrags iVm. § 3 ATV/IKK GdS 2016 bzw. 2002 bzw. § 3 ATV/IKK ver.di.
23
a) Mit der Abführung des Arbeitnehmerbeitrags zur betrieblichen Altersversorgung an die VBL und damit durch Leistung an einen Dritten erfüllt der Arbeitgeber seine Zahlungspflicht gegenüber dem Arbeitnehmer iSd. § 362 Abs. 2 BGB, sofern er hierzu berechtigt war (vgl. BAG 9. Dezember 2003 – 9 AZR 671/02 – zu I der Gründe).
24
b) Die Beklagte war berechtigt, einen Eigenanteil des Klägers – jeweils in Höhe der streitgegenständlichen Beträge – zu seiner betrieblichen Altersversorgung von seinem monatlichen Nettoentgelt einzubehalten und an die VBL abzuführen. Diese Berechtigung folgt aus § 2 des Arbeitsvertrags des Klägers iVm. § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di, § 3 Abs. 1 ATV/IKK GdS 2002 bzw. 2016. Welcher dieser Tarifverträge zur Anwendung gelangt, kann dahinstehen. Dem steht auch nicht die Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) entgegen.
25
aa) § 2 des Arbeitsvertrags des Klägers nimmt den BAT/IKK sowie alle sonstigen Tarifverträge in der jeweils für die Beklagte geltenden Fassung in Bezug. Zu diesen Tarifverträgen, auf die für das Arbeitsverhältnis des Klägers verwiesen wird, gehören auch die Tarifverträge, die die betriebliche Altersversorgung regeln. Dies sind für den streitgegenständlichen Zeitraum der ATV/IKK ver.di sowie der ATV/IKK GdS 2016, der den ATV/IKK GdS 2002 teilweise abgeändert und zugleich bestätigend rechtswirksam in Kraft gesetzt hat, sowie der ATV IKK/GdS 2002. Welcher dieser Tarifverträge auch immer in der Dienststelle, in der der Kläger tätig ist, gilt, ist von ihm arbeitsvertraglich in Bezug genommen.
26
bb) Mit § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di, der ausdrücklich den Finanzierungsanteil des Arbeitgebers regelt, haben die Tarifvertragsparteien zugleich den Eigenanteil der Arbeitnehmer an der Finanzierung – auch im Abrechnungsverband Ost – festgelegt. Das ergibt die Auslegung.
27
(1) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., vgl. etwa BAG 25. April 2017 – 3 AZR 668/15 – Rn. 24; 10. Februar 2015 – 3 AZR 904/13 – Rn. 27 mwN).
28
(2) Gemäß § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di richtet sich die Finanzierung durch den Arbeitgeber nach den Vorgaben der VBLS. „Finanzieren“ bedeutet aufbringen, aufkommen, bestreiten, bezahlen, Kosten tragen bzw. übernehmen (https://www.duden.de/rechtschreibung/finanzieren#bedeutungen). Ausdrücklich ist damit nur geregelt, dass der Arbeitgeber einen Anteil zur betrieblichen Altersversorgung des Klägers gemäß den Bestimmungen der VBLS zu tragen hat.
29
Im Hinblick auf einen vom Arbeitnehmer zu finanzierenden Anteil ist dieser Wortlaut nicht eindeutig.
30
(3) In systematischer Hinsicht ergibt sich aber aus dem Verweis auf die VBLS, dass auch die Arbeitnehmer einen Anteil zu leisten haben. Die VBL ist geprägt von einem Umlagesystem bzw. einer gemeinsamen Finanzierung von Beiträgen zum Kapitaldeckungsverfahren. Die Beteiligten – die Arbeitgeber – haben nach § 64 Abs. 1 VBLS monatliche Umlagen iHd. Vorgaben von § 64 Abs. 2 VBLS zu tragen. Die Umlagesätze der Pflichtversicherten – und damit der Arbeitnehmer – sind in § 64 Abs. 3 VBLS geregelt. Die Beiträge zum Kapitaldeckungsverfahren ergeben sich jeweils aus § 66a VBLS. Wird in § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di auf die Finanzierung durch den Arbeitgeber gemäß der VBLS verwiesen, so wird damit auf das Umlagesystem und die vorgenannten Umlagesätze bzw. die Beiträge zur Kapitaldeckung Bezug genommen. Ist damit der Kostentragungsanteil des Arbeitgebers gemäß diesem System der VBLS bestimmt, so folgt daraus im Umkehrschluss, dass die Arbeitnehmer den restlichen Anteil – wie die Pflichtversicherten der VBL – zu leisten haben.
31
Soweit in § 63 Abs. 1 VBLS sowie in Ziff. 3 des satzungsergänzenden Beschlusses des Verwaltungsrats der VBL vom 20. Mai 2016 bestimmt ist, dass der Arbeitgeber Schuldner des gesamten Beitrags „einschließlich einer tarif- oder arbeitsvertraglich vereinbarten Eigenbeteiligung der Pflichtversicherten“ ist, folgt hieraus nichts anderes. Damit ist nur geregelt, wer Schuldner des Gesamtbeitrags ist, nämlich der Arbeitgeber. Sichergestellt werden soll, dass der Arbeitgeber den gesamten Beitrag an die VBL abzuführen hat. Diese Frage ist aber davon zu trennen, wer im Innenverhältnis die Finanzierung zu welchem Anteil zu tragen hat. Nach der Konzeption der VBLS ist diese zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt und zwar gemäß der Vorgaben in den vorgenannten Bestimmungen. Genau darauf nimmt § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di Bezug.
32
(4) Darüber hinaus ergibt sich aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang, dass es in § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di um den vom Arbeitgeber zu tragenden Anteil und nicht um eine Gesamtfinanzierung durch ihn geht. Eines bloßen Hinweises in § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di darauf, dass nach den Regelungen der VBLS der Arbeitgeber Schuldner der Beiträge ist, bedurfte es nicht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass es sich bei der VBL um eine Anstalt des öffentlichen Rechts handelt und allein der Arbeitgeber Beteiligter ist.
33
Vor allem sprechen § 3 Abs. 2 und Abs. 3 ATV/IKK ver.di dafür, dass § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di – als Gegenstück zum Arbeitgeberanteil – eine Arbeitnehmerbeteiligung, auch der Arbeitnehmer des Abrechnungsverbands Ost, regelt. In beiden Absätzen wird von einer Umlagebeteiligung der Arbeitnehmer ausgegangen. Insbesondere § 3 Abs. 3 ATV/IKK ver.di, nach der der Arbeitgeber die auf ihn entfallende Umlage bis zu einem bestimmten Betrag pauschal zu versteuern hat, stützt das Auslegungsergebnis. Hätte der Arbeitgeber ohnehin gemäß § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di die gesamte Finanzierung allein zu tragen, wäre die Einschränkung auf den auf ihn entfallenden Anteil nicht verständlich. § 3 Abs. 3 ATV/IKK ver.di setzt damit eine auf den Arbeitnehmer entfallende Umlage voraus. § 3 Abs. 3 ATV/IKK ver.di bezieht sich auch nicht allein auf Abs. 2 der Regelung. Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr einen gesonderten Abs. 3 innerhalb des § 3 ATV/IKK ver.di geschaffen, der sich systematisch auf die Finanzierung in § 3 ATV/IKK ver.di insgesamt bezieht.
34
Aber auch § 3 Abs. 2 ATV/IKK ver.di zeigt, dass die Tarifvertragsparteien in § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di grundsätzlich eine Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer nach Maßgabe der VBLS regeln wollten. Hier haben die Tarifvertragsparteien allein die Höhe des Umlageanteils der Arbeitnehmer des Abrechnungsverbands West geregelt. Es geht nicht um das „Ob“ der Umlagebeteiligung der Arbeitnehmer, sondern um das „Wie“. Dafür spricht, dass die Tarifvertragsparteien die Regelung des § 64 Abs. 3 Satz 1 VBLS modifiziert haben. Die Tarifvertragsparteien haben in § 3 Abs. 2 ATV/IKK ver.di die ab dem 1. Januar 2002 erfolgte Erhöhung des Eigenanteils gemäß § 64 Abs. 3 Satz 1 VBLS auf einen längeren Zeitraum „gestreckt“, indem sie für die Zeit ab dem 1. Januar 2002 einen Beitrag von 1,33 vH und erst ab dem 1. Januar 2003 den Beitrag von 1,41 vH vorgesehen haben. Das „Ob“ des Eigenbeitrags der Arbeitnehmer ist bereits in Abs. 1 normiert.
35
(5) Schließlich fügt sich das Auslegungsergebnis in die Regelung des § 46 Abs. 1 MTV ein, wonach die Beschäftigten der Innungskrankenkassen und ihrer Verbände Anspruch auf Versicherung unter eigener Beteiligung zum Zwecke einer zusätzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung nach Maßgabe eines besonderen Tarifvertrags haben.
36
cc) Da der ATV/IKK GdS 2002 wortidentisch mit dem ATV/IKK ver.di ist, hatten bzw. haben auch hiernach die Arbeitnehmer, auch des Abrechnungsverbands Ost, einen Eigenanteil gemäß der VBLS zu tragen.
37
dd) Nichts anderes ergibt sich für den ATV/IKK GdS 2016. In § 1 Ziff. 1 ATV/IKK GdS 2016 ist die Eigenbeteiligung – klarstellend – ausdrücklich geregelt. Der ATV/IKK GdS 2016 hat seinerseits die bisherigen Regelungen des ATV/IKK GdS 2002 übernommen, soweit er selbst keine abändernden Regelungen enthält, und diesen rückwirkend bestätigend in Kraft gesetzt unabhängig davon, wie sich tarifrechtlich sein Verhältnis zum ATV/IKK GdS 2002 darstellt.
38
(1) Der ATV/IKK GdS 2016 enthält die Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer ebenso – sogar ausdrücklich – wie der ATV/IKK GdS 2002. § 1 Ziff. 1 ATV/IKK GdS 2016 hat die Regelung in § 3 Abs. 1 ATV/IKK GdS 2002 im Wortlaut dahingehend geändert, dass sich die Finanzierung durch den Arbeitgeber und die Beschäftigten nach den Vorgaben der VBLS in der jeweils gültigen Fassung richtet. Damit stellt § 1 Ziff. 1 ATV/IKK GdS 2016 ausdrücklich klar, was § 3 Abs. 1 ATV/IKK GdS 2002 bereits regelte, nämlich die Eigenbeteiligung der Arbeitnehmer zu ihrer betrieblichen Altersversorgung bei der VBL. Zudem begrenzt sie durch Änderung von § 3 Abs. 2 ATV/IKK GdS 2002 gegenüber der VBLS die Abzüge für den Arbeitnehmeranteil.
39
(2) Da der ATV/IKK GdS 2016 zeitlich dem ATV/IKK GdS 2002 nachfolgt, aber nur zwei inhaltliche Änderungen vornimmt und im Übrigen auf den ATV/IKK GdS 2002 Bezug nimmt, haben die Tarifvertragsparteien die weiteren, unveränderten Normen des ATV/IKK GdS 2002 übernommen und diesen zugleich rechtswirksam bestätigend auch mit Wirkung für die Vergangenheit in Kraft gesetzt.
40
Der Wortlaut des Tarifvertrags ist allerdings nicht eindeutig. Ausdrücklich haben die Tarifvertragsparteien die Übernahme der weiteren Normen des ATV/IKK GdS 2002 nicht vereinbart. Allerdings sprechen sowohl bereits die Bezeichnung „Änderungstarifvertrag“ als auch die Überschrift „§ 1 Änderung des ATV/IKK“ und der Inhalt für eine solche Übernahme. Demnach sollte „der ATV/IKK für die Beschäftigten“ der den Tarifvertrag abschließenden Innungskrankenkassen abgeändert werden. Bereits dieser Wortlaut setzt die Geltung gerade dieses Tarifvertrages so, wie er zuvor abgeschlossen war, voraus.
41
Entscheidend sprechen aber auch Sinn und Zweck für ein solches Verständnis. Andernfalls liefen die vereinbarten Änderungen ins Leere. Dieses Auslegungsergebnis wird des Weiteren durch den bereits dargestellten Grundsatz gestützt, dass im Zweifel derjenigen Tarifauslegung der Vorzug gebührt, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., vgl. etwa BAG 25. April 2017 – 3 AZR 668/15 – Rn. 24 mwN). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifvertragsparteien einen vollständig sinnfreien Tarifvertrag haben abschließen wollen. Eine Änderung von Tarifnormen, die ohnehin nicht gelten sollten, liefe aber darauf hinaus.
42
ee) Damit ergibt sich, dass im Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der arbeitsvertraglichen Vereinbarung in § 2 des Arbeitsvertrags unabhängig von sich tarifrechtlich stellenden Fragen ein Tarifvertrag gilt, der die Beklagte grundsätzlich zum Abzug der Arbeitnehmeranteile der VBL Beiträge entsprechend deren Satzung berechtigt.
43
(1) Solche tarifrechtlichen Fragen ergeben sich hinsichtlich der vom IKK-Bundesverband abgeschlossenen Tarifverträge.
44
(a) Der IKK-Bundesverband war nach § 212 Abs. 1 SGB V (in der bis zum 31. Dezember 2008 gültigen Fassung vor seiner Aufhebung durch Gesetz vom 26. März 2007, BGBl. I S. 378 – im Folgenden aF) eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es handelte sich um einen zwangsweise – gesetzlich – errichteten öffentlich-rechtlichen Verband der IKK-Landesverbände. Ob öffentlich-rechtliche (Zwangs-)Verbände Tariffähigkeit besitzen, ist fraglich. Eine ausdrückliche gesetzliche Legitimationsgrundlage für den Abschluss von Tarifverträgen – wie in § 82 Nr. 3 HwO – lag nicht vor, auch nicht mit § 217 SGB V aF (vgl. zur Problematik der Tariffähigkeit BVerfG 13. Dezember 2006 – 1 BvR 2084/05 – Rn. 30 mwN; auch Wiedemann/Oetker TVG 8. Aufl. § 2 Rn. 305 f. mwN).
45
(b) Nach § 212 SGB V ist der Bundesverband in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts überführt worden, die nach dem Gesetz lediglich Aufgaben der Rechtsnachfolge auszuführen hat (§ 214 SGB V). Damit könnten sich Fragen eines Wegfalls der Tariffähigkeit und von deren Folgen stellen (dazu zB BAG 23. Januar 2008 – 4 AZR 312/01 – Rn. 15 ff., BAGE 125, 314).
46
(c) Da aber die Beklagte, die den ATV/IKK GdS 2016 für ihr Unternehmen im Rahmen eines mehrgliedrigen Tarifvertrags abschließen konnte (zum Begriff des mehrgliedrigen Tarifvertrags vgl. BAG 8. November 2006 – 4 AZR 590/05 – Rn. 22 f., BAGE 120, 84), durch Abschluss des ATV/IKK GdS 2016 den ATV/IKK GdS 2002 – rückwirkend – wirksam bestätigend in Kraft gesetzt hat, können diese Fragen dahinstehen.
47
(2) Dahinstehen kann auch die Frage, ob der ATV/IKK GdS 2016 den ATV/IKK GdS 2002 abändern konnte. Denn jedenfalls ist der ältere Tarifvertrag durch den neuen rückwirkend bestätigend in Bezug genommen und damit auf diesem Wege als Tarifvertrag im Betrieb zunächst gültig.
48
(3) Ob § 4a TVG auf Dienststellen öffentlich-rechtlicher Körperschaften anwendbar ist, ob einer der vorgenannten Tarifverträge nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt oder wegen der Regelung in § 13 Abs. 3 TVG nicht verdrängt wird, muss aufgrund der weitgehend inhaltsgleichen Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung des Klägers ebenso nicht entschieden werden. Jedenfalls bleibt einer der Tarifverträge, die jeweils die grundsätzliche Verpflichtung des Klägers zur Leistung eines Eigenanteils und eine entsprechende Berechtigung der Beklagten zum Abzug und zur Abführung dieses Anteils an die VBL beinhaltet, auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anwendbar.
49
ff) Die Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB steht nicht entgegen, da sich der Kläger nicht auf eine Unwirksamkeit der Bezugnahmeklausel in § 2 des Arbeitsvertrags beruft.
50
(1) Nach § 2 des Arbeitsvertrags richtet sich das Arbeitsverhältnis nach den Vorschriften des BAT/IKK und den sonstigen Tarifverträgen in der jeweils für den Bereich der Beklagten geltenden Fassung.
51
(2) § 2 des Arbeitsvertrags ist eine Allgemeine Geschäftsbedingung (§ 305 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Klausel ist von der Beklagten für eine Vielzahl von Arbeitsverträgen vorformuliert und den Arbeitnehmern einseitig gestellt worden. Anhaltspunkte dafür, die Klausel sei zwischen den Parteien „ausgehandelt“ iSv. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB, liegen nicht vor.
52
(3) Verweist eine Regelung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf Vorschriften eines anderen Regelwerks, führt dies für sich genommen nicht zur Intransparenz. Insbesondere arbeitsvertragliche Bezugnahmen auf tarifliche Regelwerke, auch wenn sie dynamisch ausgestaltet sind, entsprechen einer im Arbeitsrecht gebräuchlichen Regelungstechnik und dienen den Interessen beider Parteien eines auf die Zukunft gerichteten Arbeitsverhältnisses. Dass bei Vertragsschluss noch nicht absehbar ist, welchen zukünftigen Inhalt die in Bezug genommenen Tarifregelungen haben werden, ist unerheblich. Die im Zeitpunkt der jeweiligen Anwendung geltenden, in Bezug genommenen Regelungen sind bestimmbar. Das ist ausreichend. Doch bedarf eine Bezugnahmeklausel wie die streitgegenständliche, mit der mehrere eigenständige Tarifverträge zum gleichen Regelungsgegenstand – hier die betriebliche Altersversorgung – gleichzeitig auf das Arbeitsverhältnis zur Anwendung gebracht werden sollen, zur Gewährleistung ihrer hinreichenden Bestimmtheit grundsätzlich einer Kollisionsregel, der sich entnehmen lässt, welcher der mehreren in Bezug genommenen Tarifverträge den Vorrang haben soll. Andernfalls lässt sich nicht für jeden Zeitpunkt bestimmen, welches der in Bezug genommenen tariflichen Regelwerke sich jeweils durchsetzen und gelten soll. Das gilt für den Fall, dass sich widersprechende Regelungen vorliegen, denn dann besteht die Gefahr, dass der Arbeitnehmer wegen dieser Unklarheit seine Rechte nicht wahrnimmt. Gerade dies will das Bestimmtheitsgebot verhindern (vgl. BAG 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 30 mwN, BAGE 144, 306).
53
(4) Es kann dahinstehen, ob dies im vorliegenden Fall zur Unwirksamkeit der Verweisungsklausel oder zur Entwicklung einer Kollisionsregel zu führen hätte. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Kläger auf die Unwirksamkeit der Bezugnahmeklausel berufen möchte. Das hätte zur Folge, dass es an einer Rechtsgrundlage für seine Ansprüche auf eine betriebliche Altersversorgung fehlen würde. Ein solcher Wille des Klägers ist nicht anzunehmen. Dem Kläger als Vertragspartner des Verwenders kann aber keine Unwirksamkeit einer Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufgedrängt werden, die letztlich zu seinen Lasten ginge. Denn es entspricht dem Zweck der Inhaltskontrolle, dass diese nur zugunsten des Arbeitnehmers, nicht aber zugunsten des Arbeitgebers als Verwender der Klausel durchgeführt wird (st. Rspr., vgl. nur BAG 28. Juni 2006 – 10 AZR 407/05 – Rn. 15).
54
3. Die in § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di bzw. § 3 Abs. 1 ATV/IKK GdS 2016 bzw. 2002 enthaltene Verweisung auf die VBLS ist wirksam und von der Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien umfasst.
55
a) Grundsätzlich zulässig ist die dynamische Verweisung auf eine andere Tarifnorm. Zwar können die Tarifvertragsparteien die ihnen zugewiesene Rechtssetzungsbefugnis nicht auf Dritte übertragen. Die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG übertragene Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder sinnvoll zu ordnen, umfasst jedoch auch die Befugnis, auf jeweils geltende andere tarifliche Vorschriften zu verweisen, sofern deren Geltungsbereich mit dem Geltungsbereich der verweisenden Tarifnorm in einem engen sachlichen Zusammenhang steht. Durch das Erfordernis des engen sachlichen Zusammenhangs der Geltungsbereiche der Tarifverträge wird sichergestellt, dass auch bei der Delegation der Rechtssetzungsbefugnis auf andere Tarifvertragsparteien dem Postulat der Sachgerechtigkeit der tariflichen Regelung im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs Rechnung getragen wird (vgl. BAG 18. März 2010 – 6 AZR 918/08 – Rn. 22 mwN).
56
Das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG ist gewahrt, wenn die in Bezug genommenen Regelungen anderweitig schriftlich abgefasst und in der Tarifvereinbarung so genau bezeichnet sind, dass Irrtümer über Art und Ausmaß der in Bezug genommenen Regelung ausgeschlossen sind (vgl. BAG 20. April 1994 – 4 AZR 354/93 – zu A II 2 c bb der Gründe, BAGE 76, 276).
57
b) Hiernach bestehen keine Bedenken gegen die Verweisung auf die Satzung einer von Bund und Ländern getragenen rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts, konkret auf die VBLS, auch wenn diese selbst kein Tarifvertrag ist (vgl. zur Rechtswirksamkeit der Verweisung auf die VBLS auch schon BAG 21. November 2006 – 3 AZR 309/05 – Rn. 24).
58
aa) Es ist ein enger Sachzusammenhang beider Geltungsbereiche, dh. von § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di bzw. GdS 2016 bzw. 2002 auf der einen und der VBLS auf der anderen Seite, gegeben. Die ATV/IKK ver.di bzw. GdS regeln die betriebliche Altersversorgung für die jeweiligen Arbeitnehmer. Die VBLS wiederum dient der Umsetzung der Tarifverträge zur betrieblichen Altersversorgung ihrer Träger, also von Bund und Ländern (vgl. BGH 14. November 2007 – IV ZR 74/06 – Rn. 31, BGHZ 174, 127). Damit bestimmt sie die betriebliche Altersversorgung im öffentlichen Dienst. Die Innungskrankenkassen sind rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts (§ 4 SGB V) und somit ebenfalls Teil des öffentlichen Dienstes.
59
bb) Das Tarifrecht der Träger der VBL und die VBLS sind eng miteinander verzahnt. Die VBLS beruht auf tariflichen Regelungen (vgl. BAG 21. März 2017 – 3 AZR 86/16 – Rn. 31). Mit dem Erlass von Satzungsbestimmungen handelt die VBL auch nicht etwa hoheitlich, da ihre Satzung Allgemeine Geschäftsbedingungen in der Form Allgemeiner Versicherungsbedingungen enthält, die allerdings nicht nach den AGB-rechtlichen Maßstäben des BGB überprüft werden, weil sie auf einer maßgebenden Grundentscheidung der Tarifvertragsparteien basieren (vgl. BGH 20. Juli 2011 – IV ZR 76/09 – Rn. 47 und 49, BGHZ 190, 314). Die Tarifvertragsparteien haben über weitreichende Vorschlagsrechte für die Besetzung des Verwaltungsrates der VBL Einflussmöglichkeiten auf den Satzungsinhalt (§§ 10 – 12 VBLS, vgl. BGH 14. November 2007 – IV ZR 74/06 – Rn. 31, BGHZ 174, 127). Auch werden Mitglieder des Vorstands auf Vorschlag der Gewerkschaften ernannt (§ 6 Abs. 1 Satz 2 VBLS). Dem Postulat der Sachgerechtigkeit der tariflichen Regelung im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs ist aufgrund der Verzahnung von Tarifrecht und VBLS hinreichend Rechnung getragen.
60
cc) Ferner müssen den Tarifvertragsparteien mit Blick auf ihre Tarifautonomie ausreichend Möglichkeiten offenstehen, solche Tarifnormen zu setzen, die aus ihrer Sicht den Interessen ihrer Mitglieder am besten dienen. Die dynamische Verweisung ist eine Normsetzungstechnik; ihre Nutzung ist eine Form der Ausübung der Tarifautonomie (vgl. BAG 10. Mai 2005 – 9 AZR 294/04 – zu B II 1 c aa der Gründe). Zudem entspricht die dynamische Verweisung auf die VBLS der Interessenlage der Tarifvertragsparteien. Von der Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien ist die Wahl des Durchführungswegs der betrieblichen Altersversorgung erfasst. Entscheiden sich die Tarifvertragsparteien für eine Durchführung der Versorgung über die VBL, dann ist es eine logische Konsequenz, das System der VBL einheitlich und dynamisch mitzutragen, indem auf die VBLS dynamisch verwiesen wird. Würde eine solche Verweisung als unzulässig angesehen, wäre den Tarifvertragsparteien der Durchführungsweg über die VBL versagt oder wesentlich erschwert. Das aber würde gegen ihre Tarifautonomie verstoßen.
61
dd) Schließlich ist das Bezugnahmeobjekt in § 3 Abs. 1 ATV/IKK ver.di bzw. ATV/IKK GdS 2016 bzw. 2002 auch hinreichend bestimmt. Hier wird auf die Satzung der VBL verwiesen. Unklarheiten bestehen nicht. Die dynamische Verweisung als solche macht die Verweisungsnorm nicht unbestimmt. Satzungsänderungen sind gemäß § 14 Abs. 2 VBLS zu veröffentlichen. Damit ist zugleich dem Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG genügt, da die in Bezug genommene tarifliche Regelung anderweitig schriftlich abgefasst und in der Tarifvereinbarung so genau bezeichnet ist, dass Irrtümer über Art und Ausmaß der in Bezug genommenen Regelung ausgeschlossen sind.
62
c) Aufgrund der dynamischen Verweisung auf die VBLS sind künftige Änderungen der VBLS ebenfalls in Bezug genommen worden. Es kommt somit nicht darauf an, dass zum Zeitpunkt des Tarifvertragsabschlusses am 13. Dezember 2002 etwa § 66a VBLS noch nicht existierte, sondern erst mit der 4. Satzungsänderung mit Wirkung zum 1. Januar 2004 eingefügt worden ist. Gleiches gilt für spätere Erhöhungen des Umlagesatzes bzw. der Beiträge zur Kapitaldeckung.
63
4. Soweit klägerseits – erstmals – in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angeführt wurde, es sei unklar, wie die Höhe der Abzüge zustande komme, ist er mit diesem Sachvortrag in der Revisionsinstanz ausgeschlossen. Zudem ist aufgrund dieses Vortrags nicht erkennbar, dass ihm ein Nachteil entstanden ist.
64
a) Das Landesarbeitsgericht hat im Tatbestand des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Beklagte ab dem 1. Januar 2003 von der monatlichen Vergütung des Klägers jeweils einen prozentualen Anteil entsprechend der jeweils geltenden VBLS als Arbeitnehmerbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung abgezogen habe, der in den Gehaltsabrechnungen als „ZV-Beitrag“ ausgewiesen sei. Darüber hinaus hat es in den Gründen ausgeführt, die Berechnung der Abzüge stehe nicht im Streit.
65
Im Nachgang hierzu ist weder ein Tatbestandsberichtigungsantrag gestellt noch ist in der Revisionsbegründung die Richtigkeit der Berechnung der Abzüge gerügt worden. Die Unrichtigkeit tatbestandlicher Feststellungen kann aber nur mit dem Tatbestandsberichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden (vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 4 AZR 327/11 – Rn. 32 mwN).
66
Darüber hinaus hat der Kläger mit diesem neuen Einwand den streitgegenständlichen Lebenssachverhalt erweitert. Zuvor haben beide Parteien nur darum gestritten, ob der Kläger einen Eigenbeitrag zur VBL schuldet bzw. die Beklagte die tatsächlich erfolgten Einbehalte vornehmen und an die VBL abführen durfte. Das Zustandekommen – die Berechnung und die Höhe – der Einbehalte stand nicht im Streit. Mit seinem nunmehr erfolgten Einwand zur Höhe der Einbehalte ist eine Änderung des Klagegrundes erfolgt und damit eine Änderung des Streitgegenstandes. Dies ist nach § 559 Abs. 1 ZPO unzulässig. Danach ist in der Revisionsinstanz eine Klageänderung grundsätzlich ausgeschlossen. Der Schluss der mündlichen Verhandlung in zweiter Instanz bildet nicht nur bezüglich des tatsächlichen Vorbringens, sondern auch bezüglich der Anträge der Parteien die Entscheidungsgrundlage für das Revisionsgericht (vgl. BAG 13. Dezember 2011 – 1 AZR 508/10 – Rn. 23 mwN). Hiervon hat das Bundesarbeitsgericht insbesondere aus prozessökonomischen Gründen Ausnahmen in Fällen des § 264 Nr. 2 ZPO zugelassen, sowie dann, wenn sich der geänderte Sachantrag auf einen in der Berufungsinstanz festgestellten oder von den Parteien übereinstimmend vorgetragenen Sachverhalt stützen kann, sich das rechtliche Prüfprogramm nicht wesentlich ändert und die Verfahrensrechte der anderen Partei durch eine Sachentscheidung nicht verkürzt werden (BAG 12. Januar 2011 – 7 ABR 15/09 – Rn. 19 mwN). Hier ist eine solche Ausnahme vom Grundsatz des § 559 Abs. 1 ZPO nicht geboten. Weder liegt ein Fall des § 264 Nr. 2 ZPO vor noch kann sich der Antrag insoweit auf einen vom Berufungsgericht verwerteten Tatsachenstoff stützen. Das Landesarbeitsgericht hat hierzu keine Feststellungen getroffen bzw. vielmehr – wie ausgeführt – ausdrücklich festgestellt, dass jeweils ein prozentualer Anteil entsprechend der jeweils geltenden VBLS als Arbeitnehmerbeitrag zur betrieblichen Altersversorgung abgezogen worden sei.
67
b) Im Übrigen ist nach dem Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ein Abzug in dem Umfang erfolgt, wie es der ATV/IKK GdS 2016 – abweichend von der VBLS und damit abweichend vom ATV/IKK ver.di – vorsieht. Sollte dies zutreffen, so ist das unschädlich. Der Abzug nach dem ATV/IKK GdS 2016 fällt der Höhe nach für den genannten Zeitraum des Jahres 2017 niedriger aus als die VBLS dies vorsieht. Der Kläger hat hiernach keinen Nachteil erlitten. Die Beklagte ist danach nach dem für den Kläger günstigsten der in Betracht kommenden Tarifverträge verfahren.
68
III. Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der erfolglosen Revision zu tragen.
Zwanziger
Spinner
Günther-Gräff
C. Reiter
M. Becker |
bag_30-18 | 07.06.2018 | 07.06.2018
30/18 - Schadensersatz - Arbeitnehmerhaftung - Ausschlussfrist - Fristbeginn - Fälligkeit
Der Beklagte war in dem Autohaus der Klägerin als Verkäufer beschäftigt. Im Arbeitsvertrag der Parteien war bestimmt, dass mit Ausnahme von Provisionsansprüchen alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit verfallen, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn sie nicht vorher gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind. Im Betrieb der Klägerin bestand die Anweisung, ein Neufahrzeug, das entweder nicht vollständig bezahlt war oder für das keine gesicherte Finanzierung vorlag, nicht an einen Käufer herauszugeben, es sei denn, dass eine Einwilligung der Geschäftsleitung vorlag.
Am Freitag, den 19. September 2014 erschien ein Kunde zur Abholung eines von ihm im Mai bestellten Neuwagens. Der Kunde leistete auf den Kaufpreis eine Anzahlung, drängte auf Überlassung des PKW für das kommende Wochenende und sagte zu, das Fahrzeug am Montag, den 22. September 2014 zurückzubringen, woraufhin der Beklagte dem Kunden das Fahrzeug überließ. Der Kunde brachte das Fahrzeug allerdings nicht wieder zurück. Auf eine von der Klägerin im September 2014 erstattete Strafanzeige hin wurden der Kunde Ende Oktober 2014 in Italien festgenommen und das Fahrzeug im November 2014 beschlagnahmt. Nach Aufhebung des Haftbefehls sowie der Beschlagnahme gaben die italienischen Behörden das Fahrzeug wieder an den Kunden heraus. Im Februar 2015 nahm die anwaltlich vertretene Klägerin Kontakt mit den Anwälten des Kunden auf und verhandelte – letztlich erfolglos – jedenfalls über die Zahlung des Restkaufpreises durch den Kunden. Ferner beauftragte sie eine Detektei mit dem Ziel der Wiederbeschaffung des Fahrzeugs. Diese teilte der Klägerin im April/Mai 2015 mit, dass der Kunde unter den von der Klägerin angegebenen Anschriften nicht auffindbar sei. Am 20. August 2015 reichte die Klägerin beim Landgericht Freiburg eine Klage gegen den Kunden ein, deren Zustellung scheiterte. Mit Schreiben vom 20. November 2015 forderte die Klägerin den Beklagten erfolglos auf, seine Verpflichtung zum Schadensersatz dem Grunde nach anzuerkennen und ein Schuldanerkenntnis zu unterschreiben. Im Dezember erhob sie gegen den Beklagten Klage, mit der sie diesen auf Zahlung von Schadensersatz iHv. 29.191,61 Euro in Anspruch nahm. In diesem Betrag waren auch die Anwalts- und Gerichtskosten für das Verfahren vor dem Landgericht Freiburg enthalten.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Senat hat es offengelassen, ob der Beklagte durch die Herausgabe des Fahrzeugs an den Kunden seine Vertragspflichten verletzt hat; etwaige Schadensersatzansprüche der Klägerin sind – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – aufgrund der vertraglichen Ausschlussklausel verfallen. Die Ausschlussfrist begann spätestens zu dem Zeitpunkt zu laufen, als sich die Klägerin entschlossen hatte, Klage gegen den Kunden zu erheben, mithin jedenfalls vor dem 20. August 2015, so dass das Schreiben der Klägerin vom 20. November 2015, sofern dieses überhaupt die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geltendmachung erfüllt, die Ausschlussfrist nicht gewahrt hat. Etwas anderes folgt im Hinblick auf den Fristbeginn weder aus § 254 Abs. 2 BGB noch aus § 241 Abs. 2 BGB. Danach war aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falls keine vorrangige gerichtliche Inanspruchnahme des Kunden durch die Klägerin geboten, da es dieser nicht ohne weiteres möglich war, den Kunden mit rechtlichem und vor allem wirtschaftlichem Erfolg in Anspruch zu nehmen. Als die Klägerin sich entschloss, Klage gegen den Kunden zu erheben, war erkennbar, dass eine solche Klage keine realistische Aussicht bot, von dem Kunden überhaupt irgendeine Leistung zu erlangen.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 7. Juni 2018 – 8 AZR 96/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Kammern Freiburg –
Urteil vom 16. Dezember 2016 – 9 Sa 51/16 – | Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Freiburg – vom 16. Dezember 2016 – 9 Sa 51/16 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte der Klägerin wegen der Herausgabe eines PKW an einen Kunden sowie des dadurch verursachten Verlustes dieses PKW zum Schadensersatz verpflichtet ist.
2
Der Beklagte war vom 1. Mai 2014 bis zum 29. Februar 2016 im Autohaus der Klägerin als PKW-Verkäufer tätig. Der Arbeitsvertrag der Parteien vom 3. April 2014 enthält ua. die folgende Regelung:
„17.
Verfallfristen
17.1
Alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, ausgenommen Provisionsansprüche, verfallen innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn sie nicht vorher gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind.
…“
3
Im Mai 2014 bestellte der Kunde B bei der Klägerin einen PKW Audi A 1 zum Kaufpreis von 29.422,91 Euro. Dabei gab er an, das Fahrzeug über die Audi Bank finanzieren zu wollen. Der Beklagte richtete sodann im Namen der Klägerin für Herrn B eine Darlehensanfrage an die Audi Bank. Diese teilte unter dem 8. Mai 2014 mit, dass sie dem Kunden das Fahrzeug gerne finanziere. In dem Schreiben der Audi Bank vom 8. Mai 2014 heißt es unter „Auflagen/Auszahlungsvoraussetzungen“ ferner:
„Für den Kunden ist nur eine Finanzierung möglich (Es liegen für diesen Kunden jedoch mehrere Kreditanfragen vor).“
4
Tatsächlich lag bei der Audi Bank ein weiterer Finanzierungsantrag des Kunden B für ein Fahrzeug der Marke VW Touareg vor. Da dieser Darlehensvertrag zustande kam, kam es nicht zum Abschluss eines Darlehnsvertrages zur Finanzierung des Audi A 1.
5
Im Betrieb der Klägerin bestand die Anweisung, ein Neufahrzeug, das entweder nicht vollständig bezahlt war oder für das keine gesicherte Finanzierung vorlag, nicht an einen Käufer herauszugeben, es sei denn, dass eine Einwilligung der Geschäftsleitung vorlag.
6
Am Freitag, den 19. September 2014 erschien der Kunde B im Autohaus der Klägerin, um den bestellten PKW Audi A 1 abzuholen. Er leistete eine Anzahlung iHv. 9.125,00 Euro und drängte auf eine sofortige Überlassung des Fahrzeugs für das bevorstehende Wochenende. Er vereinbarte mit dem Beklagten, das Fahrzeug am Montag, den 22. September 2014 zurückzubringen, woraufhin der Beklagte ihm den PKW Audi A 1 überließ.
7
Der Kunde B brachte das Fahrzeug allerdings nicht wieder zurück. Ebenso wenig entrichtete er den restlichen Kaufpreis. Auf Bitten der Klägerin suchte der Beklagte die vom Kunden B angegebene Geschäftsadresse in P auf, wo ihm die Eigentümerin des Objekts erklärte, sie habe einen im Souterrain gelegenen Raum an jemanden vermietet, der diesen wiederum an Herrn B untervermietet habe. Der Kunde B wurde dort nicht angetroffen.
8
Auf eine von der Klägerin im September 2014 erstattete Strafanzeige hin wurde der Kunde B am 30. Oktober 2014 in A (Italien) festgenommen. Das Fahrzeug PKW Audi A 1 wurde am 17. November 2014 in N (Italien) beschlagnahmt. Am 4. März 2015 hob das Landgericht Freiburg den Haftbefehl auf. Das Amtsgericht Freiburg hob in der Folgezeit auf Antrag der Staatsanwaltschaft Freiburg die Beschlagnahme des Fahrzeugs auf, woraufhin die italienischen Behörden dieses wieder an Herrn B herausgaben.
9
Seit Februar 2015 stand die Klägerin, anwaltlich vertreten, in Kontakt mit den Anwälten von Herrn B. Diese teilten unter dem 23. Februar 2015 mit, der Kunde B sei sich wegen der geleisteten Anzahlung und der Finanzierung des Fahrzeugs nicht bewusst gewesen, eine Unterschlagung zu begehen und wolle deswegen den Restbetrag begleichen. Die Verhandlungen hierüber verliefen letztlich erfolglos.
10
Im April 2015 beauftragte die Klägerin eine Detektei, um die Wiederbeschaffung des Fahrzeuges abzusichern. Diese berichtete mit Schreiben vom 21. April 2015, dass sich unter der als Wohnanschrift von Herrn B angegebenen Adresse „Via P N“ kein Wohnsitz befinde; dort stehe lediglich ein heruntergekommenes Gebäude, das vorher möglicherweise als Bar oder Restaurant genutzt worden sei. Mit Schreiben vom 30. April 2015 informierte die Detektei die Klägerin darüber, dass Herr B derzeit nicht auffindbar sei. Unter dem 5. Mai 2015 teilte sie schließlich mit, der Kunde B habe auch unter der von der Klägerin neu ermittelten und von dieser mitgeteilten Anschrift nicht erreicht werden können.
11
Im Mai 2015 beauftragte die Klägerin einen italienischen Rechtsanwalt damit, vor Ort Kontakt mit Herrn B bzw. mit dessen Anwälten aufzunehmen. Der Rechtsanwalt von Herrn B teilte am 1. Juli 2015 mit, dass zunächst das Strafverfahren in Freiburg eingestellt werden müsse, damit über eine einvernehmliche Lösung weiterverhandelt werden könne. Der italienische Rechtsanwalt der Klägerin erhielt von den italienischen Behörden die Auskunft, dass Herr B in A (unter der von ihm angegebenen Adresse) gemeldet sei. Anfang August 2015 entwarf die Klägerin eine Klage gegen den Kunden B, mit der sie diesen auf Herausgabe des Fahrzeugs Audi A 1 und auf Schadensersatz in Anspruch nahm. Am 12. August 2015 ließ sie die Klageschrift in die italienische Sprache übersetzen; am 20. August 2015 machte sie die Klage beim Landgericht Freiburg anhängig. Als Zustelladresse war dort Corso I, A angegeben.
12
Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 16. November 2015 die fristgerechte Kündigung seines Arbeitsverhältnisses erklärt hatte, forderte die Klägerin ihn mit Schreiben vom 20. November 2015 erfolglos auf, seine „Schadensersatzverpflichtung zunächst dem Grunde nach anzuerkennen und zu diesem Zweck das beigefügte Schuldanerkenntnis bis spätestens 4. Dezember 2015“ zurückzusenden.
13
Am 2. Dezember 2015 teilte das Landgericht Freiburg der Klägerin mit, dass die Klage dem Kunden B nicht habe zugestellt werden können, da dieser unter der angegebenen Adresse in A nicht wohne und nicht aufzufinden sei.
14
Mit der am 29. Dezember 2015 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat die Klägerin den Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz in Anspruch genommen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Beklagte habe dadurch, dass er das Fahrzeug Audi A 1 ohne vollständige Kaufpreiszahlung und ohne gesicherte Finanzierung an den Kunden B herausgegeben habe, schuldhaft seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Hierdurch sei ihr ein Schaden iHv. insgesamt 29.191,61 Euro entstanden. Dieser Betrag setze sich zusammen aus dem Restkaufpreis in Höhe von 20.297,91 Euro, Kraftstoffkosten iHv. 59,85 Euro, Detektivkosten iHv. 2.700,00 Euro, Kosten für die Beauftragung des italienischen Rechtsanwalts iHv. 2.394,00 Euro sowie Rechtsanwalts- und Gerichtskosten für das Verfahren vor dem Landgericht Freiburg iHv. 3.739,85 Euro. Der Anspruch sei nicht aufgrund der im Arbeitsvertrag vereinbarten Ausschlussfrist verfallen. Zwar habe der Beklagte seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis bereits am 19. September 2014 verletzt. Sie, die Klägerin, sei aber davon ausgegangen, dass der infolge der Herausgabe des Fahrzeugs an den Kunden B eingetretene Besitzverlust nur vorübergehend gewesen sei, weshalb sie umfangreiche Anstrengungen zur Wiederbeschaffung des Fahrzeugs unternommen habe. Aufgrund der Korrespondenz mit den Rechtsanwälten des Kunden B habe sie noch auf Zahlung des Kaufpreises hoffen dürfen. Nachdem die Ermittlungen ergeben hätten, dass der Kunde B in A gemeldet sei, habe für sie immer noch die Aussicht bestanden, das Fahrzeug aufgrund einer Klage zurückzuerhalten. Eine Vermögensminderung habe sie erst durch den dauerhaften Verlust des Fahrzeugs erlitten. Dies habe erst im Dezember 2015 festgestanden, nachdem die Zustellung der Klage an Herrn B gescheitert sei. Erst zu diesem Zeitpunkt sei ihr Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten fällig gewesen. Aus der Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB ergebe sich zudem, dass der Arbeitgeber zunächst prüfen müsse, ob er eventuelle Ansprüche gegen den Arbeitnehmer abwenden könne, bevor er diesen auf Schadensersatz in Anspruch nehme.
15
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie 29.191,61 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22. November 2015 zu zahlen.
16
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, sich nicht vertragswidrig verhalten zu haben. Nach dem Schreiben der Audi Bank vom 8. Mai 2014 sei die Finanzierung des Fahrzeugs gesichert gewesen. Daher habe er auch bei einer Rücksprache mit dem Geschäftsführer G der Klägerin, aufgrund derer dieser mit der Herausgabe des Fahrzeugs einverstanden gewesen sei, nichts anderes angeben müssen. Einem Schadensersatzanspruch der Klägerin stehe jedenfalls die Ausschlussklausel in Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags entgegen. Als der Kunde B das Fahrzeug am 22. September 2014 abredewidrig nicht zurückgebracht und sich herausgestellt habe, dass die von diesem angegebene Anschrift in P zweifelhaft gewesen sei, habe die Klägerin davon ausgehen müssen, dass sie den PKW wohl nicht zurückerhalten werde. Nachdem der italienische Anwalt des Kunden B im Februar 2015 ernsthaft darauf hingewiesen habe, Herr B habe nichts falsch gemacht, da er ja ermächtigt worden sei, das Fahrzeug mit nach Hause zu nehmen und zu Hause sei er in R, habe die Klägerin erkennen müssen, dass sie es mit einem unredlichen Geschäftspartner zu tun habe. Spätestens jedoch, als das Amtsgericht Freiburg die Beschlagnahme des Fahrzeugs aufgehoben habe und dieses im März 2015 wieder an Herrn B herausgegeben worden sei, sei der Klägerin klar gewesen, dass sie den PKW nie wiedersehen werde.
17
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
18
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten weder einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz iHv. 29.191,61 Euro aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB noch einen solchen aus § 823 Abs. 1 BGB. Dabei kann vorliegend offenbleiben, ob der Beklagte der Klägerin gegenüber wegen der Herausgabe des PKW Audi A 1 an den Kunden B überhaupt dem Grunde nach zum Schadensersatz verpflichtet ist. Ein etwaiger Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen den Beklagten war aufgrund der in Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags der Parteien vom 3. April 2014 getroffenen Verfallklausel am 20. November 2015, als die Klägerin sich erstmals an den Beklagten wandte und diesen schriftlich aufforderte, seine Verpflichtung zum Schadensersatz zunächst dem Grunde nach anzuerkennen und ein Schuldanerkenntnis zu unterschreiben, bereits verfallen.
19
I. Der von der Klägerin geltend gemachte Schadensersatzanspruch wird von der in Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags der Parteien getroffenen pauschalen Verfallklausel erfasst. Nach Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags der Parteien verfallen nämlich alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, ausgenommen Provisionsansprüche, innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, wenn sie nicht vorher gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind.
20
II. Es kann dahinstehen, ob es sich bei der in Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags der Parteien vereinbarten Verfallklausel um eine Allgemeine Geschäftsbedingung handelt, wovon das Landesarbeitsgericht bereits aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes der Klausel ausgegangen ist, und ob diese ggf. nach §§ 307 ff. BGB, insbesondere nach § 309 Nr. 7 BGB unwirksam wäre. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, könnte sich die Klägerin als Verwenderin auf eine Unwirksamkeit der Klausel nicht berufen. Die Inhaltskontrolle nach den Bestimmungen des AGB-Kontrollrechts schafft lediglich einen Ausgleich für die einseitige Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit durch den Klauselverwender, sie dient aber nicht dem Schutz des Klauselverwenders vor den von ihm selbst eingeführten Formularbestimmungen (BAG 18. Dezember 2008 – 8 AZR 105/08 – Rn. 42; 27. Oktober 2005 – 8 AZR 3/05 – Rn. 16; BGH 5. April 2006 – VIII ZR 152/05 – Rn. 19).
21
III. Die dreimonatige Verfallfrist nach Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags der Parteien war am 20. November 2015, als die Klägerin sich erstmals an den Beklagten wandte und diesen schriftlich aufforderte, seine Verpflichtung zum Schadensersatz zunächst dem Grunde nach anzuerkennen und ein Schuldanerkenntnis zu unterschreiben, bereits abgelaufen. Aus diesem Grund kann dahinstehen, ob es sich bei dem Schreiben der Klägerin vom 20. November 2015 überhaupt um eine ordnungsgemäße schriftliche Geltendmachung iSv. Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags handelt, was zweifelhaft ist, da es an einer hinreichenden Spezifizierung der Forderung der Höhe nach fehlt (vgl. zu diesem Erfordernis BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 45, BAGE 154, 118; 20. Juni 2002 – 8 AZR 488/01 – zu II 2 e aa der Gründe) oder ob die Klägerin ihre Ansprüche erst mit ihrer Klage gegen den Beklagten ordnungsgemäß iSd. Verfallklausel geltend gemacht hat.
22
1. Die in Ziff. 17.1 des Arbeitsvertrags der Parteien bestimmte Verfallfrist von drei Monaten nach Fälligkeit hat spätestens am 12. August 2015 zu laufen begonnen, als die Klägerin sich entschlossen hatte, gegen den Kunden B Klage zu erheben und die vorbereitete Klageschrift in die italienische Sprache übersetzen ließ. Zu diesem Zeitpunkt waren die Ansprüche der Klägerin fällig iSd. Verfallklausel. Der Begriff der Fälligkeit im Sinne einer Ausschluss- bzw. Verfallklausel ist unter Einbeziehung des Kenntnisstandes des Gläubigers und subjektiver Zurechnungsgesichtspunkte interessengerecht auszulegen. Das entspricht im Grundsatz der Wertung des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB. Ein Anspruch ist deshalb regelmäßig erst dann im Sinne der Ausschlussfrist fällig, wenn der Gläubiger ihn annähernd beziffern kann (BAG 1. März 2006 – 5 AZR 511/05 – Rn. 14, BAGE 117, 165; 27. Oktober 2005 – 8 AZR 3/05 – Rn. 19; 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – Rn. 28, BAGE 115, 19).
23
2. Danach waren etwaige Schadensersatzansprüche der Klägerin spätestens am 12. August 2015, als diese sich entschieden hatte, gegen den Kunden B Klage zu erheben und eine vorbereitete Klageschrift in die italienische Sprache übersetzen ließ, fällig. Zu diesem Zeitpunkt stand – wie das Landesarbeitsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen hat – aufgrund der Gesamtumstände für die Klägerin erkennbar fest, dass der Kunde B weder den PKW zurückgeben noch den restlichen Kaufpreis zahlen würde. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin auch in der Lage, die ihr durch die Herausgabe des Fahrzeugs Audi A 1 an den Kunden B und den dauerhaften Entzug dieses Fahrzeugs insgesamt entstandenen Schäden zumindest annähernd zu beziffern.
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a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, spätestens am 12. August 2015 habe für die Klägerin erkennbar festgestanden, dass der Kunde B weder den PKW Audi A 1 zurückgeben noch den restlichen Kaufpreis zahlen würde. Diese Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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Der Kunde B hatte das Fahrzeug Audi A 1 entgegen der mit der Klägerin getroffenen Vereinbarung nicht am Montag, den 22. September 2014 zurückgebracht und sich auch nicht bei der Klägerin gemeldet. Bereits mit ihrer noch im September 2014 gegen Herrn B erstatteten Strafanzeige hatte die Klägerin deutlich gemacht, dass sie kein Vertrauen in die Lauterkeit dieses Kunden hatte. Zudem hatten die von ihr initiierten Nachforschungen des Beklagten unter der vom Kunden B angegebenen Geschäftsadresse ergeben, dass es sich hierbei offensichtlich um eine Scheinadresse handelte. Nach Aufhebung der Beschlagnahme des Fahrzeugs durch das Amtsgericht Freiburg und nach Herausgabe des Fahrzeugs an den Kunden B durch die italienischen Behörden konnte die Klägerin auch nicht mehr hoffen, mit Hilfe der Strafverfolgungsbehörden wieder in den Besitz des Fahrzeugs zu gelangen. Darüber hinaus musste sich der Klägerin aufgrund der mit den italienischen Anwälten des Kunden B geführten Korrespondenz die Erkenntnis aufdrängen, dass die Anwälte des Kunden B lediglich eine „Hinhaltetaktik“ verfolgten und dass der Kunde B keinesfalls zur Zahlung des Restkaufpreises oder zur Herausgabe des Fahrzeugs Audi A 1 bereit war. Auch die Ermittlungsergebnisse der von der Klägerin beauftragten Detektei sprechen dafür, dass die Klägerin bereits zu diesem Zeitpunkt annehmen musste, weder den restlichen Kaufpreis noch das Fahrzeug vom Kunden B zu erlangen. Nachdem sich sowohl die vom Kunden B angegebene Adresse in P als auch die weitere Adresse in N (Italien) als Scheinadressen erwiesen hatten, konnte die Klägerin auch nicht davon ausgehen, den Kunden B unter der später ermittelten Meldeadresse in A erfolgreich auf Herausgabe des Fahrzeugs bzw. Zahlung des Restkaufpreises in Anspruch nehmen zu können.
26
b) Die Klägerin kann demgegenüber nicht mit Erfolg einwenden, erst aufgrund der gerichtlichen Mitteilung, wonach die Klage dem Kunden B unter der Anschrift in A nicht habe zugestellt werden können, habe der endgültige Verlust des Fahrzeugs und damit der Schadenseintritt und dessen Umfang festgestanden, weshalb sie erst zu diesem Zeitpunkt den Schaden habe vollständig beziffern können.
27
aa) Zwar durfte die Klägerin zumutbare Ermittlungen über den Sachverhalt anstellen, bevor sie den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch nahm (vgl. hierzu BAG 26. Mai 1981 – 3 AZR 269/78 – zu I 2 b der Gründe). Allerdings diente die Klage gegen den Kunden B nicht mehr der Aufklärung des Sachverhalts, sondern der Wiederbeschaffung des Fahrzeugs und der Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs.
28
bb) Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin war diese nach § 241 Abs. 2 BGB weder gehalten noch berechtigt, zunächst Klage gegen den Kunden B zu erheben, bevor sie den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch nahm.
29
(1) Gemäß § 241 Abs. 2 BGB kann jede Partei nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet sein. Der Arbeitgeber ist daher gehalten, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitnehmers so zu wahren, wie dies unter Berücksichtigung der Interessen und Belange beider Vertragsparteien nach Treu und Glauben verlangt werden kann. Die Schutz- und Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers gilt auch für die Vermögensinteressen der Arbeitnehmer (vgl. etwa BAG 26. April 2018 – 3 AZR 586/16 – Rn. 10 mwN). Dies kann grundsätzlich zu der Verpflichtung des Arbeitgebers führen, vorrangig den unmittelbar schädigenden Dritten in Anspruch zu nehmen, bevor er Ansprüche gegenüber dem mitverantwortlichen Arbeitnehmer geltend macht. Dies gilt allerdings nur dann, wenn es dem geschädigten Arbeitgeber bei klarer Rechtslage ohne weiteres möglich ist, den eigentlichen Schädiger mit rechtlichem und wirtschaftlichem Erfolg in Anspruch zu nehmen (so Palandt/Grüneberg 77. Aufl. § 421 BGB Rn. 12; vgl. zur vorrangigen Inanspruchnahme des Drittschädigers gegenüber der Inanspruchnahme des Arbeitgebers: BAG 16. März 1966 – 1 AZR 340/65 – zu VII der Gründe, BAGE 18, 190).
30
(2) Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Verfahren schon deshalb nicht erfüllt, weil gerade keine realistische Aussicht bestand, den Kunden B als eigentlichen Schädiger mit wirtschaftlichem Erfolg in Anspruch zu nehmen. Anfang August 2015, als die Klägerin sich entschlossen hatte, den Kunden B gerichtlich auf Herausgabe des Fahrzeugs und Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, war aufgrund der unter Rn. 25 ausgeführten Umstände klar, dass weder eine Herausgabe- noch eine Zahlungsklage letztlich erfolgversprechend waren, sondern nur zur Entstehung zusätzlicher Kosten und damit zu einer Erhöhung des Schadens führen würden. Selbst wenn es der Klägerin gelungen wäre, ein Urteil zu ihren Gunsten zu erstreiten, bestand jedenfalls keine realistische Aussicht, aus dem Urteil erfolgreich die Zwangsvollstreckung zu betreiben. Es stand – im Gegenteil – vielmehr zu befürchten, dass der Kunde B sich einer Zwangsvollstreckung aus dem Urteil entziehen würde.
31
cc) Aus vorgenannten Gründen war die Klägerin auch nicht nach dem Rechtsgedanken des § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB gehalten bzw. berechtigt, zunächst Klage gegen den Kunden B zu erheben, bevor sie den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch nahm.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Schuckmann
Volz |
bag_30-19 | 24.09.2019 | 24.09.2019
30/19 - Altersteilzeit im Blockmodell - Urlaub für die Freistellungsphase
Nach Beendigung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses im Blockmodell besteht kein Anspruch auf Abgeltung von Urlaub für die sog. Freistellungsphase.
Der Kläger war bei der Beklagten im Rahmen eines Vollzeitarbeitsverhältnisses beschäftigt. Ab dem 1. Dezember 2014 setzten die Parteien das Arbeitsverhältnis als Altersteilzeitarbeitsverhältnis mit der Hälfte der bisherigen Arbeitszeit fort. Nach dem vereinbarten Blockmodell war der Kläger bis zum 31. März 2016 im bisherigen Umfang zur Arbeitsleistung verpflichtet und anschließend bis zum 31. Juli 2017 von der Arbeitsleistung freigestellt. Während der Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses erhielt er sein auf der Grundlage der reduzierten Arbeitszeit berechnetes Gehalt zuzüglich der Aufstockungsbeträge. Dem Kläger stand nach dem Arbeitsvertrag jährlich an 30 Arbeitstagen Urlaub zu. Im Jahr 2016 gewährte ihm die Beklagte an acht Arbeitstagen Erholungsurlaub. Der Kläger hat den Standpunkt eingenommen, für die Freistellungsphase der Altersteilzeit habe er Anspruch auf insgesamt 52 Arbeitstage Urlaub gehabt, den die Beklagte abzugelten habe.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.
Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beläuft sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf sechs Tage in der Woche auf 24 Werktage. Ist die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers auf weniger oder mehr als sechs Arbeitstage in der Kalenderwoche verteilt, muss die Anzahl der Urlaubstage unter Berücksichtigung des für das Urlaubsjahr maßgeblichen Arbeitsrhythmus berechnet werden, um für alle Arbeitnehmer eine gleichwertige Urlaubsdauer zu gewährleisten (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage, vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 -). Einem Arbeitnehmer, der sich in der Freistellungsphase eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses befindet und im gesamten Kalenderjahr von der Arbeitspflicht entbunden ist, steht mangels Arbeitspflicht kein gesetzlicher Anspruch auf Erholungsurlaub zu. Die Freistellungsphase ist mit „null“ Arbeitstagen in Ansatz zu bringen. Vollzieht sich der Wechsel von der Arbeits- in die Freistellungsphase im Verlauf des Kalenderjahres, muss der Urlaubsanspruch nach Zeitabschnitten entsprechend der Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht berechnet werden.
Bei einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell sind Arbeitnehmer in der Freistellungsphase weder aufgrund gesetzlicher Bestimmungen noch nach Maßgabe des Unionsrechts Arbeitnehmern gleichzustellen, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet haben. Diese Grundsätze gelten auch für den vertraglichen Mehrurlaub, wenn die Arbeitsvertragsparteien für die Berechnung des Urlaubsanspruchs während der Altersteilzeit keine von § 3 Abs. 1 BUrlG abweichende Vereinbarung getroffen haben.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. September 2019 – 9 AZR 481/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 13. Juli 2018 – 6 Sa 272/18 – | Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 13. Juli 2018 – 6 Sa 272/18 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
1. Der gesetzliche Urlaubsanspruch für den Zeitraum der Altersteilzeit ist nach § 3 Abs. 1 BUrlG jahresbezogen nach der Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht zu berechnen.
2. Mit der Entscheidung, das Arbeitsverhältnis als Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell fortzuführen, treffen die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung über die Verteilung der Arbeitszeit für den Gesamtzeitraum der Altersteilzeit, die den Arbeitnehmer allein in der Arbeitsphase zur Arbeitsleistung verpflichtet und ihn in der Freistellungsphase von vornherein von der Arbeitspflicht entbindet.
3. Einem Arbeitnehmer, der sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befindet, steht mangels Arbeitspflicht kein gesetzlicher Anspruch auf Erholungsurlaub zu. Vollzieht sich der Wechsel von der Arbeits- zur Freistellungsphase im Verlauf des Kalenderjahres, ist der gesetzliche Urlaubsanspruch nach Zeitabschnitten entsprechend der vertraglich vorgesehenen Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht zu berechnen.
Tatbestand
1
Der Kläger verlangt von der Beklagten die Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2016 und 2017.
2
Der am 21. März 1954 geborene Kläger war bei der Beklagten in Vollzeit mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden beschäftigt. Mit einem schriftlichen Altersteilzeitarbeitsvertrag vom 20. November 2014 vereinbarten die Parteien, das Arbeitsverhältnis ab dem 1. Dezember 2014 befristet bis zum 31. Juli 2017 „auf Grundlage des Altersteilzeitgesetzes“ als Altersteilzeitarbeitsverhältnis fortzuführen.
3
Der Altersteilzeitarbeitsvertrag regelt ua.:
„§ 3
Arbeitszeit
Die wöchentliche Arbeitszeit des Beschäftigten beträgt ab Beginn der Altersteilzeit – unter Beachtung der Bestimmungen des § 6 Abs. 2 Altersteilzeitgesetz (AtG) – die Hälfte der bisherigen individuellen wöchentlichen Arbeitszeit, das sind 20 Stunden / Woche.
Die Arbeitszeit wird so verteilt, dass sie im ersten Abschnitt des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses vom 01.12.2014 bis 31.03.2016 voll geleistet wird (Arbeitsphase) und der Beschäftigte anschließend ab dem 01.04.2016 bis zum Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses von der Arbeitsleistung freigestellt wird (Freistellungsphase).
…
§ 5
Vergütung
Der Beschäftigte erhält für die Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses ein Altersteilzeitentgelt. Es bemisst sich nach der reduzierten Arbeitszeit und wird unabhängig von der Verteilung der Arbeitszeit für die Gesamtdauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses fortlaufend gezahlt. Das Altersteilzeitentgelt nimmt während der Altersteilzeit an der allgemeinen Entwicklung teil.
…
§ 6
Aufstockungsbetrag und Beiträge zur
Rentenversicherung
Der Beschäftigte erhält einen Aufstockungsbetrag nach Maßgabe von § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) ATG auf das Altersteilzeitentgelt. Dieser ist so zu bemessen, dass das monatliche Nettoentgelt mindestens 82 Prozent des um die gesetzlichen Abzüge, die bei den Beschäftigten gewöhnlich anfallen, verminderten monatlichen bisherigen Arbeitsentgelts beträgt. Die Tantieme wird nicht aufgestockt.
Darüber hinaus entrichtet die T AG für den Beschäftigten zusätzliche Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung mindestens in Höhe des Beitrages, der auf 90 % des Regelarbeitsentgelts für die Altersteilzeit, begrenzt auf den Unterschiedsbetrag zwischen 95 % der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze und dem Regelarbeitsentgelt, entfällt.
…
§ 8
Urlaubsanspruch
Der anteilige Urlaubsanspruch des Beschäftigten richtet sich nach der jeweils geltenden Regelung von zurzeit 30 Arbeitstagen. Danach wird für das Jahr des Wechsels zwischen Arbeits- und Freistellungsphase in der Arbeitsphase der Urlaubsanspruch entsprechend der Dauer dieser Arbeitsphase gewährt. Vor Eintritt in die Freistellungsphase sind die bis dahin erworbenen Urlaubsansprüche abzuwickeln. Mit der Freistellung gelten alle Urlaubsansprüche sowie sonstige Freistellungsansprüche als erfüllt.
Lage und Verteilung des Urlaubs sind während der Arbeitsphase mit dem Vorgesetzten abzusprechen.
…
§ 11
Ende des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses
Die Altersteilzeit und das Arbeitsverhältnis enden, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit dem Ablauf des 31.07.2017.“
4
Nach dem vereinbarten Blockmodell erbrachte der Kläger bis zum 31. März 2016 die Arbeitsleistung im bisherigen Umfang. Anschließend war er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. Juli 2017 freigestellt. Während der gesamten Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses erhielt der Kläger eine monatliche Vergütung iHv. 7.035,60 Euro brutto, bestehend aus dem auf der Grundlage einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden berechneten Gehalt iHv. 5.330,00 Euro brutto und Aufstockungsbeträgen iHv. insgesamt 1.705,60 Euro brutto. Zudem leistete die Beklagte zusätzliche Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung. Im Jahr 2016 gewährte sie dem Kläger bis zum 31. März 2016 an acht Arbeitstagen Erholungsurlaub.
5
Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger von der Beklagten die Abgeltung von 52 Urlaubstagen. Er hat die Auffassung vertreten, er habe jeweils zu Beginn der Kalenderjahre 2016 und 2017 einen Anspruch auf 30 Arbeitstage Urlaub erworben. § 4 BUrlG verlange für das Entstehen des vollen Urlaubsanspruchs allein, dass ein Arbeitsverhältnis bestehe und die Wartezeit erfüllt sei. Die Erbringung der Arbeitsleistung sei nicht erforderlich, so dass Urlaubsansprüche auch für die Freistellungsphase der Altersteilzeit bestünden. Die Freistellungsphase könne nicht als „Teilzeit null“ bewertet werden. Der Arbeitnehmer sei grundsätzlich zur Arbeitsleistung verpflichtet, müsse jedoch nicht arbeiten, weil er mit der Arbeitsleistung in der Arbeitsphase in Vorleistung getreten sei und deshalb – vergleichbar mit der Gewährung von Freizeitausgleich für geleistete Überstunden – freigestellt werde. Für eine nachträgliche Kürzung des Urlaubsanspruchs fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. Die entgegenstehenden Regelungen in § 8 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 des Altersteilzeitarbeitsvertrags seien insgesamt unwirksam, weil der gesetzliche Urlaubsanspruch nach § 13 BUrlG unabdingbar sei und zwischen dem gesetzlichen und dem übergesetzlichen Urlaubsanspruch nicht differenziert werde. Die Beklagte habe ihm während der Arbeitsphase im Jahr 2016 pflichtwidrig nicht von sich aus weiteren Urlaub gewährt. Im Umfang der nicht gewährten 22 Arbeitstage Urlaub sei ein Schadensersatzanspruch auf Gewährung entsprechenden Ersatzurlaubs entstanden. Im Jahr 2017 sei die Gewährung von Urlaub wegen der vereinbarten Freistellung nicht möglich gewesen. Weil der Urlaub nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr genommen werden könne, sei die Beklagte verpflichtet, 22 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2016 mit 7.116,56 Euro brutto und 30 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2017 mit 9.704,40 Euro brutto abzugelten.
6
Der Kläger hat beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.116,56 Euro brutto zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. August 2017 zu zahlen,
2.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 9.704,40 Euro brutto zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. August 2017 zu zahlen.
7
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat den Standpunkt eingenommen, während der Freistellungsphase der Altersteilzeit seien keine Urlaubsansprüche entstanden. Urlaubsansprüche für das Kalenderjahr 2016 seien jedenfalls nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31. März 2017 verfallen, weil der Kläger den Urlaub nicht beantragt habe.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Klageforderungen weiter.
Entscheidungsgründe
9
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2016 und 2017 gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG. Ihm steht deshalb auch kein Zinsanspruch zu.
10
A. Der Senat kann ohne Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. hierzu BAG 15. April 2015 – 4 AZR 796/13 – Rn. 21 mwN, BAGE 151, 235) über die Abgeltung von primären Urlaubsansprüchen des Klägers aus dem Jahr 2016 entscheiden. Das mit dem Klageantrag zu 1. zur Entscheidung gestellte Klagebegehren umfasst die – vorrangig zu prüfende – Abgeltung des Primäranspruchs. Das ergibt die Auslegung der Klagebegründung (vgl. BAG 5. August 2014 – 9 AZR 77/13 – Rn. 12).
11
I. Der Gegenstand des Verfahrens bestimmt sich nach dem für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren geltenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff durch den gestellten Antrag (Klageantrag) und den ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund). Der Streitgegenstand erfasst alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet hat (BAG 20. Februar 2018 – 1 AZR 787/16 – Rn. 12). Dementsprechend ist bei gleichbleibendem Tatsachenvortrag allein in einem Wechsel der rechtlichen Begründung des Klagebegehrens keine Klageänderung iSv. § 263 ZPO zu sehen (vgl. MüKoZPO/Becker-Eberhard 5. Aufl. § 263 Rn. 18; Musielak/Voit/Foerste 16. Aufl. ZPO § 263 Rn. 3 jeweils mwN).
12
II. Der Kläger verlangt gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG die Abgeltung von Urlaubsansprüchen für das Jahr 2016 unabhängig davon, ob ihm bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch Urlaub als Primär- oder Sekundäranspruch zustand. Er hat den Klageantrag zu 1. durchgängig auf die von ihm vertretene Rechtsansicht gestützt, die Beklagte habe es im Jahr 2016 pflichtwidrig unterlassen, ihm weiteren Urlaub zu gewähren. Soweit der Kläger die Auffassung vertreten hat, der Urlaubsanspruch sei – als Primäranspruch – erloschen und an seine Stelle sei – als Sekundäranspruch – ein Schadensersatzanspruch getreten, der die Gewährung von Ersatzurlaub zum Inhalt gehabt habe, handelt es sich um eine Bewertung der Rechtsfolgen des Unterlassens der Beklagten. Auch wenn der Kläger in der Berufungsverhandlung am 13. Juli 2018 erklärt hat, er mache mit dem Antrag zu 1. allein einen Schadensersatzanspruch für verfallenen Urlaub aus dem Jahr 2016 geltend, kann dies nicht als eine Beschränkung des Klagebegehrens dahin gehend verstanden werden, die Abgeltung werde, selbst wenn sich aus dem zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalt ergeben sollte, dass der Primäranspruch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht untergegangen ist, nur verlangt, wenn ein Ersatzurlaubsanspruch bestanden habe. Es ist vielmehr anzunehmen, dass der Kläger die Abgeltung von Urlaub im Rahmen des zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalts unter allen rechtlichen Gesichtspunkten und unabhängig davon verlangt, auf welcher Anspruchsgrundlage ein Urlaubsanspruch ggf. noch bestand.
13
B. Der Kläger hatte, wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, gegen die Beklagte zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine offenen Urlaubsansprüche aus den Jahren 2016 und 2017, zu deren Abgeltung die Beklagte nach § 7 Abs. 4 BUrlG verpflichtet gewesen wäre. Allerdings hält die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der geltend gemachte Anspruch bestehe, soweit der Kläger die Abgeltung von Urlaub aus dem Jahr 2016 verlange, nicht, weil der Urlaub mit Ablauf des Urlaubsjahres 2016 nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG verfallen sei, einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Vielmehr ist die Klage insgesamt unbegründet, weil dem Kläger für den Zeitraum, in dem er sich in der Freistellungsphase des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses befand, mangels Arbeitspflicht kein Anspruch auf Erholungsurlaub zustand und die Beklagte den allein für die Arbeitsphase im Jahr 2016 entstandenen Urlaubsanspruch erfüllte. Dies folgt für den gesetzlichen und vertraglichen Urlaubsanspruch des Klägers aus §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG.
14
I. Nach den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG setzt der gesetzliche Urlaubsanspruch – dem Grunde nach – allein das Bestehen des Arbeitsverhältnisses voraus. Er steht nicht unter der Bedingung, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat. Gemäß § 4 BUrlG entsteht nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses der volle Urlaubsanspruch jeweils am 1. Januar eines Kalenderjahres Der Umfang des gesetzlichen Urlaubsanspruchs ist nach § 3 Abs. 1 BUrlG zu berechnen (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 21 f.). Die nach dieser Bestimmung geltenden Berechnungsgrundsätze sind auch dann anzuwenden, wenn sich der Arbeitnehmer in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befindet.
15
1. § 3 Abs. 1 BUrlG bestimmt die Zahl der Urlaubstage ausgehend vom Erholungszweck des gesetzlichen Mindesturlaubs in Abhängigkeit von der Zahl der Tage mit Arbeitspflicht.
16
a) Die Vorschrift unterstellt eine an sechs Tagen der Kalenderwoche bestehende Arbeitspflicht und gewährleistet unter dieser Voraussetzung einen gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Werktagen im Kalenderjahr. Ist die Arbeitspflicht nicht, wie in § 3 Abs. 1 BUrlG vorausgesetzt, auf sechs Tage der Kalenderwoche, sondern auf weniger oder mehr Wochentage verteilt, vermindert oder erhöht sich der Urlaubsanspruch entsprechend. Um für alle Arbeitnehmer eine gleichwertige Urlaubsdauer zu gewährleisten, ist die Anzahl der Urlaubstage unter Berücksichtigung der für das Urlaubsjahr maßgeblichen, vertraglich vorgesehenen Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage zu ermitteln.Wechselt die Anzahl der Arbeitstage unterjährig, ist der gesetzliche Urlaubsanspruch für das betreffende Kalenderjahr unter Berücksichtigung der einzelnen Zeiträume der Beschäftigung und der auf sie entfallenden Wochentage mit Arbeitspflicht umzurechnen. Unter Umständen muss daher die Urlaubsdauer im Kalenderjahr mehrfach berechnet werden (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 27). Die Umrechnung erfolgt, indem die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage durch die Zahl der Arbeitstage im Jahr bei einer Sechstagewoche geteilt und mit der Zahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage im Jahr multipliziert werden (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage; vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 30 ff.).
17
b) Eine andere Berechnung kann durch gesetzliche Bestimmungen sowie durch nach § 13 BUrlG zulässige kollektivrechtliche oder vertragliche Vereinbarungen veranlasst sein. So ist in § 24 Satz 1 MuSchG für die Ausfallzeiten wegen eines Beschäftigungsverbots positivgesetzlich geregelt, dass diese Zeiten für die Berechnung des Anspruchs auf bezahlten Erholungsurlaub als Beschäftigungszeiten gelten. Mit § 17 BEEG hat der Gesetzgeber eine abschließende Sonderregelung für die mit der Elternzeit im Zusammenhang stehenden Urlaubsansprüche geschaffen, die – zugunsten des Arbeitnehmers – die Anpassung des Urlaubsanspruchs an die allgemeinen Berechnungsgrundsätze von einer durch den Arbeitgeber im noch bestehenden Arbeitsverhältnis auszusprechenden Kürzungserklärung abhängig macht (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 495/17 – Rn. 16, 32 ff.). Darüber hinaus gelten Besonderheiten für Urlaubsansprüche, die von Kürzungsregelungen wie in § 4 ArbPlSchG oder § 4 Abs. 4 PflegeZG erfasst werden (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 36 f.). § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG sowie § 6 Abs. 1 BUrlG tragen der besonderen Situation des Arbeitnehmers bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Verlauf des Urlaubsjahres Rechnung (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 495/17 Rn. 27 f.). Außerhalb des Anwendungsbereichs spezieller gesetzlicher Regelungen verbleibt es – vorbehaltlich nach § 13 BUrlG zulässiger kollektivrechtlicher oder vertraglicher Vereinbarungen – bei dem allgemeinen Berechnungsgrundsatz, dass der Urlaubsanspruch zeitabschnittsbezogen anhand der arbeitsvertraglich zu leistenden Arbeit zu berechnen ist. Dieses gesetzgeberische Grundverständnis hat in § 3 Abs. 1 BUrlG seinen Ausdruck gefunden und wird durch § 208 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB IX (früher § 125 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB IX bzw. zuvor § 47 Satz 1 SchwbG) bestätigt (vgl. hierzu im Einzelnen BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 26 mwN). Unter bestimmten Voraussetzungen kann es jedoch geboten sein, § 3 Abs. 1 BUrlG richtlinienkonform dahin gehend auszulegen, dass Arbeitnehmer, die während des Bezugszeitraums ihrer Arbeitspflicht nicht nachkommen können, Arbeitnehmern gleichzustellen sind, die während dieses Zeitraums tatsächlich arbeiten (vgl. BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17 – Rn. 30 ff.).
18
2. Die Umrechnung des nach § 3 Abs. 1 BUrlG in Werktagen bemessenen gesetzlichen Urlaubsanspruchs in Arbeitstage ist auch dann vorzunehmen, wenn die Arbeitsvertragsparteien Altersteilzeit vereinbart haben. Der Gesetzgeber hat weder im Altersteilzeitgesetz noch an anderer Stelle vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Regelungen zur Berechnung des gesetzlichen Mindesturlaubs im Altersteilzeitarbeitsverhältnis getroffen. Die Verteilung der Arbeitszeit und die Modalitäten der Entgeltzahlung bei der Altersteilzeit im Blockmodell gebieten keine von § 3 Abs. 1 BUrlG abweichende Berechnung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs. Die Anwendung der nach § 3 Abs. 1 BUrlG geltenden Berechnungsgrundsätze zur Ermittlung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs führt zu keiner iSv. Art. 3 Abs. 1 GG sachwidrigen Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die während der Altersteilzeit im Blockmodell beschäftigt sind, im Vergleich zu Arbeitnehmern, die in diesem Zeitraum kontinuierlich in Teilzeit zur Arbeitsleistung verpflichtet sind. Weder aufgrund gesetzlicher Bestimmungen noch nach Maßgabe des Unionsrechts sind Arbeitnehmer in der Freistellungsphase der Altersteilzeit Arbeitnehmern gleichzustellen, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet haben.
19
a) Die Verringerung der Arbeitszeit kann im Altersteilzeitarbeitsverhältnis nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 ATZG als kontinuierliche Teilzeitarbeit (Teilzeitmodell) vereinbart werden. Der Arbeitnehmer ist in diesem Fall während der gesamten Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses mit einer auf die Hälfte der bisherigen wöchentlichen Arbeitszeit verringerten Arbeitszeit und entsprechend der veränderten Arbeitszeit reduzierter Vergütung zuzüglich des Aufstockungsbetrags und der zusätzlichen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1a und b ATZG) durchgehend zur Arbeitsleistung verpflichtet (vgl. Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 83 Rn. 11). Er erwirbt daher für die gesamte Dauer des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses nach Maßgabe von §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG einen Anspruch auf gesetzlichen Erholungsurlaub.
20
b) Ebenso lässt das Altersteilzeitgesetz eine Altersteilzeitvereinbarung zu, die – wie die vorliegende – eine Verblockung der Arbeitszeit entsprechend den Vorgaben in § 2 Abs. 2 Satz 1 ATZG vorsieht. Kennzeichnend für das Blockmodell ist der Wechsel zwischen Arbeits- und Freistellungsphase.
21
aa) Nach dem Blockmodell bleibt der Arbeitnehmer in der ersten Hälfte der Altersteilzeit trotz vereinbarter Verringerung der bisherigen Arbeitszeit und reduzierter Vergütung in vollem Umfang zur Arbeitsleistung verpflichtet (Arbeitsphase), während er in der zweiten Hälfte der Altersteilzeit von der Arbeitsleistung freigestellt ist (Freistellungsphase).
22
bb) Im Blockmodell erhält der Arbeitnehmer während des gesamten Zeitraums der Altersteilzeit ein verstetigtes, auf der Grundlage der reduzierten Arbeitszeit berechnetes Entgelt, das sich aus dem Entgelt für die Teilzeittätigkeit und Aufstockungsleistungen sowie den vom Arbeitgeber zu entrichtenden zusätzlichen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung zusammensetzt.
23
(1) Das während der Freistellungsphase ausgezahlte Entgelt ist – mit Ausnahme der nicht im Austauschverhältnis stehenden Aufstockungsbeträge, die als Anreiz zur Begründung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses dienen (BAG 11. April 2006 – 9 AZR 369/05 – Rn. 52, BAGE 118, 1), und der zusätzlichen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung – Gegenleistung für die während der Arbeitsphase geleistete Arbeit (BAG 19. Januar 2016 – 9 AZR 564/14 – Rn. 26). Es ist für die Arbeitsphase geschuldet, auch wenn der Arbeitnehmer die Auszahlung nach den Vorgaben von § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ATZG abweichend von § 614 BGB erst in der Freistellungsphase verlangen kann (vgl. BAG 17. Dezember 2015 – 6 AZR 186/14 – Rn. 33, BAGE 154, 28; 19. Oktober 2004 – 9 AZR 647/03 – zu II 3 a der Gründe, BAGE 112, 214).
24
(2) Die anteilige spätere Auszahlung des Arbeitsentgelts ermöglicht dem Arbeitnehmer den Aufbau eines Wertguthabens (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 35; BT-Drs. 16/10289 S. 15; Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 2 Rn. 72) und damit eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung während des gesamten Zeitraums der Altersteilzeit im Blockmodell (MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 BGB Rn. 1289), denn diese setzt das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses iSd. § 7 Abs. 1a Satz 1 SGB IV voraus. Nach § 7 Abs. 1a Satz 1 SGB IV besteht eine Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne auch in Zeiten der Freistellung von der Arbeitsleistung von mehr als einem Monat, wenn während der Freistellung Arbeitsentgelt aus einem Wertguthaben nach § 7b SGB IV fällig ist und das monatlich fällige Arbeitsentgelt in der Zeit der Freistellung nicht unangemessen von dem Entgelt abweicht, das für die vorausgegangenen zwölf Kalendermonate bezogen wurde. In diesen Fällen der Freistellung von der Arbeit fingiert § 7 Abs. 1a SGB IV eine Beschäftigung, wenn Entgelt aus einem Wertguthaben gezahlt wird (vgl. BSG 12. Dezember 2017 – B 11 AL 28/16 R – Rn. 15 f.; 24. September 2008 – B 12 KR 27/07 R – Rn. 25, BSGE 101, 273).
25
c) Aufgrund der bei Altersteilzeit im Blockmodell allein in der Arbeitsphase bestehenden Arbeitspflicht steht dem Arbeitnehmer für die Freistellungsphase kein gesetzlicher Anspruch auf Erholungsurlaub zu (vgl. mit zum Teil unterschiedlichen Begründungsansätzen: ebenso AR/Klose 9. Aufl. § 2 ATZG Rn. 7; ErfK/Rolfs 19. Aufl. ATG § 8 Rn. 17; Heilmann/Koch NZA-RR 2018, 8, 10 ff.; MHdB ArbR/Schüren 4. Aufl. Bd. 1 § 51 Rn. 29; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 84 Rn. 10; Thüsing/Denzer/Beden DB 2019, 1445, 1447; aA Hamann RdA 2019, 137, 139, 141; Heither/Witkowski NZA 2018, 909 f.).
26
aa) Der gesetzliche Urlaubsanspruch für den Zeitraum der Altersteilzeit ist nach § 3 Abs. 1 BUrlG jahresbezogen zu ermitteln. Abzustellen ist grundsätzlich auf die für das gesamte Urlaubsjahr arbeitsvertraglich vorgesehene Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage. Mit der Entscheidung, das Arbeitsverhältnis als Altersteilzeitarbeitsverhältnis im Blockmodell fortzuführen, treffen die Arbeitsvertragsparteien eine Vereinbarung über die jährliche Verteilung der Arbeitszeit für den Gesamtzeitraum der Altersteilzeit. Diese verpflichtet den Arbeitnehmer allein in der Arbeitsphase zur Arbeitsleistung und entbindet ihn in der Freistellungsphase von vornherein von der Arbeitspflicht (vgl. BAG 5. Dezember 2002 – 2 AZR 571/01 – zu II 1 der Gründe, BAGE 104, 131). Eine spätere Freistellungserklärung ist – im Unterschied zur Gewährung von Freizeitausgleich für geleistete Überstunden – nicht erforderlich. Ausgehend von der im Altersteilzeitarbeitsvertrag vereinbarten Verteilung der Arbeitszeit ist die Freistellungsphase bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs nach den im Urlaubsrecht geltenden allgemeinen Berechnungsgrundsätzen (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage) mit „null“ Arbeitstagen in Ansatz zu bringen. Vollzieht sich der Wechsel von der Arbeits- zur Freistellungsphase im Verlauf des Kalenderjahres, muss der gesetzliche Urlaubsanspruch nach Zeitabschnitten berechnet werden (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 20). Die Arbeits- und die Freistellungsphase sind dabei gleichermaßen entsprechend der vertraglich vorgesehenen Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht zu berücksichtigen.
27
bb) Aus § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG folgt keine abweichende Berechnung. Die Vorschrift trägt der besonderen Situation des Arbeitnehmers bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Verlauf des Urlaubsjahres Rechnung und wird bei anschließender Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses durch § 6 Abs. 1 BUrlG ergänzt (vgl. hierzu BAG 19. März 2019 – 9 AZR 495/17 – Rn. 27 f.).
28
(1) Nach § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses, wenn er nach erfüllter Wartezeit in der ersten Hälfte eines Kalenderjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Daraus hat die Rechtsprechung im Umkehrschluss hergeleitet, dass eine Zwölftelung des gesetzlichen Mindesturlaubs nach §§ 1, 3 BUrlG bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der zweiten Jahreshälfte nach erfüllter Wartezeit unzulässig ist (BAG 9. August 2016 – 9 AZR 51/16 – Rn. 16 mwN).
29
(2) Der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG und des aus der Vorschrift hergeleiteten Umkehrschlusses setzen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraus (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 495/17 – Rn. 27 f.), so dass ein Rückgriff hierauf weder bei einem unterjährigen Wechsel von einer Vollzeit- zu einer Altersteilzeitbeschäftigung noch von der Arbeits- zur Freistellungsphase möglich ist. In beiden Fällen besteht das Altersteilzeitarbeitsverhältnis fort. Auch für das Kalenderjahr, in dem das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der Freistellungsphase der Altersteilzeit endet, folgt ein Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers für den Zeitraum der Freistellung nicht aus § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG. Die Vorschrift und der aus ihr abgeleitete Umkehrschluss finden nur Anwendung, wenn nach Maßgabe von §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG ein Urlaubsanspruch erworben wurde, denn nur ein entstandener Urlaubsanspruch kann der Zwölftelung unterliegen (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 495/17 – Rn. 10; 19. Mai 2011 – 9 AZR 197/10 – Rn. 24, BAGE 138, 58). Ein gesetzlicher Urlaubsanspruch besteht jedoch – außerhalb des Anwendungsbereichs spezieller gesetzlicher Regelungen – nur für Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer vertraglich zur Arbeitsleistung verpflichtet ist (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 36 f.). Von §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG abweichende gesetzliche Regelungen zur Berechnung des gesetzlichen Mindesturlaubs im Altersteilzeitarbeitsverhältnis hat der Gesetzgeber nicht getroffen.
30
cc) Die Anwendung der nach § 3 Abs. 1 BUrlG geltenden Berechnungsgrundsätze ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar (zum Prüfungsmaßstab vgl. BAG 28. August 2019 – 10 AZR 549/18 – Rn. 51 mwN). Dass im Teilzeitmodell beschäftigte Arbeitnehmer – anders als Arbeitnehmer im Blockmodell – für die Gesamtdauer der Altersteilzeit gesetzliche Urlaubsansprüche erwerben, führt zu keiner sachwidrigen Ungleichbehandlung. Die unterschiedliche Behandlung ist durch den Erholungszweck des gesetzlichen Mindesturlaubs gerechtfertigt. Das gesetzgeberische Ziel, es dem Arbeitnehmer durch Urlaubsgewährung zu ermöglichen, sich zu erholen (vgl. BT-Drs. IV/785 S. 1 f.), setzt voraus, dass der Arbeitnehmer verpflichtet war, eine Tätigkeit auszuüben (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 23 f. mwN). Im Teilzeitmodell sind Arbeitnehmer während der Gesamtdauer der Altersteilzeit zur Arbeitsleistung verpflichtet. Im Unterschied hierzu besteht im Blockmodell für Arbeitnehmer während der Freistellungsphase von vornherein keine Arbeitspflicht. Eine Freistellung durch Urlaubsgewährung, die eine Befreiung von einer sonst bestehenden Arbeitspflicht zu Erholungszwecken voraussetzt (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 17 mwN), ist damit in der Freistellungsphase weder möglich noch geboten. Zur Entstehung eines Urlaubsanspruchs für die Freistellungsphase kann auch nicht die in der Arbeitsphase bestehende Arbeitspflicht führen. Dieser Arbeitspflicht trägt die Berechnung des Urlaubsanspruchs nach § 3 Abs. 1 BUrlG Rechnung, indem der Arbeitnehmer für diesen Zeitraum einen gleichwertigen Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub erwirbt. Durch die im Blockmodell entsprechend den Vorgaben in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ATZG verstetigte Zahlung des Arbeitsentgelts während der Gesamtlaufzeit der Altersteilzeit wird sichergestellt, dass der Arbeitnehmer für den Urlaub in der Arbeitsphase ein Urlaubsentgelt erhält, das entsprechend § 1 BUrlG der Vergütung entspricht, die er im Falle geleisteter Arbeit erhalten hätte (vgl. hierzu EuGH 22. Mai 2014 – C-539/12 – [Lock] Rn. 16; 15. September 2011 – C-155/10 – [Williams ua.] Rn. 19; 16. März 2006 – C-131/04 und C-257/04 – [Robinson-Steele ua.] Rn. 50; BAG 18. September 2018 – 9 AZR 159/18 – Rn. 28; 20. September 2016 – 9 AZR 429/15 – Rn. 19). Die Zubilligung eines zusätzlichen Urlaubsanspruchs für die Freistellungsphase, der wegen Unmöglichkeit der Urlaubsgewährung stets abzugelten wäre, führte für im Blockmodell beschäftigte Arbeitnehmer zu einer faktischen Erhöhung ihrer Vergütung, für die weder eine gesetzliche Grundlage noch eine sachliche Rechtfertigung besteht.
31
dd) Die Berechnung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs nach § 3 Abs. 1 BUrlG bei Altersteilzeit im Blockmodell steht im Einklang mit Unionsrecht. Weder Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG noch § 4 Nr. 1 und Nr. 2 des Anhangs der Richtlinie 97/81/EG zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit in der durch die Richtlinie 98/23/EG geänderten Fassung (im Folgenden Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit) verlangen es im Fall einer vom Arbeitnehmer frei vereinbarten Fortführung des Arbeitsverhältnisses in Altersteilzeit im Blockmodell, die Freistellungsphase mit einem Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung gleichzustellen.
32
(1) Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat.
33
(a) Der Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) hat erkannt, dass der Zweck des in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG jedem Arbeitnehmer gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 26; vgl. EuGH 8. November 2012 – C-229/11 und C-230/11 – [Heimann] Rn. 32 ff.). Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG setzt voraus, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es zu dem in der Richtlinie 2003/88/EG vorgesehenen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit rechtfertigt, dass er über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit verfügt (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 27 f.).
34
(aa) Der unionsrechtlich gewährleistete Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist daher grundsätzlich anhand der Zeiträume der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeit zu berechnen (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 27; vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 28). Ein Arbeitnehmer kann Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG nur für die Zeiträume erwerben, in denen er tatsächlich gearbeitet hat, so dass für Zeiten, in denen er nicht gearbeitet hat, kein auf dieser Vorschrift beruhender Urlaubsanspruch entsteht (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 29).
35
(bb) Allerdings gebietet es das Unionsrecht unter bestimmten Voraussetzungen Arbeitnehmer, die in einem Zeitraum die Arbeitsleistung nicht erbringen können, mit Arbeitnehmern gleichzustellen, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben (vgl. hierzu ausf. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 37; 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17 – Rn. 30). Das ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch nicht der Fall, wenn Arbeitnehmer willentlich die Aufhebung ihrer Arbeitspflicht herbeigeführt haben (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 31 ff.).
36
(b) Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG schreibt danach nicht vor, dass die Freistellungsphase der Altersteilzeit trotz fehlender Arbeitspflicht des Arbeitnehmers bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs wie ein Zeitraum, in dem die Arbeitsleistung zu erbringen war, berücksichtigt werden muss. Eine Verpflichtung des Arbeitnehmers zum Abschluss eines Altersteilzeitarbeitsvertrags begründen das Altersteilzeitgesetz oder sonstige gesetzliche Bestimmungen nicht. Die Notwendigkeit eines Änderungsvertrags gewährleistet, dass der Arbeitnehmer frei über den Wechsel in Altersteilzeit entscheiden kann und zudem darüber, ob er ggf. ein Angebot des Arbeitgebers ablehnt, die Arbeitszeit während der Altersteilzeit nach dem Blockmodell zu verteilen (vgl. BAG 16. Dezember 2010 – 2 AZR 576/09 – Rn. 41 ff.; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 83 Rn. 3, 7).
37
(2) Die Berechnung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs in der Altersteilzeit nach § 3 Abs. 1 BUrlG verstößt nicht gegen das in § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit geregelte Verbot der Diskriminierung von Teilzeitkräften, das mit § 4 Abs. 1 TzBfG in nationales Recht umgesetzt wurde (vgl. BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 52, BAGE 165, 1).
38
(a) Nach § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit dürfen Teilzeitbeschäftigte in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt. Nach Nr. 2 der Bestimmung gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz. Der Gerichtshof hat erkannt, dass im Hinblick auf die Entstehung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub die Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer nach verschiedenen Arbeitsrhythmen arbeitete, voneinander zu unterscheiden sind und die Zahl der entstandenen Einheiten an jährlicher Ruhezeit im Vergleich zur Zahl der geleisteten Arbeitseinheiten für jeden Zeitraum getrennt zu berechnen ist. Er hat angenommen, dass diese Berechnung nicht durch die Anwendung des in § 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit geregelten Pro-rata-temporis-Grundsatzes in Frage gestellt wird (EuGH 11. November 2015 – C-219/14 – [Greenfield] Rn. 35 f.). Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass der Pro-rata-temporis-Grundsatz auf die Gewährung des Jahresurlaubs für eine Zeit der Teilzeitbeschäftigung anzuwenden ist und für diese Zeit die Minderung des Anspruchs auf Jahresurlaub gegenüber dem bei Vollzeitbeschäftigung bestehenden Anspruch aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist. Nach Feststellung des Gerichtshofs darf jedoch durch eine Veränderung, insbesondere Verringerung, der Arbeitszeit beim Übergang von einer Vollzeit- zu einer Teilzeitbeschäftigung der Anspruch auf Jahresurlaub, den der Arbeitnehmer in der Zeit der Vollzeitbeschäftigung erworben hat, nicht gemindert werden (EuGH 22. April 2010 – C-486/08 – [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 32 f.; 13. Juni 2013 – C-415/12 – [Brandes] Rn. 30 f.).
39
(b) Diesen Grundsätzen wird die Berechnung des Urlaubsanspruchs im Altersteilzeitarbeitsverhältnis nach § 3 Abs. 1 BUrlG in Abhängigkeit von der Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht im Urlaubsjahr gerecht.
40
(aa) Durch die Berechnung des Urlaubsanspruchs für den Zeitraum der Altersteilzeit nach Zeitabschnitten entsprechend der Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht wird bereits nicht zwischen voll- und teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern unterschieden. Ausgehend von dem § 3 Abs. 1 BUrlG zugrunde liegenden Tagesprinzip (ErfK/Gallner 19. Aufl. BUrlG § 3 Rn. 2) knüpft die Berechnung ausschließlich an die Anzahl der wöchentlichen Arbeitstage an und nicht an die Zahl der wöchentlich zu leistenden Arbeitsstunden (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 33).
41
(bb) Auch führt die Berechnung des Urlaubsanspruchs nach den allgemeinen – auch außerhalb der Altersteilzeit geltenden – Grundsätzen nicht zur Kürzung des Urlaubsanspruchs, den der in Altersteilzeit im Blockmodell beschäftigte Arbeitnehmer bereits erworben hatte. Wechselt der Arbeitnehmer unterjährig von einer Vollzeit- zu einer Altersteilzeitbeschäftigung oder von der Arbeits- zur Freistellungsphase, hat dies nicht den Verlust des Urlaubsanspruchs zur Folge, den er in den Zeiten erworben hat, in denen er in Vollzeit zur Arbeitsleistung verpflichtet war. Bei einer Berechnung des Urlaubsanspruchs nach § 3 Abs. 1 BUrlG bleiben diese Urlaubsansprüche erhalten, denn die einzelnen Zeiträume der Beschäftigung im betreffenden Kalenderjahr sind entsprechend der Anzahl der auf sie entfallenden Wochentage mit Arbeitspflicht zu berücksichtigen (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 27). Der erworbene Urlaubsanspruch unterliegt allein der Befristung nach § 7 Abs. 3 BUrlG, sofern der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG nachgekommen ist, indem er den Arbeitnehmer in die Lage versetzte, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen (vgl. hierzu im Einzelnen BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 37 ff.).
42
II. Diese Berechnungsgrundsätze gelten auch für den vertraglichen Mehrurlaub, wenn die Arbeitsvertragsparteien für die Berechnung des Urlaubsanspruchs während der Altersteilzeit keine von § 3 Abs. 1 BUrlG abweichende Vereinbarung getroffen haben. Während der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub arbeitsvertraglichen Dispositionen entzogen ist, die sich zuungunsten des Arbeitnehmers auswirken (§ 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG), können die Arbeitsvertragsparteien Urlaubsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln (vgl. BAG 16. Dezember 2014 – 9 AZR 295/13 – Rn. 15, BAGE 150, 207). Für einen Regelungswillen der Arbeitsvertragsparteien, dem zufolge der vertragliche Mehrurlaub abweichend von den für den gesetzlichen Mindesturlaub geltenden gesetzlichen Vorgaben berechnet werden soll, müssen allerdings deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem diesbezüglichen Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf den vertraglichen Mehrurlaub auszugehen (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 52; 14. Februar 2017 – 9 AZR 386/16 – Rn. 15).
43
III. Ausgehend von diesen Grundsätzen standen dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine offenen Urlaubsansprüche aus den Jahren 2016 und 2017 zu, zu deren Abgeltung die Beklagte nach § 7 Abs. 4 BUrlG verpflichtet wäre.
44
1. Der Urlaubsanspruch des Klägers für die Jahre 2016 und 2017 war nach § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags iVm. §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG zu bestimmen.
45
a) Bei den Regelungen in § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags handelt es sich, wie bei den Bestimmungen des Altersteilzeitarbeitsvertrags im Übrigen, um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Vertrag weist außer den persönlichen Daten des Klägers keine individuellen Besonderheiten auf. Dies – wie auch das äußere Erscheinungsbild – begründet eine tatsächliche Vermutung dafür, dass es sich bei den Bestimmungen des Altersteilzeitarbeitsvertrags um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt (vgl. BAG 18. September 2018 – 9 AZR 162/18 – Rn. 30 mwN, BAGE 163, 282). Hiervon gehen zudem auch beide Parteien aus.
46
b) Wie der Urlaubsanspruch für die Freistellungsphase zu berechnen ist, regelt § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags nicht ausdrücklich. Anhaltspunkte für einen von den Berechnungsregelungen des Bundesurlaubsgesetzes abweichenden Regelungswillen der Parteien sind im Altersteilzeitarbeitsvertrag nicht ersichtlich. Deshalb ist von einem Gleichlauf mit den gesetzlichen Berechnungsbestimmungen auszugehen. Dies wird zudem durch § 8 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 des Altersteilzeitarbeitsvertrags bestätigt.
47
aa) § 8 Abs. 1 Satz 1 des Altersteilzeitarbeitsvertrags stellt hinsichtlich des Umfangs des dem Kläger zustehenden Urlaubsanspruchs auf „Arbeitstage“ ab, dh. wie § 3 Abs. 1 BUrlG auf Tage mit Arbeitspflicht. Bedient sich der Arbeitgeber in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Rechtsbegriffs, der im juristischen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, ist der Begriff in seiner allgemeinen juristischen Bedeutung auszulegen, sofern sich nicht aus dem Sinnzusammenhang der Klausel etwas anderes ergibt (BAG 26. Oktober 2016 – 5 AZR 168/16 – Rn. 23, BAGE 157, 116). Für ein vom juristischen Sprachgebrauch abweichendes Verständnis bietet weder § 8 Abs. 1 Satz 1 des Altersteilzeitarbeitsvertrags noch der Sinnzusammenhang der Klausel Anhaltspunkte.
48
bb) § 8 Abs. 1 Satz 2 des Altersteilzeitarbeitsvertrags bestimmt in Übereinstimmung mit § 3 Abs. 1 BUrlG, dass für das Jahr des Wechsels von der Arbeits- zur Freistellungsphase der Urlaub entsprechend der Dauer der Arbeitsphase gewährt wird. Ein durchschnittlicher nicht rechtskundiger Arbeitnehmer, auf dessen Verständnismöglichkeiten bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen abzustellen ist (vgl. BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 116/17 – Rn. 15; 28. September 2017 – 8 AZR 67/15 – Rn. 58), musste § 8 Abs. 1 Satz 2 des Altersteilzeitarbeitsvertrags entnehmen, dass ein Urlaubsanspruch für die Freistellungsphase nicht besteht.
49
c) § 8 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 des Altersteilzeitarbeitsvertrags, dem zufolge vor Eintritt in die Freistellungsphase die bis dahin erworbenen Urlaubsansprüche abzuwickeln und die Lage und Verteilung des Urlaubs während der Arbeitsphase mit dem Vorgesetzten abzusprechen sind, betreffen die Gewährung von Urlaub und setzen das Bestehen eines Urlaubsanspruchs voraus.
50
d) Soweit § 8 Abs. 1 Satz 4 des Altersteilzeitarbeitsvertrags bestimmt, dass mit der Freistellung alle Urlaubsansprüche als erfüllt gelten, betrifft dies die Erfüllung bestehender Urlaubsansprüche. Entgegen der Ansicht des Klägers führt es nicht zur Gesamtunwirksamkeit von § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags, dass die Erfüllung bestehender Urlaubsansprüche in der Freistellungsphase der Altersteilzeit mangels Arbeitspflicht unmöglich ist, weil der Urlaubsanspruch auf eine bezahlte Befreiung von der Arbeitspflicht gerichtet ist (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 17 mwN). § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags ist teilbar und deshalb keiner einheitlichen Wirksamkeitskontrolle nach §§ 305 ff. BGB zu unterziehen.
51
aa) Bei einer teilbaren Klausel ist diese Kontrolle anhand von §§ 305 ff. BGB jeweils getrennt für die verschiedenen, nur formal in einer Allgemeinen Geschäftsbedingung verbundenen Bestimmungen vorzunehmen. Die Regelungen müssen allerdings nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich zu trennen sein. Die Teilbarkeit einer Klausel ist durch Streichung des unwirksamen Teils (sog. Blue-Pencil-Test) zu ermitteln. Eine teilbare Formularklausel kann mit ihrem zulässigen Teil aufrechterhalten werden. Darin liegt keine geltungserhaltende Reduktion, denn die Trennung ist in den vom Verwender gestellten Vertragsbedingungen bereits vorgegeben (vgl. BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 67; 18. September 2018 – 9 AZR 162/18 – Rn. 32 mwN, BAGE 163, 282).
52
bb) § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags ist – im Sinne einer in der Klausel vorgegebenen Trennung – teilbar. Abs. 1 Satz 4 der Bestimmung ist sprachlich und inhaltlich von Abs. 1 Satz 1 bis 3 und Abs. 2 abtrennbar. Bei Streichung von § 8 Abs. 1 Satz 4 des Altersteilzeitarbeitsvertrags bleiben § 8 Abs. 1 Satz 1 bis 3 und Abs. 2 als verständliche Regelung zur Bestimmung des Umfangs des Urlaubsanspruchs und zur Urlaubsgewährung bestehen.
53
2. Die Beklagte hat die bestehenden Urlaubsansprüche des Klägers erfüllt.
54
a) Der Kläger hatte für das Jahr 2016 gemäß § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags iVm. §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG einen vertraglichen Anspruch auf acht Arbeitstage Urlaub. Diesen Anspruch hat die Beklagte durch Gewährung von acht Arbeitstagen Urlaub erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).
55
aa) In Anwendung von § 3 Abs. 1 BUrlG, dem zufolge der Urlaubsanspruch zu berechnen ist, indem die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage durch die Anzahl der Arbeitstage im Jahr bei einer Sechstagewoche geteilt und mit der Anzahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage im Jahr multipliziert werden (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage; vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 406/17 – Rn. 30 f.), war der vertragliche Urlaubsanspruch des Klägers zu berechnen, indem die ihm nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Altersteilzeitarbeitsvertrags zustehenden 30 Arbeitstage Urlaub im Jahr auf Werktage (30 Arbeitstage geteilt durch 5 x 6 = 36 Werktage) umzurechnen, anschließend durch die Anzahl der Arbeitstage im Jahr bei einer Sechstagewoche (312 Werktage) zu teilen und mit der Anzahl der für den Kläger maßgeblichen Arbeitstage im Jahr 2016 (65 Arbeitstage in den Monaten Januar bis März 2016) zu multiplizieren waren (36 Werktage x 65 Arbeitstage geteilt durch 312 Werktage).
56
bb) Der sich bei dieser Berechnung ergebende vertragliche Urlaubsanspruch des Klägers von acht Arbeitstagen schloss seinen gemäß §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG bestehenden Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub im Umfang von 5 Arbeitstagen (24 Werktage x 65 Arbeitstage geteilt durch 312 Werktage) ein. § 8 des Altersteilzeitarbeitsvertrags gewährte dem Kläger einen einheitlichen Jahresurlaubsanspruch. Der vertragliche Urlaubsanspruch war mangels einer abweichenden Regelung im Altersteilzeitarbeitsvertrag gegenüber dem gesetzlichen Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub kein eigenständiger Anspruch, soweit sich beide Ansprüche deckten (vgl. BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 64; vgl. zu tariflichen Regelungen BAG 7. August 2012 – 9 AZR 760/10 – Rn. 14, BAGE 143, 1).
57
b) Im Jahr 2017 bestand kein Urlaubsanspruch des Klägers. Er befand sich im Jahr 2017 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. Juli 2017 durchgehend in der Freistellungsphase der Altersteilzeit und war nach der im Altersteilzeitarbeitsvertrag der Parteien vereinbarten Verteilung der Arbeitszeit an keinem Tag zur Arbeitsleistung verpflichtet. Die Freistellungsphase war bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs nach den im Urlaubsrecht geltenden allgemeinen Berechnungsgrundsätzen (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage) mit „null“ Arbeitstagen in Ansatz zu bringen. Der Anwendungsbereich des aus § 5 Abs. 1 Buchst. c BUrlG abgeleiteten Umkehrschlusses war nicht eröffnet, da dies einen nach Maßgabe von §§ 1, 3 Abs. 1, § 4 BUrlG erworbenen Urlaubsanspruch voraussetzte (vgl. Rn. 29).
58
IV. Der Kläger hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG iVm. § 275 Abs. 1 und Abs. 4, § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 2 Nr. 3, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB, §§ 1, 3 BUrlG auf Abgeltung von Ersatzurlaub im Umfang von 22 Arbeitstagen Urlaub für das Jahr 2016. Die Beklagte war – wie unter B II und III ausgeführt – nicht verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum der Freistellungsphase der Altersteilzeit Erholungsurlaub zu gewähren, so dass ein Anspruch aus Verzug ausscheidet.
59
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Kiel
Suckow
Weber
Heilmann
Neumann-Redlin |
bag_30-20 | 09.09.2020 | 09.09.2020
30/20 - Eingruppierung einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit bei einem Amtsgericht
Die Tätigkeit einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit bei einem Amtsgericht erfüllt das Tätigkeitsmerkmal der Entgeltgruppe 9a Fallgruppe 2 Teil II Abschnitt 12.1 der Entgeltordnung zum TV-L (TV-L EntgeltO)*, wenn innerhalb von Arbeitsvorgängen, die mindestens die Hälfte der Gesamtarbeitszeit ausmachen, schwierige Tätigkeiten in rechtlich erheblichem Ausmaß erbracht werden müssen. Dabei kann auch die gesamte Tätigkeit der Beschäftigten aus einem einheitlichen Arbeitsvorgang bestehen. Maßgeblich für die Bestimmung des Arbeitsvorgangs ist allein das Arbeitsergebnis, nicht die tarifliche Wertigkeit der Einzeltätigkeiten.
Die Klägerin ist ausgebildete Justizfachangestellte. Ihr ist die Tätigkeit einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit im Sachgebiet Verkehrsstrafsachen an einem Amtsgericht übertragen worden. Nach einer durch das beklagte Land erstellten Beschreibung des Aufgabenkreises hat die Klägerin insgesamt zu 25,17 vH ihrer Gesamtarbeitszeit schwierige Tätigkeiten im Sinne der Protokollerklärung Nr. 3 zu Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO auszuüben. Das beklagte Land ist hinsichtlich der Tätigkeit der Klägerin von elf Arbeitsvorgängen ausgegangen. Jede Einzeltätigkeit, die in der Protollerklärung Nr. 3 aufgeführt ist, hat es als eigenen Arbeitsvorgang angesehen und daher die Klägerin nach Entgeltgruppe 6 TV-L vergütet. Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, ihre Tätigkeit bestehe lediglich aus einem Arbeitsvorgang, innerhalb dessen sie in rechtserheblichem Ausmaß schwierige Tätigkeiten auszuüben habe. Deshalb stehe ihr eine Vergütung nach Entgeltgruppe 9a TV-L (bis zum 31. Dezember 2018 Entgeltgruppe 9 TV-L) zu. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Klage ist begründet. Die Tätigkeit der Klägerin erfüllt die tariflichen Anforderungen der Entgeltgruppe 9a TV-L EntgeltO. Alle Tätigkeiten in der Serviceeinheit sind ihr einheitlich zugewiesen und führen zu einem Arbeitsergebnis. Sie stellen deshalb lediglich einen Arbeitsvorgang dar, innerhalb dessen die Klägerin in rechtserheblichem Ausmaß schwierige Tätigkeiten erbringt. Der Senat hält an seiner seit dem Jahr 2013 bestehenden Rechtsprechung zur Bestimmung und Bewertung von Arbeitsvorgängen fest. Danach kann die gesamte Tätigkeit einen einheitlichen Arbeitsvorgang bilden. Auch Tätigkeiten mit unterschiedlicher tariflicher Wertigkeit können, wenn sie zu einem einheitlichen Arbeitsergebnis führen, zu einem Arbeitsvorgang zusammengefasst werden. Bei der Bewertung der Arbeitsvorgänge genügt es für die Erfüllung der tariflichen Anforderung der „schwierigen Tätigkeiten“, wenn solche innerhalb des jeweiligen Arbeitsvorgangs in rechtlich erheblichem Umfang anfallen. Nicht erforderlich ist, dass innerhalb eines Arbeitsvorgangs schwierige Tätigkeiten ihrerseits in dem von § 12 Abs. 1 Satz 4 und 7 TV-L** bestimmten Maß – vorliegend also mindestens zur Hälfte, zu einem Drittel oder zu einem Fünftel – anfallen. Diese nach den tarifvertraglichen Regelungen maßgebliche Grundregel gilt uneingeschränkt auch bei einer Eingruppierung nach den besonderen Tätigkeitsmerkmalen für Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften (Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO). Entgegen der Auffassung des beklagten Landes steht dieser Auslegung nicht ein anderer Wille der Tarifvertragsparteien entgegen. Ein solcher hat in den tariflichen Eingruppierungsbestimmungen nicht den erforderlichen Niederschlag gefunden.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 9. September 2020 – 4 AZR 195/20 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2020 – 15 Sa 1260/19 –
Hinweis: In einem weiteren Verfahren vom heutigen Tag, das dieselbe Rechtsfrage betraf (Az. – 4 AZR 196/20 -), obsiegte die dortige Klägerin ebenfalls*Die tariflichen Vorschriften lauten auszugsweise:
„12.
Beschäftigte im Justizdienst
12.1
Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften
Entgeltgruppe 9a
1.
…
2.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 2 heraushebt, dass sie schwierig ist.
(Hierzu Protokollerklärungen Nrn. 2 und 3)
Entgeltgruppe 6
1.
…
2.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 4 heraushebt, dass sie mindestens zu einem Fünftel schwierig ist.
(Beschäftigte in dieser Fallgruppe erhalten eine monatliche Entgeltgruppenzulage gemäß Anlage F Abschnitt I Nr. 11.)
(Hierzu Protokollerklärungen Nrn. 2, 3 und 4)
3.
…
4.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften.
(Hierzu Protokollerklärung Nr. 2)
Protokollerklärungen
1.
…
2.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften sind Beschäftigte, die die Ausbildung nach der Verordnung über die Berufsausbildung zum Justizfachangestellten/zur Justizfachangestellten vom 16. Januar 1998 (BGBl. I S. 195) erfolgreich abgeschlossen haben und Aufgaben des mittleren Justizdienstes bzw. der entsprechenden Qualifikationsebene und der Justizfachangestellten (z.B. Geschäftsstellentätigkeit, Protokollführung, Assistenztätigkeiten)ganzheitlich bearbeiten, sowie sonstige Beschäftigte, die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten in Serviceeinheiten ausüben.
3.
Schwierige Tätigkeiten im Sinne dieses Tätigkeitsmerkmals sind z.B.:
a) die Anordnung von Zustellungen …,
b) die Erteilung von Rechtskraft- und Notfristzeugnissen sowie die Erteilung von Vollstreckungsklauseln, die Vollstreckbarkeitsbescheinigung in Strafsachen,
c) die Aufgaben nach den Anordnungen über die Erhebung von statistischen Daten und der Mitteilung an das Bundeszentralregister, das Gewerbezentralregister und das Kraftfahrtbundesamt,
d) …
e) die Aufgaben des Kostenbeamten …
f) die Mitwirkung bei der Überwachung von Auflagen und Weisungen nach § 153a Absatz 1 Strafprozessordnung und dem Jugendgerichtsgesetz sowie der Lebensführung des Verurteilten nach § 453b Strafprozessordnung und der Gnadenordnung sowie der Überwachung von Zahlungen bei der Vollstreckung von Geldstrafen,
g) die unterschriftsreife Vorbereitung von Beschlüssen und Verfügungen …,
h) die Beantwortung von Sachstandsanfragen und Auskunftsersuchen formeller Art …
**Die Vorschrift des § 12 TV-L lautet:
Eingruppierung
(1)
Die Eingruppierung der/des Beschäftigten richtet sich nach den Tätigkeitsmerkmalen der Entgeltordnung (Anlage A). Die/Der Beschäftigte erhält Entgelt nach der Entgeltgruppe, in der sie/er eingruppiert ist. Die/Der Beschäftigte ist in der Entgeltgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihr/ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht. Die gesamte auszuübende Tätigkeit entspricht den Tätigkeitsmerkmalen einer Entgeltgruppe, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen. Kann die Erfüllung einer Anforderung in der Regel erst bei der Betrachtung mehrerer Arbeitsvorgänge festgestellt werden (zum Beispiel vielseitige Fachkenntnisse), sind diese Arbeitsvorgänge für die Feststellung, ob diese Anforderung erfüllt ist, insoweit zusammen zu beurteilen. Werden in einem Tätigkeitsmerkmal mehrere Anforderungen gestellt, gilt das in Satz 4 bestimmte Maß, ebenfalls bezogen auf die gesamte auszuübende Tätigkeit, für jede Anforderung. Ist in einem Tätigkeitsmerkmal ein von Satz 4 oder 6 abweichendes zeitliches Maß bestimmt, gilt dieses. Ist in einem Tätigkeitsmerkmal als Anforderung eine Voraussetzung in der Person der/des Beschäftigten bestimmt, muss auch diese Anforderung erfüllt sein.
Protokollerklärung zu § 12 Absatz 1:
1.
Arbeitsvorgänge sind Arbeitsleistungen (einschließlich Zusammenhangsarbeiten), die, bezogen auf den Aufgabenkreis der/des Beschäftigten, zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen (zum Beispiel unterschriftsreife Bearbeitung eines Aktenvorgangs, eines Widerspruchs oder eines Antrags, Betreuung bzw. Pflege einer Person oder Personengruppe, Fertigung einer Bauzeichnung, Erstellung eines EKG, Durchführung einer Unterhaltungs- bzw. Instandsetzungsarbeit). Jeder einzelne Arbeitsvorgang ist als solcher zu bewerten und darf dabei hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden.
2.
Eine Anforderung im Sinne der Sätze 4 und 5 ist auch das in einem Tätigkeitsmerkmal geforderte Herausheben der Tätigkeit aus einer niedrigeren Entgeltgruppe. | Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 12. Februar 2020 – 15 Sa 1260/19 – aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 8. Mai 2019 – 56 Ca 14381/18 – abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das beklagte Land verpflichtet ist, die Klägerin vom 1. Februar 2018 bis zum 31. Dezember 2018 nach der Entgeltgruppe 9 TV-L und seit dem 1. Januar 2019 nach der Entgeltgruppe 9a TV-L zu vergüten und die jeweiligen Bruttonachzahlungsbeträge ab dem Ersten des jeweiligen Folgemonats mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.
3. Das beklagte Land hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Leitsatz
Für die Bestimmung des Arbeitsvorgangs zur tariflichen Bewertung der Tätigkeit einer Beschäftigten ist nach § 12 Abs. 1 TV-L das Arbeitsergebnis maßgebend. Ob eine oder mehrere Einzeltätigkeiten zu einem Arbeitsergebnis führen, ist anhand einer natürlichen Betrachtungsweise unter Berücksichtigung der durch den Arbeitgeber vorgegebenen Arbeitsorganisation zu beurteilen. Hierbei bleibt die tarifliche Wertigkeit der einzelnen Tätigkeiten oder Arbeitsschritte außer Betracht. Ein Arbeitsvorgang kann daher Einzeltätigkeiten enthalten, die bei gesonderter Beurteilung unterschiedlich zu bewerten wären. Erst nachdem die Bestimmung des Arbeitsvorgangs erfolgt ist, ist dieser anhand des in Anspruch genommenen Tätigkeitsmerkmals zu bewerten. Dies gilt auch im Bereich der besonderen Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften (Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO).
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die zutreffende Eingruppierung der Klägerin.
2
Die Klägerin ist, nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung zur Justizfachangestellten, bei dem beklagten Land seit dem 1. September 2007 als Justizangestellte beschäftigt. Nach § 1 des zuletzt zwischen den Parteien geschlossenen Änderungsvertrags vom 10. Januar 2013 ist für das Arbeitsverhältnis der vom Land Berlin mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di geschlossene Tarifvertrag zur Angleichung des Tarifrechts des Landes Berlin an das Tarifrecht der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (Angleichungs-TV Land Berlin) vom 14. Oktober 2010 in der jeweiligen Fassung maßgebend, solange das Land Berlin hieran gebunden ist, sowie ergänzend Tarifverträge, die das Land Berlin nach dem 1. November 2010 schließt oder denen es im Falle eines Eintritts in einen Arbeitgeberverband dann unterworfen ist.
3
Von September 2008 bis einschließlich März 2014 war die Klägerin als Beschäftigte in einer Serviceeinheit im Sachgebiet Allgemeine Strafsachen (Schöffengericht und Einzelrichtersachen) mit den in der durch das beklagte Land erstellten Beschreibung des Aufgabenkreises (BAK) vom 28. Februar 2012 aufgelisteten Aufgaben tätig. Das beklagte Land vergütete die Klägerin nach Überleitung in den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) zum 1. November 2010 nach Entgeltgruppe 6.
4
Seit dem 1. April 2014 wird die Klägerin als Angestellte in einer Serviceeinheit im Sachgebiet Verkehrsstrafsachen (einschließlich Bußgeldverfahren und Erzwingungshaftsachen) eingesetzt. Die diesbezügliche BAK vom 26. Mai 2010 hat ua. folgenden Inhalt:
„Lfd. Nr.
a)
Arbeitsvorgang
Prozentualer Anteil an der monatlichen Arbeitszeit
gem. Protokollnotiz zu § 22 Abs. 2 BAT mit Angabe des Arbeitsergebnisses (gleiche Arbeitsvorgänge, die gleiche Anforderungen stellen, sind zusammenzufassen)
b)
hierfür benötigte Fachkenntnisse und Fähigkeiten
1
a)
Geschäftsstellentätigkeit: Postbearbeitung, Schriftgutverwaltung, Aussonderungsarbeiten, Datenpflege
42,49 %
b)
gründliche Kenntnisse der Aktenordnung (AktO), der Geschäftsordnungsvorschriften (GOV), der Aufbewahrungsbestimmungen (Aufbew.best.), der einschlägigen Verwaltungsvorschriften (GGO I), der Geschäftsanweisung für die Strafabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten (GAnwStraf) in der jeweils geltenden Fassung, der Strafprozessordnung (StPO), der Strafverfolgungsstatistik und der Bodenregistraturverfügung
2
a)
Selbständige Fertigung von Inhaltsprotokollen
6,94 %
b)
gründliche Kenntnisse der Richtlinien für die Fertigung des Schreibwerks bei den Gerichten und der KEJ in der jeweils geltenden Fassung, gründliche Kenntnisse moderner Informationstechniken, sorgfältige Arbeitsweise, 2. Buch 6. Abschnitt StPO
3
a)
kanzleimäßige Erledigung der Verfügungen der jeweiligen Sachbearbeiter, Mitteilungen an andere Behörden, selbständige Fertigung von Maschinenprotokollen
24,87 %
b)
gründliche Kenntnisse der Richtlinien für die Fertigung des Schreibwerks bei den Gerichten und der KEJ in der jeweils geltenden Fassung, gründliche Kenntnisse moderner Informationstechniken, sorgfältige Arbeitsweise, gründliche Kenntnisse der GAnwStraf in der jeweils geltenden Fassung und der Anordnung über die Mitteilungen in Strafsachen (MiStra), Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) 2. Teil 2. Abschnitt
4
a)
Anordnung von Ladungen und Zustellungen, öffentliche Zustellungen
7,42 %
b)
gründliche Kenntnisse der GAnwZP, des Zustellungsreformgesetzes (ZustRG), der StPO 1. Buch, 4. – 6. Abschnitt, 2. Buch 5. Abschnitt, der Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO) 1. Abschnitt
5
a)
Erteilen vollstreckbarer Ausfertigungen und von Teilrechtskraft- und Rechtskraftattesten
4,20 %
b)
gründliche Kenntnisse der GanwStraf in der jeweils geltenden Fassung, des Rechtspflegergesetzes (RpflG) § 22, der Strafvollstreckungsordnung 1. Abschnitt
6
a)
Aufgaben der Kostenbeamten
5,69 %
b)
gründliche Kenntnisse der GAnwStraf in der jeweils geltenden Fassung, des Gerichtskostengesetzes (GKG), des Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetzes (JVEG) 1. Abschnitt sowie der Durchführungsvorschriften zu den Kostengesetzen (KostVfg., DB-PKHG), der StPO 7. Buch 2. Abschnitt
7
a)
Aufgaben der Zählkartenanordnung
3,63 %
b)
gründliche Kenntnisse der GanwStraf in der jeweils geltenden Fassung, und der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Straf- und Bußgeldverfahren (StP/OWi-Statistik) in der jeweils geltenden Fassung
8
a)
Beantwortung von Sachstandsanfragen und Auskunftsersuchen formeller Art
1,24 %
b)
gründliche Kenntnisse der Richtlinien für die Fertigung des Schreibwerks bei den Gerichten und der KEJ in der jeweils geltenden Fassung, der StPO 8. Buch und des OWiG 2. Teil 2. Abschnitt
9
a)
unterschriftsreife Vorbereitung von Verfügungen, Urteilen und Beschlüssen für den jeweiligen Sachbearbeiter
1,62 %
b)
gründliche Kenntnisse der Richtlinien für die Fertigung des Schreibwerks bei den Gerichten und der KEJ in der jeweils geltenden Fassung, der StPO und des OWiG
10
a)
Mitteilungen an das Bundeszentralregister, Gewerbezentralregister und das Kraftfahrtbundesamt
0,38 %
b)
gründliche Kenntnisse der Richtlinien für die Fertigung des Schreibwerks bei den Gerichten und der KEJ in der jeweils geltenden Fassung, gründliche Kenntnisse der GAnwStraf in der jeweils geltenden Fassung und der Anordnung über die Mitteilungen in Strafsachen (MiStra)
11
a)
Mitwirkung bei der Überwachung von Auflagen und Weisungen nach § 153 a Abs. 1 StPO und dem JGG sowie nach § 453 b StPO und der Gnadenordnung sowie die Überwachung von Zahlungen bei der Vollstreckung von Geldstrafen
0,99 %
b)
gründliche Kenntnisse der Strafvollstreckungsordnung (StVollstrO) 1., 6. – 7. Abschnitt, der Allgemeinen Verfügung über das Verfahren in Gnadensachen (Gnadenordnung – GnO) in der jeweils geltenden Fassung, der Anordnung über die Mitteilungen in Strafsachen (MiStra) und des OWiG 1. Teil 3., 5. Abschnitt“
5
Diese Tätigkeiten übt die Klägerin tatsächlich aus. Sie sind ihr durch das beklagte Land als einheitliche Aufgabe zugewiesen.
6
Nach erfolgloser Geltendmachung mit Schreiben vom 13. August 2018 hat die Klägerin mit ihrer Klage die Auffassung vertreten, seit dem 1. Februar 2018 Anspruch auf eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TV-L zu haben. Ihre gesamte Tätigkeit diene, da es sich um eine nach dem Tarifvertrag vorgegebene einheitliche Funktion handele, einem Arbeitsergebnis, und zwar der Aktenführung und -betreuung sowie der Verwaltung einer Geschäftsstelle. Die Tätigkeiten seien ihr im Interesse einer zügigen Bearbeitung einheitlich übertragen worden, stünden in einem inneren Zusammenhang und seien sinnvoll nicht trennbar. Daher sei von einem einzigen Arbeitsvorgang auszugehen. Innerhalb dessen übe sie in rechtlich erheblichem Ausmaß schwierige Tätigkeiten aus, was zur Erfüllung des Tätigkeitsmerkmals der Entgeltgruppe 9 TV-L „Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 2 heraushebt, dass sie schwierig ist“ ausreichend sei. Eine Aufspaltung zwischen schwierigen und nicht schwierigen Tätigkeiten innerhalb des Arbeitsvorgangs sehe der Tarifvertrag nicht vor.
7
Die Klägerin hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass das beklagte Land verpflichtet ist, sie vom 1. Februar 2018 bis zum 31. Dezember 2018 nach der Entgeltgruppe 9 und seit dem 1. Januar 2019 nach der Entgeltgruppe 9a der Entgeltordnung zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) zu vergüten und die jeweiligen Bruttonachzahlungsbeträge ab dem Ersten des jeweiligen Folgemonats mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.
8
Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Tarifvertragsparteien hätten durch die Festlegung einzelner Tätigkeiten als „schwierig“ in den Protokollerklärungen zu den besonderen Tätigkeitsmerkmalen für Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften vorgegeben, dass es sich bei schwierigen und nicht schwierigen Tätigkeiten um unterschiedliche Arbeitsvorgänge im Tarifsinn handeln solle. Arbeitsvorgänge mit schwierigen Tätigkeiten würden daher zu 100 vH aus solchen bestehen. Damit sei entscheidend, ob die Klägerin zu einem Fünftel, einem Drittel oder mit mindestens der Hälfte ihrer Gesamtarbeitszeit schwierige Tätigkeiten auszuüben habe. Die Tarifvertragsparteien seien bei Einführung der Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte in Serviceeinheiten und der Entgeltordnung zum TV-L aufgrund der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts davon ausgegangen, Tätigkeiten unterschiedlicher tariflicher Wertigkeit könnten nicht in einem Arbeitsvorgang zusammengefasst werden. Es habe ihrem Willen entsprochen, Beschäftigte in Serviceeinheiten je nach dem Anteil der von ihnen auszuübenden schwierigen Tätigkeiten einzugruppieren. Eine Auslegung, die diesen Willen missachte, stelle einen Eingriff in die Tarifautonomie dar und sei daher verfassungswidrig. Aus Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L ergebe sich zudem, dass die Tarifvertragsparteien von kleinteiligen Arbeitsvorgängen ausgegangen seien. Zumindest sei es bei einheitlichen, die gesamte Tätigkeit einer Beschäftigten erfassenden Arbeitsvorgängen geboten, eine höhere Eingruppierung nur dann anzunehmen, wenn innerhalb dieses Arbeitsvorgangs zu einem Fünftel, einem Drittel oder mindestens der Hälfte der Arbeitszeit schwierige Tätigkeiten zu erbringen seien.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die zulässige Klage ist begründet.
11
I. Die Klage ist als allgemein übliche Eingruppierungsfeststellungsklage (st. Rspr., etwa BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 147/17 – Rn. 15, BAGE 164, 326) zulässig, insbesondere besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse.
12
1. Durch die Entscheidung über den Antrag wird der Streit der Parteien insgesamt bereinigt. Über weitere Vergütungsfaktoren, insbesondere die Stufenzuordnung, besteht nach dem zuletzt übereinstimmenden Vortrag der Parteien im Berufungsverfahren zum Verlauf des Arbeitsverhältnisses und zur tatsächlichen Beschäftigung der Klägerin kein Streit mehr (zum anderenfalls bestehenden Erfordernis der Benennung der Stufe im Feststellungsantrag vgl. BAG 27. August 2014 – 4 AZR 518/12 – Rn. 15; 17. Oktober 2007 – 4 AZR 1005/06 – Rn. 15, BAGE 124, 240). Das haben die Parteien auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich bestätigt.
13
2. Das Feststellungsinteresse ist auch nicht teilweise deshalb entfallen, weil die Klägerin ihre Berufung hinsichtlich der Leistungsanträge für den Zeitraum von Februar bis September 2018 auf einen Feststellungsantrag umgestellt hat. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts handelt es sich nicht um eine teilweise Berufungsrücknahme. Eine solche hätte zur Folge gehabt, dass hinsichtlich der nicht (mehr) angegriffenen Teile der Entscheidung des Arbeitsgerichts Rechtskraft eingetreten wäre (vgl. BGH 25. September 2007 – X ZR 60/06 – Rn. 10, BGHZ 173, 374). Der Wechsel vom Leistungs- zum Feststellungsantrag ändert bei unverändertem Sachverhalt und Klagegrund jedoch nicht den Streitgegenstand. Es liegt lediglich eine – qualitative – Beschränkung des Klageantrags ohne Änderung des Klagegrundes iSd. § 264 Nr. 2 ZPO vor (BAG 14. September 2016 – 4 AZR 456/14 – Rn. 15; 13. Februar 2007 – 9 AZR 207/06 – Rn. 11, BAGE 121, 182). Daher hat sich durch die Antragsänderung nicht der Umfang der Berufung geändert.
14
3. Das Feststellungsinteresse besteht auch für die gegenüber der Hauptforderung akzessorischen Zinsforderungen (BAG 13. Mai 2015 – 4 AZR 355/13 – Rn. 9 mwN).
15
4. Die zuletzt in der Berufungsinstanz vorgenommene Änderung des Feststellungsantrags, mit dem auch die Feststellung begehrt wird, dass das beklagte Land verpflichtet ist, sie ab dem 1. Januar 2019 nach der Entgeltgruppe 9a TV-L zu vergüten, stellt keine unzulässige Klageänderung dar. Die Klägerin trägt lediglich dem Umstand der seit dem 1. Januar 2019 veränderten Bezeichnung der Entgeltgruppe bei gleichbleibendem Inhalt Rechnung (sh. zur vergleichbaren Situation im TVöD BAG 14. September 2016 – 4 AZR 456/14 – Rn. 16 ff.).
16
II. Die Klage ist begründet. Das beklagte Land ist verpflichtet, die Klägerin vom 1. Februar 2018 bis zum 31. Dezember 2018 nach Entgeltgruppe 9 TV-L und seit dem 1. Januar 2019 nach Entgeltgruppe 9a TV-L zu vergüten.
17
1. Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach § 1 des Änderungsvertrags vom 10. Januar 2013 nach dem Angleichungs-TV Land Berlin. Nach § 2 Angleichungs-TV Land Berlin finden die zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) und der Gewerkschaft ver.di vereinbarten Tarifverträge in der jeweiligen Fassung Anwendung, soweit die Beschäftigten von dem jeweiligen Geltungsbereich erfasst werden. Das sind vorliegend der TV-L und der Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten der Länder in den TV-L und zur Regelung des Übergangsrechts (TVÜ-Länder). Beide Tarifverträge sind zwischen der TdL und ver.di vereinbart worden. Der TV-L und der TVÜ-Länder sind im Land Berlin am 1. November 2010 in Kraft getreten (§ 17 Abs. 1 und § 39 Abs. 1 Angleichungs-TV Land Berlin). Die Klägerin ist Angestellte iSv. § 1 TVÜ-Länder und Beschäftigte iSv. § 1 TV-L.
18
2. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts richtet sich die Eingruppierung der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht nach § 22 Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) und den in der Anlage 1a zum BAT geregelten Tätigkeitsmerkmalen, sondern nach § 12 Abs. 1 Satz 1 TV-L iVm. der Entgeltordnung zum TV-L (nachfolgend TV-L EntgeltO). Mit dem Wechsel in die Serviceeinheit im Sachgebiet Verkehrsstrafsachen übte die Klägerin keine unveränderte Tätigkeit iSd. § 29a Abs. 2 Satz 1 TVÜ-Länder mehr aus. Die Eingruppierung erfolgt daher nach §§ 12, 13 TV-L.
19
a) Nach § 29a Abs. 1 Satz 1 TVÜ-Länder gelten für in den TV-L übergeleitete Beschäftigte für Eingruppierungen ab dem 1. Januar 2012 die §§ 12, 13 TV-L sowie die Entgeltordnung zum TV-L. Die Überleitung zum 1. Januar 2012 erfolgte jedoch unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit (§ 29a Abs. 2 Satz 1 TVÜ-Länder). Soweit sich die auszuübende Tätigkeit der Arbeitnehmerin nicht ändert, ist der Arbeitgeber nicht gehalten, deren Eingruppierung anhand der §§ 12, 13 TV-L iVm. der TV-L EntgeltO zu überprüfen. Vielmehr gilt die vorläufige Eingruppierung ab dem 1. Januar 2012 als „richtige“ Eingruppierung.
20
b) Von einer unverändert auszuübenden Tätigkeit iSd. § 29a Abs. 2 Satz 1 TVÜ-Länder ist nicht mehr auszugehen, wenn der Arbeitgeber aufgrund einer Tätigkeitsänderung auch ohne Inkrafttreten der TV-L EntgeltO gehalten gewesen wäre, die Eingruppierung der Arbeitnehmerin zu überprüfen, also dann, wenn sich die geänderte Tätigkeit auf die Eingruppierung auswirken kann (Augustin ZTR 2012, 484, 486; vgl. auch Geyer in Sponer/Steinherr TVöD Stand August 2020 § 25 TVÜ-Bund Vorbem Rn. 7 zu 1.2.5).
21
Die Tarifvertragsparteien haben mit dem Begriff der „auszuübenden Tätigkeit“ die gleiche Begrifflichkeit wie in § 22 BAT und § 12 TV-L gewählt, so dass die gleichen Maßstäbe anzuwenden sind. Das ergibt sich auch aus Sinn und Zweck des § 29a TVÜ-Länder. Hierdurch sollten lediglich eine „Eingruppierungswelle“ vermieden und die öffentlichen Arbeitgeber entlastet werden (vgl. zu § 26 TVÜ-Bund BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 19, BAGE 162, 81; Augustin ZTR 2012, 484, 486). Die bereits bestehenden Arbeitsverhältnisse sollten aber bei Veränderungen der – auch sonst geltenden – Tarifautomatik unterworfen sein. Nicht maßgebend ist demgegenüber, ob sich durch die Änderung der Tätigkeit tatsächlich eine andere Eingruppierung ergibt. § 29a Abs. 2 TVÜ-Länder stellt auf die Tätigkeit und nicht auf die Eingruppierung ab (Müller öAT 2012, 149, 150; vgl. auch Geyer in Sponer/Steinherr TVöD Stand August 2020 § 25 TVÜ-Bund Vorbem Rn. 7 zu 1.2.5). Danach kann eine veränderte Tätigkeit ua. beim Wechsel des Inhalts der Arbeitsaufgaben oder bei Änderung der Art und Weise, wie die Tätigkeit zu erledigen ist, vorliegen.
22
c) Nach diesen Grundsätzen ist ab dem Wechsel der Klägerin in die Serviceeinheit im Sachgebiet Verkehrsstrafsachen im April 2014 nicht mehr von einer unveränderten Tätigkeit auszugehen. Hierdurch hat sich der Aufgabenbereich der Klägerin verändert, sodass eine andere Eingruppierung nicht ausgeschlossen ist. Das beklagte Land hat für die vorherige und die neue Tätigkeit jeweils unterschiedliche BAK erstellt, nach denen an die Tätigkeiten unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Die erforderlichen Kenntnisse unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der anzuwendenden Gesetze (OWiG oder BtMG) als auch in den Anforderungen („gründliche Kenntnisse“ oder „Kenntnisse“). Zudem sind die durch das beklagte Land ermittelten Zeitanteile, wenn auch nur geringfügig, verschieden. Die Tätigkeit ist der Klägerin auch dauerhaft und nicht nur vorübergehend (§ 14 TV-L) übertragen worden.
23
3. Die Klägerin war in Anwendung von § 12 TV-L vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 2018 nach der Entgeltgruppe 9 der Anlage A – Entgeltordnung zum TV-L – Teil II Abschnitt 12 – Beschäftigte im Justizdienst – Unterabschnitt 12.1 – Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften – zum TV-L in der bis zum 31. Dezember 2018 geltenden Fassung (aF) zu vergüten.
24
a) Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 TV-L ist die Beschäftigte in der Entgeltgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihr nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht. Das ist dann der Fall, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen (§ 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L). Nach Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L sind Arbeitsvorgänge Arbeitsleistungen (einschließlich Zusammenhangsarbeiten), die, bezogen auf den Aufgabenkreis der Beschäftigten, zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen (zB unterschriftsreife Bearbeitung eines Aktenvorgangs, eines Widerspruchs oder eines Antrags, Betreuung bzw. Pflege einer Person oder Personengruppe, Fertigung einer Bauzeichnung, Erstellung eines EKG, Durchführung einer Unterhaltungs- bzw. Instandsetzungsarbeit). Jeder einzelne Arbeitsvorgang ist als solcher zu bewerten und darf dabei hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden.
25
b) Die Tätigkeitsmerkmale des Teils II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO lauteten auszugsweise bis zum 31. Dezember 2018:
„12.
Beschäftigte im Justizdienst
12.1
Beschäftigte bei Gerichten und Staatsanwaltschaften
Entgeltgruppe 9
1.
…
2.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 2 heraushebt, dass sie schwierig ist.
(Stufe 3 nach 5 Jahren in Stufe 2, Stufe 4 nach 9 Jahren in Stufe 3, keine Stufen 5 und 6)
(Hierzu Protokollerklärungen Nrn. 2 und 3)
Entgeltgruppe 8
1.
…
2.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 2 heraushebt, dass sie mindestens zu einem Drittel schwierig ist.
(Hierzu Protokollerklärungen Nrn. 2 und 3)
Entgeltgruppe 6
1.
…
2.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften, deren Tätigkeit sich dadurch aus der Fallgruppe 4 heraushebt, dass sie mindestens zu einem Fünftel schwierig ist.
(Beschäftigte in dieser Fallgruppe erhalten eine monatliche Entgeltgruppenzulage gemäß Anlage F Abschnitt I Nr. 11.)
(Hierzu Protokollerklärungen Nrn. 2, 3 und 4)
3.
…
4.
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften.
(Hierzu Protokollerklärung Nr. 2)
Protokollerklärungen:
Nr. 1
…
Nr. 2
Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften sind Beschäftigte, die die Ausbildung nach der Verordnung über die Berufsausbildung zum Justizfachangestellten/zur Justizfachangestellten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 195) erfolgreich abgeschlossen haben und Aufgaben des mittleren Justizdienstes bzw. der entsprechenden Qualifikationsebene und der Justizfachangestellten (z. B. Geschäftsstellentätigkeit, Protokollführung, Assistenztätigkeiten) ganzheitlich bearbeiten, sowie sonstige Beschäftigte, die aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten in Serviceeinheiten ausüben.
Nr. 3
Schwierige Tätigkeiten im Sinne dieses Tätigkeitsmerkmals sind z. B.:
a)
die Anordnung von Zustellungen, die Ladung von Amts wegen und die Vermittlung von Zustellungen im Parteibetrieb, die Heranziehung und die Ladung der ehrenamtlichen Richter, die Besorgung der öffentlichen Zustellung und Ladung,
b)
die Erteilung von Rechtskraft- und Notfristzeugnissen sowie die Erteilung von Vollstreckungsklauseln, die Vollstreckbarkeitsbescheinigung in Strafsachen,
c)
die Aufgaben nach den Anordnungen über die Erhebung von statistischen Daten und der Mitteilung an das Bundeszentralregister, das Gewerbezentralregister und das Kraftfahrtbundesamt,
d)
…
e)
die Aufgaben des Kostenbeamten, die Aufgaben der Geschäftsstelle bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Zahlungsbestimmung, die Festsetzung und Anweisung der den Zeugen, Sachverständigen und ehrenamtlichen Richter sowie den Beteiligten zu gewährenden Entschädigungen (einschl. etwaiger Vorschüsse),
f)
die Mitwirkung bei der Überwachung von Auflagen und Weisungen nach § 153a Absatz 1 Strafprozessordnung und dem Jugendgerichtsgesetz sowie der Lebensführung des Verurteilten nach § 453b Strafprozessordnung und der Gnadenordnung sowie der Überwachung von Zahlungen bei der Vollstreckung von Geldstrafen,
g)
die unterschriftsreife Vorbereitung von Beschlüssen und Verfügungen sowie die Anordnungen für Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger, die Vorprüfung von Klagen und Anschuldigungsschriften, Anträgen sowie Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen in Gerichtsverfahren (Spruchkörperzuständigkeit, Ermittlung des Berichterstatters, Fristwahrung, Beweisangebote in patentgerichtlichen Verfahren u.Ä.), die Überprüfung fristgebundener Gebührenzahlungen in patentgerichtlichen Verfahren,
h)
die Beantwortung von Sachstandsanfragen und Auskunftsersuchen formeller Art sowie die Überwachung von Akteneinsichten in patentgerichtlichen Verfahren.“
26
c) Das Landesarbeitsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die gesamte Tätigkeit der Klägerin einen einheitlichen Arbeitsvorgang ausmacht.
27
aa) Nach § 12 Abs. 1 TV-L ist Bezugspunkt der tariflichen Bewertung der Arbeitsvorgang (vgl. zu § 22 BAT BAG 16. Oktober 2019 – 4 AZR 284/18 – Rn. 16; 10. Dezember 2014 – 4 AZR 773/12 – Rn. 19; 22. September 2010 – 4 AZR 149/09 – Rn. 17; 25. August 2010 – 4 AZR 5/09 – Rn. 22). Maßgebend für dessen Bestimmung ist das Arbeitsergebnis (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 24, BAGE 162, 81; 13. Mai 2015 – 4 AZR 355/13 – Rn. 16; 21. März 2012 – 4 AZR 266/10 – Rn. 24; 22. September 2010 – 4 AZR 149/09 – Rn. 17; 25. August 2010 – 4 AZR 5/09 – Rn. 22; 12. Mai 2004 – 4 AZR 371/03 – zu I 1 e aa der Gründe). Für die Beurteilung, ob eine oder mehrere Einzeltätigkeiten zu einem Arbeitsergebnis führen, sind eine natürliche Betrachtungsweise und die durch den Arbeitgeber vorgenommene Arbeitsorganisation ausschlaggebend. Dabei kann die gesamte vertraglich geschuldete Tätigkeit einen einzigen Arbeitsvorgang ausmachen (BAG 13. November 2013 – 4 AZR 53/12 – Rn. 17; 20. September 1995 – 4 AZR 685/94 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 81, 47; 31. März 1982 – 4 AZR 1099/79 – BAGE 38, 221). Einzeltätigkeiten können dann nicht zusammengefasst werden, wenn die verschiedenen Arbeitsschritte von vornherein auseinandergehalten und organisatorisch voneinander getrennt sind. Hierfür reicht jedoch die theoretische Möglichkeit nicht aus, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben verwaltungstechnisch isoliert auf andere Beschäftigte zu übertragen (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 25, aaO; 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 18, BAGE 146, 22; 23. September 2009 – 4 AZR 308/08 – Rn. 24; 9. Juli 1997 – 4 AZR 177/96 – zu II 2.5.1 der Gründe). Bei der Zuordnung zu einem Arbeitsvorgang können wiederkehrende und gleichartige Tätigkeiten zusammengefasst werden (BAG 13. Mai 2020 – 4 AZR 173/19 – Rn. 16; 16. Oktober 2019 – 4 AZR 284/18 – Rn. 17; 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – aaO; 6. Dezember 1989 – 4 AZR 457/89 -). Dem Arbeitsvorgang hinzuzurechnen sind dabei nach Satz 1 der Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L auch Zusammenhangsarbeiten. Das sind solche, die aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit bestimmten Aufgaben einer Beschäftigten bei der tariflichen Bewertung zwecks Vermeidung tarifwidriger „Atomisierung“ der Arbeitseinheiten nicht abgetrennt werden dürfen, sondern diesen zuzurechnen sind (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – aaO; 10. Dezember 2014 – 4 AZR 773/12 – Rn. 19; 6. Dezember 1989 – 4 AZR 457/89 -). Die tarifliche Wertigkeit der verschiedenen Einzeltätigkeiten oder Arbeitsschritte bleibt dabei zunächst außer Betracht. Erst nachdem die Bestimmung des Arbeitsvorgangs erfolgt ist, ist dieser anhand des in Anspruch genommenen Tätigkeitsmerkmals zu bewerten (BAG 13. Mai 2020 – 4 AZR 173/19 – Rn. 16; 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – aaO; 18. März 2015 – 4 AZR 59/13 – Rn. 17, BAGE 151, 150; 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 19, aaO; 6. Juli 2011 – 4 AZR 568/09 – Rn. 58; Natter ZTR 2018, 623, 626).
28
(1) Die Maßgeblichkeit des Arbeitsergebnisses für die Bestimmung des Arbeitsvorgangs ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L. Sollen Tätigkeiten verschiedenen Arbeitsvorgängen zugeordnet werden, müssen sie, bezogen auf den konkreten Aufgabenkreis der Beschäftigten, zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen.
29
(a) Wegen des Bezugs auf den „Aufgabenkreis der Beschäftigten“ ist die tatsächliche Ausgestaltung der Tätigkeit für die Bestimmung der Arbeitsergebnisse und damit der Arbeitsvorgänge entscheidend. Damit sind bei Bestimmung der Arbeitsergebnisse insbesondere die durch den Arbeitgeber gewählte Organisationsform (vgl. zB BAG 28. Januar 2009 – 4 AZR 13/08 – Rn. 45, BAGE 129, 208: „behördliche Übung“; 25. August 2010 – 4 AZR 5/09 – Rn. 34; 22. April 2009 – 4 AZR 166/08 – Rn. 16; 6. Dezember 1989 – 4 AZR 457/89 -; 24. August 1983 – 4 AZR 302/83 – BAGE 43, 250; 8. Februar 1978 – 4 AZR 540/76 – BAGE 30, 32: „Verwaltungsübung“) und die Art der Zuweisung von Tätigkeiten (zB einheitlich oder getrennt) (BAG 22. Februar 2017 – 4 AZR 514/16 – Rn. 35; 13. Mai 2015 – 4 AZR 355/13 – Rn. 19; 23. September 2009 – 4 AZR 308/08 – Rn. 25; 14. September 1994 – 4 AZR 787/93 – zu II 2 b der Gründe), aber auch der mehr oder weniger enge inhaltliche Zusammenhang zwischen einzelnen Arbeitsleistungen (BAG 23. Februar 2005 – 4 AZR 191/04 – zu I 3 a bb der Gründe; 14. März 2001 – 4 AZR 172/00 – zu I 4 a cc der Gründe; 9. Juli 1997 – 4 AZR 177/96 – zu II 2.5.2 der Gründe) zu berücksichtigen.
30
(b) Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Verwendung des Wortes „abgrenzbar“ (statt zB „abgegrenzt“) in Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L (aA Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TV-L Stand August 2020 Teil II § 12 Rn. 407). Hieraus lässt sich nicht ableiten, es komme auf abstrakte anstatt konkrete Arbeitsergebnisse an. Die Tätigkeit muss zu dem abgrenzbaren Arbeitsergebnis „führen“, nicht „führen können“. Maßgebend ist daher nicht die theoretische Möglichkeit, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben auf andere Beschäftigte übertragen zu können, sondern, ob eine solche Trennung im konkreten Arbeitsverhältnis organisatorisch umgesetzt worden ist (BAG 13. November 2013 – 4 AZR 53/12 – Rn. 23; 23. Februar 2005 – 4 AZR 191/04 – zu I 3 a bb der Gründe; 14. März 2001 – 4 AZR 172/00 – zu I 4 a cc der Gründe; 14. August 1991 – 4 AZR 593/90 – zu 2 b der Gründe).
31
(2) Die Bestimmung der Arbeitsvorgänge bei natürlicher Betrachtung anhand der Arbeitsergebnisse, die von den konkreten Umständen abhängig sind, bedingt, dass unterschiedlich große Arbeitsvorgänge bestehen können. Weder § 12 Abs. 1 TV-L noch Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L lässt sich eine Beschränkung der Größe der Arbeitsvorgänge entnehmen.
32
(a) Bei natürlicher Betrachtung wird ein Arbeitsergebnis nicht durch die Erledigung einer Einzelaufgabe, sondern durch die Bearbeitung eines Aufgabengebiets erzielt (vgl. zu einem möglichen Arbeitsvorgang „Streifengang“ BAG 24. August 1983 – 4 AZR 32/81 -). Daher können in der Regel wiederkehrende und gleichartige Tätigkeiten zusammengefasst werden. Dem steht nicht entgegen, dass in den in der Klammer von Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L aufgeführten Beispielen einzelne Tätigkeiten (zB unterschriftsreife Bearbeitung eines Aktenvorgangs, eines Widerspruchs, oder eines Antrags) aufgelistet werden (aA Fieberg ZTR 2020, 439, 440; Geyer/Brockmann in Sponer/Steinherr TV-L Stand August 2020 § 12 Rn. 283, 295; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TV-L Stand August 2020 Teil II § 12 Rn. 356 f. 387; Jesse/Rothbrust ZTR 1995, 54, 56). Je nach Inhalt der übertragenen Aufgabe und Organisation des Arbeitgebers kann zwar ggf. auch ein einzelner Aktenvorgang einen Arbeitsvorgang darstellen. Dafür, dass durch Aufzählung von Beispielen die zuvor festgelegten Kriterien (Aufgabenkreis und natürliche Betrachtung) zugunsten einer Einzelbetrachtung der Tätigkeiten aufgegeben werden sollten, bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Bei der tatsächlichen Abgrenzung muss eine selbständige tarifrechtliche Bewertung der auszuübenden Tätigkeit möglich bleiben (BAG 7. Dezember 1977 – 4 AZR 399/76 – zu II 3 der Gründe, BAGE 29, 416; 22. November 1977 – 4 AZR 395/76 – zu II 4 der Gründe, BAGE 29, 364). Es ist demnach ausgeschlossen, ohne Berücksichtigung der konkreten Arbeitsorganisation auf die kleinste tatsächlich aufgliederungsfähige Arbeitseinheit abzustellen (BAG 8. Februar 1978 – 4 AZR 540/76 – BAGE 30, 32; 7. Dezember 1977 – 4 AZR 399/76 – aaO; 22. November 1977 – 4 AZR 395/76 – aaO). Ebenso wenig kann den Beispielen entnommen werden, die gesamte Tätigkeit einer Beschäftigten solle keinesfalls als (ein) einheitlicher Arbeitsvorgang anzusehen sein.
33
(b) Die Tarifgeschichte gebietet kein anderes Verständnis. Durch die erstmalige Einführung des Begriffs des Arbeitsvorgangs im Jahr 1975 sollte sich zwar die Eingruppierung nicht mehr nach Gesamt- oder Teiltätigkeiten richten. Selbst wenn dem die Annahme zugrunde gelegen hätte, die Tätigkeit des Arbeitnehmers setze sich in der Regel aus mehreren Arbeitsvorgängen zusammen, um die „einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit“ zu „beseitigen“ (vgl. BAG 19. März 1986 – 4 AZR 642/84 – BAGE 51, 282; Fieberg ZTR 2020, 439, 441), schließt dies aber – angesichts des Tarifwortlauts – die Annahme eines einheitlichen Arbeitsvorgangs nicht aus.
34
(3) Weiterhin sind nach Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L Zusammenhangsarbeiten einem Arbeitsvorgang hinzuzurechnen. Bereits dies schließt die Annahme des beklagten Landes aus, ein Arbeitsvorgang, der Tätigkeiten enthält, die die Anforderungen eines qualifizierenden Tätigkeitsmerkmals erfüllen, müsse ausschließlich aus diesen höherwertigen Tätigkeiten bestehen.
35
(4) Nach Satz 2 der Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L ist jeder Arbeitsvorgang als solcher zu bewerten. Eine Bewertung kann daher erst vorgenommen werden, wenn die maßgebenden Arbeitsvorgänge bestimmt sind. Die Bestimmung des Arbeitsergebnisses hängt nicht davon ab, ob einzelne Tätigkeiten tariflich unterschiedlich zu bewerten wären (BAG 13. Mai 2020 – 4 AZR 173/19 – Rn. 16; 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 25, BAGE 162, 81; 18. März 2015 – 4 AZR 59/13 – Rn. 17, BAGE 151, 150; 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 19, BAGE 146, 22; 6. Juli 2011 – 4 AZR 568/09 – Rn. 58; Natter ZTR 2018, 623, 626).
36
(a) Die Heranziehung der tariflichen Wertigkeit einer (Einzel-)Tätigkeit als Abgrenzungskriterium bei der Bestimmung des Arbeitsvorgangs würde entgegen Satz 2 der Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L zu einer Bewertung von Einzeltätigkeiten statt des Arbeitsvorgangs führen, um hieraus Erkenntnisse zur Bestimmung des Arbeitsvorgangs zu gewinnen. Dieser müsste dann aber nicht mehr bewertet werden, weil dies bereits erfolgt ist (vgl. hierzu Jesse ZTR 1987, 193, 198; Jesse/Rothbrust ZTR 1995, 54, 57; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TV-L Stand August 2020 Teil II § 12 Rn. 404). Durch eine strikte Trennung von tariflich unterschiedlich zu bewertenden Tätigkeiten würde damit das in § 12 TV-L verankerte System unterlaufen, die Bewertung anhand von Arbeitsvorgängen vorzunehmen. Letztlich wäre, wie auch das beklagte Land in der Revisionserwiderung erkennt, der Anteil von schwierigen Tätigkeiten an der Gesamtarbeitszeit maßgebend (so auch Neumann ZTR 1987, 41, 44). Das ist mit den in § 12 TV-L enthaltenen Vorgaben nicht vereinbar. Erforderlich ist eine natürliche, keine juristische Betrachtungsweise.
37
(b) Soweit der Senat nach Inkrafttreten des 37. Tarifvertrags zur Änderung und Ergänzung des BAT (vom 17. März 1975, in Kraft getreten am 1. Januar 1975) in Anknüpfung an die Rechtsprechung vor Inkrafttreten des § 22 BAT idF vom 1. Januar 1975 (vgl. BAG 26. April 1966 – 1 AZR 36/65 – mwN) noch davon ausgegangen war, die Bildung eines einheitlichen Arbeitsvorgangs könne „aus Rechtsgründen“ nicht erfolgen, wenn dieser Teiltätigkeiten umfasse, die aufgrund ihrer Wertigkeit verschiedenen Vergütungsgruppen des BAT zugeordnet seien (vgl. BAG 12. August 1981 – 4 AZR 15/79 -; 5. Juli 1978 – 4 AZR 795/76 -; 19. April 1978 – 4 AZR 721/76 – BAGE 30, 229; allerdings ohne eigenständige Begründung), hat er hieran später nicht mehr festgehalten (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 25, BAGE 162, 81; 22. Februar 2017 – 4 AZR 514/16 – Rn. 34; 24. Februar 2016 – 4 AZR 485/13 – Rn. 18; 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 19, BAGE 146, 22, vgl. auch Rn. 53 ff.).
38
(5) Auch die Arbeitsvorgänge für die Tätigkeiten einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit sind anhand der vorgenannten Maßstäbe zu bestimmen.
39
(a) § 12 TV-L enthält eine für alle Tätigkeitsmerkmale geltende Grundregel. Die Vorschrift bezieht sich in Absatz 1 Satz 1 auf sämtliche Tätigkeitsmerkmale der Entgeltordnung und damit auch auf die besonderen Tätigkeitsmerkmale in Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO. Es bedürfte daher deutlicher Anhaltspunkte im Tarifvertrag, wenn die Tarifvertragsparteien hinsichtlich einzelner Tätigkeitsmerkmale im Bereich der Beschäftigten in Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften von § 12 Abs. 1 Satz 1 TV-L wieder hätten abweichen wollen (vgl. BAG 19. März 1986 – 4 AZR 642/84 – BAGE 51, 282). Solche sind nicht gegeben (so auch für die Eingruppierung einer Geschäftsstellenverwalterin nach Entgeltgruppe 9a TV EntgO Bund BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 25, BAGE 162, 81; vgl. zu den Tätigkeitsmerkmalen für Sozialarbeiter/Sozialpädagogen BAG 13. November 2013 – 4 AZR 53/12 – Rn. 26; 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 19, BAGE 146, 22; 21. August 2013 – 4 AZR 968/11 – Rn. 18).
40
(b) Eine von den allgemeinen Bestimmungen abweichende Regelung lässt sich insbesondere nicht aus dem Umstand ableiten, dass die Tarifvertragsparteien für die Grundtätigkeit einer „Beschäftigten in einer Serviceeinheit“ eine Funktionsbezeichnung gewählt und hinsichtlich des Heraushebungsmerkmals der „schwierigen Tätigkeit“ in der Protokollerklärung Nr. 3 zu Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO Beispiele aufgelistet haben.
41
(aa) Die Tarifvertragsparteien haben die Tätigkeit als Beschäftigte in einer Serviceeinheit zum Tätigkeitsmerkmal erhoben. Damit haben sie klargestellt, dass alle in dieser Funktion auszuübenden Tätigkeiten insgesamt einheitlich bewertet werden und als ein Arbeitsvorgang anzusehen sind, soweit sie nicht für bestimmte Tätigkeiten spezielle Tätigkeitsmerkmale geschaffen haben (vgl. BAG 24. Juni 1998 – 4 AZR 300/97 – zu 3 b der Gründe; 17. Januar 1996 – 4 AZR 662/94 -; zum Arzt BAG 10. Dezember 1997 – 4 AZR 39/96 -; 20. April 1983 – 4 AZR 375/80 – BAGE 42, 231; zum Geschäftsstellenverwalter BAG 14. August 1985 – 4 AZR 21/84 – BAGE 49, 250; 7. Dezember 1983 – 4 AZR 405/81 -). Nur auf die Zuweisung der nicht gesondert bewerteten Tätigkeiten bezieht sich demnach auch das Wort „ganzheitlich“ in der Protokollerklärung Nr. 2 zu Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO.
42
(bb) Durch diese Formulierung ist daher keine Aussage darüber getroffen, ob die „schwierigen Tätigkeiten“, die ggf. von einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit auszuüben sind, einem Arbeitsvorgang zuzurechnen sind oder – wie das beklagte Land meint – eigenständige Arbeitsvorgänge bilden. Das würde zu einer Bestimmung von Arbeitsvorgängen führen, die sich weder am Aufgabenkreis der Beschäftigten noch an den Arbeitsergebnissen orientiert. Allein aus der Auflistung von schwierigen Tätigkeiten in der Protokollerklärung Nr. 3 zu Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO lässt sich eine derart weitreichende Abweichung von den Grundprinzipien des § 12 TV-L nicht entnehmen (anders in der Bewertung ArbG Berlin 5. Juni 2019 – 60 Ca 13023/18 – zu II 1 f dd (2) (b) der Gründe). Gegen eine solche Annahme spricht im Übrigen, dass die Tarifvertragsparteien bereits mit dem Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung der Anlage 1a zum BAT vom 1. August 1967 – und damit bereits vor Änderung des § 22 BAT im Jahre 1975 (Rn. 33) – in der Protokollnotiz Nr. 26 Teil I eine zwar nicht wortgleiche, aber systematisch identische Aufzählung schwieriger Tätigkeiten von Geschäftsstellenverwaltern in die Vergütungsordnung aufgenommen haben. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff „Arbeitsvorgang“ noch nicht Inhalt des Tarifvertrags, so dass die Beispiele lediglich Einzeltätigkeiten darstellen konnten. Die unveränderte Übernahme dieser Regelungstechnik bei Einführung des Arbeitsvorgangs in § 22 BAT lässt daher ohne weitere Anhaltspunkte nicht den Schluss zu, jedes der Beispiele solle nunmehr etwas anderes, und zwar einen eigenen Arbeitsvorgang festlegen. Auch ist es bei der Bezeichnung als „Tätigkeit“ geblieben.
43
(cc) Bei den Beispielen handelt es sich demnach lediglich um die Auflistung von Einzeltätigkeiten, deren Wertigkeit die Tarifvertragsparteien verbindlich festlegen wollten. Sie haben damit ihre Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass die dort angeführten Tätigkeiten die tarifliche Anforderung der schwierigen Tätigkeit erfüllen (vgl. hierzu BAG 8. September 1999 – 4 AZR 609/98 – BAGE 92, 266; 20. März 1996 – 4 AZR 967/94 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 82, 252; 4. Mai 1988 – 4 AZR 728/87 – BAGE 58, 230).
44
bb) Diese Auslegung entspricht – anders als das beklagte Land meint – dem in den tariflichen Bestimmungen zum Ausdruck gekommenen Willen der Tarifvertragsparteien.
45
(1) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben (st. Rspr., BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 147/17 – Rn. 35, BAGE 164, 326; 1. August 2018 – 7 AZR 882/16 – Rn. 41; 22. März 2018 – 6 AZR 29/17 – Rn. 12, BAGE 162, 269; 21. März 2018 – 5 AZR 862/16 – Rn. 20, BAGE 162, 144).
46
(2) Die tariflichen Bestimmungen sollen eine Differenzierung zwischen verschiedenen Entgeltgruppen je nach Anteil der Arbeitsvorgänge an der Gesamtarbeitszeit ermöglichen, in denen qualifizierte (zB „schwierige“) Tätigkeiten zu erbringen sind. Die Tarifvertragsparteien haben jedoch nicht festgelegt, in welchem Maße diese Unterscheidung tatsächlich erfolgen soll. Sie haben die Umsetzung dieser Differenzierung vielmehr den durch den Arbeitgeber aufgrund seiner Organisationshoheit beeinflussbaren tatsächlichen Gegebenheiten überlassen.
47
(a) Bezugspunkt für die tarifliche Eingruppierung ist der Arbeitsvorgang (Rn. 27 ff.). Dadurch wurde das frühere Eingruppierungssystem abgelöst, in dem es nur auf die überwiegend auszuübende Tätigkeit ankam. Für die Eingruppierung einer Beschäftigten soll es – wie bereits ausgeführt (Rn. 32) – weder auf jede Einzeltätigkeit noch zwingend auf die Gesamttätigkeit ankommen. Nach den vereinbarten Tätigkeitsmerkmalen soll sich – wie im Streitfall bei den Tätigkeitsmerkmalen für Beschäftigte in Serviceeinheiten – eine unterschiedliche Vergütung ausschließlich aus verschieden hohen Anteilen an Arbeitsvorgängen mit heraushebenden oder qualifizierenden Merkmalen, zB „schwieriger Tätigkeit“, ergeben. Aus der gleichzeitigen Bezugnahme auf den Aufgabenkreis der Beschäftigten in Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L folgt jedoch auch, dass der Arbeitsvorgang nicht nach rein rechtlichen Kriterien wie der tariflichen Wertigkeit, sondern nach den konkret übertragenen Aufgaben und damit nach dem Aufgabeninhalt und der Organisation des jeweiligen Arbeitgebers zu bestimmen ist.
48
(b) Entscheidet sich der Arbeitgeber für eine kleinteiligere Aufgabenorganisation, in der bestimmte Aufgaben getrennt zugewiesen werden, liegen regelmäßig mehrere Arbeitsvorgänge vor. Weist er die Aufgaben hingegen umfassend zu, um einen flexibleren Arbeitseinsatz zu ermöglichen, sind die Arbeitsergebnisse weiter gefasst, was wiederum zu größeren Arbeitsvorgängen führt. Je nach Organisationsentscheidung des Arbeitgebers, die die Tarifvertragsparteien diesem überlassen haben, können verschiedene Entgeltgruppen eine geringere oder gar keine praktische Bedeutung erlangen (sh. auch LAG Berlin-Brandenburg 18. Februar 2020 – 7 Sa 1389/19 – zu 2.2.3.2.2.3 der Gründe; ArbG Mannheim 23. Januar 2020 – 8 Ca 226/19 – zu I 2 f aa der Gründe; aA ArbG Berlin 5. Juni 2019 – 60 Ca 13023/18 – zu II 1 f dd (2) (b) der Gründe). Soweit sich danach eine „Entwertung“ (so Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese TV-L Stand August 2020 Teil II § 12 Rn. 408) der Eingruppierungsstruktur ergeben sollte, wäre dies der Aufbau- und Ablauforganisation des Arbeitgebers geschuldet (BeckOK TV-L EntgO/Steuernagel Stand 1. Juni 2020 Teil II Nr. 12.1 Rn. 8).
49
(c) Entgegen der Auffassung des beklagten Landes hat ein weiter gehender Wille der Tarifvertragsparteien in den besonderen Tätigkeitsmerkmalen des Teils II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO über Beschäftigte in Serviceeinheiten keinen Niederschlag gefunden. Durch die Einfügung der Tätigkeitsmerkmale für „Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften“ haben die Tarifvertragsparteien diese neue Organisationsform aufgegriffen und es auch in diesem Bereich für grundsätzlich möglich gehalten, zwischen den Anteilen schwieriger Tätigkeiten zu differenzieren. Allein dies lässt jedoch keinen Rückschluss darauf zu, in welchem Umfang die jeweiligen Entgeltgruppen tatsächlich in den Gerichten und Staatsanwaltschaften besetzt sein sollen. Eine Regelung hierzu ist unterblieben. Die Häufigkeit der Eingruppierung in die unterschiedlichen Entgeltgruppen ist damit von der Organisation der jeweiligen Behörde abhängig, wie sich im Rückgriff aus Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L ergibt. Den Tätigkeitsmerkmalen lässt sich auch nicht entnehmen, die höchste Entgeltgruppe solle nur in Ausnahmefällen einschlägig sein. Deshalb wäre es entgegen der Auffassung des beklagten Landes (ähnlich auch LAG Berlin-Brandenburg 13. März 2020 – 2 Sa 1810/19 -) nicht ausgeschlossen, dass die überwiegende Anzahl der Beschäftigten Tätigkeiten ausübt, die die tariflichen Anforderungen dieser Entgeltgruppe erfüllen.
50
(3) Ein abweichendes Ergebnis lässt sich – anders als das beklagte Land meint – auch nicht aus einer etwaigen Tarifübung ableiten. Allein aus der schlichten Unterlassung der gerichtlichen Geltendmachung tariflicher Ansprüche kann noch nicht auf eine entsprechende Tarifübung geschlossen werden (BAG 9. Juli 1980 – 4 AZR 560/78 -). Zudem geht auch das beklagte Land davon aus, eine „Tarifübung“ habe nur „im Ergebnis“ bestanden. Die Bestimmung der Arbeitsvorgänge und deren Bewertung seien aber voneinander abgewichen, indem zT kleinteilige Arbeitsvorgänge angenommen und zT der Anteil schwieriger Tätigkeiten innerhalb des Arbeitsvorgangs als maßgebend erachtet worden sei. Daher fehlt es schon an einer einheitlichen tariflichen Handhabung, die von beiden Tarifvertragsparteien gebilligt worden wäre (zu diesem Erfordernis bereits BAG 4. Juni 1980 – 4 AZR 497/78 -).
51
(4) Weiterhin erlaubt die frühere Rechtsprechung des Senats und ihre mögliche Rezeption durch die Tarifvertragsparteien nicht den Schluss auf ein übereinstimmendes, abweichendes Tarifvertragsverständnis (so aber ArbG Berlin 28. August 2019 – 21 Ca 12765/18 – zu A II 3 c cc der Gründe). Eine in Kenntnis der Rechtsprechung erfolgte unveränderte Übernahme einer Tarifregelung in einen neuen Tarifvertrag kann zwar ein Indiz dafür sein, dass die Tarifvertragsparteien an dem Regelungsgehalt, den die Rechtsprechung der Bestimmung beimisst, festhalten wollen (BAG 3. Dezember 2019 – 9 AZR 95/19 – Rn. 34; 26. April 2017 – 4 AZR 331/16 – Rn. 21). Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unterlag indes einer Weiterentwicklung und Veränderung (so auch – kritisch – Fieberg ZTR 2020, 439, 440: „von Anfang an eine Tendenz eigenständiger Fortentwicklung“) und kann daher nicht mit dem von dem beklagten Land angenommenen Inhalt von den Tarifvertragsparteien in ihren Willen aufgenommen worden sein.
52
(a) Seit Einführung des Begriffs des Arbeitsvorgangs durch den 37. Tarifvertrag zur Änderung und Ergänzung des BAT (vom 17. März 1975) sieht der Senat den Arbeitsvorgang als einheitliche Rechtsgrundlage für die Vergütung aller Angestellten des öffentlichen Dienstes an (vgl. insbesondere BAG 12. August 1981 – 4 AZR 15/79 -; 8. Februar 1978 – 4 AZR 540/76 – BAGE 30, 32). Zur Bestimmung des Arbeitsvorgangs ist von Anfang an nicht auf die „kleinstmögliche abgrenzbare Einheit“ zurückgegriffen worden (BAG 7. Dezember 1977 – 4 AZR 399/76 – BAGE 29, 416; 22. November 1977 – 4 AZR 395/76 – BAGE 29, 364), so dass Arbeitsvorgänge „auch größeren Umfangs“ angenommen worden sind (BAG 8. Februar 1978 – 4 AZR 540/76 – aaO). Bereits seit der Entscheidung vom 31. März 1982 (- 4 AZR 1099/79 – BAGE 38, 221) geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es grundsätzlich rechtlich möglich ist, die gesamte Tätigkeit eines Beschäftigten als einen Arbeitsvorgang anzusehen (vgl. beispielhaft BAG 10. Dezember 2014 – 4 AZR 773/12 – Rn. 19; 22. September 2010 – 4 AZR 149/09 – Rn. 17; 23. September 2009 – 4 AZR 308/08 – Rn. 20; 14. Dezember 1994 – 4 AZR 950/93 -; 18. Mai 1994 – 4 AZR 461/93 – zu B II 2 a der Gründe).
53
(b) Soweit der Senat bei der Bestimmung der Arbeitsvorgänge zunächst davon ausgegangen ist, Teiltätigkeiten, die aufgrund ihrer Wertigkeit verschiedenen Vergütungsgruppen des BAT zuzuordnen seien, könnten nicht zu einem Arbeitsvorgang zusammengefasst werden (zB BAG 5. Juli 1978 – 4 AZR 795/76 -; 19. April 1978 – 4 AZR 721/76 – BAGE 30, 229), hat er diese Annahme in der Folgezeit weitgehenden Einschränkungen unterworfen und schließlich aufgegeben.
54
(aa) Diese Annahme sollte nur Geltung beanspruchen, soweit die Tätigkeiten „nach tatsächlichen Gesichtspunkten abgrenzbar“ seien (BAG 10. Juni 1981 – 4 AZR 1164/78 -; in späteren Entscheidungen „tatsächlich trennbar“, vgl. zB BAG 20. März 1991 – 4 AZR 471/90 -; 19. März 1986 – 4 AZR 642/84 – BAGE 51, 282; 14. August 1985 – 4 AZR 21/84 – BAGE 49, 250; 2. Dezember 1981 – 4 AZR 347/79 – BAGE 37, 181; 24. August 1983 – 4 AZR 302/83 – BAGE 43, 250). Tätigkeiten, die aufgrund ihres „inneren Zusammenhangs“ oder unter Berücksichtigung einer vernünftigen Verwaltungsübung nicht tatsächlich trennbar seien, könnten auch bei unterschiedlicher Wertigkeit einheitlich als Arbeitsvorgang bewertet werden (zB BAG 20. Oktober 1993 – 4 AZR 45/93 -; 28. Juni 1989 – 4 AZR 287/89 -; 16. Oktober 1985 – 4 AZR 149/84 – BAGE 50, 9). Nachfolgend sind weitere inhaltlich erhebliche Einschränkungen erfolgt, allerdings unter Beibehaltung des früheren Obersatzes („Tätigkeiten mit unterschiedlicher tariflicher Wertigkeit können nicht zu einem Arbeitsvorgang zusammengefasst werden“; zB BAG 25. Januar 2012 – 4 AZR 264/10 – Rn. 36, BAGE 140, 311; 19. Mai 2010 – 4 AZR 912/08 -; 28. Januar 2009 – 4 AZR 13/08 – Rn. 45, BAGE 129, 208; 5. November 2003 – 4 AZR 689/02 – zu 1 d bb (1) der Gründe, BAGE 108, 245; 20. März 1996 – 4 AZR 967/94 – zu II 2 c der Gründe, BAGE 82, 252). Der Senat hat bei Tätigkeiten, deren Schwierigkeitsgrad sich erst im Laufe der Bearbeitung herausstellt, unabhängig von der tariflichen Wertigkeit einen einheitlichen Arbeitsvorgang angenommen (BAG 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 18, BAGE 146, 22; 21. März 2012 – 4 AZR 266/10 – Rn. 29; 7. Juli 2004 – 4 AZR 507/03 – zu I 4 c der Gründe, BAGE 111, 216; 20. März 1996 – 4 AZR 967/94 – aaO) und dabei betont, dass ein Arbeitsvorgang durchaus Tätigkeiten verschiedener Anforderungen in sich vereinen kann (BAG 20. März 1996 – 4 AZR 1052/94 – zu II 2 c der Gründe, BAGE 82, 272; 20. März 1996 – 4 AZR 967/94 – aaO). Zudem wurde nicht mehr die Trennbarkeit der Tätigkeiten, sondern deren tatsächliche Trennung im Rahmen der durch den Arbeitgeber vorgegebenen Organisation für maßgebend erachtet (zB BAG 21. August 2013 – 4 AZR 933/11 – Rn. 14, aaO; 21. März 2012 – 4 AZR 266/10 – Rn. 29; 23. September 2009 – 4 AZR 308/08 – Rn. 24; 7. Juli 2004 – 4 AZR 507/03 – aaO).
55
(bb) Schließlich hat der Senat diese Rechtsprechung insgesamt aufgegeben. Bereits in einer Entscheidung vom 9. Mai 2007 ist er für Tarifverträge der Privatwirtschaft (- 4 AZR 757/06 – Rn. 36, BAGE 122, 244) davon ausgegangen, es seien zunächst Einzel- oder Gesamttätigkeiten zu bestimmen und diese erst im Anschluss tariflich zu bewerten. Auch in einem Urteil vom 6. Juli 2011 (- 4 AZR 568/09 – Rn. 58) zu § 15 Abs. 2 des zwischen der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und dem Marburger Bund geschlossenen Tarifvertrags für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der VKA vom 17. August 2006 (TV-Ärzte/VKA), der inhaltlich § 12 Abs. 1 Sätze 3 bis 8 TV-L entspricht, hat der Senat die Rechtsauffassung vertreten, es seien zunächst Arbeitsvorgänge zu bestimmen, die auf ihre tarifliche Wertigkeit hin zu untersuchen seien. Seit den Entscheidungen vom 21. August 2013 (- 4 AZR 933/11 – Rn. 19, BAGE 146, 22; – 4 AZR 968/11 – Rn. 18) entspricht es der nunmehr ständigen Rechtsprechung des Senats, dass erst der Arbeitsvorgang ohne Berücksichtigung der tariflichen Wertigkeit der Tätigkeiten zu bestimmen und dann zu bewerten ist. Zudem wird einheitlich nicht auf die theoretische Trennbarkeit von Tätigkeiten, sondern die tatsächliche Arbeitsorganisation des Arbeitgebers abgestellt (vgl. zB BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 25, BAGE 162, 81; 22. Februar 2017 – 4 AZR 514/16 – Rn. 34; 24. Februar 2016 – 4 AZR 485/13 – Rn. 18; 13. Mai 2015 – 4 AZR 355/13 – Rn. 16; ungenau allerdings 18. März 2015 – 4 AZR 59/13 – Rn. 17 f., BAGE 151, 50; 13. November 2013 – 4 AZR 53/12 – Rn. 17).
56
(c) Aufgrund dieser Entwicklung war für die Tarifvertragsparteien erkennbar, dass zunehmend größere Arbeitsvorgänge mit Tätigkeiten auch unterschiedlicher Wertigkeit angenommen wurden. Hätte dies dem Willen der Tarifvertragsparteien entgegengestanden, wäre eine tarifvertragliche Klarstellung ihrerseits bei Übernahme der Tätigkeitsmerkmale für die Beschäftigten in Serviceeinheiten in die am 1. Januar 2012 in Kraft getretene Entgeltordnung zum TV-L, spätestens aber nach vollständiger Aufgabe dieser Rechtsprechung im Jahr 2013 zu erwarten gewesen. Eine solche ist aber unterblieben. Sie kann nicht stattdessen durch die Rechtsprechung vorgenommen werden (so aber im Ergebnis LAG Berlin-Brandenburg 21. Juli 2020 – 8 Sa 330/20 -; 3. Juni 2020 – 17 Sa 62/20 -).
57
(5) Aus der Niederschriftserklärung Nr. II. 1. („Arbeitsvorgang (§ 12 TV-L)“) der Tarifvertragsparteien des TV-L anlässlich der Tarifeinigung vom 2. März 2019 ergibt sich nicht, dass die bisherige Auslegung der Eingruppierungsregelungen mit deren Willen nicht vereinbar wäre. Nach der Erklärung wollen die Tarifvertragsparteien „zur Sicherstellung einer differenzierten Eingruppierung anhand des zeitlichen Umfangs, in dem eine bestimmte Anforderung (z. B. Schwierigkeit, Verantwortung) innerhalb der auszuübenden Tätigkeiten erfüllt sein muss (Hierarchisierung), … unmittelbar … Gespräche aufnehmen“. Die Erklärung bringt lediglich zum Ausdruck, dass die Tarifvertragsparteien beabsichtigen, den Tarifvertrag an geänderte Umstände anzupassen. Darüber hinaus könnte die Niederschriftserklärung, selbst wenn ihr – wie es etwa die Vorinstanz meint – ein anderer Wille zu entnehmen wäre, allenfalls dann als Auslegungshilfe dienen, wenn sie im Tarifvertrag Niederschlag gefunden hätte (BAG 10. April 2013 – 5 AZR 97/12 – Rn. 15 mwN, BAGE 145, 1). Das ist – wie dargelegt – nicht der Fall.
58
cc) In Anwendung dieser Grundsätze bilden sämtliche der Klägerin übertragenen Tätigkeiten einen einheitlichen Arbeitsvorgang. Die gesamte Tätigkeit dient dem Arbeitsergebnis der Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens.
59
(1) Der Begriff des Arbeitsvorgangs unterliegt als feststehender, abstrakter und den Parteien vorgegebener Rechtsbegriff in vollem Umfang der Überprüfung durch das Revisionsgericht, das bei Vorliegen der erforderlichen Tatsachenfeststellungen die Arbeitsvorgänge auch selbst bestimmen kann (BAG 28. Februar 2018 – 4 AZR 816/16 – Rn. 26 mwN, BAGE 162, 81).
60
(2) Postbearbeitung und Schriftgutverwaltung, die Fertigung von Inhalts- und Maschinenprotokollen, die Erledigung der Verfügungen der jeweiligen Sachbearbeiter sowie die unterschriftsreife Vorbereitung von Verfügungen, Urteilen und Beschlüssen inklusive der Mitteilungen an andere Behörden (auch an das Bundeszentralregister, Gewerbezentralregister und Kraftfahrtbundesamt), die Anordnung von Ladungen und Zustellungen, das Erteilen vollstreckbarer Ausfertigungen, von Teilrechtskraft- und Rechtskraftattesten, die Aufgaben der Kostenbeamtin, die Beantwortung von Sachstandsanfragen und Auskunftsersuchen formeller Art, die Mitwirkung bei der Überwachung von Auflagen und Weisungen nach § 153a Abs. 1 StPO und dem JGG sowie nach § 453b StPO und der Gnadenordnung und die Überwachung von Zahlungen bei der Vollstreckung von Geldstrafen dienen, bezogen auf den Aufgabenkreis der Klägerin, einem Arbeitsergebnis. Bei natürlicher Betrachtung ist dieses nicht jeweils die Erledigung der einzelnen anfallenden Aufgaben, sondern die vollständige Bearbeitung der Aktenvorgänge. Diese Tätigkeiten – und nicht die in der BAK aufgeführten Einzelaufgaben – sind der Klägerin nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts einheitlich im Rahmen des Konzepts der Serviceeinheiten zur Erledigung übertragen worden und stehen zueinander in einem engen inneren Zusammenhang. Die Einzelaufgaben werden von ihr je nach Arbeitsanfall unter Anwendung bereits erworbener Kenntnisse über den Akteninhalt insgesamt ausgeführt. Sie dienen damit dem Ergebnis der Erledigung eines Verfahrens. Diesem Arbeitsergebnis sind Aussonderung, Datenpflege und Aufgaben der Zählkartenanordnung als Zusammenhangsarbeiten zuzuordnen. Sie sind erforderlich, um die Aktenbearbeitung organisieren und strukturiert durchführen zu können. Die dabei zu verrichtenden Tätigkeiten sind hinsichtlich der einzelnen Akten gleichartig und wiederkehrend. Sie können daher zu einem Arbeitsvorgang zusammenfasst werden.
61
(3) Entgegen der Auffassung des beklagten Landes und des Arbeitsgerichts ist nicht deshalb von mehreren Arbeitsvorgängen auszugehen, weil die Bearbeitung der Akte und damit die Tätigkeit der Klägerin durch Eingänge und Verfügungen sachbearbeitender Richter oder Rechtspfleger „unterbrochen“ wird und daher in mehreren Teilschritten erfolgt. Dies ändert nichts an der einheitlichen Zuweisung der gesamten Aktenbearbeitung an die Klägerin, deren Erledigung erst zu einem Arbeitsergebnis im Tarifsinn führt. Zur Erzielung des Arbeitsergebnisses ist nicht erforderlich, dass alle hierfür notwendigen Teilschritte ohne Unterbrechung und zwingend unmittelbar nacheinander ausgeführt werden. Die durch Richter oder Rechtspfleger vorgenommenen Arbeitsschritte sind der Klägerin nicht zugewiesen und daher für die Bestimmung des Arbeitsergebnisses und des Arbeitsvorgangs ohnehin nicht von Bedeutung.
62
d) Bei der innerhalb dieses Arbeitsvorgangs auszuübenden Tätigkeit handelt es sich um die einer Beschäftigten in Serviceeinheiten iSd. Entgeltgruppe 9 Fallgruppe 2 TV-L aF, die sich dadurch aus der Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 2 TV-L aF heraushebt, dass sie schwierig ist.
63
aa) Die Klägerin ist Beschäftigte in einer Serviceeinheit iSd. Protokollerklärung Nr. 2 zu Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO. Sie hat eine Ausbildung zur Justizfachangestellten erfolgreich abgeschlossen und bearbeitet in einer durch das beklagte Land eingerichteten Serviceeinheit ganzheitlich Aufgaben einer Justizfachangestellten (vgl. hierzu die Anlage zu § 4 der Verordnung über die Berufsausbildung zum Justizfachangestellten/zur Justizfachangestellten vom 26. Januar 1998).
64
bb) Im Rahmen des einheitlichen Arbeitsvorgangs fallen schwierige Tätigkeiten in rechtserheblichem Ausmaß an. Der maßgebende Arbeitsvorgang umfasst zeitlich mindestens die Hälfte der Arbeitszeit (§ 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L) der Klägerin. Sie kann daher eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TV-L aF beanspruchen.
65
(1) Bei der Bewertung eines Arbeitsvorgangs ist es zur Erfüllung einer qualifizierenden tariflichen Anforderung, hier der „schwierigen Tätigkeit“, ausreichend, wenn diese innerhalb des Arbeitsvorgangs in rechtlich erheblichem Ausmaß vorliegt. Nicht erforderlich ist, dass innerhalb eines Arbeitsvorgangs schwierige Tätigkeiten ihrerseits in dem von § 12 Abs. 1 Satz 4, Satz 7 TV-L bestimmten Maß anfallen (grdl. BAG 19. März 1986 – 4 AZR 642/84 – BAGE 51, 282; seither st. Rspr., etwa BAG 22. Februar 2017 – 4 AZR 514/16 – Rn. 41; 22. April 2009 – 4 AZR 166/08 – Rn. 27; 18. Mai 1994 – 4 AZR 461/93 – zu B II 2 der Gründe).
66
(a) Nach § 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L beziehen sich die erforderlichen zeitlichen Anteile auf die Arbeitsvorgänge, nicht auf die Arbeitsleistungen oder Einzeltätigkeiten. Nur hierauf und gerade nicht auf die Gesamttätigkeit nimmt § 12 Abs. 1 Satz 7 TV-L Bezug (anders ArbG Berlin 28. August 2019 – 21 Ca 12765/18 – zu II 3 c aa der Gründe). Das in Satz 2 der Nr. 1 der Protokollerklärungen zu § 12 Abs. 1 TV-L vereinbarte Aufspaltungsverbot gestattet es nicht, einen Arbeitsvorgang nach Teiltätigkeiten unterschiedlicher Wertung aufzuspalten. Die Bewertung erfolgt einheitlich (BAG 13. Mai 2015 – 4 AZR 355/13 – Rn. 43; 25. Januar 2012 – 4 AZR 264/10 – Rn. 48, BAGE 140, 311; 28. Juni 1989 – 4 AZR 287/89 -).
67
(b) Der Umstand, dass in Anwendung der tariflichen Regelungen ein zu 100 vH schwierige Tätigkeiten erfordernder Arbeitsvorgang, der 49 vH der Arbeitszeit ausmacht, für eine Eingruppierung in Entgeltgruppe 9a TV-L nicht ausreicht, wohl aber ein mindestens 50 vH der Arbeitszeit in Anspruch nehmender Arbeitsvorgang, der nur zu weniger als der Hälfte schwierige Tätigkeiten erfordert, ändert daran nichts. Das ist die Folge daraus, dass die Tarifvertragsparteien den Arbeitsvorgang und nicht die Arbeitszeit als Bezugsgröße für die Bewertung der Tätigkeit festgelegt haben (BAG 20. Oktober 1993 – 4 AZR 45/93 – zu III 3 b bb der Gründe).
68
(c) Mangels Festlegung eines notwendigen zeitlichen Anteils einer höherwertigen Tätigkeit innerhalb des Arbeitsvorgangs durch die Tarifvertragsparteien ist auf den kleinsten relevanten Anteil, mithin das „rechtlich erhebliche Ausmaß“, abzustellen (so bereits BAG 19. März 1986 – 4 AZR 642/84 – BAGE 51, 282). Ein solches ist jedenfalls erreicht, wenn ohne die Tätigkeit ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis nicht erzielt werden kann (vgl. zu selbständigen Leistungen BAG 21. März 2012 – 4 AZR 266/10 – Rn. 43 sowie 25. Januar 2012 – 4 AZR 264/10 – Rn. 49, BAGE 140, 311). Die tariflichen Vorschriften gelten gleichermaßen für jeden Arbeitsvorgang. Anhaltspunkte für eine einschränkende Auslegung im Falle eines einzigen großen Arbeitsvorgangs bestehen nicht (aA LAG Berlin-Brandenburg 21. Juli 2020 – 8 Sa 330/20 -; 3. Juni 2020 – 17 Sa 62/20 – zu II 2 b bb (2) der Gründe).
69
(d) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts können die tariflichen Regelungen deshalb nicht dahingehend ausgelegt werden, „dass auch innerhalb des Arbeitsvorgangs das Heraushebungsmerkmal der schwierigen Tätigkeit entsprechend der prozentualen Vorgaben der Tarifvertragsparteien vorliegen muss“ (so im Ergebnis auch LAG Berlin-Brandenburg 3. Juni 2020 – 17 Sa 62/20 – zu II 2 b bb (2) der Gründe; 21. Juli 2020 – 8 Sa 330/20 -). Eine Anpassung des TV-L könnte nur durch eine den Tarifvertragsparteien vorbehaltene Änderung erfolgen (dazu ausf. BAG 25. Januar 2012 – 4 AZR 147/10 – Rn. 32 mwN, BAGE 140, 291).
70
(2) Gemessen an diesen Grundsätzen übt die Klägerin mindestens zur Hälfte der ihr übertragenen Tätigkeit schwierige Tätigkeiten iSd. Entgeltgruppe 9 TV-L aF aus.
71
(a) Die Anordnung von Ladungen und Zustellungen, das Erteilen vollstreckbarer Ausfertigungen sowie von Rechtskraftzeugnissen, die Aufgaben der Zählkartenanordnung und die Mitteilungen an das Bundeszentralregister, Gewerbezentralregister und das Kraftfahrtbundesamt, die Aufgaben der Kostenbeamtin, die Mitwirkung bei der Überwachung von Auflagen und Weisungen nach § 153a Abs. 1 StPO und dem JGG sowie nach § 453b StPO und der Gnadenordnung sowie die Überwachung von Zahlungen bei der Vollstreckung von Geldstrafen, die unterschriftsreife Vorbereitung von Verfügungen, Urteilen und Beschlüssen für den jeweiligen Sachbearbeiter und die Beantwortung von Sachstandsanfragen und Auskunftsersuchen formeller Art sind nach der Protokollerklärung Nr. 3 Buchst. a, b, c, e, f, g, h zu Teil II Abschnitt 12.1 TV-L EntgeltO schwierige Tätigkeiten im Sinne des Tarifmerkmals. Der Anteil dieser Tätigkeiten an der von der Klägerin auszuübenden Gesamtarbeitszeit beträgt 25,17 vH.
72
(b) Damit fallen schwierige Tätigkeiten innerhalb des die gesamte Arbeitszeit ausmachenden Arbeitsvorgangs in rechtlich erheblichem Ausmaß an. Ohne diese kann ein sinnvoll verwertbares Arbeitsergebnis im Hinblick auf den Zuschnitt der auszuübenden Tätigkeiten nicht erzielt werden, die Aktenbearbeitung wäre unvollständig. Das zeitliche Ausmaß ist mit etwa 25 vH des einheitlichen Arbeitsvorgangs auch rechtserheblich.
73
e) Die Klägerin hat ihre Ansprüche mit Schreiben vom 13. August 2018 rechtzeitig im Sinne des § 37 Abs. 1 TV-L geltend gemacht.
74
4. Zum 1. Januar 2019 ist die Klägerin, da ihre Tätigkeit unverändert geblieben ist, gemäß § 29b Abs. 3 Satz 1 TVÜ-Länder in Entgeltgruppe 9a TV-L übergeleitet worden. Seit diesem Zeitpunkt ist das beklagte Land zur Zahlung dieser Vergütung verpflichtet.
75
5. Der Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 BGB iVm. § 24 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 TV-L.
76
III. Das beklagte Land hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Treber
Rinck
Klug
A. Wedepohl
Th. Hess |
bag_31-19 | 16.10.2019 | 16.10.2019
31/19 - Bürgenhaftung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz
Nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, für dessen Verpflichtung zur Zahlung des Mindestentgelts an seine Arbeitnehmer wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat. Dieser Haftung unterliegen allerdings nicht Unternehmer, die lediglich als bloße Bauherren eine Bauleistung in Auftrag geben.
Die Beklagte hat auf einem ihr gehörenden Grundstück in Berlin ein Einkaufszentrum errichten lassen, das sie verwaltet und in dem sie Geschäftsräume an Dritte vermietet. Für den Bau des Gebäudes beauftragte sie einen Generalunternehmer, der mehrere Subunternehmer einschaltete. Bei einem dieser Subunternehmer war der Kläger als Bauhelfer beschäftigt. Dieser Subunternehmer blieb ihm – trotz rechtskräftiger Verurteilung in einem Arbeitsgerichtsprozess – Lohn schuldig. Über das Vermögen des Generalunternehmers wurde zwischenzeitlich das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger hat deshalb wegen des ihm für seine Arbeit auf der Baustelle des Einkaufszentrums noch zustehenden Nettolohns die Beklagte in Anspruch genommen und gemeint, auch die Beklagte hafte nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz als Unternehmerin für die Lohnschulden eines Subunternehmers. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte unterliegt als bloße Bauherrin nicht der Bürgenhaftung des Unternehmers nach § 14 Arbeitnehmer-Entsendegesetz* (AEntG). Der Begriff des Unternehmers ist im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Vorgängerregelung in § 1a AEntG aF nach dem vom Gesetzgeber mit dieser Bestimmung verfolgten Sinn und Zweck einschränkend auszulegen. Erfasst wird nur der Unternehmer, der sich zur Erbringung einer Werk- oder Dienstleistung verpflichtet hat und diese nicht mit eigenen Arbeitskräften erledigt, sondern sich zur Erfüllung seiner Verpflichtung eines oder mehrerer Subunternehmer bedient. Gibt er auf diese Weise die Beachtung der zwingenden Mindestarbeitsbedingungen aus der Hand, ist es gerechtfertigt, ihm die Haftung für die Erfüllung der Mindestlohnansprüche der auch in seinem Interesse auf der Baustelle eingesetzten Arbeitnehmer aufzuerlegen. Dies trifft auf die Beklagte nicht zu. Sie hat lediglich als Bauherrin den Auftrag zur Errichtung eines Gebäudes für den betrieblichen Eigenbedarf an einen Generalunternehmer erteilt und damit nicht die Erfüllung eigener Verpflichtungen an Subunternehmer weitergegeben. Mit der Vergabe des Bauauftrags schaffte sie nur die Grundlage dafür, ihrem Geschäftszweck, der Vermietung und Verwaltung des Gebäudes, nachgehen zu können.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Oktober 2019 – 5 AZR 241/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Januar 2018 – 21 Sa 1231/17 –
*§ 14 AEntG lautet:
§ 14 Haftung des Auftraggebers
Ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, haftet für die Verpflichtungen dieses Unternehmers, eines Nachunternehmers oder eines von dem Unternehmer oder einem Nachunternehmer beauftragten Verleihers zur Zahlung des Mindestentgelts an Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen oder zur Zahlung von Beiträgen an eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 8 wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat. Das Mindestentgelt im Sinne des Satzes 1 umfasst nur den Betrag, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen Sicherung an Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen auszuzahlen ist (Nettoentgelt). | Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 25. Januar 2018 – 21 Sa 1231/17 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Die in § 14 AEntG angeordnete Bürgenhaftung verlangt eine besondere Verantwortungsbeziehung zwischen Auftraggeber und Nachunternehmer. Eine solche liegt nicht vor, wenn ein Bauherr den Auftrag zur Errichtung eines Gebäudes an einen Generalunternehmer vergibt, um das zu errichtende Gebäude zu vermieten und zu verwalten.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Zahlung von Nettoarbeitsentgelt aus Bürgenhaftung nach § 14 AEntG.
2
Die Beklagte, deren Geschäftszweck die Verwaltung und Vermietung von Gebäuden ist, hat zusammen mit einer weiteren Gesellschaft in den Jahren 2011 bis 2014 ein Einkaufszentrum errichten lassen. Dieses besteht aus zwei Gebäudekomplexen, die sich über zwei Grundstücke erstrecken, von denen eines im Eigentum der Beklagten steht. Mit der Errichtung wurde eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus der B GmbH (iF B GmbH) und der F GmbH (iF F GmbH), beauftragt. Nachdem im Jahr 2013 über das Vermögen der B GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, hat die F GmbH das Bauvorhaben als alleinige Generalunternehmerin fortgeführt. Weitere Subunternehmen, darunter die O GmbH (iF O GmbH), wurden beauftragt. Dann wurde auch über das Vermögen der F GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet.
3
Der Kläger hat zunächst von seiner Arbeitgeberin, der O GmbH, Vergütung für die Zeit von August bis Oktober 2014 verlangt. Aus einem rechtskräftigen Versäumnisurteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. Juni 2016 (- 3 Sa 2005/15 -) über einen Bruttobetrag von 5.372,40 Euro abzüglich gezahlter 200,00 Euro netto hat der Kläger von der O GmbH keine Zahlung erlangen können.
4
Mit der vorliegenden Klage fordert der Kläger von der Beklagten die Zahlung von Nettoarbeitsentgelt aus Bürgenhaftung nach § 14 AEntG für die Zeit vom 1. August bis zum 1. Oktober 2014. Er habe vom 25. April bis zum 1. Oktober 2014 in einem Arbeitsverhältnis mit der O GmbH gestanden, sei auf der Baustelle des Einkaufszentrums als Bauhelfer tätig und schwerpunktmäßig auf dem Grundstück der Beklagten eingesetzt gewesen. Die O GmbH sei von der F GmbH als Subunternehmerin beauftragt worden. Er habe in diesem Zeitraum insgesamt 484 Stunden gearbeitet, wofür ihm der tarifliche Mindestlohn im Baugewerbe in Höhe von 11,10 Euro brutto/Stunde zustehe, mithin ein Gesamtbetrag von 5.372,40 Euro brutto. Erhalten habe er lediglich 200,00 Euro netto. Die Klageforderung errechnet der Kläger unter Abzug der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung nach den im Jahr 2014 geltenden Beitragssätzen. Lohnsteuer sei nicht in Abzug zu bringen.
5
Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weiteren Lohn iHv. insgesamt 4.133,51 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.
6
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Als Bauherrin unterliege sie nicht der Bürgenhaftung aus § 14 AEntG.
7
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger kann die Beklagte nicht aufgrund der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 14 AEntG aus Bürgenhaftung für das Nettoarbeitsentgelt in Anspruch nehmen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Daher ist auch die Revision zurückzuweisen.
9
I. Die Klage ist zulässig.
10
1. Die Klage ist hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der Kläger fordert für den Zeitraum vom 1. August bis zum 1. Oktober 2014 einen konkreten Betrag als Nettoarbeitsentgelt für insgesamt 484 Stunden von ihm geleisteter Arbeit. Die Klage ist für den streitbefangenen Zeitraum als abschließende Gesamtklage zu verstehen (vgl. BAG 27. März 2019 – 5 AZR 94/18 – Rn. 13).
11
2. Der Bestimmtheit der Nettolohnklage steht nicht entgegen, dass der Kläger nicht im Einzelnen die zur schlüssigen Begründung der Klage erforderlichen, für den Tag des Zuflusses des Arbeitsentgelts geltenden Besteuerungsmerkmale dargelegt hat. § 14 AEntG enthält eine Sonderregelung, die eine Nettolohnklage in Höhe der sich im Jahr des Tätigwerdens ergebenden Vergütung zulässt (vgl. zu § 1a AEntG aF BAG 12. Januar 2005 – 5 AZR 617/01 – zu I 3 der Gründe, BAGE 113, 149).
12
II. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus § 14 AEntG, denn diese ist kein Unternehmer im Sinne der Norm. Der Begriff des Unternehmers ist im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Vorgängerregelung in § 1a AEntG aF einschränkend auszulegen. Erfasst wird nur der Unternehmer, der sich zur Erbringung einer Werk- oder Dienstleistung verpflichtet hat und diese nicht mit eigenen Arbeitskräften erledigt, sondern sich zur Erfüllung seiner Verpflichtung eines oder mehrerer Subunternehmer bedient.
13
1. Nach § 14 Satz 1 AEntG haftet ein Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, für die Verpflichtungen dieses Unternehmers, eines Nachunternehmers oder eines von dem Unternehmer oder einem Nachunternehmer beauftragten Verleihers zur Zahlung des Mindestentgelts an einen Arbeitnehmer wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat. Nach § 14 Satz 2 AEntG umfasst das Mindestentgelt iSd. Satzes 1 nur den Betrag, der nach Abzug der Steuern und der Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung oder entsprechender Aufwendungen zur sozialen Sicherung an Arbeitnehmer auszuzahlen ist (Nettoentgelt).
14
2. Eine Legaldefinition des Unternehmerbegriffs enthält § 14 Satz 1 AEntG nicht. Der Begriff ist daher durch Auslegung zu bestimmen.
15
a) Maßgebend für die Gesetzesauslegung ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Regelung hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte. Unter diesen Methoden hat keine unbedingten Vorrang. Welche Regelungskonzeption der Gesetzgeber mit dem von ihm gefundenen Wortlaut tatsächlich verfolgt, ergibt sich uU erst aus den anderen Auslegungsgesichtspunkten. Wird daraus der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar, ist dieser zu achten (vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 ua. – Rn. 74 f., BVerfGE 149, 126; BAG 7. Februar 2019 – 6 AZR 75/18 – Rn. 16 mwN).
16
b) Der Wortlaut des § 14 Satz 1 AEntG spricht nicht für eine Einschränkung des Unternehmerbegriffs. Auch die amtliche Überschrift der Norm – Haftung des Auftraggebers – erzwingt eine solche nicht. Verstünde man jedoch Überschrift und Gesetzestext wörtlich, träfe die Haftung jeden Unternehmer, der Leistungen von einem anderen Unternehmen bezieht. Dies würde selbst dann gelten, wenn an der Abwicklung des Auftrags nur zwei Unternehmen beteiligt wären (vgl. Moll/Päßler/Reich MDR 2015, 125, 130; Bayreuther DB 2011, 706, 707; insbesondere wegen des Wortlauts eine einschränkende Auslegung ablehnend Koberski/Asshoff/Eustrup/Winkler AEntG 3. Aufl. § 14 Rn. 18 f.).
17
c) Der Wortlaut allein ist indessen nicht maßgeblich, vielmehr ist auch der Zweck der Norm in den Blick zu nehmen. Nach dem vom Gesetzgeber verfolgten Sinn und Zweck hat das Bundesarbeitsgericht bereits die in der Zeit vom 1. Januar 1999 bis zum 30. Juni 2007 geltende Vorgängerregelung in § 1a AEntG aF einschränkend ausgelegt.
18
aa) In diesem Zeitraum war die gesetzlich angeordnete Bürgenhaftung (vgl. zur Abgrenzung von der bestellten Bürgschaft iSv. § 401 Abs. 1 BGB BAG 8. Dezember 2010 – 5 AZR 95/10 – Rn. 14, BAGE 136, 263) dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Beauftragung Dritter mit der Erbringung von Bauleistungen iSd. § 211 Abs. 1 SGB III aF als Anknüpfungspunkt für den Haftungstatbestand festlegte. Nach der Gesetzesbegründung sollte mit § 1a AEntG aF eine Haftung des Generalunternehmers eingeführt werden. Er sollte darauf achten, dass seine Subunternehmer die nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz zwingenden Arbeitsbedingungen einhalten (vgl. BT-Drs. 14/45 S. 17 f.). In Übereinstimmung damit ging die Bundesregierung davon aus, dass die Generalunternehmer künftig verstärkt Aufträge an zuverlässige kleine und mittlere Unternehmen vergeben würden, von denen sie wüssten, dass sie die gesetzlichen Bestimmungen einhielten (vgl. Plenarprotokoll 14/14 Verhandlung des Deutschen Bundestags vom 10. Dezember 1998 S. 868 D). Die Durchgriffshaftung treffe die Generalunternehmer, die wüssten, dass die von den Nachunternehmern angebotenen Preise mit vernünftigen Arbeitsbedingungen überhaupt nicht zu erbringen seien. Die Norm richte sich gegen Schmutzkonkurrenz und diene damit dem Schutz kleiner Betriebe, die in der Vergangenheit vom Markt gedrängt worden seien (vgl. Plenarprotokoll 14/14 aaO S. 877 C, D).
19
bb) Der Gesetzgeber wollte daher ersichtlich nicht jeden Unternehmer iSv. § 14 Abs. 1 BGB, der eine Bauleistung in Auftrag gibt, in den Geltungsbereich des § 1a AEntG aF einbeziehen. Ziel des Gesetzes war es vielmehr, Bauunternehmer, die sich verpflichtet haben, ein Bauwerk zu errichten, und dies nicht mit eigenen Arbeitskräften erledigen, sondern sich zur Erfüllung ihrer Verpflichtung eines oder mehrerer Subunternehmen bedienen, als Bürgen haften zu lassen, damit sie letztlich im eigenen Interesse verstärkt darauf achten, dass die Nachunternehmer die nach § 1 AEntG geltenden zwingenden Arbeitsbedingungen einhalten. Da diesen Bauunternehmen der wirtschaftliche Vorteil der Beauftragung von Nachunternehmern zugutekam, sollten sie für die Lohnforderungen der dort beschäftigten Arbeitnehmer nach § 1a AEntG aF einstehen (vgl. BAG 16. Mai 2012 – 10 AZR 190/11 – Rn. 16 f., BAGE 141, 299; 28. März 2007 – 10 AZR 76/06 – Rn. 12 f.; 12. Januar 2005 – 5 AZR 617/01 – zu III 2 b aa und bb der Gründe, BAGE 113, 149).
20
cc) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts trafen diese Gesetzesziele des § 1a AEntG aF nicht auf andere Unternehmer zu, die als Bauherren eine Bauleistung in Auftrag geben. Diese Unternehmer beschäftigen keine eigenen Bauarbeitnehmer. Sie beauftragen auch keine Subunternehmer, die für sie eigene Leistungspflichten erfüllen. Bauherren fielen daher nicht in den Geltungsbereich des § 1a AEntG aF (vgl. BAG 16. Mai 2012 – 10 AZR 190/11 – Rn. 18, BAGE 141, 299; 12. Januar 2005 – 5 AZR 617/01 – zu III 2 b bb der Gründe, BAGE 113, 149). Dagegen sind Bauträger als Unternehmer iSd. § 1a AEntG aF und nicht als bloße Bauherren angesehen worden. Wesentlicher Inhalt der Tätigkeit eines Bauträgers ist, dass er sich zur Errichtung eines Bauwerks auf einem eigenen oder von ihm noch zu beschaffenden Grundstück verpflichtet und dem Erwerber das Eigentum am Grundstück und dem darauf erstellten Gebäude verschafft. Der Bauträger tritt im Regelfall im eigenen Namen auf, sodass Vertragspartner des Bauunternehmers der Bauträger selbst und nicht der Erwerber wird (vgl. BAG 16. Mai 2012 – 10 AZR 190/11 – Rn. 20, BAGE 141, 299). Das Bauträgerunternehmen fungiert damit nicht als bloßer Bauherr oder Letztbesteller, der lediglich einen Eigenbedarf befriedigt. Die Beauftragung von Bauleistungen ist vielmehr wesentlicher, unmittelbarer Gegenstand des Unternehmens. Der Bauträger baut nicht aus privaten Gründen oder um durch den Bau anderen eigenen gewerblichen Zwecken zu dienen, sondern um die errichteten Gebäude vor, während oder spätestens nach Abschluss der Bauarbeiten gewinnbringend zu veräußern. Dabei erfüllt er mit der Bautätigkeit eine, ggf. vorweggenommene, eigene Leistungspflicht gegenüber dem Erwerber, die sich bei einem Erwerb während der Bauphase in eine unmittelbare Leistungspflicht umwandelt. Diese Leistungspflicht kann er entweder durch eigenes Personal erfüllen oder – typischerweise – an ein anderes Unternehmen weitergeben. Damit kommt auch dem Bauträger der wirtschaftliche Vorteil der Beauftragung von Nachunternehmen zugute, er nutzt den Vorteil von Subunternehmerketten für seine gewerbsmäßige Tätigkeit (vgl. BAG 16. Mai 2012 – 10 AZR 190/11 – Rn. 21, BAGE 141, 299).
21
d) Die vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene einschränkende Auslegung des § 1a AEntG aF (vgl. BAG 12. Januar 2005 – 5 AZR 617/01 – zu IV der Gründe, BAGE 113, 149; 6. November 2002 – 5 AZR 617/01 (A) – zu B IV der Gründe, BAGE 103, 240) entspricht den Anforderungen einer verfassungskonformen Normanwendung. Das hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 20. März 2007 bestätigt (vgl. BVerfG 20. März 2007 – 1 BvR 1047/05 – Rn. 32 ff.). Danach griff § 1a AEntG aF als Berufsausübungsregelung zwar in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte unternehmerische Betätigungsfreiheit der Bauunternehmer ein, indem er ihnen unmittelbar für den Fall, dass sie sich zur Durchführung des ihnen erteilten Bauauftrags eines Nachunternehmers bedienen, eine verschuldensunabhängige Haftung gegenüber den Arbeitnehmern des Nachunternehmers auferlegte, und indem er sie mittelbar veranlassen wollte, sowohl bei der Auswahl des Nachunternehmers als auch bei der Durchführung des Nachunternehmervertrags auf die Einhaltung der nach § 1 AEntG zwingenden Arbeitsbedingungen zu achten. Art. 12 Abs. 1 GG schützt jedoch vor solchen, gerade auf die berufliche Betätigung bezogenen staatlichen Eingriffen. Dieser Eingriff in die Berufsfreiheit war indes verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil der Gesetzgeber mit der Bürgenhaftung des Hauptunternehmers für die Mindestlohnansprüche der beim Nachunternehmer beschäftigten Arbeitnehmer verfassungsrechtlich legitime Ziele verfolgte und die durch die Bürgenhaftung bedingte Beeinträchtigung der Berufsfreiheit des Hauptunternehmers auch verhältnismäßig im engeren Sinne war. Der Hauptunternehmer hafte zwar verschuldensunabhängig, aber nicht ohne hinreichende Verantwortungsbeziehung zu dem die Haftung auslösenden Sachverhalt. Erfülle der vom Hauptunternehmer beauftragte Nachunternehmer die Mindestlohnansprüche seiner Arbeitnehmer nicht, verwirkliche sich genau das zusätzliche Risiko, das der Hauptunternehmer geschaffen habe, indem er sich des Nachunternehmers zur Ausführung der von ihm geschuldeten, aber nicht durch eigene Arbeitnehmer erbrachten Bauleistungen bedient habe. Weil er dadurch die Beachtung der zwingenden Mindestarbeitsbedingungen aus der Hand gegeben und die Durchsetzung der Regelungsziele des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes erschwert habe, sei es gerechtfertigt, ihm die Mitverantwortung für die Erfüllung der Mindestlohnansprüche der auch in seinem Interesse auf der Baustelle eingesetzten Arbeitnehmer zuzuweisen (BVerfG 20. März 2007 – 1 BvR 1047/05 – Rn. 54).
22
e) Für die Regelung des § 14 AEntG verbleibt es bei der zu § 1a AEntG aF entwickelten einschränkenden Auslegung, auch wenn der Bezugspunkt der Haftung nunmehr der Auftrag zur Erbringung von „Werk- und Dienstleistungen“ ist (vgl. bereits BAG 17. August 2011 – 5 AZR 490/10 – Rn. 17, BAGE 139, 36). Es gibt keinerlei Hinweise, dass der Gesetzgeber mit der Gesetzesänderung eine weitergefasste Haftung in Bezug auf den Unternehmerbegriff schaffen wollte.
23
aa) Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (BGBl. I 2007, 576) wurde § 1a AEntG mit Wirkung ab dem 1. Juli 2007 dahingehend geändert, dass Anknüpfungspunkt der Haftung der Auftrag zur Erbringung von „Werk- oder Dienstleistungen“ sein sollte. Die Gesetzesmaterialien zeigen, dass der Gesetzgeber damit lediglich eine redaktionelle Folgeänderung zu der Erweiterung des Gesetzes auf das Gebäudereinigerhandwerk beabsichtigte (vgl. BT-Drs. 16/3064 S. 8). Die im Streitfall geltende Fassung des § 14 Satz 1 AEntG, gültig ab dem 24. April 2009 aufgrund des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (BGBl. I 2009, 799), hat diesen Anknüpfungspunkt der Haftung übernommen, auch wenn die Gesetzesmaterialien weniger eindeutig sind (hierauf weist auch Bayreuther NZA 2015, 961, 962 hin), denn danach haftet „insbesondere ein sogenannter Generalunternehmer“. Doch findet sich dort ebenfalls, dass die bislang in § 1a AEntG enthaltene Bestimmung übernommen werden sollte (vgl. BT-Drs. 16/10486 S. 14).
24
bb) Diese Genese des § 14 AEntG zeigt, dass der Gesetzgeber in Kenntnis der einschränkenden Auslegung des Unternehmerbegriffs, insbesondere durch die Entscheidungen des Fünften Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 6. November 2002 (- 5 AZR 617/01 (A) – BAGE 103, 240) und vom 12. Januar 2005 (- 5 AZR 617/01 – BAGE 113, 149), die vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 20. März 2007 gebilligt wurde (- 1 BvR 1047/05 -), keine weitergefasste Haftung mit der Regelung des § 14 AEntG begründen wollte. Für die Absicht einer Erweiterung der Haftung auf jeden gewerblichen Auftraggeber lassen sich weder im Gesetzestext noch in den Gesetzesmaterialien Anhaltspunkte finden. Die in § 14 AEntG angeordnete Bürgenhaftung verlangt deshalb eine besondere Verantwortungsbeziehung zwischen Auftraggeber und Nachunternehmer. Diese besteht nur dann, wenn der Auftraggeber eine eigene Verpflichtung an seinen Auftragnehmer weitergibt, wenn also der Auftragnehmer eine Werk- oder Dienstleistung erbringen soll, die für die vom Auftraggeber am Markt angebotene Leistung geschäftsprägend ist (so Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 13 Rn. 20) bzw. sich im Rahmen seines üblichen Geschäftsgegenstands bewegt (so Bayreuther NZA 2015, 961, 964). Nach § 14 AEntG soll sich ein Unternehmer nicht dadurch seinen eigenen Verpflichtungen zur Zahlung von Mindestentgelten entziehen können, dass er eine Werk- oder Dienstleistung nicht durch eigene Arbeitnehmer ausführen lässt, sondern Nachunternehmer einsetzt, ohne diese zu kontrollieren.
25
f) Entgegen der Auffassung der Revision ergibt sich aus § 13 MiLoG kein anderes Normverständnis zu § 14 AEntG. Die in § 13 MiLoG in Bezug auf die Haftung des Auftraggebers für den gesetzlichen Mindestlohn aufgenommene Regelung, wonach § 14 AEntG entsprechende Anwendung findet, bestätigt vielmehr das gefundene Auslegungsergebnis. Nach den Gesetzesmaterialien zu § 13 MiLoG wollte der Gesetzgeber die Rechtslage für den gesetzlichen Mindestlohn an die Rechtslage bei § 14 AEntG angleichen. Die dortige Ausgestaltung der Haftung, wie sie insbesondere durch die Rechtsprechung vorgenommen worden sei, habe „sich über Jahre bewährt“ (vgl. BT-Drs. 18/2010 (neu) S. 23). Auch die überwiegende Meinung im Schrifttum hält eine einschränkende Auslegung insoweit gleichermaßen für geboten (vgl. zu § 13 MiLoG MüKo/BGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 13 MiLoG Rn. 3; ErfK/Franzen 19. Aufl. MiLoG § 13 Rn. 2; HK-MiLoG/Reinfelder 2. Aufl. § 13 Rn. 13 f.; Lelley in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 13 MiLoG Rn. 14 f.; Lembke NZA 2015, 70, 78; Sittard/Sassen NJW 2016, 364, 366 f.; Moll/Päßler/Reich MDR 2015, 125, 130; Oltmanns/Fuhlrott NZA 2015, 392, 393).
26
3. Danach ist die Beklagte im Streitfall kein Unternehmer iSd. § 14 Satz 1 AEntG.
27
a) Die Beklagte hat lediglich als Bauherrin den Auftrag zur Errichtung eines Gebäudes für den betrieblichen Eigenbedarf an einen Generalunternehmer erteilt. Damit gibt sie nicht die Erfüllung eigener Verpflichtungen an Subunternehmer weiter. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass Geschäftszweck der Beklagten die Verwaltung und Vermietung von Gebäuden ist. Diese Feststellung wurde von der Revision nicht angegriffen und ist daher für den Senat bindend (§ 559 Abs. 2 ZPO). Mit der Vergabe des Bauauftrags schaffte die Beklagte nur die Grundlage dafür, ihrem Geschäftszweck nachgehen zu können.
28
b) Entgegen der Revision erfüllte die Beklagte mit dem Bau des Gebäudes keine Verpflichtung gegenüber ihren Mietern. Die Errichtung von Gebäuden durch eigene Arbeitnehmer der Beklagten ist nicht geschäftsprägend. Die Verpflichtung, welche die Beklagte gegenüber Dritten, den Mietern des Gebäudes eingegangen ist, besteht nicht darin, das Gebäude herzustellen. Ihre Verpflichtung beinhaltet lediglich, den Mietern den Gebrauch der Mietsache während der Mietzeit zu gewähren, dh. zum vertragsgemäßen Gebrauch zu überlassen (vgl. § 535 Abs. 1 BGB). Daneben verpflichtet sich die Beklagte gegenüber ihren Kunden zur Verwaltung des Gebäudes. Beides schließt nicht die eigene Verpflichtung der Beklagten gegenüber ihren Mietern ein, das Gebäude zu bauen. Eine etwaige nicht termingerechte Fertigstellung des Gebäudes, insbesondere bei einer Erstvermietung nach Errichtung, würde nur eine Sekundärfolge darstellen.
29
c) Einem Bauträger kann die Beklagte nicht gleichgestellt werden. Ein solcher zeichnet sich dadurch aus, dass er ein Gebäude errichtet, um es zu veräußern. Dagegen erfüllt die Beklagte mit der Errichtung des Gebäudes einen – gewerblichen – Eigenbedarf. Sie lässt für eigene Zwecke bauen, weil sie selbst Eigentümerin des Gebäudes bleibt, um es in Ausübung ihres Geschäftszwecks zu vermieten und zu verwalten. Mit dem Bau des Gebäudes schafft die Beklagte lediglich die Betriebsmittel, um ihrem Geschäftszweck entsprechend handeln zu können.
30
d) Entgegen der Revision ist kein systemisch angelegter Missbrauch in dem Sinne erkennbar, dass regelmäßig sowohl Generalunternehmer als auch Subunternehmer zahlungsunfähig werden und damit die Bürgenhaftung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz leerliefe. In Bezug auf die Beklagte ist auch nicht vorgetragen, dass die Insolvenz des Generalunternehmers vorhersehbar gewesen wäre, womit es an Anhaltspunkten für ein missbräuchliches Verhalten fehlt.
31
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Linck
Berger
Volk
Jungbluth
Menssen |
bag_31-20 | 10.09.2020 | 10.09.2020
31/20 - Kündigungen des Cockpit-Personals von Air Berlin - Aussetzung wegen anhängiger Verfassungsbeschwerden
Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat am 13. Februar 2020 (- 6 AZR 146/19 – ua.) entschieden, dass die Kündigungen des Cockpit-Personals der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin vom 28. November 2017 wegen Fehlerhaftigkeit der Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam sind (vgl. Pressemitteilung Nr. 7/20).
Der Kläger des vorliegenden Verfahrens war bei Air Berlin als Pilot mit Einsatzort Düsseldorf beschäftigt und wendet sich ebenfalls gegen eine Kündigung vom 28. November 2017. Der Senat sieht die Kündigung aus den im Urteil vom 13. Februar 2020 (- 6 AZR 146/19 -) genannten Gründen als unwirksam an. Er wäre aus seiner Sicht an einer Entscheidung auch nicht wegen einer Verpflichtung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV gehindert.
Der beklagte Insolvenzverwalter hat jedoch zwischenzeitlich Verfassungsbeschwerden ua. gegen die Entscheidungen des Senats vom 13. Februar 2020 erhoben. In Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot sowie zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG hat der Senat die Verhandlung deshalb in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO bis zum 31. März 2022 ausgesetzt. Diese befristete Aussetzung berücksichtigt sowohl den Umstand, dass weitere Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen über die Wirksamkeit der Kündigungen vom 28. November 2017 die Entscheidungsgrundlage des Bundesverfassungsgerichts nicht verbreitern, als auch die Interessen beider Parteien des vorliegenden Rechtsstreits in angemessener Weise.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 10. September 2020 – 6 AZR 136/19 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 18. Januar 2019 – 6 Sa 363/18 – | Tenor
Die Verhandlung wird bis zum 31. März 2022 ausgesetzt.
Leitsatz
Ist in einem Parallelverfahren eine Verfassungsbeschwerde anhängig, kann in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO eine Aussetzung der Verhandlung erfolgen, wenn dies in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG sowie zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Die Aussetzung kann zeitlich befristet werden.
Entscheidungsgründe
1
I. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.
2
Der Kläger war seit März 1988 bei der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (Schuldnerin) bzw. deren Rechtsvorgängerin als Pilot beschäftigt. Die Schuldnerin bediente mit mehr als 6.000 Beschäftigten im Linienflugverkehr inner- und außereuropäische Ziele. Hierfür unterhielt sie ua. Stationen an den Flughäfen Berlin-Tegel und Düsseldorf. Der Einsatzort des Klägers war Düsseldorf.
3
Am 15. August 2017 beantragte die Schuldnerin beim zuständigen Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen bei Eigenverwaltung. Das Gericht ordnete zunächst die vorläufige Eigenverwaltung an und bestellte den Beklagten am 16. August 2017 zum vorläufigen Sachwalter.
4
Der Executive Director der persönlich haftenden Gesellschafterin der Schuldnerin, der Generalbevollmächtigte der Schuldnerin und der Beklagte unterzeichneten am 12. Oktober 2017 für die Schuldnerin eine Erklärung. Demnach war beabsichtigt, den Betrieb bis spätestens 31. Januar 2018 stillzulegen.
5
Für das Cockpitpersonal war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG durch Abschluss des „Tarifvertrags Personalvertretung (TVPV) für das Cockpitpersonal der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“ eine Personalvertretung (PV Cockpit) gebildet. Mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 wandte sich die Schuldnerin an die PV Cockpit. Es sei beabsichtigt, die durch die Betriebsstilllegung bedingten Kündigungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Laufe des Monats Oktober 2017, voraussichtlich ab 26. Oktober 2017, unter Wahrung der ggf. durch § 113 InsO begrenzten Kündigungsfrist zu erklären.
6
Am 1. November 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet. Das Insolvenzgericht ordnete Eigenverwaltung an und bestellte den Beklagten zum Sachwalter. Dieser zeigte noch am gleichen Tage eine drohende Masseunzulänglichkeit an. Zudem stellte er den Kläger und weitere nicht mehr einzusetzende Piloten und Kabinenpersonal von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei.
7
Die Schuldnerin erstattete mit Formular und Begleitschreiben vom 24. November 2017 bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord eine Massenentlassungsanzeige bzgl. des gesamten Cockpitpersonals.
8
Mit Schreiben vom 28. November 2017 kündigte sie mit Zustimmung des Beklagten gegenüber dem Kläger das Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2018.
9
Am 17. Januar 2018 hob das Insolvenzgericht die Eigenverwaltung auf und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter.
10
Der Kläger hat sich mit seiner fristgerecht erhobenen Klage gegen die Kündigung vom 28. November 2017 gewandt. Die Kündigung sei unwirksam. Eine Betriebsstilllegung sei zum Zeitpunkt ihres Zugangs nicht beschlossen gewesen, die Schuldnerin habe vielmehr noch mit möglichen Betriebserwerbern verhandelt. Tatsächlich hätten dann Betriebsteilübergänge auf andere Luftfahrtunternehmen stattgefunden. Die PV Cockpit sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft.
11
Der Kläger hat zuletzt noch beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung der Schuldnerin vom 28. November 2017, zugegangen am 29. November 2017, nicht aufgelöst wurde.
12
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
13
Er hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei wegen der beabsichtigten und tatsächlich erfolgten Stilllegung des Flugbetriebs sozial gerechtfertigt. Ein Betriebs(teil)übergang sei nicht geplant gewesen und habe auch nicht stattgefunden. Die Rechte der PV Cockpit seien gewahrt. Die Massenentlassung sei ordnungsgemäß gegenüber der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit angezeigt worden.
14
Die Vorinstanzen haben sowohl den Kündigungsschutzantrag als auch einen im Berufungsverfahren noch anhängigen Antrag auf Auskunftserteilung abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger beschränkt auf den Kündigungsschutzantrag sein Klageziel weiter.
15
Der Senat hat am 13. Februar 2020 in mehreren Verfahren mit identischen Sachverhalten entschieden, dass die streitbefangenen Kündigungen des Cockpitpersonals der Schuldnerin vom 28. November 2017 unwirksam sind (vgl. ua. BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 29 ff.). Hiergegen hat der Beklagte Verfassungsbeschwerden erhoben und deswegen die Aussetzung der Verhandlung im vorliegenden Verfahren angeregt. Der Kläger hat dieser Anregung widersprochen.
16
II. Die Verhandlung kann auch gegen den Willen des Klägers jedenfalls bis zum 31. März 2022 ausgesetzt werden. Die Revision ist nach derzeitigem Stand zwar zulässig und begründet. Der Senat wäre an einer Entscheidung auch nicht durch eine Verpflichtung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gehindert. In entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO ist aber wegen der anhängigen Verfassungsbeschwerden eine Aussetzung der Verhandlung bis zum 31. März 2022 gerechtfertigt.
17
1. Die streitgegenständliche Kündigung ist wegen Fehlerhaftigkeit der Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts erstattete die Schuldnerin die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige wegen Verkennung des unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriffs nicht ordnungsgemäß iSd. § 17 Abs. 3 KSchG. Dies hat der Senat in einem Parallelverfahren bereits entschieden und nimmt auf die Begründung dieses Urteils Bezug (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 70 ff.). Es wurde eine inhaltlich nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit Berlin Nord erstattet. Eine Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit Düsseldorf erfolgte vor Zugang der Kündigung beim Kläger hingegen nicht. Der Vortrag des Beklagten im vorliegenden Verfahren gibt keinen Anlass für eine andere Beurteilung.
18
a) Der Senat hat die seitens des Beklagten angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG (im Folgenden MERL) bereits vollständig berücksichtigt (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 32 ff., 54). Soweit der Beklagte im vorliegenden Verfahren zum maßgeblichen Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bzw. der MERL nur seine abweichende Rechtsansicht wiederholt, welche der Senat bereits im führenden Verfahren gewürdigt hat, besteht kein Anlass zu weitergehenden Ausführungen. Soweit er erstmals unter Berufung auf die Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 54 seiner Entscheidung vom 13. Mai 2015 (- C-392/13 – [Rabal Cañas]) geltend macht, die MERL schließe es nicht aus, im nationalen Recht unter bestimmten Voraussetzungen auf das Unternehmen als größere Organisationseinheit abzustellen, hat der deutsche Gesetzgeber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Dementsprechend hat der Beklagte die Massenentlassung in einer Betriebsstruktur vorgenommen, die allerdings, wie der Senat bereits ausgeführt hat, nicht den Vorgaben der MERL entsprach.
19
b) Bezüglich der Zwecksetzung der nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG zu erstattenden Massenentlassungsanzeige und den Rechtsfolgen einer fehlerhaften Anzeige wird ebenfalls auf die Begründung der Leitentscheidung verwiesen (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 97 ff.). Die weiteren Argumente des Beklagten verfangen nicht.
20
aa) Die Meldepflicht des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB III ersetzt keine ordnungsgemäße Anzeige der geplanten Massenentlassung. Auch verwirklicht die Freistellung der Mehrzahl der Piloten vor den Kündigungen entgegen der Annahme des Beklagten den Schutzzweck der MERL nicht und macht eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers nicht überflüssig (vgl. BAG 14. Mai 2020 – 6 AZR 235/19 – Rn. 133).
21
bb) Soweit der Beklagte insbesondere durch die Komplexität der Rechtslage, die durch die in den verschiedenen Regelungsbereichen maßgeblichen, teils unionsrechtlich, teils national determinierten unterschiedlichen Betriebsbegriffe vermeintlich entsteht, eine unzulässige Beschränkung der durch Art. 16 GRC geschützten unternehmerischen Freiheit sieht, trifft das jedenfalls in der vorliegenden Fallgestaltung nicht zu.
22
(1) Die MERL selbst greift nicht in die freie Entscheidung des Arbeitgebers ein, Massenentlassungen vorzunehmen (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 30 ff.).
23
(2) Ein solcher Eingriff kann hier auch nicht aus dem nationalen Recht abgeleitet werden. Der Beklagte verkennt, dass seine Anzeige bereits deshalb unwirksam ist, weil sie fälschlicherweise in der bezogen auf die Personalvertretung tariflich begründeten Betriebsstruktur erfolgt ist, die mit dem vom Gerichtshof zur MERL entwickelten Betriebsbegriff offenkundig nicht in Einklang stand (vgl. bereits BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 114). Die angeführte Komplexität resultiert hier nicht aus gesetzlichen Vorgaben, sondern aus dem Nebeneinander von gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Letztere sind jedoch gerade das Resultat der von der Schuldnerin in Form eines Tarifabschlusses in Anspruch genommenen unternehmerischen Freiheit. Darüber hinaus wäre es der Schuldnerin unbenommen geblieben, das Risiko einer Unwirksamkeit der Kündigung wegen Erstattung der Anzeige bei einer örtlich unzuständigen Arbeitsagentur durch eine Sammelanzeige bzw. eine Anzeige bei sämtlichen in Frage kommenden Agenturen für Arbeit wesentlich zu vermindern.
24
(3) Darum kommt es auf die Ansicht des Beklagten, die sozioökonomischen Zielsetzungen der Anzeigepflicht hätten kein hinreichendes Gewicht, um eine Beschränkung des Kündigungsrechts zu rechtfertigen, nicht an. Er räumt selbst ein, dass ein solcher Eingriff vor allem dann vorliegen könne, wenn „alle materiell und verfahrensmäßig dem Kündigungsschutz dienenden Vorgaben beachtet“ worden seien. Genau daran fehlt es vorliegend jedoch.
25
(4) Es kann folglich dahinstehen, ob und inwieweit der Anwendungsbereich des Art. 16 GRC in teilharmonisierten Regelungsbereichen wie denen der MERL überhaupt eröffnet ist (dazu EuGH 6. März 2014 – C-206/13 – [Siragusa] Rn. 26; EuArbRK/Schubert 3. Aufl. GRC Art. 16 Rn. 29).
26
c) Der Betriebsbegriff wird für den gesamten Bereich des Massenentlassungsrechts unionsrechtlich bestimmt. Der Beklagte kann daher auch bei der Frage, wo die Anzeige zu erstatten ist, keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom 14. Mai 2020 (- 6 AZR 235/19 – Rn. 147 ff.) verwiesen.
27
2. Zu einer Vorlage an den Gerichtshof besteht entgegen der Auffassung des Beklagten keine Verpflichtung.
28
a) Ein einzelstaatliches Gericht ist, soweit gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des AEU-Vertrags stellt. Dies ist ua. dann nicht der Fall, wenn das Gericht feststellt, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (vgl. EuGH 4. Oktober 2018 – C-416/17 – [Kommission/Frankreich (Steuervorabzug für ausgeschüttete Dividenden)] Rn. 108 ff. mwN) und die Rechtslage damit in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel lässt („acte éclairé“, vgl. BVerfG 9. Mai 2018 – 2 BvR 37/18 – Rn. 29; BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 88, BAGE 167, 53). Hierfür ist eine vollkommene Identität der strittigen Fragen der jeweiligen Verfahren nicht erforderlich (vgl. EuGH 6. Oktober 1982 – 283/81 – [Cilfit] Rn. 14).
29
b) Hier besteht keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.
30
aa) Der Senat hat eine solche bereits geprüft und verneint (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 115). Auch der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat bezogen auf eine Kündigung im selben Insolvenzverfahren bzgl. des Betriebsbegriffs des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bzw. der MERL keinen Klärungsbedarf durch den Gerichtshof gesehen, sondern sich insoweit der Rechtsprechung des Senats angeschlossen (BAG 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – Rn. 169 ff.).
31
bb) Die im vorliegenden Verfahren seitens des Beklagten schriftsätzlich oder in der Verhandlung vor dem Senat formulierten Fragen müssen dem Gerichtshof nicht gestellt werden. Sie sind entweder nicht entscheidungserheblich oder durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ausreichend geklärt. Der Beklagte hält dem Senat im Ergebnis lediglich eine fehlerhafte Subsumtion unter die Rechtsprechung des Gerichtshofs vor, die jedoch allein Aufgabe der nationalen Gerichte ist und keine Vorlagepflicht auslösen kann (vgl. EuGH 13. Mai 2015 – C-182/13 – [Lyttle ua.] Rn. 52; 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 70; EuArbRK/Höpfner 3. Aufl. AEUV Art. 267 Rn. 46; ErfK/Wißmann/Schlachter 20. Aufl. AEUV Art. 267 Rn. 6).
32
cc) Soweit der Beklagte auf die unterschiedliche Beurteilung der streitgegenständlichen Massenentlassung innerhalb der Tatsacheninstanzen der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit hinweist, ist dies unbeachtlich. Das bloße Vorliegen sich widersprechender Entscheidungen anderer einzelstaatlicher Gerichte ist kein ausschlaggebendes Kriterium für das Bestehen der in Art. 267 Abs. 3 AEUV genannten Pflicht, denn maßgeblich ist hierbei die Gefahr von Divergenzen in der Rechtsprechung auf Unionsebene (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 39 ff.; Hering EuR 2020, 112, 121). Bezogen auf die deutsche Gerichtsbarkeit kann es bei der Rechtsanwendung schon wegen der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) und der daraus folgenden „konstitutionellen Uneinheitlichkeit der Rechtspflege“ (BVerfG 26. April 1988 – 1 BvR 669/87 ua. – zu III der Gründe, BVerfGE 78, 123) auch in gleichgelagerten Fällen zu abweichenden Entscheidungen kommen.
33
3. Trotz der damit grundsätzlich bestehenden Entscheidungsreife ist die Verhandlung aber jedenfalls bis zum 31. März 2022 auszusetzen.
34
a) Eine Befugnis zur Aussetzung ergibt sich allerdings nicht direkt aus § 148 Abs. 1 ZPO als allein in Betracht kommender Verfahrensregelung.
35
aa) Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit oder dem Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Vorgreiflichkeit ist insbesondere gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- bzw. Interventionswirkung erzeugt. Der Umstand, dass in dem anderen Verfahren über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung nicht. Anderenfalls würde das aus dem Justizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigt. Eine Aussetzung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor (BGH 27. Juni 2019 – IX ZB 5/19 – Rn. 7 mwN).
36
bb) Eine Vorgreiflichkeit in diesem Sinne besteht hier nicht. Bei den Verfahren, deren Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, handelt es sich um unabhängige Rechtsstreitigkeiten. Es besteht lediglich eine Parallelität bzgl. der zu entscheidenden Rechtsfragen.
37
b) Eine Aussetzung kann aber in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO erfolgen.
38
aa) § 148 Abs. 1 ZPO ist über seinen Wortlaut hinaus auf vergleichbare Fallgestaltungen entsprechend anwendbar (BAG 18. September 1997 – 3 AZB 27/97 – Rn. 9; GK-ArbGG/Schütz Stand September 2017 § 55 Rn. 50). Nach ständiger Rechtsprechung ist in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO eine Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vorzunehmen (vgl. BAG 30. Januar 2019 – 10 AZR 299/18 (A) – Rn. 114, BAGE 165, 233; 17. Juni 2015 – 4 AZR 61/14 (A) – BAGE 152, 12; 17. März 2015 – 1 ABR 62/12 (A) – BAGE 151, 131; 25. Februar 2015 – 5 AZR 962/13 (A) – BAGE 151, 75). Die Möglichkeit der Aussetzung wird auch bejaht, wenn die Vorlage an den Gerichtshof in einem anderen Rechtsstreit erfolgt ist (BAG 20. Mai 2010 – 6 AZR 481/09 (A) – Rn. 7 ff., BAGE 134, 307; BGH 11. April 2019 – I ZR 186/17 -). Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass eine Aussetzung auch möglich ist, wenn bezogen auf die streitentscheidende Norm ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist (vgl. hierzu BAG 28. Januar 1988 – 2 AZR 296/87 – zu II 3 der Gründe; BGH 5. Juli 2018 – IX ZR 264/17 – Rn. 13; 17. Juli 2013 – IV ZR 150/12 – Rn. 4; 30. März 2005 – X ZB 26/04 – zu II 2 b bb der Gründe, BGHZ 162, 373; 18. Juli 2000 – VIII ZR 323/99 – zu II 1 der Gründe mwN). Die entsprechende Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO ist bei einer Vorlage an den Gerichtshof durch eine gleichartige Interessenlage gerechtfertigt. Die Vorschrift will nach einhelliger Auffassung eine doppelte Prüfung derselben Frage in mehreren Verfahren verhindern. Das dient der Prozesswirtschaftlichkeit und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen (BAG 20. Mai 2010 – 6 AZR 481/09 (A) – Rn. 9, aaO).
39
bb) An dieser Rechtsprechung ist auch nach der mit Wirkung zum 1. November 2018 erfolgten Einfügung des § 148 Abs. 2 ZPO festzuhalten. Diese Gesetzesänderung schließt entgegen der Ansicht des Klägers eine entsprechende Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nicht aus.
40
(1) § 148 Abs. 2 ZPO bezieht sich nur auf Musterfeststellungsverfahren und hat damit einen anderen Regelungsbereich als § 148 Abs. 1 ZPO. Mit § 148 Abs. 2 ZPO wurde lediglich eine zusätzliche Aussetzungsmöglichkeit geschaffen. Dies zeigt schon die Verwendung der Konjunktion „ferner“ (Nordholtz/Wiebking GWR 2019, 251). Die damit zum Ausdruck gebrachte Eigenständigkeit entspricht der gesetzgeberischen Zielsetzung. § 148 Abs. 2 ZPO trägt dem Umstand Rechnung, dass Unternehmer ihre Ansprüche nicht in das Klageregister eines Musterfeststellungsverfahrens eintragen lassen können. Um ihnen zumindest die Möglichkeit zu eröffnen, von dem Ausgang eines Musterfeststellungsverfahrens zu profitieren, sollen sie durch § 148 Abs. 2 ZPO die Möglichkeit erhalten, in einem Individualprozess einen Aussetzungsantrag zu stellen (vgl. BT-Drs. 19/2741 S. 24). Diese Zielsetzung weist keinen Bezug zu § 148 Abs. 1 ZPO auf.
41
(2) Die Frage, ob die bisherige Rechtsprechung zur Durchführung von „Pilotverfahren“ außerhalb des Anwendungsbereichs von § 148 ZPO (vgl. hierzu BGH 12. Februar 2015 – III ZR 141/14 – Rn. 33, BGHZ 204, 184) nach Einfügung des § 148 Abs. 2 ZPO noch fortzuführen ist, bedarf hier keiner Entscheidung (ablehnend Zöller/Greger ZPO 33. Aufl. § 148 Rn. 11; vgl. auch OLG Köln 16. August 2018 – 4 W 34/18 – zu II 2 d der Gründe).
42
cc) Demnach kommt auch bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem Parallelverfahren eine Aussetzung der Verhandlung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO in Betracht.
43
(1) In dieser prozessualen Konstellation werden wie bei einer Vorlage an den Gerichtshof oder einem Normenkontrollverfahren streitentscheidende Rechtsfragen durch ein höherrangiges Gericht geklärt. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Vorlagen an den Gerichtshof und Normenkontrollverfahren durch ein Fachgericht eingeleitet werden. Demgegenüber wird die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als außerordentlicher Rechtsbehelf durch die unterlegene Partei eingelegt. Schon deshalb kommt eine gleichsam automatische Aussetzung der Verhandlung in Parallelverfahren nicht in Betracht. Anderenfalls könnte die unterlegene Partei durch die bloße Einlegung der Verfassungsbeschwerde in einem durch die Fachgerichtsbarkeit bereits letztinstanzlich entschiedenen Verfahren die Aussetzung in zahlreichen Parallelverfahren herbeiführen. Eine solche Wirkung kann der Verfassungsbeschwerde, die die Rechtskraft des angegriffenen Urteils nicht hemmt (BVerfG 18. Januar 1996 – 1 BvR 2116/94 – zu B der Gründe, BVerfGE 93, 381; Walter in Maunz/Dürig GG Stand August 2018 Art. 93 Rn. 332), nicht beigemessen werden (vgl. auch zu Verfassungsbeschwerden gegen Zwischenentscheidungen BGH 5. Juli 2018 – IX ZR 264/17 – Rn. 14).
44
(2) Andererseits kann bei parallel gelagerten Fällen eine einzelne Verfassungsbeschwerde ausreichen, um eine umfassende Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Das ist der Fall, wenn weitere zu erwartende Verfassungsbeschwerden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen würden (vgl. zum Vorlageverfahren BAG 20. Mai 2010 – 6 AZR 481/09 (A) – Rn. 10, BAGE 134, 307). Zahlreiche weitere Verfassungsbeschwerden in Parallelverfahren würden im Gegenteil nur zu einer unnötigen Belastung des Bundesverfassungsgerichts führen und könnten im Extremfall die Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde, das auch dem Ziel dient, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden (BVerfG 13. April 2010 – 1 BvR 216/07 – Rn. 35, BVerfGE 126, 1), gefährden (zum Gedanken der Schonung der Ressourcen des höherrangigen Gerichts vgl. BGH 24. Januar 2012 – VIII ZR 158/11 – Rn. 9).
45
(3) In diesem Spannungsfeld ist im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist bei der nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Ermessenausübung anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. BAG 16. April 2014 – 10 AZB 6/14 – Rn. 5). Zur Vermeidung einer überlangen Verfahrensdauer bedarf es einer Einschätzung der Gesamtdauer des Verfahrens (vgl. BVerfG 5. August 2013 – 1 BvR 2965/10 – Rn. 20; 2. Dezember 2011 – 1 BvR 314/11 – Rn. 7; 22. September 2008 – 1 BvR 1707/08 – Rn. 20). Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist stets im Lichte der aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, zu beurteilen (BGH 13. Februar 2014 – III ZR 311/13 – Rn. 27 mwN). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt dabei allerdings ebenso wenig wie das Bundesverfassungsgericht feste Fristen vor, sondern stellt auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls ab (BAG 13. Dezember 2017 – 5 AZA 84/17 – Rn. 6).
46
dd) Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint hier eine Aussetzung der Verhandlung bis zum 31. März 2022 angemessen.
47
(1) Wird § 148 Abs. 1 ZPO entsprechend angewendet, kommt auch eine befristete Aussetzung der Verhandlung in Betracht (vgl. BAG 9. Juli 2008 – 5 AZR 518/07 – Rn. 23). Die Ermessensausübung bezieht sich nicht nur auf die Aussetzung als solche, sondern auch auf ihre Dauer. Dies ergibt sich schon aus § 150 ZPO, wonach das Gericht die Anordnung einer Aussetzung jederzeit wieder aufheben kann. Erst recht kann es die Aussetzung von vornherein nur auf eine begrenzte Dauer festsetzen, wenn dies der prozessualen Situation entspricht.
48
(2) Hier ist eine Aussetzung der Verhandlung bis zum 31. März 2022 angebracht. Zur Vermeidung der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist es angesichts der identischen Rechtsfragen für beide Parteien sinnvoll, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die anhängigen Verfassungsbeschwerden abzuwarten. Nach weiteren Entscheidungen des Senats zu erwartende Verfassungsbeschwerden würden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen. Eine Aussetzung der Verhandlung ohne zeitlichen Rahmen wäre mit dem arbeitsgerichtlichen Beschleunigungsgrundsatz jedoch schwerlich zu vereinbaren. Der Senat hält eine Aussetzung der Verhandlung bis zum 31. März 2022 für angemessen. Es darf davon ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht bis dahin über die Annahme der Verfassungsbeschwerden entschieden haben wird (§ 93a BVerfGG). Dieser befristeten Aussetzung stehen gewichtige Interessen des Klägers nicht entgegen. Eine Weiterbeschäftigung als Pilot kommt bei dem Beklagten wegen der Einstellung des Flugbetriebs ohnehin nicht in Betracht, etwaige Annahmeverzugsansprüche wären wegen der Masseunzulänglichkeit des Insolvenzverfahrens schwerlich in nennenswerter Höhe zu realisieren. Zudem haben die Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der Verhandlung vor dem Senat erklärt, dass gegenüber dem vormaligen Cockpitpersonal der Schuldnerin zwischenzeitlich Folgekündigungen erklärt wurden.
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c) Das erforderliche rechtliche Gehör ist den Parteien mit Schreiben vom 14. Juli 2020 und in der mündlichen Verhandlung gewährt worden.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
C. Klar
Klapproth |
bag_32-18 | 20.06.2018 | 20.06.2018
32/18 - Hemmung einer Ausschlussfrist wegen Vergleichsverhandlungen
Verlangt eine arbeitsvertragliche Ausschlussfristenregelung, dass ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis zur Vermeidung seines Verfalls innerhalb einer bestimmten Frist gerichtlich geltend gemacht werden muss, ist die Ausschlussfrist in entsprechender Anwendung des § 203 Satz 1 BGB gehemmt, solange die Parteien vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen führen. Der Zeitraum, während dessen die Vergleichsverhandlungen andauern, wird entsprechend § 209 BGB in die Ausschlussfrist nicht eingerechnet. § 203 Satz 2 BGB, der bestimmt, dass die Verjährung frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung eintritt, findet auf arbeitsvertragliche Ausschlussfristen keine entsprechende Anwendung.
Der Kläger war vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Juli 2015 bei der Beklagten als technischer Sachbearbeiter beschäftigt und hat zuletzt 4.361,00 Euro brutto monatlich verdient. Sein Arbeitsvertrag enthält eine Klausel, die verlangt, dass Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb von drei Monaten ab Fälligkeit schriftlich gegenüber der Gegenseite geltend gemacht und bei Ablehnung innerhalb von weiteren drei Monaten ab Zugang der Ablehnung bei Gericht anhängig gemacht werden müssen, ansonsten sie verfallen. Mit Schreiben vom 14. September 2015 forderte der Kläger vom Beklagten die Abgeltung von 32 Urlaubstagen mit einem Gesamtbetrag von 6.387,52 Euro brutto sowie weitere 4.671,88 Euro brutto als Vergütung von 182,25 Überstunden, die sich bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers angesammelt hätten. Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 28. September 2015 die Ansprüche ab, wies allerdings darauf hin, er strebe eine einvernehmliche Lösung an. In der Folgezeit führten die Parteien über die von ihnen beauftragten Rechtsanwälte Vergleichsverhandlungen, die bis zum 25. November 2015 andauerten, jedoch erfolglos blieben. Daraufhin hat der Kläger am 21. Januar 2016 Klage erhoben, mit der er seine Ansprüche weiterverfolgt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und gemeint, die Ansprüche des Klägers seien verfallen, weil er sie nicht fristgerecht gerichtlich geltend gemacht habe.
Die Revision des Klägers war vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolgreich. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts kann die Klage nicht abgewiesen werden. Der Kläger hat die dreimonatige Ausschlussfrist zur gerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche gewahrt, weil sie für die Dauer der Vergleichsverhandlungen entsprechend § 203 Satz 1 BGB gehemmt war. Der Senat musste deshalb nicht darüber entscheiden, ob die Verfallklausel insgesamt unwirksam ist, weil sie den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausdrücklich aus ihrem Anwendungsbereich ausnimmt. Mangels Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zu dem vom Kläger behaupteten Arbeitszeitkonto und dessen Saldo sowie den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch offenen Urlaubstagen konnte der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden, sondern hat sie zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. Juni 2018 – 5 AZR 262/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 9. Mai 2017 – 7 Sa 560/16 – | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 9. Mai 2017 – 7 Sa 560/16 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Verlangt eine arbeitsvertragliche Ausschlussfristenregelung, dass ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis zur Vermeidung seines Verfalls innerhalb einer bestimmten Frist gerichtlich geltend gemacht werden muss, ist die Ausschlussfrist in entsprechender Anwendung des § 203 Satz 1 BGB gehemmt, solange die Parteien vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen führen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Vergütung von Überstunden und Urlaubsabgeltung.
2
Der Kläger war vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Juli 2015 bei dem Beklagten als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Sein Verdienst betrug zuletzt 4.361,00 Euro brutto monatlich. Der schriftliche Arbeitsvertrag der Parteien enthält eine Ausschlussfristenregelung, die lautet:
„Ansprüche beider Parteien aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten ab Fälligkeit schriftlich gegenüber der Gegenseite geltend gemacht werden. Entscheidend ist der Zugang des Schreibens. Nach Ablauf der Frist kann der Anspruch nicht mehr geltend gemacht werden.
Lehnt die Gegenseite den Anspruch ab oder äußert sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen ab Zugang der Geltendmachung, so ist der Anspruch innerhalb von weiteren drei Monaten ab Zugang der Ablehnung bzw. Ablauf der Zweiwochenfrist bei Gericht anhängig zu machen. Anderenfalls ist der Anspruch verfallen und kann nicht mehr geltend gemacht werden.“
3
Mit Schreiben vom 14. September 2015 forderte der Kläger vom Beklagten die Abgeltung von 32 Urlaubstagen mit einem Gesamtbetrag von 6.387,52 Euro brutto sowie weitere 4.671,88 Euro brutto als Vergütung für 182,25 Überstunden. Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 28. September 2015 die Ansprüche ab, wies dabei allerdings darauf hin, er strebe eine einvernehmliche Lösung an. In der Folgezeit führten die Parteien über die von ihnen beauftragten Rechtsanwälte Vergleichsverhandlungen, die zumindest bis zum 25. November 2015 andauerten, jedoch erfolglos blieben.
4
Mit der am 21. Januar 2016 anhängig gemachten Klage hat der Kläger seine Ansprüche weiter verfolgt. Die geleisteten Überstunden würden sich aus dem Arbeitszeitkonto ergeben, Urlaub habe er im Jahr 2015 wegen der hohen Arbeitsbelastung nicht nehmen können. Auf die Ausschlussfrist könne sich der Beklagte nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht berufen. Überdies sei die Verfallklausel unwirksam. Sie nehme den nach § 3 Satz 1 MiLoG unverfallbaren Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht aus und verstoße zudem gegen § 309 Nr. 7 BGB.
5
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Belang – sinngemäß beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 11.007,42 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. August 2015 zu zahlen.
6
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die Ansprüche des Klägers seien wegen nicht rechtzeitiger gerichtlicher Geltendmachung verfallen.
7
Das Arbeitsgericht hat durch Teil- und Schlussurteil die Klage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufungen des Klägers verbunden und zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche weiter, während der Beklagte die Zurückweisung der Revision beantragt.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision des Klägers ist begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
9
I. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts, die Ansprüche des Klägers seien aufgrund der arbeitsvertraglichen Verfallklausel wegen nicht rechtzeitiger gerichtlicher Geltendmachung verfallen, kann die Klage nicht abgewiesen werden.
10
1. Im Ergebnis zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, die Berufung des Beklagten auf den Verfall der Ansprüche sei nicht rechtsmissbräuchlich.
11
a) An den Einwand des Rechtsmissbrauchs bei der Berufung auf eine Ausschlussfrist sind grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen. Voraussetzung ist, dass die zum Verfall des Anspruchs führende Untätigkeit durch ein Verhalten der Gegenpartei veranlasst worden ist oder der Schuldner es pflichtwidrig unterlassen hat, dem Gläubiger die Umstände mitzuteilen, die diesen zur Einhaltung der Ausschlussfrist veranlasst hätten (vgl. BAG 19. November 2014 – 5 AZR 121/13 – Rn. 36, BAGE 150, 88; 18. Februar 2016 – 6 AZR 628/14 – Rn. 25, jeweils mwN).
12
b) Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Beklagte hat den Kläger weder von der gerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche abgehalten noch objektiv den Eindruck erweckt, der Kläger könne wegen der vorgerichtlichen Vergleichsverhandlungen darauf vertrauen, die Ansprüche würden auch ohne gerichtliche Geltendmachung erfüllt werden. Vielmehr hat der anwaltliche Vertreter des Beklagten – wie sich aus einem vom Landesarbeitsgericht im Tatbestand des Berufungsurteils in Bezug genommenen Schreiben des späteren Prozessbevollmächtigten des Klägers an diesen ergibt – am 25. November 2015 ein neues Vergleichsangebot (Zahlung von 5.000,00 Euro brutto) unterbreitet und darauf hingewiesen, dieser Betrag sei „nicht verhandelbar“.
13
2. Der Kläger hat mit der am 21. Januar 2016 anhängig gemachten Klage die zweite Stufe der arbeitsvertraglichen Verfallklausel gewahrt.
14
a) Der Beklagte lehnte mit seinem dem Kläger am selben Tag zugegangenen Schreiben vom 28. September 2015 die streitgegenständlichen Ansprüche iSd. vertraglichen Verfallklausel ab. Damit lief die Frist zur gerichtlichen Geltendmachung rechnerisch bis zum 28. Dezember 2015. Wegen der schwebenden Vergleichsverhandlungen war die Frist jedoch für die Dauer dieser Verhandlungen in entsprechender Anwendung des § 203 Satz 1 BGB gehemmt.
15
aa) Inwieweit Vorschriften des Verjährungsrechts auf arbeitsvertragliche Ausschlussfristen entsprechend angewendet werden können, ist in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht abschließend geklärt.
16
(1) Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat im Jahr 1973 für die Frage, wie sich eine Klagerücknahme und eine in angemessener Frist erfolgende erneute Klageerhebung auf eine (tarifliche) Ausschlussfrist, die die gerichtliche Geltendmachung des Anspruchs binnen einer bestimmten Frist verlangt, auswirkt, § 212 Abs. 1 und Abs. 2 BGB aF entsprechend angewendet (BAG 24. Mai 1973 – 5 AZR 21/73 – zu 2 der Gründe). Er hat jedoch später entschieden, dass § 212 Abs. 2 Satz 1 BGB aF, der eine Unterbrechung der Verjährung durch Klageerhebung trotz Klagerücknahme vorsah, wenn der Berechtigte binnen sechs Monaten erneut Klage erhob, auf eine zweistufige (tarifliche) Ausschlussfrist keine entsprechende Anwendung finde, weil anderenfalls die Ausschlussfrist sich durch eine einseitige Maßnahme einer Partei verlängern würde (BAG 11. Juli 1990 – 5 AZR 609/89 – zu III 2 a der Gründe, BAGE 65, 264).
17
(2) Des Weiteren hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts angenommen, eine Klage wahre zwar das Erfordernis einer schriftlichen Geltendmachung in einer tariflichen Ausschlussfristenregelung, der Kläger trage in diesem Fall indes die Gefahr der nicht fristgerechten Klagezustellung (BAG 8. März 1976 – 5 AZR 361/75 – zu 4 der Gründe; vgl. dazu nunmehr auch BAG 16. März 2016 – 4 AZR 421/15 – BAGE 154, 252). Eine Grenze dafür hat der Senat nur in höherer Gewalt gesehen und dabei § 203 Abs. 2 BGB aF entsprechend angewendet, weil diese Vorschrift als allgemeingültiges Rechtsprinzip auch für tarifliche Ausschlussfristen gelten müsse (BAG 8. März 1976 – 5 AZR 361/75 – zu 4 a der Gründe).
18
(3) Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat – zu einer zweistufigen tariflichen Ausschlussfrist – entschieden, tarifliche Verfallfristen könnten den Verjährungsfristen nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden. Schreibe ein Tarifvertrag jedoch ausdrücklich eine gerichtliche Geltendmachung vor und nehme damit auf den gesetzlichen Sprachgebrauch des Verjährungsrechts Bezug, sei „im Grundsatz Raum für eine entsprechende Anwendung der betreffenden gesetzlichen Vorschriften“ (BAG 16. Januar 2003 – 2 AZR 735/00 – zu B I 3 b bb der Gründe; 7. November 1991 – 2 AZR 34/91 – zu B II 2 b dd der Gründe).
19
bb) Der Bundesgerichtshof nimmt in seinem Zuständigkeitsbereich an, die entsprechende Heranziehung einzelner für die Verjährung geltender Bestimmungen auf Ausschlussfristen sei nicht schlechthin ausgeschlossen; vielmehr sei von Fall zu Fall nach Sinn und Zweck der jeweiligen Bestimmung zu entscheiden, inwieweit Verjährungsvorschriften auf Ausschlussfristen anzuwenden sind (BGH 9. April 2008 – VIII ZR 84/07 – Rn. 21; 9. Juli 1990 – II ZR 69/89 – zu 2 der Gründe mwN, BGHZ 112, 95). Diese Rechtsprechung hat im zivilrechtlichen Schrifttum weitgehend Zustimmung gefunden (Palandt/Ellenberger 77. Aufl. Überbl. v. § 194 BGB Rn. 14; Soergel/Niedenführ 13. Aufl. Vor § 194 BGB Rn. 12; Staudinger/Peters/Jacoby (2014) Vorbem. zu §§ 194 – 225 BGB Rn. 16; Erman/Schmidt-Räntsch 15. Aufl. Vor § 194 BGB Rn. 12; Bamberger/Roth/Henrich 3. Aufl. Bd. I § 194 BGB Rn. 7; NK-BGB/Mansel/Stürner 3. Aufl. Vor §§ 194 – 218 BGB Rn. 40; PWW/Deppenkemper 12. Aufl. § 194 BGB Rn. 9; enger MüKoBGB/Grothe 7. Aufl. Vor § 194 BGB Rn. 10 f.).
20
cc) Im Arbeitsrecht ist anerkannt, dass eine einzelvertragliche Ausschlussfrist, die eine gerichtliche Geltendmachung verlangt, von dem gesetzlichen Verjährungsrecht abweicht (BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 7 a der Gründe, BAGE 115, 19) und dieses bei der Inhaltskontrolle von Ausschlussfristen ein gesetzliches Leitbild nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist (vgl. nur BAG 28. September 2005 – 5 AZR 52/05 – Rn. 24, BAGE 116, 66; ErfK/Preis 18. Aufl. §§ 194 – 218 BGB Rn. 46; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 BGB Rn. 1170).
21
(1) Ausschlussfristen und Verjährungsfristen haben zwar eine unterschiedliche Rechtswirkung; erstere vernichten das Recht, letztere geben dem Schuldner eine Einrede und hindern damit die Durchsetzung der rechtlich fortbestehenden Forderung (§ 214 BGB). Doch geht es bei beiden im Kern darum, dass der Anspruchsinhaber seinen Anspruch gegen den Willen des Anspruchsgegners nur innerhalb bestimmter Fristen verwirklichen kann (BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 7 a der Gründe, BAGE 115, 19). Faktisch verkürzt eine Ausschlussfrist die Verjährungsfrist, weshalb sie den Anforderungen des § 202 Abs. 1 BGB, der eine Erleichterung der Verjährung bei Haftung wegen Vorsatz im Voraus durch Rechtsgeschäft untersagt, genügen muss (st. Rspr., vgl. nur BAG 20. Juni 2013 – 8 AZR 280/12 – Rn. 22; 28. September 2005 – 5 AZR 52/05 – Rn. 20, BAGE 116, 66).
22
(2) Wie beim Verjährungsrecht soll mit einer Ausschlussfrist das im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit anzuerkennende Klarstellungsinteresse des Schuldners in Einklang gebracht werden mit dem berechtigten Anliegen des Vertragspartners, vor Beschreiten des Rechtswegs die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen zu können und nicht zu einer voreiligen Klageerhebung gezwungen zu sein (BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 7 a der Gründe, BAGE 115, 19). Nimmt eine einzelvertragliche Verfallklausel mit dem Erfordernis einer gerichtlichen Geltendmachung zudem auf einen vom Verjährungsrecht zur Hemmung der Verjährung zur Verfügung gestellten Tatbestand (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) Bezug, gebieten die Ähnlichkeit von Funktion und faktischer Wirkung, auf die Ausschlussfrist diejenigen Verjährungsvorschriften entsprechend anzuwenden, deren Zweck dem Wesen der Ausschlussfrist nicht widerspricht (ähnlich NK-GA/Boemke § 194 BGB Rn. 10; weiter wohl Matthiessen Arbeitsvertragliche Ausschlussfristen S. 76, der die Verjährungsvorschriften „grundsätzlich“ auf Ausschlussfristen anwenden will und für deren Nichtanwendung eine Begründung verlangt).
23
dd) Danach ist § 203 Satz 1 BGB auf eine einzelvertragliche Ausschlussfrist, die zur Vermeidung des Verfalls eines Anspruchs seine gerichtliche Geltendmachung verlangt, entsprechend anwendbar mit der Folge, dass ihr Lauf für die Dauer von Vergleichsverhandlungen über den streitigen Anspruch gehemmt ist (im Ergebnis ebenso Boemke jurisPR-ArbR 35/2017 Anm. 2; Däubler/Zwanziger TVG 4. Aufl. § 4 Rn. 1049; aA – ohne Begründung – ErfK/Preis 18. Aufl. §§ 194 – 218 BGB Rn. 57; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 71 Rn. 30; für tarifliche Ausschlussfristen auch Langer Gesetzliche und vereinbarte Ausschlussfristen im Arbeitsrecht Rn. 220, der in der entsprechenden Anwendung von Verjährungsvorschriften einen Verstoß gegen die Tarifautonomie sieht).
24
(1) § 203 Satz 1 BGB hat den vor der Schuldrechtsmodernisierung nur für Ansprüche aus unerlaubter Handlung (§ 852 Abs. 2 BGB aF), Werk- und Reisevertrag (§ 639 Abs. 2, § 651g Abs. 2 Satz 3 BGB aF) geltenden Hemmungstatbestand des Schwebens von Verhandlungen über den Anspruch oder die ihn begründenden Umstände auf alle Ansprüche, deren Verjährung sich nach dem BGB richtet, erstreckt (vgl. nur Palandt/Ellenberger 77. Aufl. § 203 BGB Rn. 1). Die Norm gibt Schuldner und Gläubiger Zeit, ohne den Druck einer ablaufenden Verjährungsfrist über den streitigen Anspruch zu verhandeln und eine Einigung zu erzielen und hat den rechtspolitisch erwünschten Zweck, Prozesse zu vermeiden (NK-GA/Boemke § 203 BGB Rn. 2).
25
(2) Dieser Zweck widerspricht dem Wesen einer vertraglichen Ausschlussfrist, die eine gerichtliche Geltendmachung verlangt, nicht.
26
(a) Die Anknüpfung der Ausschlussfrist an die vorherige Ablehnung eines gegenüber dem Schuldner schriftlich geltend zu machenden Anspruchs (bzw. dessen Nichtäußerung hierzu), schließt es nicht aus, dass Schuldner und Gläubiger gleichwohl noch eine vorgerichtliche vergleichsweise Einigung versuchen in dem Bestreben, einen beide Seiten belastenden Arbeitsgerichtsprozess zu vermeiden.
27
(b) Die Ausschlussfrist ist zwar grundsätzlich eine „starre“, einseitig nicht zu verlängernde Frist. Doch bleibt sie insofern disponibel, als der Schuldner auf ihre Einhaltung verzichten kann. Außerdem können Gläubiger und Schuldner die von ihnen vereinbarte Ausschlussfrist einvernehmlich verlängern. Daher spricht nichts dagegen, ihnen über eine Hemmung der Ausschlussfrist ausreichend Zeit für vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen einzuräumen.
28
(c) Die Hemmung der Ausschlussfrist bei schwebenden Vergleichsverhandlungen führt auch nicht zu einer einseitigen Verlängerung der Ausschlussfrist und einer damit einhergehenden Benachteiligung des durch die Ausschlussfrist begünstigten Schuldners. Dieser hat es in der Hand, ob er sich überhaupt auf vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen einlassen und wie lange er solche führen will.
29
ee) Die Wirkung der Hemmung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 209 BGB: Danach wird der Zeitraum, während derer die Ausschlussfrist gehemmt war, nicht in die Frist eingerechnet.
30
ff) Dagegen findet § 203 Satz 2 BGB, der bestimmt, dass die Verjährung frühestens drei Monate nach dem Ende der Hemmung eintritt, auf arbeitsvertragliche Ausschlussfristen keine entsprechende Anwendung. Diese den Gläubiger schützende Ablaufhemmung (vgl. NK-GA/Boemke § 203 BGB Rn. 12), kann zu einer Verlängerung der Verjährungsfrist um fast drei Monate führen (sh. nur Palandt/Ellenberger 77. Aufl. § 203 BGB Rn. 5). Das widerspräche aber dem Zweck einer Ausschlussfrist zur gerichtlichen Geltendmachung eines Anspruchs und wäre zudem nicht interessengerecht. Denn der Gläubiger eines streitigen Anspruchs, der einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist unterliegt, muss und kann sich darauf einstellen, dass ihm nach Ende der Hemmung wegen vorgerichtlicher Vergleichsverhandlungen für die Einreichung der Klage nur die Differenz zwischen der Länge der Verfallfrist und der vor Aufnahme der Verhandlungen verstrichenen Zeit zur Verfügung steht.
31
b) Nach diesen Grundsätzen war der Lauf der dreimonatigen Frist zur gerichtlichen Geltendmachung entsprechend § 203 Satz 1 BGB für den Zeitraum, in dem zwischen den Parteien vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen schwebten, gehemmt.
32
aa) Unter Vergleichsverhandlungen iSv. § 203 Satz 1 BGB ist grundsätzlich jeder ernsthafte Meinungsaustausch über den Anspruch oder seine tatsächlichen Grundlagen zu verstehen, sofern der Schuldner dies nicht sofort und erkennbar ablehnt. Verhandlungen schweben schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der jeweils anderen die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang ein (BGH 7. November 2014 – V ZR 309/12 – Rn. 20; NK-GA/Boemke § 203 BGB Rn. 8; MüKoBGB/Grothe 7. Aufl. § 203 Rn. 5; Erman/Schmidt-Räntsch BGB 15. Aufl. § 203 Rn. 5a).
33
bb) Aus den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ergibt sich, dass der Beklagte über seinen anwaltlichen Vertreter im Ablehnungsschreiben vom 28. September 2015 Vergleichsbereitschaft „signalisierte“ und die Parteien daraufhin unstreitig vorgerichtliche Vergleichsverhandlungen führten. Diese begannen spätestens mit dem im Tatbestand des Berufungsurteils festgehaltenen Telefonat der von den Parteien beauftragten Rechtsanwälte am 28. Oktober 2015. Die Verhandlungen schwebten mindestens bis zum Telefonat der anwaltlichen Vertreter der Parteien am 25. November 2015, bei dem der Beklagte dem Kläger unstreitig ein neues (und letztes) Vergleichsangebot unterbreitete. Frühestens zu diesem Zeitpunkt hat der Beklagte die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert iSd. § 203 Satz 1 BGB, wobei dahingestellt bleiben kann, ob der Hinweis, das unterbreitete Angebot sei „nicht verhandelbar“, den Abbruch der Verhandlungen klar und deutlich zum Ausdruck brachte (zu diesem Erfordernis vgl. BGH 17. Februar 2004 – VI ZR 429/02 – zu II 2 der Gründe mwN; MüKoBGB/Grothe 7. Aufl. § 203 Rn. 8; zum „Einschlafen“ der Verhandlungen BGH 5. Juni 2014 – VII ZR 285/12 – Rn. 16).
34
cc) Davon ausgehend wird entsprechend § 209 BGB jedenfalls der Zeitraum vom 28. Oktober 2015 (spätester Tag des Beginns der Hemmung) bis zum 25. November 2015 (frühester Tag des Endes der Hemmung) – das sind 29 Tage (zur Berechnung der Hemmungszeit sh. nur NK-GA/Boemke § 209 BGB Rn. 3; Palandt/Ellenberger 77. Aufl. § 209 BGB Rn. 1) – in die Ausschlussfrist nicht eingerechnet. Die abgelehnten Ansprüche mussten deshalb nicht – wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat – bis zum 28. Dezember 2015, sondern konnten mindestens bis zum 26. Januar 2016 iSd. Verfallklausel „bei Gericht anhängig“ gemacht werden. Mit der am 21. Januar 2016 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger daher die zweite Stufe der arbeitsvertraglichen Verfallklausel gewahrt.
35
3. Mangels Entscheidungserheblichkeit braucht der Senat nicht darüber zu befinden, ob die streitgegenständliche Verfallklausel – was das Berufungsgericht verneint hat (abweichend, ohne die Revision zuzulassen, LAG Hamburg 20. Februar 2018 – 4 Sa 69/17 -) – insgesamt unwirksam ist, weil sie den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausdrücklich ausnimmt (zum Streitstand im Schrifttum vgl. – pars pro toto – Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 28; Sagan RdA 2017, 264, 266, die Teilunwirksamkeit annehmen; dagegen bejahen Gesamtunwirksamkeit wegen Intransparenz etwa MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3a; Schaub/Vogelsang ArbR-HdB 17. Aufl. § 66 Rn. 46 – alle mwN; zu einem entsenderechtlichen Mindestentgelt sh. BAG 24. August 2016 – 5 AZR 703/15 – Rn. 29 f., BAGE 156, 150).
36
II. Ob und in welchem Umfang die Klage in ihren zwei Streitgegenständen begründet ist, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden.
37
1. Die Klage auf Vergütung von Überstunden ist – entgegen der im Tatbestand des Berufungsurteils wiedergegebenen Auffassung des Arbeitsgerichts – nicht schon deshalb abweisungsreif, weil der Kläger nicht vorgetragen hat, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat (vgl. BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 362/16 – Rn. 23 mwN, BAGE 157, 347). Vielmehr hat der Kläger die Klage schlüssig auf die arbeitsvertraglich vorgesehene Stundenerfassung und das Führen eines Arbeitszeitkontos gestützt.
38
a) Ob, in welcher Form und wie lange für den Kläger tatsächlich ein Arbeitszeitkonto geführt wurde und welchen Saldo ein solches bei seiner Schließung aufwies, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt. Ist für den Kläger ein Arbeitszeitkonto geführt worden, würde dem Beklagten im Rahmen einer abgestuften Darlegungslast die Pflicht obliegen, im Einzelnen vorzutragen, aufgrund welcher Umstände der ausgewiesene Saldo unzutreffend ist oder sich bis zur vereinbarten Schließung des Arbeitszeitkontos reduziert hat (BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 23, BAGE 152, 315).
39
b) Ist zugunsten des Klägers ein Saldo auf dem Arbeitszeitkonto vorbehaltlos ausgewiesen und bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch bezahlte Freizeit oder zusätzliches Entgelt abgebaut worden, sind die Guthabenstunden streitlos gestellt und mussten – unbeschadet der Frage, ob die Verfallklausel überhaupt wirksam ist – nicht innerhalb von Ausschlussfristen geltend gemacht werden (vgl. BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 34, BAGE 152, 315).
40
2. Zur Klage auf Urlaubsabgeltung hat das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen zum Umfang des bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen und daher nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugeltenden Urlaubs getroffen.
41
a) Weil der Kläger in der zweiten Jahreshälfte ausgeschieden ist, steht ihm für das Jahr 2015 der gesamte arbeitsvertraglich vereinbarte Urlaub von 28 Arbeitstagen zu. Das vom Landesarbeitsgericht im Tatbestand des Berufungsurteils in Bezug genommene Ablehnungsschreiben des Beklagten deutet darauf hin, dass – wie der Kläger vorgebracht hat – bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch der gesamte Urlaub für das Jahr 2015 offen war.
42
Zur Abgeltung von Resturlaub aus dem Jahr 2014 ist das Landesarbeitsgericht dem unter Beweis gestellten Sachvortrag des Klägers, im Betrieb des Beklagten sei es aufgrund der Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter möglich gewesen, Urlaub auch über den 31. März des Folgejahrs hinaus zu übertragen, nicht nachgegangen. Insoweit kommt (auch) ein bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugeltender Ersatzurlaubsanspruch in Betracht (vgl. BAG 16. Mai 2017 – 9 AZR 572/16 – Rn. 12 ff., BAGE 159, 106).
43
b) Der Anspruch auf Urlaub und Ersatzurlaub entsteht mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses (BAG 16. Mai 2017 – 9 AZR 572/16 – Rn. 15, BAGE 159, 106) und kann frühestens zu diesem Zeitpunkt fällig sein. Mit Schreiben vom 28. September 2015 hat ihn der Kläger – wovon auch das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist – rechtzeitig im Sinne der ersten Stufe der arbeitsvertraglichen Verfallklausel geltend gemacht, so dass es auf die Frage von deren Wirksamkeit nicht ankommt.
44
3. Der möglichen Begründetheit der Klage steht die im Ablehnungsschreiben vom 28. September 2015 erklärte Aufrechnung nicht entgegen. Der Beklagte hat im Prozess nach Aktenlage den Bestand einer Gegenforderung nicht einmal im Ansatz substantiiert dargelegt. Zudem ist eine Aufrechnung mit Nettozahlungsansprüchen gegen eine Bruttoentgeltforderung nicht statthaft (vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 5 AZR 93/12 – Rn. 42; 22. März 2000 – 4 AZR 120/99 – zu II der Gründe).
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bag_32-19 | 16.10.2019 | 16.10.2019
32/19 - Feiertagsvergütung - Zeitungszusteller
Eine arbeitsvertragliche Regelung, nach der ein Zeitungszusteller einerseits Zeitungsabonnenten täglich von Montag bis Samstag zu beliefern hat, andererseits Arbeitstage des Zustellers lediglich solche Tage sind, an denen Zeitungen im Zustellgebiet erscheinen, verstößt gegen den Grundsatz der Unabdingbarkeit des gesetzlichen Anspruchs auf Entgeltzahlung an Feiertagen.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Zeitungszusteller beschäftigt. Arbeitsvertraglich ist er zur Belieferung von Abonnenten von Montag bis einschließlich Samstag verpflichtet. Arbeitstage sind nach der getroffenen Vereinbarung alle Tage, an denen Zeitungen im Zustellgebiet erscheinen. Fällt ein Feiertag auf einen Werktag, an dem keine Zeitungen im Zustellgebiet erscheinen, erhält der Kläger keine Vergütung. Mit seiner Klage verlangt er für fünf Feiertage im April und Mai 2015 (Karfreitag, Ostermontag, Tag der Arbeit, Christi Himmelfahrt und Pfingstmontag), an denen er nicht beschäftigt wurde, Vergütung von insgesamt 241,14 Euro brutto. Er hat gemeint, die Arbeit sei allein wegen der Feiertage ausgefallen, weshalb die gesetzlichen Voraussetzungen für den Entgeltzahlungsanspruch vorlägen. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben.
Die Revision der Beklagten führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Gemäß dem Entgeltfortzahlungsgesetz hat der Arbeitgeber für Arbeitszeit, die infolge eines gesetzlichen Feiertags ausfällt, das Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Arbeitnehmer ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Danach haben die Vorinstanzen zunächst zutreffend erkannt, dass der Kläger dem Grunde nach Anspruch auf die begehrte Feiertagsvergütung hat. Die Beschäftigung des Klägers ist an den umstrittenen Feiertagen einzig deshalb unterblieben, weil in seinem Arbeitsbereich die üblicherweise von ihm zuzustellenden Zeitungen nicht erschienen sind. Die im Arbeitsvertrag enthaltene Vereinbarung zur Festlegung vergütungspflichtiger Arbeitstage ist, soweit sie darauf zielt, Feiertage aus der Vergütungspflicht auszunehmen, wegen der Unabdingbarkeit des gesetzlichen Entgeltzahlungsanspruchs unwirksam. Das Berufungsurteil unterlag gleichwohl der Aufhebung, weil das Berufungsgericht die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts fehlerhaft berechnet hat.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Oktober 2019 – 5 AZR 352/18 –
Vorinstanz: Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 21. Februar 2018 – 5 Sa 269/17 – | Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 21. Februar 2018 – 5 Sa 269/17 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Eine arbeitsvertragliche Regelung, nach der ein Zeitungszusteller einerseits Zeitungsabonnenten täglich von Montag bis Samstag zu beliefern hat, andererseits Arbeitstage des Zustellers lediglich solche Tage sind, an denen Zeitungen im Zustellgebiet erscheinen, verstößt gegen den Grundsatz der Unabdingbarkeit des gesetzlichen Anspruchs auf Entgeltzahlung an Feiertagen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Vergütung für gesetzliche Feiertage, die auf einen Werktag fallen (Wochenfeiertage).
2
Der Kläger ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit 1993 als Zeitungszusteller beschäftigt. Die Beklagte betreibt die Verteilung von Druckerzeugnissen an Haushalte. Sie ist Zustellpartnerin der DDV Mediengruppe und Dienstleisterin des Logistikunternehmens Medialogistik.
3
Am 12. Dezember 2014 schlossen die Parteien einen (Änderungs-)Arbeitsvertrag. Dort heißt es ua.:
„…
Präambel
…
§ 1 Tätigkeit, Vergütung, Arbeitszeit
1.
Der Zusteller übernimmt die Belieferung von Abonnenten/Empfängern mit periodischen Zeitungen und Zeitschriften an Endkunden sowie ggfls. Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt in dem in der Anlage 1 zu diesem Vertrag genannten Zustellbezirk.
…
3.
Die Vergütung und die Arbeitszeit sind in den Anlagen 1 (Anlage 1 und soweit vereinbart, Anlage 2) zu diesem Vertrag geregelt.
…
§ 3 Zustellung, Prüfungspflicht, Wartezeit
1.
Die Belieferung der Abonnenten erfolgt täglich von Montag bis einschließlich Samstag.
…“
4
Unter dem Datum 31. März 2015 unterzeichneten die Parteien eine „Anlage 1 – Vergütung für abonnierte Presseerzeugnisse -“, bei der es sich unstreitig um die im Arbeitsvertrag zu § 1 Nr. 1 und Nr. 3 bezeichnete, im Streitzeitraum maßgebliche Anlage 1 handelt (iF Anlage 1). Dort ist ua. geregelt:
„Zwischen der M GmbH und dem/r Zusteller/-in werden folgende Vereinbarungen zum Zustellbezirk, zur Ablagestelle, zur Vergütung, zur Gewährung von Nachtzuschlägen, zur Arbeitszeit sowie zur Aufwandsentschädigung getroffen.
1.
Zusteller/-in
…
Bezirksnummer: 4743/4745/4747
…
3.
Vergütung und Arbeitszeit
Mit dem Zusteller wird folgende Vergütung vereinbart:
Die Vergütung beträgt für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis einschließlich 31.12.2015 insgesamt mindestens 6,38 € je vergütungspflichtiger Arbeitszeitstunde.
Sie setzt sich aus einem Grundlohn und einem Stücklohn wie unter Absatz c) aufgeführt zusammen.
1
2
3
4
5
Bezirksnummer
Grundlohn je Arbeitstag
Stücklohn Zeitung je zugestelltes Exemplar
Anzahl Zeitungen je Arbeitstag nach GIS
tägliche Soll-Arbeitszeit bei Anzahl Zeitungen gemäß Spalte 4 nach GIS
4743
3,54 €
0,031 €
194,6
90 min
4745
3,14 €
0,029 €
166,6
75 min
4747
3,52 €
0,027 €
169,2
65 min
Der Grundlohn je Arbeitstag, der Stücklohn Zeitung je zugestelltes Exemplar, die tägliche vergütungspflichtige Soll-Arbeitszeit sowie die Anzahl der zuzustellenden Zeitungen je Arbeitstag wurden mittels eines Geoinformationssystems (GIS) auf Basis der Daten Mitte Oktober 2014 berechnet, die im Übrigen regelmäßig überprüft und aktualisiert werden.
Die Anzahl zuzustellender Zeitungen kann aufgrund von Urlaubsabmeldungen, Abo-Rückgängen etc. variieren. Ändert sich die Anzahl der zuzustellenden Exemplare, ändert sich die Soll-Arbeitszeit entsprechend. Schwankungen sind zu melden.
Die Vergütungsvereinbarung wird daher im Hinblick auf den Grundlohn und den Stücklohn mindestens einmal jährlich überprüft und gegebenenfalls angepasst. Eine Anpassung erfolgt ferner u.a. bei künftigen Veränderungen des Mindestlohns, bei Optimierung der Zustellbezirke sowie bei Änderungen der Zustellnormen.
c)
Die mittels GIS berechnete vergütungspflichtige Soll-Arbeitszeit beinhaltet die Wege-, Rüst- und Steckzeit unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Zustellbezirkes (u.a. Bebauung, Abodichte, Wegstrecke, Zustellart, Topografie). Der Wegezeit liegt eine vom Geoinformationssystem ermittelte optimale Gangfolge zugrunde. Die optimale Gangfolge ist in der Anlage 1a zu dieser Vereinbarung niedergelegt.
d)
Arbeitstage des Zustellers sind alle Tage, an denen Zeitungen im Zustellgebiet erscheinen.
e)
Die Grundlagen für die Bemessung des Grund- und des Stücklohns wurden dem Zusteller bekanntgegeben und gemeinsam erläutert. Der Zusteller hatte die Gelegenheit, Einwände gegen die ermittelte vergütungspflichtige Arbeitszeit vorzubringen.
…
6.
Aufwandsentschädigung
a)
Der Zusteller erhält eine Aufwandsentschädigung (Km-Geld) für die im Rahmen der Zustellung mit seinem privaten Fahrzeug zurückgelegten Wegstrecken, sofern er nicht von der M GmbH ein Fahrzeug … zur Verfügung gestellt bekommt. …
b)
Die Aufwandsentschädigung beträgt pro gefahrenen Kilometer:
a)
für die Nutzung Pkw
0,27 EUR,
…“
5
Als Anlage 1b zum Anstellungsvertrag schlossen die Parteien eine Zusatzvereinbarung über die Zahlung einer weiteren Vergütung „für die Zustellung an Nichtleserhaushalte“ in den Bezirken mit den Nrn. 4743, 4745 und 4747.
6
Die Beklagte rechnete das Arbeitsverhältnis im Jahr 2015 auf der Grundlage des gesetzlichen Mindestlohns für Zeitungszusteller von seinerzeit 6,38 Euro brutto je Zeitstunde ab. Für die Feiertage am 3. April 2015 (Karfreitag), am 5. April 2015 (Ostermontag), am 1. Mai 2015 (Tag der Arbeit), am 14. Mai 2015 (Christi Himmelfahrt) und am 25. Mai 2015 (Pfingstmontag), an denen der Kläger nicht arbeitete, zahlte sie keine Vergütung.
7
Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung hat der Kläger mit der vorliegenden Klage Vergütung für die vorbeizeichneten Feiertage verlangt. Er hat geltend gemacht, die Beklagte sei gesetzlich zur Entgeltzahlung verpflichtet. Der Arbeitsausfall an den betreffenden Tagen sei ausschließlich feiertagsbedingt. Die Regelung zu Nr. 3d Anlage 1 stehe dieser Beurteilung nicht entgegen. Sie sei in mehrerer Hinsicht unwirksam. Zur Berechnung der Vergütung sei hinsichtlich des Umfangs der ausgefallenen Arbeitszeit wegen ständiger Schwankungen der Stückzahlen der zuzustellenden Druckerzeugnisse und damit einhergehend der vergütungspflichtigen Wegezeit eine vergangenheitsbezogene Betrachtung geboten, wobei zur Vermeidung unsachgemäßer Ergebnisse auf den Bruttolohn der letzten drei, dem jeweiligen Feiertag vorausgehenden Abrechnungsmonate abzustellen sei.
8
Der Kläger hat zuletzt erstinstanzlich – zusammengefasst – beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 241,14 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 90,80 Euro brutto seit dem 1. Mai 2015 und aus 150,34 Euro brutto seit dem 1. Juni 2015 zu zahlen.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat gemeint, der für den gesetzlichen Entgeltzahlungsanspruch erforderliche monokausale Zusammenhang zwischen Feiertag und Arbeitsausfall sei nicht gegeben. Die Arbeit des Klägers sei nicht wegen des Feiertags, sondern deshalb unterblieben, weil im Zustellbezirk des Klägers keine Presseerzeugnisse erschienen seien, mit deren Zustellung sie im Allgemeinen beauftragt sei. Mit Blick auf solche Tage habe sie – insoweit auch feiertagsunabhängig – entschieden, ihrer unternehmerischen Tätigkeit nicht nachzugehen. Dem trügen die vertraglichen Vereinbarungen in zulässiger Weise Rechnung. Die Klage sei zudem in der Höhe unschlüssig. Eine Bemessung der Feiertagsvergütung anhand eines Referenzzeitraums lasse das Gesetz nicht zu.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage durch Versäumnisurteil stattgegeben und dieses nach rechtzeitigem Einspruch der Beklagten aufrechterhalten. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass der Kläger für zwei Feiertage im April 2015 und drei Feiertage im Mai 2015 Entgeltzahlung nach § 2 Abs. 1 EFZG verlangen kann. Bei der Berechnung der Anspruchshöhe hat es jedoch rechtsfehlerhaft auf einen Referenzzeitraum von drei Monaten abgestellt. An einer abschließenden Entscheidung ist der Senat gehindert, weil es an erforderlichen Feststellungen zu den maßgeblichen Berechnungstatsachen fehlt. Daher ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 ZPO).
12
I. Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Entgeltzahlung für die an den streitgegenständlichen Feiertagen ausgefallene Arbeitszeit.
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1. Gemäß § 2 Abs. 1 EFZG hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für Arbeitszeit, die infolge eines gesetzlichen Feiertags ausfällt, das Entgelt zu zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Der Arbeitnehmer ist danach so zu stellen, als hätte er an dem gesetzlichen Feiertag im Umfang der für diesen Tag geschuldeten Arbeitszeit, dh. der für die Arbeit vorgesehenen oder festgelegten Zeitspanne (vgl. dazu BAG 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 – Rn. 16, BAGE 164, 57), gearbeitet. Er ist insbesondere nicht zur unentgeltlichen Vor- oder Nacharbeit der durch den Feiertag ausgefallenen Arbeitszeit verpflichtet (BAG 6. Dezember 2017 – 5 AZR 118/17 – Rn. 22, BAGE 161, 132).
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2. Der gesetzliche Anspruch auf Entgeltzahlung an Feiertagen entsteht nur dann, wenn der Feiertag die alleinige Ursache für den Arbeitsausfall ist (st. Rspr., zB BAG 26. Oktober 2016 – 5 AZR 456/15 – Rn. 15, BAGE 157, 97; 13. Mai 2015 – 10 AZR 495/14 – Rn. 30, BAGE 151, 331; zum Erfordernis der sog. Monokausalität siehe auch ErfK/Reinhard 19. Aufl. EFZG § 2 Rn. 8; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. EZFG § 2 Rn. 11; Schaub ArbR-HdB/Linck 18. Aufl. § 103 Rn. 2; jeweils mwN). Hätte der Arbeitnehmer an dem betreffenden Tag auch ohne den Feiertag nicht gearbeitet und keinen Lohn verdient, steht ihm keine Feiertagsvergütung zu. Dies gilt etwa, wenn der Feiertag in einen Zeitraum fällt, in dem das Arbeitsverhältnis ruht und deshalb die beiderseitigen Hauptpflichten suspendiert sind (vgl. BAG 26. Oktober 2016 – 5 AZR 456/15 – aaO). Auch eine dienstplanmäßige Freistellung des Arbeitnehmers am Feiertag kann den Anspruch auf Feiertagsvergütung ausschließen. Das setzt allerdings voraus, dass sich die Freistellung aus einem von der gesetzlichen Feiertagsruhe unabhängigen Schema ergibt (st. Rspr., zB BAG 24. September 2015 – 6 AZR 510/14 – Rn. 17, BAGE 152, 378; 27. März 2014 – 6 AZR 621/12 – Rn. 17). Hängt demgegenüber die Arbeitsbefreiung von den Feiertagen ab, wäre also der Arbeitnehmer zur Arbeit herangezogen worden, wenn der betreffende Tag kein Feiertag gewesen wäre, lässt die Freistellung den Entgeltzahlungsanspruch aus § 2 Abs. 1 EFZG unberührt (so bereits BAG 9. Oktober 1996 – 5 AZR 345/95 – zu II 1 der Gründe, BAGE 84, 216; 27. September 1983 – 3 AZR 159/81 – BAGE 44, 160; jeweils zu § 1 Abs. 1 Gesetz zur Regelung der Lohnzahlung an Feiertagen, iF FeiertLohnzG).
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3. Gemessen daran kann der Kläger von der Beklagten für die an den streitgegenständlichen Tagen ausgefallene Arbeit Entgeltzahlung verlangen.
16
a) Nach § 1 Abs. 1 iVm. Abs. 2 des Gesetzes über Sonn- und Feiertage im Freistaat Sachsen vom 10. November 1992 (SächsSFG; SächsGVBl. S. 536) sind Karfreitag, Ostermontag, Tag der Arbeit, Christi Himmelfahrt und Pfingstmontag gesetzliche Feiertage im Sinne bundesrechtlicher Vorschriften.
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b) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Arbeitszeit des Klägers sei iSv. § 2 Abs. 1 EFZG infolge dieser Feiertage ausgefallen, ist im Ergebnis rechtsfehlerfrei.
18
aa) Die vom Kläger geschuldete Arbeit ist in § 1 Nr. 1 und § 3 Nr. 1 des Arbeitsvertrags umschrieben. Danach übernimmt er die Belieferung von Abonnenten/Empfängern mit dort näher spezifizierten Presseerzeugnissen und ggf. Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt, wobei die Belieferung täglich von Montag bis einschließlich Samstag erfolgt. Die Beklagte stellt auch nicht in Abrede, dass Zeitungen im Zustellbezirk des Klägers angeliefert worden und von ihm zuzustellen gewesen wären, der Kläger also an den streitgegenständlichen Tagen gearbeitet hätte, wenn diese nicht gesetzliche Feiertage gewesen wären.
19
bb) Der Beurteilung des Berufungsgerichts, hiervon ausgehend liege der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen Feiertag und Arbeitsausfall vor, steht nicht entgegen, dass die Beklagte als Unternehmen, das die Verteilung von Druckerzeugnissen betreibt, nicht ausnahmslos an die in § 9 ArbZG normierte Sonn- und Feiertagsruhe gebunden ist, sondern es ihr nach § 10 Abs. 1 Nr. 8 ArbZG grundsätzlich erlaubt ist, Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen jedenfalls mit dem Austragen von Erzeugnissen der Tagespresse zu beschäftigten (zu diesem Erlaubnistatbestand vgl. BT-Drs. 12/6990 S. 13 f., 43; ausführlich zu dessen Voraussetzungen bspw. Baeck/Deutsch ArbZG 3. Aufl. § 10 Rn. 57 ff.; Neumann/Biebl ArbZG 16. Aufl. § 10 Rn. 24 ff.). Aus dieser Möglichkeit kann, anders als die Revision meint, nicht gefolgert werden, der Arbeitsausfall beim Kläger sei nicht feiertagsbedingt, sondern beruhe auf anderen Gründen, nämlich der unternehmerischen Entscheidung der Beklagten, den Kläger mangels Nachfrage nach ihren Dienstleistungen in dessen Zustellbezirk an Feiertagen nicht zu beschäftigen. Ein solches Verständnis widerspricht dem Zweck von § 2 Abs. 1 EFZG. Dieser besteht darin, den feiertagsbedingten Entgeltausfall des Arbeitnehmers zu kompensieren. Der Entgeltzahlungsanspruch hängt nicht davon ab, dass der Arbeitgeber einer Branche angehört, in der die Beschäftigung von Arbeitnehmern arbeitszeitrechtlich unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise eröffnet ist. Macht der Arbeitgeber von den Möglichkeiten des § 10 ArbZG keinen Gebrauch, weil es feiertagsbedingt an einem Arbeitskräftebedarf fehlt, schuldet er dem Arbeitnehmer nach allgemeinen Regeln Feiertagsvergütung. Entsprechend sind bei Zeitungszustellern die Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 EFZG stets dann erfüllt, wenn wegen des Feiertags keine Zeitung hergestellt wird und deshalb durch den Zusteller an dem Feiertag keine Zeitung ausgetragen werden muss, während dies ohne den Feiertag geschehen wäre.
20
cc) Der Einwand der Revision, die an den streitgegenständlichen Tagen ausgefallene Arbeit sei vom Kläger nicht nachzuholen gewesen, ist unbeachtlich. Die Beklagte übersieht, dass sie andernfalls sowohl für die am Feiertag ausgefallene als auch für die nachgeleistete Arbeit das übliche Entgelt zu zahlen gehabt hätte (vgl. BAG 10. Juli 1996 – 5 AZR 113/95 – zu 2 c der Gründe, BAGE 83, 283).
21
dd) Die zu Nr. 3d Anlage 1 getroffene Vereinbarung, wonach Arbeitstage des Zustellers alle Tage sind, an denen Zeitungen im Zustellgebiet des Klägers erscheinen, schließt den Entgeltzahlungsanspruch ebenso wenig aus. Das hat das Landesarbeitsgericht jedenfalls im Ergebnis zutreffend erkannt. Die Klausel verstößt, soweit sie gesetzliche Wochenfeiertage erfasst, gegen den in § 12 EFZG geregelten Grundsatz der Unabdingbarkeit des gesetzlichen Anspruchs auf Feiertagsvergütung und ist insoweit teilnichtig, § 139 BGB.
22
(1) Gemäß § 12 EFZG kann abgesehen von § 4 Abs. 4 von den Vorschriften dieses Gesetzes nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Das schließt mit Blick auf § 2 EFZG die Bestimmung des Ursachenzusammenhangs zwischen Arbeitsausfall und Feiertag ein (BAG 15. Mai 2013 – 5 AZR 139/12 – Rn. 12).
23
(2) Das Landesarbeitsgericht hat die Regelung in Nr. 3d Anlage 1, bei der es sich nach seinen nicht angegriffenen Feststellungen um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSd. § 305 Abs. 1 BGB handelt, als Vereinbarung über den Umfang der vergütungspflichtigen Arbeitszeit verstanden. Diese Auslegung, die der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung durch den Senat unterliegt (vgl. dazu nur BAG 17. April 2019 – 5 AZR 331/18 – Rn. 12 mwN), ist rechtsfehlerfrei. Die Parteien haben hinsichtlich der Dauer der vom Kläger geschuldeten Arbeitszeit weder unmittelbar im Arbeitsvertrag noch in der Anlage 1 einen bestimmten monatlichen oder wöchentlichen Umfang vereinbart. Die Arbeitszeit soll sich vielmehr, wie die Tabelle zur „Zusammensetzung“ der Vergütung und die im nachstehenden Satz enthaltenen Erläuterungen verdeutlichen, nach der mittels Geoinformationssystem ermittelten, in Spalte 4 der Tabelle dargestellten „Anzahl Zeitungen je Arbeitstag“ und einer in Spalte 5 ausgewiesenen „täglichen Soll-Arbeitszeit bei Anzahl Zeitungen gemäß Spalte 4 nach GIS“ richten. Dies in Verbindung mit der Vereinbarung, wonach die Anzahl zuzustellender Zeitungen aufgrund von Urlaubsabmeldungen, „Abo-Rückgängen“ etc. variieren kann und sich bei Änderung der zuzustellenden Exemplare (auch) die „Soll-Arbeitszeit“ ändert, macht aus der Perspektive eines verständigen und redlichen Erklärungsempfängers deutlich, dass sich der Umfang der Arbeitszeit und entsprechend die Vergütung nach den jeweiligen Bedürfnissen der vereinbarten Tätigkeit – sprich dem Arbeitsanfall – richten soll. Wenn in diesem Zusammenhang Nr. 3d Anlage 1 bestimmt, dass Arbeitstage (lediglich) solche Tage sind, an denen Zeitungen im Zustellgebiet erscheinen, kann dies nur bedeuten, dass an anderen Tagen weder eine Arbeitspflicht des Klägers noch eine Vergütungspflicht der Beklagten bestehen soll.
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(3) Entgegen der Auffassung der Revision liegt damit indes keine Freistellung vor, die einem feiertagsunabhängigen Schema folgt. Die umstrittene Klausel soll vielmehr bewirken, dass sich unter der Voraussetzung einer fehlenden Belieferung mit Zeitschriften die vom Kläger im Arbeitsverhältnis geschuldete „Soll-Arbeitszeit“ um diejenige Zeit verkürzt, die ohne die vertragliche Regelung auf den Feiertag entfiele. Dabei erfasst die Klausel nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten typischerweise Wochentage, an denen, sofern es sich nicht um Feiertage handelt, üblicherweise eine Arbeitspflicht des Klägers besteht. Einer solchen Vereinbarung steht jedoch die Unabdingbarkeit des gesetzlichen Entgeltzahlungsanspruchs entgegen. Der Arbeitgeber kann der Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 EFZG nicht dadurch entgehen, dass er für den Feiertag von vornherein keine Arbeit einplant (zu § 1 FeiertLohnzG vgl. BAG 26. März 1985 – 3 AZR 239/83 – zu I 1 der Gründe; seither st. Rspr.). Dass die Beklagte an solchen Tagen, soweit Presseunternehmen sie nicht mit Druckerzeugnissen beliefern, kein Interesse an der Arbeitsleistung des Klägers hat, ist ohne rechtliche Relevanz.
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(4) Das Ergebnis begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Regelungen in § 2 Abs. 1, § 12 EFZG dienen der Verwirklichung und Durchsetzung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) und damit verfassungsrechtlich legitimierten Belangen (BAG 26. September 2001 – 5 AZR 539/00 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 99, 112).
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(5) Da die Klausel bereits aus den genannten Gründen dem Entgeltzahlungsanspruch nicht entgegensteht, kommt es auf die vom Landesarbeitsgericht behandelte Frage, ob die Regelung zu Nr. 3d Anlage 1 den Kläger iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1, § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB entgegen den Grundsätzen von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt, soweit sie einen Anspruch aus § 615 Abs. 1 BGB ausschließt, nicht mehr entscheidungserheblich an. Ebenso kann offenbleiben, ob der Auffassung des Klägers zu folgen ist, die Klausel sei auch deshalb unwirksam, weil sie angesichts der im Arbeitsvertrag enthaltenen Regelung, wonach die Belieferung der Abonnenten täglich von Montag bis Samstag erfolgt, iSv. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht klar und verständlich sei.
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II. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klageforderung sei auch in der Höhe begründet, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie wird von den bisherigen Feststellungen nicht getragen.
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1. Für die Höhe des Feiertagsentgelts gilt nach § 2 Abs. 1 EFZG das Entgeltausfallprinzip. Hiernach berechnet sich der Anspruch nach dem Umfang der Arbeitszeit, die beim Arbeitnehmer an dem Feiertag ausgefallen ist (Zeitfaktor) und des für diese Arbeitszeit zu leistenden Arbeitsentgelts (Geldfaktor). Die Feiertagsvergütung ergibt sich dann aus der Multiplikation beider Faktoren. Das gilt auch im Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes. Dieses begründet für Zeiten ohne Arbeitsleistung keine unmittelbaren Ansprüche (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 19, BAGE 155, 202; seither st. Rspr.). Allerdings verlangt § 2 Abs. 1 EFZG, den Mindestlohn nach dem MiLoG als Geldfaktor in die Berechnung des Entgeltzahlungsanspruchs für Feiertage einzustellen, soweit nicht aus anderen Gründen ein höherer Vergütungsanspruch besteht (zum Ganzen BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 43/18 – Rn. 38 mwN, BAGE 165, 205).
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2. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falls sei die Feiertagsvergütung nach Maßgabe des Entgeltfortzahlungsprinzips „unter Berücksichtigung eines Referenzzeitraums“ von drei Monaten zu berechnen. Diese Besonderheiten hat es darin gesehen, dass die Menge der zuzustellenden Druckerzeugnisse, nach der sich sowohl die Soll-Arbeitszeit als auch die dem Kläger geschuldete Stückvergütung bestimmt, fast täglich schwanke, und der Kläger auch nicht über ein Geoinformationssystem verfüge, mittels dessen sich die Wege-, Rüst- und Steckzeiten bestimmen, die nach Nr. 3 Anlage 1 in die Arbeitszeit einfließen.
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3. An die dieser Würdigung zugrunde liegenden Feststellungen ist der Senat zwar nach § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die Beklagte hat diesbezüglich zulässige Verfahrensrügen nicht erhoben. Soweit sie darauf verweist, dem Kläger hätten Mittel und Wege zur Verfügung gestanden, die notwendigen Informationen zu erlangen, ist dies schon deshalb unbeachtlich, weil das Vorbringen nicht erkennen lässt, um welche Instrumente es sich dabei handeln soll. Abgesehen davon stellt die Beklagte die regelmäßigen Schwankungen der Anzahl der zuzustellenden Presseerzeugnisse nicht in Abrede. Dass vor diesem Hintergrund unter Berücksichtigung der vertraglichen Vergütungsregelungen die Darlegung der Höhe des fortzuzahlenden Entgelts sowohl nach dem Zeit- als auch dem Geldfaktor erhebliche Schwierigkeiten bereitet, liegt auf der Hand.
31
4. Die Forderungsberechnung durch das Landesarbeitsgericht kann gleichwohl – aus Rechtsgründen – nicht überzeugen.
32
a) Tatsächliche Hindernisse bei der Ermittlung der Höhe des Entgeltzahlungsanspruchs bei variabler Vergütung rechtfertigen keine Abkehr von der gesetzlichen Regelung des § 2 Abs. 1 EFZG zugunsten des Referenzprinzips in dem Sinne, dass der Arbeitgeber ohne Weiteres zur Zahlung einer Durchschnittsvergütung verpflichtet wäre (BAG 24. Oktober 2001 – 5 AZR 245/00 – zu I 2 a der Gründe; dem folgend bspw. ErfK/Reinhard 19. Aufl. EFZG § 2 Rn. 15). Vielmehr erfordern unregelmäßige Schwankungen bezüglich der Arbeitszeit und einer fortzuzahlenden Stückvergütung eine hypothetische Betrachtung, die die Eigenarten der geschuldeten Tätigkeit und spezifische Abrechnungsmethoden in den Blick nimmt. Dabei ist eine Methode zu wählen, die dem Entgeltausfallprinzip am besten gerecht wird und insbesondere sicherstellt, dass der Arbeitnehmer weder besser noch schlechter steht, als er ohne den Feiertag gestanden hätte. Ggf. ist nach den Grundsätzen des § 287 Abs. 2 ZPO eine Schätzung auf der Grundlage eines in der Vergangenheit liegenden Bezugszeitraums vorzunehmen, soweit dieser ein sachgerechtes Ergebnis gewährleistet (vgl. BAG 28. Februar 1964 – 1 AZR 464/63 – zu II 2 der Gründe; 3. Mai 1983 – 3 AZR 100/81 – zu II 1 der Gründe, BAGE 42, 324 [jeweils zu § 1 FeiertLohnzG]; ErfK/Reinhard aaO; Müller in Feichtinger/Malkmus 2. Aufl. EFZR § 2 EFZG Rn. 43; Kunz/Wedde 2. Aufl. EFZR § 2 EFZG Rn. 103). Das entspricht im Ausgangspunkt auch der Berechnung des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Entgelts bei leistungsabhängiger Vergütung (vgl. BAG 5. Juni 1985 – 5 AZR 459/83 – zu I 1 c der Gründe) und der Berechnung in anderen Fällen einer zu leistenden Fortzahlung der Vergütung, die sich gemäß gesetzlicher Bestimmungen nach dem Entgeltausfallprinzip richtet, wie etwa nach § 37 Abs. 3 Satz 1 BetrVG die Vergütung eines von der Pflicht zur Arbeitsleistung befreiten Mitglieds des Betriebsrats (dazu bspw. BAG 29. April 2015 – 7 AZR 123/13 – Rn. 13 ff.).
33
b) Demgegenüber kommt eine – ggf. analoge – Heranziehung der Regelungen in § 12 Abs. 4 und Abs. 5 TzBfG, die bei Arbeit auf Abruf im Krankheitsfall bzw. an Feiertagen eine Berechnung der Entgeltfortzahlung ausgehend von der durchschnittlichen Arbeitszeit der letzten drei Monate vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder des Feiertags als Referenzzeitraum vorschreiben, nicht in Betracht. Die Bestimmungen wurden erst mit Wirkung vom 1. Januar 2019 durch das Gesetz zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts – Einführung einer Brückenteilzeit vom 11. Dezember 2018 – in § 12 TzBfG eingefügt. Mit ihnen und weiteren Neuregelungen soll nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Arbeit auf Abruf leisten, mehr Sicherheit in Bezug auf ihre Planung und ihr Einkommen erzielt werden (BT-Drs. 19/3452 S. 19 f.). Allerdings heißt es in der Gesetzesbegründung weiter (nur): „Für Arbeit auf Abruf legt Absatz 4 Satz 1 nunmehr fest, dass zur Bestimmung der regelmäßigen Arbeitszeit eine vergangenheitsbezogene Betrachtung über einen Referenzzeitraum vorzunehmen ist“. Von welcher bisherigen Rechtslage der Gesetzgeber in Bezug auf die Berechnung der Vergütung im Krankheitsfall und an Feiertagen für Beschäftigte in Arbeit auf Abruf ausgegangen ist, wird weder in der Gesetzesbegründung noch in der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (BT-Drs. 19/5097 S. 3) verdeutlicht. Die Formulierung „nunmehr“ lässt jedoch vermuten, dass „vorher“ eine vergangenheitsbezogene Entgeltberechnung nicht statthaft war.
34
c) Die Richtlinie (EU) 2019/1152, nach deren Art. 11 der Missbrauch von Abrufarbeitsverträgen und ähnlichen Arbeitsverträgen, etwa durch die Einführung einer widerlegbaren Vermutung, dass ein Arbeitsvertrag mit einer Mindeststundenzahl ausgehend von den durchschnittlich gearbeiteten Zeiten abgeschlossen ist, zu unterbinden ist, spielt im Streitfall keine Rolle. Die Richtlinie ist erst am 31. Juli 2019 in Kraft getreten.
35
d) Danach durfte das Landesarbeitsgericht zur Bemessung des fortzuzahlenden Entgelts nicht ohne Weiteres auf den vom Kläger angeführten Referenzzeitraum von drei Monaten abstellen. Es hätte vielmehr prüfen müssen, welche Indizwirkung dem benannten Zeitraum und den die Vergütung in dieser Zeit bestimmenden Umständen für den Umfang der ausgefallenen Arbeitsleistung des Klägers an den streitgegenständlichen Feiertagen und damit letztlich für die Höhe des Entgeltzahlungsanspruchs in tatsächlicher Hinsicht zukommt. Daran fehlt es. Die vom Landesarbeitsgericht angestellten Erwägungen lassen nicht erkennen, dass es den ihm unterbreiteten Sachverhalt insoweit – auch unter Beachtung der Grundsätze des § 287 ZPO – beurteilt hat.
36
III. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Der Senat kann die gebotene hypothetische Betrachtung nicht selbst vornehmen. Diese obliegt, wie jede andere tatsächliche Feststellung, dem Gericht der Tatsacheninstanz, dem insoweit ein Beurteilungsspielraum zukommt. Sie ist deshalb nachzuholen. Für die weitere Sachbehandlung weist der Senat lediglich auf Folgendes hin:
37
1. Der Arbeitnehmer ist darlegungs- und beweispflichtig für die Tatsachen, die den Anspruch auf Feiertagsvergütung begründen (BAG 24. Oktober 2001 – 5 AZR 245/00 – zu I 2 b der Gründe). Das schließt die Darlegung des Umfangs der ausgefallenen Arbeit ein. Er muss deshalb auch die Anknüpfungspunkte für eine ggf. nach § 287 Abs. 2 ZPO erforderliche Schätzung vortragen.
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2. Etwaigen Beweisschwierigkeiten des Arbeitnehmers ist durch eine Abstufung der Darlegungs- und Beweislast Rechnung zu tragen (BAG 24. Oktober 2001 – 5 AZR 245/00 – zu I 2 b der Gründe). Hat der Arbeitnehmer einen Bezugszeitraum gewählt, der nach den aufgezeigten Kriterien als repräsentativ angesehen werden kann, ist es Sache des Arbeitgebers, sich hierauf konkret zu erklären (§ 138 Abs. 2 ZPO). Der Arbeitgeber muss dann Umstände vortragen, die gegen die Maßgeblichkeit der vom Arbeitnehmer benannten Tatsachen sprechen sollen.
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3. Dieser abgestuften Darlegungslast wird das bisherige Parteivorbringen nicht gerecht.
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a) Der Kläger hat sich in den Vorinstanzen schlicht auf die Heranziehung eines „Referenzzeitraums“ von drei Monaten als maßgeblich berufen, ohne darzulegen, warum die sich daraus berechnende tägliche Arbeitsvergütung für die streitgegenständlichen Feiertage repräsentativ sein soll. Das ist auch nicht unmittelbar ersichtlich. Im Streitfall hängen, wie gezeigt, die der Berechnung zugrunde zu legende „Soll-Arbeitszeit“ und die Höhe der geschuldeten Stückvergütung von der Anzahl der zuzustellenden Druckerzeugnisse ab. Darüber hinaus ist für die in die Arbeitszeit einzubeziehende Wegezeit eine „optimale Gangfolge“ nach dem von der Beklagten genutzten Geoinformationssystem maßgeblich. Nach Nr. 3 Anlage 1 kann die Anzahl zuzustellender Zeitungen ua. durch Abmeldungen seitens der Abonnenten variieren. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser Umstand insbesondere im zeitlichen Zusammenhang mit Feiertagen Bedeutung gewinnt. Danach liegt es nahe, als repräsentativ für die Bemessung der Feiertagsvergütung von Zeitungszustellern einen Zeitraum zu wählen, der nahe an dem jeweiligen Feiertag liegt (vgl. ErfK/Reinhard 19. Aufl. EFZG § 2 Rn. 15).
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b) Vor diesem Hintergrund wird es in Fällen wie dem Vorliegenden zur Erfüllung der dem Arbeitnehmer auf der ersten Stufe obliegenden Darlegungslast regelmäßig genügen, wenn er für den Monat, in den der Feiertag fällt, die an anderen Arbeitstagen erzielte Durchschnittsvergütung errechnet und behauptet, er hätte eine Vergütung in entsprechender Höhe erzielt, wenn er an dem Feiertag gearbeitet hätte. Es ist dann typischerweise Sache des Arbeitgebers, die Indizwirkung der betreffenden Durchschnittsvergütung zu entkräften.
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4. Hiervon ausgehend wird den Parteien Gelegenheit zu geben sein, zur Anspruchshöhe weiter vorzutragen. Dabei und bei den nachfolgend vom Landesarbeitsgericht zu treffenden Feststellungen wird zu berücksichtigen sein, dass zur Höhe der nach § 2 Abs. 1 EFZG geschuldeten Vergütung alle Leistungen des Arbeitgebers gehören, denen Entgeltcharakter zukommt. Nicht einzubeziehen sind demgegenüber Leistungen für Aufwendungen des Klägers. Diese zählen – auch wenn § 2 Abs. 1 EFZG keinen dem § 4 Abs. 1a EFZG vergleichbaren Ausschluss enthält – dann nicht zu den bei der Bemessung der Feiertagsvergütung zu berücksichtigenden Leistungen, wenn ihre Gewährung davon abhängig ist, ob und in welchem Umfang die Aufwendungen, die abgegolten werden sollen, tatsächlich entstanden sind, und dem Arbeitnehmer solche Aufwendungen während des gesetzlichen Feiertags nicht entstehen (vgl. nur Kunz/Wedde 2. Aufl. EFZR § 2 EFZG Rn. 100; Schmitt/Küfner-Schmitt EFZG 8. Aufl. § 2 EFZG Rn. 99; jeweils mwN). Das dürfte – vorbehaltlich einer abschließenden Beurteilung durch das Landesarbeitsgericht – auf das dem Kläger nach Nr. 6 Anlage 1 zu zahlende Kilometergeld zutreffen. Damit werden Kosten abgegolten, die ihm bei der Nutzung seines privaten Fahrzeugs im Rahmen der Zustelltätigkeit für die Beklagte entstehen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Beklagte das in den Lohnabrechnungen ausgewiesene Fahrgeld von 0,27 Euro je abgerechnetem Kilometer unabhängig vom Entstehen entsprechender Aufwendungen gezahlt hat.
43
5. Der Kläger war im Streitzeitraum nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Parteien Zeitungszusteller iSv. § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG (idF vom 11. August 2014, gültig bis 31. Dezember 2017). Anhaltspunkte, die dieser Rechtsbehauptung entgegenstünden, liegen nicht vor. Der Kläger hatte demnach gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 MiLoG aF ab dem 1. Januar 2015 mindestens Anspruch auf ein Mindestentgelt iHv. 75 % des Mindestlohns nach § 1 Abs. 2 MiLoG (zur Vereinbarkeit der Regelungen mit Art. 3 Abs. 1 GG vgl. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 20 ff., BAGE 162, 340), der – wie dargestellt – als Geldfaktor in die Berechnung des Entgeltzahlungsanspruchs nach § 2 Abs. 1 EFZG einzustellen ist. Für die Frage, welche Leistungen auf den Mindestlohn anzurechnen sind, gilt nichts anderes als im sonstigen Anwendungsbereich des Gesetzes (Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 66 Rn. 20; zur Mindestlohnwirksamkeit aller im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen mit Ausnahme solcher Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung erbringt oder die, wie bspw. Nachtzuschläge gemäß § 6 Abs. 5 ArbZG, auf einer besonderen Zweckbestimmung beruhen, vgl. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 28, aaO).
44
6. Bei der neuen Entscheidung ist auch über die Kosten der Revision zu entscheiden.
Linck
Volk
Berger
Jungbluth
Menssen |
bag_33-18 | 20.06.2018 | 20.06.2018
33/18 - Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - gesetzlicher Mindestlohn -Ausschlussfristen
Die Geltendmachung des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG kann trotz seiner Unabdingbarkeit (§ 12 EFZG) grundsätzlich einer tariflichen Ausschlussfrist unterworfen werden. Eine tarifliche Ausschlussfrist ist jedoch nach § 3 Satz 1 MiLoG unwirksam, soweit sie auch den während Arbeitsunfähigkeit nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 EFZG fortzuzahlenden gesetzlichen Mindestlohn erfasst.
Der Kläger war seit dem Jahre 2012 bei dem beklagten Bauunternehmen als gewerblicher Arbeitnehmer beschäftigt. Sein Stundenlohn betrug zuletzt 13,00 Euro brutto. Mit Schreiben vom 17. September 2015 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. Oktober 2015. Nach Erhalt der Kündigung meldete sich der Kläger arbeitsunfähig krank und legte der Beklagten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Während die Beklagte dem Kläger für den Monat September 2015 Vergütung zahlte, verweigerte sie die Entgeltfortzahlung für den Folgemonat. Mit einem der Beklagten am 18. Januar 2016 zugestellten Schriftsatz hat der Kläger von dieser Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Monat Oktober 2015 verlangt. Er hat vorgetragen, in diesem Zeitraum arbeitsunfähig krank gewesen zu sein und gemeint, sein Anspruch sei nicht verfallen. Die Ausschlussfristenregelung des für allgemeinverbindlich erklärten § 14 Abs. 1 BRTV-Bau, wonach – zusammengefasst formuliert – alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden, sei insgesamt unwirksam, weil sie den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnehme.
Das Arbeitsgericht hat die Klage bezüglich des den gesetzlichen Mindestlohn von seinerzeit 8,50 Euro je Stunde übersteigenden Anteils der Forderung abgewiesen. Der Anspruch sei insoweit nach § 14 BRTV verfallen. Im Umfang des gesetzlichen Mindestlohns hat es der Klage entsprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Entgeltfortzahlungsanspruch des Klägers für die Zeit seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit folgt aus § 3 Abs. 1 iVm. § 4 Abs. 1 EFZG. Danach hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für die Zeit, die infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ausfällt, das Entgelt zu zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall bei Erbringung der Arbeitsleistung erhalten hätte. Damit hat der Arbeitnehmer auch während der Dauer der Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Der Anspruch folgt jedoch nicht unmittelbar aus § 1 MiLoG, weil nach dieser Bestimmung der Mindestlohn nur für tatsächlich geleistete Arbeit zu entrichten ist. Da der Arbeitnehmer im Falle der Arbeitsunfähigkeit jedoch so zu stellen ist, als hätte er gearbeitet, bleibt ihm auch der Mindestlohn als untere Grenze des fortzuzahlenden Entgelts erhalten. Zugleich gebietet es der Schutzzweck des § 3 Satz 1 MiLoG, nach Maßgabe dieser Norm den Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns entsprechend zu sichern. Das hat zur Folge, dass Vereinbarungen, welche die Geltendmachung des fortzuzahlenden Mindestlohns iSd. § 3 Satz 1 MiLoG beschränken, insoweit unwirksam sind. Zu solchen Vereinbarungen gehören nicht nur arbeitsvertragliche, sondern auch tarifliche Ausschlussfristen. Anders als bei Ausschlussfristen, die arbeitsvertraglich in Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbart sind, unterliegen Tarifregelungen gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB indes keiner Transparenzkontrolle.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. Juni 2018 – 5 AZR 377/17 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 4. Mai 2017 – 19 Sa 1172/16 – | Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 4. Mai 2017 – 19 Sa 1172/16 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kann in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns einer Ausschlussfrist nicht unterworfen werden.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere darüber, ob der Anspruch des Klägers nach einer tariflichen Ausschlussfrist verfallen ist.
2
Der Kläger war seit dem Jahr 2012 bei dem beklagten Bauunternehmen als gewerblicher Arbeitnehmer beschäftigt. Sein Stundenlohn betrug zuletzt 13,00 Euro brutto. Mit Schreiben vom 17. September 2015 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. Oktober 2015. Nach Erhalt der Kündigung meldete sich der Kläger arbeitsunfähig krank und legte der Beklagten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Während die Beklagte dem Kläger für den Monat September 2015 Vergütung zahlte, verweigerte sie die Entgeltfortzahlung für den Folgemonat.
3
Mit einem der Beklagten am 18. Januar 2016 zugestellten Schriftsatz hat der Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Monat Oktober 2015 verlangt. Er hat vorgetragen, in diesem Zeitraum arbeitsunfähig krank gewesen zu sein und gemeint, der Anspruch sei nicht verfallen. Die zweistufige Ausschlussfristenregelung des für allgemeinverbindlich erklärten § 14 BRTV-Bau, wonach – auf der ersten Stufe – alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden, sei unwirksam, weil sie den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnehme.
4
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Belang – erstinstanzlich beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.219,30 Euro brutto zu zahlen.
5
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Anspruch auf Entgeltfortzahlung sei nach § 14 Nr. 1 BRTV-Bau verfallen, weil nicht rechtzeitig schriftlich geltend gemacht.
6
Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger 1.525,75 Euro brutto als Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zugesprochen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die zunächst eingelegte Anschlussberufung hat der Kläger zurückgenommen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision begehrt.
Entscheidungsgründe
7
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage auf Entgeltfortzahlung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen.
8
I. Der Kläger hat für den Monat Oktober 2015 Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 4 Abs. 1 EFZG. Dass er in diesem Zeitraum entsprechend den ärztlichen Bescheinigungen tatsächlich arbeitsunfähig krank war und keine Fortsetzungserkrankung vorlag, stellt die Beklagte in der Revision nicht in Abrede.
9
1. Der Entgeltfortzahlungsanspruch des Klägers für die aufgrund von Arbeitsunfähigkeit ausgefallenen Arbeitsstunden ergibt sich allerdings nicht aus § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG. Denn für Zeiten ohne Arbeitsleistung begründet das Mindestlohngesetz keine unmittelbaren Ansprüche. Vielmehr entsteht der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 2 iVm. §§ 20, 1 Abs. 1 MiLoG mit und für jede geleistete Arbeitsstunde (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 19, BAGE 155, 202; seither st. Rspr., vgl. etwa BAG 20. September 2017 – 10 AZR 171/16 – Rn. 24; 6. Dezember 2017 – 5 AZR 699/16 – Rn. 15 ff.).
10
2. Der Entgeltfortzahlungsanspruch des Klägers folgt aus § 3 Abs. 1 Satz 1 iVm. § 4 Abs. 1 EFZG.
11
a) Danach hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für die Zeit, die infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ausfällt, das Entgelt zu zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall bei Erbringung der Arbeitsleistung erhalten hätte. Eine abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts ist nur durch Tarifvertrag nach Maßgabe von § 4 Abs. 4, § 12 EFZG zulässig (st. Rspr., zB BAG 27. April 2016 – 5 AZR 229/15 – Rn. 22 ff., BAGE 155, 70). Das hiernach maßgebliche Entgeltausfallprinzip verlangt, den Mindestlohn nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG als Geldfaktor in die Berechnung des Entgeltfortzahlungsanspruchs einzustellen, soweit nicht aus anderen Rechtsgründen ein höherer Vergütungsanspruch besteht (BAG 6. Dezember 2017 – 5 AZR 699/16 – Rn. 17 mwN).
12
b) Eine von § 4 Abs. 1 EFZG abweichende Regelung trifft das Mindestlohngesetz nicht. Der gesetzliche Mindestlohn prägt damit mittelbar den Entgeltfortzahlungsanspruch. Weil der Arbeitnehmer so zu stellen ist, als hätte er gearbeitet, muss er auch unter den in § 3 Abs. 1 EFZG genannten Voraussetzungen und dem dort bezeichneten Zeitraum den Mindestlohn als untere Grenze des fortzuzahlenden Entgelts erhalten (im Ergebnis ebenso: Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 25 ff.; HK-MiLoG/Düwell 2. Aufl. § 1 Rn. 16 ff.; Bayreuther in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 59; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 28; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 20; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 61 Rn. 15; HWK/Sittard 8. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 8).
13
3. Gegen die Höhe der von den Vorinstanzen auf der Grundlage des Mindestlohns nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG als Geldfaktor und der tariflichen Arbeitszeit (§ 3 Nr. 1.2 BRTV-Bau) als Zeitfaktor zugesprochenen Entgeltfortzahlung hat die Revision keine Angriffe erhoben.
14
II. Der Anspruch des Klägers auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns nicht verfallen, § 4 Abs. 1 EFZG iVm. § 3 Satz 1 MiLoG.
15
1. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass entsprechend den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts auf ihr Arbeitsverhältnis der für allgemeinverbindlich erklärte Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV-Bau) Anwendung findet, der im Streitzeitraum in der Fassung vom 10. Dezember 2014 gegolten hat.
16
a) Nach § 14 Nr. 1 BRTV-Bau verfallen alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden. Dazu gehören alle Ansprüche, die die Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsbeziehungen gegeneinander haben, ohne dass es auf die materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage ankommt (BAG 27. Januar 2016 – 5 AZR 277/14 – Rn. 17, BAGE 154, 93; 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 39, BAGE 144, 306). Die Tarifnorm erfasst daher auch den Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG, den es ohne Arbeitsverhältnis nicht gäbe.
17
b) Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 EFZG kann trotz seiner Unabdingbarkeit (§ 12 EFZG) grundsätzlich einer tariflichen Ausschlussfrist unterworfen werden. Denn Ausschlussfristen betreffen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht die durch das Entgeltfortzahlungsgesetz gestaltete Entstehung von Rechten des Arbeitnehmers und deren Inhalt, sondern nur deren zeitlichen Bestand (BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu II der Gründe mwN, BAGE 115, 19).
18
c) Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Monat Oktober 2015 wurde wie die Vergütung für geleistete Arbeit gemäß § 5 Nr. 7.2 BRTV-Bau spätestens am 15. November 2015 fällig. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger den Anspruch indes erstmals mit einem am 18. Januar 2016 der Beklagten als Klageerweiterung im Kündigungsschutzprozess zugestellten Schriftsatz geltend gemacht. Dies war verspätet. Entgegen der Auffassung des Klägers reichte der Eingang des Schriftsatzes beim Arbeitsgericht am 12. Januar 2016 zur Fristwahrung nicht aus, weil § 167 ZPO auf die Wahrung einer in einem Tarifvertrag geregelten und durch einfaches Schreiben einzuhaltenden Ausschlussfrist keine Anwendung findet (BAG 16. März 2016 – 4 AZR 421/15 – Rn. 20 ff., BAGE 154, 252).
19
2. Die Ausschlussfristenregelung des § 14 BRTV-Bau ist jedoch insoweit unwirksam, als sie die Geltendmachung des Anspruchs auf Mindestlohn beschränkt, § 3 Satz 1 MiLoG.
20
a) Die tarifliche Verfallklausel erfasst – ausgehend von ihrem Wortlaut – alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen. Dazu gehört auch der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn, der nur im Arbeitsverhältnis entsteht, § 1 Abs. 1, § 20 MiLoG.
21
Im Streitzeitraum galt der BRTV-Bau in der Fassung vom 10. Dezember 2014, ohne dass die Tarifvertragsparteien diese Fassung zu einer Anpassung an das am 16. August 2014 in Kraft getretene Mindestlohngesetz genutzt und den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn vom Anwendungsbereich des § 14 BRTV-Bau ausgenommen hätten. Für eine – gesetzeskonforme – Auslegung, der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn solle nicht der tariflichen Verfallklausel unterfallen (vgl. Preis/Ulber Ausschlussfristen und Mindestlohngesetz S. 46), fehlt daher jeglicher Anhaltspunkt, zumal die Tarifvertragsparteien § 14 BRTV-Bau auch in der nachfolgenden Fassung vom 10. Juni 2016 nicht geändert haben.
22
b) Zu den Vereinbarungen, die die Geltendmachung des Mindestlohnanspruchs iSd. § 3 Satz 1 MiLoG beschränken, gehören – entgegen der Auffassung der Revision – nicht nur arbeitsvertragliche, sondern auch tarifliche Ausschlussfristen (ganz herrschende Meinung, vgl. nur Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 24; HK-MiLoG/Trümner 2. Aufl. § 3 Rn. 20; Greiner in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 8; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 71 Rn. 16a; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; HWK/Sittard 8. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 4; Preis/Ulber Ausschlussfristen und Mindestlohngesetz S. 46). Denn ein Tarifvertrag ist – auch wenn er Rechtsnormen schaffen kann – ein formbedürftiger (§ 1 Abs. 2 TVG) privatrechtlicher Vertrag zwischen den in § 2 TVG genannten Tarifvertragsparteien (vgl. statt vieler: HWK/Henssler 8. Aufl. § 1 TVG Rn. 1; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 1 TVG Rn. 20; Schaub ArbR-HdB/Treber 17. Aufl. § 199 Rn. 1) und damit eine „Vereinbarung“ iSd. § 3 Satz 1 MiLoG. Ein solches Verständnis entspricht auch dem Zweck der Norm. Mit § 3 MiLoG sollte nach der Gesetzesbegründung der Anspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den gesetzlichen Mindestlohn umfassend gesichert werden (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 35) mit der Konsequenz, dass er nur der Regelverjährung nach §§ 195, 199 BGB unterworfen ist.
23
c) Deshalb ist es unerheblich, auf welcher Rechtsgrundlage – beiderseitige Tarifgebundenheit, Allgemeinverbindlicherklärung oder arbeitsvertragliche Bezugnahme – der eine den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnehmende Verfallklausel enthaltende Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis einwirkt. Dass der BRTV-Bau im Streitfall (nur) aufgrund Allgemeinverbindlicherklärung zur Anwendung kommt, ändert an der Rechtsnatur des Tarifvertrags als privatrechtlichen Vertrag zwischen den Tarifvertragsparteien nichts. Die Allgemeinverbindlicherklärung erstreckt lediglich den Geltungsbereich des Tarifvertrags auf die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, § 5 Abs. 4 TVG.
24
d) Auch das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG) vom 16. Mai 2017 (BGBl. I S. 1210) hat die Rechtsnatur des BRTV-Bau als Tarifvertrag unberührt gelassen. Zweck des SokaSiG ist nach der Gesetzesbegründung die Sicherung des Fortbestands der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe, nachdem das Bundesarbeitsgericht mit Beschlüssen vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 – und – 10 ABR 48/15 – BAGE 156, 213 und 289) die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen mehrerer Fassungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) festgestellt hatte (BT-Drs. 18/10631 S. 3). Hierzu wurden die bis dahin nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge, die dem Sozialkassenverfahren zugrunde lagen und liegen, beginnend mit dem 1. Januar 2006 kraft Gesetzes mittels statischer Verweisung für alle Arbeitgeber verbindlich angeordnet. Soweit die Ausschlussfristenregelung des § 14 BRTV-Bau in § 3 SokaSiG (Urlaubsregelungen für das Baugewerbe) aufgeführt ist, hat dies daher (nur) zur Folge, dass die Tarifnorm im Streitzeitraum im Geltungsbereich des BRTV-Bau für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegolten hat, § 3 Abs. 2 SokaSiG, und zwar unabhängig davon, ob der Tarifvertrag wirksam abgeschlossen worden ist, § 11 SokaSiG. Die gesetzliche Anordnung der Geltung der Tarifnormen sollte „als weiterer Rechtsgrund neben die bestehenden allgemeinverbindlichen Tarifverträge“ treten (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 ABR 62/16 – Rn. 41). In Bezug auf § 3 Satz 1 MiLoG hat dies zur Folge, dass es sich bei der Ausschlussfristenregelung des § 14 BRTV-Bau um eine Vereinbarung iSd. § 3 Satz 1 MiLoG handelt, unabhängig davon, ob diese Regelung kraft Tarifbindung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) unmittelbar und zwingend im Arbeitsverhältnis gilt oder durch Allgemeinverbindlicherklärung oder das SokaSiG auf das Arbeitsverhältnis anwendbar ist.
25
e) Der Verstoß gegen § 3 Satz 1 MiLoG führt zur Teilunwirksamkeit einer den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnehmenden tariflichen Verfallklausel. Denn die Norm selbst ordnet – ohne dass es eines Rückgriffs auf § 134 BGB bedürfte – die Unwirksamkeitsfolge an, allerdings nur „insoweit“, als der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn betroffen ist (im Ergebnis hM, vgl. nur Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 26; HK-MiLoG/Trümner 2. Aufl. § 3 Rn. 37 ff.; Greiner in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 12; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 71 Rn. 16a – jeweils mwN). Im Übrigen bleibt die tarifliche Verfallklausel wirksam. Die bei arbeitsvertraglichen Verfallklauseln im Schrifttum diskutierte Frage der Gesamtunwirksamkeit wegen fehlender Transparenz der „Restklausel“ (vgl. zum Streitstand – pars pro toto – Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 28; Sagan RdA 2017, 264, 266, die Teilunwirksamkeit annehmen; dagegen bejahen Gesamtunwirksamkeit etwa MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3a – alle mwN) stellt sich nicht, weil Tarifverträge nicht dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unterliegen, § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB.
26
f) Dass Tarifverträge den Beschränkungen des § 3 Satz 1 MiLoG unterworfen sind, ist entgegen vereinzelten Zweifeln im Schrifttum (vgl. ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; Henssler RdA 2015, 43, 48) im Hinblick auf die Tarifautonomie unbedenklich (ebenso Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 25; HK-MiLoG/Trümner 2. Aufl. § 3 Rn. 59; Greiner in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 9; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 66 Rn. 43; ausf. Preis/Ulber Ausschlussfristen und Mindestlohngesetz S. 57 ff.).
27
aa) Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Der Gesetzgeber bleibt befugt, das Arbeitsrecht zu regeln, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Damit verbundene Beeinträchtigungen der Tarifautonomie sind verfassungsgemäß, wenn der Gesetzgeber mit ihnen den Schutz der Grundrechte Dritter oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (BVerfG 29. Dezember 2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03 und 1 BvR 2582/03 – zu C II 3 b aa der Gründe, BVerfGK 4, 356).
28
bb) Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn tritt eigenständig neben den tarifvertraglichen Entgeltanspruch. Wird der gesetzliche Mindestlohn unterschritten, führt § 3 MiLoG zu einem Differenzanspruch (st. Rspr., zuletzt BAG 17. Januar 2018 – 5 AZR 69/17 – Rn. 12 mwN), der nur dem gesetzlichen Verjährungsrecht unterliegt. Sieht man in dem Verbot, einen gesetzlichen Anspruch durch tarifliche Ausschlussfristen zum Erlöschen zu bringen, eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie, so ist diese verfassungsgemäß, weil der Gesetzgeber damit den Schutz der Grundrechte Dritter und auch anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Belange bezweckt; auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt.
29
(1) Mit dem Mindestlohngesetz soll den in Vollzeit tätigen Arbeitnehmern ein Monatseinkommen „oberhalb der Pfändungsfreigrenze“ gesichert werden (BT-Drs. 18/1558 S. 28). Es bezweckt die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) und dient der Verbesserung der Stellung aller Arbeitnehmer und damit ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), indem es sie vor den Folgen einer unangemessen niedrigen Vergütung – auch im Hinblick auf ihre Alterssicherung – schützt (vgl. BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 29 f., BAGE 155, 202). Weil § 3 MiLoG die Umgehung des Mindestlohns durch „missbräuchliche Konstruktionen“ verhindern will (BT-Drs. 18/1558 S. 35), schützt die Norm ebenfalls Menschenwürde und Berufsfreiheit der Arbeitnehmer.
30
(2) § 3 MiLoG dient als Absicherung des Mindestlohns zugleich einem verfassungsrechtlich legitimierten Gemeinwohlbelang. Denn der Mindestlohn soll auch die sozialen Sicherungssysteme entlasten (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 30 mwN, BAGE 155, 202), weil nicht existenzsichernde Arbeitsentgelte durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende „aufgestockt“ werden können und negative Auswirkungen auf die Einnahmen der Sozialversicherung haben (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 28).
31
(3) § 3 Satz 1 MiLoG und die von ihm bewirkte Teilunwirksamkeit tariflicher Verfallfristen ist geeignet und erforderlich, diese Ziele zu verwirklichen und auch verhältnismäßig im engeren Sinne.
32
Unter Berücksichtigung des dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungs- und Prognosevorrangs (vgl. dazu BVerfG 29. Dezember 2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03, 1 BvR 2582/03 – zu C II 3 b bb (2) (b) der Gründe, BVerfGK 4, 356) ist das Konzept des Gesetzgebers nachvollziehbar, den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn umfassend zu schützen und auch der Gefahr eines Anspruchsverlusts durch das Versäumen tariflicher Ausschlussfristen, die in vielen Arbeitsverhältnissen zumindest kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln Anwendung finden, zu verhindern. Dass der Gesetzgeber ein anderes, gleich wirksames Mittel hätte wählen können, ist nicht erkennbar. Schließlich ist die Regelung für die Tarifvertragsparteien, die in Tarifverträgen regelmäßig höhere Arbeitsentgelte als den gesetzlichen Mindestlohn vereinbaren, nicht übermäßig belastend. Sie verhindert lediglich, dass Tarifvertragsparteien durch Ausschlussfristen in zwingendes staatliches Recht eingreifen können, lässt ihnen durch die Rechtsfolge der Teilunwirksamkeit aber die Möglichkeit, weiter gehende tarifliche Entgeltansprüche mit einer Ausschlussfrist zeitlich zu begrenzen (vgl. Preis/Ulber Ausschlussfristen und Mindestlohngesetz S. 73).
33
3. § 3 Satz 1 MiLoG erfasst unmittelbar nur den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeit. Verpflichtet aber ein Entgeltfortzahlungstatbestand den Arbeitgeber, den Arbeitnehmer so zu stellen, als hätte er gearbeitet, und gestaltet der Mindestlohn den Entgeltfortzahlungsanspruch mit, gebietet es der Schutzzweck des § 3 Satz 1 MiLoG, nach Maßgabe dieser Norm den Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns entsprechend zu sichern. Denn anderenfalls stünde der Arbeitnehmer entgegen dem Gesetzesbefehl schlechter als er bei tatsächlicher Arbeit gestanden hätte.
34
4. Danach kann seit dem 1. Januar 2015 der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns einer tariflichen (oder sonstigen) Ausschlussfrist nicht mehr unterworfen werden. Ist der Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, hat er nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 EFZG für den gesetzlich bestimmten Zeitraum Anspruch auf das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt. Dessen Untergrenze ist der gesetzliche Mindestlohn. Würde der Entgeltfortzahlungsanspruch auch insoweit nach einer tariflichen oder sonstigen Ausschlussfristenregelung verfallen können, wäre der Arbeitnehmer entgegen § 4 Abs. 1 EFZG nicht mehr so gestellt, als hätte er gearbeitet. Denn im Fall tatsächlicher Arbeit hätte er – unbeschadet von Ausschlussfristen – jedenfalls den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Ein solches Ergebnis widerspräche den Vorgaben des Entgeltfortzahlungsrechts und denen des Mindestlohngesetzes.
35
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Linck
Volk
Biebl
Zorn
Hepper |
bag_33-19 | 16.10.2019 | 16.10.2019
33/19 - Abweichung vom „Equal-Pay-Grundsatz“ durch Bezugnahme auf Tarifvertrag
Arbeitgeber, die als Verleiher Leiharbeitnehmer an einen Dritten überlassen, können vom Grundsatz der Gleichstellung („Equal-Pay“) kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung nach § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF nur dann abweichen, wenn für den Entleihzeitraum das einschlägige Tarifwerk für die Arbeitnehmerüberlassung aufgrund dieser Bezugnahme vollständig und nicht nur teilweise anwendbar ist.
Der Kläger war bei der Beklagten, die ein Zeitarbeitsunternehmen betreibt, als Kraftfahrer eingestellt. Der Arbeitsvertrag enthält eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die zwischen der DGB-Tarifgemeinschaft und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) geschlossenen Tarifverträge für die Zeitarbeit. Daneben finden sich im Arbeitsvertrag Regelungen, die teilweise von diesen tariflichen Bestimmungen abweichen. Von April 2014 bis August 2015 war der Kläger als Coil-Carrier-Fahrer bei einem Kunden der Beklagten (Entleiher) eingesetzt. Für diesen Einsatz vereinbarten die Parteien eine Stundenvergütung von 11,25 Euro brutto. Die beim Entleiher als Coil-Carrier-Fahrer tätigen Stammarbeitnehmer erhielten nach den Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie ein deutlich höheres Entgelt. Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger für den Entleihzeitraum die Differenz zwischen der gezahlten Vergütung und dem Entgelt, das Coil-Carrier-Fahrer beim Entleiher erhielten. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage insoweit abgewiesen.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Kläger hat für den Zeitraum der Überlassung dem Grunde nach einen Anspruch auf „Equal-Pay“ iSv. § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung. Eine nach § 9 Nr. 2 AÜG aF zur Abweichung vom Gebot der Gleichbehandlung berechtigende Vereinbarung haben die Parteien nicht getroffen. Diese setzt insbesondere nach Systematik und Zweck der Bestimmungen des AÜG eine vollständige Anwendung eines für die Arbeitnehmerüberlassung einschlägigen Tarifwerks voraus. Der Arbeitsvertrag der Parteien enthält hingegen Abweichungen von den tariflichen Bestimmungen, die nicht ausschließlich zugunsten des Arbeitnehmers wirken. Der Senat konnte mangels hinreichender Feststellungen über die Höhe der sich daraus ergebenden Differenzvergütungsansprüche nicht selbst entscheiden. Dies führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Oktober 2019 – 4 AZR 66/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Bremen, Urteil vom 6. Dezember 2017 – 3 Sa 64/17 – | Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 6. Dezember 2017 – 3 Sa 64/17 – aufgehoben, soweit es dessen Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 16. März 2017 – 5 Ca 5482/16 – in Höhe von 17.920,81 Euro brutto nebst Zinsen zurückgewiesen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Will der Verleiher vom Gleichstellungsgebot nach § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF abweichen, ist nach § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF für den Entleihzeitraum eine vollständige Inbezugnahme des zwischen den jeweiligen Tarifvertragsparteien abgeschlossenen Tarifwerks für die Arbeitnehmerüberlassung erforderlich. Unschädlich sind lediglich vertragliche Regelungen über Gegenstände, die tariflich nicht geregelt sind oder die zugunsten des Arbeitnehmers von den tariflichen Bestimmungen abweichen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Differenzvergütungsansprüche unter dem Gesichtspunkt des equal pay.
2
Der Kläger war seit 2013 bis Juli 2017 bei der Beklagten, die ein Zeitarbeitsunternehmen betreibt, beschäftigt. Der Arbeitsvertrag vom 11. November 2013 enthält auszugsweise folgende Bestimmungen:
„Tarifliche Regelung
Auf das Arbeitsverhältnis finden im Sinne einer dynamischen Verweisung die folgenden von der Tarifgemeinschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ e.V.) abgeschlossenen Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung Anwendung:
•
Manteltarifvertrag Zeitarbeit (MGV) in der aktualisierten Fassung vom 01.07.2010
•
Entgeltrahmentarifvertrag Zeitarbeit (ERTV) in der Fassung vom 01.07.2010
•
Entgelttarifvertrag Zeitarbeit in der Fassung vom 01.07.2010
•
Tarifvertrag Beschäftigungssicherung Zeitarbeit in der Fassung vom 01.07.2006
Die jeweils maßgeblichen Tarifverträge liegen im Büro des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer* zur Einsicht aus. Für das Arbeitsverhältnis gelten die gesetzlichen Bestimmungen, die o.a. Tarifverträge sowie die Regelungen dieses Arbeitsvertrages.
…
§ 2
Art der Tätigkeit
Der Arbeitnehmer wird mit der Qualifikation als Kraftfahrer eingestellt.
Entsprechend dem derzeit gültigen ERTV entspricht dies der Entgeltgruppe 2.
…
§ 8
Vergütung/Zahlungsweise
Die Vergütung richtet sich nach dem für den Arbeitnehmer jeweils maßgeblichen ERTV und ETV. Entsprechend der in Ziffer 2 festgelegten Entgeltgruppe erhält der Arbeitnehmer pro Monat 1850,00 (brutto) EURO
Zusätzlich zur Vergütung werden Zuschläge gemäß § 4 MTV und MTV Protokollnotiz Ziffer 7 gezahlt, sofern der Arbeitgeber diesen Arbeiten zugestimmt hat. …
Der monatliche Auszahlungsbetrag wird bis spätestens zum 20. des Folgemonats auf ein vom Arbeitnehmer anzugebendes Konto überwiesen. Eventuelle Abschlagszahlungen des Arbeitgebers erfolgen auf freiwilliger Basis nach individueller Vereinbarung; es erwächst auch nach mehrmaligen aufeinander folgenden Zahlungen kein Rechtsanspruch daraus.
…
§ 11
Arbeitsverhinderung/Meldepflicht/Krankheit
…
Der Arbeitnehmer erhält die Entgeltfortzahlung nach dem Lohnausfallprinzip. Eine Kürzung von Sondervergütungen ist nach § 4a EFZG auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zulässig.
…
§ 20
Ausschluss von Ansprüchen
…
Alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, sind ausgeschlossen, sofern sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von einem Monat nach ihrer Fälligkeit gegenüber dem Arbeitgeber schriftlich erhoben werden. Lehnt der Arbeitgeber den Anspruch ab oder erklärt er sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, sofern er nicht innerhalb von einem Monat nach Ablehnung oder Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird (§ 10 MTV).
…“
3
In der Zeit vom 14. April 2014 bis zum 31. August 2015 war der Kläger als Coil-Carrier-Fahrer bei der Firma D (Entleiher) eingesetzt und dort in einem vollkontinuierlichen Schichtsystem tätig. Eine in diesem Zusammenhang erfolgte Vertragsänderung vom 14. April 2014 enthält folgende Regelung:
„§ 6 Arbeitszeit (§ 3 MTV)
In beiderseitigem Einvernehmen wird die regelmäßige durchschnittliche monatliche Arbeitszeit von 172,00 Std auf 151,67 Std reduziert.
Diese Vertragsänderung tritt ab dem 14.04.2014 in Kraft.
Alle übrigen Vereinbarungen des oben genannten Arbeitsvertrages bleiben unberührt.“
4
Am 25. April 2014 änderten die Parteien rückwirkend ab dem 14. April 2014 den Vertrag wie folgt:
„§ 8 Vergütung
Der Arbeitnehmer erhält ab dem 14.04.14 für den Einsatz als Carrierfahrer bei der Firma D den Vergütungssatz der Eingangsstufe 2 (11,25€).
…
Alle übrigen Vereinbarungen des oben genannten Arbeitsvertrages bleiben unberührt.“
5
Auf die Arbeitsverhältnisse der beim Entleiher beschäftigten Coil-Carrier-Fahrer fanden im Überlassungszeitraum kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Unterweser Anwendung. Diese wurden nach Entgeltgruppe 5 des Entgeltrahmentarifvertrags (ERA Metall) vom 26. März 2008 vergütet.
6
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe nach § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG idF vom 30. April 2011 bis 31. März 2017 (aF) für den Zeitraum von April 2014 bis einschließlich August 2015 die Differenz zwischen der von der Beklagten gezahlten Vergütung und derjenigen zu, die die beim Entleiher beschäftigten Coil-Carrier-Fahrer erhalten haben. Er könne neben einer höheren Grundvergütung die tarifliche Leistungszulage und verschiedene Zuschläge verlangen. Die vertragliche Bezugnahmeklausel auf die Tarifverträge der Zeitarbeit sei nicht hinreichend transparent. Sie beinhalte einerseits eine dynamische Verweisung und nehme andererseits auf Tarifverträge in der Fassung vom 1. Juli 2010 Bezug, welche zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht aktuell gewesen seien. Hierdurch sei nicht ersichtlich, welche Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis anwendbar seien. Im Übrigen wichen sowohl der Arbeitsvertrag als auch die Änderungsvereinbarung vom 25. April 2014 in wesentlichen Punkten von den tarifvertraglichen Regelungen ab.
7
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen weiteren Betrag in Höhe von 17.920,81 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
aus 351,33 Euro seit dem 21. Mai 2014,
aus 1.816,69 Euro seit dem 21. Juni 2014,
aus 1.213,68 Euro seit dem 21. Juli 2014,
aus 1.510,96 Euro seit dem 21. August 2014,
aus 1.619,47 Euro seit dem 21. September 2014,
aus 1.228,47 Euro seit dem 21. Oktober 2014,
aus 1.518,39 Euro seit dem 21. November 2014,
aus 908,72 Euro seit dem 21. Dezember 2014,
aus 1.000,61 Euro seit dem 21. Januar 2015,
aus 713,65 Euro seit dem 21. Februar 2015,
aus 688,36 Euro seit dem 21. März 2015,
aus 449,59 Euro seit dem 21. April 2015,
aus 765,51 Euro seit dem 21. Mai 2015,
aus 1.282,50 Euro seit dem 21. Juni 2015,
aus 907,90 Euro seit dem 21. Juli 2015,
aus 932,06 Euro seit dem 21. August 2015 sowie
aus 1.012,92 Euro seit dem 21. September 2015
zu zahlen.
8
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, die im Arbeitsvertrag in Bezug genommenen Tarifverträge seien ausreichend konkretisiert. Insbesondere die Vergütungsabrede knüpfe an die tarifvertragliche Regelung an. Die Parteien hätten sich im Rahmen der Vertragsänderung am 25. April 2014 lediglich darauf geeinigt, dass es grundsätzlich bei der tarifvertraglichen Vergütung nach der Entgeltgruppe 2, Stufe 2 des ERTV für die Zeitarbeit bleibe, diese aber für die Zeit des Einsatzes beim Entleiher erhöht werde. Sofern die vertragliche Regelung zu den Ausschlussfristen unwirksam sei, finde jedenfalls die tarifliche Anwendung. Die Ansprüche des Klägers seien daher verfallen.
9
Die Vorinstanzen haben die Klage – soweit für die Revision von Interesse – abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Zahlungsklage in beschränktem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Revision ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
11
I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie hinreichend bestimmt, § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Sie ist auf die Zahlung einer Bruttovergütung für den Überlassungszeitraum vom 14. April 2014 bis zum 31. August 2015 gerichtet und als abschließende Gesamtklage zu verstehen (vgl. zB BAG 23. Januar 2018 – 9 AZR 854/16 – Rn. 13). Aus dem Antrag und der Klagebegründung ist auch erkennbar, dass rechtskräftig vom Arbeitsgericht auf anderer rechtlicher Grundlage zugesprochene Differenzvergütungsansprüche für den Überlassungszeitraum anzurechnen sind.
12
II. Die Beklagte war entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nach § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF dem Grunde nach verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum der Überlassung an den Entleiher vom 14. April 2014 bis 31. August 2015 das Arbeitsentgelt zu zahlen, wie es der Entleiher den bei ihm beschäftigten Coil-Carrier-Fahrern (Stammarbeitnehmern) gewährte („equal pay“). Eine nach § 9 Nr. 2 AÜG aF zur Abweichung vom Gebot der Gleichstellung berechtigende Vereinbarung haben die Parteien nicht getroffen. Die gegenteilige Annahme des Landesarbeitsgerichts ist rechtsfehlerhaft. Sie berücksichtigt nicht hinreichend, dass arbeitsvertraglich teilweise von den Tarifbestimmungen abweichende Regelungen getroffen wurden, die nicht ausschließlich zugunsten des Klägers wirkten.
13
1. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verpflichtet den Verleiher, dem Leiharbeitnehmer das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Entleiher vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt („equal pay“). Von diesem Gebot der Gleichstellung erlaubt das AÜG ein Abweichen durch Tarifvertrag, wobei im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen arbeitsvertraglich vereinbaren können (§ 9 Nr. 2 AÜG aF). Dies hat zur Folge, dass der Entleiher grundsätzlich nur das tariflich vorgesehene Arbeitsentgelt gewähren muss (§ 10 Abs. 4 Satz 2 AÜG aF).
14
2. Eine Geltung der zwischen – in den jeweiligen Tarifverträgen namentlich aufgeführten – Mitgliedsgewerkschaften des DGB und der iGZ e.V. geschlossenen Tarifverträge kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1 TVG) hat das Landesarbeitsgericht weder festgestellt noch ist eine solche von den Parteien behauptet worden.
15
3. Eine den Anforderungen des § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF genügende vertragliche Inbezugnahme dieser Tarifverträge haben die Parteien nicht vereinbart. Deshalb bedarf die von der Revision angesprochene und kontrovers diskutierte Frage keiner Beantwortung, ob und ggf. mit welchem Verständnis die Norm insoweit überhaupt mit Unionsrecht vereinbar war (zum Meinungsstand Lembke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. 2013 § 9 Rn. 189 ff.; zu § 8 AÜG nF ErfK/Wank 19. Aufl. 2019 AÜG § 8 Rn. 25; Preis/Sagan/Sansone EuArbR 2. Aufl. 2019 Rn. 12.81 ff.; LAG Baden-Württemberg 6. Dezember 2018 – 14 Sa 27/18 – [Revision anhängig – 5 AZR 22/19 -]).
16
a) § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF verlangt für den Entleihzeitraum eine vollständige Inbezugnahme des zwischen den jeweiligen Tarifvertragsparteien abgeschlossenen Tarifwerks für die Arbeitnehmerüberlassung (ErfK/Wank 14. Aufl. 2014 AÜG § 3 Rn. 23d; Schaub/Koch ArbR-HdB 16. Aufl. 2015 § 120 Rn. 57; Schüren in Schüren/Hamann AÜG 4. Aufl. 2010 § 9 Rn. 167 ff.; Ulber/Ulber AÜG 4. Aufl. 2011 § 9 Rn. 313; ähnlich zu Branchenzuschlägen auch Bayreuther NZA-Beilage 2012, 115, 116; Nießen/Fabritius BB 2013, 375, 377). Es muss sich dabei um die Bezugnahme auf wirksame Tarifverträge handeln (st. Rspr., vgl. zB BAG 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 13, BAGE 144, 306). Nur die Vereinbarung solcher Tarifbedingungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien erlaubt es dem Verleiher, dem Leiharbeitnehmer im Entleihzeitraum andere wesentliche Arbeitsbedingungen als diejenigen der Stammarbeitnehmer des Entleihers zu gewähren (zur Unterscheidung zwischen Vertrags- und Arbeitsbedingungen zB BAG 25. März 2015 – 5 AZR 368/13 – Rn. 35 mwN, BAGE 151, 170). Eine lediglich punktuelle Vereinbarung tariflicher Bestimmungen genügt für eine Abweichung vom Gleichstellungsgebot des § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF nicht (allg. Meinung, zB Lembke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. 2013 § 9 Rn. 433). Gleiches gilt für die bloße Inbezugnahme sachlich und inhaltlich zusammenhängender Regelungsbereiche oder -komplexe aus Tarifwerken für die Arbeitnehmerüberlassung (so aber AR-Reineke/Beck 8. Aufl. 2016 § 3 AÜG Rn. 34; HWK/Kalb 7. Aufl. 2016 § 3 AÜG Rn. 38; Lembke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. 2013 § 9 Rn. 434; NK-GA/Ulrici 2016 § 3 AÜG Rn. 60; Mengel in Thüsing AÜG 3. Aufl. 2012 § 9 Rn. 36). Unschädlich sind hingegen vertragliche Regelungen über Gegenstände, die tariflich nicht geregelt sind und deshalb keine verdrängende Wirkung entfalten (dazu BAG 26. September 2017 – 1 AZR 717/15 – Rn. 31, BAGE 160, 237) sowie Vertragsbestimmungen, die zugunsten des Arbeitnehmers von den tariflichen Bestimmungen abweichen und deshalb auch im Fall einer beiderseitigen Tarifgebundenheit nach § 4 Abs. 3 TVG zulässig wären (zu den Grundsätzen des Günstigkeitsvergleichs BAG 10. Dezember 2014 – 4 AZR 503/12 – Rn. 41 ff. mwN, BAGE 150, 184; 11. Juli 2018 – 4 AZR 533/17 – Rn. 30 mwN, BAGE 163, 175). Dies ergibt eine Auslegung der Norm.
17
aa) Der Wortlaut des § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF erlaubt nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Vereinbarung der „Anwendung der tariflichen Regelungen“, um vom Gleichstellungsgebot abweichen zu können. Dies deutet zwar wegen der Verwendung des Plurals auf die Notwendigkeit der Vereinbarung der Gesamtheit der tariflichen Regelungen hin, ist aber nicht eindeutig. Sprachlich könnte darunter ein gesamter Tarifvertrag oder ein gesamtes Tarifwerk ebenso zu verstehen sein wie einzelne tarifliche Regelungen oder Regelungskomplexe.
18
bb) Die Gesetzessystematik spricht hingegen deutlich für die Notwendigkeit der vollständigen vertraglichen Inbezugnahme des jeweiligen Tarifwerks in seiner Gesamtheit, um die Rechtsfolge einer Verdrängung des Gleichstellungsgebots herbeizuführen.
19
(1) Ausgangspunkt ist § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG aF, wonach ein Tarifvertrag abweichende Regelungen vom Gleichstellungsgebot zulassen kann. Dieser Teil der Norm erfasst nach allgemeiner Auffassung die Abweichung vom equal-pay-Gebot durch Tarifverträge im Fall der beiderseitigen Tarifgebundenheit iSv. § 3 Abs. 1 TVG (vgl. zB Lembke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. 2013 § 9 Rn. 225, 397 ff.). In diesem „Normalfall“ des TVG (dazu zB Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 3 Rn. 4 ff.) gelten die gesamten Normen des Tarifwerks der Arbeitnehmerüberlassung unmittelbar und zwingend für die beiderseits Tarifgebundenen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Dies gilt unabhängig davon, ob es sich (nur) um „wesentliche Arbeitsbedingungen“ iSd. § 9 Nr. 2 Halbs. 1 AÜG aF handelt oder ob der normativ geltende Tarifvertrag – wie regelmäßig – weitere Bestimmungen enthält. Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten (§ 4 Abs. 3 TVG).
20
(2) § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF erlaubt die Abweichung vom Gebot der Gewährung gleicher „wesentlicher Arbeitsbedingungen“ über die vorgenannte Fallgestaltung der beiderseitigen Tarifgebundenheit hinaus auch nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wenn diese die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren. Bereits dies spricht dafür, dass auch Halbs. 3 unter tariflichen Regelungen diejenigen versteht, wie sie im Fall der Tarifgebundenheit nach Halbs. 2 (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) gelten, also das Tarifwerk als Ganzes. Aus Halbs. 3 ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass hinsichtlich nicht tarifgebundener Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein geringeres Maß an Tarifanwendung verlangt wird (diese Gesetzessystematik verkennt Mengel in Thüsing AÜG 3. Aufl. 2012 § 9 Rn. 36, soweit vertreten wird, „mangels gegenteiliger gesetzlicher Regelung“ genüge eine teilweise Inbezugnahme). Soweit im Schrifttum die Inbezugnahme von Regelungsbereichen als ausreichend angesehen wird (AR-Reineke/Beck 8. Aufl. 2016 § 3 AÜG Rn. 34; HWK/Kalb 7. Aufl. 2016 § 3 AÜG Rn. 38; Lembke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. 2013 § 9 Rn. 434; NK-GA/Ulrici 2016 § 3 AÜG Rn. 60), wird in systematischer Hinsicht nicht ausreichend zwischen der Tatbestandsvoraussetzung für eine Abweichung vom Gleichstellungsgebot – die vereinbarte Anwendung der tariflichen Regelungen – und der Rechtsfolge, wenn eine solche Abrede nicht besteht – dem Anspruch des Leiharbeitnehmers nach § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF – unterschieden.
21
cc) Weiterhin sprechen Sinn und Zweck des § 9 Nr. 2 AÜG aF für ein solches Verständnis.
22
(1) Die Neufassung des AÜG in der ab 30. April 2011 geltenden Fassung sollte Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung verhindern und der Umsetzung der Richtlinie 2008/104/EG dienen (BT-Drs. 17/4804 S. 1). § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG sollte dabei nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien weiterhin die Möglichkeit eröffnen, die Anwendung des einschlägigen Tarifwerks vertraglich zu vereinbaren. Änderungsvorschläge, die die Streichung der Abweichungsmöglichkeit durch vertragliche Bezugnahme vorsahen, waren im Gesetzgebungsverfahren abgelehnt worden (vgl. BT-Drs. 17/5238 S. 11).
23
(2) Die mögliche Abweichung durch Tarifverträge beruht auf der Erwägung, dass tarifvertragliche Regelungen eine hinreichende Gewähr für eine angemessene Berücksichtigung auch der Interessen der Arbeitnehmer bieten, da grundsätzlich von der Parität der Vertragspartner ausgegangen werden kann (BT-Drs. 17/4804 S. 9 „Tarifverträgen kommt nach dem deutschen Arbeitsrecht grundsätzlich eine Richtigkeitsgewähr zu“; sh. auch BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 29 mwN, BAGE 148, 139). Dabei hat der Gesetzgeber – wie auch bei der inhaltsgleichen Vorgängerbestimmung – nicht zwischen der Geltung des Tarifvertrags kraft Tarifgebundenheit und der Anwendung kraft vertraglicher Inbezugnahme unterschieden (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales BT-Drs. 17/5238 S. 16: „Etwas anderes gilt für tarifvertragliche Vereinbarungen sowie für einzelvertragliche Vereinbarungen, die eine wirksame tarifvertragliche Regelung für anwendbar erklären.“). Nur die Anwendung des gesamten Tarifwerks, das bei unterstellter Tarifgebundenheit beider Parteien auf das Arbeitsverhältnis unmittelbar Anwendung fände, kann für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung aber die Vermutung begründen, dass die divergierenden Interessen angemessen ausgeglichen werden (vgl. Schüren in Schüren/Hamann AÜG 4. Aufl. 2010 § 9 Rn. 168; ähnlich zur Tariföffnungsklausel in § 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG in der bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung BAG 19. April 2011 – 3 AZR 154/09 – Rn. 19, BAGE 137, 357; vgl. auch 21. März 2018 – 10 ABR 62/16 – Rn. 123, BAGE 162, 166: Die Annahme einer Gestaltung von Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG scheidet bei einer nur teilweisen Anwendung im Arbeitsverhältnis wegen der im Vergleich zu den unmittelbar Tarifgebundenen anderen Lage aus.).
24
(3) Der Gesetzgeber hat mit der Beibehaltung der Tariföffnungsklausel des § 9 Nr. 2 Halbs. 2 und 3 AÜG aF ausdrücklich von der durch Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG gebotenen Möglichkeit Gebrauch gemacht. Dabei wollte er den nach der Richtlinie gebotenen Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer durch die Geltung oder die Anwendung der Tarifverträge gewährleisten (BT-Drs. 17/4804 S. 9). Den Unternehmen der Arbeitnehmerüberlassung sollten alternative Regelungssysteme zur Verfügung stehen (ähnlich Schüren in Schüren/Hamann AÜG 4. Aufl. 2010 § 9 Rn. 169): Entweder sind dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der jeweiligen Überlassung die den vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleihers zustehenden wesentlichen Arbeitsbedingungen zu gewähren oder die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer werden durch die tariflichen Arbeitsbedingungen der Zeitarbeitsbranche entweder kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit oder durch vertragliche Inbezugnahme gestaltet (so auch das Verständnis des BVerfG 29. Dezember 2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03, 1 BvR 2582/03 – zu C II 6 der Gründe). Einen darüber hinaus gehenden Gestaltungsspielraum sollte § 9 AÜG aF hingegen nicht gewähren. Die Bedingungen der Leiharbeitnehmer gegenüber denjenigen der Stammarbeitnehmer flexibel zu gestalten (BT-Drs. 15/25 S. 38), lag nach der gesetzgeberischen Konzeption bei den Tarifvertragsparteien der Arbeitnehmerüberlassung (vgl. zu diesem Gedanken Lembke in Boemke/Lembke AÜG 3. Aufl. 2013 § 9 Rn. 183; ähnlich BVerfG 29. Dezember 2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03, 1 BvR 2582/03 – zu C II 3 b bb (1) der Gründe), nicht hingegen beim einzelnen Verleiher.
25
dd) Die Entstehungsgeschichte der Norm stützt die hier vertretene Auslegung. § 9 Nr. 2 AÜG und § 10 Abs. 4 AÜG wurden erstmals durch Art. 6 Nr. 4 und Nr. 5 des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 (BGBl. I S. 4607) mit Wirkung zum 1. Januar 2003 eingeführt. Aus der Gesetzesbegründung zu § 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG idF vom 23. Dezember 2002 wird deutlich, dass damit der Schutz der Leiharbeitnehmer verstärkt werden sollte. Im Überlassungszeitraum sollte der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten (vgl. BT-Drs. 15/25 S. 38; BAG 23. März 2011 – 5 AZR 7/10 – Rn. 23, BAGE 137, 249). Im Regierungsentwurf war die Möglichkeit einer Abweichung vom Gleichstellungsgebot – abgesehen von den ersten sechs Wochen des Arbeitsverhältnisses – nur vorgesehen, wenn ein „für den Verleiher geltender Tarifvertrag“ abweichende Vereinbarungen zulässt (BT-Drs. 15/25 S. 19, 38). Dies hätte schon nach der dem TVG entnommenen Begrifflichkeit in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG nur Fälle der beiderseitigen Tarifgebundenheit erfasst. In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit war erstmals die – auch hier noch maßgebliche – Formulierung „Ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen“ enthalten, ohne dass eine vertragliche Bezugnahmemöglichkeit vorgesehen oder erwähnt war (BT-Drs. 15/77 S. 34). Erst auf Empfehlung des Vermittlungsausschusses kam es dann zur Aufnahme der Regelung, die dem Wortlaut des § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF entsprach (BT-Drs. 15/201 S. 2). Hieraus ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass an den Umfang der vertraglichen Inbezugnahme tariflicher Bestimmungen der Arbeitnehmerüberlassung geringere Anforderungen zu stellen wären als im – ursprünglich ausschließlich vorgesehenen – Fall der Geltung kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit. Die vorliegend maßgebliche Fassung des § 9 AÜG trat mit Wirkung vom 30. April 2011 in Kraft. Der Wortlaut der Norm ist – soweit relevant – durch diese Neufassung des AÜG unverändert geblieben.
26
b) Die zwischen Mitgliedsgewerkschaften des DGB und der iGZ e.V. geschlossenen Tarifverträge für die Zeitarbeit sind im Arbeitsverhältnis der Parteien nicht vollständig vertraglich in Bezug genommen worden. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Tarifverträge der Zeitarbeit gäben dem Arbeitsverhältnis das „Gepräge“, ist – wie dargestellt – nicht ausreichend, um die gesetzlichen Voraussetzungen für die Abweichung vom Gleichstellungsgebot nach § 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG aF zu erfüllen.
27
aa) Bei den Bestimmungen des Arbeitsvertrags vom 11. November 2013 handelt es sich, ebenso wie bei den nachfolgenden Vertragsänderungen, um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. §§ 305 ff. BGB. Hiervon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen und auch die Beklagte stellt dies nicht in Frage.
28
bb) Der Arbeitsvertrag enthält unter der Überschrift „Tarifliche Regelung“ nach Wortlaut und Inhalt eine zeitdynamische Bezugnahmeklausel (vgl. dazu zB BAG 30. August 2017 – 4 AZR 443/15 – Rn. 20, BAGE 160, 106) auf die aufgelisteten Tarifverträge für die Zeitarbeit. Dabei trifft die Annahme des Landesarbeitsgerichts zu, alleine die Benennung der vorhergehenden Fassung vom 1. Juli 2010 beseitige nicht den Charakter als zeitdynamische Verweisung („in ihrer jeweils gültigen Fassung“). Diese führt auch nicht zu einer Intransparenz der Klausel. Es handelt sich erkennbar um lediglich fehlerhaft unterlassene Anpassungen dieser Angaben an den aktuellen Tarifstand. Gleiches gilt im Hinblick auf die fehlerhafte Datumsangabe beim Tarifvertrag Beschäftigungssicherung. Ernsthafte Zweifel iSv. § 305c Abs. 2 BGB (vgl. dazu zB BAG 11. Dezember 2018 – 9 AZR 383/18 – Rn. 19, BAGE 164, 316) am Inhalt der Bezugnahmeklausel konnten dadurch nicht entstehen. Sie ist als Teil der „übrigen Vereinbarungen“ durch die Vertragsänderungen vom 14. und 25. April 2014, die sich auf die Dauer der Monatsarbeitszeit und die Vergütungshöhe beschränkten, ausdrücklich unberührt geblieben.
29
cc) Die Annahme einer umfassenden Bezugnahme scheidet aber deshalb aus, weil verschiedene Regelungen des Arbeitsvertrags von den tariflichen Bestimmungen abweichen und nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen Vorrang vor diesen haben. Damit beschränkt sich die Wirkung der Bezugnahmeklausel auf den verbleibenden Teil der Tarifverträge. Die abweichenden Vertragsbestimmungen sind auch nicht so ausgestaltet, dass sie ausschließlich zugunsten des Klägers wirken würden.
30
(1) Ausdrücklich in einen Arbeitsvertrag aufgenommene Klauseln haben grundsätzlich Vorrang gegenüber einer nur durch die pauschale Bezugnahme auf einen Tarifvertrag anwendbaren Regelung. Belassen es die Arbeitsvertragsparteien nicht dabei, ihr Arbeitsverhältnis individualvertraglich pauschal einem bestimmten Tarifregime zu unterwerfen, sondern vereinbaren sie zu einzelnen Gegenständen darüber hinaus im Arbeitsvertrag ausformulierte Regelungen, bringen sie damit typischerweise zum Ausdruck, dass unabhängig von dem vertraglich in Bezug genommenen Tarifwerk jedenfalls diese Bestimmungen für das Arbeitsverhältnis maßgebend sein sollen. Das führt entgegen der Auffassung der Revision nicht ohne Weiteres zu einer Intransparenz der Bezugnahmeklausel, sondern beschränkt lediglich ihre Reichweite. Von diesem Grundsatz können die Arbeitsvertragsparteien abweichen, indem sie etwa einer ausdrücklich in den Arbeitsvertrag aufgenommenen Regelung eine nur „deklaratorische“, den Wortlaut des in Bezug genommenen Tarifwerks lediglich wiedergebende Bedeutung beimessen und damit gleichsam die Bezugnahme „ausformulieren“ (BAG 28. Januar 2015 – 5 AZR 122/13 – Rn. 16 f. mwN). Es bleibt ihnen auch unbenommen, – transparente – Kollisionsregeln (zu den Anforderungen BAG 19. Februar 2014 – 5 AZR 920/12 – Rn. 45 ff.) für das Verhältnis einer ausdrücklich in den Arbeitsvertrag aufgenommenen Klausel zu den in Bezug genommenen tariflichen Regelungen aufzustellen (BAG 25. September 2013 – 5 AZR 778/12 – Rn. 15).
31
(2) Danach weichen Bestimmungen des Arbeitsvertrags vom 11. November 2013 teilweise von dem für den Entleihzeitraum maßgeblichen MTV Zeitarbeit vom 17. September 2013 (MTV), in Kraft getreten am 1. November 2013, ab, ohne für den Kläger ausschließlich günstiger zu sein.
32
(a) Nach § 8 Abs. 2 Arbeitsvertrag werden Zuschläge nur gezahlt, „sofern der Arbeitgeber diesen Arbeiten zugestimmt hat“. Arbeitgeber ist dabei nach der ausdrücklichen Definition im Rubrum des Arbeitsvertrags die Beklagte, nicht der Entleiher. § 4 MTV enthält eine solche Einschränkung nicht. Vielmehr richten sich nach § 3.1.3 MTV die Einsatzzeiten – aufgrund derer ein Anspruch auf Zuschläge entstehen kann – nach den Regelungen im Entleihbetrieb oder den Anforderungen des Entleihers. Der Arbeitsvertrag stellt insoweit eine weitere, im MTV nicht vorgesehene Tatbestandsvoraussetzung für den Anspruch auf tarifliche Zuschläge auf.
33
(b) Die Vergütung ist gemäß § 8 Abs. 4 Satz 1 Arbeitsvertrag bis spätestens zum 20. des Folgemonats auszuzahlen; § 11 Abs. 1 MTV sieht hingegen eine Fälligkeit spätestens zum 15. Bankarbeitstag vor. Die vertragliche Regelung ist etwa dann ungünstiger als die tarifliche, wenn der 1. des Monats auf einen Montag fällt.
34
(c) Die Abschlagszahlungen des Arbeitgebers erfolgen nach § 8 Abs. 4 Satz 2 Arbeitsvertrag nur „auf freiwilliger Basis nach individueller Vereinbarung“. Auch nach mehrmaligen aufeinander folgenden Zahlungen soll kein Rechtsanspruch daraus erwachsen. Demgegenüber gewährt § 11 Abs. 2 Satz 1 MTV (idF vom 17. September 2013) grundsätzlich auf Verlangen des Arbeitnehmers einen Abschlag am Ende des jeweiligen Abrechnungsmonats von bis zu 80 % des zu erwartenden Nettoeinkommens. Ab dem Inkrafttreten dieser Bestimmung des MTV zum 1. Juli 2014 ist der am 11. November 2013 geschlossene Arbeitsvertrag insoweit ungünstiger geworden. Dieser Umstand stand bei dessen Abschluss bereits fest.
35
(d) Für die Entgeltfortzahlung gilt nach § 11 Abs. 3 Satz 3 Arbeitsvertrag das Lohnausfallprinzip, während nach § 6a MTV das Referenzprinzip anzuwenden ist. Dabei handelt es sich nicht um eine günstigere arbeitsvertragliche Regelung, sondern diese ist allenfalls ambivalent (ausf. BAG 15. April 2015 – 4 AZR 587/13 – Rn. 27 ff., BAGE 151, 221). Es kommt auf den Einzelfall an, welche Berechnungsmethode für den Arbeitnehmer zu höheren Ansprüchen führt.
36
(e) Nach § 11 Abs. 3 Satz 4 Arbeitsvertrag soll eine Kürzung von Sondervergütungen nach § 4a EFZG auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zulässig sein. § 8 MTV sieht hingegen hinsichtlich der tariflichen Jahressonderzahlungen eine solche Kürzungsmöglichkeit nicht vor.
37
(f) Schließlich weicht die in § 20 Abs. 2 Arbeitsvertrag vereinbarte Ausschlussfrist von § 10 MTV ab. Die tarifliche Ausschlussfrist beträgt in beiden Stufen jeweils drei Monate und erfasst Ansprüche beider Vertragsparteien. Die vertragliche Regelung gewährt demgegenüber hinsichtlich beider Stufen lediglich eine Frist von einem Monat und erfasst einseitig nur Ansprüche des Arbeitnehmers „gegenüber dem Arbeitgeber“. Aus dem Klammerzusatz „(§ 10 MTV)“ lässt sich deshalb auch nicht entnehmen, ob hier nur eine fehlerhafte deklaratorische Wiedergabe der tariflichen Bestimmung gemeint war, wie man vielleicht noch bei einer bloßen Übernahme der kürzeren Fristen aus dem Vorgängertarifvertrag vom 1. Juli 2010 hätte annehmen können.
38
(g) Ob, wie die Revision meint, noch weitere vertragliche Bestimmungen tatsächlich von den einschlägigen Tarifbestimmungen abweichen, bedarf nach den vorstehenden Ausführungen keiner weiteren Prüfung.
39
(3) Den Vereinbarungen der Parteien kann nicht entnommen werden, diese Vertragsklauseln sollten lediglich nachrangig gegenüber den tariflichen Regelungen gelten. Eine Kollisionsregel (dazu BAG 25. September 2013 – 5 AZR 778/12 – Rn. 15) fehlt. Der letzte Satz der Einleitung des Arbeitsvertrags listet lediglich auf, dass für das Arbeitsverhältnis die gesetzlichen Bestimmungen, die in Bezug genommenen Tarifverträge sowie die vertraglichen Regelungen gelten sollen, ohne selbst die verschiedenen Normebenen in eine bestimmte Hierarchie zu stellen oder eine Regel für den Fall einer Kollision aufzustellen.
40
4. Mangels vollständiger Inbezugnahme bedarf es keiner Entscheidung durch den Senat, ob es an einer wirksamen Inbezugnahme iSd. § 9 Nr. 2 Halbs. 2 und 3 AÜG aF fehlt, weil es sich bei den im Arbeitsvertrag genannten Tarifverträgen um mehrgliedrige Tarifverträge handelt und die vertragliche Bezugnahmeklausel wegen des Fehlens einer Kollisionsregel als intransparent anzusehen wäre (vgl. zu diesen Anforderungen an die Transparenz einer Bezugnahmeklausel BAG 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 30, BAGE 144, 306).
41
III. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der Berufungsentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Höhe eines dem Kläger hiernach unter Berücksichtigung der vom Arbeitsgericht bereits ausgeurteilten Beträge ggf. noch zustehenden Differenzvergütungsanspruchs kann der Senat mangels entsprechender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend beurteilen (§ 563 Abs. 3 ZPO).
42
1. Der Anspruch des Leiharbeitnehmers auf gleiches Arbeitsentgelt nach § 10 Abs. 4 AÜG aF ist ein die vertragliche Vergütungsabrede korrigierender gesetzlicher Entgeltanspruch, der mit jeder Überlassung entsteht und jeweils für die Dauer der Überlassung besteht. Zur Ermittlung der Höhe des Anspruchs ist ein Gesamtvergleich der Entgelte im Überlassungszeitraum anzustellen. Dabei sind das im Betrieb des Entleihers einem Stammarbeitnehmer gewährte Vergleichsentgelt und das dem Leiharbeitnehmer vom Verleiher gezahlte Entgelt miteinander zu saldieren. Zum Vergleichsentgelt zählt nicht nur das laufende Arbeitsentgelt, sondern jede Vergütung, die aus Anlass des Arbeitsverhältnisses geleistet wird oder aufgrund gesetzlicher Entgeltfortzahlungstatbestände gewährt werden muss (BAG 13. März 2013 – 5 AZR 294/12 – Rn. 27 mwN). Darlegungs- und beweispflichtig für die Höhe des Anspruchs ist der Arbeitnehmer (BAG 23. November 2016 – 5 AZR 53/16 – Rn. 25, BAGE 157, 213; 21. Oktober 2015 – 5 AZR 604/14 – Rn. 13, BAGE 153, 75). Stützt der Leiharbeitnehmer sich im Prozess nicht auf eine Auskunft nach § 13 AÜG, muss er zur Darlegung des Anspruchs auf gleiches Arbeitsentgelt alle für dessen Berechnung erforderlichen Tatsachen vortragen. Dazu gehören die Benennung vergleichbarer Stammarbeitnehmer und das diesen vom Entleiher gewährte Arbeitsentgelt (BAG 13. März 2013 – 5 AZR 146/12 – Rn. 23).
43
2. Diesen Anforderungen genügt der bisherige Vortrag des Klägers nicht in vollem Umfang. Da er von den Vorinstanzen – aus deren Sicht konsequent – hierauf nicht hingewiesen wurde und auch die Beklagte keine entsprechenden Einwendungen erhoben hatte, ist dem Kläger unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs die Gelegenheit zu ergänzendem Vorbringen zu geben und die Zurückverweisung nach § 563 Abs. 1 ZPO an das Berufungsgericht geboten (vgl. dazu zB BAG 29. Juni 2017 – 6 AZR 785/15 – Rn. 30).
44
a) Zwischen den Parteien steht nicht im Streit, dass es sich bei den beim Entleiher beschäftigten Coil-Carrier-Fahrern um vergleichbare Stammarbeitnehmer iSv. § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF handelt. Auf deren Arbeitsverhältnisse fanden im Streitzeitraum kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Unterweser Anwendung und die Vergütung erfolgte nach Entgeltgruppe 5 ERA Metall. Die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden steht – soweit noch von Interesse – zwischen den Parteien ebenfalls außer Streit.
45
b) Keine Beachtung hat allerdings bisher gefunden, dass die Stammarbeitnehmer nach § 11 Ziff. 1.1 ERA Metall Anspruch auf ein (verstetigtes) Monatsentgelt laut Entgelttabelle des jeweiligen Tarifvertrags über Entgelte und Ausbildungsvergütungen (TV Entgelt Metall) haben. Der Kläger ist zwar in seinen Berechnungen von diesem Monatsentgelt ausgegangen, hat dieses aber – wohl im Hinblick auf die schwankenden Einsatzzeiten – auf einen fiktiven Stundenlohn (einschl. Leistungszulage) umgerechnet und mit den von der Beklagten auf deren Lohnabrechnungen angegebenen Einsatzstunden multipliziert. Wenn Stammarbeitnehmer aber ein Monatsgehalt erhalten, richtet sich auch der Anspruch des Leiharbeitnehmers aus § 10 Abs. 4 AÜG aF – der ja auf Gleichstellung mit diesen gerichtet ist – auf ein Monatsgehalt nach den Bestimmungen des Entleihbetriebs. Ein „Herunterrechnen“ auf einen – fiktiven – Stundenlohn scheidet aus (BAG 19. Februar 2014 – 5 AZR 1046/12 – Rn. 38; 23. Oktober 2013 – 5 AZR 135/12 – Rn. 32, BAGE 146, 217). Dies gilt unabhängig davon, ob eine solche Vorgehensweise sich zugunsten oder zuungunsten des Leiharbeitnehmers auswirkt, sie bildet jedenfalls den gesetzlichen equal-pay-Anspruch des Leiharbeitnehmers nicht angemessen ab. Dem Senat ist es bereits deshalb nicht möglich, eine abschließende Entscheidung zu treffen.
46
IV. Im Rahmen der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht – nachdem es den Parteien Gelegenheit zu weiter gehendem Vorbringen gegeben hat – folgende Erwägungen zu berücksichtigen haben:
47
1. Die vertragliche Arbeitszeit des Klägers für den Entleihzeitraum entsprach nach der Vereinbarung vom 14. April 2014 derjenigen beim Entleiher. Dies sind nach § 3 Ziff. 1.1 des Manteltarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie Unterweser vom 3. Juli 2008 (MTV Metall) 35 Wochenstunden, monatlich also 151,67 Stunden. Dem Anspruch auf ein verstetigtes Entgelt stehen die monatlich schwankenden Arbeitszeiten des Klägers nicht entgegen. Wie ein Stammarbeitnehmer kann er das tarifliche Tabellenentgelt verlangen. Schwankungen der Arbeitszeit werden dabei regelmäßig über ein Arbeitszeitkonto oder vergleichbare Regelungen auf Grundlage einer Betriebsvereinbarung abgebildet (vgl. § 3 Ziff. 1.7 MTV Metall). Ob eine solche beim Entleiher im Streitzeitraum bestand oder ein anderweitig etabliertes betriebliches Arbeitszeitsystem beim Entleiher maßgebend war, ist bisher nicht festgestellt. Nach den dort geltenden tariflichen und betrieblichen Regelungen bestimmt sich dann auch, wie mögliche Abweichungen der individuellen vertraglichen Arbeitszeit von der tatsächlichen Einsatzzeit im Entleihzeitraum zu berücksichtigen sind. Gleiches gilt, soweit bei Beendigung des Einsatzes Mehr- oder Minderstunden angefallen sein sollten. Ein Rückgriff auf die entsprechenden Abrechnungen des Verleihers, die auf völlig anderer rechtlicher Grundlage (Arbeitsvertrag, Tarifverträge Zeitarbeit) erstellt wurden, scheidet insoweit für die Berechnung der Höhe des equal-pay-Anspruchs aus. Aus diesen kann lediglich der Umfang der unstreitig geleisteten Arbeitsstunden entnommen werden.
48
2. Weiter wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, dass ein Anspruch auf Vergütung nach der Hauptstufe einer Entgeltgruppe gemäß § 5 Ziff. 2 und 3 ERA Metall erst nach einem Jahr Ausübungszeit besteht. Zuvor erfolgt eine Eingruppierung in die Grundstufe (§ 5 Ziff. 2 Abs. 1 ERA Metall). Der Kläger hat zwar behauptet, die Stammarbeitnehmer würden nach der Hauptgruppe vergütet, ohne dies aber unter Berücksichtigung der tariflichen Regelungen näher zu präzisieren. Es ist bisher auch nicht erkennbar, dass die Stammarbeitnehmer übertariflich ab dem ersten Einsatztag nach der Hauptgruppe vergütet werden. Weiter ist zu berücksichtigen, dass das Grundentgelt im April 2014 nach dem TV Entgelt Metall vom 27. Mai 2013 auch in der Hauptstufe niedriger war als das vom Kläger genannte. Die Entgelttabelle mit den Tariferhöhungen galt erst ab dem 1. Mai 2014.
49
3. Nach dem bisherigen Vorbringen des Klägers erschließt sich weiterhin nicht, aus welchen Gründen ihm abweichend von § 11 Ziff. 2.1 Unterabs. 2 ERA Metall bereits in den ersten drei Monaten seines Einsatzes eine Leistungszulage in Höhe von 6 % zustehen soll. Soweit er unwidersprochen vorgetragen hat, die Stammarbeitnehmer erhielten generell eine Leistungszulage, sind auch insoweit Anhaltspunkte für eine übertarifliche Vergütung beim Entleiher bisher nicht erkennbar.
50
4. Hinsichtlich der vom Kläger beanspruchten Mehrarbeitszuschläge wird zu prüfen sein, ob nach dem Arbeitszeitregime beim Entleiher Mehrarbeit iSd. MTV Metall angefallen ist. Zudem betrugen die Nachtarbeitszuschläge nach § 6 Ziff. 1.4 MTV Metall nicht durchgehend 50 %, sondern nur für unregelmäßige Nachtarbeit und demgegenüber für regelmäßige Nachtarbeit 15 %.
51
5. Da im Entleihzeitraum Zeiten mit gesetzlichen Entgeltfortzahlungstatbeständen lagen (vgl. dazu BAG 19. Februar 2014 – 5 AZR 1046/12 – Rn. 36; 13. März 2013 – 5 AZR 294/12 – Rn. 27 mwN), ist auch insoweit noch weiterer Vortrag hinsichtlich der Höhe der Vergütung der vergleichbaren Stammarbeitnehmer nach den tariflichen Bestimmungen erforderlich.
52
6. Eine Ausschlussfrist musste der Kläger hinsichtlich sich danach noch ergebender Vergütungsansprüche nicht einhalten.
53
a) Die Ausschlussfrist nach § 10 MTV ist von der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel nicht erfasst, sondern wird – wie dargelegt – durch § 20 Abs. 2 Arbeitsvertrag verdrängt.
54
b) Die Ausschlussfrist in § 20 Abs. 2 Arbeitsvertrag ist nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. Es handelt sich um eine einseitige Ausschlussfrist (BAG 31. August 2005 – 5 AZR 545/04 – zu I 5 b dd der Gründe, BAGE 115, 372) und zudem wird weder in der ersten noch in der zweiten Stufe die Mindestfrist von drei Monaten eingehalten (vgl. zur ersten Stufe: BAG 27. Januar 2016 – 5 AZR 277/14 – Rn. 21 mwN, BAGE 154, 93; zur zweiten Stufe: BAG 12. März 2008 – 10 AZR 152/07 – Rn. 24; 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 7 d der Gründe, BAGE 115, 19).
55
c) Auch die Ausschlussfristen nach § 16 MTV Metall sind vorliegend ohne Bedeutung. Im Entleihbetrieb geltende Ausschlussfristen gehören nicht zu den wesentlichen Arbeitsbedingungen iSv. § 10 Abs. 4 AÜG aF (BAG 23. März 2011 – 5 AZR 7/10 – Rn. 14 ff., BAGE 137, 249).
Treber
Klug
W. Reinfelder
Schuldt
Wuppermann |
bag_33-20 | 22.09.2020 | 22.09.2020
33/20 - Betriebliche Altersversorgung - Auslegung einer Versorgungsordnung
Pressemitteilung Nr. 33/20
Betriebliche Altersversorgung – Auslegung einer Versorgungsordnung
Eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthaltene Versorgungsregelung, wonach befristet Beschäftigte nicht und Arbeitnehmer, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stehen, nur dann versorgungsberechtigt sind, wenn sie bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist dahin zu verstehen, dass sie auf das Lebensalter bei Beginn der Beschäftigung abstellt, wenn eine unbefristete Beschäftigung unmittelbar einer befristeten folgt. Werden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung in einer Versorgungsordnung davon abhängig gemacht, dass eine schriftliche Vereinbarung über die Versorgungszusage zu treffen ist, ist dies keine echte Anspruchsvoraussetzung.
Der Kläger wurde von der Beklagten zunächst befristet und im unmittelbaren Anschluss unbefristet beschäftigt. Zu Beginn des Arbeitsverhältnisses hatte er das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet. Bei der Beklagten gilt eine Versorgungsordnung in Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Danach ist versorgungsberechtigt, wer in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zur Beklagten steht. Weitere Voraussetzung ist, dass bei Beginn des Arbeitsverhältnisses noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet ist. Außerdem ist eine schriftliche Vereinbarung über die Versorgungszusage gefordert. Nicht teilnahmeberechtigt sind befristet Beschäftigte. Der Kläger meint, es komme nicht auf das Alter bei Beginn der unbefristeten Beschäftigung an, sondern auf das bei Beginn des Arbeitsverhältnisses. Daher sei auf sein Alter bei Aufnahme des – zunächst – befristeten Arbeitsverhältnisses abzustellen. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung. Die Versorgungsordnung der Beklagten war dahin auszulegen, dass das Höchstalter bei Beginn der Betriebszugehörigkeit maßgeblich ist. Das gilt unabhängig davon, ob zunächst ein befristetes Arbeitsverhältnis vorlag, sofern sich eine unbefristete Beschäftigung unmittelbar an das befristete Arbeitsverhältnis anschließt. Die Voraussetzung einer schriftlichen Vereinbarung über die Versorgungszusage ist nicht konstitutiv für den Versorgungsanspruch des Klägers. Dies hat nur bestätigende, dh. deklaratorische Wirkung. Die Zusage einer Versorgungszusage ist bereits als Versorgungszusage iSv. § 1 Abs. 1 BetrAVG anzusehen, wenn und soweit das Erstarken einer Anwartschaft zum Vollrecht nur noch vom Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und vom Eintritt des Versorgungsfalles abhängt, dem Arbeitgeber also kein Entscheidungsspielraum mehr über den Inhalt und den Umfang der zu erteilenden Zusage bleibt.
Mit der Frage einer möglichen Diskriminierung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern durch die fragliche Versorgungsordnung musste sich der Senat nicht auseinandersetzen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. September 2020 – 3 AZR 433/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 5. September 2019 – 4 Sa 5/19 B –
Hinweis: Der Senat hat in einem weiteren im wesentlich gleich gelagerten Fall die Revision der Beklagten aus den gleichen Gründen ebenfalls zurückgewiesen. | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 5. September 2019 – 4 Sa 5/19 B – aufgehoben, soweit es die Berufung gegen die Verurteilung nach dem Klageantrag zu 1. zurückgewiesen hat.
Auf die Berufung der Beklagten wird – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – das Urteil des Arbeitsgerichts Emden vom 14. November 2018 – 1 Ca 361/18 – teilweise abgeändert.
Die Klage wird hinsichtlich des Klageantrags zu 1. als unzulässig abgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger Ansprüche aus einer Versorgungsordnung erworben hat.
2
Der Kläger ist seit dem 1. Februar 2013 bei der Beklagten beschäftigt, zunächst aufgrund eines bis zum 31. Januar 2015 – sachgrundlos – befristeten Arbeitsvertrags vom 14. Dezember 2012. Bei Abschluss dieses Arbeitsvertrags hatte der Kläger das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet.
3
Die Beklagte ist ein norwegisches Staatsunternehmen, das Erdgasleitungen betreibt. Sie gewährt ihren Arbeitnehmern Leistungen der betrieblichen Altersversorgung auf der Grundlage der Versorgungsordnung vom 1. Dezember 2009 (im Folgenden VO 2009). Dort heißt es auszugsweise:
„Um ihren Mitarbeitern(innen) zusätzlich zu den Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung einen Schutz gegen die wirtschaftlichen Folgen nach Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess zu bieten, sowie im Todesfall für die Hinterbliebenen zu sorgen, hat die Firma
G AS Zweigniederlassung Deutschland
(nachstehend kurz ‚GD‘ genannt)
die folgende Versorgungsordnung
(nachstehend kurz ‚VO‘ genannt)
geschaffen.
01. Teilnehmerkreis
Versorgungsberechtigt sind alle Mitarbeiter(innen) der GD, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis mit Ablauf von 6 Monaten nach Arbeitsaufnahme zur GD stehen, sofern sie bei Beginn des Arbeitsverhältnisses noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet haben.
Nicht teilnahmeberechtigt sind Mitarbeiter(innen), die in einem befristeten Arbeitsverhältnis zur GD stehen sowie Mitarbeiter, die von der Firmengruppe versetzt werden, es sei denn, im Arbeitsvertrag oder in der Vereinbarung über die Abstellung zur GD wäre eine gegenteilige Abrede getroffen.
02. Anspruchsvoraussetzungen
Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen sind
– die Vollendung des 25. Lebensjahres des/der Mitarbeiters(in)
– ein ununterbrochenes Bestehen des Arbeitsverhältnisses von mindestens 5 Jahren
– die schriftliche Vereinbarung über die Versorgungszusage.
Der Leistungsanspruch setzt mit dem Monatsersten ein, in dem alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind.
03. Anrechenbare Dienstzeit
Als anrechenbare Dienstzeit gelten alle Dienstjahre nach Vollendung des 25. Lebensjahres, in dem das Arbeitsverhältnis ununterbrochen bestanden hat.
Für Mitarbeiter(innen), die unter den Geltungsbereich dieser VO fallen, weil das Unternehmen, bei dem sie beschäftigt sind, von der GD übernommen wurde, beginnt die anrechenbare Dienstzeit mit dem Zeitpunkt der Übernahme.
Die anrechenbare Dienstzeit endet spätestens am normalen Pensionierungstag. … Die anrechenbare Dienstzeit ist begrenzt auf 30 Jahre.“
4
Die Regelung in § 17 „Ausschlussfristen“ des Manteltarifvertrags zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, Hauptvorstand Hannover vom 24. Juni 1992 in der Fassung vom 16. März 2009 (im Folgenden MTV) mit dem Geltungsbereich ua. für das Bundesland Niedersachsen (§ 1 Nr. 1 MTV), der kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung auf das Arbeitsverhältnis anwendbar ist, bestimmt ua.:
„2. Die Ansprüche beider Seiten aus dem Arbeitsverhältnis müssen innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Nach Ablauf dieser Frist ist die Geltendmachung ausgeschlossen. Das gilt nicht, wenn die Berufung auf die Ausschlussfrist wegen des Vorliegens besonderer Umstände eine unzulässige Rechtsausübung ist.
3. Im Falle des Ausscheidens müssen die Ansprüche beider Seiten spätestens einen Monat nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht werden.
4. Wird ein Anspruch erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig, muss er spätestens einen Monat nach Fälligkeit geltend gemacht werden.“
5
Aufgrund schriftlicher Vereinbarung der Parteien vom 27. Oktober 2014 wurde der Arbeitsvertrag des Klägers zunächst bis zum 31. Dezember 2016 verlängert. Seit dem 1. Januar 2017 besteht zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis aufgrund des Arbeitsvertrags vom 30. November/19. Dezember 2016. Der Kläger wurde jeweils ohne Unterbrechung weiter beschäftigt.
6
Vor Abschluss des unbefristeten Arbeitsvertrags erfolgte eine Präsentation der Arbeitsbedingungen gegenüber dem Kläger und einem Kollegen. Auf der letzten Seite der Präsentation heißt es unter der Überschrift „Betriebsrente (G)“:
„Kein Anspruch gem. Versorgungsordnung, da Voraussetzung eines unbefristeten Arbeitsverhältnis vor Vollendung des 55ten Lebensjahres nicht erfüllt ist.“
7
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die VO 2009 sei so zu verstehen, dass er zum Kreis der Teilnahmeberechtigten zähle, weil er bei Beginn des Arbeitsverhältnisses im Februar 2013 nicht das 55. Lebensjahr vollendet hatte. Jedenfalls aber sei der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, wenn Mitarbeiter, die mit dem 55. Lebensjahr in einem befristeten Arbeitsverhältnis stünden, unabhängig von der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit von der Altersversorgung ausgeschlossen würden. Das Kriterium der Betriebstreue könne nicht tragend sein.
8
Er habe nicht auf Ansprüche aus der Versorgungsordnung verzichtet. Diese seien auch nicht aufgrund der tarifvertraglichen Ausschlussfrist verfallen.
9
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
1.
die beklagte Partei zu verurteilen, das Angebot der klagenden Partei auf Abschluss einer Versorgungszusage nach der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Versorgungsordnung anzunehmen;
2.
festzustellen, dass die beklagte Partei verpflichtet ist, der klagenden Partei im Versorgungsfall Versorgungsleistungen nach der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Versorgungsordnung zu verschaffen.
10
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, der Kläger gehöre nicht zu dem teilnahmeberechtigten Personenkreis gemäß Nr. 01 der VO 2009, weil ein unbefristetes Arbeitsverhältnis erst nach Erreichen der Höchstaltersgrenze begründet worden sei. Die in der VO 2009 enthaltene Altersgrenze von 55 Jahren sei wirksam. Auch die unterschiedliche Behandlung befristet und unbefristet Beschäftigter sei sachlich gerechtfertigt, da der Arbeitgeber bei einer vorübergehenden Beschäftigung nicht daran interessiert sei, den Arbeitnehmer an den Betrieb zu binden. Das sei erst bei Abschluss eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses der Fall. Erst dann habe der Arbeitgeber ein Interesse daran, die Betriebstreue durch eine Versorgungszusage zu fördern und zu belohnen. Ein Verstoß gegen § 4 Abs. 2 TzBfG liege daher nicht vor. Dem Missbrauch von Befristungen könne durch eine Missbrauchskontrolle begegnet werden.
11
Bei den Vertragsverhandlungen habe sie mit dem Kläger offen und ehrlich kommuniziert, dass die Versorgungsordnung auf ihn keine Anwendung fände. Indem der Kläger das Angebot eines unbefristeten Arbeitsvertrags dennoch – ohne schriftliche einzelvertragliche Vereinbarung der VO 2009 – angenommen habe, habe er auf eine Aufnahme in die Versorgungsordnung verzichtet. Darüber hinaus seien mögliche Ansprüche auf Aufnahme gemäß § 16 MTV verfallen.
12
Das Arbeitsgericht hat der Klage – soweit für die Revision von Bedeutung – stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte weiterhin ihren Klageabweisungsantrag.
Entscheidungsgründe
13
Die zulässige Revision ist überwiegend nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten, soweit es um die Feststellung der Versorgungsberechtigung des Klägers geht, im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist aber nur teilweise zulässig.
14
I. Der Antrag zu 1. ist unzulässig, der Feststellungsantrag zu 2. hingegen zulässig.
15
1. Der Feststellungsantrag zu 2. ist zulässig.
16
a) Der Klageantrag ist auf die Feststellung eines zwischen den Parteien bestehenden Rechtsverhältnisses iSd. § 256 ZPO gerichtet. Zwar können nach dieser Bestimmung nur Rechtsverhältnisse Gegenstand einer Feststellungsklage sein, nicht hingegen bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses. Eine Feststellungsklage muss sich allerdings nicht notwendig auf ein Rechtsverhältnis insgesamt erstrecken, sondern kann sich auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen sowie auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (BAG 19. Februar 2019 – 3 AZR 219/18 – Rn. 12 mwN).
17
b) So verhält es sich hier. Der Kläger begehrt mit seinem Antrag zu 2. – bei zutreffendem Antragsverständnis (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. BAG 27. Juni 2017 – 9 AZR 120/16 – Rn. 11) – die Feststellung der grundsätzlichen Verpflichtung der Beklagten, ihm im Versorgungsfall Versorgungsleistungen nach der VO 2009 – für die maßgebliche Bezugsdauer – zu gewähren. Damit begehrt er die Feststellung eines Rechtsverhältnisses, nämlich der Versorgungsverpflichtung der Beklagten (vgl. etwa BAG 19. Februar 2019 – 3 AZR 219/18 – Rn. 13 mwN). Bereits mit dem Entstehen einer Versorgungsanwartschaft wird ein betriebsrentenrechtliches Rechtsverhältnis begründet (st. Rspr., vgl. ua. BAG 26. August 1997 – 3 AZR 235/96 – zu A I der Gründe mwN, BAGE 86, 216; 7. März 1995 – 3 AZR 282/94 – zu A III 1 der Gründe, BAGE 79, 236).
18
In diesem Sinne ist auch der Tenor zu 2. der arbeitsgerichtlichen Entscheidung zu verstehen.
19
c) Der Kläger hat ein rechtliches Interesse an alsbaldiger Feststellung der Leistungspflicht der Beklagten, da diese eine Verpflichtung zur Erbringung von Versorgungsleistungen nach der VO 2009 an den Kläger in Abrede stellt. Es ist unerheblich, dass der Versorgungsfall noch nicht eingetreten ist. Der Kläger hat ein rechtliches Interesse daran, Meinungsverschiedenheiten über den Bestand und die Ausgestaltung der Versorgungsrechte möglichst vor Eintritt des Versorgungsfalls klären zu lassen (vgl. etwa BAG 21. Januar 2014 – 3 AZR 362/11 – Rn. 25 f.; 13. November 2012 – 3 AZR 557/10 – Rn. 18). So kann er frühzeitig etwa bestehende Versorgungslücken schließen (vgl. BAG 19. Dezember 2000 – 3 AZR 186/00 – zu A der Gründe; 28. Juli 1998 – 3 AZR 100/98 – zu A II der Gründe, BAGE 89, 262).
20
d) Der Feststellungsantrag ist auch bestimmt genug iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Da Feststellungsanträge nicht vollstreckbar sind, reicht es aus, wenn bei einer dem Antrag entsprechenden Verurteilung klar ist, was zwischen den Parteien gelten soll, mag es auf dieser Grundlage auch weiterer Präzisierungen hinsichtlich konkreter Ansprüche bedürfen (vgl. etwa BAG 19. Februar 2019 – 3 AZR 219/18 – Rn. 14 mwN). Mit der begehrten Feststellung würde klar, dass die VO 2009 Anwendung finden soll und dem Kläger daraus Ansprüche zustehen.
21
2. Der Antrag zu 1. ist unzulässig. Ihm fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.
22
a) Auch für eine Leistungsklage – wie vorliegend – muss der Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis aufweisen. Dieses wird zwar in der Regel gegeben sein. Besondere Umstände können aber das Verlangen, in die materiell-rechtliche Prüfung des Anspruchs einzutreten, als nicht schutzwürdig erscheinen lassen (vgl. BAG 9. Mai 2006 – 9 AZR 182/05 – Rn. 10; BGH 4. März 1993 – I ZR 65/91 – zu II 1 der Gründe). Das ist dann der Fall, wenn andere Rechtsschutzmittel billiger, sicherer, schneller oder wirkungsvoller die angestrebten Rechtsschutzziele des Klägers herbeiführen (vgl. BAG 25. September 2013 – 4 AZR 173/12 – Rn. 64, BAGE 146, 133; BGH 28. März 1996 – IX ZR 77/95 – zu I 4 a der Gründe) oder wenn ein Leistungsantrag objektiv schlechthin sinnlos ist, wenn also der Kläger unter keinen Umständen mit seinem prozessualen Begehren irgendeinen schutzwürdigen Vorteil erlangen kann (vgl. BAG 23. September 2014 – 9 AZR 1100/12 – Rn. 8; BGH 9. Juli 2009 – IX ZR 29/09 – Rn. 7). Gleiches gilt, wenn er etwas verlangt, was ihm aus anderen Gründen bereits zusteht.
23
b) Nach diesen Grundsätzen fehlt es vorliegend ausnahmsweise am Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag zu 1. Der Antrag ist vorliegend objektiv sinnlos, da der Kläger hierdurch keinen weiteren schutzwürdigen Vorteil erlangen kann, da er etwas verlangt, das ihm – so er unter die Versorgungsordnung fällt – bereits zusteht.
24
aa) Dem Kläger ist, soweit er die sonstigen Voraussetzungen der VO 2009 erfüllt, bereits eine Versorgungszusage von der Beklagten erteilt worden. Einer weiteren – schriftlichen – Versorgungsvereinbarung, die er mit dem Antrag zu 1. verfolgt, bedarf es nicht, um im Versorgungsfall Ansprüche daraus geltend zu machen. Die in Nr. 02 Spiegelstrich 3 VO 2009 benannte „schriftliche Vereinbarung über die Versorgungszusage“ ist nicht konstitutiv für den Versorgungsanspruch des Klägers. Vielmehr hat eine solche – zusätzliche – schriftliche Vereinbarung nur bestätigende, dh. deklaratorische Wirkung.
25
(1) Die „Zusage einer Versorgungszusage“ ist bereits als Versorgungszusage iSv. § 1 Abs. 1 BetrAVG anzusehen, wenn und soweit das Erstarken einer Anwartschaft zum Vollrecht nur noch vom Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und vom Eintritt des Versorgungsfalls abhängt, dem Arbeitgeber also kein Entscheidungsspielraum mehr über den Inhalt und den Umfang der zu erteilenden Zusage bleibt (für den Fall sog. „Zusage einer Versorgungszusage“ iVm. einer Vorschaltzeit vgl. BAG 17. April 2012 – 3 AZR 400/10 – Rn. 34 und 36 mwN).
26
(2) Das ist vorliegend der Fall. Die Versorgungszusage war in Form einer Gesamtzusage bereits mit Abschluss des Arbeitsvertrags erteilt und stellte vom Willen der Beklagten als Arbeitgeberin unabhängige Voraussetzungen für ihre Anwendung auf.
27
(a) Eine Gesamtzusage ist die an alle Arbeitnehmer des Betriebs oder einen nach abstrakten Merkmalen bestimmten Teil von ihnen in allgemeiner Form gerichtete ausdrückliche Willenserklärung des Arbeitgebers, bestimmte Leistungen erbringen zu wollen. Eine ausdrückliche Annahme des in der Erklärung enthaltenen Antrags iSv. § 145 BGB wird dabei nicht erwartet und es bedarf ihrer auch nicht. Das in der Zusage liegende Angebot wird gemäß § 151 Satz 1 BGB angenommen und ergänzender Inhalt des Arbeitsvertrags. Die Arbeitnehmer – auch die nachträglich in den Betrieb eintretenden – erwerben einen einzelvertraglichen Anspruch auf die zugesagten Leistungen, wenn sie die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Dabei wird die Gesamtzusage bereits dann wirksam, wenn sie gegenüber den Arbeitnehmern in einer Form verlautbart wird, die den einzelnen Arbeitnehmer typischerweise in die Lage versetzt, von der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Auf dessen konkrete Kenntnis kommt es nicht an (vgl. BAG 3. Juni 2020 – 3 AZR 730/19 – Rn. 50 mwN).
28
(b) Gemessen daran hat sich die Beklagte gegenüber den Arbeitnehmern im Wege einer Gesamtzusage verpflichtet, eine betriebliche Altersversorgung gemäß den Bestimmungen der VO 2009 zu gewähren. Dies folgt aus der Präambel der VO 2009, wonach die Beklagte diese Regelungen geschaffen hat, um hiermit ihren „Mitarbeitern(innen)“ zusätzlich zu den Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung einen Schutz gegen die wirtschaftlichen Folgen nach Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess zu bieten und im Todesfall für die Hinterbliebenen zu sorgen. Wie sich aus dieser Formulierung ergibt, ist die VO 2009 auch allgemein im Betrieb bekannt gemacht.
29
(c) Dass der Beklagten kein Entscheidungsspielraum über Inhalt und Umfang der Versorgung mehr zustehen sollte, ergibt sich schon daraus, dass unter Nr. 01 ohne weitere Voraussetzungen ein „Teilnehmerkreis“ geregelt ist und die VO 2009 ins Einzelne gehende Bestimmungen über die Versorgung enthält. Dieses Verständnis wird durch den Wortlaut von Nr. 02 Spiegelstrich 3 VO 2009 bestätigt. Dieser setzt das Bestehen der Versorgungszusage voraus, indem eine Vereinbarung über „die“ Versorgungszusage gefordert wird, was eine bereits bestehende Zusage impliziert.
30
bb) Hatte der Kläger bereits eine Versorgungszusage erhalten, verlangt er mit dem Antrag zu 1. etwas, was ihm – bei Vorliegen der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen – bereits zusteht. Er kann mit ihm keinen weiteren schutzwürdigen Vorteil erlangen. Es geht dem Kläger insgesamt um eine Versorgung nach den Bestimmungen der VO 2009 im Versorgungsfall. Dieses Rechtsschutzziel kann er mit dem ebenfalls gestellten Feststellungsantrag wirkungsvoll erreichen. Bei dessen Erfolg bedarf es auch keiner weiteren Dokumentation der Anwendung der Versorgungsordnung.
31
II. Die Klage ist, soweit zulässig, begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger im Versorgungsfall Versorgungsleistungen nach der VO 2009 zu den dortigen Bedingungen für die Zeit ab dem 1. Februar 2013 zu gewähren. Der Kläger ist nach der VO 2009 unmittelbar versorgungsberechtigt. Er zählt zum Teilnehmerkreis iSv. Nr. 01 VO 2009. Das ergibt die Auslegung.
32
1. Die Beklagte gewährt ihren Arbeitnehmern Versorgungsleistungen nach der VO 2009, bei der es sich – wie dargelegt – um eine Gesamtzusage handelt.
33
2. Bei einer Gesamtzusage handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen, da vorformulierte Bestimmungen gegeben sind, die auf eine Vielzahl von Arbeitsverträgen Anwendung finden (§ 305 Abs. 1 BGB). Sie ist nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von rechtsunkundigen, verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden wird, wobei nicht die Verständnismöglichkeiten des konkreten, sondern die des durchschnittlichen Vertragspartners zugrunde zu legen sind. Ansatzpunkt für die nicht am Willen der jeweiligen Vertragspartner zu orientierende Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Ist dieser nicht eindeutig, kommt es für die Auslegung entscheidend darauf an, wie der Vertragstext aus Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen ist, wobei der Vertragswille verständiger und redlicher Vertragspartner beachtet werden muss. Soweit auch der mit dem Vertrag verfolgte Zweck einzubeziehen ist, kann das nur in Bezug auf typische und von redlichen Geschäftspartnern verfolgte Ziele gelten (BAG 25. September 2018 – 3 AZR 333/17 – Rn. 32 mwN). Bleibt nach Ausschöpfung der Auslegungsmethoden ein nicht behebbarer Zweifel, geht dies gemäß § 305c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders. Weil die Auslegung der uneingeschränkten Prüfung durch das Revisionsgericht unterliegt, kann dieses die Auslegung, soweit sie durch das Berufungsgericht unterblieben ist, selbst vornehmen (vgl. BAG 3. Juni 2020 – 3 AZR 730/19 – Rn. 51 mwN).
34
3. Hiernach ergibt die Auslegung der VO 2009, dass der Kläger zum „Teilnehmerkreis“ iSv. Nr. 01 Abs. 1 VO 2009 zählt und somit unmittelbar versorgungsberechtigt ist.
35
a) Nach dem Wortlaut von Nr. 01 Abs. 1 VO 2009 sind alle Arbeitnehmer („Mitarbeiter(innen)“) der Beklagten, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis mit Ablauf von sechs Monaten nach der Arbeitsaufnahme zur Beklagten stehen, versorgungsberechtigt, sofern sie „bei Beginn des Arbeitsverhältnisses“ noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet haben. Nicht teilnahmeberechtigt sind hingegen Arbeitnehmer, die in einem befristeten Arbeitsverhältnis zur Beklagten stehen (Nr. 01 Abs. 2 VO 2009). Nach diesem Wortlaut ist nicht eindeutig, ob die Höchstaltersgrenze bei Beginn der Betriebszugehörigkeit oder bei Beginn des unbefristeten Arbeitsverhältnisses nicht überschritten sein darf.
36
b) Dass sich die Höchstaltersgrenze auf den Beginn der Betriebszugehörigkeit bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Arbeitsverhältnissen bezieht, ergibt sich aber aus den gesamten Regelungen der VO 2009. Ausgeschlossen vom Teilnehmerkreis der VO 2009 sollten nur solche Arbeitnehmer sein, die – anders als der Kläger – die Höchstaltersgrenze bei Beginn der Betriebszugehörigkeit einschließlich vorgeschalteter befristeter arbeitsvertraglicher Beschäftigungszeiten nicht überschritten haben.
37
aa) Für ein solches Verständnis spricht zunächst die Systematik von Nr. 01 VO 2009. In Abs. 1, 1. Satzteil und Abs. 2, 1. Satzteil wird differenziert zwischen Arbeitnehmern in einem unbefristeten und in einem befristeten Arbeitsverhältnis. Diese Differenzierung wird in Nr. 01 Abs. 1, 2. Satzteil VO 2009 nicht aufrechterhalten. Vielmehr grenzt sich der zweite Halbsatz von der Formulierung im ersten Halbsatz des „unbefristeten Arbeitsverhältnisses“ ab und verwendet die allgemeinere Formulierung „Beginn des Arbeitsverhältnisses“. Gefordert wird lediglich, dass ein unbefristetes Arbeitsverhältnis vorliegen und die Wartezeit von sechs Monaten nach Arbeitsaufnahme – nicht bei Beginn „dieses“ – unbefristeten – Arbeitsverhältnisses – abgelaufen sein muss. Das bezieht vorgeschaltete befristete Arbeitsverhältnisse ein, denn insgesamt bilden befristete und sich unmittelbar anschließende unbefristete Arbeitsverhältnisse betriebsrentenrechtlich eine Einheit, jedenfalls soweit es um die Betriebszugehörigkeit für die Berechnung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung geht (vgl. BAG 19. Mai 2005 – 3 AZR 649/03 – unter B I 2 a dd der Gründe, BAGE 114, 349).
38
bb) Für diese Auslegung spricht ferner die Formulierung in Nr. 03 Abs. 1 VO 2009 und deren Zusammenspiel mit Nr. 01 VO 2009.
39
Nr. 03 Abs. 1 VO 2009 definiert die anrechenbare Dienstzeit. Hiernach sind alle Dienstjahre nach Vollendung des 25. Lebensjahres anrechenbar, soweit das Arbeitsverhältnis ununterbrochen bestanden hat. Hiermit soll die Betriebszugehörigkeit belohnt werden, indem darauf abgestellt wird, wie lange – nach Vollendung des 25. Lebensjahres – Leistungen für den Arbeitgeber erbracht worden sind. Leistungen werden aber auch im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses erbracht. Dabei differenziert Nr. 03 Abs. 1 VO 2009 – ebenso wie Nr. 01 Abs. 1, 2. Satzteil VO 2009 im Gegensatz zu Nr. 01, 1. Satzteil VO 2009 – nicht zwischen befristeten und unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Ein verständiger, rechtsunkundiger Arbeitnehmer, der bei nahtloser Fortsetzung eines befristeten Arbeitsverhältnisses mit einem unbefristeten Arbeitsverhältnis ohne zeitliche Zäsur von einem einheitlichen Arbeitsverhältnis ausgeht, darf annehmen, dass in so einem Fall das Arbeitsverhältnis ununterbrochen bestanden hat und alle Dienstjahre der Betriebszugehörigkeit für die Betriebsrente zählen.
40
Werden aber gemäß Nr. 03 Abs. 1 VO 2009 alle Dienstjahre als anrechenbare Dienstzeit angesehen, „in dem das Arbeitsverhältnis ununterbrochen bestanden hat“ und sich unmittelbar aneinander anschließende Arbeitsverhältnisse als ein einheitliches – „ununterbrochenes“ – Arbeitsverhältnis gewertet, wird damit zugleich der Begriff des Arbeitsverhältnisses in Nr. 01 Abs. 1 VO 2009 konkretisiert. Denn es werden mehrere Arbeitsverträge als ein Arbeitsverhältnis behandelt, weil auch bei Unterbrechung der Tätigkeit für die Beklagte nach der Formulierung nur ein – wenngleich unterbrochenes – Arbeitsverhältnis vorliegt.
41
cc) In diese Richtung deutet zudem der Zweck der VO 2009.
42
Nach der Präambel der VO 2009 soll den Arbeitnehmern zusätzlich zu den Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung ein Schutz gegen die wirtschaftlichen Folgen nach dem Ausscheiden aus dem „Arbeitsprozess“ gewährt werden. Insoweit werden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach den Regelungen der VO 2009 gewährt. Dieser – auch typischerweise gegebene – Versorgungszweck gebietet es, Betriebszugehörigkeitszeiten einer Befristung ebenso anzuerkennen wie solche nach der Entfristung und sich nahtlos aneinander anschließende Arbeitsverhältnisse betriebsrentenrechtlich als ein einheitliches Arbeitsverhältnis zu werten. Schließlich haben Leistungen der betrieblichen Altersversorgung auch Entgeltcharakter (vgl. BAG 3. Juni 2020 – 3 AZR 480/18 – Rn. 48). Auch dieser Zweck spricht dafür, unmittelbar aufeinanderfolgende Arbeitsverhältnisse als ein einheitliches und damit „ununterbrochenes“ Arbeitsverhältnis im Sinne der VO 2009 zu verstehen.
43
dd) Dieses Auslegungsergebnis entspricht auch allgemeinen betriebsrentenrechtlichen Grundsätzen. Durch das nahtlose Fortführen eines Arbeitsverhältnisses ist ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen befristetem und unbefristetem Arbeitsverhältnis hergestellt. Dadurch sind sie – jedenfalls für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung – als einheitliches Arbeitsverhältnis zu behandeln mit der Folge, dass dieses mit der ersten Befristung begann (vgl. für den Fall einer nahtlosen Fortführung eines befristeten durch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis im Fall eines Betriebsübergangs BAG 19. Mai 2005 – 3 AZR 649/03 – zu B I 2 a dd der Gründe, BAGE 114, 349; zur Berücksichtigung der gesamten Betriebszugehörigkeit bei vorgeschalteter Befristung iSv. § 2 BetrAVG auch Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 2 Rn. 67).
44
4. Da der Kläger nach der Auslegung der streitgegenständlichen Versorgungsordnung bereits zum Teilnehmerkreis der VO 2009 zählt und anspruchsberechtigt ist, kam es auf Fragen der Gleichbehandlung und eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 2 TzBfG nicht an.
45
5. Sonstige Gründe, die einem Versorgungsanspruch des Klägers entgegenstehen könnten, liegen nicht vor.
46
a) Ein „Verzicht“ des Klägers auf Ansprüche aus der VO 2009 ist – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht gegeben. Hiervon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen.
47
aa) Einen einseitigen Verzicht – insbesondere bereits vor Entstehen eines Anspruchs – kennt das Bürgerliche Gesetzbuch nicht. In § 397 BGB ist der Erlassvertrag geregelt, der aber eine bereits entstandene Forderung voraussetzt (vgl. Palandt/Grüneberg 78. Aufl. § 397 Rn. 3).
48
Das mag eine Vereinbarung über den Verzicht auf bestimmte Rechte und Ansprüche zwar nicht ausschließen. Es ist jedoch zu beachten, dass an die Auslegung einer Willenserklärung als Verzicht auf eine Rechtsposition, der zum Verlust einer – ggf. erst noch in Aussicht stehenden – Rechtsposition führt, strenge Anforderungen zu stellen sind. In der Regel ist eine insoweit eindeutige Willenserklärung erforderlich, weil ein Rechtsverzicht niemals zu vermuten ist (vgl. BGH 30. September 2005 – V ZR 197/04 – Rn. 18 mwN).
49
Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass zukünftig entstehende Versorgungsansprüche häufig einen hohen Wert und eine große Bedeutung für den Arbeitnehmer haben. Kein Arbeitnehmer wird ohne besonderen Grund auf derartige Rechte, die dem Erhalt seines Lebensstandards im Alter dienen, verzichten wollen. Diese Bedeutung der Versorgungsansprüche für den Arbeitnehmer erfordert daher eine unmissverständliche Erklärung. Ein „Verzicht“ muss eindeutig und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht werden (vgl. BAG 20. April 2010 – 3 AZR 225/08 – Rn. 50 mwN, BAGE 134, 111).
50
bb) Eine solche eindeutige und zweifelsfreie Willenserklärung liegt nicht vor. Die Beklagte hat im Rahmen der Präsentation lediglich ihre Rechtsansicht dargestellt und sodann den unbefristeten Arbeitsvertrag mit dem Kläger abgeschlossen. Indem der Kläger keine Einwände gegen die Rechtsmeinung der Beklagten erhoben und nicht auf eine schriftliche Vereinbarung über die Versorgungszusage bestanden hat, hat er nicht auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung verzichtet.
51
b) Das Landesarbeitsgericht hat auch zu Recht angenommen, dass kein Anspruchsverfall durch das Versäumen von tarifvertraglichen Ausschlussfristen gegeben ist. § 17 MTV ist vorliegend nicht einschlägig.
52
aa) Tarifliche Bestimmungen über Ausschlussfristen – wie die in § 17 MTV – sind nach ihrem Zweck eng auszulegen. Sie dienen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit und sollen die kurzfristige Abwicklung von Ansprüchen sicherstellen, nicht aber Ansprüche beschneiden, die – wie Betriebsrentenansprüche – erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Eintritt eines Versorgungsfalls entstehen und deren Verletzung sich somit erst auswirkt, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist. Eine am Zweck tariflicher Ausschlussfristen orientierte Auslegung ergibt daher regelmäßig, dass sie auf Ansprüche aus betrieblicher Altersversorgung keine Anwendung findet (vgl. BAG 20. September 2016 – 3 AZR 302/15 – Rn. 30 mwN; 12. Juni 2007 – 3 AZR 186/06 – Rn. 28 mwN, BAGE 123, 82).
53
Dies gilt – mangels abweichender Anhaltspunkte – auch für die in § 17 MTV bestimmte Ausschlussklausel.
54
bb) Soweit die Beklagte einwendet, es gehe vorliegend um den Anspruch auf „Aufnahme“ in das Versorgungswerk, der bereits mit Abschluss des unbefristeten Arbeitsvertrags entstanden und fällig geworden sei, gilt nichts anderes. Denn es bedurfte – wie ausgeführt – keiner besonderen Aufnahme in das Versorgungswerk.
55
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Zwanziger
Roloff
Günther-Gräff
Wischnath
S. Hopfner |
bag_34-19 | 22.10.2019 | 22.10.2019
34/19 - Ruhegeld - Ablösung - Betriebsübergang
Die Betriebsparteien sind bei Eingriffen in Versorgungsrechte an die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit gebunden. Der Dritte Senat hat diese Grundsätze in ständiger Rechtsprechung für Eingriffe in Versorgungsanwartschaften durch das sog. dreistufige Prüfungsschema präzisiert. Danach sind den abgestuften Besitzständen der Arbeitnehmer entsprechend abgestufte, unterschiedlich gewichtete Eingriffsgründe der Arbeitgeber gegenüberzustellen. Dieses Schema findet auch Anwendung, wenn eine Versorgungsordnung infolge eines Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB durch eine beim Erwerber bereits geltende Betriebsvereinbarung abgelöst wird.
Dem Kläger war bei seinem ursprünglichen Arbeitgeber eine betriebliche Altersversorgung nach einer Betriebsvereinbarung zugesagt worden. Im Jahr 1998 kam es zu einer Verschmelzung mit der Betriebserwerberin, bei der es zu diesem Zeitpunkt zwei bereits geschlossene Ruhegeldordnungen (RGO I und II) sowie ein nicht geschlossenes Versorgungswerk (BV VO) in Form von Gesamtbetriebsvereinbarungen gab. Im Jahr 2000 schloss die Erwerberin mit den zuständigen Gewerkschaften einen Tarifvertrag (TV 2000), der Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung für die ehemaligen Mitarbeiter der ursprünglichen Arbeitgeberin enthielt. Danach sollten die RGO I und II einmalig geöffnet und die übernommenen Arbeitnehmer in diese Versorgungsordnungen so einbezogen werden, als hätten sie ihre gesamte Betriebszugehörigkeit beim Erwerber verbracht. Der Tarifvertrag ermächtigt die Betriebsparteien zur Regelung von Einzelheiten. Daraufhin schlossen Arbeitgeberin und Gesamtbetriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung für die übernommenen Arbeitnehmer (BV Überleitung).
Der Kläger erhielt auf dieser Grundlage ein Altersruhegeld. Im Juni 2014 teilte die Beklagte dem Kläger – wie auch einer Vielzahl anderer ehemaliger Mitarbeiter der ursprünglichen Arbeitgeberin – mit, dass sein Ruhegeld fehlerhaft berechnet worden sei. Sie zahlte ab Juli 2014 das von ihr neu ermittelte niedrigere Ruhegeld. Der Kläger begehrt mit seiner Klage ein Altersruhegeld in der bisher gezahlten Höhe. Die Ablösung der beim Veräußerer geltenden Versorgungsordnung entfalte keine Wirkung. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg und führte zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.
Die beim Erwerber bestehende BV VO war ungeeignet, die beim Veräußerer geltende Versorgungsordnung abzulösen. Die damit verbundenen Eingriffe hielten einer Überprüfung anhand des dreistufigen Prüfungsschemas nicht stand.
Erst die später durch den TV 2000 geregelten Verschlechterungen sind gerechtfertigt. Die tariflichen Bestimmungen halten sich im Rahmen der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit. Diese Grundsätze führen bei Tarifverträgen zu einer gegenüber dem dreistufigen Prüfungsschema eingeschränkten Überprüfung. Die Betriebsparteien haben in der BV Überleitung gegenüber dem TV 2000 jedoch weitere Verschlechterungen vorgenommen, die vom Tarifvertrag nicht gedeckt waren. Insoweit ist die BV Überleitung wegen des gesetzlich vorgesehenen Tarifvorrangs teilunwirksam.
Die Sache war an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Das Landesarbeitsgericht wird das dem Kläger zustehende Ruhegeld neu zu ermitteln haben.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Oktober 2019 – 3 AZR 429/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 12. Juni 2018 – 3 Sa 1272/16 B – | Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachen vom 12. Juni 2018 – 3 Sa 1272/16 B – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Beruht die Verpflichtung zur betrieblichen Altersversorgung auf einer Betriebsvereinbarung beim Veräußerer eines Betriebs, so ist im Fall eines Betriebsübergangs die Ablösung dieser Betriebsvereinbarung durch eine beim Erwerber bestehende Gesamtbetriebsvereinbarung zu diesem Regelungsgegenstand wie sonst auch an den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit, für Eingriffe in Versorgungsanwartschaften durch das sog. dreistufige Prüfungsschema präzisiert, zu überprüfen. Gleiches gilt im Fall des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, der teleologisch zu reduzieren ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe der dem Kläger zustehenden betrieblichen Altersrente vor dem Hintergrund einer Verschmelzung der früheren Arbeitgeberin des Klägers, der Ü AG (im Folgenden Ü), auf eine Rechtsvorgängerin der Beklagten, die E AG.
2
Der 1949 geborene Kläger war seit dem 1. Januar 1973 bei der Ü mit Sitz in B beschäftigt. Dort existierten nacheinander verschiedene Betriebsvereinbarungen zur Gewährung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung an die Arbeitnehmer. Die für die Altersversorgung des Klägers bis zur Verschmelzung zuletzt maßgebliche Betriebsvereinbarung „Ruhegeldvereinbarung für Mitarbeiter bis Eintrittsdatum 31.12.1990“ (im Folgenden BV Ü) bestimmt ua.:
„§ 2
Kreis der Versorgungsberechtigten
1.
Versorgungsberechtigt nach dieser Ruhegeldvereinbarung sind alle
vor dem 01.05.1983
…
bis 31.12.1990
in ein Arbeitsverhältnis mit der Ü eingetretenen Mitarbeiter …
…
§ 3
Art und Auszahlung der Versorgung
1.
Die Versorgung umfaßt als Leistungsarten
1.1
Ruhegeld
in Form von Altersruhegeld, vorgezogenem Altersruhegeld …
…
§ 5
Spezielle Leistungsvoraussetzungen
1.
Ruhegeld
1.1
Altersruhegeld erhält der Mitarbeiter nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab dem Folgemonat nach Vollendung des 65. Lebensjahres (feste Altersgrenze).
1.2
Vorgezogenes Altersruhegeld erhält der Mitarbeiter auf Antrag nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits vor Vollendung des 65. Lebensjahres, wenn er gleichzeitig Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht.
…
§ 6
Bemessungsgrundlagen der Versorgung
…
3.
Als monatliches ruhegeldfähiges Diensteinkommen gilt für einen Mitarbeiter mit Eintrittsdatum vor dem 01.05.1983 das letzte Monatsbruttoeinkommen, das er vor dem Ausscheiden bei der Ü als Arbeitseinkommen bezogen hat oder auf das er arbeits- oder tarifvertraglichen Anspruch gehabt hätte. Dauerzulagen sind zu berücksichtigen. Darüber hinaus wird dem ruhegeldfähigen Diensteinkommen 1/12 des in Satz 1 und 2 festgelegten Monatsbruttoeinkommens hinzugerechnet.
…
§ 7
Höhe der Versorgungsleistungen
1.
Ruhegeld
1.1
Das Ruhegeld beträgt unter Anrechnung der in § 8 aufgeführten Leistungen unter Berücksichtigung der Höchstgrenze gemäß Ziffer 1.5 für Mitarbeiter mit Eintrittsdatum vor dem 01.05.1983
nach 10jähriger ruhgeldfähiger Dienstzeit
30 %
und steigt in den folgenden 15 Jahren mit jedem zurückgelegten Dienstjahr um
2 %
und in den weiteren Jahren in jedem Jahr um
1 %
des ruhegeldfähigen Diensteinkommens bis zum Höchstsatz von
75 %,
…
…
1.5
Das Ruhegeld darf zusammen mit den gemäß § 8 anrechenbaren Leistungen die vorgesehene Höchstgrenze nicht übersteigen; das Ruhegeld wird um den die Höchstgrenze übersteigenden Betrag gekürzt.
Diese Höchstgrenze beträgt bei Mitarbeitern mit Eintrittsdatum vor dem 01.05.1983
75 %
…
des der Ruhegeldberechnung zugrunde liegenden monatlichen ruhegeldfähigen Diensteinkommens.
…
§ 8
Im Rahmen der Höchstgrenzen anrechenbare Leistungen
1.
Zu den im Rahmen der Höchstgrenzen anrechenbaren Leistungen gehören
das Altersruhegeld,
das vorgezogene Altersruhegeld …
…
7.
Vermindert sich infolge von Änderungen des Sozialversicherungsrechts, insbesondere aufgrund des Inkrafttretens des Rentenreformgesetzes (RRG’92), das Leistungsniveau der vorher bezeichneten Ruhegelder bzw. Renten gegenüber derjenigen gesetzlichen Rentenleistung, die sich bei unveränderter Fortgeltung des Rechtsstatus zum 31.12.1990 ergeben hätte, um mehr als 7,5 v.H., dann wird für die Berechnung des Ruhegeldes, des Witwen- bzw. Witwergeldes und des Waisengeldes die lediglich um 7,5 v.H. ermäßigte Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung herangezogen.
…“
3
Vor dem Hintergrund der beabsichtigten Verschmelzung der Ü auf die E AG mit Sitz in O schlossen die Arbeitgebervereinigung energiewirtschaftlicher Unternehmen e.V., die E AG, die Ü und die Gewerkschaften ÖTV und DAG eine als „Überleitungstarifvertrag“ bezeichnete Vereinbarung vom 20. April 1998 (im Folgenden TV Überleitung), die auch vom Gesamtbetriebsrat der E AG und vom Betriebsrat der Ü unterzeichnet wurde. Darin heißt es ua.:
„§ 2
Fortgeltung der bisherigen (Gesamt-)Betriebsvereinbarungen
1.
Abweichend von § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB gelten diejenigen Betriebsvereinbarungen, die für die am Stichtag in einem Arbeitsverhältnis zur Ü stehenden Arbeitnehmer und Auszubildenden gelten, in der jeweils geltenden Fassung nach dem Stichtag weiter. Die Betriebspartner bleiben nach dem Stichtag befugt, die fortgeltenden Betriebsvereinbarungen zu ändern oder neue Betriebsvereinbarungen abzuschließen.
2.
Die Gesamtbetriebsvereinbarungen und Betriebsvereinbarungen, die für die am Stichtag in einem Arbeitsverhältnis zur E stehenden Arbeitnehmer und Auszubildenden gelten, gelten in der jeweils geltenden Fassung nach dem Stichtag weiter. Abweichend von § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB erstreckt sich der Geltungsbereich der Gesamtbetriebsvereinbarungen nicht auf diejenigen Arbeitnehmer und Auszubildenden, die am Stichtag in einem Arbeitsverhältnis zur Ü stehen.
Die Betriebspartner bleiben nach dem Stichtag befugt, die fortgeltenden Gesamtbetriebsvereinbarungen und Betriebsvereinbarungen zu ändern oder neue Gesamtbetriebsvereinbarungen oder Betriebsvereinbarungen abzuschließen; für neue Gesamtbetriebsvereinbarungen ist Satz 2 dieser Nr. 2 zu beachten.
§ 3
Befristung der Fortgeltung
1.
Die in § 1 Nr. 1 und § 2 Nr. 1 geregelte Fortgeltung der Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen der Ü ist befristet auf den 31.12.2000. Eine Nachwirkung über den 31.12.2000 ist ausgeschlossen.
2.
Die Tarifvertragsparteien und Betriebspartner der E und Ü werden unverzüglich nach dem Stichtag in Verhandlungen eintreten, um unternehmenseinheitlich geltende Tarifverträge und (Gesamt-)Betriebsvereinbarungen auszuhandeln. Dabei wird es im wirtschaftlichen Gesamtergebnis nicht zu einer Schlechterstellung der Gesamtbelegschaft hinsichtlich der durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen verursachten Kosten je Arbeitnehmer kommen.
3.
Sollten die Verhandlungen nach Nr. 2 bis zum 31.12.2000 zu keinem bzw. nur zu einem Teilergebnis führen, tritt insoweit die Rechtsfolge des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB mit Wirkung ab 01.01.2001 ein. Insoweit erstrecken sich mit Wirkung ab 01.01.2001 die Tarifverträge und die Gesamtbetriebsvereinbarungen der E auf diejenigen Arbeitnehmer und Auszubildenden, die am Stichtag in einem Arbeitsverhältnis zur Ü stehen. …
…“
4
Der am 20. Juli 1998 zwischen der E AG und der Ü abgeschlossene Verschmelzungsvertrag enthält ua. folgende Angaben zu den Folgen der Verschmelzung für die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen:
„§ 5
Folgen der Verschmelzung für die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen
1.
Mit Wirksamwerden der Verschmelzung gehen sämtliche Arbeitsverhältnisse, die mit der übertragenden Gesellschaft bestehen, gem. § 613a BGB mit allen Rechten und Pflichten auf die übernehmende Gesellschaft über (§ 324 UmwG). …
…
4.
Die Tarifvertragsparteien der beteiligten Rechtsträger haben einen Überleitungstarifvertrag geschlossen, der regelt, daß die bis zum Zeitpunkt der Verschmelzung jeweils geltenden unterschiedlichen Tarifverträge für die jeweiligen Arbeitnehmer und Auszubildenden der jeweiligen Unternehmen bis zum 31.12.2000 weiter gelten. Gleiches gilt für die jeweiligen (Gesamt-)Betriebsvereinbarungen.
5.
Die bei beiden Unternehmen bestehenden Betriebsräte bleiben unverändert im Amt. Der bei der übernehmenden Gesellschaft bestehende Gesamtbetriebsrat ist durch zwei Mitglieder des Betriebsrates der übertragenden Gesellschaft zu erweitern.
…“
5
Die Verschmelzung wurde am 17. August 1998 in das Handelsregister eingetragen.
6
Am 16. Oktober 1998 wurde zwischen der E AG und deren Gesamtbetriebsrat ein Interessenausgleich/Sozialplan geschlossen, der Regelungen über die Möglichkeit für bestimmte Jahrgänge, ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis zu begründen, enthält.
7
Zum Zeitpunkt der Eintragung der Verschmelzung existierten bei der E AG abhängig vom Eintrittsdatum der Arbeitnehmer mehrere Gesamtbetriebsvereinbarungen zur betrieblichen Altersversorgung. Zum einen galt die zwischen der E AG und dem Gesamtbetriebsrat geschlossene „Betriebsvereinbarung Versorgungsordnung der E AG“ (im Folgenden BV VO). Darin heißt es ua.:
„§ 2
Versorgungsberechtigung
1.
Zum Kreis der versorgungsberechtigten Betriebsangehörigen gehören alle ab dem 01. Januar 1990 in ein Arbeitsverhältnis mit der E eingetretenen Mitarbeiter, die
●
auf zeitlich unbestimmte Dauer beschäftigt sind
●
eine vertraglich bestimmte, regelmäßige Arbeitszeit von mindestens 25 % der jeweils für E maßgeblichen tarifvertraglichen Arbeitszeit erbringen.
2.
Ausgenommen sind Betriebsangehörige, die
●
nur eine geringfügige oder andere versicherungsfreie Beschäftigung (vgl. § 8 SGB IV) ausüben,
●
nach anderen Versorgungszusagen der E begünstigt sind,
oder
●
bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 55. Lebensjahr bereits vollendet haben.
…
§ 9
Ruhegeldfähige Dienstzeit
1.
Die ruhegeldfähige Dienstzeit umfasst alle in einem … Arbeitsverhältnis bei E, einem ihrer Rechtsvorgänger oder Rechtsnachfolger ohne Unterbrechung verbrachten Zeiten der Betriebszugehörigkeit, …
…
§ 10
Höhe des E-Ruhegeldes
1.
Ruhegeldformel
Das E-Ruhegeld berechnet sich aus der Anzahl der ruhegeldfähigen Dienstjahre (vgl. § 9) und dem Betrag des ruhegeldfähigen Diensteinkommens (vgl. § 8) bei Eintritt des Versorgungsfalles.
Für jedes ruhegeldfähige Dienstjahr werden
0,6 %
vom gesamten ruhegeldfähigen Diensteinkommen, höchstens aber 21 % zuzüglich
1,0 %
von dem die Beitragsbemessungsgrenze übersteigenden Teil des ruhegeldfähigen Diensteinkommens, höchstens aber 35 %
gewährt. …
…
§ 15
Inkrafttreten
Die Versorgungsordnung in der vorliegenden Fassung tritt mit Wirkung vom 01.01.1990 in Kraft. Sie gilt für Betriebsangehörige der E, die ihr Arbeitsverhältnis mit E nach dem 31.12.1989 begonnen haben. Versorgungsrechte aus Arbeitsverhältnissen mit E, die vor dem 01.01.1990 begründet wurden, bleiben von den Bestimmungen dieser Versorgungsordnung unberührt.“
8
Außerdem galt die mit dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossene Ruhegeldordnung I vom 9. Dezember 1980 (im Folgenden RGO I). Darin heißt es ua.:
„§ 1
Alle Belegschaftsmitglieder der E, deren regelmäßige Arbeitszeit nicht weniger als die Hälfte der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit nach dem jeweils gültigen Rahmentarifvertrag beträgt, erhalten nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen, die einen Rechtsanspruch begründen, lebenslänglich Ruhegeld …
§ 2
Das Ruhegeld wird mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses gewährt
a)
sobald das Belegschaftsmitglied Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. §§ 35 – 41 SGB VI) erhält; …
…
§ 6
Das Ruhegeld beträgt nach zehnjähriger Dienstzeit 30% und steigt in jedem weiteren angefangenen Dienstjahr um 1 ½ % bis zum Höchstbetrage von 71 % des in § 7 festgesetzten ruhegeldfähigen Diensteinkommens.
…
§ 7
1.
Das ruhegeldfähige Diensteinkommen berechnet sich aus der monatlichen Grundvergütung (…) bei Eintritt des Versorgungsfalles zuzüglich der Entschädigung für Dienstbereitschaft gemäß Ziffer 2.
…
§ 8
1.a)
Die Versorgungsleistung, die einem Ruhegeldempfänger aufgrund seiner Tätigkeit bei der E und ihren Rechtsvorgängern zufließt, darf einschließlich der Sozialversicherungsrenten, die er aufgrund einer Pflichtversicherung erhält, folgende Prozentsätze des nach § 7 festgesetzten Diensteinkommens nicht übersteigen:
…
71 % bei mehr als 25 Dienstjahren
b)
Bei übersteigenden Beträgen wird das Ruhegeld entsprechend gekürzt. …
2.
Die Gesamtsumme aller Versorgungsbezüge – eingeschlossen die Leistungen anderer Unternehmen aus früheren Arbeitsverhältnissen und die der gesetzlichen Rentenversicherung (Pflichtversicherung) – sind nach oben auf 71 % des ruhegeldfähigen Einkommens beschränkt. Übersteigen die Gesamtbezüge diese Grenze, so vermindern sich die Versorgungsleistungen der E um den Unterschiedsbetrag gemäß Absatz 1.
…
4.
Die Berechnung des betrieblichen Ruhegeldes unter Beachtung der Obergrenzen gemäß Abs. 1 und 2 wird in zweifacher Weise durchgeführt:
Bei der Erstrechnung wird die Sozialversicherungsrente nach dem bei Eintritt des Versorgungsfalles maßgebenden Rechtsstatus, bei der Zweitrechnung diejenige Sozialversicherungsrente herangezogen, die sich bei unveränderter Fortgeltung des Rechtsstatus bis zum 31.12.1991 (ohne RRG 92) ergeben hätte. Das Ergebnis der Erstrechnung wird mit dem Anteil gewichtet, welcher dem Verhältnis der bis zum 31.12.1991 zurückgelegten zu der bis zum Eintritt des Versorgungsfalles abgeleisteten Dienstzeit entspricht; das Ergebnis der Zweitrechnung wird mit dem hierzu komplementären Anteil gewichtet. Das betriebliche Ruhegeld bestimmt sich schließlich aus der Summation der so errechneten Teilbeträge.
Die Sozialversicherungsrente, die sich bei unveränderter Fortgeltung des Rechtsstatus zum 31.12.1991 ergeben hätte, errechnet sich nach dem für die Berechnung von unverfallbaren Versorgungsanwartschaften gesetzlich zugelassenen Näherungsverfahren gemäß BMF-Schreiben vom 23.04.1985 – IV B 1 – S 2176 – 41/85.
…
§ 17
Diese Ruhegeldordnung gilt mit Wirkung vom 01. Januar 1992 für Mitarbeiter, deren Arbeitsverhältnis mit der E vor dem 01. Januar 1981 begründet wurde. …“
9
Schließlich bestand die mit dem Gesamtbetriebsrat am 9. Dezember 1980 abgeschlossene „Ruhegeldordnung II“ (im Folgenden RGO II). Sie gilt für Mitarbeiter, die nach dem 31. Dezember 1980 und vor dem 1. Januar 1992 eingestellt wurden.
10
Die RGO I und II waren im Zeitpunkt der Verschmelzung der Ü auf die E AG für neu eintretende Mitarbeiter bereits geschlossen.
11
Die Ü hatte vor der Verschmelzung einen Betrieb, der aus der in B ansässigen Hauptverwaltung und ua. sieben Kundencentern bestand, die sich über das Versorgungsgebiet der Ü im Weser-Elbe-Raum erstreckten. Diese Kundencenter wurden mit Wirkung vom 1. April 1999 umstrukturiert und auf mehrere Betriebe (die Betriebsabteilungen Br, C, S und D) mit jeweils eigener Leitung in personellen und sozialen Angelegenheiten aufgeteilt. Die Hauptverwaltung der ehemaligen Ü in B wurde gleichzeitig zum Nebenbetrieb der Oer Hauptverwaltung der E AG. Der Kläger wurde der Betriebsabteilung Br, und zwar der neuen organisatorischen Einheit des „techn. Bereich(s) Bau/Betrieb E/G – Betriebsbüro“, zugeordnet.
12
Im Rahmen der Umstrukturierung wurde eine „Vereinbarung zwischen dem Vorstand der E AG und dem Betriebsrat „W“ über die Fortführung der Betriebsratstätigkeit“ getroffen, in der es ua. heißt:
„II
Regelungsabsprachen
…
2.
Weiterbestehen der Verantwortlichkeit des bisherigen Betriebsrates W
Da der Betriebsrat W die bei Alt-Ü abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen mit dem Vorstand abgeschlossen hatte und er als Verantwortlicher für die Überführung dieser Betriebsvereinbarungen in ein gemeinsames Regelungswerk für das fusionierte Unternehmen im Überleitungstarifvertrag gesehen wird, wird akzeptiert, dass der Betriebsrat W in seiner jetzigen Zusammensetzung bis längstens zum 30. Dezember des Jahres 2000 für diesen Fragenkomplex in der Verantwortung steht. Dies bedeutet, dass der Betriebsrat W Gesprächs- und Verhandlungspartner für die Erarbeitung von neuen Betriebsvereinbarungen für das fusionierte Unternehmen ist: sollte bereits vor dem 31. Dezember des Jahres 2000 eine Verständigung hierüber erzielt werden, so erlischt das Mandat des Betriebsrates W zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der neuen Betriebsvereinbarung für das fusionierte Unternehmen.
…“
13
Am 1. März 2000 kam es zu einer „Erklärung der Tarifvertragsparteien zu § 3 Nr. 2 Überleitungstarifvertrag (ÜTV) vom 20. April 1998“ der E AG, der ÖTV und der DAG (im Folgenden Erklärung 2000). Darin heißt es ua.:
„1.
Die Tarifvertragsparteien stellen fest, dass es aufgrund der unterschiedlichen Positionen und auch im Rahmen der bis zum 31. Dezember 2000 zur Verfügung stehenden Zeit nicht gelungen ist, gemäß § 3 Nr. 2 ÜTV ein neues Tarifwerk für die E AG zu schaffen. Wie tariflich vereinbart, wird demgemäß nach § 3 ÜTV Nr. 3 die Überleitung nach § 613 a BGB auf das Tarifwerk und die Gesamtbetriebsvereinbarungen der E AG vorgenommen.
Die Betriebsräte werden unverzüglich nach der internen Abstimmung zwischen dem Personalmanagement und den Fachbereichen in den Prozess der Überleitung einbezogen. Härtefälle bei den Eingruppierungen in das Vergütungssystem der E AG werden in einer paritätischen Kommission behandelt und einvernehmlich geregelt. Ein Härtefall ist gegeben, wenn die Tabellenvergütung nach der Eingruppierung in das Vergütungssystem der E AG niedriger ist als die bisher bezogene Tabellenvergütung.
…
2.
Der Vorstand der E AG erklärt, dass im Hinblick auf die betriebliche Altersversorgung die geschlossenen Ruhegeldordnungen der E AG einmalig geöffnet werden, um die Arbeitnehmer der früheren Ü entsprechend ihrer Betriebszugehörigkeit darin aufzunehmen. Damit wird sichergestellt, dass für alle Arbeitnehmer der E AG für die Zukunft Versorgungsansprüche auf einheitlicher Basis begründet werden.
Nähere Einzelheiten dazu sollen in einer Gesamtbetriebsvereinbarung geregelt werden.“
14
Am 13. Juni 2000 schlossen die E AG und deren Gesamtbetriebsrat die „Betriebsvereinbarung Altersversorgung – Überleitung“ (im Folgenden GBV Überleitung). Darin heißt es ua.:
„1.
Unverändertes Fortgelten der bisher maßgeblichen Versorgungsregelungen
Die betrieblichen Versorgungsrechte von ehemaligen Ü-Mitarbeitern, die
●
zum 1.1.2001 (Überleitungsstichtag) bereits das 55. Lebensjahr vollendet haben (rentennahe Jahrgänge),
●
zum Überleitungsstichtag bereits mit einer unverfallbaren Versorgungsanwartschaft ausgeschieden sind, bzw.
●
bei denen der Versorgungsfall vor dem 1.1.2005 eintritt,
bleiben von dieser Betriebsvereinbarung unberührt. Für die genannten Mitarbeiter finden weiterhin die vor dem Überleitungsstichtag jeweils geltenden, vom Zeitpunkt des Beginns des Arbeitsverhältnisses abhängigen betrieblichen Versorgungsregelungen (Ü-Versorgungsrecht) Anwendung.
2.
Mitarbeiter mit Beginn des Arbeitsverhältnisses bei Ü vor dem 1.1.1981
2.1.
Für Mitarbeiter, die vor dem 1.1.1981 ein Arbeitsverhältnis zur Ü begründet haben, gelten im Zeitraum ab dem Überleitungsstichtag die Bestimmungen der Ruhegeldordnung I (RGO I) der E (E-Versorgungsrecht) nach Maßgabe der Absätze 2.2. bis 2.5.
2.2.
Bei Eintritt des Versorgungsfalles werden zunächst unter Berücksichtigung sämtlicher vor und ab dem Überleitungsstichtag zusammenhängend verbrachten ruhegeldfähigen Dienstzeiten die Versorgungsleistungen jeweils auf Grundlage des Ü-Versorgungsrechts und des E-Versorgungsrechts ermittelt.
2.3.1.
Im Rahmen der RGO I wird bei der Leistungsermittlung diejenige Sozialversicherungsrente herangezogen, die sich bei unveränderter Fortgeltung des Rechtsstatus in der gesetzlichen Rentenversicherung zum 31.12.1991 ergeben hätte. Diese bestimmt sich durch Multiplikation
●
des nach dem jeweils vorgelegten Rentenbescheid maßgeblichen Zahlbetrages
mit dem nach Satz 3 maßgeblichen Verhältniswert.
Der Verhältniswert wird ermittelt, indem
●
der auf Grundlage des gesetzlich zugelassenen Näherungsverfahrens für die Berechnung von unverfallbaren Versorgungsanwartschaften gemäß BMF-Schreiben vom 23.04.1985 (IV B 1 – S 2176-41/85) nach dem Stand 31.12.1991 bestimmte Betrag der Sozialversicherungsrente durch
●
den auf Grundlage des gesetzlich zugelassenen Näherungsverfahrens nach dem Stand bei Eintritt des Versorgungsfalles bestimmten Betrag der Sozialversicherungsrente
geteilt wird.
…
2.4.1.
Im Rahmen der Bestimmungen der Ruhegeldvereinbarung I (RV I) der Ü (Ü-Versorgungsrecht) wird bei der Leistungsermittlung als Anrechnungsbetrag diejenige Sozialversicherungsrente herangezogen, die sich bei unveränderter Fortgeltung des Rechtsstatus in der gesetzlichen Rentenversicherung zum 31.12.1990 ergeben hätte.
Absatz 2.3.1. Satz 2 und 3 findet entsprechende Anwendung.
2.4.2.
Sofern der maßgebliche Verhältniswert größer ist als 108,1%, ist als Anrechnungsbetrag der sich aus Absatz 2.4.1. ergebende und anschließend mit 92,5% multiplizierte Rentenzahlbetrag maßgeblich.
2.4.3.
Sofern der maßgebliche Verhältniswert kleiner ist als 108,1%, ist als Anrechnungsbetrag der sich aus dem vorgelegten Rentenbescheid ergebende Rentenzahlbetrag maßgeblich.
2.5.
Die Höhe der zu gewährenden Versorgungsleistung setzt sich zeitanteilig aus Leistungen des Ü- und des E-Versorgungsrechts zusammen.
Dabei errechnet sich der
●
Anteil der Leistung nach Ü-Versorgungsrecht aus dem Verhältnis der vor dem Überleitungsstichtag zurückgelegten zur gesamten bis zum Eintritt des Versorgungsfalles erreichten ruhegeldfähigen Dienstzeit,
●
Anteil der Leistung nach E-Versorgungsrecht aus dem Verhältnis der ab dem Überleitungsstichtag zurückgelegten zur gesamten bis zum Eintritt des Versorgungsfalles erreichten ruhegeldfähigen Dienstzeit.
…“
15
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2000 teilte die E AG dem Kläger ua. mit:
„Geltung der E-Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen ab 1. Januar 2001 – Ihre Eingruppierung
…,
der Überleitungstarifvertrag mit der befristeten Weitergeltung der tarifvertraglichen und betrieblichen Ü-Regelungen endet am 31. Dezember 2000. …
…
In Verbindung mit der Betriebsvereinbarung ‚Altersversorgung – Überleitung‘ gilt für Sie ab 1. Januar 2001 die E-Ruhegeldordnung I.
… “
16
Der Kläger war bei der E AG in der Zeit vom 1. Mai 2007 bis zum 30. April 2009 aufgrund eines Altersteilzeit-Vertrags vom 2. Dezember 2003 tätig. Er bezieht seit dem 1. Mai 2009 eine Altersrente der gesetzlichen Rentenversicherung nach Altersteilzeitarbeit. Mit Schreiben vom 10. Juni 2009 übermittelte die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der E AG dem Kläger eine Ruhegeldberechnung und zahlte – ebenfalls ab dem 1. Mai 2009 – an ihn eine monatliche Rente, die sich nach einer Anpassung iHv. 7,08 vH zuletzt im Juni 2014 auf 1.778,00 Euro brutto belief.
17
Mit Schreiben vom 18. Juni 2014 teilte die Beklagte dem Kläger ua. mit:
„… Wir müssen Sie heute mit diesem Schreiben darüber informieren, dass uns in Bezug auf Ihre betriebliche Altersversorgung ein Fehler unterlaufen ist. …
So haben wir bei einer internen Überprüfung der Betriebsrenten für ehemalige Ü-Mitarbeiter festgestellt, dass deren monatliche Betriebsrente – aufgrund eines systematischen Berechnungsfehlers – zu hoch ausgefallen ist, …
…
Auf Grundlage Ihrer nun richtig berechneten Ausgangsrente und unter Einbeziehung der seit Rentenbeginn zu berücksichtigenden Rentenanpassungen in Höhe von insgesamt 7,08 % erhalten Sie damit ab dem 01. Juli 2014 ein E-Ruhegeld in Höhe von monatlich
EUR 1.263,00 (brutto).
…“
18
Dem Schreiben waren die darin genannten Berechnungen beigefügt.
19
Mit seiner Klage vom 19. Januar 2015 hat der Kläger beginnend ab 1. Februar 2015 die Zahlung einer monatlichen Betriebsrente iHv. 1.778,00 Euro brutto und für den Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Januar 2015 die rückwirkende Zahlung iHv. insgesamt 3.605,00 Euro brutto gegen die Beklagte geltend gemacht.
20
Der Kläger hat vorgetragen, dass ihm Betriebsrentenansprüche in der seit Versorgungsbeginn von der Beklagten gezahlten Höhe zustünden. Der Gesamtbetriebsrat sei für den Abschluss der GBV Überleitung nicht zuständig gewesen. Wie aus der Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 25. Februar 2014 (- 6 Sa 1431/13 – Rn. 71 ff.) folge, stehe ihm unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten ein Anspruch aus der sog. Zweistämme-Lösung zu, wonach sich seine Rente anteilig nach der bei der Ü geltenden Regelung und der RGO I richte. Die Beklagte schulde ihm zudem Schadensersatz. Er habe dem Altersteilzeit-Vertrag nur im Hinblick auf die streitgegenständliche Ruhegeldberechnung zugestimmt. Zumindest schulde die Beklagte ihm das Ruhegeld in der bisher gezahlten Höhe nach Treu und Glauben. Sie habe ihn durch die damalige Berechnung des Ruhegeldes veranlasst, nach einer Altersteilzeit vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Ihr Verhalten sei auch widersprüchlich. Er habe aufgrund der Mitteilung vom 10. Juni 2009 davon ausgehen können, dauerhaft Ruhegeld iHv. 1.660,00 Euro brutto zu beziehen. Es handele sich dabei um eine verbindliche Zusage. Indem die Beklagte diesen Betrag über fünf Jahre gezahlt habe, sei jedenfalls ein Vertrauenstatbestand entstanden.
21
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
1.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ein Gesamtruhegeld von brutto monatlich 1.778,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf 515,00 Euro zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 3.605,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen;
3.
hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen vorläufig bezifferten Schadensersatz für die nicht gezahlten Ruhegehälter für Juli 2014 bis einschließlich Januar 2015 iHv. 3.605,00 Euro zu zahlen.
22
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
23
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
24
Die zulässigerweise beschränkt eingelegte Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts durfte die Klage – soweit für die Revision von Bedeutung – nicht abgewiesen werden. Der Senat kann aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, in welcher Höhe dem Kläger weiteres Ruhegeld zusteht.
25
A. Der Kläger hat seine Revision nur eingeschränkt eingelegt.
26
I. Die Revision kann, soweit verschiedene Streitgegenstände gegeben sind, beschränkt eingelegt werden (BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 25 ff., BAGE 164, 261).
27
II. Der Kläger hat seinen Anspruch in den Vorinstanzen aus mehreren Streitgegenständen hergeleitet.
28
Zuvorderst hat er sich darauf gestützt, die GBV Überleitung sei wegen der Unzuständigkeit des Gesamtbetriebsrats unwirksam und die bislang geltende BV Ü daher nicht wirksam abgelöst. Nachrangig und damit lediglich hilfsweise hat der Kläger geltend gemacht, ihm stehe unter Gleichbehandlungsaspekten ein Anspruch aus der sog. Zweistämme-Lösung sowie ein Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB wegen fehlerhafter Beratung bei Abschluss des Altersteilzeit-Vertrags zu. Ferner hat er seinen Anspruch darauf gestützt, dass die Beklagte aufgrund der vor Abschluss des Altersteilzeit-Vertrags erfolgten Berechnung des Ruhegeldes nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verpflichtet sei, das Ruhegeld in bislang gezahlter Höhe weiter zu gewähren. Schließlich sei die Mitteilung vom 10. Juni 2009 über die Höhe des Ruhegeldes verbindlich. Zumindest habe er aufgrund der jahrelang erfolgten Zahlungen in Höhe des mitgeteilten Betrags darauf vertrauen dürfen, dass das Ruhegeld dauerhaft in dieser Höhe gezahlt werde.
29
III. Hierbei handelt es sich jeweils um verschiedene Lebenssachverhalte und damit unterschiedliche Streitgegenstände iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO(zum Begriff des Streitgegenstands ausführlich BAG 20. November 2018 – 10 AZR 121/18 – Rn. 11 ff. mwN, BAGE 164, 201). Soweit das Landesarbeitsgericht einen Anspruch aus der sog. Zweistämme-Lösung, aus § 242 BGB wegen der Umstände nach Beginn der Ruhegeldzahlung und aus der Mitteilung vom 10. Juni 2009 verneint hat, erhebt die Revision hiergegen keine Einwände. Wie die Revisionsbegründung zeigt, verfolgt der Kläger sein Klagebegehren nur noch auf der Grundlage der BV Ü und von § 242 BGB wegen der Umstände vor Abschluss des Altersteilzeit-Vertrags sowie wegen eines – hilfsweise geltend gemachten – Schadensersatzanspruchs weiter.
30
B. Die Revision ist – soweit zulässig – begründet. Dem Kläger steht – entgegen seiner Ansicht – zwar kein Anspruch aus der BV Ü zu. Denn diese wurde wirksam durch die Erklärung 2000 iVm. der GBV Überleitung abgelöst. Ihm steht aber ein Anspruch auf Zahlung eines monatlichen Ruhegeldes aus der GBV Überleitung in höherem Umfang zu als zuletzt von der Beklagten gezahlt, weil Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung unwirksam ist. Diese – vom Landesarbeitsgericht verkannte – Teilunwirksamkeit der GBV Überleitung führt zur Anwendung von § 8 Ziff. 4 RGO I anstelle von Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung.
31
Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Senat jedoch nicht beurteilen, in welchem Umfang dem Kläger Ansprüche auf Nachzahlung rückständiger Betriebsrente für den geltend gemachten Zeitraum vom 1. Juli 2014 bis zum 31. Januar 2015 sowie in welcher Höhe ihm ab Februar 2015 eine – weiter gehende – monatliche Betriebsrente zusteht. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung.
32
Darüber hinausgehende Ansprüche stehen dem Kläger auch nicht nach § 242 BGB zu.
33
I. Die Klage ist überwiegend zulässig.
34
1. Der Antrag zu 1. ist als Feststellungsantrag zulässig. Er ist auf die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 ZPO gerichtet. Zwar können nach dieser Bestimmung nur Rechtsverhältnisse Gegenstand einer Feststellungsklage sein, nicht hingegen bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses. Eine Feststellungsklage muss sich allerdings nicht notwendig auf ein Rechtsverhältnis insgesamt erstrecken. Sie kann sich vielmehr auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (BAG 16. Oktober 2018 – 3 AZR 314/17 – Rn. 17 mwN, BAGE 164, 26).
35
Das ist vorliegend gegeben. Der Kläger begehrt – bei zutreffendem Antragsverständnis – die Feststellung einer Verpflichtung der Beklagten, ihm ab Februar 2015 Ruhegeld in der bis Juni 2014 gewährten Höhe – nämlich iHv. 1.778,00 Euro brutto monatlich – zzgl. Zinsen zu zahlen und damit die Klärung des Umfangs der Leistungspflicht der Beklagten.
36
Der Feststellungsantrag überschneidet sich teilweise mit dem Zahlungsantrag. Insoweit ist er jedoch als Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO zulässig, denn die Entscheidung über den Leistungsantrag hängt auch von der Entscheidung über den Feststellungsantrag ab. Eines besonderen Feststellungsinteresses bedarf es daher nicht (BAG 17. Juni 2014 – 3 AZR 529/12 – Rn. 24).
37
2. Der Antrag zu 1. ist allerdings, soweit er sich auf die Zahlung von Zinsen auf die erst nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung fälligen Leistungen bezieht, unzulässig.
38
Zwar können bei wiederkehrenden Leistungen, die wie Betriebsrentenansprüche nicht von einer Gegenleistung abhängen, gemäß § 258 ZPO grundsätzlich auch künftig fällig werdende Teilbeträge eingeklagt werden (st. Rspr., vgl. etwa BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 453/17 – Rn. 27 mwN, BAGE 164, 294). Verzugszinsen sind jedoch keine Leistungen iSv. § 258 ZPO, sondern Sekundäransprüche, deren Entstehung ungewiss ist (vgl. BAG 22. Januar 2019 – 3 AZR 560/17 – Rn. 19).
39
Auch eine Klage nach § 259 ZPO scheidet aus. Sie kann nur erhoben werden, wenn den Umständen nach die Besorgnis begründet ist, der Schuldner werde sich der rechtzeitigen Leistung entziehen (BAG 11. Juli 2017 – 3 AZR 691/16 – Rn. 17 mwN). Anhaltspunkte, die Beklagte werde bei einer Verurteilung zur Zahlung der erhöhten Betriebsrente ihrer Zahlungspflicht in Zukunft nicht rechtzeitig nachkommen, bestehen nicht. Das bloße Bestreiten der Hauptforderung begründet noch keine solche Besorgnis.
40
II. Der Kläger hat zwar keinen Anspruch auf eine – weitere – Anwendung der BV Ü. Ihm steht jedoch ein Ruhegeldanspruch nach der GBV Überleitung iVm. der BV Ü sowie der RGO I zu mit der Maßgabe, dass anstelle von Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung die Regelung in § 8 Ziff. 4 RGO I Anwendung findet.
41
1. Vor der Verschmelzung der Ü mit der E AG als Rechtsvorgängerin der Beklagten war für den Versorgungsanspruch des Klägers allein die BV Ü maßgeblich. Diese galt als Betriebsvereinbarung unmittelbar und zwingend (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG).
42
2. Die BV Ü wurde nicht wirksam durch die BV VO abgelöst.
43
a) Die Verschmelzung der Ü auf die E AG wurde mit ihrer Eintragung in das Handelsregister am 17. August 1998 wirksam. Das Vermögen der Ü ging auf die E AG über, die Ü erlosch (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 UmwG; vgl. BAG 6. August 2002 – 1 AZR 247/01 – zu C I der Gründe).
44
Nach § 324 UmwG bleibt § 613a Abs. 1 und Abs. 4 bis Abs. 6 BGB durch die Wirkungen der Eintragung ua. einer Verschmelzung unberührt. Die Regelung enthält eine Rechtsgrundverweisung auf § 613a Abs. 1 BGB. Daher sind die Voraussetzungen eines Betriebsübergangs auch bei einer Umwandlung selbstständig zu prüfen (vgl. BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 39).
45
Vorliegend hat die E AG den Betrieb der Ü einschließlich der dort beschäftigten Mitarbeiter übernommen, sodass auch ein Betriebsübergang iSv. § 613a BGB vorlag und das Arbeitsverhältnis des Klägers nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf die E AG übergegangen ist (vgl. zur Rechtsgrundverweisung in § 324 UmwG auf § 613a Abs. 1 BGB BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 39; sowie bereits BAG 25. Mai 2000 – 8 AZR 416/99 – zu I 1 c der Gründe, BAGE 95, 1; noch offengelassen BAG 6. August 2002 – 1 AZR 247/01 – zu C I der Gründe).
46
b) Da der Betrieb der Ü bis zur Umstrukturierung am 1. April 1999 und damit zum Zeitpunkt seines Übergangs auf die E AG seine Identität bewahrte, galt die BV Ü zunächst kollektivrechtlich unmittelbar und zwingend weiter.
47
Im Fall einer identitätswahrenden Übertragung eines Betriebs auf einen anderen Rechtsträger und dessen unveränderter Fortführung durch den Erwerber gelten die bestehenden Betriebsvereinbarungen grundsätzlich unverändert normativ aufgrund des Betriebsverfassungsrechts fort, da der Erwerber in die Rechtsposition des Veräußerers eintritt. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ist dann nicht anwendbar (vgl. BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 37 ff.; 27. Juli 1994 – 7 ABR 37/93 – zu B II der Gründe).
48
c) Die BV VO ist grundsätzlich geeignet, die BV Ü abzulösen.
49
aa) Mit der BV VO existierte bei der neuen Inhaberin des Betriebs eine Gesamtbetriebsvereinbarung zum gleichen Regelungsgegenstand, nämlich der betrieblichen Altersversorgung. In so einem Fall verdrängt eine vom Gesamtbetriebsrat innerhalb seines gesetzlichen Zuständigkeitsbereichs abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung die Zuständigkeit der einzelnen Betriebsräte und somit grundsätzlich auch die von jenen abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen, soweit es – wie hier nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG – um (teil-)-mitbestimmte Gegenstände geht (vgl. BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 79; 11. Dezember 2001 – 1 AZR 193/01 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 100, 60). Das gilt auch für diejenigen in übernommenen Betrieben (vgl. auch BAG 27. Juni 1985 – 6 AZR 392/81 – zu 3 e der Gründe, BAGE 49, 151; Hohenstatt in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen 5. Aufl. E Rn. 13).
50
bb) Der Kläger war auch vom persönlichen Geltungsbereich der BV VO, die im Zeitpunkt des Betriebsübergangs unmittelbar und zwingend galt, erfasst.
51
Die BV VO gilt nach § 2 Ziff. 1 BV VO für alle ab dem 1. Januar 1990 „in ein Arbeitsverhältnis mit der E eingetretenen Mitarbeiter“. Diese Anforderung erfüllt der Kläger. § 2 Ziff. 1 BV VO erfasst auch Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis – wie im Fall des Klägers – infolge eines Betriebsübergangs nach dem 1. Januar 1990 auf die Beklagte übergegangen ist. Dies ergibt die Auslegung (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. etwa BAG 23. Oktober 2018 – 1 ABR 10/17 – Rn. 26 mwN).
52
(1) Der Wortlaut des § 2 Ziff. 1 BV VO legt zwar die Annahme nahe, bei den „in ein Arbeitsverhältnis mit der E eingetretenen Mitarbeitern“ handele es sich um solche, deren Arbeitsverhältnis neu begründet worden ist. Dies ist allerdings nicht zwingend.
53
(2) Systematische Erwägungen sprechen jedoch gegen ein solches Verständnis. So bestimmt § 9 BV VO, dass ruhegeldfähige Dienstzeiten alle Zeiten der Betriebszugehörigkeit sind, die in einem Arbeitsverhältnis zur E AG, zu einer ihrer Rechtsvorgängerinnen oder Rechtnachfolgerinnen ohne Unterbrechung verbracht wurden. Dies setzt voraus, dass auch Mitarbeiter einbezogen sind, deren Arbeitsverhältnis im Wege eines Betriebsübergangs zur Beklagten begründet wurde. Rechtsvorgängerin ist auch die Ü. Gestützt wird diese Annahme auch dadurch, dass die Betriebsparteien diejenigen, die aus dem Kreis der Versorgungsberechtigten herausgenommen werden sollten, ausdrücklich und konkret in § 2 Ziff. 2 BV VO bestimmt haben, nämlich diejenigen, die eine geringfügige oder eine versicherungsfreie Beschäftigung ausüben, nach anderen Versorgungszusagen der E begünstigt sind oder bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 55. Lebensjahr bereits vollendet haben.
54
(3) Ferner ist in § 15 BV VO bestimmt, dass die Versorgungsordnung für Betriebsangehörige der E gilt, die ihr Arbeitsverhältnis mit E nach dem 31. Dezember 1989 begonnen haben. Das trifft auf den Kläger zu, dessen Arbeitsverhältnis zur E AG infolge des Betriebsübergangs nach dem 31. Dezember 1989 begann.
55
cc) §§ 2, 3 Abs. 1 Satz 1 TV Überleitung stehen der Anwendung der BV VO nicht entgegen. Die dortigen Regelungen sind wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtsquellenklarheit unwirksam.
56
(1) Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen unterliegen dem für normative Regelungen geltenden Gebot der Rechtsquellenklarheit. Das folgt aus den Erfordernissen der Rechtssicherheit, die im Schriftformgebot der § 1 Abs. 2 TVG und § 77 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 BetrVG zum Ausdruck kommen. Es stellt sicher, dass für die Normunterworfenen die Urheberschaft eindeutig ist. Erst aufgrund dessen kann beurteilt werden, wer für die Normsetzung wem gegenüber verantwortlich ist, ob sie von der Normsetzungskompetenz gedeckt und wer zu ihrer Ablösung berechtigt ist, sowie wem entsprechende Durchführungs- und Einwirkungspflichten obliegen. Dieses Gebot gilt auch für Betriebsvereinbarungen, die ein Arbeitgeber gemeinsam mit dem Gesamtbetriebsrat und den Einzelbetriebsräten abschließt. Hat ein Normenvertrag unterschiedliche betriebsverfassungsrechtliche Rechtsquellen zum Inhalt, muss die Frage, ob eine bestimmte Regelung eine Betriebsvereinbarung oder eine Gesamtbetriebsvereinbarung ist, in welchem Verhältnis diese Vereinbarungen zueinander stehen und wer von den Betriebsverfassungsorganen für welche Teile im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeit handelt, sowohl im Interesse der Rechtsunterworfenen als auch im Verhältnis der Betriebsverfassungsorgane untereinander einer zuverlässigen Beantwortung zugänglich sein (vgl. ausführlich BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 90; 15. April 2008 – 1 AZR 86/07 – Rn. 17 ff., BAGE 126, 251).
57
(2) Diesen Anforderungen genügen die §§ 2, 3 Abs. 1 Satz 1 TV Überleitung nicht, selbst wenn man sie von den übrigen Regelungen im TV Überleitung losgelöst betrachtete und als Betriebsvereinbarung einordnete. Sie wurden zwischen der Rechtsvorgängerin der Beklagten, deren Gesamtbetriebsrat, der Ü und dem damaligen Betriebsrat der Ü vor dem Betriebsübergang abgeschlossen. Zwar waren zu diesem Zeitpunkt der Gesamtbetriebsrat und die E AG für ihr Unternehmen sowie für den Betrieb der Ü die Ü gemeinsam mit ihrem Betriebsrat regelungsbefugt und insoweit noch trennbare Zuständigkeitsbereiche gegeben.
58
Allerdings sollte die Regelung für die Zeit nach dem Betriebsübergang für die E AG, zu der dann auch der Betrieb Ü zählte, gelten. Da der Betriebsrat der Ü aufgrund der Wahrung der Betriebsidentität bis zur Umstrukturierung am 1. April 1999 zunächst noch fortbestand, lag ab dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsquellenklarheit vor. Denn eine Betriebsvereinbarung, die auf Betriebsratsseite sowohl von einem örtlichen Betriebsrat als auch vom Gesamtbetriebsrat abgeschlossen worden ist, verstößt gegen den in § 50 BetrVG angelegten Grundsatz der Zuständigkeitstrennung. Danach schließen sich die originären Zuständigkeiten der betriebsverfassungsrechtlichen Organe aus. Im Rahmen ihrer originären Zuständigkeit ist entweder der Betriebsrat oder der Gesamtbetriebsrat zur Regelung einer betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheit zuständig (vgl. BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 450/17 – Rn. 90 mwN).
59
dd) Der Ablösung steht auch nicht etwa ein unionsrechtliches Verschlechterungsverbot entgegen. Ein solches Verbot einer verschlechternden Ablösung durch beim Erwerber geltende Kollektivregeln kann der Betriebsübergangsrichtlinie nicht entnommen werden. Etwas anderes folgt auch nicht aus den Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Union in der Sache „Scattolon“ (EuGH 6. September 2011 – C-108/10 – [Scattolon]) oder in der Sache „Unionen“ (EuGH 6. April 2017 – C-336/15 – [Unionen]; vgl. BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 91 ff.; 23. Januar 2019 – 4 AZR 445/17 – Rn. 44).
60
d) Die Ablösung der BV Ü durch die BV VO wirkt allerdings nur insoweit, als sie den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit entspricht, wie sie der Senat durch ein dreistufiges Prüfungsschema konkretisiert hat.
61
aa) Regeln mehrere zeitlich aufeinanderfolgende Betriebsvereinbarungen denselben Gegenstand, gilt das Ablösungsprinzip. Danach kann eine ältere eine jüngere Betriebsvereinbarung grundsätzlich auch dann ablösen, wenn die Neuregelung für den Arbeitnehmer ungünstiger ist (st. Rspr., vgl. ua. BAG 13. Oktober 2016 – 3 AZR 439/15 – Rn. 20; 29. Oktober 2002 – 1 AZR 573/01 – zu I 2 a der Gründe mwN, BAGE 103, 187).
62
bb) Das Ablösungsprinzip ermöglicht allerdings nicht jede Änderung der Versorgungsregelungen. Soweit in bestehende Besitzstände eingegriffen wird, sind die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Diese Grundsätze hat der Senat für Eingriffe in die Höhe von Versorgungsanwartschaften durch ein dreistufiges Prüfungsschema präzisiert (st. Rspr. seit BAG 17. April 1985 – 3 AZR 72/83 – zu B II 3 c der Gründe, BAGE 49, 57). Danach sind den abgestuften Besitzständen der Arbeitnehmer entsprechend abgestufte, unterschiedlich gewichtete Eingriffsgründe des Arbeitgebers gegenüberzustellen. Der unter der Geltung der bisherigen Ordnung und in dem Vertrauen auf deren Inhalt bereits erdiente und entsprechend § 2 Abs. 1, § 2a Abs. 1 BetrAVG ermittelte Teilbetrag kann hiernach nur in seltenen Ausnahmefällen entzogen werden. Das setzt zwingende Gründe voraus. Zuwächse, die sich – wie etwa bei endgehaltsbezogenen Zusagen – dienstzeitunabhängig aus dynamischen Berechnungsfaktoren ergeben (erdiente Dynamik), können nur aus triftigen Gründen geschmälert werden. Für Eingriffe in dienstzeitabhängige, noch nicht erdiente Zuwachsraten genügen sachlich-proportionale Gründe (vgl. etwa BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 28 mwN).
63
cc) Dieses vom Senat entwickelte dreistufige Prüfungsschema gilt auch bei der Ablösung einer bisher im Veräußererbetrieb geltenden Betriebsvereinbarung durch eine im Erwerberunternehmen bereits vorhandene Gesamtbetriebsvereinbarung im Fall eines Betriebsübergangs. Zwar tritt die beim Erwerber geltende Gesamtbetriebsvereinbarung in diesen Fällen kraft Gesetzes an die Stelle der noch beim Veräußerer geltenden Betriebsvereinbarung. Das beruht auf der Regelungsmacht der Betriebsparteien auf der Unternehmensebene. Ihre rechtlichen Möglichkeiten setzen sich auch gegenüber der im übernommenen Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung durch. Sind diese Regelungsmöglichkeiten jedoch rechtlich begrenzt, gilt dies ebenfalls für die gesetzlichen Rechtsfolgen bereits geschlossener Gesamtbetriebsvereinbarungen. Da die Gesamtbetriebsparteien lediglich unter Beachtung der Voraussetzungen des dreistufigen Prüfungsschemas berechtigt sind, Betriebsvereinbarungen über die betriebliche Altersversorgung abzulösen, kann die gesetzliche Wirkung einer bestehenden Gesamtbetriebsvereinbarung nicht weitergehen, als es sonst bei der Ablösung gölte (zum vergleichbaren Problem bei der gesetzlichen Auswirkung der Kündigung einer Betriebsvereinbarung vgl. BAG 11. Mai 1999 – 3 AZR 21/98 – BAGE 91, 310).
64
Die identitätswahrende Aufnahme des Betriebs in das Unternehmen des Erwerbers hat lediglich zur Folge, dass es für die Ablösung auf die tatsächlichen Verhältnisse beim Erwerber und nicht beim Veräußerer ankommt.
65
dd) Dadurch entsteht kein Wertungswiderspruch zu § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB. Zwar wäre es systemwidrig, wenn eine Ablösung kollektiv weitergeltender Betriebsvereinbarungen über Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach einem Betriebsübergang unter Wahrung der Betriebsidentität nur unter Beachtung der Voraussetzungen des dreistufigen Prüfungsschemas möglich wäre, jedoch Betriebsvereinbarungen, die bei einem nicht die Identität des übergehenden Betriebs wahrenden Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB im Arbeitsverhältnis weitergelten, ohne Weiteres nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ihre Wirkung verlören. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das dreistufige Prüfungsschema gilt auch bei der Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB. Die Regelung ist dahingehend entsprechend einschränkend auszulegen, also teleologisch zu reduzieren. Eine beim Erwerber geltende Betriebsvereinbarung über betriebliche Altersversorgung entfaltet gegenüber einer beim Veräußerer geltenden Betriebsvereinbarung nur insoweit nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ablösende Wirkung, als dies einer Überprüfung nach dem dreistufigen Prüfungsschema standhält (für möglich gehalten auch von BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 75 ff.).
66
(1) Die teleologische Reduktion von Rechtsnormen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eine nach ihrem Wortlaut anzuwendende Vorschrift hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle nicht anwendet, weil Sinn und Zweck, Entstehungsgeschichte und Zusammenhang der einschlägigen Regelung gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (vgl. BAG 27. September 2017 – 7 AZR 629/15 – Rn. 31; 22. Oktober 2015 – 2 AZR 381/14 – Rn. 34 mwN, BAGE 153, 102). Sie setzt voraus, dass der gesetzessprachlich erfasste, dh. der gesetzlich in bestimmter Weise geregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes nach einer anderen Entscheidung verlangt als die übrigen geregelten Fälle, um Wertungswidersprüche zu vermeiden (vgl. BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 381/14 – aaO; 21. Februar 2013 – 2 AZR 433/12 – Rn. 20 mwN).
67
(2) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
68
(a) Nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die Rechte und Pflichten, die durch eine beim Veräußerer geltende Betriebsvereinbarung geregelt sind, Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer. Allerdings gilt dies nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Der Regelung in § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB liegt das Ablösungsprinzip zugrunde. Rechte aus einer Betriebsvereinbarung, die im Zuge eines Betriebsübergangs gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses werden, sind vor einer Ablösung durch eine zum Zeitpunkt des Übergangs bereits existierende oder später in Kraft tretende Betriebsvereinbarung im Erwerberbetrieb nicht in weiterem Umfang geschützt, als wenn sie kollektivrechtlich weitergegolten hätten. Sie sind damit nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB einer Neuregelung durch eine ablösende Betriebsvereinbarung zugänglich. Durch die Möglichkeit der Ablösung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB sollen betriebseinheitliche Arbeitsbedingungen gefördert werden. Dem Ordnungsinteresse des neuen Betriebsinhabers wird gegenüber den Interessen der Arbeitnehmer an der Beibehaltung der bisherigen Kollektivverträge auf individualvertraglicher Basis der Vorrang eingeräumt, wenn die neuen Tarifverträge bzw. Betriebsvereinbarungen in dem mit dem Erwerber bestehenden Arbeitsverhältnis unmittelbar und zwingend gelten (vgl. BAG 12. Juni 2019 – 1 AZR 154/17 – Rn. 50 mwN).
69
Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB gewährt deshalb dem Erwerber dieselben Möglichkeiten, wie sie auch der Veräußerer gehabt hätte (BAG 24. Juli 2001 – 3 AZR 660/00 – zu II 5 a der Gründe, BAGE 98, 224). Sie überträgt die Grundsätze der Ablösung kollektiver Regelungen auch auf die Situation des Betriebsübergangs und auf Fallgestaltungen, bei denen beim Erwerber eine kollektive Regelung nicht erst geschaffen wird, sondern im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits besteht.
70
Dagegen dient § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht dazu, gerade bei einem Betriebsübergang dem Erwerber strukturell weiter gehende Möglichkeiten einzuräumen, als sie der Veräußerer gehabt hätte. Dies widerspräche dem ebenfalls in § 613a Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommenden Prinzip der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses (vgl. BAG 24. Juli 2001 – 3 AZR 660/00 – zu II 5 a der Gründe, BAGE 98, 224). § 613a Abs. 1 BGB verfolgt das Ziel, die Rechtsstellung der Arbeitnehmer vor Verschlechterungen aus Anlass eines Betriebsübergangs weitgehend zu schützen (vgl. dazu BAG 6. November 2007 – 1 AZR 862/06 – Rn. 37, BAGE 124, 323; 13. November 2007 – 3 AZR 191/06 – Rn. 30 f., BAGE 125, 1), insbesondere auch gegen den Verlust von Rechtspositionen, die sie bei ihrem bisherigen Arbeitgeber gehabt haben (BAG 9. April 2008 – 4 AZR 184/07 – Rn. 27). Soweit der Ablösung einer kollektiven Regelung beim Veräußerer Grenzen gesetzt waren, müssen diese auch beim Erwerber eingehalten werden. Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB räumt dem Ordnungsprinzip nur insoweit Vorrang vor dem Vertrauensschutz ein, wie dies nicht dazu führt, dass die Befugnisse des Erwerbers – und der Betriebsparteien – größer sind als die des Veräußerers (vgl. dazu BAG 6. November 2007 – 1 AZR 862/06 – aaO sowie 13. November 2007 – 3 AZR 191/06 – Rn. 30 f. mwN, aaO zur sog. „Über-Kreuz-Ablösung“ von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen).
71
(b) Besitzstand und Erwartungen eines Arbeitnehmers in Bezug auf die betriebliche Altersversorgung sind dabei anders zu behandeln als sonstige Besitzstände und Erwartungen. Bei der betrieblichen Altersversorgung gehören zum Besitzstand des Arbeitnehmers auch die Erwartungen, die durch die Versorgungsordnung begründet werden. Sie beziehen sich auf das gesamte Arbeitsverhältnis bis zum Eintritt des Versorgungsfalls. Denn darauf sind nach dem Verständnis des Betriebsrentengesetzes Versorgungsregeln ausgelegt (vgl. BAG 19. Juli 2011 – 3 AZR 434/09 – Rn. 43 f., BAGE 138, 346; BT-Drs. 7/1281 S. 24). Die vom Arbeitgeber zu erbringende betriebliche Altersversorgung wird als Gegenleistung für die gesamte Betriebszugehörigkeit zwischen dem Beginn des Arbeitsverhältnisses und dem Erreichen der festen Altersgrenze aufgefasst, wobei typischerweise davon ausgegangen wird, dass der Arbeitnehmer erst mit Erreichen des Versorgungsfalls aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Daraus rechtfertigt sich der Bestandsschutz auch für dienstzeitabhängige künftige – nach dem Ablösungsstichtag liegende – Zuwächse (BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 32 f.). Ein reines „Entgeltprinzip“, das es rechtfertigte, für Zeiten nach dem Betriebsübergang voraussetzungslos eine Versorgungsregelung abzulösen, besteht dagegen nicht (vgl. BAG 19. Juli 2011 – 3 AZR 434/09 – Rn. 43 f. mwN, aaO).
72
Da Bestand und Inhalt des Arbeitsverhältnisses durch § 613a Abs. 1 BGB gerade geschützt werden sollen, ist hierdurch auch das Vertrauen auf den Fortbestand einer Versorgungsregelung nach denselben Grundsätzen, wie dies für Ablösungen beim Veräußerer gilt, erfasst. Dass nach dem Übergang des Arbeitsverhältnisses die beim Erwerber bestehenden Umstände für die Beurteilung maßgeblich sind, bleibt davon unberührt.
73
(c) Für dieses Ergebnis spricht auch die Gesetzesbegründung zum Arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetz vom 13. August 1980 (BGBl. I S. 1308), mit dem § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB eingefügt wurde. Hiernach war zwar zum einen beabsichtigt, dass nur die Betriebsvereinbarungen (oder Tarifverträge) des neuen Inhabers Anwendung finden sollen (BT-Drs. 8/3317 S. 7 Ziff. 2). Zum anderen ging es dem Gesetzgeber aber auch um die Erhaltung von Ansprüchen bei einem Betriebsübergang (BT-Drs. 8/3317 S. 11 Überschrift zu Nr. 4). § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB – so der Gesetzgeber – stelle klar, dass gegenüber der in Satz 2 geregelten individualrechtlichen Verpflichtung die kollektivrechtlichen Verpflichtungen „wie üblich“ vorgingen (BT-Drs. 8/3317 S. 11 Buchst. a). Damit verweist er auf die üblichen Ablösungsmechanismen. Im Fall der Ablösung einer Betriebsvereinbarung zur betrieblichen Altersversorgung findet damit, soweit es um Eingriffe in die Höhe von Versorgungsanwartschaften geht, das dreistufige Prüfungsschema Anwendung. Anhaltspunkte, dass zugunsten des Erwerbers Erleichterungen bei der Ablösung von Betriebsvereinbarungen zur betrieblichen Altersversorgung eingeführt werden sollten, sind nicht ersichtlich. Der Erwerber soll somit nach dem Willen des Gesetzgebers im Fall eines Betriebsübergangs durch bei ihm bestehende oder abzuschließende Betriebsvereinbarungen auch (nur) das erreichen können, was für den Veräußerer möglich gewesen wäre.
74
(3) Ob diese Auslegung unionsrechtlich gefordert ist, kann offenbleiben. Unionsrecht steht ihr jedenfalls nicht entgegen.
75
(a) Es kann dahingestellt bleiben, ob sich aus der Betriebsübergangsrichtlinie – Richtlinie 2001/23/EG – ebenfalls eine Verpflichtung ergibt, das dreistufige Prüfungsschema anzuwenden. Sollte die hier gefundene Auslegung von § 613a Abs. 1 BGB über die Anforderungen der Betriebsübergangsrichtlinie hinausgehen, wäre dies nach deren Art. 8 gerechtfertigt. Die Regelung lässt den Erlass günstigerer Regelungen für die Arbeitnehmer ausdrücklich zu.
76
(b) Auch Art. 16 GRC steht der gefundenen Auslegung nicht entgegen.
77
Diese Norm schützt die unternehmerische Freiheit. Sie ist hier anwendbar, weil die vorliegende Konstellation wegen der einschlägigen Betriebsübergangsrichtlinie in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (Art. 51 Abs. 1 GRC). Art. 16 GRC ist nicht verletzt, soweit es dem Erwerber möglich ist, im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens, an dem er beteiligt ist, seine Interessen wirksam geltend zu machen, sowie die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln und die erforderlichen Anpassungen vorzunehmen (vgl. EuGH 27. April 2017 – C-680/15 ua. – [Asklepios Kliniken Langen-Seligenstadt] Rn. 22 f.). Das ist vorliegend gewährleistet, da das dreistufige Prüfungsschema dem Arbeitgeber ermöglicht, erforderliche Änderungen für die Zukunft vorzunehmen. Verlangt sind insoweit lediglich nachvollziehbare, anerkennenswerte und damit willkürfreie Gründe (vgl. BAG 10. November 2015 – 3 AZR 390/14 – Rn. 25).
78
(4) Damit steht zugleich fest, dass allein das Interesse des Arbeitgebers, nach einem Betriebsübergang unterschiedliche Versorgungsordnungen vereinheitlichen zu wollen, als Sachgrund für eine Verschlechterung von Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung nicht – auch nicht für Eingriffe in die weiteren dienstzeitabhängigen Zuwächse – genügt. Vielmehr müssen weitere Voraussetzungen für diesen Sachgrund erfüllt sein.
79
Soweit den Entscheidungen des Senats vom 24. Juli 2001 (- 3 AZR 660/00 – BAGE 98, 224) und vom 29. Juli 2003 (- 3 AZR 630/02 – zu B I 2 b bb der Gründe) etwas anderes entnommen werden könnte, hält der Senat hieran nicht fest.
80
e) Bei Anwendung des dreistufigen Prüfungsschemas ergibt sich vorliegend jedenfalls ein deutlicher Eingriff auf der dritten Stufe, dh. bei den weiteren möglichen Zuwächsen infolge der Betriebszugehörigkeit. Ein sachlich-proportionaler Rechtfertigungsgrund hierfür liegt nicht vor. Er ist im gesamten Verfahren weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. In Betracht käme allenfalls ein Vereinheitlichungsinteresse, das – wie dargelegt – für sich genommen nicht genügt. Die weiteren Voraussetzungen für diesen Sachgrund liegen nicht vor (zu den Voraussetzungen für den Fall einer Ablösung ohne Betriebsübergang vgl. BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 136 f.). Insoweit ist insbesondere aufgrund der Absenkung des Versorgungsgrads von einer unzumutbaren Verschlechterung für den Kläger auszugehen (vgl. hierzu BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 137 mwN).
81
3. Auch die Umgestaltung der Betriebsstruktur zum 1. April 1999 hat die Wirkung der BV Ü nicht beseitigt. Dabei kann dahingestellt bleiben, inwieweit die Auflösung eines Betriebs allgemein die Wirkung einer Betriebsvereinbarung beseitigen kann. Jedenfalls im Bereich der betrieblichen Altersversorgung ist dies wegen des dargelegten besonderen Vertrauensschutzes nur möglich, wenn eine sich dadurch ergebende Ablösung oder Beendigung der Wirkung einer Betriebsvereinbarung einer Überprüfung anhand der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit standhielte. Das ist hier ausgeschlossen, weil die Umstrukturierung allenfalls zur Anwendbarkeit der BV VO führte und das nach dem Vorgesagten diesen Grundsätzen nicht entspräche.
82
4. Dennoch kann der Kläger seinen Anspruch nicht mehr auf die BV Ü stützen. Diese wurde durch die Erklärung 2000 verdrängt.
83
a) Die Erklärung 2000 ist ein Tarifvertrag. Das ergibt die Auslegung.
84
aa) Tarifvertragsparteien können Tarifverträge schließen, aber auch nichttarifliche Vereinbarungen treffen (vgl. BAG 13. Oktober 2011 – 8 AZR 514/10 – Rn. 17; 26. Januar 2011 – 4 AZR 159/09 – Rn. 18, BAGE 137, 45; 3. Dezember 2002 – 9 AZR 457/01 – zu A II 2 a cc (2) der Gründe, BAGE 104, 55). Welche Art von Vereinbarung geschlossen ist, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, die sich nach den allgemeinen Regeln über das Zustandekommen und über die Auslegung schuldrechtlicher Verträge nach den §§ 133, 157 BGB richtet (BAG 26. Januar 2011 – 4 AZR 159/09 – Rn. 18 mwN, aaO).
85
bb) Danach handelt es sich bei der Erklärung 2000 um einen Tarifvertrag.
86
Gegen diese Annahme könnte zwar der Wortlaut der Überschrift sprechen. Verwenden die Tarifvertragsparteien in ihrer Vereinbarung keine feststehenden Rechtsbegriffe wie „Tarifvertrag“, so deutet dies regelmäßig darauf hin, dass sie keinen solchen abschließen wollten (vgl. BAG 7. Juni 2006 – 4 AZR 272/05 – Rn. 27; zur umgekehrten Situation BAG 13. Oktober 2011 – 8 AZR 514/10 – Rn. 18). Zwingend ist dies allerdings nicht. Die Einordnung einer vertraglichen Einigung von Tarifvertragsparteien als Tarifvertrag ist nicht davon abhängig, dass diese ihre Vereinbarung auch tatsächlich als Tarifvertrag bezeichnen. Auch eine gemeinsame Erklärung kann ein Tarifvertrag sein, wenn dies nicht dem erklärten Willen der tariffähigen Vertragspartner widerspricht, die Einigung der Sache nach als Tarifvertrag anzusehen ist und die Schriftform nach § 1 Abs. 2 TVG – wie hier – gewahrt ist (vgl. BAG 8. Dezember 2011 – 6 AZR 350/10 – Rn. 16 mwN).
87
cc) Der Erklärung 2000 ist ein erklärter Wille der Tarifvertragsparteien, keinen Tarifvertrag abschließen zu wollen, nicht zu entnehmen. Nach Ziff. 1 Satz 1 ist es zwar nicht gelungen, ein neues Tarifwerk für die E AG zu vereinbaren. Ausweislich Ziff. 2 ist jedoch für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung eine Teileinigung erfolgt. Insoweit haben sich die Tarifvertragsparteien darauf verständigt, dass die Altersversorgung für die ehemaligen Ü-Mitarbeiter gemäß den – geschlossenen, aber einmalig zu öffnenden – Ruhegeldordnungen der E AG unter Berücksichtigung der jeweiligen Betriebszugehörigkeit für die Zukunft auf einer einheitlichen Basis erfolgen soll. Außerdem enthält auch Ziff. 1 Bestimmungen und damit eine Teileinigung der Tarifvertragsparteien, nämlich zur Behandlung von Härtefällen bei der Eingruppierung. Diese – wenn auch nur zu bestimmten Punkten getroffenen – Regelungen, sprechen für den Abschluss eines Tarifvertrags. Dass auch lediglich eine Teileinigung erzielt werden könnte, ist bereits bei Abschluss des TV Überleitung bedacht worden. Dies sieht § 3 Ziff. 3 Satz 1 ausdrücklich vor.
88
dd) Für das Vorliegen eines Tarifvertrags spricht weiter, dass Ziff. 2 der Erklärung 2000 einen persönlichen Geltungsbereich bestimmt, nämlich die ehemaligen Ü-Mitarbeiter der E AG.
89
Indem die Tarifvertragsparteien in Ziff. 2 der Erklärung 2000 Vereinbarungen zur betrieblichen Altersversorgung getroffen haben, haben sie zudem Rechte und Pflichten geregelt, die den Inhalt des Arbeitsverhältnisses betreffen (§ 4 Abs. 1 TVG). Hieraus folgt zugleich Sinn und Zweck der Vereinbarung. Die Tarifvertragsparteien wollten die betriebliche Altersversorgung bei der E AG für die Zukunft einheitlich regeln und eine Gleichbehandlung der Arbeitnehmer herbeiführen. Dies war rechtssicher nur über eine normative Wirkung möglich. Beabsichtigt war die Ablösung der BV Ü für die Zukunft durch die Aufnahme der ehemaligen Ü-Mitarbeiter in die RGO I/II. Dies wird durch die Formulierung in Ziff. 2 deutlich, wonach „damit“ „sichergestellt“ wird, „dass für alle Arbeitnehmer der E AG für die Zukunft Versorgungsansprüche auf einheitlicher Basis begründet werden“. Ansprüche begründen können die Tarifvertragsparteien aber nur, indem sie einen Tarifvertrag abschließen. Das lässt den normativen Charakter der Erklärung 2000 erkennen.
90
Dass in Ziff. 2 Satz 1 der Erklärung 2000 der Vorstand der E AG eine Erklärung abgibt, steht nicht entgegen. Darin liegt kein einseitiger Akt, weil diese Erklärung in ein gemeinsam erstelltes Dokument der Tarifvertragsparteien aufgenommen wurde.
91
b) Der weiteren Anwendung der BV Ü steht ab dem 1. Januar 2001 der Tarifvorrang des § 77 Abs. 3 BetrVG – ausgelöst durch die Erklärung 2000 – entgegen, die die BV Ü verdrängt. Materielle Bedenken gegen die ablösende Wirkung des Tarifvertrags bestehen nicht.
92
aa) Die Erklärung 2000 löst gegenüber der BV Ü die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG aus mit der Folge, dass die BV Ü verdrängt wird.
93
(1) Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nach Satz 2 der Norm nur dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Dem Betriebsrat fehlt die Zuständigkeit für Betriebsvereinbarungen, deren Gegenstand tarifüblich oder bereits in Tarifverträgen geregelt ist. Dabei hängt die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht von der Tarifbindung des Arbeitgebers ab (vgl. ausführlich BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 20 mwN).
94
(2) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts greift die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG allerdings nicht ein, soweit es um Angelegenheiten geht, die gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen (vgl. BAG 3. Dezember 1991 – GS 2/90 – zu C I 4 der Gründe, BAGE 69, 134; 17. Mai 2011 – 1 AZR 473/09 – Rn. 30, BAGE 138, 68). Vorliegend kommt § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG – Fragen der betrieblichen Lohngestaltung – in Betracht, wobei allerdings nur eine Teilmitbestimmung besteht, da der Betriebsrat nicht darüber mitzubestimmen hat, ob eine betriebliche Altersversorgung eingeführt wird, welche finanziellen Mittel der Arbeitgeber dafür zur Verfügung stellt, welcher Personenkreis begünstigt und welche Durchführung beschritten werden soll (vgl. BAG 27. Juni 2006 – 3 AZR 255/05 – Rn. 31 ff., BAGE 118, 326). Das Mitbestimmungsrecht setzt nach § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG seinerseits voraus, dass keine zwingende tarifliche Regelung besteht, an die der Arbeitgeber gebunden ist. § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt daher auch im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 BetrVG zur Tarifsperre gegenüber einer Betriebsvereinbarung, soweit dieser eine zwingende tarifliche Regelung entgegensteht. Etwas anderes gilt nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG dann, wenn der Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt (vgl. BAG 13. März 2012 – 1 AZR 659/10 – Rn. 20 mwN).
95
Für das Eingreifen des Tarifvorrangs in § 87 Abs. 1 Eingangshalbs. BetrVG und dem damit verbundenen Ausschluss des Mitbestimmungsrechts ist bereits die alleinige Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ausreichend (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Dies gilt auch, wenn es sich bei der das Mitbestimmungsrecht verdrängenden tariflichen Regelung um Inhaltsnormen handelt. Das entspricht dem Zweck des Eingangshalbsatzes. Dieser geht davon aus, dass eine bestehende tarifliche Regelung dem Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer ausreichend Rechnung trägt und daher Mitbestimmungsrechte entbehrlich macht (ausführlich BAG 18. Oktober 2011 – 1 ABR 25/10 – Rn. 16 ff., BAGE 139, 332).
96
(3) Hiernach verdrängt die Erklärung 2000 aufgrund der Tarifsperre die BV Ü.
97
(a) Die E AG war an die Erklärung 2000 als Partei des Tarifvertrags gebunden (§ 3 Abs. 1 TVG).
98
(b) Nach der tariflichen Regelung wurden im Hinblick auf die Umgestaltung der betrieblichen Altersversorgung der ehemaligen Ü-Mitarbeiter die bereits geschlossenen Ruhegeldordnungen der E AG einmalig geöffnet, um diese Arbeitnehmer entsprechend ihrer Betriebszugehörigkeit für die Zukunft – also im Hinblick auf den TV Überleitung ab dem 1. Januar 2001 – aufzunehmen. Für vorangegangene Zeiträume im Arbeitsverhältnis trifft die Erklärung keine ausdrückliche Regelung. Im Hinblick auf den TV Überleitung, vor dessen Hintergrund die Erklärung auszulegen ist, soll die BV Ü bis zum 31. Dezember 2000 Anwendung finden. Diese zwingende tarifliche Regelung steht der vollständigen Weitergeltung der BV Ü entgegen.
99
(4) Die GBV Überleitung war zudem darauf angelegt iVm. der Erklärung 2000 die BV Ü normativ wirkend – auch im Arbeitsverhältnis des Klägers – abzulösen. Die Betriebsparteien waren aufgrund der in Ziff. 2 Satz 3 der Erklärung 2000 geregelten Tariföffnungsklausel iSv. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG zum Abschluss der GBV Überleitung berechtigt.
100
bb) Materielle Bedenken gegen die Ablösungswirkung der Erklärung 2000 bestehen nicht.
101
(1) Das Drei-Stufen-Modell findet nach der Rechtsprechung des Senats keine Anwendung bei Ablösungen von Versorgungsordnungen durch Tarifvertrag. Insoweit ist für die Prüfung unmittelbar auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zurückzugreifen. Dies beruht auf der Tarifautonomie, die als Teil der Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt ist. Den Tarifvertragsparteien steht daher bei der inhaltlichen Gestaltung ihrer Regelungen ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Tarifverträge unterliegen deshalb keiner Billigkeitskontrolle. Die Gerichte haben sie nur daraufhin zu überprüfen, ob sie gegen das Grundgesetz oder anderes höherrangiges Recht verstoßen. § 19 Abs. 1 BetrAVG räumt den Tarifvertragsparteien sogar die Möglichkeit ein, den Wert erdienter Anwartschaften abweichend von § 2 BetrAVG festzusetzen sowie abweichend von § 5 und § 16 BetrAVG Regelungen über die Auszehrung laufender Betriebsrenten zu treffen. Allerdings sind die Tarifvertragsparteien wie der Gesetzgeber an die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit gebunden. Wird nicht in den erdienten Besitzstand einer Versorgungsanwartschaft eingegriffen und sind die mit der Änderung verbundenen Nachteile für die Arbeitnehmer nicht schwerwiegend, reichen sachliche Gründe aus (ausführlich BAG 18. September 2012 – 3 AZR 382/10 – Rn. 42 ff.). Wie gewichtig diese sein müssen, hängt von den Nachteilen ab, die den Versorgungsberechtigten durch die Änderung der Versorgungsregelungen entstehen (BAG 31. Juli 2018 – 3 AZR 731/16 – Rn. 40 mwN, BAGE 163, 192).
102
Die Anwendung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn Inhalt, Voraussetzungen und Umfang der betrieblichen Altersversorgung tariflich geregelt wurden, also der Tarifvertrag selbst die unmittelbare Grundlage für die Rechte der Arbeitnehmer auf betriebliche Altersversorgung darstellt und es keiner inhaltlichen Ausgestaltung durch eine Betriebsvereinbarung mehr bedarf (vgl. BAG 11. Juli 2017 – 3 AZR 513/16 – Rn. 43 ff.).
103
(2) Danach halten die in der Erklärung 2000 getroffenen Bestimmungen einer Überprüfung am Maßstab der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes stand.
104
(a) Die Tarifvertragsparteien haben eine neue Gesamtregelung für die betriebliche Altersversorgung der ehemaligen Ü-Mitarbeiter – und damit auch für den Kläger – getroffen. Die Erklärung 2000 regelt selbst Inhalt, Voraussetzungen und Umfang der betrieblichen Altersversorgung für diese Mitarbeiter. Für die Zukunft bestimmt die tarifvertragliche Regelung die Anwendung des den Tarifvertragsparteien bekannten – je nach Betriebszugehörigkeit geltenden – Versorgungswerks RGO I/II und für die Vergangenheit die fortdauernde Anwendung der bisherigen BV Ü. Lediglich Einzelheiten, die sich an den Vorgaben der Tarifvertragsparteien zu orientieren haben, können in einer Gesamtbetriebsvereinbarung vereinbart werden.
105
(b) Die Erklärung 2000 greift nicht unzulässig in die erworbenen Anwartschaften des Klägers ein.
106
(aa) Die tarifvertragliche Regelung führt nicht zu Eingriffen in erdiente Besitzstände oder in die erdiente Dynamik. Das Ruhegeld des Klägers bestimmt sich nach der Erklärung 2000 nur für die Zukunft ab dem Überleitungsstichtag 1. Januar 2001 nach den Regelungen der RGO I. Für die Vergangenheit bleibt es bei einer Berechnung nach den Regelungen der BV Ü und zwar anteilig aus dem Verhältnis der vor dem 1. Januar 2001 zurückgelegten zur gesamten bis zum Eintritt des Versorgungsfalls erreichten ruhegeldfähigen Dienstzeit. Damit sind die bisher erdienten Anwartschaften (Besitzstand und Dynamik) gewahrt. Denn zur Berechnung des Anteils der Leistung nach der BV Ü sind deren Regelungen maßgeblich. Nach diesen wird zur Berechnung das Entgelt zugrunde gelegt, das sich aus der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses erreichten Vergütung ergibt (dynamisierter Besitzstand). Hierdurch wird sichergestellt, dass bezüglich des variablen Berechnungsfaktors „Bemessungsentgelt“ Veränderungssperre und Festschreibeeffekt des § 2 Abs. 5 BetrAVG aF, § 2a Abs. 1 BetrAVG nicht eingreifen. Dies gilt auch für die im Rahmen der Gesamtversorgung der BV Ü anzurechnende Sozialversicherungsrente.
107
(bb) Die Erklärung 2000 wirkt sich somit nur für die zukünftigen dienstzeitabhängigen Zuwächse des Klägers verschlechternd aus. Das folgt aus der Absenkung des erreichbaren Versorgungsgrads. Das maximal mögliche Versorgungsniveau ist für den Kläger von 75 vH auf 71 vH reduziert worden.
108
(cc) Dieser Nachteil wiegt nicht besonders schwer. Die zukünftigen Zuwächse des Ruhegeldes des Klägers für die Zeit ab dem 1. Januar 2001 werden lediglich um 4 vH gemindert. Zudem behält der Kläger insgesamt ein Ruhegeld in Form einer Gesamtversorgung auf hohem Niveau, was diese Einschränkung relativiert.
109
(dd) Für diesen Eingriff in die Höhe der Anwartschaft des Klägers liegt auch ein hinreichender sachlicher Grund vor. Die Tarifvertragsparteien haben den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten.
110
Aufgrund der unterschiedlichen Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung infolge der Verschmelzung mit der Ü bestand ein ausreichender Anlass, die Versorgung der Mitarbeiter der E AG neu zu regeln. Die Tarifvertragsparteien hatten insoweit auch zum Ziel, die ehemaligen Mitarbeiter der Ü mit den Mitarbeitern der E AG im Hinblick auf die betriebliche Altersversorgung für die Zukunft gleichzustellen und Versorgungsansprüche auf einheitlicher Basis zu begründen. Hierfür haben sie die bereits geschlossenen Versorgungswerke RGO I und II geöffnet, um die ehemaligen Ü-Mitarbeiter aufzunehmen. Dies diente einem berechtigten Vereinheitlichungsinteresse. Die Versorgung wurde auch nicht auf das niedrigste Niveau im Unternehmen abgesenkt.
111
5. Dem Kläger steht damit eine betriebliche Altersversorgung lediglich nach den Bestimmungen der GBV Überleitung zu. Die GBV Überleitung ist wegen eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG in Ziff. 2.3.1 teilunwirksam mit der Folge, dass § 8 Ziff. 4 RGO I Anwendung findet.
112
a) Der Gesamtbetriebsrat war – entgegen der Ansicht des Klägers – für den Abschluss der GBV Überleitung zuständig.
113
Der Gesamtbetriebsrat war für den Abschluss der GBV Überleitung zuständig, weil es um die Änderung unternehmenseinheitlicher Versorgungsordnungen für Mitarbeiter des gesamten Unternehmens ging (vgl. dazu BAG 21. Januar 2003 – 3 ABR 26/02 – zu B I 1 und 2 der Gründe mwN; zur vergleichbaren Problematik auf Konzernebene BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 39, BAGE 164, 261). Zudem handelte es sich bei den – einmalig – geöffneten Versorgungssystemen der RGO I und II um Gesamtbetriebsvereinbarungen, die (ab dem 1. Januar 2001) im gesamten Unternehmen der E AG Anwendung finden sollten. Auf Betriebsratsebene hätte eine Änderung bzw. Ergänzung der RGO I und II daher nicht geregelt werden können (vgl. dazu BAG 1. August 2001 – 4 AZR 82/00 – zu I 5 c der Gründe, BAGE 98, 314).
114
b) § 77 Abs. 3 BetrVG steht der GBV Überleitung lediglich hinsichtlich Ziff. 2.3.1 entgegen.
115
aa) Die Betriebsparteien waren nach dem Vorgesagten aufgrund der Tariföffnungsklausel iSv. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG in Ziff. 2 Satz 3 der Erklärung 2000 im Rahmen der Vorgabe, nähere Einzelheiten zu regeln, zum Abschluss der GBV Überleitung berechtigt.
116
bb) Sie haben jedoch den ihnen von den Tarifvertragsparteien überlassenen Gestaltungsspielraum in Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung durch die Regelungen zur Anrechnung der gesetzlichen Rente überschritten mit der Folge, dass diese unwirksam ist. Diese Teilunwirksamkeit von Ziff. 2.3.1 lässt die Wirksamkeit der übrigen Regelungen der GBV Überleitung unberührt.
117
(1) Haben die Tarifvertragsparteien abschließende und zwingende Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung und deren Verteilung getroffen und den Betriebsparteien Maßgaben für die Gestaltung vorgegeben, sind die Betriebsparteien hieran gebunden. Denn § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG führt – wie dargelegt – auch im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 BetrVG zur Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung, soweit dieser eine zwingende tarifliche Regelung entgegensteht. Verstoßen die Betriebsparteien gegen bestehende tarifliche Regelungen, indem sie hiervon abweichende Bestimmungen vereinbaren, sind diese unwirksam (vgl. zur Situation eines Einigungsstellenspruchs BAG 9. November 2010 – 1 ABR 75/09 – Rn. 18).
118
(2) Die Tarifvertragsparteien haben in der Erklärung 2000 verbindliche Vorgaben für die betriebliche Altersversorgung der ehemaligen Ü-Mitarbeiter getroffen. Für die Zukunft sollte sich diese nach den einmalig geöffneten Versorgungsordnungen RGO I/II richten und für die Vergangenheit nach der BV Ü.
119
Die Tarifvertragsparteien haben in Ziff. 2 Satz 3 der Erklärung 2000 die Betriebsparteien jedoch nicht ermächtigt, von ihrer Vereinbarung abweichende Regelungen zu treffen. Diese waren lediglich befugt, im Einklang mit der Erklärung 2000 „Einzelheiten“ zu regeln, dh. die Umsetzung der Integration der ehemaligen Ü-Mitarbeiter in die geschlossenen E-Ruhegeldordnungen vorzunehmen. Hätten die Tarifvertragsparteien eine weiter gehende Regelungsbefugnis einräumen wollen, hätte sich aus der Erklärung 2000 hinreichend klar ergeben müssen, dass die Betriebsparteien die in dem Tarifvertrag für die Zukunft geregelte Vereinheitlichung der betrieblichen Altersversorgung abändern durften (vgl. BAG 12. März 2019 – 1 AZR 307/17 – Rn. 38). Hieran fehlt es vorliegend.
120
(3) Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung verstößt gegen die Vorgabe der Erklärung 2000, eine betriebliche Altersversorgung auf einer einheitlichen Basis zu schaffen und insoweit eine Gleichbehandlung für die Zukunft, dh. ab dem Überleitungsstichtag 1. Januar 2001, herbeizuführen. Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung beinhaltet eine nur modifizierte Übernahme der E-Ruhegeldregelungen, indem eine andere Anrechnungsregelung für die gesetzliche Rente geschaffen wurde, die von der Bestimmung in der für den Kläger geltenden RGO I (§ 8 Ziff. 4 RGO I) abweicht. Dabei bewirkt Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung gegenüber der Regelung in § 8 Ziff. 4 RGO I eine Verschlechterung, weil eine höhere gesetzliche Rente angerechnet wird, nämlich eine fiktive Rente nach dem Recht vor dem Rentenreformgesetz 1992 und nicht die tatsächlich gezahlte. Dies führt zu einer strukturellen Verschlechterung für alle von der Überleitung betroffenen Arbeitnehmer – somit auch für den Kläger – und stellt damit keine „Einzelheit“ iSd. Ziff. 2 Satz 3 der Erklärung 2000 dar.
121
c) Dieser Verstoß hat zur Folge, dass Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung unwirksam ist. Das führt zur Teilunwirksamkeit der GBV Überleitung, nicht jedoch zu ihrer Gesamtnichtigkeit.
122
aa) Die Teilunwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung hat die Unwirksamkeit auch ihrer übrigen Bestimmungen nur dann zur Folge, wenn diese ohne die unwirksamen Teile keine sinnvolle, in sich geschlossene Regelung mehr darstellen (vgl. BAG 5. Mai 2015 – 1 AZR 435/13 – Rn. 20 mwN).
123
bb) Danach ist die GBV Überleitung nicht insgesamt unwirksam. Sie bildet auch ohne die Anrechnungsregelung in Ziff. 2.3.1 eine in sich geschlossene und praktikable Regelung zur betrieblichen Altersversorgung der übernommenen Ü-Mitarbeiter. Nach Ziff. 2.2 GBV Überleitung werden bei Eintritt des Versorgungsfalls zunächst unter Berücksichtigung sämtlicher vor und ab dem Überleitungsstichtag zusammenhängend verbrachten ruhegeldfähigen Dienstzeiten die Versorgungsleistungen jeweils auf Grundlage des Ü- und des E-Versorgungsrechts ermittelt. Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung enthält lediglich die Modifizierung gegenüber der eigentlichen Anrechnungsregelung der RGO I. Ist Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung unwirksam, führt die allgemeine Regelung in Ziff. 2.2 GBV Überleitung zur Anwendung der maßgeblichen Bestimmung in § 8 Ziff. 4 RGO I.
124
d) Weitere rechtliche Bedenken gegen einzelne Vorschriften der GBV Überleitung bestehen nicht. Die Anrechnungsregelung in Ziff. 2.4.1 GBV Überleitung, die für die Vergangenheit die Anrechnungsbestimmung in § 8 Ziff. 7 BV Ü modifiziert, beinhaltet keine Verschlechterung gegenüber dieser Regelung. Vielmehr sind beide Anrechnungsregelungen qualitativ gleichwertig.
125
Nach § 8 Ziff. 7 BV Ü erfolgt die Ermittlung der anzurechnenden fiktiven Rente entsprechend dem Rentenrecht bis zum 31. Dezember 1990 auf der Grundlage der tatsächlich nach dem alten Recht zu ermittelnden Rente. Die Ermittlung der Veränderung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgt nach Ziff. 2.4.1 iVm. Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung dagegen auf Basis der nach dem jeweiligen steuerlichen Näherungsverfahren ermittelten Renten. Allerdings wird mit Hilfe der Näherungsverfahren nicht die individuelle Rente berechnet, sondern nur die Veränderung des Leistungsniveaus. Anhand des sich ergebenden Verhältniswerts wird zwar die jeweilige Rente auf das Niveau zum 31. Dezember 1990 hochgerechnet. Basis hierfür ist aber der tatsächliche Zahlbetrag gemäß dem Rentenbescheid des Arbeitnehmers im Versorgungsfall. Damit wird das Verfahren vereinfacht, ohne dass qualitativ eine Veränderung stattfindet. Sollten Ungenauigkeiten zulasten der Betriebsrentner gehen, wäre dies noch von der tariflichen Öffnungsklausel gedeckt und stellte auch keinen gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit verstoßenden Eingriff in bestehende Besitzstände und Erwartungen dar. Davon gehen auch die Parteien des Verfahrens übereinstimmend aus.
126
III. Weiter gehende Ansprüche des Klägers nach § 242 BGB auf Zahlung des Ruhegeldes in der bis zum Juni 2014 gezahlten Höhe bestehen nicht. Die Zurückverweisung ist daher nicht entbehrlich (§ 563 Abs. 3 ZPO).
127
Soweit sich der Kläger auf einen Verstoß gegen Treu und Glauben beruft und insoweit auf Umstände vor Abschluss des Altersteilzeit-Vertrags abstellt, die das Landesarbeitsgericht nicht gewürdigt hätte, führt das nicht zum Erfolg seiner Revision. Denn auch unter Berücksichtigung solcher Umstände, namentlich die Berechnung eines Ruhegeldes vor Abschluss des Altersteilzeit-Vertrags, hat die Beklagte keinen Vertrauenstatbestand gegenüber dem Kläger geschaffen, das Ruhegeld unter allen Umständen tatsächlich in der berechneten Höhe zahlen zu wollen. Anhaltspunkte, dass die Beklagte eine Überprüfung ihrer Berechnung – insbesondere unabhängig von den zugrunde liegenden Rechtsvorschriften – bei Eintritt des Versorgungsfalls oder auch später nicht vornehmen würde, hat der Kläger nicht vorgetragen. Bei ihm konnte daher kein schützenswertes Vertrauen entstehen, dass die Berechnung eines Ruhegeldes vor Abschluss eines Altersteilzeit-Vertrags richtig und verbindlich ist.
128
Soweit der Kläger im Rahmen der Revision vorträgt, für ihn sei die Fehlerhaftigkeit der Berechnung des Ruhegeldes nicht erkennbar gewesen, folgt daraus noch kein widersprüchliches Verhalten der Beklagten.
129
IV. Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif. Das Landesarbeitsgericht wird aufzuklären haben, welche Anrechnungsbeträge sich im Hinblick auf die gesetzliche Sozialversicherungsrente ergeben, wenn § 8 Ziff. 4 RGO I anstelle von Ziff. 2.3.1 GBV Überleitung anzuwenden ist, und in welcher Höhe dem Kläger hiernach ein Ruhegeld zusteht. Zu berücksichtigen sind dabei die bereits erfolgten Rentensteigerungen seit Beginn des Bezugs des Ruhegeldes.
130
V. Das Landesarbeitsgericht wird auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben.
Zwanziger
Wemheuer
Günther-Gräff
Schmalz
S. Hopfner |
bag_34-20 | 29.09.2020 | 29.09.2020
34/20 - Verjährung von Urlaubsansprüchen
Zur Klärung der Frage, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach §§ 194 ff. BGB der Verjährung unterliegt, hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.*
Die Klägerin war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei dem Beklagten als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin beschäftigt. Sie hatte im Kalenderjahr Anspruch auf 24 Arbeitstage Erholungsurlaub. Mit Schreiben vom 1. März 2012 bescheinigte der Beklagte der Klägerin, dass der „Resturlaubsanspruch von 76 Tagen aus dem Kalenderjahr 2011 sowie den Vorjahren“ am 31. März 2012 nicht verfalle, weil sie ihren Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwandes in seiner Kanzlei nicht habe antreten können. In den Jahren 2012 bis 2017 gewährte der Beklagte der Klägerin an insgesamt 95 Arbeitstagen Urlaub. Mit der am 6. Februar 2018 erhobenen Klage hat die Klägerin die Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren verlangt. Im Verlauf des Prozesses hat der Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben. Er hat geltend gemacht, für die Urlaubsansprüche, deren Abgeltung die Klägerin verlange, sei die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgelaufen.
Das Landesarbeitsgericht ist dieser Auffassung nicht gefolgt und hat der Klage – soweit diese Gegenstand der Revison des Beklagten ist – stattgegeben. Es hat den Beklagten zur Abgeltung von 76 Urlaubstagen aus den Jahren 2013 bis 2016 verurteilt. Für den Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts ist es entscheidungserheblich, ob die nicht erfüllten Urlaubsansprüche der Klägerin aus dem Jahr 2014 und den Vorjahren bei Klageerhebung bereits verjährt waren. Die Urlaubsansprüche konnten nicht gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen. Bei unionsrechtskonformer Auslegung dieser Vorschrift erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, und ihn darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 9 vom 19. Februar 2019). Diese Obliegenheiten hat der Beklagte nicht erfüllt.
Vor diesem Hintergrund hat der Senat den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung über die Frage ersucht, ob es mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Einklang steht, wenn der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der aufgrund unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers nicht bereits nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen konnte, gemäß § 194 Abs. 1, § 195 BGB der Verjährung unterliegt.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 29. September 2020 – 9 AZR 266/20 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 21. Februar 2020 – 10 Sa 180/19 –
*Der genaue Wortlaut der Frage kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht:
Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 Abs. 1 iVm. § 195 BGB entgegen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren unterliegt, deren Lauf unter den in § 199 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des Urlaubsjahres beginnt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV über die Frage, ob das Unionsrecht die Verjährung des Urlaubsanspruchs nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist gemäß § 194 Abs. 1, § 195 BGB gestattet, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta).
2
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten über die Abgeltung von Urlaub.
4
Die Klägerin war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei dem Beklagten als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin beschäftigt. Sie hatte im Kalenderjahr Anspruch auf 24 Arbeitstage Erholungsurlaub. Mit Schreiben vom 1. März 2012 bescheinigte der Beklagte der Klägerin, ihr „Resturlaubsanspruch von 76 Tagen aus dem Kalenderjahr 2011 sowie den Vorjahren“ verfalle am 31. März 2012 nicht, weil sie den Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwands in seiner Kanzlei nicht habe antreten können. In den Jahren 2012 bis 2017 gewährte der Beklagte der Klägerin an insgesamt 95 Arbeitstagen Urlaub. Ihren gesetzlichen Mindesturlaub nahm die Klägerin nicht vollständig in Anspruch. Der Beklagte hat die Klägerin weder aufgefordert, weiteren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne. Mit der am 6. Februar 2018 erhobenen Klage hat sie die Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren verlangt. Der Beklagte hat die Ansicht vertreten, der Urlaub der Klägerin sei verfallen. Er habe seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht kennen und befolgen können, weil sich die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit den Entscheidungen vom 19. Februar 2019 (- 9 AZR 423/16 – BAGE 165, 376 und – 9 AZR 541/15 -) geändert habe. Zudem sei er nicht zur Urlaubsabgeltung verpflichtet, weil die Urlaubsansprüche, deren Abgeltung die Klägerin verlangen könne, verjährt seien.
5
Das Arbeitsgericht hat den Beklagten (rechtskräftig) zur Abgeltung restlichen Urlaubs aus dem Jahr 2017 verurteilt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat den Beklagten auf die Berufung der Klägerin verurteilt, ihr 76 Urlaubstage aus den Jahren 2013 bis 2016 mit 17.376,64 Euro brutto abzugelten. Es hat angenommen, der Urlaub der Klägerin habe unter Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben weder nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen noch nach den allgemeinen zivilrechtlichen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB verjähren können, weil der Beklagte die Klägerin nicht durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt habe, den Urlaub zu nehmen. Mit der Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung, soweit das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen hat.
6
B. Das einschlägige nationale Recht
7
Im Bundesurlaubsgesetz, das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet, heißt es ua.:
„§ 1 Urlaubsanspruch
Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.
…
§ 3 Dauer des Urlaubs
(1) Der Urlaub beträgt jährlich mindestens 24 Werktage.
…
§ 7 Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs
…
(3)
Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.
(4)
Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“
8
Das Bürgerliche Gesetzbuch, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet, lautet auszugsweise:
„§ 194 Gegenstand der Verjährung
(1) Das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt der Verjährung.
…
§ 195 Regelmäßige Verjährungsfrist
Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.
…
§ 199 Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist und Verjährungshöchstfristen
(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem
1.
der Anspruch entstanden ist und
2.
der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.
…
(4) Andere Ansprüche als die nach den Absätzen 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an.
…
§ 204 Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung
(1) Die Verjährung wird gehemmt durch
1.
die Erhebung der Klage auf Leistung oder auf Feststellung des Anspruchs, …
§ 212 Neubeginn der Verjährung
(1) Die Verjährung beginnt erneut, wenn
1.
der Schuldner dem Gläubiger gegenüber den Anspruch durch Abschlagszahlung, Zinszahlung, Sicherheitsleistung oder in anderer Weise anerkennt oder
…
§ 214 Wirkung der Verjährung
(1) Nach Eintritt der Verjährung ist der Schuldner berechtigt, die Leistung zu verweigern.
…“
9
C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
10
Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:
„Artikel 7
Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
11
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:
„Artikel 31
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
…
(2)
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“
12
D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union
13
Der Erfolg der Revision des Beklagten hängt – soweit sich diese gegen die Verurteilung zur Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2013 und 2014 richtet – davon ab, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta die Verjährung des Anspruchs auf gesetzlichen Mindesturlaub nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist (§ 195 BGB) von drei Jahren gestatten, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist.
14
I. Das Rechtsmittel des Beklagten ist nicht aus anderen, vorrangig zu beachtenden Gründen erfolgreich. Unterlägen Urlaubsansprüche nicht der Verjährung, bliebe die Revision erfolglos. Die Klage wäre, soweit über sie in der Revisionsinstanz noch zu entscheiden ist, begründet, weil die Voraussetzungen des von der Klägerin gem. § 7 Abs. 4 BUrlG geltend gemachten Anspruchs auf Abgeltung gesetzlichen Mindesturlaubs und vertraglichen Mehrurlaubs aus den Jahren 2013 bis 2016 erfüllt sind.
15
1. Die Klägerin erwarb für die Kalenderjahre 2013 bis 2016 jeweils einen vertraglichen Urlaubsanspruch von 24 Arbeitstagen, der den gesetzlichen Urlaubsanspruch (§§ 1, 3 BUrlG) einschloss. Die Urlaubsansprüche sind nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Umfang von insgesamt 76 Urlaubstagen nicht durch Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB erloschen.
16
2. Die nicht erfüllten Urlaubsansprüche aus den Jahren 2013 bis 2016 sind auch nicht mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres bzw. Übertragungszeitraums erloschen, weil bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien die Voraussetzungen ihrer Befristung nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG bzw. gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nicht erfüllt waren. Dies folgt für den gesetzlichen Mindesturlaub aus einer richtlinienkonformen Auslegung von § 7 BUrlG und gilt entsprechend für den vertraglichen Mehrurlaub.
17
a) Der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub, der nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses gemäß §§ 1, 3 Abs. 1, 4 BUrlG jeweils am 1. Januar eines Kalenderjahres für das Kalenderjahr als Urlaubsjahr entsteht, muss nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden, andernfalls erlischt er nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG.
18
aa) Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta hat das Bundesarbeitsgericht seine bisherige Rechtsprechung weiterentwickelt und erkannt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG) erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (vgl. grdl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 21 ff., BAGE 165, 376).
19
(1) In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er muss den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376). Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums (grundl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, aaO).
20
(2) Beruft sich der Arbeitgeber auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs, hat er die Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, weil er hieraus eine für sich günstige Rechtsfolge ableitet (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376). Gelingt dem Arbeitgeber dieser Nachweis nicht, ist ihm regelmäßig die Berufung auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs versagt, denn ein verständiger Arbeitnehmer hätte bei gebotener Aufforderung und Unterrichtung seinen Urlaub typischerweise rechtzeitig vor dem Verfall beantragt (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 16, 25, aaO).
21
bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die streitigen Mindesturlaubsansprüche der Klägerin für die Jahre 2013 bis 2016 nicht gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG erloschen, weil der Beklagte es unterlassen hat, die Klägerin aufzufordern, den Urlaub zu nehmen, und ihr klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen werde, wenn sie ihn nicht in Anspruch nehmen würde.
22
(1) Besondere Umstände, aufgrund deren das Erlöschen der Urlaubsansprüche nach § 7 Abs. 3 Satz 1 oder 3 BUrlG trotz unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers in Erwägung zu ziehen wäre (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 73 ff.; vgl. hierzu im Einzelnen BAG 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 20 ff. mwN), sind im Ausgangsverfahren nicht gegeben. Mit dem Gerichtshof geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass ein Erlöschen von Urlaubsansprüchen in Fällen, in denen es dem Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen, nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 73 ff.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50 f.; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Solche besonderen Umstände bestehen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich nicht, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, weil der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376), oder weil er den Arbeitnehmer in sonstiger Weise daran gehindert hat, seinen Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. im Einzelnen BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Der Beklagte hätte die Klägerin durch Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzen können, den Urlaub aus den Jahren 2013 bis 2016 zu nehmen. Die Klägerin war im Streitzeitraum nicht langzeiterkrankt, so dass die Entscheidung über die Revision des Beklagten, nicht von der Beantwortung der mit Vorlagebeschluss des Senats vom 7. Juli 2020 (- 9 AZR 401/19 (A) -) an den Gerichtshof gerichteten Fragen (vgl. hierzu BAG 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 29 ff., Rn. 44 ff.) abhängig ist. Sonstige Umstände, aufgrund deren zu prüfen wäre, ob das Erlöschen der Urlaubsansprüche nach § 7 Abs. 3 BUrlG ausnahmsweise in Betracht kommt, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt.
23
(2) Der Beklagte kann sich im Hinblick auf seine Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs nicht mit Erfolg auf einen durch Rechtsprechung begründeten Vertrauensschutz berufen. Eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es insoweit nicht. Die Frage der Gewährung unionsrechtlichen Vertrauensschutzes ist durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend geklärt, so dass vernünftige Zweifel nicht bestehen.
24
(a) Die Möglichkeiten der nationalen Gerichte zur Gewährung von Vertrauensschutz sind – im Anwendungsbereich des Unionsrechts – unionsrechtlich vorgeprägt und begrenzt (vgl. BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 28; st. Rspr. des BAG, vgl. 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 30, BAGE 165, 376; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 116, BAGE 164, 117; 17. November 2015 – 1 AZR 938/13 – Rn. 33, BAGE 153, 234). Aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts folgt, dass es allein Sache des Gerichtshofs ist, darüber zu entscheiden, ob – entgegen der grundsätzlichen Ex-tunc-Wirkung von Entscheidungen gemäß Art. 267 AEUV – aufgrund der unionsrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung einer Norm in zeitlicher Hinsicht ausnahmsweise eingeschränkt werden soll (vgl. EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17 – [Hein] Rn. 57; 22. September 2016 – C-110/15 – [Microsoft Mobile Sales International ua.] Rn. 60 mwN; BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 27 f.; BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – Rn. 113).
25
(b) Der Gerichtshof hat über die den gesetzlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen betreffenden, mit Beschluss vom 13. Dezember 2016 (- 9 AZR 541/15 (A) -) gestellten Vorlagefragen des Senats mit Urteil vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) entschieden. Er hat die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG – wie von Art. 31 Abs. 2 der Charta – nicht in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt und damit nach dem Verständnis des Senats implizit eine zeitliche Geltungsbeschränkung aus Gründen eines unionsrechtlichen Vertrauensschutzes abgelehnt. Eine richtlinienkonforme Auslegung von § 7 BUrlG kann das Bundesarbeitsgericht nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes nach nationalem Recht auf einen Zeitpunkt nach Inkrafttreten von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verschieben (vgl. BVerfG 10. Dezember 2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 40; st. Rspr. des Bundesarbeitsgerichts vgl. BAG 26. Mai 2020 – 9 AZR 259/19 – Rn. 22; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 34, BAGE 165, 376).
26
b) Der nicht erfüllte vertragliche Mehrurlaub der Klägerin ist ebenfalls nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen. Die unionsrechtlichen Vorgaben betreffen zwar ausschließlich den gesetzlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen (vgl. EuGH 19. November 2019 – C-609/17 ua. – [TSN] Rn. 33 ff.; vgl. BAG 26. Mai 2020 – 9 AZR 259/19 – Rn. 22; 19. Februar 2019 – 9 AZR 541/15 – Rn. 35 mwN). Die Parteien des Ausgangsverfahrens haben jedoch im mündlichen Arbeitsvertrag allein einen über den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) hinausgehenden Umfang des Urlaubsanspruchs der Klägerin vereinbart und keine Abreden hinsichtlich der Modalitäten des Mehrurlaubsanspruchs getroffen. Der Anspruch unterliegt deshalb nicht nur im Hinblick auf seine Befristung und deren Voraussetzungen den für den Mindesturlaub geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Es ist auch im Übrigen von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf vertraglichen Mehrurlaub auszugehen (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 51 f. mwN). Dies gilt auch für die unionsrechtlichen Begrenzungen der Gewährung von Vertrauensschutz (vgl. zum Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub BAG 26. Mai 2020 – 9 AZR 259/19 – Rn. 30).
27
II. Im Ausgangsverfahren ist aufgrund der vom Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung zu prüfen, ob die gesetzlichen Urlaubsansprüche und die mit ihnen gleichlaufenden vertraglichen Mehrurlaubsansprüche der Klägerin, die wegen unterlassener Mitwirkung des Beklagten nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG erlöschen konnten, verjährt sind.
28
1. Das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt nach § 194 BGB der Verjährung.
29
a) Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) beginnt mit dem Schluss des Jahres zu laufen, in dem der Anspruch entstanden ist (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangt haben müsste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB).
30
aa) Entstanden ist ein Anspruch iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wenn er erstmals geltend gemacht und notfalls klageweise durchgesetzt werden kann (zur Gutschrift von Zeiten im Arbeitszeitkonto BAG 18. März 2020 – 5 AZR 25/19 – Rn. 57; BGH 17. Juli 2019 – VIII ZR 224/18 – Rn. 16 mwN). Regelmäßig entsteht ein Anspruch iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wenn er nach § 271 BGB fällig ist (BAG 17. Juni 2020 – 10 AZR 322/18 – Rn. 45; BGH 21. Juni 2018 – IX ZR 129/17 – Rn. 6), weil der Gläubiger von diesem Zeitpunkt an nach § 271 Abs. 2 BGB mit Erfolg die Leistung fordern und den Ablauf der Verjährungsfrist durch Klageerhebung verhindern kann (vgl. BAG 24. Juni 2015 – 5 AZR 509/13 – Rn. 11, BAGE 152, 75; 23. Oktober 2013 – 5 AZR 135/12 – Rn. 24, BAGE 146, 217).
31
bb) Die von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB geforderte Kenntnis des Gläubigers ist vorhanden, wenn er aufgrund der ihm bekannten Tatsachen gegen eine bestimmte Person eine Klage, sei es auch nur eine Feststellungsklage, erheben kann, die bei verständiger Würdigung so viel Erfolgsaussicht hat, dass sie dem Gläubiger zumutbar ist. Der Verjährungsbeginn setzt aus Gründen der Rechtssicherheit und Billigkeit grundsätzlich nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden Umstände voraus. Nicht erforderlich ist es in der Regel, dass der Gläubiger aus den ihm bekannten Tatsachen die zutreffenden rechtlichen Schlüsse zieht (vgl. BAG 24. September 2014 – 5 AZR 593/12 – Rn. 35, BAGE 149, 169; 13. März 2013 – 5 AZR 424/12 – Rn. 24 mwN, BAGE 144, 322; BGH 28. Oktober 2014 – XI ZR 17/14 – Rn. 33; 26. September 2012 – VIII ZR 240/11 – zu B II 3 b bb (2) (b) der Gründe). Da Verjährungsregeln mit Rücksicht auf das verfassungsrechtlich geschützte Forderungsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) stets einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Schuldners und des Gläubigers darstellen müssen, kann ausnahmsweise die Rechtsunkenntnis den Verjährungsbeginn hinausschieben, wenn eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage besteht, die selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig einzuschätzen vermag. In diesen Fällen fehlt es an der Zumutbarkeit der Klageerhebung als übergreifender Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (st. Rspr. BAG 24. September 2014 – 5 AZR 593/12 – Rn. 37, BAGE 149, 169; vgl. BGH 17. Januar 2019 – III ZR 209/17 – Rn. 82 mwN). Das gilt erst recht, wenn der Durchsetzung des Anspruchs eine gegenteilige höchstrichterliche Rechtsprechung entgegensteht (BGH 28. Oktober 2014 – XI ZR 17/14 – Rn. 33; 16. September 2004 – III ZR 346/03 – BGHZ 160, 216). Ansprüche unterliegen jedoch auch bei unsicherer und zweifelhafter Rechtslage der Verjährung, wenn – gerechnet vom Zeitpunkt ihrer Entstehung – innerhalb der absoluten kenntnisunabhängigen 10jährigen Verjährungsfrist des § 199 Abs. 4 BGB keine verjährungshemmenden Maßnahmen ergriffen worden sind (BGH 28. Oktober 2014 – XI ZR 17/14 – Rn. 42), sofern zugunsten des Gläubigers keine längeren Verjährungsfristen eingreifen. Solche kommen im Ausgangsverfahren nicht in Betracht.
32
b) Die Verjährung berührt nach der Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchs weder den anspruchsbegründenden Tatbestand noch das Bestehen des Rechts des Gläubigers. Sie führt nicht zum Erlöschen des Anspruchs und ist nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, sondern gibt dem Schuldner eine Einrede, die er geltend machen muss. Erhebt er die Einrede der Verjährung, wird für den Gläubiger nach Ablauf der Verjährungsfrist ein Hindernis geschaffen, den bestehenden Anspruch erfolgreich durchzusetzen, denn nach Eintritt der Verjährung ist der Schuldner berechtigt, die Leistung zu verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB). Wird die Einrede der Verjährung erstmals während des Prozesses erhoben, wird eine ursprünglich zulässige und begründete Klage unbegründet (vgl. BGH 27. Januar 2010 – VIII ZR 58/09 – Rn. 27 ff., BGHZ 184, 128).
33
2. Die Klage wäre, soweit die Klägerin die Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2013 und 2014 verlangt, unbegründet, wenn – unter Beachtung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta – § 7 BUrlG der Verjährung von Urlaubsansprüchen nicht entgegenstände, und es zuließe, auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers für den Beginn der Verjährungsfrist auf das Urlaubsjahr abzustellen, in dem der Anspruch entstanden ist. Die Urlaubsabgeltungsansprüche wären wegen Verjährung der Ansprüche der Klägerin auf bezahlten Jahresurlaub nicht durchsetzbar, denn der Beklagte wäre im fortbestehenden Arbeitsverhältnis nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB iVm. § 199 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BGB) dauerhaft berechtigt gewesen, die Erfüllung der Urlaubsansprüche der Klägerin zu verweigern (§ 214 Abs. 1 BGB).
34
a) Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) hätte unter den genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des jeweiligen Urlaubsjahres zu laufen begonnen, in dem der Anspruch entstanden ist und nach Ablauf der Wartezeit klageweise durchgesetzt werden konnte (§§ 1, 3, 4 BUrlG), dh. für Urlaubsansprüche aus dem Jahr 2013 am 31. Dezember 2013, für diejenigen aus dem Jahr 2014 am 31. Dezember 2014. Der Klägerin war der Anspruchsgegner bekannt. Der Umfang des Urlaubsanspruchs ergab sich aus der vertraglichen Abrede der Parteien. Die Verjährungsfrist hätte, wenn diese Kenntnisse unter Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben für die Zumutbarkeit der Klageerhebung genügten, für die Ansprüche aus dem Jahr 2013 mit Ablauf des Jahres 2016, für diejenigen aus dem Jahr 2014 mit Ablauf des Jahres 2017 geendet. Bei Erhebung der Klage am 6. Februar 2018 wären die Verjährungsfristen bereits abgelaufen gewesen.
35
b) Der Beklagte hätte bei Anwendbarkeit der Verjährungsvorschriften dem Abgeltungsbegehren der Klägerin auch noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgreich mit Erhebung der Einrede der Verjährung der Urlaubsansprüche begegnen können. Der durch § 1 BUrlG begründete, im bestehenden Arbeitsverhältnis aus Freistellung von der Arbeitspflicht und Bezahlung zusammengesetzte Urlaubsanspruch der Klägerin aus den Jahren 2013 und 2014, der sich mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG in einen Anspruch auf Abgeltung des noch nicht erfüllten Urlaubs wandelte (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 83; st. Rspr. des BAG seit BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 45/16 – Rn. 23, BAGE 165, 90), wäre als finanzieller Aspekt des originären Urlaubsanspruchs nur mit der Möglichkeit der Verjährung behaftet bestehen geblieben. Die Durchsetzbarkeit des Urlaubsanspruchs wäre durch das gesetzliche Verjährungsrecht bestimmt worden, mit der Folge, dass die Klägerin bei Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses zur Meidung seiner Verjährung innerhalb der gesetzlichen Fristen verjährungshemmende Maßnahmen hätte ergreifen müssen (vgl. zu tariflichen Ausschlussfristen BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 149/17 – Rn. 33 ff.). Die Durchsetzbarkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs nach § 7 Abs. 4 BUrlG, mit dem die Vergütungskomponente des Urlaubsanspruchs selbständig aufrechterhalten wird, unterläge denselben Begrenzungen durch das allgemeine Verjährungsrecht, wie der Urlaubsanspruch.
36
3. Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) bedurfte es bisher keiner Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Urlaubsansprüche von Arbeitnehmern nach Maßgabe von §§ 194 ff. BGB der Verjährung unterliegen (vgl. BAG 19. März 2019 – 9 AZR 881/16 – Rn. 28). Die Frage der Verjährung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und eines gleichlaufenden vertraglichen Mehrurlaubsanspruchs ist nach der Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entscheidungserheblich, wenn der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers nicht verfallen ist, weil er wegen unterlassener Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG befristet ist bzw. – wie im Ausgangsverfahren – war, und der Arbeitgeber unter Berufung darauf, die gesetzliche Verjährungsfrist für den Urlaubsanspruch sei abgelaufen, die Gewährung (§ 7 Abs. 1 BUrlG) oder – wie im Ausgangsverfahren – die Abgeltung des Urlaubs (§ 7 Abs. 4 BUrlG) verweigert (§ 214 Abs. 1 BGB). Denn im Fall der unterlassenen Mitwirkung des Arbeitgebers wäre die Durchsetzbarkeit der kumulierten Urlaubsansprüche aus mehreren Jahren gegen den Willen des Arbeitgebers nach nationalem Recht regelmäßig nur dann zeitlich begrenzt, wenn die allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB neben den Regelungen in § 7 BUrlG Geltung beanspruchen könnten. Andernfalls würde der fortlaufend auf die folgenden Urlaubsjahre übertragene Urlaub, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht im aktuellen Urlaubsjahr oder zu einem späteren Zeitpunkt vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nachholt (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376; 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 54 ff.), fortbestehen, ohne dass der Arbeitnehmer gehalten wäre, ihn innerhalb zeitlicher Grenzen geltend zu machen, um seine Durchsetzbarkeit zu erhalten. Gleiches würde für den mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Maßgabe von § 7 Abs. 4 BUrlG an seine Stelle tretenden Abgeltungsanspruch gelten.
37
III. Es ist deshalb zu klären, in welchem Verhältnis die allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches zu den Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes stehen.
38
1. Grundsätzlich beanspruchen Rechtsnormen, die als einfachgesetzliche Regelungen im gleichen Rangverhältnis zueinander stehen, gleichermaßen Geltung und können nebeneinander anwendbar sein. Das Zurücktreten einer Norm kann jedoch aus einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Gesetzesbefehl folgen (st. Rspr., vgl BAG 25. September 2018 – 8 AZR 26/18 – Rn. 37, BAGE 163, 309; 18. September 2018 – 9 AZR 162/18 – Rn. 66 mwN; BAGE 163, 282; BVerwG 25. Juni 2015 – 5 C 15.14 – Rn. 14, BVerwGE 152, 264), dessen Vorliegen durch Auslegung der an sich gleichrangigen Normen zu ermitteln ist (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 74, BVerfGE 149, 126; BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 20, BAGE 157, 356). Er kann sich ua. aus Inhalt und/oder Zweck der Normen ergeben.
39
2. Die Beantwortung der Frage, ob ein aus dem Bundesurlaubsgesetz folgender Gesetzesbefehl der Verjährbarkeit des Urlaubsanspruchs entgegensteht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben, ist nur unter Beachtung der für den Urlaubsanspruch geltenden unionsrechtlichen Vorgaben möglich. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 ist das Unionsrecht bei der Auslegung und Anwendung des Bundesurlaubsgesetzes zu berücksichtigen (vgl. BAG 23. März 2010 – 9 AZR 128/09 – Rn. 101 ff., BAGE 134, 1; 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 25, BAGE 142, 371; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 18, BAGE 165, 376). Für das Verständnis der urlaubsrechtlichen Bestimmungen und die Frage, ob diese die Anwendung der nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch geltenden Verjährungsvorschriften ausschließen, kommt es daher auf die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie von Art. 31 Abs. 2 der Charta an. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist. Erst auf Grundlage der durch den Gerichtshof gefundenen Auslegung ist es möglich, die Frage zu beantworten, ob die Verjährungsbestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches auf den Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub und – unter den Voraussetzungen eines Gleichlaufs – auf den vertraglichen Mehrurlaubsanspruch anzuwenden sind und ggf. zu prüfen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen der Verjährung erfüllt sind.
40
E. Erläuterung der Vorlagefrage
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Der Gerichtshof hat – soweit ersichtlich – bisher nicht entschieden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta es zulassen, durch Verjährungsfristen, deren Hemmung ein Tätigwerden des Arbeitnehmers verlangt, die Möglichkeit das Recht auf bezahlten Jahresurlaub gegen den Willen des Arbeitgebers durchzusetzen, zeitlich zu begrenzen. Die Rechtslage erscheint weder von vornherein eindeutig – „acte clair“ – noch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel zulässt – „acte éclairé“ – (vgl. hierzu EuGH 9. September 2015 – C-72/14 ua. – [van Dijk] Rn. 52 ff.; 9. September 2015 – C-160/14 – [João Filipe Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38 ff.; BVerfG 30. Juli 2019 – 2 BvR 1685/14 ua. – Rn. 315, BVerfGE 151, 202; BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 445/17 – Rn. 36, BAGE 165, 100).
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I. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass bei Anwendung der Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches auf den Urlaubsanspruch ein Verstoß gegen Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG gegeben sein könnte.
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1. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) festgestellt, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines gemäß diesen Bestimmungen erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, automatisch, ohne vorherige Prüfung, ob der Arbeitgeber ihn tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, am Ende des Bezugszeitraums die ihm für diesen Zeitraum zustehenden Urlaubstage verliert (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 55). Er hat in dieser, wie in weiteren Entscheidungen, zudem betont, dass jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 42; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 39). Es solle sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt, und verhindert werden, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer, der sich im Arbeitsverhältnis in der schwächeren Position befindet, davon abhält, den Jahresurlaub zu nehmen (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 38 ff.). Deshalb gelte es, eine Situation zu vermeiden, in der die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert werde, während der Arbeitgeber damit die Möglichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seiner eigenen Pflichten zu entziehen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 43). Anders als im Fall des Ansammelns von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, den Urlaub zu nehmen, habe der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen (EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 77; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 63). Das Interesse des Arbeitgebers, ein unbegrenztes Ansammeln von Urlaubsansprüchen durch den Arbeitnehmer verhindern, sei nur schützenswert, wenn es im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG stehe (vgl. EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 54 ff.). Dies setze regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber, wie es der zwingende Charakter des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub gebiete und die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG erfordere (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-PlanckGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45), seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nachgekommen sei. Eine nationale gesetzliche oder vertragliche Vorschrift, die entgegen den Vorgaben des Unionsrechts, eine Begrenzung der Übertragung und ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub vorsehe, bestätige im Ergebnis ein Verhalten, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führte und dem eigentlichen Zweck der Richtlinie zuwiderlaufe, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen (EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 64).
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2. Die vorgenannten Entscheidungen bezogen sich auf Sachverhalte, bei denen der Gerichtshof Bestimmungen und Verfahren des nationalen Rechts in erster Linie unter dem Gesichtspunkt widerstreitender Interessen des Arbeitgebers als Schuldner und Arbeitnehmers als Gläubiger des Urlaubsanspruchs zu bewerten hatte (vgl. zu § 7 BUrlG EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 36 f.). Ob aus den in diesem Zusammenhang getroffenen Feststellungen des Gerichtshofs abzuleiten ist, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta es ausschließen, vom Arbeitnehmer zur Vermeidung der Verjährung des Urlaubsanspruchs verjährungshemmende Maßnahmen iSv. § 204 Abs. 1 BGB zu verlangen, solange der Arbeitgeber ihn nicht durch Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt hat, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen, ist aus Sicht des Senats durch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zweifelsfrei geklärt.
45
a) Zweifel ergeben sich für den Senat nicht an erster Stelle aus den unterschiedlichen Rechtswirkungen der Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG und der Anspruchsverjährung nach §§ 194 ff. BGB. Während der Ablauf des in § 7 Abs. 3 BUrlG vorgesehenen Bezugs- bzw. Übertragungszeitraums rechtsvernichtende Wirkung hat und von Amts wegen zu berücksichtigen ist, gibt die Verjährung dem Schuldner eine Einrede und hindert damit die Durchsetzung der rechtlich fortbestehenden Forderung (§ 214 BGB). Damit besitzt § 7 Abs. 3 BUrlG eine stärkere, für den Betroffenen nachteiligere Wirkung. Die Anwendung der Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches hätte jedoch, wie die der Befristungsregelungen des Bundesurlaubsgesetzes, zur Folge, dass der Anspruchsinhaber den entstandenen Anspruch gegen den Willen des Anspruchsgegners nur innerhalb bestimmter Fristen verwirklichen kann (vgl. BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – Rn. 25, BAGE 115, 19).
46
b) Ob das Unionsrecht die Verjährung des Urlaubsanspruchs ausschließt, ist – auch unter Beachtung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta – vor allem zweifelhaft, weil das nationale Verjährungsrecht nicht allein der Sicherung der Interessen von Schuldner und Gläubiger dient, sondern maßgeblich öffentlichen Interessen Rechnung trägt.
47
aa) Das Verjährungsrecht bezweckt den angemessenen Ausgleich zwischen dem Schutz des Schuldners vor einer drohenden Beweisnot und möglichem Verlust von Regressansprüchen gegen Dritte und der Notwendigkeit, den Gläubiger vor einem ungerechtfertigten Anspruchsverlust zu bewahren (vgl. BAG 28. September 2005 – 5 AZR 52/05 – Rn. 29, BAGE 116, 66). Die Verjährungsregelungen tragen als abschließende Zeitgrenze, ohne individuell nachweisbares oder typischerweise vermutetes, insbesondere betätigtes Vertrauen vorauszusetzen, der berechtigten Erwartung Rechnung, nicht mehr mit einer Forderung überzogen zu werden, wenn der Berechtigte über einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen hat (vgl. BVerfG 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 – Rn. 41 ff., BVerfGE 133, 143; BAG 24. Juni 2015 – 5 AZR 509/13 – Rn. 30, BAGE 152, 75).
48
bb) Die Anspruchsverjährung ist jedoch vor allem Ausdruck des vom Gesetzgeber verfolgten Ziels, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit herzustellen. Das Gebot der Rechtssicherheit ist wesentlicher Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung (vgl. BVerfG 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 – Rn. 41 ff., BVerfGE 133, 143; BAG 24. Juni 2015 – 5 AZR 509/13 – Rn. 30, BAGE 152, 75). Die Verjährung soll nicht nur eine Inanspruchnahme aus unbekannten oder unerwarteten Forderungen vermeiden, sie dient gleichermaßen dem Schutz vor unbegründeten Forderungen. Die Verjährungsvorschriften sichern damit zugleich öffentliche Interessen. Je länger die Entstehung eines angeblichen oder tatsächlichen Anspruchs zurückliegt, desto schwieriger wird es, jene Tatsachen zuverlässig (gerichtlich) festzustellen, die für die Rechtsbeziehungen der Parteien maßgebend sind (vgl. BAG 24. Juni 2015 – 5 AZR 509/13 – Rn. 23, BAGE 152, 75). Dies gilt auch für die Feststellung, ob der Arbeitgeber als Schuldner des Urlaubsanspruchs durch die von ihm darzulegende und gegebenenfalls nachzuweisende Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376) die Voraussetzungen für die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs geschaffen hat. Der Gläubiger kann sich gegen derartige Beweisnöte durch rechtzeitige Geltendmachung des Anspruchs oder entsprechende Beweissicherung schützen. Der Schuldner bzw. Nichtschuldner muss hingegen regelmäßig warten, bis der Gläubiger tätig wird. Er trägt demzufolge gerade für anspruchshemmende und anspruchsvernichtende Tatsachen in höherem Maße das Risiko zeitablaufbedingter Unaufklärbarkeit als der Gläubiger für anspruchsbegründende Tatsachen (vgl. MüKoBGB/Grothe 8. Aufl. Vorbemerkung vor § 194 Rn. 6).
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II. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Ausschluss- und Verjährungsfristen außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Verjährung des Urlaubsanspruchs mit Rücksicht auf die Rechtsfrieden und Rechtssicherheit sichernde Funktion der Verjährungsvorschriften nicht ausgeschlossen ist, aber auch solche dafür, dass das Unionsrecht einer Anspruchsverjährung entgegensteht, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat.
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1. Der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten könnte nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dafürsprechen, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Verjährbarkeit des Urlaubsanspruchs und des nach Maßgabe von § 7 Abs. 4 BUrlG an seine Stelle tretenden Urlaubsabgeltungsanspruchs nicht entgegenstehen. Danach ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung, die Verfahrensmodalitäten auszugestalten, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten (vgl. nur EuGH 19. Juni 2014 – C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12 – Rn. 112; 8. Juli 2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 24 f. mwN), wenn es an einer unionsrechtlichen Regelung des Verfahrens der Rechtsdurchsetzung fehlt. Die getroffenen Regelungen dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. zu Verjährungsfristen EuGH 20. Dezember 2017 – C-500/16 – [Caterpillar Financial Services] Rn. 37 ff. mwN; zu Ausschlussfristen EuGH 19. Juni 2014 – C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12 – Rn. 112).
51
a) Die Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 de Charta regeln nicht, ob es zulässig ist, die Durchsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub und des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub durch Verjährungsregelungen des nationalen Rechts davon abhängig zu machen, dass der Arbeitnehmer innerhalb einer bestimmten Frist verjährungshemmende Maßnahmen ergreift.
52
b) Der Grundsatz der Äquivalenz wäre durch die Regelungen der §§ 194 ff. BGB gewahrt, denn nach nationalem Recht unterliegen grundsätzlich alle Ansprüche, unabhängig davon, ob sie auf nationalem Recht oder Unionsrecht beruhen, und gleich ob sie dem Arbeitnehmer oder dem Arbeitgeber zustehen, gemäß § 195 BGB der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren bzw. unter besonderen Voraussetzungen (vgl. Rn. 31) der absoluten kenntnisunabhängigen 10jährigen Verjährungsfrist des § 199 Abs. 4 BGB. Längere Verjährungsfristen, wie in § 197 BGB geregelt, gelten zugunsten des Gläubigers nur für Ansprüche, die mit den in Rede stehenden Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen nicht vergleichbar sind, oder unter besonderen Voraussetzungen, die im Ausgangsverfahren nicht erfüllt sind.
53
c) In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatzes hat der Gerichtshof entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie zB der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (EuGH 16. Juli 2020 – C-224/19 und C-259/19 – Rn. 85; 8. Juli 2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 35).
54
aa) In Konstellationen außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta hat der Gerichtshof Verjährungsfristen von drei Jahren (vgl. EuGH 15. April 2010 – C-542/08 – [Barth] Rn. 28; 24. März 2009 – C-445/06 – [Danske Slagterier] Rn. 48) bzw. zwei Jahren (EuGH 15. Dezember 2011 – C-427/10 – [Banca Antoniana Popolare Veneta] Rn. 25) als mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar angesehen, wenn sie vorbehaltlich der von dem vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfung nicht geeignet sind, die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (EuGH 16. Juli 2020 – C-224/19 und C-259/19 – Rn. 87). In gleicher Weise hat der Gerichtshof die Festsetzung von angemessenen Ausschlussfristen als ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit als grundsätzlich mit dem Erfordernis der Effektivität vereinbar bewertet (st. Rspr. des Gerichtshofs, vgl. nur EuGH 21. Dezember 2016 – C-154/15, C-307/15 und C-308/15 – [Gutiérrez Naranjo] Rn. 70; 8. Juli 2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 36 mwN; 10. Juli 1997 – C-261/95 – [Palmisani] Rn. 28 mwN), soweit der Fristlauf nicht vor dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Arbeitnehmer von den anspruchsbegründenden Tatsachen Kenntnis erlangt (vgl. EuGH 8. Juli 2010 – C-246/09 – [Bulicke] Rn. 41). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine etwaige Feststellung eines Unionsrechtsverstoßes durch den Gerichtshof für den Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich unerheblich (EuGH 14. Mai 2020 – C-749/18 – Rn. 67 mwN). Der Grundsatz der Effektivität verbietet es nicht, dass eine im nationalen Recht bestimmte Frist für die Verjährung von im Unionsrecht begründeten Ansprüchen vor dem Tag der Verkündung eines Urteils des Gerichtshofs, das die Rechtslage auf dem betreffenden Gebiet klärt, zu laufen beginnt (vgl. EuGH 28. Januar 2015 – C-417/13 – [Starjakob] Rn. 64 f. mwN). Das Unionsrecht verwehrt es dem Anspruchsgegner nur dann, sich auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist zu berufen, wenn sein Verhalten in Verbindung mit einer Ausschlussfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen hat, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. EuGH 14. Mai 2020 – C-749/18 – Rn. 68 mwN).
55
bb) Die mit dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs festgestellten Grundsätze, sprächen dafür, dass die Anwendung der Verjährungsvorschriften auf den Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub – wie den an seine Stelle tretenden Abgeltungsanspruch – mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist. Die Entstehung des Urlaubsanspruchs bzw. des Anspruchs auf finanzielle Vergütung aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG würde durch die Anspruchsverjährung nicht von einer weiteren Voraussetzung abhängig gemacht. Die Verjährungsvorschriften betreffen nicht den Inhalt, sondern regeln die Durchsetzbarkeit des entstandenen und fortbestehenden Urlaubsanspruchs (vgl. Rn. 32). Das Gesetz hat mit der Regelverjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) grundsätzlich einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitgebers als Schuldner des Urlaubsanspruchs und denen des Arbeitnehmers als Gläubiger des Urlaubsanspruchs geschaffen. Dem Arbeitnehmer ist mit der objektiven Verjährungsfrist von mindestens drei Jahren nach Fälligkeit und zusätzlich der Abhängigkeit des Fristbeginns von der Kenntnis oder Erkennbarkeit der Forderung (§§ 195, 199 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BGB) grundsätzlich eine faire Chance eröffnet, Ansprüche, die der regelmäßigen Verjährungsfrist unterliegen, innerhalb eines ausreichend langen Zeitrahmens abschließend zu prüfen und erforderlichenfalls einzuklagen(§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder sonstige verjährungshemmende Maßnahmen iSv. § 204 Abs. 1 BGB zu ergreifen (vgl. BAG 24. Juni 2015 – 5 AZR 509/13 – Rn. 31, BAGE 152, 75). Der Anspruchsgegner und der Umfang des Urlaubsanspruchs sind ihm regelmäßig aufgrund der vertraglichen Abreden der Parteien bekannt oder können dem Gesetz oder Tarifverträgen entnommen werden.
56
2. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben sich jedoch auch Anhaltspunkte, dass die Anwendung der Verjährungsbestimmungen auf den Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub bzw. den an seine Stelle tretenden Abgeltungsanspruch mit dem Effektivitätsgrundsatz nicht vereinbar ist, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat.
57
a) Der Gerichtshof hat in anderem Zusammenhang entschieden, dass die Anwendung einer Verjährungsfrist geeignet ist, die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren, und folglich gegen den Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstoßen, wenn sie zu einem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Anspruchssteller den Umfang seiner Rechte aus dem Unionsrecht nicht kennen oder nicht richtig erfassen konnte, weil er nicht über die erforderlichen Informationen verfügte (vgl. in diesem Sinne zur Auslegung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen EuGH 16. Juli 2020 – C-224/19 und C-259/19 – Rn. 90 f.; 13. September 2018 – C-176/17 – [Profi Credit Polska] Rn. 69). Für den Senat stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta es gebieten, für den Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB) nicht nur die Kenntnis der Entstehung und des Umfangs des Urlaubsanspruchs zu fordern, sondern auch die Information über seine Befristung und seinen möglichen Verfall, der die Arbeitgeber in Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zu vermitteln hat.
58
b) Aus Sicht des Senats ist – bejahte der Gerichtshof die Vorlagefrage – durch seine bisherige Rechtsprechung zudem nicht geklärt, ob es Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta gebieten, den wegen unterlassener Aufforderung und Hinweise des Arbeitgebers nicht verfallenen Urlaubsanspruch aus dem fraglichen Urlaubsjahr – im Streitfall den Urlaubsjahren 2013 und 2014 – im Hinblick auf den Beginn der möglicherweise geltenden Verjährungsfristen (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB) so zu behandeln, als wäre er wie der Urlaub aus dem folgenden oder einem späteren Urlaubsjahr entstanden, zu dem er in unionsrechtskonformer Auslegung von § 7 Abs. 3 BUrlG hinzutritt (vgl. hierzu im Einzelnen Rn. 19 und BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376).
59
III. Der Senat kann erst nach der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof beurteilen, ob und inwieweit das Bundesurlaubsgesetz – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungsmethoden – so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet wird, ohne eine Auslegung contra legem zu erfordern (vgl. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31; BVerfG 17. November 2017 – 2 BvR 1131/16 – Rn. 37; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 19, BAGE 165, 376; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 39 f., BAGE 164, 117). Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Recht – wo dies nötig und möglich ist – das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ein (BAG 28. Juli 2016 – 2 AZR 746/14 (A) – Rn. 51, BAGE 156, 23; 17. März 2016 – 8 AZR 501/14 (A) – Rn. 51 mwN, BAGE 154, 285).
60
IV. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) ausgeführt, dass eine nationale Regelung über den Verfall des Urlaubs nicht anzuwenden sei, wenn sie nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe aber auch dann dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen könne, dass er ihn tatsächlich in die Lage versetzt habe, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub verliere (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 81). Stehe dem Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit ein staatlicher Arbeitgeber gegenüber, ergebe sich dieses Ergebnis aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 der Charta. Stehe ihm ein privater Arbeitgeber gegenüber, folge dies aus Art. 31 Abs. 2 der Charta (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 63 f., 74 ff.). Der Beklagte ist ein privater Arbeitgeber. Sollte § 7 Abs. 3 BUrlG einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sein, was allerdings erst auf der Grundlage der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof festgestellt werden könnte, stellte sich die Frage, ob die Bestimmungen des Verjährungsrechts bezogen auf den Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub – ggf. teilweise – unangewendet zu lassen wären.
61
F. Die Entscheidung über die Aussetzung des Rechtsstreits beruht auf § 148 ZPO analog. Die Voraussetzungen eines Teilurteils nach § 301 Abs. 1 Satz 1 ZPO über die Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2015 und 2016 sind nicht erfüllt, weil bei Erlass eines Teilurteils die Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht auszuschließen wäre (vgl. BAG 27. Mai 2020 – 5 AZR 387/19 – Rn. 19; 8. September 2011 – 2 AZR 388/10 – Rn. 54; BGH 26. April 2012 – VII ZR 25/11 – Rn. 11). Bei den Abgeltungsansprüchen der Klägerin aus den Jahren 2013 bis 2016 handelt es sich zwar um eine Mehrheit selbständiger prozessualer Ansprüche(vgl. BAG 23. Januar 2018 – 9 AZR 200/17 – Rn. 26 ff., BAGE 161, 347), zwischen diesen besteht jedoch im Hinblick auf die Frage, welche Urlaubsansprüche der Klägerin durch die Gewährung von Urlaub nach dem 1. März 2012 erfüllt wurden, eine materiell-rechtliche Verzahnung.
Kiel
Suckow
Weber
Kiel(für den ausgeschiedenenehrenamtlichen RichterRopertz)
Pielenz |
bag_35-18 | 26.06.2018 | 26.06.2018
35/18 - Tariffähigkeit der DHV - Die Berufsgewerkschaft e.V. - Keine abschließende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Tarifverträge kann nur eine Arbeitnehmervereinigung schließen, die tariffähig ist.
Dazu muss sie über Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite und eine leistungsfähige Organisation verfügen. Das drückt sich in der Regel durch die Zahl ihrer Mitglieder im selbst gewählten Organisationsbereich aus. Allerdings können bei einer langjährig am Tarifgeschehen teilnehmenden Arbeitnehmervereinigung deren Durchsetzungskraft und organisatorische Leistungsfähigkeit indiziert sein, wenn sie bereits in nennenswertem Umfang Tarifverträge innerhalb ihrer satzungsmäßigen Zuständigkeit abgeschlossen hat. An dem Erfordernis einer zu prognostizierenden Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit hat weder das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns vom 11. August 2014 (Mindestlohngesetz) noch das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Tarifeinheitsgesetz) etwas geändert.
In einem u.a. von den Gewerkschaften IG Metall, ver.di und NGG eingeleiteten Beschlussverfahren haben diese die Feststellung begehrt, dass die DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V. (DHV) nicht tariffähig ist. Die DHV wurde nach ihrer Gründung 1893 im Jahr 1950 als Gewerkschaft der Kaufmannsgehilfen neu gegründet. Nach ihrer 1972 geltenden Satzung verstand sie sich als eine Gewerkschaft der Angestellten im Handel, in der Industrie und dem privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich; seit 2002 als eine Gewerkschaft der Arbeitnehmer in Bereichen, die durch kaufmännische und verwaltende Berufe geprägt sind. In der Folge mehrfacher, teilweise unwirksamer Satzungsänderungen erstreckt sich die von ihr zuletzt beanspruchte Zuständigkeit auf Arbeitnehmer in diversen Bereichen, u.a. private Banken und Bausparkassen, Einzelhandelsgeschäfte, Binnengroßhandel, Rettungsdienste, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, Fleischwarenindustrie, Reiseveranstalter sowie IT Dienstleistungsunternehmen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte. Nach Angaben der DHV organisierte sie Ende Dezember 2014 75.065 Mitglieder; die antragstellenden Gewerkschaften gehen von höchstens 10.000 Mitgliedern aus.
Die Tariffähigkeit der DHV war in der Vergangenheit mehrmals Gegenstand arbeitsgerichtlicher Verfahren. In dem nunmehr anhängigen Verfahren hat das Arbeitsgericht Hamburg dem Antrag – das Fehlen der Tariffähigkeit der DHV festzustellen – entsprochen; das Landesarbeitsgericht hat ihn abgewiesen. Auf die Rechtsbeschwerden der Antragsteller hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aufgehoben. Dem Antrag steht zwar nicht der Einwand der Rechtskraft früherer Sach- und Prozessentscheidungen entgegen. Das Landesarbeitsgericht ist aber zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Anforderungen an die Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit der DHV im Hinblick auf das Mindestlohn- und das Tarifeinheitsgesetz abgesenkt sind. Die DHV kann ihre soziale Mächtigkeit nicht auf ihre langjährige Teilnahme am Tarifgeschehen stützen. Sie
hat Tarifverträge teilweise außerhalb ihres Organisationsbereichs und zudem in wechselnden Zuständigkeiten geschlossen. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen kann der Senat über die Tariffähigkeit der DHV nicht abschließend befinden. Die Sache ist daher zur weiteren Sachaufklärung – vor allem über die Mitgliederzahl der DHV und darauf bezogener Organisationsgrade in den beanspruchten Zuständigkeitsbereichen – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen worden.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 1 ABR 37/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamburg, Beschluss vom 4. Mai 2016
– 5 TaBV 8/15 – | Tenor
Auf die Rechtsbeschwerden der zu 1. bis zu 4., zu 8. und zu 10. Beteiligten wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 4. Mai 2016 – 5 TaBV 8/15 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. An dem Erfordernis der hinreichenden Durchsetzungskraft und organisatorischen Leistungsfähigkeit als Voraussetzung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung haben weder das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns noch das Gesetz zur Tarifeinheit etwas geändert.
2. Der langjährigen Teilnahme einer Arbeitnehmervereinigung am Tarifgeschehen in Form von Tarifvertragsabschlüssen kommt keine ausschlaggebende indizielle Wirkung für deren soziale Mächtigkeit zu, wenn diese auf einer Zuständigkeit basiert, die für die von der Arbeitnehmervereinigung gegenwärtig beanspruchte Zuständigkeit nicht mehr repräsentativ ist. Gleiches gilt, wenn die Arbeitnehmervereinigung nicht nur vereinzelt Tarifverträge außerhalb ihrer satzungsmäßigen Zuständigkeit geschlossen hat.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Tariffähigkeit der am Verfahren zu 5. beteiligten DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V. (DHV).
2
Die DHV wurde 1893 als Handlungsgehilfenverband gegründet und nach ihrer Neugründung am 1. Oktober 1950 als „Deutscher Handlungsgehilfen-Verband e.V., Gewerkschaft der Kaufmannsgehilfen“ am 20. Dezember 1950 in das Vereinsregister Hamburg eingetragen. 1956 benannte sie sich in die bis Oktober 2006 beibehaltene Bezeichnung „DHV – Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband e.V.“ um. Entsprechend ihrer am 28./29. Oktober 2006 beschlossenen Satzung heißt sie „DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V.“. Ihr Organisationsbereich erstreckt sich über das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Sie gliedert sich in neun Landesverbände und hat nach eigenen Angaben ca. 24.000 Tarifverträge geschlossen, zu Warnstreiks aufgerufen und Tarifverhandlungen ggf. auch abgebrochen. Die Zahl ihrer Mitglieder gibt sie mit 75.065 (Stand 31. Dezember 2014) und 73.451 (Stand 19. Januar 2016) an.
3
Die Tariffähigkeit der DHV war in der Vergangenheit mehrfach Gegenstand von Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen. Das Arbeitsgericht Hamburg stellte mit rechtskräftigem Beschluss vom 10. Dezember 1956 (- 2 BV 366/1956 -) fest, „daß der Beteiligte zu 4)“ (DHV-Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband e.V.) „eine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG ist“. Mit Beschluss vom 7. Februar 1980 wies das Arbeitsgericht Hamburg (- 1 Bv 15/78 -) einen Antrag der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen auf Feststellung der Tarifunfähigkeit der DHV als unbegründet ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde blieb vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg ohne Erfolg (29. Oktober 1980 – 5 TaBv 1/80 -). Es hielt den Antrag für unzulässig, weil „die Rechtskraft des Beschlusses des Arbeitsgerichts Hamburg vom 10. Dezember 1956 ist auch heute noch in diesem Verfahren zu beachten“. Einen Antrag des Landes Hessen auf Feststellung, dass die DHV keine tariffähige Gewerkschaft ist, wies das Arbeitsgericht Hamburg am 11. August 1992 (- 1 Bv 8/92 -) als unzulässig ab. Ein auf das Fehlen der Tariffähigkeit der DHV gerichteter Antrag der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) wurde in der Beschwerdeinstanz vom Landesarbeitsgericht Hamburg am 18. Februar 1997 als unzulässig bewertet (- 2 TaBV 9/95 -). Ihm stehe die Rechtskraft des Beschlusses des Arbeitsgerichts Hamburg vom 11. August 1992 entgegen. Die Verhältnisse hätten sich seit dieser Entscheidung nicht wesentlich geändert. Die im Zeitpunkt dieser Entscheidung geltende Satzung der DHV vom 12./13. November 1994 (Satzung 1994) entsprach im Wesentlichen der am 28./29. Oktober 1972 beschlossenen Satzung (Satzung 1972). Diese bestimmte unter ihrem § 2 Abs. 1, dass die DHV eine „Gewerkschaft der Angestellten im Handel, in der Industrie und dem privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich“ ist.
4
Außerdem war die Tarifzuständigkeit der DHV auf der Grundlage ihrer am 28./29. Oktober 2006 beschlossenen, ihrer vom 12. Juni 2009 bis zum 22. Februar 2011 sowie insoweit wortgleich ab dem 23. Februar 2011 geltenden Satzungen und ihrer Satzung vom 16./17. November 2012 Gegenstand von Verfahren und Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG 10. Februar 2009 – 1 ABR 36/08 – BAGE 129, 322; 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – BAGE 141, 110 und 11. Juni 2013 – 1 ABR 32/12 – BAGE 145, 211).
5
Mit einer der DHV am 16. Dezember 2013 zugestellten Antragsschrift haben die zu 1. beteiligte IG Metall, die zu 2. beteiligte ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die zu 3. beteiligte Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und die zu 4. beteiligte Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales des Landes Berlin das vorliegende Verfahren eingeleitet. Das zu 10. beteiligte Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich mit Schriftsatz vom 13. Februar 2014 dem Antrag angeschlossen sowie diesen – nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts – auch selbst gestellt. An dem Verfahren weiter beteiligt sind zu 6. der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB), dem die DHV angehört, zu 7. die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), zu 8. der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und zu 9. das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Beteiligter zu 11. ist der Arbeitgeberverband Wohlfahrts- und Gesundheitsdienste e.V., welcher nach seinen Angaben Tarifverträge mit der DHV geschlossen hat.
6
Im Zeitpunkt der Zustellung der Antragsschrift galt die am 16./17. November 2012 beschlossene und am 9. Januar 2013 in das Vereinsregister eingetragene Satzung der DHV (Satzung 2012), deren Organisationsbereich sich nach den landesarbeitsgerichtlichen Feststellungen auf etwa 15 Millionen Beschäftigungsverhältnisse erstreckte. Auf ihrem Bundesgewerkschaftstag vom 7./8. November 2014 beschloss die DHV die am 25. Februar 2015 in das Vereinsregister eingetragene Satzung (Satzung 2014). Deren § 2 lautet:
„1.
Die DHV ist tarifzuständig für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den nachfolgenden Bereichen und schließt für diese Tarifverträge ab:
▪
private Banken und Bausparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken, Landes/Förderbanken, Spezialinstitute, Sparkassen
▪
Einzelhandelsgeschäfte, Waren- und Kaufhäuser, Verbrauchermärkte, Filialbetriebe im Einzelhandel, Versandhandel, Drogerien, Zentrallager, Tankstellen, zuzüglich der handelsunterstützenden, stationären und straßengebunden Warenlogistik
▪
Binnengroßhandel, Cash- und Carrymärkte, Handelsunternehmen und Auslieferungslager aller Industrien, Ein- und Ausfuhrhandel, genossenschaftlicher Großhandel, zuzüglich der handelsunterstützenden, stationären und straßengebunden Warenlogistik
▪
Gesetzliche Krankenkassen
▪
Privates und öffentlich-rechtliches Versicherungsgewerbe
▪
Einrichtungen der privaten Alten- und Behindertenpflege sowie der Jugendhilfe
▪
Kliniken und Krankenhäuser in privatrechtlicher Rechtsform
▪
Rettungsdienste
▪
Arbeiterwohlfahrt und Tochtergesellschaften
▪
Deutsches Rotes Kreuz und Tochtergesellschaften
▪
Textilreinigung und Textilreinigungsleistungen
▪
Fleischwarenindustrie
▪
IT Dienstleistungsunternehmen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte
▪
Reiseveranstalter
sowie Nebenbetriebe, die Dienstleistungen für diese erbringen, jedoch rechtlich ausgegliedert und selbständig sind.
2.
Die DHV ist auch tarifzuständig für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen bei kommunalen Arbeitgebern und bei Körperschaften des öffentlichen Rechts auf kommunaler Ebene.“
7
Dieser Organisationsbereich erstreckt sich – so die tatbestandlichen Gründe der angefochtenen Entscheidung – nach Angaben der DHV auf ca. 7,01 Millionen und nach Angaben der Antragsteller auf ca. 11,4 Millionen Beschäftigungsverhältnisse, während das Arbeitsgericht von 10,2 Millionen Beschäftigungsverhältnissen ausgegangen war.
8
Die Antragsteller haben – ebenso wie der zu 8. beteiligte DGB – die Auffassung vertreten, wegen des mit den Satzungen 2012 und 2014 erheblich ausgeweiteten Organisationsbereichs der DHV hinderten die vormaligen rechtskräftigen Entscheidungen zu deren Tariffähigkeit keine erneute Einleitung des Verfahrens mit diesem Gegenstand. Bei der DHV handele es sich mit Blick auf den von ihr beanspruchten Organisationsbereich um keine Gewerkschaft. Sie verfüge insbesondere nicht über die erforderliche hinreichende Durchsetzungskraft und organisatorischen Leistungsfähigkeit. Der DHV gehörten höchstens 10.000 Mitglieder an. Zudem verfüge sie nicht über die notwendige organisatorische und finanzielle Ausstattung.
9
Die Antragsteller haben beantragt
festzustellen, dass die DHV nicht tariffähig ist.
10
Die DHV und der zu 11. beteiligte Arbeitgeberverband haben beantragt, den Antrag abzuweisen.
11
Die DHV hat die Auffassung vertreten, der Antrag sei unzulässig. Ihm stehe die Rechtskraft der Entscheidungen in den vorangegangenen Verfahren zu ihrer Tariffähigkeit entgegen. Das Verfahren sei zudem missbräuchlich eingeleitet und dadurch motiviert, sie als Konkurrenzgewerkschaft aus dem gewerkschaftlichen Wettbewerb zu verdrängen. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung seien verfassungs- und unionsrechtswidrig, jedenfalls aber im Hinblick auf die nunmehr geltende Gesetzeslage zum Mindestlohn und zur Tarifeinheit zu revidieren. Im Übrigen sei ihre Durchsetzungsmacht und organisatorische Leistungsfähigkeit durch den Abschluss von ca. 24.000 Tarifverträgen seit 1950 belegt.
12
Der zu 6. beteiligte CGB hat ua. die Auffassung vertreten, die Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Gewerkschaftseigenschaft einer Arbeitnehmerkoalition seien nicht verfassungs- und unionsrechtskonform; insoweit hat er – ebenso wie die DHV – die Aussetzung des Verfahrens und Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG angeregt. Der zu 11. beteiligte Arbeitgeberverband hat die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Wege einer auf § 97 ArbGG bezogenen konkreten Normenkontrolle sowie ein Vorabentscheidungsverfahren zum Gerichtshof der Europäischen Union beantragt.
13
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag entsprochen. Auf die Beschwerde der DHV und des zu 11. beteiligten Arbeitgeberverbandes hat das Landesarbeitsgericht nach Beweisaufnahme über die Mitgliederzahl der DHV durch Einvernahme von deren früheren Vorstandsvorsitzenden und Einsicht in eine von der DHV vorgelegte notarielle Urkunde den Antrag abgewiesen. Mit ihren Rechtsbeschwerden erstreben die IG Metall, ver.di, die NGG und der DGB sowie die zu 4. und zu 10. beteiligten Stellen die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
14
B. Die zulässigen Rechtsbeschwerden sind begründet. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts konnte der Antrag nicht abgewiesen werden. Das führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Der Senat kann über den Antrag nicht selbst entscheiden. Es fehlt an hinreichenden Feststellungen zur Beurteilung der Tariffähigkeit der DHV.
15
I. Rechtsbeschwerderechtlicher Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, das sich gemäß § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 112 ArbGG nach Maßgabe des § 97 ArbGG in seiner bis zum 15. August 2014 geltenden Fassung bestimmt, ist die Tariffähigkeit der DHV ab Inkrafttreten ihrer Satzung 2014.
16
1. Nach allgemeinen und ausgehend vom Normzweck des § 97 Abs. 1 ArbGG gebotenen Verständnis sind mit einem gegenwartsbezogenen Feststellungsantrag die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich ab dem Zeitpunkt der Zustellung der Antragsschrift bis zu dem der letzten Anhörung zur gerichtlichen Entscheidung gestellt (vgl. BAG 11. Juni 2013 – 1 ABR 33/12 – Rn. 17, BAGE 145, 205; zur Tarifzuständigkeit 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – Rn. 45, BAGE 141, 110). Das Arbeitsgericht hat seine dem Antrag stattgebende Entscheidung vom 19. Juni 2015 allerdings in zeitlicher Hinsicht allein mit dem „zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Anhörung“ (21. April 2015) „geltenden satzungsmäßigen Zuständigkeitsbereich“ begründet. Über die Tariffähigkeit der DHV im Zeitraum ab Zustellung der verfahrenseinleitenden Antragsschrift bis zum Inkrafttreten der Satzung 2014 hat es nicht befunden. Dieses inhaltliche Verständnis des arbeitsgerichtlich beschiedenen Feststellungsbegehrens haben sich die erstinstanzlich obsiegenden Antragsteller mit ihrem Antrag auf Zurückweisung der Beschwerde zu eigen gemacht und keinen – im Wege der Anschlussbeschwerde anzubringenden – anderen Verfahrensgegenstand verfolgt. Damit gehen die Rügen der Rechtsbeschwerdeführer zu ihrem vom Beschwerdegericht übergangenen, auf den Zeitraum vor der Satzung 2014 bezogenen Sachvortrag von vornherein ins Leere.
17
2. Dem steht nicht entgegen, dass der Senat in einem anderen, das Rechtsmittel gegen die Aussetzung eines Wahlanfechtungsverfahrens betreffenden Verfahren (BAG 22. März 2017 – 1 AZB 55/16 – Rn. 26, BAGE 158, 315) auf der Grundlage seiner damaligen Erkenntnisse davon ausgegangen ist, in zeitlicher Hinsicht umfasse der vom Arbeitsgericht beschiedene Antrag die Feststellung der fehlenden Tariffähigkeit der DHV „ab dem Zeitpunkt der Zustellung der Antragsschrift“. Wie vom Senat in den Gründen des genannten Beschlusses auch ausgeführt ist, war für die Entscheidung über die Aussetzung des Wahlanfechtungsverfahrens ausschlaggebend, dass die rechtskräftige Entscheidung über die Tariffähigkeit der DHV nicht dazu führt, dass deren Gewerkschaftseigenschaft erst ab Rechtskraft einer Entscheidung entfällt.
18
II. Als Antragsteller sind die IG Metall, ver.di, die NGG sowie die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales des Landes Berlin Beteiligte des Verfahrens. Das gilt auch für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Vorinstanzen haben in dessen Ausführungen eine eigene Sachantragsstellung und keine (bloße) Unterstützung des Antrags der anderen Antragsteller gesehen. Dagegen haben sich weder die oberste Arbeitsbehörde des Landes Nordrhein-Westfalen noch andere Beteiligte gewandt. Die weiteren Beteiligten ergeben sich aus der durch § 97 Abs. 2 ArbGG (nunmehr § 97 Abs. 2a Satz 1 ArbGG) bewirkten entsprechenden Anwendung von § 83 Abs. 3 ArbGG.
19
1. Hiernach bestimmt sich der Kreis der in den Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG anzuhörenden Personen und Stellen wie in den anderen in § 2a Abs. 1 ArbGG aufgeführten Verfahren nach materiellem Recht. Die Beteiligtenstellung setzt somit voraus, dass die anzuhörenden Personen und Stellen von dem Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG in einer durch die Rechtsordnung geschützten Rechtsposition unmittelbar betroffen werden. Dabei ist prinzipiell die Beteiligung der jeweiligen Spitzenorganisationen ausreichend. Erstreckt sich die Zuständigkeit der Vereinigung, deren Tariffähigkeit umstritten ist, auf das Gebiet mehrerer Bundesländer, ist an dem Verfahren auch die oberste Arbeitsbehörde des Bundes beteiligt. Eine nur mittelbare Betroffenheit von Personen und Stellen oder ein rechtlich nicht geschütztes Interesse, in das Verfahren einbezogen zu werden, reichen nicht aus (BAG 11. Juni 2013 – 1 ABR 33/12 – Rn. 13 mwN, BAGE 145, 205).
20
2. Nach diesen Grundsätzen sind die DHV als Arbeitnehmervereinigung, über deren Tariffähigkeit gestritten wird, sowie der CGB, der DGB und die BDA als Spitzenorganisationen beteiligt. Das BMAS ist als oberste Arbeitsbehörde des Bundes beteiligt. Die beanspruchte Zuständigkeit der DHV erstreckt sich auf das Gebiet mehrerer Bundesländer.
21
3. Des Weiteren ist der im Rechtsbeschwerdeverfahren an seinem Begehren einer Antragsabweisung festhaltende Arbeitgeberverband Wohlfahrts- und Gesundheitsdienste e.V. beteiligt. Auch ein Antrag, der auf die Abweisung eines Feststellungsbegehrens iSv. § 2a Abs. 1 Nr. 4 iVm. § 97 Abs. 1 ArbGG gerichtet ist, kann die Beteiligtenstellung einer der in § 97 Abs. 1 ArbGG genannten Vereinigungen und obersten Arbeitsbehörden begründen. Das folgt daraus, dass im Fall der Antragsabweisung das kontradiktorische Gegenteil der von einem oder mehreren Antragstellern begehrten Feststellung feststeht und die in § 97 Abs. 1 ArbGG genannten Vereinigungen und obersten Arbeitsbehörden bereits aus prozessualen Gründen – zur Vermeidung einer doppelten Rechtshängigkeit – gehalten sind, Antragsabweisung zu beantragen (vgl. BAG 11. Juni 2013 – 1 ABR 33/12 – Rn. 14, BAGE 145, 205; 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 57, BAGE 136, 302). Ob hieran mit Blick auf § 97 ArbGG in seiner ab dem 16. August 2014 geltenden Fassung festzuhalten ist, lässt der Senat ausdrücklich offen.
22
III. Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht von einem zulässigen Antrag ausgegangen.
23
1. Der Antrag ist hinreichend bestimmt iSd. im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren anwendbaren § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Nach seinem in der Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeinstanz angefallenen Inhalt soll mit ihm gegenwarts- und zukunftsbezogen geklärt werden, ob die DHV ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens ihrer Satzung 2014 Tarifvertragspartei iSd. § 2 Abs. 1 TVG sein kann.
24
2. Die IG Metall, ver.di, die NGG sowie die zu 4. und zu 10. beteiligten Stellen haben den Antrag gemeinsam gestellt. Die Antragsteller verfolgen ihr Begehren damit im Wege subjektiver Antragshäufung. Dagegen bestehen keine verfahrensrechtlichen Bedenken (BAG 13. März 2007 – 1 ABR 24/06 – Rn. 19 mwN, BAGE 121, 362). Auch liegen die für sämtliche Antragsteller zu prüfenden Verfahrensvoraussetzungen (vgl. dazu BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 32, BAGE 136, 302) vor.
25
a) Alle Antragsteller sind antragsberechtigt.
26
aa) Nach § 97 Abs. 1 ArbGG kann das Verfahren über die Tariffähigkeit einer Vereinigung auf Antrag einer räumlich und sachlich zuständigen Gewerkschaft, auf deren Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt, eingeleitet werden. Erforderlich ist, dass sich der räumliche und sachliche Zuständigkeitsbereich der antragstellenden Gewerkschaft zumindest teilweise mit den Zuständigkeitsbereichen der Vereinigung deckt, deren Tariffähigkeit bestritten wird (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 23 mwN, BAGE 136, 1). Daneben ist in einem Verfahren über die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung nach § 97 Abs. 1 ArbGG ua. die oberste Arbeitsbehörde eines Landes, auf dessen Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt, antragsberechtigt. Insoweit ist keine Einschränkung der Vorschrift aus verfassungsrechtlichen Gründen veranlasst (dazu näher BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 50, BAGE 136, 302). § 97 ArbGG schafft – auch unter Berücksichtigung seiner durch Art. 2 des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie vom 11. August 2014 (Tarifautonomiestärkungsgesetz BGBl. I S. 1348 – TarifAStG -) geänderten Fassung, die für das vorliegende, vor dem 16. August 2014 anhängige Verfahren ohnehin nicht einschlägig ist – kein gerichtliches Konzessionierungsverfahren für Tarifvertragsparteien oder stellt diese unter staatliche Aufsicht. Ebenso wird die Freiheit der Koalitionsbildung nach Art. 9 Abs. 3 GG nicht berührt. Die Tariffähigkeit einer Vereinigung wird im Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG nicht konstitutiv begründet, sondern festgestellt (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 50, BAGE 136, 302).
27
bb) Hiervon ausgehend besteht die Antragsbefugnis sämtlicher Antragsteller.
28
(1) Bei den zu 1., zu 2. und zu 3. antragstellenden Gewerkschaften ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, dass nach deren satzungsmäßig beanspruchten Organisationsbereichen die erforderliche Zuständigkeitskonkurrenz gegenüber dem von der DHV beanspruchten Organisationsbereich vorliegt. Das wird von keinem der Beteiligten in Frage gestellt.
29
(2) Soweit eine antragstellende Vereinigung von Arbeitnehmern – wie hier – die Tariffähigkeit einer anderen Vereinigung bestreitet, muss sie ferner selbst tariffähig sein (BAG 6. Juni 2000 – 1 ABR 10/99 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 95, 36). Das steht bei den zu 1. bis 3. beteiligten Gewerkschaften nicht im Zweifel und wird von den Beteiligten auch nicht problematisiert.
30
(3) Antragsbefugt sind ebenso die Beteiligten zu 4. und zu 10. Es handelt sich um die obersten Arbeitsbehörden der Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen, auf deren Gebiete sich die Tätigkeit der DHV erstreckt. Ihnen ist mit § 97 Abs. 1 ArbGG ausdrücklich die Befugnis zur Verfahrenseinleitung verliehen.
31
b) Bei allen Antragstellern ist von einem Rechtsschutzinteresse für den Antrag auszugehen.
32
aa) Dieses folgt schon daraus, dass ihnen das Gesetz mit § 97 Abs. 1 ArbGG das Recht einräumt, ein Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG zur Entscheidung über die Tariffähigkeit einer Vereinigung einzuleiten. Es ergibt sich weiter aus dem Umstand, dass die Sachentscheidung über die in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 Abs. 1 ArbGG zu klärenden rechtlichen Eigenschaften für und gegen jedermann (erga omnes) wirkt. Dem steht nicht entgegen, dass für das vorliegende Verfahren nach § 112 ArbGG die Vorschrift des § 97 ArbGG in ihrer vor dem 16. August 2014 geltenden Fassung anzuwenden ist. Die mit Art. 2 Nr. 4 Buchst. d TarifAStG mit Wirkung ab 16. August 2014 nunmehr ausdrücklich in § 97 Abs. 3 ArbGG aufgenommene Anordnung der erga-omnes-Wirkung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG 23. Mai 2012 – 1 AZB 58/11 – Rn. 7 mwN, BAGE 141, 382) und hat nach dem verlautbarten Willen des Gesetzgebers lediglich klarstellenden Charakter (BT-Drucks. 18/1558 S. 44).
33
bb) Es bedarf – anders als die DHV meint – keiner sachlichen Rechtfertigung für die Verfahrenseinleitung im Sinn einer konkreten Feststellung der Gefährdung der Tarifautonomie durch die Arbeitnehmervereinigung, deren Tariffähigkeit im Streit steht. Ebenso ist ein besonderes Feststellungsinteresse iSv. § 256 Abs. 1 ZPO nicht notwendig. Soweit der Senat dieses in früheren Entscheidungen ausdrücklich auch mit Bezug auf die Feststellungen der rechtlichen Eigenschaften in den Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 Abs. 1 ArbGG geprüft hat (vgl. etwa BAG 10. Februar 2009 – 1 ABR 36/08 – Rn. 23, BAGE 129, 322), hat er hieran nicht festgehalten (BAG 11. Juni 2013 – 1 ABR 32/12 – Rn. 22, BAGE 145, 211).
34
c) Der Antrag ist von keinem der Antragsteller missbräuchlich gestellt. Das wird zwar – von der DHV und vor allem bezogen auf ver.di – behauptet. Die dem Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG immanente Konkurrenzsituation zwischen der DHV sowie ihren Mitgliedern und den antragstellenden Gewerkschaften führt aber nicht dazu, den Antrag als rechtsmissbräuchlich anzusehen (vgl. BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 54, BAGE 136, 302). Entgegen der Auffassung der DHV hat ver.di durch früher gemeinsam mit der DHV geführte Tarifverhandlungen die ihr gesetzlich verliehene Antragsbefugnis auch nicht verwirkt.
35
3. Zu Recht sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass der Zulässigkeit des Antrags nicht der Einwand der Rechtskraft iSd. § 322 Abs. 1 ZPO entgegensteht.
36
a) Die materielle Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung (§ 322 Abs. 1 ZPO) steht – als negative Prozessvoraussetzung – einer neuen Verhandlung und Entscheidung über denselben Streitgegenstand entgegen (ne bis in idem). Unzulässig ist deshalb eine erneute Klage, deren Streitgegenstand mit dem eines bereits rechtskräftig entschiedenen Rechtsstreits identisch ist (BGH 22. Februar 2018 – VII ZR 253/16 – Rn. 14 mwN).
37
b) Im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren gilt nichts anderes. Nach dem auch in diesem Verfahren anwendbaren § 322 Abs. 1 ZPO sind Beschlüsse der Rechtskraft fähig, soweit über den durch den Antrag erhobenen Anspruch entschieden ist (BAG 5. März 2013 – 1 ABR 75/11 – Rn. 12). Der Begriff des Anspruchs in § 322 Abs. 1 ZPO bezeichnet den prozessualen Anspruch im Sinn der Streitgegenstandslehre. Die objektiven Grenzen der Rechtskraft werden durch den Gegenstand des vorangehenden Verfahrens bestimmt. Wie im Urteilsverfahren richtet sich dieser nach dem zur Entscheidung gestellten Antrag (Antragsziel) und dem zugehörigen Lebenssachverhalt (Antragsgrund), aus dem die begehrte Rechtsfolge hergeleitet wird (vgl. BAG 23. Mai 2012 – 1 AZB 58/11 – Rn. 6 mwN, BAGE 141, 382). Die materielle Rechtskraftwirkung eines Beschlusses hindert grundsätzlich, dass bei Identität der Beteiligten (subjektive Rechtskraft) und des Sachverhalts (objektive Rechtskraft) eine bereits rechtskräftig entschiedene Frage den Gerichten zur erneuten Entscheidung unterbreitet werden kann. In zeitlicher Hinsicht ist die Rechtskraft nicht begrenzt. Ein formell rechtskräftig gewordener Beschluss entfaltet auf Dauer materielle Rechtskraft (vgl. dazu bereits BAG 27. August 1968 – 1 ABR 6/68 – zu II B 2 a der Gründe, BAGE 21, 139).
38
c) Im Fall der rechtskräftigen Abweisung eines streitbefangenen Begehrens ist für die Bestimmung des Rechtskraftumfangs von maßgebender Bedeutung, ob es sich um eine Prozessentscheidung handelt, mit dem die Klage oder der Antrag als unzulässig abgewiesen worden ist, oder um eine die Begründetheit verneinende Entscheidung (vgl. BAG 15. Juni 2016 – 4 AZR 485/14 – Rn. 39 mwN). Eine Prozessentscheidung erwächst nur im Hinblick auf den behandelten verfahrensrechtlichen Punkt in Rechtskraft (vgl. BGH 6. März 1985 – IVb ZR 76/83 – zu 1 der Gründe) und hindert nach Behebung des Zulässigkeitsmangels eine erneute Antragstellung nicht. Die materielle Rechtskraft einer Prozessentscheidung besagt aber nicht nur, dass der abgewiesene Antrag unzulässig ist, sondern auch, dass er mit dem damals anhängigen Streit- oder Verfahrensgegenstand unter den seinerzeit gegebenen prozessualen oder verfahrensrechtlichen Umständen mindestens aus dem in den Entscheidungsgründen genannten Grund unzulässig ist. Eine neue Klage oder ein neuer Antrag über denselben Streit- oder Verfahrensgegenstand ist nur zulässig, wenn sich die prozess- oder verfahrensrechtlichen Umstände in dem fraglichen Punkt gegenüber dem Vorverfahren geändert haben. Wird eine Klage oder ein Antrag wegen entgegenstehender Rechtskraft einer zuvor ergangenen Sachentscheidung als unzulässig abgewiesen, steht die Identität der Streit- oder Verfahrensgegenstände im ersten und dem darauffolgenden Prozess bindend fest (vgl. Zöller/Vollkommer ZPO 32. Aufl. § 322 Rn. 1a).
39
d) Auch bei einer rechtskräftigen Entscheidung nach § 97 ArbGG ist ein erneuter Antrag mit identischem Verfahrensgegenstand unzulässig. Identität der Verfahrensgegenstände liegt auch vor, wenn im Zweitverfahren der Ausspruch des kontradiktorischen Gegenteils einer im Erstverfahren festgestellten Rechtsfolge begehrt wird (BAG 23. Mai 2012 – 1 AZB 58/11 – Rn. 7 mwN, BAGE 141, 382). Im Verfahren nach § 97 ArbGG kommt hinzu, dass in subjektiver Hinsicht die Rechtskraft der Entscheidung über die Tariffähigkeit (oder die Tarifzuständigkeit) nicht nur die Personen und Stellen, die im jeweiligen Verfahren nach § 97 Abs. 2 (in der bis zum 15. August 2014 geltenden Fassung) iVm. § 83 Abs. 3 ArbGG angehört worden sind, erfasst, sondern Wirkung gegenüber jedermann entfaltet (BAG 23. Mai 2012 – 1 AZB 58/11 – Rn. 7 mwN, aaO).
40
e) Eine Beendigung der eine erneute Entscheidung sperrenden Rechtskraft kommt in Betracht, wenn sich die maßgebenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben (vgl. BAG 6. Juni 2000 – 1 ABR 21/99 – zu B II 4 a der Gründe, BAGE 95, 47). Das betrifft diejenigen Tatsachen oder Rechtsgrundlagen, die für die in der früheren Entscheidung ausgesprochene Rechtsfolge als maßgebend angesehen worden sind (vgl. BAG 6. Juni 2000 – 1 ABR 21/99 – zu B II 4 a der Gründe, aaO; vgl. auch 7. Mai 2008 – 4 AZR 223/07 – Rn. 21 mwN; 1. Februar 1983 – 1 ABR 33/78 – BAGE 41, 316; vertiefend Oetker ZZP 2002, 3). Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich diese gegenüber denjenigen, die dem früheren Verfahren zugrunde gelegen haben, in einem bestimmten Ausmaß modifiziert haben. Der neue Sachverhalt muss sich seinem Wesen nach von dem früheren unterscheiden (vgl. BGH 22. Mai 1981 – V ZR 111/80 – zu II der Gründe). Eine wertende Betrachtung muss ergeben, dass sich der nunmehr dem Gericht zur Entscheidung unterbreitete Streit als ein neuer darstellt (vgl. BAG 1. Februar 1982 – 1 ABR 33/78 – BAGE 41, 316).
41
f) Ausgehend von diesen Grundsätzen steht die Rechtskraft der in den vorangegangenen Verfahren zur Tariffähigkeit der DHV ergangenen Beschlüsse einer Sachentscheidung im vorliegenden Verfahren nicht entgegen.
42
aa) Die materielle Rechtskraft der die Tariffähigkeit der DHV – seinerzeit mit der Bezeichnung DHV-Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband e.V. – feststellenden Entscheidung des Arbeitsgerichts Hamburg vom 10. Dezember 1956 umfasst grundsätzlich auch den hier angebrachten Verfahrensgegenstand des kontradiktorischen Gegenteils der erstrebten Feststellung, dass die DHV nicht tariffähig ist.
43
bb) Deren materielle Rechtskraft sperrt indes keine Entscheidung über den gestellten Antrag. Die für die Beurteilung der Tariffähigkeit der DHV maßgebende Tatsachengrundlage hat sich erheblich geändert.
44
(1) Zu berücksichtigen sind jedoch nur die nach der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 18. Februar 1997 eingetretenen Änderungen. Das folgt aus der Rechtskraft der Beschlüsse von Landesarbeitsgericht und Arbeitsgericht aus den Jahren 1980, 1992 und 1997, mit denen jeweils auf die Feststellung der Tarifunfähigkeit der DHV gerichtete Anträge wegen der entgegenstehenden Rechtskraft einer Vorentscheidung als unzulässig abgewiesen worden sind. Aufgrund dieser Prozessentscheidungen steht die Identität der jeweiligen Verfahrensgegenstände mit dem der arbeitsgerichtlichen Erstentscheidung vom 10. Dezember 1956 rechtskräftig fest. Die Rechtskraft umfasst die Beurteilung, dass im jeweiligen Zeitpunkt der Prozessbeschlüsse keine wesentlichen Änderungen eingetreten sind, welche eine Rechtskraftbeendigung der Sachentscheidung über die Tariffähigkeit der DHV rechtfertigen. Die Rechtskraft vornehmlich des letzten Beschlusses des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 18. Februar 1997 verbietet es, dies in einem nachfolgenden Verfahren erneut zu prüfen.
45
(2) Die Beurteilung der rechtlichen Eigenschaft der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung ist – neben anderen Umständen – davon abhängig, welchen selbst gewählten Organisationsbereich sie abdeckt. Das bestimmt sich nach der jeweiligen Satzung der Arbeitnehmervereinigung. Dass eine Satzung „an sich“ in ihrer den Verfahrensgegenstand mitbestimmenden Fassung maßgebend für die festzustellende Tariffähigkeit ist, hat auch das Arbeitsgericht Hamburg in der Entscheidung vom 10. Dezember 1956 nicht anders gesehen. Dieser Umstand hat sich mit der Satzung 2014 nach der letzten Prozessentscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamburg 1997, mit der eine Identität der Verfahrensgegenstände auf der Grundlage der Satzung 1994 (die in den hier interessierenden Teilen der Satzung 1972 entsprach) bejaht worden ist, wesentlich geändert.
46
(a) Nicht jede, sondern nur erhebliche Satzungsänderungen vermögen eine Änderung des Lebenssachverhalts zu bewirken. Im Interesse des Rechtsfriedens und in Ansehung der Koalitionsbetätigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG darf einer Arbeitnehmervereinigung, deren Tariffähigkeit im Kontext zu einer bestimmten Satzung rechtskräftig festgestellt worden ist, keine Änderung der satzungsgemäß festgelegten Tätigkeitsbereiche dadurch erschwert werden, dass sie mit jeder Satzungsänderung eine erneute materiell-rechtliche Prüfung ihrer Tariffähigkeit – auf einen entsprechenden Antrag der nach § 97 Abs. 1 ArbGG Antragsberechtigten – zu gewärtigen hätte.
47
(b) Allerdings haben in die Bewertung einer erheblichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse für die hier streitbefangene Frage der Tariffähigkeit entgegen der Auffassung des CGB und der DHV nicht bloße quantitative Daten im Sinn eines mengenmäßigen Vergleichs der Organisationsgrade im früher und im nunmehr beanspruchten Zuständigkeitsbereich einzufließen. Diese Argumentation vernachlässigt, dass sich die Rechtsfolge der Tariffähigkeit ua. danach bestimmt, ob in einem nicht unbeachtlichen Zuständigkeitsbereich einer Arbeitnehmervereinigung deren ausreichende Durchsetzungsfähigkeit festgestellt werden kann. Außerdem kommt es nicht darauf an, ob die geänderte Tatsachengrundlage eine andere rechtliche Bewertung als die in einer rechtskräftigen Vorentscheidung getroffene trägt.
48
(c) Ausgehend von einem Vergleich der für das Landesarbeitsgericht Hamburg bei seiner Prozessentscheidung vom 18. Februar 1997 geltenden Satzung 1994 und der den hiesigen Verfahrensgegenstand mitbestimmenden Satzung 2014 liegt eine gewichtige Änderung der Tatsachengrundlage vor. Während die DHV seinerzeit eine Mitgliedschaft und damit ihre Zuständigkeit strikt berufsgruppenbezogen – nämlich für Angestellte im Handel, in der Industrie und dem privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich sowie die zu einem Angestelltenberuf Auszubildenden und Berufsanwärter (Jugendmitglieder) ohne Beschränkung auf eine bestimmte Branche – definiert hat, reklamiert sie nach der Satzung 2014 eine Kombination ganz unterschiedlicher Zuständigkeiten, die zum einen näher beschriebene Wirtschaftszweige oder Teile davon umfasst (§ 2 Nr. 1 Satzung 2014) und zum anderen für bestimmte Arbeitgeber weiterhin ausschließlich berufsgruppenbezogen beschrieben ist (§ 2 Nr. 2 Satzung 2014). Damit setzt sich der Kreis der organisierten Arbeitnehmer auf der Grundlage der Satzung 2014 gegenüber demjenigen der Satzung 1994 erheblich anders zusammen. Es ist zwar zutreffend, dass – wie die DHV selbst argumentiert und in der Präambel ihrer Satzung 2014 auch verlautbart ist – die Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern bzw. gewerblichen Arbeitnehmern (als Statusbeschreibung des Beschäftigungsverhältnisses) auf der Grundlage historischer und rechtlicher Entwicklungen überholt ist. Daraus folgt aber kein rechtliches Gebot, die personelle Zuständigkeit auch auf gewerbliche Arbeitnehmer zu erstrecken. Eine solche Entscheidung obliegt der freien, durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Entscheidung einer Arbeitnehmerorganisation. In Ausübung dieses Freiheitsrechts beansprucht die DHV im Vergleich zu ihrer Satzung 1994 nunmehr auch eine Kompetenz für eine weitere Gruppe von Arbeitnehmern, die sie vormals gerade nicht organisiert hat. Die DHV hat insoweit nicht lediglich die Entwicklung der Aufgabe der tradierten Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern oder gewerblichen Arbeitnehmern nachvollzogen oder Zuständigkeiten präzisiert. Sie hat diese vielmehr grundsätzlich neu gefasst. Das drückt sich nicht zuletzt – ohne dass es hierauf ausschlaggebend ankäme – in ihrer Bezeichnung aus (bis zur im Oktober 2006 beschlossenen Namensänderung: „DHV – Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband e.V.“; danach „DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V.“). Aufgrund der satzungsmäßigen Ausrichtung des Organisationsbereichs liegt ein gänzlich anderer Sachverhalt vor als derjenige, der die Antragsabweisung als unzulässig durch das Landesarbeitsgericht Hamburg am 18. Februar 1997 trägt.
49
g) Stehen somit nach dem materiell-rechtlichen Verfahrensgegenstand die Vorentscheidungen einer hiesigen Sachentscheidung nicht entgegen, kommt es auf die subjektiven Grenzen der Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidungen sowie darauf, dass in diesen nicht alle der hiesigen Beteiligten angehört worden sind, ungeachtet der bei § 97 ArbGG zu beachtenden erga-omnes-Wirkung nicht an.
50
IV. Das Landesarbeitsgericht ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, die DHV sei tariffähig und der Antrag daher unbegründet. Auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen kann der Senat nicht abschließend über den Antrag befinden.
51
1. Weder der Begriff der Tariffähigkeit noch die Anforderungen, die hierfür zu stellen sind, sind gesetzlich geregelt. § 2 Abs. 1 TVG bestimmt den Begriff der tariffähigen Arbeitnehmerkoalition (Gewerkschaft) nicht, sondern setzt ihn voraus. Die Regelung in A III 2 des Staatsvertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 und dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze, die nahezu wortgleich den von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen entspricht, stellt ebenfalls keine gesetzliche Normierung der an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung zu stellenden Voraussetzungen dar. Sie hat zwar durch das Zustimmungsgesetz des Bundestags vom 25. Juni 1990 (BGBl. II S. 518) Aufnahme in den Willen des Gesetzgebers gefunden. Materielles Gesetz ist sie dadurch aber nicht geworden. Es ist daher Aufgabe der Gerichte für Arbeitssachen, im Rahmen der an sie herangetragenen Streitigkeit den unbestimmten Rechtsbegriff durch Auslegung im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG auszufüllen (vgl. zur Tariffähigkeit als „ein von der Rechtsprechung entwickeltes tarifvertragliches Instrument“ BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 164, BVerfGE 146, 71) und dabei die im Zustimmungsgesetz vom 25. Juni 1990 zum Ausdruck gekommene Willensbekundung der Gesetzgebungsorgane der Bundesrepublik Deutschland zu beachten (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 36, BAGE 117, 308).
52
2. Nach der Rechtsprechung des Senats muss eine Arbeitnehmervereinigung bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllen, um tariffähig zu sein.
53
a) Die Koalition muss sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt haben und willens sein, Tarifverträge zu schließen (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 29, BAGE 136, 1).
54
b) Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen. Darüber hinaus muss sie über Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler und über eine leistungsfähige Organisation verfügen (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 30, BAGE 136, 1).
55
aa) Das Erfordernis der Gegnerunabhängigkeit ist nicht im formalen, sondern im materiellen Sinn zu verstehen. Es soll sicherstellen, dass die Vereinigung durch ihre koalitionsmäßige Betätigung zu einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens beitragen kann. Die erforderliche Gegnerunabhängigkeit fehlt, wenn die Abhängigkeit vom sozialen Gegenspieler in der Struktur der Arbeitnehmervereinigung angelegt und verstetigt und die eigenständige Interessenwahrnehmung der Tarifvertragspartei durch personelle Verflechtungen, auf organisatorischem Weg oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft gefährdet ist (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 31, BAGE 136, 1).
56
bb) Eine tariffähige Arbeitnehmervereinigung muss sozial mächtig und von ihrem organisatorischen Aufbau her in der Lage sein, die ihr gestellten Aufgaben einer Tarifvertragspartei zu erfüllen (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 32, BAGE 136, 1).
57
(1) Tariffähig ist nur diejenige Vereinigung, die ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und also eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweist. Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht aus (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 164, BVerfGE 146, 71). Der einer Arbeitnehmerkoalition obliegenden Mitwirkung am Zustandekommen eines angemessenen, sozial befriedenden Interessenausgleichs kann diese nur sachgerecht nachkommen, wenn sie auf die Arbeitgeberseite zumindest so viel Druck ausüben kann, dass diese sich veranlasst sieht, sich auf Verhandlungen über tarifvertraglich regelbare Arbeitsbedingungen einzulassen (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 32, BAGE 136, 1; 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 39, BAGE 117, 308).
58
(2) Von ihrem organisatorischen Aufbau her muss eine Gewerkschaft in der Lage sein, die ihr gestellten Aufgaben in ihrem selbst gewählten Zuständigkeitsbereich zu erfüllen. Maßgebend sind auch insoweit die Umstände des Einzelfalls (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 53, BAGE 117, 308).
59
(3) Dafür genügt, dass die Arbeitnehmervereinigung Durchsetzungskraft und organisatorische Leistungsfähigkeit in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil des beanspruchten Zuständigkeitsbereichs besitzt. Es gibt keine partielle, auf bestimmte Regionen, Berufskreise oder Branchen beschränkte Tariffähigkeit. Die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich ist einheitlich und unteilbar (ausf. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 56 ff., BAGE 117, 308). Danach kann einer Arbeitnehmervereinigung einerseits die Tariffähigkeit insgesamt nicht versagt werden, wenn die Durchsetzungskraft oder die organisatorische Leistungsfähigkeit in irgendeinem Teilbereich fehlt, während sie andererseits nicht festgestellt werden kann, wenn sie nur in irgendeinem Teilbereich ihrer Tarifzuständigkeit über eine Durchsetzungskraft verfügt (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 81, BAGE 136, 302).
60
(4) Die anhand von Indizien nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO festzustellende hinreichende Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung wird regelmäßig durch die Zahl ihrer Mitglieder vermittelt (ausf. BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 38 ff., BAGE 136, 1; 6. Juni 2000 – 1 ABR 10/99 – zu B II 1 der Gründe, BAGE 95, 36; 16. Januar 1990 – 1 ABR 10/89 – zu B II 2 der Gründe, BAGE 64, 16; 25. November 1986 – 1 ABR 22/85 – zu B II 3 a der Gründe, BAGE 53, 347). Dabei ist die Organisationsstärke im Verhältnis zu dem von der Arbeitnehmerkoalition selbst gewählten räumlichen und fachlichen Organisationsbereich zu bewerten. In diesem muss sie sich gegenüber der Arbeitgeberseite – vermittelt durch ihre Mitgliederstärke – durchsetzen können. Bei einer nur kleinen Zahl von Mitgliedern kann sich die Möglichkeit einer Arbeitnehmervereinigung, empfindlichen Druck auf den sozialen Gegenspieler auszuüben, daraus ergeben, dass es sich bei den organisierten Arbeitnehmern um solche in Schlüsselstellungen handelt, die von der Arbeitgeberseite im Falle eines Arbeitskampfs kurzfristig überhaupt nicht oder nur schwer ersetzt werden können (vgl. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 64 f., BAGE 117, 308). Verbleiben danach Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit und organisatorischen Leistungsfähigkeit, können diese ausnahmsweise bei einer langjährig am Tarifgeschehen teilnehmenden Arbeitnehmervereinigung indiziert sein, wenn diese bereits in nennenswertem Umfang Tarifverträge innerhalb ihrer satzungsmäßigen Zuständigkeit abgeschlossen hat (vgl. BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 40, BAGE 136, 1). Gemeinsam mit einer anderen Arbeitnehmervereinigung geschlossene Tarifverträge haben keine solche Indizwirkung (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 41, 55, aaO). Das gilt auch für Verträge mit dem sozialen Gegenspieler, die ohne satzungsvermittelte Zuständigkeit geschlossen worden sind.
61
(5) An dem Erfordernis einer Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit als Voraussetzung der Teilnahme an der tarifvertraglichen Regelung von Arbeitsbedingungen haben weder das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (Mindestlohngesetz – MiLoG -) vom 11. August 2014 (BGBl. I S. 1348) in der zuletzt durch Art. 2 Abs. 4 des Gesetzes zur Einführung eines Wettbewerbsregisters und zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 18. Juli 2017 geänderten Fassung (BGBl. I S. 2739) noch das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Tarifeinheitsgesetz – TEG – BGBl. I S. 1130) etwas geändert. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist im Hinblick auf diese Gesetze auch nicht der Maßstab der Prüfung der sozialen Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung zugunsten einer – wie auch immer verfassten und vom Landesarbeitsgericht nicht näher begründeten – „Bagatellkontrolle“ relativiert.
62
(a) Die Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition sichern die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und sind gemessen an diesem Regelungsziel verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (ausf. BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 33 bis 37, BAGE 136, 1; 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 37 bis 54, BAGE 117, 308). Das gilt insbesondere für das Erfordernis der Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit. Funktionsfähig ist die Tarifautonomie nur, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht – Parität – besteht. Die Vermutung der Richtigkeit des zwischen den Tarifvertragsparteien Ausgehandelten greift nur unter diesen Voraussetzungen (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 146 mwN, BVerfGE 146, 71). Parität zwischen den Tarifvertragsparteien als Funktionsbedingung für die Tarifautonomie setzt Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler voraus (vgl. auch BVerfG 24. Februar 1999 – 1 BvR 123/93 – zu B II 2 b bb der Gründe, BVerfGE 100, 214).
63
(b) Außerdem ist dort, wo der Gesetzgeber seine normativen Regelungskompetenzen zur Gestaltung von Arbeitsbedingungen wahrnimmt, die mittels der Tarifautonomie herzustellende sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens Grundlage seiner geübten – und im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG auch gebotenen (vgl. BVerfG 29. Dezember 2004 – 1 BvR 2283, 2504, 2582/03 – zu C II 3 b bb (2) (d) der Gründe; Engels in Henssler/Moll/Bepler Der Tarifvertrag 2. Aufl. Teil 1 Rn. 54 bis 57) – Praxis, den Tarifvertragsparteien Regelungsbefugnisse zuzuweisen, die aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes den Arbeitsvertragsparteien versagt sind. Zwingende Arbeitsschutzgesetze enthalten häufig Bestimmungen, die es den Tarifvertragsparteien gestatten, von der gesetzlichen Regelung zu Lasten der Arbeitnehmer abzuweichen (vgl. etwa § 8 Abs. 4 Satz 3 und Satz 4, § 12 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2, § 13 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2, § 14 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 TzBfG, § 4 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 EFZG, § 13 Abs. 1 BurlG; aus der jüngeren gesetzgeberischen Praxis vgl. § 1 Abs. 1b Satz 3 und Satz 4, § 8 Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 AÜG). Dabei wird auch dann, wenn die Arbeitnehmer nicht der tarifschließenden Gewerkschaft angehören und deshalb die Tarifnormen für sie nicht unmittelbar und zwingend gelten, die Möglichkeit eröffnet, die für die Arbeitnehmer günstigere gesetzliche Regelung arbeitsvertraglich durch eine ungünstigere tarifvertragliche Regelung zu ersetzen. Diese kann sich daher auch zum Nachteil nicht tarifgebundener Arbeitnehmer auswirken (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 46, BAGE 117, 308). Im Übrigen bestehen ua. nach §§ 7, 12 ArbZG weitreichende Möglichkeiten für Tarifvertragsparteien, von gesetzlichen Standards zur Flexibilisierung und Anpassung an die Bedürfnisse vor Ort abzuweichen. Diese gesetzlichen Konzeptionen beruhen auf der Annahme, dass Tarifverträgen eine materielle Richtigkeitsgewähr zukommt. Aufgrund des Verhandlungsgleichgewichts der Tarifvertragsparteien ist davon auszugehen, dass die vereinbarten tariflichen Regelungen den Interessen beider Seiten gerecht werden und keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht vermitteln (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 47, aaO; vgl. etwa zum TzBfG 15. August 2012 – 7 AZR 184/11 – Rn. 27, BAGE 143, 10). Mit den Anforderungen an die Tariffähigkeit im Sinn einer sozialen Mächtigkeit und organisatorischen Leistungsfähigkeit ist sichergestellt, dass angemessene Verhandlungsergebnisse erzielt werden (vgl. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 47, aaO; Greiner NZA 2018, 563).
64
(c) Es dürfen zwar im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG an die Tariffähigkeit keine Anforderungen gestellt werden, die diese unverhältnismäßig einschränken (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 39, BAGE 117, 308). Gegenüber den die Einschränkung der Betätigungsfreiheit einer Arbeitnehmervereinigung rechtfertigenden, paritätssichernden Anforderungen der Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit stellen das MiLoG und das TEG aber nicht nur keine milderen, sondern bereits keine geeigneten Mittel dar. Sie sind weder nach ihrem vom Gesetzgeber intendierten Sinn und Zweck noch nach ihren Regelungsinhalten oder Wirkmechanismen gleichwertig.
65
(aa) Die Regelungen des MiLoG beschränken die Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien nicht. Der Mindestlohnanspruch aus § 1 Abs. 1 MiLoG ist ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt. § 3 MiLoG führt bei Unterschreiten des gesetzlichen Mindestlohns zu einem Differenzanspruch (BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 16, BAGE 157, 356). Das gilt auch bei einem tariflich festgelegten Entgelt, das den gesetzlichen Mindestlohn unterschreitet. Ein entsprechender Tarifvertrag wäre nicht unwirksam. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nach der Begründung des Gesetzesentwurfs (BT-Drucks. 18/1558 S. 28) nicht darauf gezielt, einen umfassenden Schutz der Arbeitnehmer sicherzustellen. Vielmehr kann und soll der allgemeine Mindestlohn lediglich verhindern, dass diese zu Entgelten beschäftigt werden, die jedenfalls unangemessen sind und den in Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden elementaren Gerechtigkeitsanforderungen nicht genügen. Zu sonstigen Arbeitsbedingungen verhält sich das MiLoG nicht. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite bleiben dazu angehalten, über die Organisation in Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und den Abschluss von Tarifverträgen eine angemessene Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem von den Unternehmen Erwirtschafteten zu erreichen (BT-Drucks. 18/1558 S. 28). Damit ist nach wie vor ein annähernd gleichgewichtiges Handeln der Tarifpartner auf der Basis einer hinreichenden Durchsetzungsfähigkeit der Arbeitnehmerkoalition im Interesse der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und zu ihrer Gewährleistung zu verlangen.
66
(bb) Auch der nicht näher ausgeführte Hinweis des Landesarbeitsgerichts auf das TEG geht fehl.
67
(aaa) Mit dem TEG ist nicht das Verhältnis der sozialen Gegenspieler als Tarifvertragsparteien zueinander gestaltet, sondern das der tariffähigen Arbeitnehmervereinigungen untereinander. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs wird weder das Entstehen tarifpluraler Situationen verhindert, noch werden bestehende Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifpartner beschränkt. Der Grundsatz der Tarifeinheit greift nur subsidiär, wenn eine autonome Verständigung der Gewerkschaften untereinander nicht gelingt (BT-Drucks. 18/4062 S. 12). Einen Gestaltungswillen hinsichtlich der Tariffähigkeitsvoraussetzungen hatte der Gesetzgeber nicht. Vielmehr stellt die Gesetzesbegründung ausdrücklich klar, dass „[t]ariffähige Gewerkschaften … weiterhin nicht nur frei gebildet, gegnerfrei und gegnerunabhängig sein“ müssen, „das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich“ anzuerkennen haben, „in der Regel auch auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein“ müssen und „[f]erner … in der Lage sein“ müssen, „durch Ausüben von Druck auf den Tarifpartner zu einem Tarifabschluss zu kommen“ (BT-Drucks. 18/4062 S. 12).
68
(bbb) In seiner Entscheidung zur teilweisen Unvereinbarkeit von § 4a TVG in der Fassung des TEG mit Art. 9 Abs. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht diese insoweit festgestellt, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden. Im Übrigen hat es die angegriffenen Regelungen des TEG mit konkreten Maßgaben für die Auslegung und Handhabung der einfachgesetzlichen Regelungen als verfassungsgemäß erachtet. Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). In ihr ist mit Blick auf die Tariffähigkeit als ein von der Rechtsprechung entwickeltes tarifvertragliches Instrument ausdrücklich angeführt, dass es die Regeln des TEG – gemessen an dessen Regelungszweck – nicht zu ersetzen vermag (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 164, BVerfGE 146, 71).
69
(ccc) Das Kriterium der Durchsetzungsfähigkeit als Tariffähigkeitsmerkmal ist auch im Hinblick auf die Gestaltung der die Tarifeinheit sichernden Verdrängungswirkung nach § 4a TVG – nach wie vor – geboten. Eine nicht durchsetzungsstarke Organisation ist nicht zwingend die mitgliederschwächste Arbeitnehmerorganisation im Betrieb, zumal es dabei auf absolute Zahlen und nicht einmal auf ein repräsentatives Quorum ankommt. Darüber hinaus bewirkt die Tarifkollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG in seiner vom Bundesverfassungsgericht mit Gesetzeskraft versehenen Maßgabenfassung zwar eine Verdrängung der normativen Wirkung des Minderheitstarifvertrags. Diese Verdrängungswirkung ist aber bereits nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung mehrfach beschränkt (dazu BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 146, BVerfGE 146, 71). Auch bleibt nach dem betriebsbezogenen Konzept des Gesetzgebers ein in einem Betrieb verdrängter Tarifvertrag in anderen Betrieben anwendbar (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 185, aaO). Außerdem ist die Regelung des § 4a TVG in der gebotenen Auslegung tarifdispositiv (vgl. BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 146, aaO). Das im Interesse der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gebotene Erfordernis der Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung kann daher nicht mit der Begründung relativiert werden, der von einer nicht oder einer „weniger“ sozial mächtigen Arbeitnehmervereinigung geschlossene Tarifvertrag werde ohnehin durch den von einer durchsetzungsfähigen Arbeitnehmervereinigung geschlossenen Tarifvertrag verdrängt. Ein verdrängter Tarifvertrag ist zudem taugliches Objekt einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme (ErfK/Franzen 18. Aufl. § 4a TVG Rn. 17) und der vom Gesetzgeber insofern gestalteten Möglichkeiten einer Vereinbarung gesetzesunterschreitender Schutzstandards. Diese knüpfen an das Postulat einer Richtigkeitsgewähr für von Tarifvertragsparteien festgelegte Arbeitsbedingungen an, welches seinerseits eine hinreichende Verhandlungsstärke der Arbeitnehmervereinigung als Tarifvertragspartei unterstellt.
70
(ddd) Schließlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass mit dem TEG keine Modifizierung der Anforderungen an die Tariffähigkeit geboten ist. Es hat die normunmittelbare Verfassungsbeschwerde einer Koalition nicht zur Entscheidung angenommen, weil mangels substantiierter Ausführungen zu deren Tariffähigkeit nicht ersichtlich sei, dass sie von der Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG überhaupt erfasst werde (BVerfG 16. Juni 2016 – 1 BvR 2257/15 -).
71
3. Den Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung – und insbesondere dem Erfordernis deren hinreichender Durchsetzungs- und Leistungsfähigkeit – stehen weder unions- noch völkerrechtliche Vorgaben entgegen.
72
a) Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) ist nicht anwendbar. Nach dieser Vorschrift haben alle Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen. Allerdings ist der Geltungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet. Die Europäische Union hat gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV keine Kompetenz zur Regelung des Koalitionsrechts, Streikrechts sowie des Aussperrungsrechts. Gemäß Art. 51 Abs. 2 GRC dehnt die Grundrechtecharta den Geltungsbereich des Unionsrechts auch nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus. Sie begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union und ändert auch nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Eine Anwendungspflicht für Unionsrecht wird ebenso nicht durch Art. 6 Abs. 3 EUV eröffnet (ausf. BAG 20. November 2012 – 1 AZR 611/11 – Rn. 64 bis 67, BAGE 144, 1).
73
b) Entgegen der vor allem vom CGB angeführten konventionsrechtlichen Argumentation gebietet die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes (dazu zB BAG 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14 – Rn. 73, BAGE 155, 347) nicht, das Merkmal der sozialen Mächtigkeit als Anforderung an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung zu relativieren. Der mit Blick auf die Garantie der Koalitionsfreiheit aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sowie aus der Europäischen Sozialcharta erwachsende Schutz reicht nicht über das nach Art. 9 Abs. 3 GG Garantierte hinaus. Das gilt ebenso für Art. 22 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und Art. 8 Abs. 1a des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie für die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ausf. BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 206 ff., BVerfGE 146, 71).
74
4. Ausgehend von den Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung kann auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen die Tariffähigkeit der DHV weder bejaht noch verneint werden.
75
a) Die DHV hat sich nach § 3 ihrer Satzung 2014 ua. die Aufgabe gestellt, die Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer wahrzunehmen. Sie ist willens, Tarifverträge zu schließen. Des Weiteren ist sie nach der rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstandenden Würdigung des Landesarbeitsgerichts frei und auf überbetrieblicher Grundlage gebildet und erkennt das geltende Tarifrecht als verbindlich an. Entsprechendes gilt für eine Eigenständigkeit der DHV. Ebenso ist von ihrer Gegnerunabhängigkeit auszugehen. Das Beschwerdegericht hat der darauf bezogenen Bewertung weder einen unzutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt noch haben die Beteiligten zu 2. bis 4. und zu 10. die von ihnen erhobenen Verfahrensrügen ausdrücklich auf dieses Erfordernis für die Tariffähigkeit der DHV bezogen.
76
b) Hingegen tragen die vom Landesarbeitsgericht herangezogenen Daten – ca. 25.000 von der DHV seit 1950 geschlossene Tarifverträge sowie 70.000 bis 75.000 Mitglieder auf der Grundlage seiner Überzeugungsbildung im Ergebnis der Beweisaufnahme – nicht seine Wertung einer sozialen Mächtigkeit der DHV.
77
aa) Die Tariffähigkeit der DHV ist nicht allein maßgebend durch deren langjährige Teilnahme am Tarifgeschehen – dokumentiert in der Anzahl ihrer seit 1950 geschlossenen Tarifverträge – belegt.
78
(1) Ob eine Arbeitnehmervereinigung über eine hinreichende Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit verfügt, muss aufgrund aller Umstände im Einzelfall nach den Grundsätzen des § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO festgestellt werden (st. Rspr., vgl. BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 38 mwN, BAGE 136, 1). Dabei ist für die volle richterliche Überzeugungsbildung ausreichend, dass ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit erreicht ist, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen. Auf die soziale Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung lässt sich regelmäßig nur anhand von Hilfstatsachen schließen. Bei solchen hat ein Gericht zu prüfen, ob sie – deren Richtigkeit unterstellt – von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen. Das Tatsachengericht hat die insoweit maßgebenden Umstände vollständig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu ermitteln und alle Beweisanzeichen erschöpfend zu würdigen. Nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO hat es die wesentlichen Grundlagen seiner Überzeugungsbildung nachvollziehbar darzulegen. Dies erfordert keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit allen denkbaren Gesichtspunkten. Die Entscheidungsgründe müssen aber erkennen lassen, dass überhaupt eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (vgl. BAG 25. April 2018 – 2 AZR 611/17 – Rn. 24 mwN).
79
(2) Als Indiz für die hinreichende Durchsetzungskraft und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung kommt der Zahl ihrer Mitglieder – als Organisationsstärke im Verhältnis zu dem von ihr selbst gewählten räumlichen und fachlichen Organisationsbereich – in der Regel die entscheidende Bedeutung zu. Diese bestimmt die finanzielle Ausstattung der Arbeitnehmerkoalition und vor allem ihre Fähigkeit, hinreichenden Druck auf den sozialen Gegenspieler aufzubauen, um Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags ggf. zu erzwingen (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 39, BAGE 136, 1). Lässt der Organisationsgrad zur Überzeugung des Gerichts nicht auf eine hinreichende Durchsetzungsfähigkeit schließen, kann diese ausnahmsweise auch durch eine langjährige Teilnahme der Arbeitnehmervereinigung am Tarifgeschehen indiziert sein (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 40, aaO). Die eigene aktive und dauerhafte Beteiligung am Prozess der tariflichen Regelung von Arbeitsbedingungen im beanspruchten Zuständigkeitsbereich – oder in einem relevanten Teil davon – ist ein gewichtiger Beleg dafür, dass die Koalition von der Arbeitgeberseite wahr- und ernstgenommen wird (vgl. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 80 ff., BAGE 117, 308).
80
(3) Die privilegierte Berücksichtigung der indiziellen Wirkung bereits geschlossener Tarifverträge kommt in typisierender Weise aber nur bei einer Arbeitnehmervereinigung in Betracht, die sich trotz eines sehr geringen Organisationsgrades langjährig am Tarifgeschehen beteiligt und hierdurch unter Beweis gestellt hat, dass sie von der Arbeitgeberseite dennoch nicht ignoriert werden konnte. Eine Indizwirkung für die soziale Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung allein und ausschließlich aufgrund der Anzahl der von ihr in der Vergangenheit geschlossenen Tarifverträge – ohne jegliche Berücksichtigung von Mitgliederzahlen – scheidet aus. Eine solche Sichtweise verbietet sich, weil aus dem Umstand des Abschlusses von Tarifverträgen – für sich gesehen – nur bedingt Schlüsse für die Tariffähigkeit als Abschlussvoraussetzung gezogen werden können. Hiervon ist der Senat bereits in seiner Entscheidung zur Tariffähigkeit der Christlichen Gewerkschaft Metall ausgegangen (BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 65 ff. und vor allem Rn. 80 ff., BAGE 117, 308) und hat dies in seiner Entscheidung in dem die „Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung im Christlichen Gewerkschaftsbund“ betreffenden Verfahren nach § 97 ArbGG fortgeführt (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 38 ff., BAGE 136, 1).
81
(a) Die Annahme, dass bei einer langjährig am Tarifgeschehen beteiligten Arbeitnehmervereinigung deren Durchsetzungskraft gegenwarts- und zukunftsbezogen belegt ist, setzt ihrerseits voraus, dass es sich bei den in der Vergangenheit geschlossenen Tarifverträgen in nennenswerter Zahl um solche in einem von der Arbeitnehmerkoalition – jedenfalls im Wesentlichen – damals und nach wie vor beanspruchten Zuständigkeitsbereich handelt. Weil die Tariffähigkeit einheitlich und unteilbar ist (ausf. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 56 ff., BAGE 117, 308), ist es ausreichend, aber auch erforderlich, dass die bisherigen Tarifvertragsschlüsse einen für den gegenwärtig beanspruchten Organisationsbereich relevanten Teil betreffen. Nur insoweit kann davon ausgegangen werden, dass die Arbeitnehmervereinigung ein hinreichendes Gewicht besitzt, die Arbeitgeberseite zu Tarifvertragsverhandlungen und -abschlüssen zu veranlassen. Beansprucht eine langjährig in einem bestimmten Bereich am Tarifgeschehen beteiligte Arbeitnehmervereinigung nunmehr Zuständigkeiten in einem erheblich geänderten personellen, räumlichen und/oder fachlichen Zuständigkeitsbereich, der seinerseits für die Beurteilung ihrer Durchsetzungskraft und organisatorischen Leistungsfähigkeit von Bedeutung ist, ist die Zahl der im vormaligen anderen Zuständigkeitsbereich geschlossenen Tarifverträge nicht maßgebend. Der durch die Anzahl geschlossener Tarifverträge belegten Wahrnehmung der Koalition durch den sozialen Gegenspieler kommt dann auch im Hinblick auf eine im neuen Bereich ganz wesentlich anders zusammengesetzte Arbeitgeberseite von vornherein kein ausschlaggebendes Gewicht zu. Noch weniger vermittelt eine zuständigkeitsübersteigende Beteiligung am Prozess der tariflichen Regelung von Arbeitsbedingungen eine hinreichende Durchsetzungsmacht.
82
(b) Die Relativierung der Indizwirkung der bisherigen Teilnahme einer Arbeitnehmervereinigung am Tarifgeschehen im Fall einer erheblichen Änderung ihrer satzungsmäßigen Zuständigkeit beeinträchtigt nicht unverhältnismäßig deren durch Art. 9 Abs. 3 GG geschütztes Recht zur eigenverantwortlichen Festlegung desjenigen Bereichs, für den sie künftig bereit sein will, mit der Arbeitgeberseite die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu regeln. Erstreckt sie ihre bisherige Tarifzuständigkeit in einem erheblichen Maß auf Bereiche, in denen sie bisher – kraft eigenbestimmter Zuständigkeit – keine Arbeitnehmer organisieren konnte, liegt es an ihr, sich die Fähigkeit zu bewahren, auch für den erheblich geänderten Gesamtbereich in der Lage zu sein, tarifliche Regelungen auszuhandeln, die den Interessen beider Parteien gerecht werden.
83
(4) Gemessen daran kommt den seit 1950 von der DHV geschlossenen Tarifverträgen, die deren langjährige Beteiligung am Tarifgeschehen bekunden, keine privilegierte und damit ausschlaggebende Indizwirkung für ihre Tariffähigkeit zu. Die DHV hat Tarifverträge in wechselnden Zuständigkeiten und zudem signifikant außerhalb ihres Organisationsbereichs geschlossen.
84
(a) Nach ihrer Satzungshistorie fehlt es der DHV an der erforderlichen Homogenität und Kontinuität des selbst gewählten Tarifzuständigkeitsbereichs, die es rechtfertigen würde, in den seit 1950 geschlossenen Tarifverträgen ein erheblich tragfähiges Zeugnis ihrer gegenwärtigen sozialen Mächtigkeit zu sehen.
85
(aa) Entsprechend den – auch von ihr selbst angeführten – Regelungen in ihren am 8. Juni 1952, am 19. Juni 1954 und am 14. Januar 1956 beschlossenen Satzungen organisierte die DHV die Berufsgruppen der Kaufmannsgehilfen und der im öffentlichen Dienst tätigen Verwaltungsangestellten. Nach ihrer am 8./9. Oktober 1966 beschlossenen Satzung richtete sie sich an die Angestellten in den Handels-, Industrie- und Verkehrsunternehmen sowie die Verwaltungsangestellten. Nach der am 28./29. Oktober 1972 beschlossenen Satzung verstand sie sich als Gewerkschaft der Angestellten im Handel, in der Industrie und dem privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich. Nachdem diese Regelung durch nachfolgende Satzungsänderungen bis auf eine marginale redaktionelle Anpassung nicht modifiziert worden war, war mit der am 8./9. Juni 2002 beschlossenen Satzung (Satzung 2002) erstmals eine statusunabhängige berufsgruppenbezogene Ausrichtung festgelegt. So war in § 2 Abs. 1 Satzung 2002 bestimmt, dass die DHV eine „Gewerkschaft der Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen ist, die in der privaten Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst tätig sind“. In § 3 Abs. 2 Satzung 2002 war geregelt, dass „[z]ur Wahrung gewerkschaftlicher Belange … der Hauptvorstand auch Arbeitnehmer aus anderen Berufsgruppen aufnehmen und deren Interessen wahrnehmen“ kann. Nach ihrer am 28./29. Oktober 2006 beschlossenen Satzung (Satzung 2006) organisierte die DHV Arbeitnehmer „insbesondere in kaufmännischen und verwaltenden Berufen“; eine § 3 Abs. 2 Satzung 2002 entsprechende Bestimmung wurde beibehalten. Hierzu hat der Senat bereits ausgeführt, dass nach der bis zum Jahr 2006 geltenden Satzung der Organisationsbereich der DHV – nach ihrem historischen Selbstverständnis – auf die Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen beschränkt war, während mit der Satzung 2006 und Satzungsänderungen in der Folgezeit modifizierte personelle und fachliche Zuständigkeiten begründet werden sollten (vgl. BAG 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – Rn. 57, BAGE 141, 110).
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(bb) Entsprechend beansprucht die DHV nach ihren Satzungen 2012 und 2014 keine ausschließlich auf Arbeitnehmer in bestimmten Berufen bezogene Zuständigkeit (mehr) und hat insoweit ihr bisheriges Organisationsprinzip einer ausschließlichen berufsgruppenbezogenen Arbeitnehmerorganisation aufgegeben. Sie erstreckt ihren Organisationsbereich nunmehr auf Arbeitnehmer näher angeführter, gänzlich unterschiedlicher Wirtschaftszweige, Branchen und Bereiche. Selbst bei diesen beiden jüngeren Satzungen ergeben sich aber auch Wechsel in den selbst gegebenen Tarifzuständigkeiten. So ist im Gegensatz zur Satzung 2014 nach der Satzung 2012 der Bereich „Paritätischer Wohlfahrtsverband“ erfasst. Nach der Satzung 2012 ist eine Tarifzuständigkeit für (alle) „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen“ reklamiert, während sie nach der Satzung 2014 auf „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen bei kommunalen Arbeitgebern und bei Körperschaften des öffentlichen Rechts auf kommunaler Ebene“ gerichtet ist. Nach der Satzung 2012 beanspruchte die DHV eine Zuständigkeit auch für Leiharbeitnehmer in den von ihr angeführten Branchen; nach der Satzung 2014 tut sie das nicht.
87
(b) Auch hat die DHV in der Vergangenheit – nicht lediglich vereinzelt – satzungsübersteigende Tarifzuständigkeiten wahrgenommen. Ihre hierauf bezogene Teilnahme am Tarifgeschehen ist kein tauglicher Beleg ihrer Tariffähigkeit. Das betrifft die für Arbeitnehmer außerhalb der kaufmännischen und verwaltenden Berufe geschlossenen Tarifverträge während der Geltungsdauer der Satzung 2006 sowie der bis 9. Januar 2013 gültigen Satzungen (zu den entsprechend fehlenden Tarifzuständigkeiten vgl. ausf. BAG 10. Februar 2009 – 1 ABR 36/08 – BAGE 129, 322; 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – BAGE 141, 110 und 11. Juni 2013 – 1 ABR 32/12 – BAGE 145, 211). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die DHV in der Vergangenheit selbst damit argumentiert hat, sie könne je nach Fallgestaltung nicht einmal die Interessen der Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen wahrnehmen, wenn aus ihrer hierauf bezogenen Kompetenz keine – im Ergebnis vom Senat abgelehnte – Annex-Zuständigkeit für die Arbeitnehmer außerhalb dieser Berufe folgen würde (BAG 10. Februar 2009 – 1 ABR 36/08 – Rn. 11, BAGE 129, 322). Auch dies spricht dagegen, aus der vergangenheitsbezogenen Praxis der Tarifschlüsse gegenwartsbezogene Schlüsse auf eine Durchsetzungsfähigkeit der DHV zu ziehen.
88
bb) Es kommt damit für die Beurteilung der sozialen Mächtigkeit der DHV entscheidend auf die Zahl ihrer Mitglieder im selbst gewählten Organisationsbereich an. Entgegen der vom Beschwerdegericht getroffenen Würdigung hat die von ihm im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme herangezogene Zahl von 70.000 bis 75.000 Mitgliedern der DHV und ein „damit nachgewiesener Organisationsgrad“ keine indizielle Aussagekraft für die Durchsetzungsmacht der DHV. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Wertung schon einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt. Es kann daher auf sich beruhen, ob die mit den Rechtsbeschwerden gegen die beschwerdegerichtliche Feststellung und Überzeugungsbildung einer Mitgliederzahl von 70.000 bis 75.000 erhobenen Verfahrensrügen durchgreifen.
89
(1) Beim Anteil der Mitglieder der DHV in deren selbst gewähltem Organisationsbereich erschließt es sich bereits nach der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung nicht, ob es in seine Bewertung die von ihm als nachgewiesen angesehene Mitgliederzahl in ihrer numerisch-absoluten Größe einbezogen oder – wie es unerlässlich ist – in Relation zur beanspruchten Zuständigkeit gestellt hat. Soweit es in anderem Zusammenhang von einem Anteil der Mitgliederstärke der DHV von „ca. 1 % oder knapp darunter“ ausgegangen ist, lässt es den Bezugspunkt seiner Annahme nicht erkennen.
90
(2) Anders als bei der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Wertung hat in die Beurteilung einzufließen, dass sich die von der DHV nach ihrer Satzung 2014 beanspruchte Kompetenz auf sehr unterschiedliche Bereiche erstreckt. Kommt – wie vorliegend – bei der Prüfung der sozialen Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung deren langjährige Beteiligung am Prozess der tariflichen Regelung von Arbeitsbedingungen keine erhebliche Indizwirkung zu, bedingt bei einer unterschiedlichste Bereiche betreffenden Zuständigkeit das Postulat der Unteilbarkeit der Tariffähigkeit die Notwendigkeit einer Feststellung und Bewertung, welche dieser Bereiche den nicht nur unbeachtlichen Teil der reklamierten Zuständigkeit bilden. Nur die – sich im Organisationsgrad ausdrückende – Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil des von ihr beanspruchten Zuständigkeitsbereichs lässt im Normalfall erwarten, dass sich die Arbeitnehmerkoalition auch in den Bereichen, in denen es ihr an Durchsetzungskraft fehlt, beim Abschluss von Tarifverträgen nicht den Forderungen der Arbeitgeberseite unterwirft (vgl. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 57, BAGE 117, 308).
91
V. Der Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Die Sache ist zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
92
1. Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerden kann nicht davon ausgegangen werden, dass die DHV schon nach ihrer eigenen Angabe – wonach sie jedenfalls mit Stand 19. Januar 2016 73.451 Mitglieder in einem insgesamt 7,01 Mio. Beschäftigungsverhältnisse betreffenden Bereich organisiere – nicht tariffähig ist. Insoweit ist nicht ein „Gesamtorganisationsgrad“ von aufgerundet 1,05 vH ausschlaggebend, sondern die durch den Organisationsgrad ihrer Mitglieder in einem nicht unbedeutenden Teil der Zuständigkeit vermittelte Durchsetzungsfähigkeit. Es bedarf einer auf die voneinander abgegrenzten und abgrenzbaren Zuständigkeitsbereiche – die ihrerseits in ihrem Verhältnis zueinander zu bewerten sind – bezogenen Betrachtung. Nach der aufgrund der Satzung 2014 reklamierten Zuständigkeit setzt sich zwar der Kreis der Arbeitgeber(verbände) als sozialer Gegenspieler erheblich heterogen zusammen. Eine ggf. anzunehmende Durchsetzungsmacht der DHV in einem oder mehreren der von ihr beanspruchten Kompetenzbereiche erscheint daher nur bedingt aussagekräftig für andere Bereiche. Nach dem Prinzip der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit verbietet sich aber die Annahme, die ggf. durch die Mitgliederstärke der DHV in einem Bereich oder mehreren Bereichen vermittelte soziale Mächtigkeit könne nicht auch für ihre Durchsetzungsfähigkeit in einem anderen Bereich oder anderen Bereichen sprechen. Entscheidend ist, dass die soziale Mächtigkeit in einem nicht unbedeutenden Teil des nach der Satzung 2014 von der DHV beanspruchten Zuständigkeitsbereichs durch einen ausreichenden Organisationsgrad vermittelt ist. Dabei ist nicht generalisierend vorgegeben, welche relative Größe der (Teil-)Bereich einer mitgliedervermittelten Durchsetzungsfähigkeit im Verhältnis zum Gesamtzuständigkeitsbereich haben muss. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Versagung der Tariffähigkeit einen erheblichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit darstellt, ist eine grundrechtsfreundliche, eher großzügige Betrachtung geboten (vgl. BAG 28. März 2006 – 1 ABR 58/04 – Rn. 57, BAGE 117, 308). Allein auf die von der DHV als „Leuchttürme“ ihrer Tarifarbeit bezeichneten Bereiche (als solche hat die DHV den Rettungsdienstbereich [mit regional-eingeschränkten Bezug auf Sachsen und Thüringen], den Bereich von Rehabilitationskliniken [vornehmlich ein Träger entsprechender Kliniken] sowie – insoweit langjährig – den Banken-, Sparkassen-, Volks- und Raiffeisenbanken-, Versicherungsgewerbe- und Ersatzkassenbereich angeführt) kann es hingegen nicht ankommen, wenn sich diese als nur unbedeutende Teile des inhomogen gefassten Gesamtzuständigkeitsbereichs darstellen.
93
2. Das Landesarbeitsgericht hat demnach nicht nur die Zahl, sondern auch die Verteilung der Mitglieder der DHV auf ihre nach der Satzung 2014 reklamierten Zuständigkeitsteilbereiche und die sich daraus ergebenden Organisationsgrade festzustellen. Hieran hat es seine Bewertung auszurichten, ob der Mitgliederbestand in einem hinreichend beachtlichen Teil des Zuständigkeitsbereichs deren Durchsetzungsfähigkeit indiziert. Der DHV obliegt dabei wegen ihrer größeren Sachnähe eine gesteigerte Mitwirkungspflicht nach § 83 Abs. 1 Satz 2 ArbGG. Ihr wird nichts Unmögliches abverlangt. Wenn sie sich eine auf mehrere Branchen, Wirtschaftszweige und eine näher beschriebene Berufsgruppe gerichtete Zuständigkeit verleiht, muss erwartet werden, dass sie einen Überblick über ihre Fähigkeit hat, einen Verhandlungsdruck über ihre Mitglieder auf die jeweilige Gegenseite aufzubauen. Ist dies nicht der Fall, könnte dies eher gegen ihre Tariffähigkeit sprechen. Zudem dürfte davon auszugehen sein, dass die DHV bei Anträgen auf Begründung einer Mitgliedschaft prüft, ob hierfür die satzungsmäßigen Aufnahmevoraussetzungen erfüllt sind.
94
a) Die DHV kann sich im Bestreitensfalle aller prozessual zulässigen Beweismittel bedienen. Im Hinblick auf den Nachweis der Mitglieder ist die mittelbare Beweisführung der notariellen Erklärung nach § 58 Abs. 3 ArbGG möglich. Die Vorschrift ist, was sich schon aus ihrem Wortlaut („insbesondere“) ergibt, auch in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4, § 97 Abs. 1 ArbGG anwendbar. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Beurkundung eines notariellen Zählergebnisses – ungeachtet gebotener Zuordnungen und damit verbundener rechtlicher Bewertungen – in der praktischen Umsetzung aufwändig ist (vgl. zB Sammet/Graf Wolffskeel v. Reichenberg NZA 2017, 1167). Mit § 58 Abs. 3 ArbGG ist aber verfahrensrechtlich sichergestellt, dass eine Gewerkschaft ihre Mitglieder im Interesse deren verfassungsrechtlich geschützter Rechtsposition nach Art. 9 Abs. 3 GG sowie ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG nicht namentlich benennen muss. Ein Beweisführungsaufwand relativiert nicht die Notwendigkeit der Feststellung der durch eine Mitgliederstärke vermittelten Durchsetzungsfähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition. Hier gilt nichts anderes als bei der zur Auflösung von Tarifkollisionen gebotenen, auf einen Betrieb – gleich welcher Größe – bezogenen Mehrheitsfeststellung. Auch das Bundesverfassungsgericht hat der praktisch schwierigen Umsetzung eines Nachweises auf der Grundlage von § 58 Abs. 3 ArbGG keine grundrechteverletzende Relevanz beigemessen (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 199, BVerfGE 146, 71; vgl. auch Ulrici NZA 2017, 1161).
95
b) Bei der Feststellung des Organisationsgrades ist – soweit möglich – auf statistisches Material ein- und derselben Quelle zurückzugreifen. Bei den bisherigen Ausführungen der DHV fällt auf, dass sich deren Aufschlüsselung der Gesamtanzahl der Beschäftigungsverhältnisse in den einzelnen von ihr beanspruchten Organisationsbereichen aus unterschiedlichen Materialien speist. Die von ihr herangezogenen Statistiken und Materialien – zT Angaben der jeweils zuständigen Arbeitgeberverbände; zT Beschäftigungsstatistiken der Bundesagentur für Arbeit; zT (beim DRK und bei der AWO) im Internet publizierte Zahlen; zT vom Bundesministerium für Gesundheit und vom Statistischen Bundesamt veröffentlichte Zahlen – erfüllen ganz unterschiedliche Aufgaben und haben unterschiedliche Verwendungszwecke. Sie weisen daher auch methodische und konzeptionelle Unterschiede auf. Um Verzerrungen weitgehend auszuschließen, ist es geboten, auf ein- und dasselbe Repräsentativmaterial zurückzugreifen. Liegt solches nicht vor, muss bei der Hinzuziehung weiteren statistischen Materials dessen Vergleichbarkeit in die Tatsachenwürdigung einfließen.
96
c) Bei der Überzeugungsbildung vom Organisationsgrad der Mitglieder der DHV in einem nicht unbeachtlichen Bereich der von ihr insgesamt beanspruchten Zuständigkeit darf und muss sich das Beschwerdegericht – wie bereits ausgeführt – mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese völlig auszuschließen. Es hat allerdings nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Anhörung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob es eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr erachtet (vgl. auch BGH 5. Oktober 2017 – I ZR 229/16 – Rn. 36). Insoweit verweisen die Rechtsbeschwerden zutreffend – ohne dass es auf die Zulässigkeit und Begründetheit der entsprechenden Verfahrensrügen ankäme – darauf, dass sich die angefochtene Entscheidung mit wesentlichem Tatsachenvortrag der Antragsteller, welcher Rückschlüsse auf eine bedeutend geringere als die von der DHV angegebene Mitgliederstärke zulassen soll, nicht ansatzweise befasst hat. Das gilt insbesondere für die von den Beteiligten zu 1. und zu 8. vorgebrachten, mittels mathematischer Bewertungsmethode gezogenen Schlussfolgerungen aus der mit Mitgliedernummern versehenen Auflistung von Mandatsträgern der DHV, zu denen sich auch die DHV bereits schriftsätzlich erklärt hat.
97
3. Bei der dem Tatsachengericht vorbehaltenen Gesamtwürdigung der sozialen Mächtigkeit der DHV hat es die von dieser vorgebrachten, bei Betriebsrats-, Personalrats- und Aufsichtsratswahlen errungenen Mandate nicht zu berücksichtigen. Diese besagen nichts über die Verbandsmacht der DHV (für Betriebsratsmandate vgl. BAG 14. März 1978 – 1 ABR 2/76 – zu III 6 der Gründe), welche sich nicht betriebs- oder dienststellenbezogen bemisst und angesichts der Satzung 2014 nicht unternehmensbezogen determiniert ist. Der Verweis auf die Berufung von Mitgliedern der DHV zu ehrenamtlichen Richtern in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit lässt Rückschlüsse auf die Tariffähigkeit schon deshalb nicht zu, weil hierfür vorschlagsberechtigt neben Gewerkschaften auch selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung sind (§ 20 Abs. 2 ArbGG; § 14 Abs. 1 Satz 2 SGG). Ebenso geben die Mitgliedschaften der DHV in der europäischen Organisation CESI „Confédération Européenne des Syndicats Indépendants“ (Union unabhängiger Gewerkschaften) und der Weltorganisation der Arbeitnehmer (WOW – World Organization of Workers) für die nach nationalem Recht zu entscheidende Frage, ob sie eine tariffähige Arbeitnehmerkoalition ist, nichts her. Keine Aussagekraft über die Tariffähigkeit hat schließlich die von der DHV vorgebrachte Anerkennung ihrer Gewerkschaftseigenschaft durch Vertreter oder Repräsentanten von Regierungen und Parteien. Die Tariffähigkeit muss tatsächlich vorliegen. Subjektive Einschätzungen oder politische Anerkennungen sind ohne Bedeutung.
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4. Verfügt die DHV über eine in der Mitgliederstärke ausgedrückte hinreichende Durchsetzungsfähigkeit, ist eine nähere Aufklärung zu ihrer personellen und organisatorischen Ausstattung nicht veranlasst. Ausgehend von den unstreitigen Angaben kann der DHV ein hinreichender organisatorischer Aufbau, der sie befähigt, die Aufgaben einer Gewerkschaft in ihrem Organisationsbereich wahrzunehmen, nicht abgesprochen werden. Die auf alle neun Landesverbände bezogene personelle Ausstattung (13 hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre, 18 Büro- und Verwaltungskräfte, neun Mitarbeiter der kaufmännischen Bildungseinrichtungen, je nach Arbeitsanfall bis zu zwölf Honorarkräfte) ist zwar marginal. Immerhin aber hat die DHV geltend gemacht, auf weiteres ehrenamtliches Personal und bei der Besetzung der Tarifkommissionen auf etwa 500 Mitglieder mit besonderer Sach-, Branchen- und Marktkenntnis zurückzugreifen. Das Koalitionsbetätigungsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst die Freiheit, die von einer Gewerkschaft zur Erfüllung ihrer Aufgaben vorgehaltene apparative und personelle Ausstattung auf ein absolutes Mindestmaß zu beschränken. Das gilt jedenfalls, wenn – wie vorliegend – keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die anfallenden gewerkschaftlichen Aufgaben unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr bewältigbar wären.
99
VI. Das Verfahren war nicht im Hinblick auf die Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union auszusetzen.
100
1. Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
101
a) Soweit nach Anregung der DHV und des CGB die höchstrichterlichen Grundsätze zu den Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle iSd. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG sein sollen, verkennt dies von vornherein Sinn und Zweck des entsprechenden Verfahrens. Die Vorlagepflicht der Fachgerichte nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG besteht nur dann, wenn es sich bei der zur Nachprüfung gestellten entscheidungserheblichen Norm um ein formelles Gesetz handelt (BVerfG 27. September 2005 – 2 BvL 11/02, 2 BvL 12/03, 2 BvL 13/02 – zu II 1 a der Gründe, BVerfGE 114, 303). Akte der Rechtsprechung sind kein zulässiger Gegenstand einer Normenkontrolle (vgl. Schwab/Weth/Kerwer ArbGG 5. Aufl. Arbeitsrechtliche Verfahren vor dem BVerfG und dem EuGH Rn. 69). Nichts Anderes gilt, wenn die Rechtsprechung – wie im Fall der Anforderungen an die Tariffähigkeit – nicht auf einer Anwendung und Auslegung einfachgesetzlicher Vorgaben beruht, sondern verfassungsrechtlich – hier aus Art. 9 Abs. 3 GG – determiniert ist. Denn auch ein schlichtes gesetzgeberisches Unterlassen – hier bezogen auf ein Absehen von normativen Festlegungen der Voraussetzungen für eine Tariffähigkeit von Arbeitnehmervereinigungen – kann nicht Gegenstand einer Vorlage sein (vgl. BVerfG 16. Januar 2013 – 1 BvR 2004/10 – Rn. 21).
102
b) Das einfach-gesetzlich in § 97 iVm. § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG geregelte Verfahren zur Feststellung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung und konkret die nach § 97 Abs. 1 ArbGG eröffnete Antragsbefugnis ua. einer räumlich und sachlich zuständigen Vereinigung von Arbeitnehmern sowie der obersten Arbeitsbehörde des Bundes oder der eines Landes, auf dessen Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt, ist nicht aus Verfassungsgründen zu beanstanden.
103
aa) Die Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG dienen der Sicherung der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Tarifautonomie (BAG 11. Juni 2013 – 1 ABR 32/12 – Rn. 19, BAGE 145, 211). Da der Gesetzgeber davon abgesehen hat, die Voraussetzungen ua. der Tariffähigkeit zu normieren, kann jede Arbeitnehmervereinigung ohne Zulassung am Tarifgeschehen teilnehmen und für ihre Mitglieder Vereinbarungen schließen, die für sich die Geltung als Tarifvertrag beanspruchen. Im Interesse einer funktionierenden Tarifautonomie bildet das Verfahren nach § 97 iVm. § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG hierzu das notwendige Korrektiv (GK-ArbGG/Ahrendt Stand November 2014 § 97 Rn. 4). Dabei ist die Befugnis zur Verfahrenseinleitung mit § 97 Abs. 1 ArbGG originär den in der Vorschrift genannten Vereinigungen und Stellen verliehen. Entsprechend dem Zweck des Verfahrens, der Klärung der Tariffähigkeit oder -zuständigkeit einer Vereinigung, sollen die in § 97 Abs. 1 ArbGG benannten Vereinigungen und Stellen zur Verfahrenseinleitung berechtigt sein. Damit ist weder – im Hinblick auf die Antragsbefugnis einer Arbeitnehmervereinigung – eine koalitionsfreiheitsbeschränkende Verdrängung durch die Konkurrenzorganisation gestaltet noch – im Hinblick auf die Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörden – eine staatliche Aufsicht über Arbeitnehmerkoalitionen kodifiziert. Über die für die Ordnung des Arbeitslebens bedeutsamen Eigenschaften der Tariffähigkeit und -zuständigkeit soll gerade nur in einem objektivierten Gerichtsverfahren, in dem die jeweils beteiligten Stellen zu hören sind, einheitlich mit Wirkung für und gegenüber jedermann entschieden werden.
104
bb) Die Antragsbefugnis der in § 97 Abs. 1 ArbGG genannten behördlichen Stellen ist zudem vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Tätigkeit einer Arbeitnehmervereinigung deren Interessen berühren kann, wovon der Gesetzgeber bei der obersten Arbeitsbehörde des Bundes stets und bei den obersten Arbeitsbehörden der Länder dann ausgeht, wenn die Tätigkeit der Koalition, deren Tariffähigkeit oder -zuständigkeit umstritten ist, sich auf das räumliche Gebiet des jeweiligen Bundeslandes erstreckt. Das Interesse folgt aus dem Umstand, dass eine Vielzahl zwingender Gesetzesbestimmungen tarifdispositiv ausgestaltet ist und der Gesetzgeber die von ihm gesetzte Regelung zurücktreten lässt, soweit eine tarifvertragliche Regelung gilt (vgl. allg. auch etwa Staudinger/Richardi/Fischinger (2016) BGB § 611 Rn. 758; Wiedemann/Wiedemann 7. Aufl. 2007 TVG Einl. 378 ff.). Dem tarifdispositiven Gesetzesrecht ist immanent, dass eine Abweichung von gesetzlichen Standards zu Lasten der Arbeitnehmer nur durch Tarifvertrag gestattet ist. Ein solcher setzt Tariffähigkeit der ihn schließenden Parteien voraus. Die Klärung dieser Eigenschaft ist für den Gesetzgeber – repräsentiert von den typischerweise zuständigen Ressortbehörden – von Belang.
105
2. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV ist nicht geboten. Es fehlt an einem Anknüpfungspunkt an das Unionsrecht.
106
a) Eine Vorlagepflicht des Senats als national letztinstanzlichem Gericht besteht nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV, wenn sich in dem Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, diese entscheidungserheblich ist und nicht bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war (acte éclairé) und wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (EuGH 15. September 2005 – C-495/03 – [Intermodal Transports] Rn. 33, Slg. 2005, I-8151). Unterfällt ein Sachverhalt nicht dem Unionsrecht und geht es auch nicht um die Anwendung nationaler Regelungen, mit denen Unionsrecht durchgeführt wird, ist der Gerichtshof nicht zuständig (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 98, BAGE 156, 213). Dessen Zuständigkeit beschränkt sich auf die Prüfung der Bestimmungen des Unionsrechts (EuGH 1. März 2011 – C-457/09 – [Chartry] Rn. 21 ff., Slg. 2011, I-819; BAG 8. Dezember 2011 – 6 AZN 1371/11 – Rn. 9 mwN, BAGE 140, 76). Als Anknüpfungspunkt kommt grundsätzlich das gesamte unionsrechtliche Primär- und Sekundärrecht in Betracht (BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 98, aaO).
107
b) Bei § 97 ArbGG fehlt es von vornherein an einem solchen Anknüpfungspunkt. Mit der normativen Ausgestaltung des Verfahrens zu einer Entscheidung über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung ist kein Unionsrecht durchgeführt. Sollte mit dem insoweit angeregten Vorabentscheidungsersuchen auf Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) rekurriert sein, findet diese unionsrechtliche Vorgabe – wie bereits ausgeführt – keine Anwendung.
108
c) Ein unionsrechtlicher Bezug folgt nicht aus dem vom CGB vorgebrachten Umstand, dass die DHV und die dänische Gewerkschaft Kristelig Fagbevægelse (Krifa) einen Kooperationsvertrag geschlossen haben, wonach grenzüberschreitend tätige Mitglieder der Krifa von der DHV repräsentiert werden. Insbesondere kommt keine Vorlage nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV unter dem Gesichtspunkt der Beschränkung unionsrechtlicher Grundfreiheiten – eigens der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) – in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist geklärt, dass die rein hypothetische Aussicht einer Beeinträchtigung des Rechts auf Freizügigkeit keinen hinreichenden unionsrechtlichen Bezugspunkt bildet (vgl. EuGH [ausdrücklich und über sein Urteil 29. Mai 1997 – C-299/95 – [Kremzow] Rn. 16 hinausgehend Slg 1997, I-2629]: 8. November 2012 – C-40/11 – [Iida] Rn. 77). Ungeachtet dessen könnte ein solcher allenfalls in einem Individualverfahren des unter Art. 45 AEUV fallenden Arbeitnehmers von Belang sein.
Schmidt
Treber
K. Schmidt
D. Wege
Stemmer |
bag_35-20 | 13.10.2020 | 13.10.2020
35/20 - Ruhegeld - Ablösung – Überversorgung
Liegt ein Fall der planmäßigen Überversorgung vor, können im öffentlichen Dienst die Anforderungen der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung die Anpassung von Versorgungsregelungen, wie etwa die Einführung einer sog. Nettolimitierung, rechtfertigen. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit können die Änderung einer Anpassungsregelung stützen.
Dem Kläger war von seinem früheren Arbeitgeber – einer Handelskammer – eine betriebliche Altersversorgung in Form einer Gesamtzusage (VO I) zugesagt worden. Im Jahr 1995 wurde die VO I überarbeitet (VO I 1995) und für Neueintritte geschlossen. Zugesagt war hiernach eine Gesamtversorgung iHv. max. 75 vH des zuletzt bezogenen Bruttogehalts unter Anrechnung der gesetzlichen Rente. Im Versorgungsfall wurde der Gesamtversorgungsbetrag jeweils entsprechend der Erhöhung der Tarifgehälter aufgrund einer betrieblichen Übung angepasst. Seit 1991 lag – bei einer Bruttoversorgung von 75 vH bezogen auf einen Durchschnittsverdienst – eine sog. Überversorgung iHv. 107,4 vH vor, in den Jahren 1995 und 2015 iHv. 113,1 vH. Zum Abbau der Überversorgung schloss die ehemalige Arbeitgeberin 2017 mit ihrem Personalrat eine Dienstvereinbarung (DV 2017). Hierdurch wurde für die Versorgungsempfänger eine sog. Nettolimitierung eingeführt. Um eine Reduzierung des bisher gezahlten Ruhegeldes zu vermeiden, ist ein Ausgleichsbetrag vorgesehen. Gleichzeitig wurde die Regelung über die Anpassung der laufenden Ruhegelder dahin geändert, dass keine Anpassung der Gesamtversorgung an die Tarifentwicklung mehr erfolgt, sondern nur noch des gezahlten Ruhegeldes. Die Rentensteigerungen in der gesetzlichen Rentenversicherung werden nicht mehr angerechnet. Der Ausgleichsbetrag, der an der Tarifsteigerung ebenfalls nicht teilhat, wird über einen Zeitraum von in der Regel 10 Jahren abgeschmolzen. Für den Kläger bedeutet dies, dass sich das zuletzt gezahlte Ruhegeld tatsächlich nicht vermindert hat, ihm allerdings im Vergleich zur Rechtslage nach der VO I 1995 ab dem 1. April 2017 Steigerungen seines Ruhegeldes entgangen sind.
Der Kläger begehrt mit seiner Klage ein Altersruhegeld nach den bisherigen Regelungen der VO I 1995. Die Ablösung der VO I 1995 und der Anpassungsregelung durch die DV 2017 sei ihm gegenüber nicht wirksam erfolgt. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die DV 2017, die die Beklagte gegenüber dem Kläger als Ruhegeldempfänger auch bei einer ggf. vorliegenden Teilunwirksamkeit wegen Überschreitung der Regelungsmacht der Dienstvereinbarungsparteien umsetzen konnte, war geeignet, die VO I 1995 und die auf betrieblicher Übung beruhende Anpassungsregelung abzulösen. Die damit verbundenen Eingriffe hielten einer rechtlichen Überprüfung stand. Sie konnten auf das gesetzliche Gebot der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung des öffentlichen Dienstes bzw. die Ablösungsoffenheit der Versorgungsregelungen unter Berücksichtigung der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit gestützt werden. Sowohl die Einführung der sog. Nettolimitierung zum Abbau einer planmäßigen Überversorgung als auch die Änderung der Anpassungsregelung waren ausreichend sachlich gerechtfertigt.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 3 AZR 410/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 21. August 2019 – 7 Sa 2/19 – | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 21. August 2019 – 7 Sa 2/19 – aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 27. November 2018 – 9 Ca 170/18 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe einer betrieblichen Altersversorgung.
2
Der 1937 geborene Kläger war seit dem 19. Juli 1960 Arbeitnehmer der Beklagten. Die Beklagte ist die für die Freie und Hansestadt Hamburg gebildete Industrie- und Handelskammer. Sie hat die Rechtsform einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Oberstes Beschlussorgan ist die Vollversammlung, genannt Plenum, die von den Mitgliedern, also den Kammerzugehörigen, gewählt wird. Das Plenum entscheidet autonom über die Beiträge der rund 160.000 kammerzugehörigen Unternehmen aus Hamburg. Wegen ihrer Autonomie bei der Entscheidung über die Beitragshöhe ist die Beklagte nicht insolvenzfähig. Geführt wird die Beklagte durch ein siebenköpfiges Präsidium unter Leitung des Präses.
3
Die Beklagte sagte ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – so auch dem Kläger – Leistungen der betrieblichen Altersversorgung auf Grundlage des „Allgemeinen Merkblatts über die Gewährung von Ruhegeld und Hinterbliebenenversorgung für die Angestellten der Handelskammer Hamburg“ vom 21. Juli 1960 zu. Grundlage war der Beschluss des Plenums vom 6. August 1959, der einleitend wie folgt lautet:
„In Anbetracht der Tatsache, dass der Staat der Kammer die Beitragshoheit wieder verliehen hat, sieht sich die Kammer in der Lage, einen zusätzlichen Versorgungsanspruch zu gewähren.
Allen vollberuflichen nichtbeamteten Mitarbeitern der Kammer wird eine Versorgungszusage für den Fall der Berufsunfähigkeit oder der Erreichung der Altersgrenze nach Maßgabe der für die Hamburger Staatsangestellten und -arbeiter geltenden Regelung gewährt. …“
4
Inhaltlich gewährleistet die Versorgungsregelung (im Folgenden VO I) den Versorgungsberechtigten ein Ruhegeld wegen Alters nach einer 35-jährigen Betriebszugehörigkeit iHv. maximal 75 vH des letzten Bruttoeinkommens. Zum damaligen Zeitpunkt entsprach dies 89,18 vH des Nettogehalts aktiver Arbeitnehmer. Die VO I wurde anlässlich der Reform der betrieblichen Altersversorgung durch das Betriebsrentengesetz (Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. Dezember 1974, BGBl. I S. 3610 – BetrAVG) am 8. Oktober 1974 ohne Änderung des Versorgungsniveaus neu gefasst.
5
Außerhalb der VO I wurde die Bruttogesamtversorgung jeweils insgesamt entsprechend der Erhöhung der Tarifgehälter angepasst. Eine nachfolgende Erhöhung der gesetzlichen Rente wurde auf die tarifliche Erhöhung angerechnet.
6
Seit 1991 bestand – im Vergleich zum verfügbaren Einkommen aktiver Arbeitnehmer – bei einer Brutto-Versorgungsobergrenze von 75 vH bei Durchschnittsverdiensten rechnerisch eine Netto-Überversorgung iHv. zumindest 107,4 vH. Im Jahr 1995 und auch im Jahr 2015 betrug diese 113,1 vH.
7
Ausweislich eines internen Vermerks der Abteilung Inneres vom 17. Mai 1983 an den damaligen Hauptgeschäftsführer der Handelskammer wurden zu diesem Zeitpunkt Möglichkeiten zum Abbau der Versorgungslasten diskutiert. Zum Thema einer sog. Überversorgung heißt es, dass eine solche nur eine geringe Rolle spielen dürfte.
8
Im Jahr 1993 wurden die mit der Versorgungszusage verbundenen finanziellen Belastungen im Präsidium der Beklagten diskutiert. Eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erarbeitete Vorschläge, ua. auch einen zur Einführung einer Nettolimitierung. Dieser Vorschlag wurde nicht umgesetzt.
9
Die Beklagte führte in einem Vermerk vom 9. März 1994 aus, dass die Steigerung der Versorgungslast in den nächsten Jahren eine deutliche Modifizierung der Versorgungszusage der Kammer an die Mitarbeiter erforderlich mache und dass sich dafür der Weg anbiete, die jetzige Versorgungszusage einzufrieren und eintretenden Mitarbeitern eine neue Versorgungszusage zu geben. In einer Notiz vom 30. Januar 1995 der Abteilung Inneres heißt es: „Aus rechtlichen Gründen kommt eine Änderung der alten Regelung nur in sehr eingeschränkter Form in Frage. Nicht auszuschließen sind marginale Korrekturen…“. In Nr. 3 eines Protokolls zur Präsidiumssitzung vom 2. Februar 1995 ist ua. die Ansicht sowohl des Vizepräses als auch des Hauptgeschäftsführers der Beklagten festgehalten: „Die vor dem 1. Juli 1994 geschlossenen Arbeitsverhältnisse genössen hinsichtlich der Pensionszusagen Bestandsschutz.“
10
Am 7. September 1995 sprach der Stabsbereich Recht der Beklagten die Empfehlung an das Präsidium aus, das bisher geltende Versorgungswerk aus Gründen der Vertragstreue und des Vertrauensschutzes der Substanz nach unverändert zu lassen, es redaktionell zu aktualisieren und in seiner Geltung zum 30. Juni 1994 zu befristen. Dies wurde am 5. Oktober 1995 im Präsidium der Beklagten beschlossen. Die VO I wurde mit Wirkung für die Zukunft geschlossen. Für nach dem 1. Juli 1994 eintretende Mitarbeiter wurde ein neues Versorgungswerk (im Folgenden VO II) mit deutlich geringeren Leistungen eingerichtet.
11
Die VO I idF vom 15. Dezember 1995 (im Folgenden VO I 1995) lautet auszugsweise wie folgt:
„HANDELSKAMMER HAMBURG
Allgemeines Merkblatt
über die
Gewährung von Ruhegeld und Hinterbliebenenversorgung
für die Angestellten der
Handelskammer Hamburg
genehmigt vom Präsidium der Kammer am 21. Juli 1960,
in der Fassung der Beschlüsse des Präsidiums vom 5. Oktober 1995
und des Plenums der Kammer vom 2. November 1995.
Die Versorgung der Mitarbeiter der Kammer wird auf Grund eines Beschlusses des Plenums der Handelskammer Hamburg vom 6. August 1959 sowie der inzwischen erfolgten Änderungen nach Maßgabe folgender Grundsätze gewährt. Besonders gelagerte Einzelfälle können abweichend geregelt werden.
Mitarbeiter, die 10 Jahre ununterbrochen im Dienst der Handelskammer Hamburg gestanden haben, erhalten nach dieser Wartezeit eine Versorgungszusage. Die Wartezeit gilt als erfüllt, wenn der Mitarbeiter durch einen Dienstunfall dauernd dienstunfähig geworden ist.
I.
Ruhegeld
1.
Die Mitarbeiter, die zehn Jahre ununterbrochen im Dienst der Handelskammer Hamburg gestanden haben (Wartezeit), erhalten ein Ruhegeld, wenn sie
a)
dauernd dienstunfähig geworden sind oder
b)
nach den Bestimmungen des Dienstvertrages die Altersgrenze erreicht haben.
…
6.
Für die Berechnung des Ruhegeldes ist das zuletzt bezogene Gehalt (bei Anlehnung an BAT: Grundvergütung zuzüglich Ortszuschlag und allgemeiner Zulage) maßgebend. Hierzu zählen nicht Weihnachtsgratifikationen und andere Sondervergütungen.
7.
Das für die Berechnung des Ruhegeldes maßgebende Gehalt unterliegt den tariflichen Veränderungen. Dies gilt entsprechend für das Ruhegeld, dem ein Festgehalt zugrunde liegt.
8.
Die Berechnung erfolgt dergestalt, daß nach zehnjähriger Beschäftigungszeit 35 % des zuletzt bezogenen Gehaltes verdient sind. Das Ruhegeld steigt in den darauffolgenden fünfzehn Dienstjahren um jährlich 2 %, mit jedem weiteren Dienstjahr um 1 % bis zum Höchstsatz von 75 %.
…
IV. Anrechnung von Renten
1.
Auf das zu gewährende Ruhegeld und die Hinterbliebenenversorgung werden die vom Bund, von den Ländern, den Gemeinden und Gemeindeverbänden gewährten Renten voll sowie die auf Grund der Pflichtbeiträge zu der Angestellten- und Invalidenversicherung gewährten Renten bis zur Höhe der bei der Kammer erworbenen Ansprüche angerechnet.
…“
12
Mit Rundschreiben vom 29. Januar 1996 informierte die Beklagte ihre vor dem 1. Juli 1994 eingestellten Mitarbeiter über die geänderte Fassung des „Allgemeinen Merkblattes über die Gewährung von Ruhegeld und Hinterbliebenenversorgung für die Angestellten der Handelskammer Hamburg“.
13
Im März 2008 wurde im Zuge der Zertifizierung der Handelskammer Hamburg nach ISO 9001 ein elektronisches QM-Handbuch eingeführt, auf das alle Mitarbeiter hingewiesen wurden und auf das sie per PC am Arbeitsplatz Zugriff hatten. Dort waren die Merkblätter zur VO I 1995 und VO II eingestellt. Auch in einem 2014 eingeführten Mitarbeiterportal sind beide Merkblätter eingestellt.
14
Der Kläger ist zum 30. September 2000 aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und bezieht seit dem 1. Oktober 2000 von der Beklagten ein Ruhegeld. Er hatte nach dem Gesamtversorgungssystem der VO I 1995 den maximalen Versorgungsprozentsatz iHv. 75 vH seines zuletzt bezogenen monatlichen Bruttoentgelts erreicht. Sein monatliches Ruhegeld betrug zunächst 5.462,03 DM brutto. Abzüglich der gesetzlichen Rente iHv. 2.815,90 DM brutto ergab sich ein von der Beklagten zunächst zu zahlender Rentenbetrag iHv. 2.646,13 DM brutto.
15
Der Innenausschuss der Beklagten beschloss in seiner Sitzung am 17. Februar 2015, im Bereich betriebliche Altersversorgung nach alternativen Modellen zu suchen. In seiner Sitzung am 9. Dezember 2015 empfahl er ua., Eingriffe in die VO I 1995 und VO II in enger Abstimmung mit dem Personalrat zu prüfen. Nach einer in Auftrag gegebenen gutachterlichen Stellungnahme zum Themenkomplex Überversorgung und zur Anpassung laufender Versorgungsleistungen vom 18. Oktober 2016 kündigte die Beklagte in einem Rundschreiben an alle Ruhegeldempfänger an, dass die bestehende Altersversorgung geändert werden würde.
16
Die gesetzliche Rente des Klägers betrug zum 1. Januar 2017 1.765,01 Euro brutto monatlich. Seine Sozialabgaben beliefen sich insgesamt auf 554,89 Euro, seine Steuern auf 329,69 Euro.
17
Die Beklagte schloss mit dem bei ihr bestehenden Personalrat unter dem 2. Februar 2017 eine Dienstvereinbarung „…über die Versorgungsregelung I (Ruhegeldregelung für Mitarbeiter/-innen mit Eintritt vor dem 01.07.1994)“ (im Folgenden DV 2017). Die DV 2017 führte für die Versorgungsempfänger eine sog. Nettolimitierung ein. Außerdem enthält die DV 2017 eine Anpassungsregelung für laufende Ruhegelder. Hiernach wird die Gesamtversorgung von der Tarifentwicklung abgekoppelt. Es erfolgt also – im Gegensatz zur bisherigen Handhabung – keine Anpassung der Gesamtversorgung mehr, sondern lediglich eine Anpassung der Ausgangsrente. Die Regelungen der DV 2017 lauten auszugsweise wie folgt:
„…
Die Versorgung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kammer wird auf Grund eines Beschlusses des Plenums der Handelskammer Hamburg vom 6. August 1959 sowie der inzwischen erfolgten Änderungen nach Maßgabe folgender Grundsätze gewährt. Besonders gelagerte Einzelfälle können abweichend geregelt werden.
Die mit Wirkung zum 1. Januar 2017 mit dem Personalrat vereinbarten Änderungen dienen dem Abbau einer nach Auffassung der Kammer eingetretenen Überversorgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Im Gegensatz zu der Versorgung der Mitarbeiter der Freien und Hansestadt Hamburg (Ablösung des 1. RGG durch das HmbZVG) bleibt das Versorgungssystem als solches erhalten, es wird aber eine sog. Nettolimitierung eingeführt.
Die sonstigen Änderungen tragen den zwischenzeitlich eingetretenen Änderungen durch Gesetz und Rechtsprechung Rechnung, insbesondere der Rechtsprechung des BAG zur Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Auswirkungen auf Regelungen der betrieblichen Altersversorgung, der Änderung der Regelungen in der gesetzlichen Rentenversicherung zur verminderten Erwerbsfähigkeit sowie der Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnern mit Ehegatten im Bereich der Hinterbliebenenversorgung u.a.
Diese Ruhegeldregelung gilt ausschließlich für Mitarbeiter mit einer Versorgungszusage, die vor dem 1. Juli 1994 in den Dienst der Kammer eingetreten sind.
I.
Ruhegeld
1.
Die Mitarbeiter, die zehn Jahre ununterbrochen im Dienst der Handelskammer Hamburg gestanden haben (Wartezeit), erhalten ein Ruhegeld, wenn sie
a)
erwerbsgemindert sind oder
b)
die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung i.S.v. §§ 35, 235 SGB VI erreicht haben (Altersgrenze)
und aus den Diensten der Kammer ausscheiden. Die Wartezeit gilt als erfüllt, wenn die Erwerbsminderung durch einen Dienstunfall herbeigeführt worden ist.
2.
Abweichend von Abschnitt I Nr. 1 können Mitarbeiter schon vor Erreichen der Altersgrenze das Ruhegeld in Anspruch nehmen, wenn sie eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als Vollrente in Anspruch nehmen und aus den Diensten der Kammer ausscheiden (vorzeitiges Ruhegeld).
…
6.
Für die Berechnung des Ruhegeldes ist das zuletzt regelmäßig bezogene monatliche Festgehalt maßgebend. Hierzu zählen nicht Weihnachtsgratifikationen und andere Sondervergütungen. …
7.
Die Berechnung erfolgt dergestalt, dass nach zehnjähriger Beschäftigungszeit 35 % des zuletzt bezogenen Gehaltes verdient sind. Das Ruhegeld steigt in den darauffolgenden fünfzehn Dienstjahren um jährlich 2 %, mit jedem weiteren Dienstjahr um 1 % bis zum Höchstsatz von 75 %.
8.
Die Höhe des Ruhegeldes nach Abschnitt I Nr. 7 ist begrenzt auf 100 % des fiktiven Nettoarbeitsentgelts. Das fiktive Nettoarbeitsentgelt ist dadurch zu errechnen, dass von 13/12 des ruhegeldfähigen Gehalts nach Abschnitt I Nr. 6
a)
der Betrag, der am Tag des Beginns des Ruhegeldbezugs als Lohnsteuer nach Steuerklasse III/0 zu zahlen wäre,
und
b)
die Beträge, die als Arbeitnehmeranteile an den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung, zur sozialen Pflegeversicherung, zur gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem SGB III nach Maßgabe der am Tag des Beginns des Ruhegeldbezugs geltenden Beitragssätze und Beitragsbemessungsgrenzen zu zahlen wären,
abgezogen werden; das Ergebnis wird mit 12/13 multipliziert.
Lohnsteuer ist die Lohnsteuer für Monatsbezüge (zuzüglich des Solidaritätszuschlags) – ausgenommen die Kirchenlohnsteuer; zugrunde zu legen ist der steuerliche Programmablaufplan. Arbeitnehmeranteile im Sinne des Satzes 2 Buchstabe b sind die Beträge, die als Arbeitnehmeranteile zu zahlen wären, wenn der Ruhegeldberechtigte in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem SGB III versicherungspflichtig und mit 13/12 des ruhegeldfähigen Einkommens beitragspflichtig wäre. Für den Krankenversicherungsbeitrag ist der jeweils maßgebliche allgemeine Beitragssatz zuzüglich des für das maßgebliche Jahr veröffentlichten durchschnittlichen Zusatzbeitrags zugrunde zu legen, der Pflegeversicherungsbeitrag wird ohne einen etwaigen Beitragszuschlag für Kinderlose angesetzt.
…
IV. Anrechnung von Renten
1.
Auf das zu gewährende Ruhegeld und die Hinterbliebenenversorgung werden die vom Bund, von den Ländern, den Gemeinden und Gemeindeverbänden gewährten Renten voll sowie die auf Grund der Pflichtbeiträge zu der gesetzlichen Rentenversicherung gewährten Renten bis zur Höhe der bei der Kammer erworbenen Ansprüche angerechnet.
…
VIII. Anpassung
Der nach Eintritt des Versorgungsfalls erstmals festgesetzte Versorgungsbezug (Ruhegeld nach Abzug der nach Abschnitt IV anzurechnenden Renten) und die Zuwendung werden bei künftigen tariflichen Veränderungen der Gehälter der Mitarbeiter der Handelskammer entsprechend angepasst.
…
X. Anwendung zum 1. Januar 2017 geänderter Regelungen auf Leistungsbezieher
1.
Die neu eingefügte Regelung zur Nettolimitierung ist auch auf Personen anwendbar, die am 1. Januar 2017 Leistungsbezieher (Ruhegeldempfänger, Witwen/Witwer, Waisen) sind. Die Versorgungsbezüge sind für die Zeit vom 1. Januar 2017 an neu zu berechnen. Für die Neuberechnung wird das ruhegeldfähige Gehalt angesetzt, das sich ergibt, indem das für die Berechnung nach Eintritt des Versorgungsfalls zugrunde gelegte Gehalt entsprechend der seit Rentenbeginn bis zum 31. Dezember 2016 erfolgten Anpassungen des Ruhegeldes dynamisiert wird. Abschnitt I Nr. 8 ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass der am 31. Dezember 2016 geltende steuerliche Programmablaufplan sowie die zu diesem Zeitpunkt geltenden Beitragssätze und Beitragsbemessungsgrenzen zugrunde zu legen sind. War der am 31. Dezember 2016 zustehende Versorgungsbezug – bei unveränderten mitzählenden Versorgungsbezügen (vgl. Abschnitt IV) – höher als der nach den Sätzen 1 und 2 neu berechnete Versorgungsbezug, ist der Unterschiedsbetrag neben dem jeweiligen Versorgungsbezug als Ausgleichsbetrag zu zahlen.
2.
Die Anpassung richtet sich für Zeiten des Rentenbezugs nach dem 31. Dezember 2016 nach der Regelung in Abschnitt VIII. Der Ausgleichsbetrag nimmt an künftigen Anpassungen der Versorgungsbezüge nicht teil.
3.
Der Ausgleichsbetrag wird bei jeder nach dem 31. Dezember 2016 durchzuführenden Anpassung der Versorgungsbezüge um ein Zehntel des nach Nummer 1 errechneten Ausgleichsbetrags abgebaut. Höchstens wird jeweils der Betrag abgebaut, der sich als Erhöhung aus der Anpassung nach Nummer 2 ergeben hat. Ist nach der zehnten Anpassung ein Restbetrag verblieben, wird dieser unter Beachtung des Satzes 2 bei den folgenden Anpassungen abgebaut.
…
XII. Schlussbestimmungen
1.
Diese Dienstvereinbarung löst mit Wirkung zum 1. Januar 2017 die Versorgungsordnung I (zuletzt in der Fassung der Beschlüsse des Präsidiums vom 5. Oktober 1995 und des Plenums der Kammer vom 2. November 1995) ab.
…“
18
Gemäß einer Ruhegeldberechnung per 31. Dezember 2016/1. Januar 2017 vom 28. März 2017 betrug das Ruhegeld des Klägers zum 31. Dezember 2016 3.778,20 Euro brutto monatlich. Unter Zugrundelegung einer Nettolimitierung iSd. DV 2017 ist ein Betrag iHv. 3.333,85 Euro brutto monatlich ausgewiesen. Abzüglich der gesetzlichen Rente iHv. 1.765,01 Euro brutto verbleibt ein Betrag von 1.568,84 Euro brutto. Zzgl. des Ausgleichsbetrags iHv. 444,35 Euro brutto, der die Differenz zwischen dem netto-limitierten Versorgungsbezug und bisheriger Betriebsrente ausgleicht, ergibt sich danach als Gesamtanspruch gegen die Beklagte ein Betrag iHv. 2.013,19 Euro brutto.
19
Für die Zeit vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2017 ist – wie in der Zeit davor – weiterhin ein monatlicher Betrag iHv. 2.013,19 Euro brutto an den Kläger gezahlt worden. Zuzüglich der gesetzlichen Rente und abzüglich der monatlichen Sozialabgaben iHv. 554,89 Euro sowie Steuern iHv. 329,69 Euro verfügte der Kläger zum Stichtag 1. Januar 2017 über Nettoversorgungseinkünfte iHv. monatlich insgesamt 2.893,58 Euro.
20
Zum 1. April 2017 wurde der Versorgungsbezug aufgrund einer Tariferhöhung um 1,94 vH angehoben. Der Ausgleichsbetrag wurde von 444,35 Euro auf 413,91 Euro, dh. um einen Betrag iHv. 30,44 Euro, reduziert. Die Beklagte zahlte an den Kläger weiterhin einen monatlichen Gesamtbetrag iHv. insgesamt 2.013,19 Euro brutto. Wäre die Gesamtversorgung um 1,94 vH angehoben worden, hätte sich ein Betrag zugunsten des Klägers iHv. 73,30 Euro brutto monatlich ergeben.
21
Zum 1. Juli 2017 wurde die gesetzliche Rente des Klägers um 1,9 vH erhöht und zwar von 1.765,01 Euro auf 1.798,63 Euro brutto monatlich. Entsprechend erhöhte sich die Summe aus betrieblicher und gesetzlicher Rente. Die monatliche Differenz zur Anpassung der Gesamtbruttoversorgung reduzierte sich von 73,30 Euro auf 39,68 Euro brutto.
22
Zum 1. April 2018 wurden die Vergütungen der aktiven Arbeitnehmer der Beklagten um 2,59 vH angehoben. Die Beklagte erhöhte daraufhin per 1. April 2018 den Versorgungsbezug des Klägers iHv. 1.599,28 Euro um 2,59 vH auf 1.640,70 Euro. Den Ausgleichsbetrag reduzierte die Beklagte um diese Anpassung von 41,42 Euro auf 372,49 Euro. Sie zahlte dem Kläger weiterhin 2.013,19 Euro brutto monatlich. Wäre die Gesamtversorgung um 2,59 vH angehoben worden, hätte sich ein Betrag zugunsten des Klägers iHv. 139,43 Euro brutto monatlich ergeben.
23
Zum 1. Juli 2018 wurden die gesetzlichen Renten um 3,22 vH gesteigert. Die gesetzliche Rente des Klägers erhöhte sich auf 1.856,59 Euro, was wiederum zu einer Steigerung des Gesamtbetrags aus betrieblicher und gesetzlicher Rente führte. Die monatliche Differenz zur Anpassung der Gesamtbruttoversorgung reduzierte sich von 139,43 Euro auf 81,47 Euro brutto.
24
Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Erhöhung seiner betrieblichen Altersversorgung.
25
Er hat gemeint, die vorgenommene Änderung der VO I 1995 sei unwirksam; die Betriebsrente sei weiter nach den Regelungen der VO I 1995 zu berechnen und anzupassen. Eine planwidrige Überversorgung liege nicht vor. Es habe berücksichtigt werden müssen, dass der Kläger seine Bruttoversorgungsbezüge zu versteuern und zu verbeitragen habe. Die Beklagte sei aber nicht von den Nettoeinkünften des Klägers ausgegangen, sondern berücksichtige Bruttobezüge. Insbesondere Steuern, die es bei Schaffung eines Versorgungswerkes nicht gegeben habe, sondern die erst zum 1. Januar 2005 maßgeblich geändert worden seien, hätten in die Ermittlung, ob tatsächlich eine Überversorgung vorliege, einbezogen werden müssen.
26
Die Beklagte habe mit der Neufassung der VO I im Jahr 1995 einen neuen Verpflichtungstatbestand geschaffen und sich damit – anders als die Freie und Hansestadt Hamburg, die 1985 eine sog. Nettolimitierung einführte – bewusst anders entschieden. Die VO I 1995 habe eine strukturelle Überversorgung jedenfalls zugelassen, die spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr planwidrig gewesen sei. Denn zu diesem Zeitpunkt sei die Belastung von Bruttovergütungen mit Steuern und Sozialabgaben ähnlich strukturiert gewesen wie zum Zeitpunkt der späteren Änderung der Versorgungsregelungen. Zu dem Zeitpunkt der Neufassung habe die Überversorgung iHv. 113,1 vH bereits bestanden. Auf diesen Zeitpunkt sei für die Feststellung des Versorgungsziels und damit die Feststellung der Überversorgung abzustellen. Jedenfalls aber könne der VO I 1995 entnommen werden, dass eine Vollversorgung geschuldet sei.
27
Die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur planmäßigen Überversorgung könne auf den vorliegenden Fall wegen der Besonderheiten der Beklagten als spezielle Körperschaft des öffentlichen Rechtes nicht übertragen werden. Die Beklagte habe bei der Aufstellung des Haushaltsplans einen weiten Gestaltungsspielraum. Außerdem könne sie autonom durch ihre Mitglieder über die Mitgliedsbeiträge entscheiden. Zu berücksichtigen sei dabei auch die Verpflichtung zur Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns (§ 1 Abs. 1 IHKG).
28
Die Beklagte habe auf ihr Recht, die VO I 1995 zu ändern, verzichtet. Jedenfalls aber habe sie das Recht zur Änderung der Versorgungszusage verwirkt. Bei den Verhandlungen in den Jahren 1994 und 1995 zwischen der Beklagten und dem Personalrat sei versichert worden, dass die Versorgungsregelungen der VO I nicht verändert würden. Dies sei auch gegenüber der Belegschaft in einer Personalversammlung deutlich gemacht worden. Es greife ein besonderer Vertrauensschutz. Der Kläger, seit über 16 Jahren Bezieher von Versorgungsleistungen der Beklagten, habe darauf vertrauen dürfen, dass man ihm das bereits in der Vergangenheit zugesagte Versorgungsniveau belasse. Die Beklagte habe die VO I 1995 immer wieder gegenüber den Mitarbeitern erneuert und stets durch hausinterne Medien zur Verfügung gehalten. Auch gebe es keinen generellen Ausschluss der Verwirkung im Bereich des öffentlichen Dienstes.
29
Da die Beklagte nicht nur eine Nettoversorgungsobergrenze eingeführt, sondern auch das die Versorgungszusage prägende Gesamtversorgungsprinzip abgeschafft habe und nur noch die effektiv gezahlten Beträge der tariflichen Anpassung unterwerfe, greife sie intensiver in Versorgungsrechte ein, als zur Beseitigung einer Störung der Geschäftsgrundlage erforderlich. Hierfür sei kein Grund ersichtlich.
30
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
1.
festzustellen, dass das Ruhegehalt des Klägers nach der VO I 1995 zu berechnen ist;
2.
hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 1. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger über den seit dem 1. April 2017 gezahlten Ruhegeldbetrag iHv. 2.013,19 Euro brutto ab dem 1. April 2017 weitere 73,30 Euro brutto monatlich bis zum 30. Juni 2017, ab dem 1. Juli 2017 weitere 39,68 Euro brutto monatlich bis zum 31. März 2018, ab dem 1. April 2018 weitere 139,43 Euro brutto monatlich bis zum 30. Juni 2018 sowie weitere 81,47 Euro brutto ab dem 1. Juli 2018 brutto zu zahlen;
3.
hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit den Anträgen zu 1. und 2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, künftige Anpassungen des Gesamtversorgungsanspruchs des Klägers nach Maßgabe der Gehaltsentwicklung für die Mitarbeiter der Beklagten unter Anrechnung der jeweilig gezahlten Sozialversicherungsrente vorzunehmen;
4.
hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit den Anträgen zu 1. bis 3. festzustellen, dass bei der Berechnung des Versorgungsanspruchs des Klägers auf dessen Gesamtversorgungseinkünfte entfallende Steuern und Sozialversicherungsbeiträge von dem Ausgleichsbetrag, der gemäß der von der Beklagten ab dem 1. Januar 2017 in Kraft gesetzten Versorgungsregelung zu ermitteln ist, abgezogen werden müssen.
31
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, bei der 1995 beschlossenen VO I handele es sich nicht um eine neue Versorgungsordnung, sondern um eine geänderte Fassung der VO I.
32
Mit der Dienstvereinbarung vom 2. Februar 2017 habe sie zulässigerweise die für den Kläger bestehende – planwidrige – Überversorgung abgebaut. Das Versorgungsziel der VO I 1995 sei nach dem Horizont der Beklagten im Jahr 1960 zu bestimmen. Gewollt gewesen sei ein Versorgungsgrad von 89,2 vH des Nettoeinkommens.
33
Die Beklagte habe im Rahmen der DV 2017 bei dem Abbau der Überversorgung nicht berücksichtigen müssen, dass Betriebsrentner zwischenzeitlich höhere Steuern zu zahlen haben. Eine Verpflichtung, betriebliche Altersversorgung als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zu versteuern, habe bereits 1960 bestanden. Auch werde durch eine Begrenzung des Abbaus der Überversorgung auf eine Gesamtversorgung iHv. 100 vH des maßgeblichen Nettoeinkommens die Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner hinreichend berücksichtigt. Eine Absenkung auf den ursprünglichen Versorgungsgrad von 89,2 vH sei gerade nicht erfolgt.
34
Die Versorgungsberechtigten und damit auch der Kläger hätten kein schutzwürdiges Vertrauen aufbauen können, dass sie eine höhere Gesamtversorgung als 100 vH des Nettoeinkommens erwarten könnten. Die Beklagte sei als öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber den Grundsätzen der sparsamen Haushaltsführung verpflichtet. Sie dürfe auch eine plangemäße Überversorgung abbauen.
35
Die zugleich durchgeführte Änderung der Anpassungssystematik sei sachlich gerechtfertigt. Das ursprüngliche Anpassungsverfahren sei administrativ relativ aufwendig, nur schwer kalkulierbar und führe zu einer überproportionalen Besserstellung der Betriebsrentner, auch gegenüber den aktiven Arbeitnehmern. Zudem sei auch hier der öffentlich-rechtliche Haushaltsgrundsatz der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung zu berücksichtigen.
36
Das Arbeitsgericht hat die Klage – dort mit den Anträgen zu 1. bis 3. als Hauptanträge – abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers der Klage im Antrag zu 1. stattgegeben und deshalb über die Hilfsanträge einschließlich des in der Berufung angebrachten Hilfsantrags zu 4. nicht entschieden. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
37
Die zulässige Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage auf die Berufung des Klägers zu Unrecht stattgegeben. Die zulässige Klage ist insgesamt nicht begründet.
38
A. Die Revision der Beklagten ist entgegen der Ansicht des Klägers zulässig.
39
I. Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO gehört zum notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung die Angabe der Revisionsgründe (BAG 18. Februar 2020 – 3 AZR 137/19 – Rn. 29). Bei einer Sachrüge sind nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a ZPO die Umstände zu bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergeben soll. Dabei muss die Revisionsbegründung den Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des revisionsrechtlichen Angriffs erkennbar sind. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der angefochtenen Entscheidung. Dadurch soll sichergestellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte des Revisionsklägers das angefochtene Urteil im Hinblick auf das Rechtsmittel überprüft und mit Blickrichtung auf die Rechtslage genau durchdenkt (BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 550/16 – Rn. 9 mwN). Außerdem soll die Revisionsbegründung durch ihre Kritik des angefochtenen Urteils zur richtigen Rechtsfindung durch das Revisionsgericht beitragen. Dazu hat der Revisionsführer darzulegen, aus welchen Gründen er die Begründung des Berufungsgerichts für unrichtig hält. Die bloße Wiedergabe oder der Verweis auf das bisherige Vorbringen genügen hierfür nicht (BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 550/16 – aaO). Hat das Berufungsgericht seine Entscheidung auf zwei voneinander unabhängige, selbstständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss die Revisionsbegründung beide Erwägungen angreifen. Andernfalls ist das Rechtsmittel insgesamt unzulässig (BAG 22. Juli 2014 – 9 AZR 449/12 – Rn. 10 mwN). Jedoch kann vom Revisionskläger nicht mehr an Begründung verlangt werden, als vom Gericht in diesem Punkt selbst aufgewendet worden ist (BAG 18. Februar 2020 – 3 AZR 137/19 – aaO; 16. März 2004 – 9 AZR 323/03 – zu A II 1 der Gründe, BAGE 110, 45).
40
II. Diesen Anforderungen genügt die Revisionsbegründung.
41
1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Beklagte habe keine Gründe für die Änderung des Anpassungsverfahrens dargelegt. Die Ausführungen zum administrativen Aufwand, zur schweren Kalkulierbarkeit und überproportionalen Besserstellung der Betriebsrentner gegenüber den Versorgungsberechtigten nach anderen Versorgungsregelungen seien zu pauschal erfolgt. Auch fehle es an einem inneren Zusammenhang zum Abbau der Überversorgung. Die Beklagte habe durch die Änderung der Anpassungsregelung stärker eingegriffen, als es durch die Grundlagen der ursprünglichen Vereinbarung geboten gewesen sei. Außerdem sei eine Gesamtversorgung mit Gesamtrentenfortschreibung zugesagt gewesen. Der verständige Arbeitnehmer könne nicht annehmen, der Arbeitgeber behalte sich vor, nur den Versorgungsbezug zu steigern und nicht die Gesamtversorgungsbezüge in geringerem Umfang. Die Unwirksamkeit der Anpassungsregelungen führe zur Gesamtunwirksamkeit der DV 2017.
42
2. Mit diesen Ausführungen setzt sich die Revisionsbegründung hinreichend auseinander. Die Beklagte wendet mit ausreichender Begründung gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ein, dass dem Kläger durch die Umstellung des Anpassungsverfahrens schon gar kein Nachteil entstanden sei, weil die Erhöhungen der gesetzlichen Renten zuletzt höher gewesen seien als die tariflichen Anpassungen. Träfe diese Rechtsansicht zu, wäre die angefochtene Entscheidung insgesamt in Frage zu stellen. Schon das führt zur Zulässigkeit der Revision.
43
B. Die Klage und die Berufung sind zulässig.
44
I. Die Anträge bedürfen – im wohlverstandenen Interesse des Klägers (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. BAG 27. Juni 2017 – 9 AZR 120/16 – Rn. 11) – der Auslegung.
45
Mit dem Antrag zu 1. geht es dem Kläger darum festzustellen, dass sich sein Ruhegeldanspruch für die Dauer des Ruhegeldbezugs weiterhin nach der VO I 1995 richtet. Dabei ergibt sich aus der Begründung der Klage, dass sich die Feststellung auch auf die bisherige Anpassungspraxis beziehen soll.
46
Mit dem ersten Hilfsantrag (Antrag zu 2.) möchte der Kläger – für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag – die konkrete Höhe des Ruhegeldes – zu errechnen nach der VO I 1995 – zu den einzelnen Stichtagen, zu denen Veränderungen infolge von Tarif- bzw. Rentenerhöhungen anstanden, festgestellt wissen.
47
Mit dem zweiten Hilfsantrag (Antrag zu 3.) begehrt der Kläger – für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag und dem ersten Hilfsantrag – die Feststellung, dass sich die künftige Entwicklung des Ruhegeldanspruchs weiter nach der bisherigen Handhabung richtet. Konkret geht es ihm um die Feststellung, dass der Gesamtversorgungsanspruch entsprechend der Gehaltsentwicklung der Tarifgehälter – unter Anrechnung der jeweils gezahlten Sozialversicherungsrente – steigt.
48
Der dritte Hilfsantrag (Antrag zu 4.) soll für den Fall gestellt sein, dass die Ablösung der bislang bestehenden Regelungen für wirksam erachtet wird, der Kläger mit dem Hauptantrag und den beiden ersten Hilfsanträgen also unterliegt. Hiermit geht es dem Kläger um die Feststellung, dass die Beklagte bei der Ermittlung seines Ruhegeldes nach der DV 2017 Steuern und Sozialversicherungsbeiträge der anzurechnenden gesetzlichen Rente berücksichtigen müsse, so dass nur ein geringerer Betrag angerechnet werden darf mit der Folge, dass sich sein betrieblicher Ruhegeldanspruch entsprechend erhöht.
49
II. Das für die Feststellungsanträge notwendige Feststellungsinteresse ist jeweils gegeben. Die Klage ist insgesamt auf die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 ZPO gerichtet. Zwar können nach dieser Bestimmung nur Rechtsverhältnisse Gegenstand einer Feststellungsklage sein, nicht hingegen bloße Elemente oder Vorfragen eines Rechtsverhältnisses. Eine Feststellungsklage muss sich allerdings nicht notwendig auf ein Rechtsverhältnis insgesamt erstrecken. Sie kann sich vielmehr auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen bzw. auch auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (BAG 10. Februar 2009 – 3 AZR 653/07 – Rn. 12).
50
Vorliegend geht es dem Kläger jeweils um die Klärung des Umfangs der Leistungspflicht der Beklagten. Hierfür hat er das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Die Beklagte bestreitet, weiterhin verpflichtet zu sein, die Versorgungsleistungen einschränkungslos nach der VO I 1995 zu berechnen. Ebenso lehnt sie eine Anpassung der Gesamtversorgung gemäß der Tarifentwicklung und auch die Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bei der Berechnung des Ruhegeldanspruchs des Klägers ab.
51
III. Die in der Berufungsinstanz vorgenommene Umstellung von Haupt- hin zu Hilfsanträgen und die Erweiterung um den dritten Hilfsantrag (Antrag zu 4.) steht der Zulässigkeit der Anträge nicht entgegen.
52
Die in der Berufungsinstanz neu gefassten Anträge enthalten keine unzulässige Klageänderung.
53
1. Durch das Umstellen von einem Haupt- auf einen Hilfsantrag wird lediglich die Form, nicht aber der Inhalt des Rechtsschutzbegehrens geändert. Der zu beurteilende Sachverhalt ist derselbe. Die Umstellung der Anträge führt nicht zu einer Einbeziehung neuer Tatsachen (für die Revisionsinstanz vgl. BAG 18. November 2003 – 3 AZR 592/02 – zu A I der Gründe).
54
2. Auch die Erweiterung um den Klageantrag zu 4. war zulässig. Hiermit beschränkt der Kläger die Berechnung seines Versorgungsanspruchs um bestimmte Abzugsposten, was zu einem erhöhten Ruhegeld, aber zu einem geringeren, als mit dem Hauptantrag verfolgt, führen würde. Insoweit liegt ein Fall des § 264 Nr. 2 ZPO und damit keine Klageänderung vor. Der Kläger hat insoweit den Klageantrag beschränkt. Außerdem hat sich auch hier der zu beurteilende Sachverhalt nicht geändert.
55
IV. Schließlich ist mit dem Hauptantrag und den Hilfsanträgen das Urteil des Arbeitsgerichts insgesamt und damit ausreichend mit der Berufung angegriffen. Die Anträge und die Gründe der Berufung machen deutlich, dass der Kläger das erstinstanzliche Urteil in seiner Gänze angegriffen hat, sein Rechtsschutzziel – weiterhin ein Ruhegehalt nach der VO I 1995 unter Beibehaltung der bisherigen Anpassungspraxis zu bekommen – allerdings ausreichend als mit dem Hauptantrag erreicht sieht, sollte er damit obsiegen.
56
C. Die Klage ist insgesamt unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers der Klage im Hauptantrag zu Unrecht stattgegeben. Die Ablösung der VO I 1995 und der bisherigen Anpassungspraxis durch die DV 2017 ist gegenüber dem Kläger wirksam erfolgt. Seine Ansprüche richten sich seither nur noch nach der DV 2017. Die DV 2017 war geeignet, die VO I 1995 und die Anpassungsregelung für die Betriebsrente abzulösen. Der Inhalt der DV 2017 hält sowohl hinsichtlich der Einführung der sog. Nettolimitierung als auch der Berechnungsregelungen zur Höhe des Versorgungsanspruchs sowie der Änderung der Anpassungsregelung für laufende Ruhegeldzahlungen der gerichtlichen Überprüfung stand. Damit erweisen sich sowohl der Haupt- als auch die Hilfsanträge, die sämtlich zur Entscheidung angefallen sind, als unbegründet.
57
I. Der Beklagten stand es grundsätzlich offen, die VO I 1995 und die Regelung zur Anpassung der Betriebsrente so abzulösen, wie sich dies aus der DV 2017 ergibt.
58
1. Die VO I 1995 ist als Gesamtzusage nach § 151 BGB Inhalt der Arbeitsverträge der bei der Beklagten – ehemals – beschäftigten Arbeitnehmer geworden.
59
a) Eine Gesamtzusage ist die an alle Arbeitnehmer des Betriebs oder einen nach abstrakten Merkmalen bestimmten Teil von ihnen in allgemeiner Form gerichtete ausdrückliche Willenserklärung des Arbeitgebers, bestimmte Leistungen erbringen zu wollen. Eine ausdrückliche Annahme des in der Erklärung enthaltenen Antrags iSv. § 145 BGB wird dabei nicht erwartet und es bedarf ihrer auch nicht. Das in der Zusage liegende Angebot wird gemäß § 151 Satz 1 BGB angenommen und ergänzender Inhalt des Arbeitsvertrags. Die Arbeitnehmer – auch die nachträglich in den Betrieb eintretenden – erwerben einen einzelvertraglichen Anspruch auf die zugesagten Leistungen, wenn sie die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Dabei wird die Gesamtzusage bereits dann wirksam, wenn sie gegenüber den Arbeitnehmern in einer Form verlautbart wird, die den einzelnen Arbeitnehmer typischerweise in die Lage versetzt, von der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Auf dessen konkrete Kenntnis kommt es nicht an (BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 442/17 – Rn. 50, BAGE 165, 132; 2. August 2018 – 6 AZR 28/17 – Rn. 19).
60
b) Gemessen daran hat die Beklagte ihren Beschäftigten im Wege einer Gesamtzusage Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zugesagt.
61
Aus dem „Allgemeinen Merkblatt über die Gewährung von Ruhegeld und Hinterbliebenenversorgung für die Angestellten der Handelskammer Hamburg“ vom 21. Juli 1960, zuletzt in der Fassung vom 15. Dezember 1995 (VO I 1995), lässt sich eindeutig der Wille der Beklagten erkennen, ihren Arbeitnehmern eine betriebliche Altersversorgung nach den dortigen Bestimmungen zu gewähren. Das ist zwischen den Parteien auch unstreitig. Die VO I 1995 ist den Mitarbeitern mit Rundschreiben vom 29. Januar 1996, nachfolgend auch noch im elektronischen QM-Handbuch und im Mitarbeiterportal allgemein bekannt gemacht worden.
62
2. Die bisherige Anpassungsregelung beruht dagegen auf betrieblicher Übung.
63
Bisher passte die Beklagte den bruttolohnbezogenen Gesamtversorgungsbetrag jeweils gemäß den Steigerungen des Tarifentgelts an. Da nach der VO I 1995 stets eine Anrechnung der gesetzlichen Rente erfolgte (vgl. IV der VO I 1995), wurden später nachfolgende Steigerungen der gesetzlichen Rente im Rahmen des Gesamtversorgungssystems gegengerechnet.
64
Diese Anpassungsregelung ist zwar in der VO I 1995 nicht enthalten, war aber ständige Praxis bei der Beklagten. Damit war eine betriebliche Übung gegeben (ausführlich zur betrieblichen Übung als Rechtsquelle auch für Versorgungsregelungen vgl. BAG 19. November 2019 – 3 AZR 144/18 – Rn. 49 mwN). Darüber haben die Parteien auch keine unterschiedlichen Ansichten.
65
3. Beide Regelungen waren ablösungsoffen.
66
a) Bei einer vertragseinheitlich und damit auch einer durch Gesamtzusage oder betriebliche Übung erteilten Ruhegeldzusage handelt es sich um eine vertragseinheitlich gewährte Leistung an den angesprochenen Empfängerkreis, die in Form eines einheitlichen Systems erbracht werden soll. Wird betriebliche Altersversorgung im Rahmen eines derartigen Systems zugesagt, spricht dies für eine dem Versorgungsberechtigten erkennbare Offenheit der Vereinbarung für eine Abänderbarkeit durch eine Neuregelung mit kollektivem Bezug. Denn die Geltung des Ruhegeldvertrags ist auf einen längeren, unbestimmten Zeitraum angelegt und daher von vornherein erkennbar einem möglichen künftigen Änderungsbedarf ausgesetzt. Ein solches System betrieblicher Altersversorgung darf nicht erstarren. Der Arbeitgeber sagt daher bei einheitlich geregelten Versorgungszusagen im Regelfall lediglich eine Versorgung nach den jeweils bei ihm geltenden Versorgungsregeln zu. Nur so wird eine einheitliche Anwendung der Versorgungsordnung auf alle Arbeitnehmer und Versorgungsempfänger des Arbeitgebers, für die die Versorgungsordnung gelten soll, sichergestellt. Soll sich die Versorgung dagegen ausschließlich nach den bei Erteilung der einheitlichen Versorgungszusage mit kollektivem Bezug geltenden Versorgungsbedingungen richten, muss der Arbeitgeber dies deutlich zum Ausdruck bringen. Etwas Anderes folgt weder aus der Unklarheitenregelung in § 305c Abs. 2 BGB noch aus dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. dazu BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 63 ff., BAGE 164, 261).
67
Jedenfalls für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung muss ein Arbeitnehmer also – auch nach seinem Ausscheiden – aufgrund der Langfristigkeit einer solchen Zusage, verbunden mit zahlreichen Unwägbarkeiten der zukünftigen Entwicklung, grundsätzlich von einer – auch verschlechternden – Abänderbarkeit ausgehen, sofern die Versorgungszusage nicht zwischen den Arbeitsvertragsparteien individuell ausgehandelt worden ist. Er kann nicht damit rechnen, dass ihm andere Versorgungsbedingungen zugestanden werden als die im Betrieb geltenden (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 69, BAGE 164, 261).
68
b) Danach waren sowohl die VO I 1995 als auch die Regelung über die Anpassung der Ruhegehälter ablösungsoffen, da die Beklagte niemals deutlich zum Ausdruck gebracht hat, es sollten lediglich die bei Entstehung der Zusage geltenden Regelungen im Versorgungsverhältnis Anwendung finden.
69
4. Die DV 2017 ist auf die Ablösung sowohl der VO I 1995 als auch der Anpassungsregelung gerichtet. Sie regelt für den Personenkreis der vor dem 1. Juli 1994 eingetretenen Arbeitnehmer abschließend, an wen, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Inhalt die Beklagte eine betriebliche Altersversorgung gewähren will.
70
5. Die Ablösung der VO I 1995 und der Anpassungsregelung durch die DV 2017 und die insoweit neu eingeführte sog. Nettolimitierung ist wirksam gegenüber dem Kläger erfolgt. Die Beklagte konnte die DV 2017 – unabhängig von der Frage, ob der Personalrat für Ruhegeldempfänger zuständig ist – wegen der Ablösungsoffenheit auch gegenüber dem Kläger umsetzen.
71
Ob der Betriebs- bzw. vorliegend der Personalrat auch für Ruhegeldempfänger zuständig ist, ist umstritten (ablehnend BAG 16. März 1956 – GS 1/55 – BAGE 3, 1; 25. Oktober 1988 – 3 AZR 483/86 – zu I 2 der Gründe, BAGE 60, 78; 13. Mai 1997 – 1 AZR 75/97 – zu I 2 der Gründe; zuletzt vom Senat offen gelassen, zB BAG 11. Juli 2017 – 3 AZR 513/16 – Rn. 35; 10. Februar 2009 – 3 AZR 653/07 – Rn. 16; 14. Dezember 2010 – 3 AZR 799/08 – Rn. 19; bejahend im Schrifttum etwa Fitting BetrVG 30. Aufl. § 77 Rn. 39 mwN; Dieterich NZA 1984, 273 (278); Waltermann NZA 1996, 357 (363 ff.) und 1998, 505 (507 ff.); MHdB ArbR/Arnold 4. Aufl. Bd. 4 § 315 Rn. 14; Ahrendt FS 100 Jahre BetrVR S. 1 ff; Kreutz GK-BetrVG 11. Aufl. § 77 Rn. 199 ff.; Kreutz ZfA 2003, 361 (383 ff.)). Die Beantwortung dieser Frage kann dahinstehen.
72
a) Geht man davon aus, der Betriebs- oder hier der Personalrat sei auch für Ruheständler zuständig, entfaltete die DV 2017 unmittelbar gegenüber den Ruheständlern normative Wirkung (zur normativen Wirkung von Dienstvereinbarungen BAG 3. Juni 2020 – 3 AZR 730/19 – Rn. 53 mwN). Derartige Vereinbarungen des Arbeitgebers mit der Beschäftigtenvertretung sind grundsätzlich geeignet, ablösungsoffene Gesamtzusagen und betriebliche Übungen abzulösen (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 65 mwN, BAGE 164, 261). Durch den Abschluss der Dienstvereinbarung wären Mitbestimmungsrechte des Personalrats, etwa nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 HmbPersVG, gewahrt.
73
b) Wäre der Personalrat nicht für die Ruheständler zuständig, so wäre die Beklagte berechtigt, die Ablösung einseitig durchzuführen. Dass eine Dienstvereinbarung abgeschlossen wurde, stünde nicht entgegen. Die Beklagte konnte die den ausgeschiedenen Mitarbeitern erteilten Versorgungszusagen so umgestalten, wie es die Dienstvereinbarung vorsah. Das ist unabhängig davon, ob eine Umdeutung in ein anderes Regelungsinstrument möglich ist. Denn mit dem Abschluss der Dienstvereinbarung ist die Beklagte als Arbeitgeberin in ihren Ablösungsrechten nicht beschränkt (vgl. BAG 28. Juli 1998 – 3 AZR 100/98 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 89, 262).
74
II. Durch die Einführung der sog. Nettolimitierung in I Nr. 8 DV 2017, die die Bruttoversorgung auf 100 vH des letzten aktiven Nettoeinkommens begrenzt, hat die Beklagte auch die materiellen Grenzen der Ablösung eingehalten.
75
1. Die Beklagte hat die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit – die gleichermaßen für eine mitbestimmte Regelung gelten – gewahrt.
76
a) Die vorliegende Ablösung gegenüber dem Kläger ist an den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu messen.
77
Ist eine Ruhegeldzusage – wie hier – offen für eine Ablösung durch eine betriebliche Regelung mit kollektivem Bezug und damit auch durch eine Dienstvereinbarung, bedeutet dies lediglich, dass diese ein geeignetes Regelungsmittel ist. Gleiches gilt für die Umsetzung einer beschlossenen Dienstvereinbarung durch den Arbeitgeber gegenüber den Ruheständlern, wie dem Kläger, verneint man hier die Zuständigkeit des Personalrats. Hieraus folgt noch nicht, dass die ablösende Regelung wirksam ist. Die Ablösungsoffenheit durch eine kollektive Regelung ermöglicht es nicht, schrankenlos in durch eine Versorgungszusage begründete Besitzstände der Arbeitnehmer einzugreifen. Die Ablösung ist vielmehr so zu behandeln wie die Ablösung einer Betriebsvereinbarung und unterliegt daher derselben Inhaltskontrolle. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit – an welche auch die Parteien einer Betriebsvereinbarung nach § 75 BetrVG bzw. die Parteien der vorliegenden Dienstvereinbarung nach § 77 HmbPersVG gebunden sind – dürfen nicht verletzt werden (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 93 mwN, BAGE 164, 261).
78
Diese Grundsätze hat der Senat durch ein dreistufiges Prüfungsschema konkretisiert, das allerdings nicht auf Eingriffe in laufende Ruhegeldleistungen zugeschnitten ist. In diesem Fall ist unmittelbar auf die dem dreistufigen Prüfungsschema zugrundeliegenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zurückzugreifen, wobei insbesondere ein innerer Zusammenhang zwischen der Neuregelung und den sie tragenden Gründen gegeben sein muss (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 93 mwN, BAGE 164, 261; 18. September 2012 – 3 AZR 431/10 – Rn. 36 mwN). Die Änderungsgründe sind gegenüber den Interessen der betroffenen Versorgungsempfänger an der Beibehaltung der bisherigen Regelung abzuwägen (vgl. BAG 23. September 1997 – 3 AZR 529/96 – zu II 3 der Gründe).
79
b) Diese Grundsätze sind im Streitfall nicht verletzt.
80
aa) Die Beklagte hatte einen hinreichenden Anlass, um in die VO I 1995 einzugreifen. Es lag jedenfalls eine planmäßige Überversorgung vor. Wegen des haushaltsrechtlichen Grundsatzes des sparsamen und wirtschaftlichen Handelns darf im öffentlichen Dienst auch eine solche planmäßige und nicht nur eine sog. planwidrige Überversorgung abgebaut werden. Auch die Beklagte ist in diesem Sinne Teil des öffentlichen Dienstes.
81
(1) Zugunsten des Klägers unterstellt, die VO I 1995 stellte eine neue Versorgungsordnung und nicht nur eine redaktionell überarbeitete VO I dar, ist von einer planmäßigen Überversorgung auszugehen.
82
(a) Eine solche liegt vor, wenn die Versorgungsberechtigten mehr erhalten sollen als eine volle Sicherung ihres bisherigen Lebensstandards, die das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben berücksichtigt, also die sog. Vollversorgung überschritten wird. Sie ist insbesondere dann gegeben, wenn die Betriebsrente gleich hoch oder höher sein soll als das Einkommen vergleichbarer aktiver Arbeitnehmer. Im Übrigen besteht bei der Festlegung der maßgeblichen Vollversorgung ein Spielraum (BAG 13. November 2007 – 3 AZR 455/06 – Rn. 21 mwN, BAGE 125, 11). Allerdings ist das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu berücksichtigen. Dementsprechend beläuft sich die Vollversorgung nicht auf 100 vH des Nettoeinkommens, das der Betriebsrentner als Aktiver erzielen würde, sondern auf einen niedrigeren Wert. Denn die Betriebsrentner haben nicht mehr die mit der Erzielung des Arbeitseinkommens typischerweise verbundenen Aufwendungen aktiver Arbeitnehmer (vgl. BAG 27. Juni 2006 – 3 AZR 212/05 – Rn. 43 mwN; 25. Mai 2004 – 3 AZR 123/03 – zu B I 4 b bb (3) der Gründe; 17. November 1992 – 3 AZR 432/89 – zu B II 2 e (2) der Gründe).
83
Abzustellen ist bei der Beurteilung einer Versorgungszusage, die – wie hier – als Gesamtzusage erteilt wurde, auf den Zeitpunkt ihrer Erteilung und nicht auf den Beginn des einzelnen Arbeitsverhältnisses, da sie für alle angesprochenen Arbeitnehmer den gleichen Inhalt und die gleiche Bedeutung hat (BAG 13. November 2007 – 3 AZR 455/06 – Rn. 22 mwN, BAGE 125, 11).
84
(b) Stellt man zugunsten des Klägers auf den Zeitpunkt der Einführung der VO I 1995 und nicht auf den der VO I ab, so war – wie auch noch im Zeitpunkt des Inkrafttretens der DV 2017 – nach diesen Grundsätzen jedenfalls eine planmäßige Überversorgung gegeben.
85
(aa) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts lag 1995 und 2015 bei einer Brutto-Versorgungsobergrenze von 75 vH bei einem Durchschnittsverdienst rechnerisch eine Netto-Überversorgung – Verhältnis des Netto-Durchschnittsgehalts zum maximalen Rentenanspruch iHv. 75 vH vom maßgeblichen Bruttoentgelt – iHv. 113,1 vH vor. Im Jahr 2016 – und damit im Zeitpunkt des Inkrafttretens der DV 2017 zum 1. Januar 2017 – betrug die Netto-Überversorgung 111,84 (vgl. Angaben des Statistischen Bundesamtes, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4; hiernach betrug das durchschnittliche Bruttoentgelt im Jahr 2016 2.842,00 Euro, das durchschnittliche Nettoentgelt 1.906,00 Euro; die Nettoquote betrug somit 67,06 vH; bei einer Brutto-Versorgungsobergrenze iHv. 75 vH, ergibt sich eine Netto-Überversorgung iHv. 111,84 vH (100 : 67,06 x 75)). Damit überstieg sie eine Vollversorgung, die unterhalb des Versorgungsgrads von 100 vH vom letzten Netto-Aktiveneinkommen liegt.
86
(bb) Für die Frage, ob eine Überversorgung vorgelegen hat, kommt es – entgegen der Ansicht des Klägers – nicht auf dessen tatsächlich verfügbares Nettoeinkommen an. Da eine kollektive Versorgungsregelung in Form der Gesamtzusage gegeben ist und nicht eine mit dem Kläger individuell ausgehandelte Zusage, sind für die Frage, ob eine Überversorgung vorliegt, die durchschnittlichen Entgelte und Belastungen mit Steuern sowie Sozialabgaben einerseits und die Bruttoruhestandsbezüge andererseits zugrunde zu legen.
87
(2) Wegen des haushaltsrechtlichen Grundsatzes des sparsamen und wirtschaftlichen Handelns darf im öffentlichen Dienst auch eine planmäßige Überversorgung abgebaut werden.
88
(a) Die Zusage einer betrieblichen Altersversorgung, die außerhalb des Angemessenen steht und dem Grundsatz sparsamen und wirtschaftlichen Handelns zuwiderläuft, ist im öffentlichen Dienst nicht gestattet. Eine Versorgung, die über das im öffentlichen Dienst üblicherweise erreichbare Niveau weit hinausgeht und die Rentner deutlich besserstellt als die aktiven Arbeitnehmer, ist übermäßig und bedarf der Korrektur (vgl. BAG 17. November 1992 – 3 AZR 432/89 – zu B II 2 e (2) der Gründe). Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes müssen eine Rückführung ihrer Versorgung auf ein Maß hinnehmen, das sich an den letzten Nettoeinkünften der Aktiven ausrichtet und davon einen angemessenen Abstand einhält. Die Erwartung, eine unangemessene Überversorgung werde beibehalten, ist nicht schutzwürdig; die Absenkung der Altersversorgung auf ein angemessenes Maß verstößt nicht gegen den Verfassungsgrundsatz des Vertrauensschutzes (vgl. BAG 17. November 1992 – 3 AZR 432/89 – zu B II 2 e (3) der Gründe mwN).
89
(b) Diese Grundsätze gelten – entgegen der Ansicht des Klägers – auch vorliegend.
90
(aa) Die Industrie- und Handelskammern sind nicht gewinnorientierte Körperschaften des öffentlichen Rechts (vgl. BVerwG 19. Dezember 2015 – 10 C 6.15 – Rn. 17, BVerwGE 153, 315). Sie werden zwar nicht aus staatlichen Mitteln finanziert, sondern durch ihre Mitgliedsbeiträge. Diese sind allerdings aufgrund einer Pflichtmitgliedschaft (§ 2 Abs. 1 IHKG) zu leisten. Auch besitzen die Kammern bei der Aufstellung des Haushaltsplanes (Wirtschaftsplanes), der der Beitragserhebung dient (vgl. OVG Hamburg 20. Februar 2018 – 5 Bf 213/12 – Rn. 49), einen weiten Gestaltungsspielraum. Dabei müssen aber die jeweils zu beachtenden Rechtsnormen gewahrt sein (vgl. BVerwG 19. Dezember 2015 – 10 C 6.15 – Rn. 16, aaO; OVG Hamburg 20. Februar 2018 – 5 Bf 213/12 – Rn. 50 f.).
91
(bb) § 3 Abs. 2 Satz 2 IHKG gebietet die Beachtung der Grundsätze einer sparsamen und wirtschaftlichen Finanzgebarung sowie eine pflegliche Behandlung der Leistungsfähigkeit der Kammerzugehörigen. Darüber hinaus sind die Industrie- und Handelskammern an die Grundsätze des staatlichen Haushaltsrechts gebunden (vgl. BVerwG 19. Dezember 2015 – 10 C 6.15 – Rn. 16, BVerwGE 153, 315; OVG Hamburg 20. Februar 2018 – 5 Bf 213/12 – Rn. 51). Zu den Grundsätzen des staatlichen Haushaltsrechts zählt ua. der Grundsatz der Sparsam- und Wirtschaftlichkeit (vgl. Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG, § 6 des Gesetzes über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder – Haushaltsgrundsätzegesetz -, § 7 BHO; BVerwG 9. November 2017 – 3 A 4.15 – Rn. 104, BVerwGE 160, 263; BAG 26. September 1984 – 4 AZR 343/83 – BAGE 46, 394).
92
(cc) Soweit der Kläger einwendet, die Beklagte entscheide durch ihr oberstes Organ, die Vollversammlung (§ 4 Satz 2 Nr. 4 IHKG), über ihre Finanzierung, die Mitglieder legten daher die zu zahlenden Beiträge autonom fest, überzeugt das nicht. Die Vollversammlung wird zwar von den Kammermitgliedern gewählt (§ 5 Abs. 1 IHKG) und repräsentiert somit die Mitglieder der Kammer. Allerdings hat das einzelne Mitglied – wie der Steuerzahler oder der Rundfunkbeitragszahler – kein Stimmrecht bei der konkreten Festlegung der Mitgliedsbeiträge. Es muss sich der Entscheidung der Vollversammlung beugen. Zudem entbindet der Umstand der autonomen Festlegung der Höhe der Beiträge die Vollversammlung nicht davon, dass der Grundsatz der Sparsam- und Wirtschaftlichkeit und die Vorgabe der pfleglichen Behandlung der Leistungsfähigkeit der Kammerzugehörigen einzuhalten sind. Schließlich muss die Kammer ihre Ausgaben nicht selbst auf dem freien Markt erwirtschaften und das einzelne Mitglied kann nicht entscheiden, einer anderen Kammer mit günstigeren Beiträgen beizutreten oder einer Kammer gänzlich fern zu bleiben. Vielmehr ist es allein wegen seiner unter dem Schutz der Berufswahlfreiheit nach Art. 12 GG gewählten Tätigkeit Mitglied der Beklagten.
93
Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeführt hat, die Beklagte dürfe entscheiden, „was sie sich leisten wolle“, und eine gute betriebliche Altersversorgung führe dazu, qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, verfängt auch das nicht. Die Beklagte ist gerade nicht völlig frei darin zu entscheiden, welche finanziellen Belastungen eingegangen werden sollen. Sie ist – wie ausgeführt – an den Grundsatz des sparsamen und wirtschaftlichen Handelns gerade auch zur schonenden Behandlung ihrer (Zwangs-)Mitglieder in finanzieller Hinsicht gebunden. Soweit es um das Gewinnen besonders qualifizierter Mitarbeiter geht, mag in Einzelfällen die Zusage eines hohen Ruhegeldes zulässig sein. Vorliegend geht es aber um eine allgemeine Versorgungsregelung für alle Arbeitnehmer, deren Überversorgung aufgrund der Bindung an den Grundsatz sparsamen und wirtschaftlichen Handelns nicht zulässig ist.
94
bb) Die Begrenzung der Ruhegelder auf 100 vH des letzten Nettoeinkommens als aktiver Arbeitnehmer dient dem Abbau der – planmäßigen – Überversorgung. Sie geht nicht über die rechtlichen Grenzen hinaus.
95
Die Einführung der Nettolimitierung der Bruttogesamtversorgungsobergrenze (I Nr. 8 VO I 1995) durch I Nr. 8 DV 2017 setzt den Grundsatz der sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung um und hält sich dabei in den rechtlich zulässigen Grenzen. Die Einführung der Nettolimitierung iHv. 100 vH anstelle der bruttolohnbezogenen Obergrenze ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat damit die Grenzen ihres Anpassungsrechts – auch bei einseitiger Umsetzung der DV 2017 gegenüber dem Kläger – nicht überschritten.
96
(1) Bei einer planmäßigen Überversorgung – die Versorgungsberechtigten erhalten mehr als eine volle Sicherung ihres bisherigen Lebensstandards – darf eine Rückführung auf einen Versorgungsgrad von 100 vH bezogen auf das letzte Nettoentgelt als aktiver Arbeitnehmer erfolgen bzw. auch um einen gewissen Anteil unterschritten werden, denn das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ist zu berücksichtigen. Dementsprechend beläuft sich die Vollversorgung nicht auf 100 vH des Nettoeinkommens, das der Betriebsrentner als Aktiver erzielen würde, da – wie ausgeführt – die Betriebsrentner nicht mehr die mit der Erzielung des Arbeitseinkommens typischerweise verbundenen Aufwendungen aktiver Arbeitnehmer haben.
97
(2) Dies zugrunde gelegt, darf der Versorgungsgrad auf 100 vH der letzten Nettoeinkünfte – bzw. auch auf ein gewisses Weniger – zurückgeführt werden. Genau das ist vorliegend erfolgt. Unschädlich ist, dass die Beklagte die Bruttoversorgung der Versorgungsberechtigten an der Netto-Versorgung der Aktiven ausgerichtet hat, also aufgrund der zu zahlenden Steuern und Sozialabgaben tatsächlich ein geringerer Nettobetrag bei dem Ruhegeldempfänger verbleibt. Dies ist angemessen, weil – wie ausgeführt – Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes eine Rückführung ihrer Versorgung auf ein Maß hinnehmen müssen, das sich zwar an den letzten Nettoeinkünften ausrichtet, davon aber wegen der typischerweise geringeren finanziellen Ausgaben und Belastungen einen angemessenen Abstand einhält. Insofern durfte die Beklagte vorliegend bei Berechnung der Ausgangsrente unter Berücksichtigung der Nettolimitierung die gesetzliche Rente als Bruttobetrag anrechnen.
98
(a) Dem Arbeitgeber sind, wenn es sich bei der Versorgungsordnung – wie vorliegend – um eine allgemeine Regelung mit kollektiver Wirkung handelt, Typisierungen, Pauschalierungen und Generalisierungen erlaubt (vgl. für den Fall einer Betriebsvereinbarung BAG 10. November 2015 – 3 AZR 576/14 – Rn. 37). Dies gilt sowohl bei einer Bruttogesamtversorgungsobergrenze als auch bei einer Nettogesamtversorgungsobergrenze.
99
(b) Typisierend durfte die Beklagte annehmen, dass die Ruhegeldempfänger finanziell weniger belastet sind, so dass auch ein Nettoruhegeld, das 100 vH vom letzten Nettoentgelt der aktiven Zeit unterschreitet, ausreichend ist, um eine Vollversorgung zu erreichen.
100
(c) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers musste die Beklagte bei ihrer Anpassungsentscheidung auch nicht berücksichtigen, dass die Steuerbelastung von Betriebsrentnern im Laufe der Zeit erheblich gestiegen ist.
101
(aa) Aufgrund der grundlegenden Änderungen, die das Steuerrecht durch das Gesetz zur Neuordnung der einkommenssteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – AltEinkG) vom 5. Juli 2004 (BGBl. I S. 1427) erfahren hat, haben Betriebsrentner ab dem 1. Januar 2005 auf ihr betriebliches Ruhegeld höhere Steuern zu zahlen. Bezüge, die der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber als betriebliche Altersversorgung erhält, gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG) und sind als solche zu versteuern.
102
Ebenso stieg die steuerliche Belastung der Sozialversicherungsrente. Bis zum 31. Dezember 2004 – und auch schon im Jahr 1995 – war die Sozialversicherungsrente lediglich mit dem Ertragsanteil, der bei einem Renteneintritt bei Vollendung des 65. Lebensjahres zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung bei 27 vH lag, zu versteuern (§ 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG aF). Unter Berücksichtigung des Grundfreibetrags gemäß § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG führte dies dazu, dass auf die Sozialversicherungsrente nur sehr geringe oder – insbesondere, wenn der Rentner keine weiteren Einkünfte hatte – keine Steuern zu zahlen waren. Ab dem Veranlagungszeitraum 2005 begann die Phase der nachgelagerten Besteuerung der Sozialversicherungsrenten. Gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG in der Fassung vom 5. Juli 2004 waren im Jahr 2005 zunächst 50 vH der Sozialversicherungsrente zu versteuern. Dieser Anteil stieg bzw. steigt bis zum Jahr 2020 um jährlich 2 vH und sodann bis zum Jahr 2040 um jährlich 1 vH bis auf 100 vH an (vgl. BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 54).
103
(bb) Das Risiko der Verteilung der Steuerlast hat sich jedoch durch die DV 2017 im Verhältnis zur VO I 1995 nicht geändert.
104
(aaa) Nach IV Nr. 1 VO I 1995 werden auf das zu gewährende Ruhegeld (I Nr. 8 VO I 1995) grundsätzlich die Renten aus der gesetzlichen Sozialversicherung voll angerechnet. Entsprechendes gilt nach IV Nr. 1 DV 2017, wobei die Höhe des Ruhegeldes begrenzt ist auf 100 vH des – zuletzt bezogenen (I Nr. 8 iVm. Nr. 6 DV 2017) – fiktiven Nettoarbeitsentgelts. Beide Bestimmungen sind dahin zu verstehen, dass die Sozialversicherungsrente mit ihrem Bruttobetrag anzurechnen ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats meint der einschränkungslose Hinweis auf andere Versorgungsbezüge in Gesamtversorgungsordnungen in der Regel den Bruttobezug. Soll nur der Nettobetrag aus den anderen Versorgungsbezügen maßgebend sein, muss dies mindestens sinngemäß zum Ausdruck kommen (vgl. BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 52 mwN).
105
Das ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr bestätigt die Wortwahl „voll“ in beiden Versorgungsregelungen, dass die gesetzliche Rente einschränkungslos und somit brutto anzurechnen ist. Bei der VO I 1995, die eine Bruttogesamtversorgungsobergrenze enthält, liegt der Abzug der Bruttosozialversicherungsrente zudem bereits in der Logik der Versorgungszusage. Aber auch aus der DV 2017 ergeben sich keine Anhaltspunkte, die für eine Berücksichtigung der Sozialversicherungsrente mit ihrem Nettobetrag sprächen. Im Gegenteil: Während die steuer- und abgabenrelevanten Berechnungsposten bei der Ermittlung des fiktiven Nettoentgelts in I Nr. 8 DV 2017 ausdrücklich benannt sind, fehlt eine entsprechende Berechnungsregel im Hinblick auf die gesetzlichen Renten.
106
(bbb) Da die Sozialversicherungsrente schon nach der VO I 1995 mit ihrem Bruttobetrag anzurechnen war, hat I Nr. 8 DV 2017 keine Änderung herbeigeführt, sondern die Berechnungsregel der VO I 1995 übernommen (vgl. zu einem anderen Versorgungswerk BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 55). Die Sozialversicherungsrente unterlag bereits zum Zeitpunkt der Schaffung der VO I 1995 – wenn auch nur in geringerem Umfang – der Besteuerung. Die Beklagte hatte also bereits mit der VO I 1995 zum Ausdruck gebracht, dass sie lediglich für die Differenz zwischen der Bruttosozialversicherungsrente iSd. Nettosozialversicherungsrente zuzüglich der darauf entfallenden Steuern und der Gesamtversorgungsobergrenze einstehen wollte. Deshalb mussten die Versorgungsempfänger von vornherein damit rechnen, dass spätere ungünstige Entwicklungen des Steuerrechts zu ihren Lasten gehen würden.
107
(cc) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers hat die Beklagte mit der Begrenzung der Gesamtversorgungsobergrenze auf 100 vH des fiktiven Nettoeinkommens gemäß I Nr. 8 DV 2017 auch angemessen darauf reagiert, dass inzwischen sowohl die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als auch die Betriebsrente der Beitragspflicht zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung unterliegen, was dazu führt, dass die Betriebsrentner effektiv geringere Rentenleistungen zur Verfügung haben und der ursprünglich angestrebte Versorgungsgrad nicht mehr erreicht wird.
108
(aaa) Stellt man zugunsten des Klägers darauf ab, dass es auf den Zeitpunkt der Schaffung der VO I im Jahr 1960 ankommt, gilt, dass zu diesem Zeitpunkt – anders als bei der Schaffung der VO I 1995 – weder die gesetzliche Rente noch die Betriebsrente einer Beitragspflicht zur gesetzlichen Kranken- oder Pflegeversicherung unterlagen.
109
(bbb) Das hat sich jedoch zwischenzeitlich geändert.
110
Die Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung wurde für Rentner durch Art. 2 des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung vom 1. Dezember 1981 – RAG – (BGBl. I S. 1205) erst zum 1. Januar 1983 eingeführt (vgl. § 180 Abs. 5 und Abs. 6, § 381 Abs. 2 RVO aF; heute geregelt in § 228 Abs. 1, § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V). Zum Zeitpunkt des Abschlusses der DV 2017 im Jahr 2017 – wie auch heute noch – betrug der allgemeine Beitrag zur Krankenversicherung 14,6 vH (§ 241 SGB V), den der Rentner auf die Sozialversicherungsrente nach § 249a SGB V aF zur Hälfte zu tragen hatte bzw. hat. Den Zusatzbeitrag (§ 242 SGB V) – im Fall des Klägers 1,1 vH – hatte der Rentner vor dem 1. Januar 2019 voll zu tragen (§ 249a SGB V idF vor der Änderung durch Art. 2 Nr. 6, Art. 13 Abs. 2 des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes vom 11. Dezember 2018, BGBl. I S. 2387). Auf die Betriebsrente tragen die Rentner nach §§ 249a, 250 Abs. 1 Nr. 1 SGB V den vollen Beitragssatz seit dem 1. Januar 2004 allein (vgl. Art. 1 Nr. 148 des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14. November 2003, BGBl. I S. 2190).
111
Seit dem 1. Januar 2005 zahlen die Rentner zudem sowohl auf die Betriebsrente als auch auf die Sozialversicherungsrente Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung (eingeführt durch das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vom 26. Mai 1994 – PflegeVG – BGBl. I S. 1014). Der Beitragssatz beläuft sich seit dem 1. Januar 2016 auf 2,55 vH (vgl. Zweites Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften – Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II vom 21. Dezember 2015 – BGBl. I S. 2424). Nach § 59 Abs. 1 SGB XI – iVm. § 250 Abs. 1 SGB V – werden die Beiträge sowohl auf die Sozialversicherungsrente als auch auf die Betriebsrente vom Rentner allein getragen.
112
(ccc) Dem Kläger ist zuzugestehen, dass die Minderung des ihm zur Verfügung stehenden Entgelts durch Sozialversicherungsbeiträge auf Renten in der VO I nicht und in der VO I 1995 nur zum Teil angelegt war. Das hat vorliegend – soweit man zugunsten des Klägers auf das Jahr 1960 abstellt – Berücksichtigung zu finden. Insofern hat sich die Beklagte in Ausübung ihres Anpassungsermessens bei der Neufestlegung der Gesamtversorgungsobergrenze in der DV 2017 an dem Risiko, dass sich die effektiven Versorgungsbezüge für die Betriebsrentner infolge der Beitragspflicht zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung gemindert haben, angemessen zu beteiligen. Allerdings ist entgegen der Ansicht des Klägers nicht der volle Beitrag zur Sozialversicherung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Vielmehr ist es angemessen, dass sich die Beklagte als ehemalige Arbeitgeberin hälftig zu beteiligen hat.
113
Die VO I hatte eine etwaige Einführung einer Beitragspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung auf die Sozialversicherungsrente und die Betriebsrente nicht dem alleinigen Risikobereich der Versorgungsempfänger, aber auch nicht dem alleinigen Risikobereich des Arbeitgebers zugewiesen. Als die VO I im Jahr 1960 geschaffen wurde, bestand weder für die Sozialversicherungsrente noch für die Betriebsrente eine Beitragspflicht zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Mit einer grundlegenden Änderung durch Einführung der Beitragspflicht konnten und mussten weder die Beklagte noch die Arbeitnehmer rechnen. Demzufolge lag der VO I die Überlegung zugrunde, dass den Versorgungsempfängern zusammen mit der gesetzlichen Rente im Versorgungsfall iHv. – im besten Fall – 75 vH ihres letzten Monatsbruttoeinkommens bzw. 89,18 vH ihres letzten Nettoeinkommens abzüglich der auf die Sozialversicherungsrente und die Betriebsrente vom Rentner zu entrichtenden Steuern effektiv zur Verfügung stehen sollten. Dieser Versorgungsgrad wird infolge der Beitragspflicht zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nicht mehr erreicht (vgl. BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 64).
114
I Nr. 8 DV 2017 berücksichtigt aber hinreichend die Folgen, die sich aus der Beitragspflicht zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung für die effektiven Renteneinkünfte der Versorgungsempfänger ergeben. Die DV 2017 strebt eine Gesamtversorgung iHv. 100 vH des maßgeblichen – fiktiven – Nettoeinkommens an. Dieses Versorgungsniveau reicht bei typisierender und pauschalierender Betrachtung aus, um die mit der Beitragspflicht verbundene Schmälerung der Nettorenten angemessen auszugleichen (vgl. BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 65), so dass die Beklagte entgegen der Ansicht des Klägers bei der Berechnung seines Ruhegeldes auf seine Gesamtversorgungseinkünfte entfallende Sozialversicherungsbeiträge nicht von dem Ausgleichsbetrag abziehen musste. Die Beklagte hat darauf verzichtet, einen niedrigeren Nettoversorgungsgrad festzulegen und damit schon dort den niedrigeren Bedarf von Betriebsrentnern gegenüber Aktiven zu berücksichtigen. Bei pauschaler Betrachtung rechtfertigt dieser Gesichtspunkt den Umstand, dass die Beklagte das volle Risiko der Beitragsbelastung der Betriebsrente auf die Arbeitnehmer und somit auch auf den Kläger abgewälzt hat.
115
(d) Unschädlich ist auch, dass die Regelung der I Nr. 8 DV 2017 bei der Festlegung des fiktiven Nettoentgelts die Steuersätze und Versicherungsbeiträge pauschaliert.
116
Zwar wird das Versorgungsziel desto genauer erreicht, je mehr bei den gesetzlichen Abgaben auf den Einzelfall abgestellt wird. Andererseits ist der Verwaltungsaufwand umso größer, je mehr die individuellen Verhältnisse berücksichtigt werden. Versorgungsordnungen dürfen jedoch typisieren und pauschalieren, müssen es aber nicht (vgl. BAG 10. Dezember 2019 – 3 AZR 478/17 – Rn. 37; 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 68; 28. Juli 1998 – 3 AZR 100/98 – zu B I 3 a bb der Gründe, BAGE 89, 262). Eine pauschale Berechnungsweise ist sinnvoll und erhöht die Praktikabilität der Regelung. Im Übrigen werden die Betriebsrentner tendenziell eher begünstigt als benachteiligt, wenn allgemein bei der Ermittlung der Nettobezüge die Steuerklasse III für verheiratete Arbeitnehmer zugrunde gelegt wird (BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – aaO).
117
(e) Schließlich ist vorliegend der Ausgleichsbetrag zu berücksichtigen, der nach IX DV 2017 zu berechnen und zu gewähren ist. Danach erhält der Versorgungsempfänger – so auch der Kläger – dauerhaft zumindest die gleiche Effektivrente wie zuletzt von der Beklagten gezahlt. Dh. die Überversorgung wird zunächst beibehalten und nur allmählich im Laufe der Jahre abgebaut, indem der Ausgleichsbetrag um 1/10 bei jeder Anpassung der Versorgungsbezüge gekürzt wird, max. jedoch im Umfang der tatsächlichen Erhöhung. Da zugleich aber die gesetzliche Rente nicht mehr im Rahmen einer Gesamtversorgung angerechnet und somit dem Versorgungsempfänger Steigerungen der gesetzlichen Rente in vollem Umfang erhalten bleiben, wird sogar dauerhaft ein Teil der Überversorgung beibehalten.
118
Zudem erfolgt durch Zahlung des Ausgleichsbetrags kein Eingriff in den Besitzstand des Klägers, obwohl der Abbau einer Überversorgung grundsätzlich Eingriffe in den erdienten Besitzstand erlaubt (vgl. BAG 28. Juli 1998 – 3 AZR 357/97 – unter II 4 a aa der Gründe mwN, BAGE 89, 279). Lediglich die Ruhegelddynamik ist teilweise beseitigt worden, wobei sich die Abschmelzung des Ausgleichsbetrags über einen längeren Zeitraum erstreckt. Das ist maßvoll und vermeidet Härtefälle (vgl. BAG 28. Juli 1998 – 3 AZR 100/98 – zu B I 3 a cc der Gründe, BAGE 89, 262).
119
cc) Die Beklagte hat schließlich auch nicht dadurch gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit verstoßen, dass sie dem Kläger ein Sonderopfer abverlangt hat.
120
Allerdings wäre es unverhältnismäßig und damit unzulässig, bei Eingriffen in Versorgungsregeln aus Gründen, die sowohl auf die Betriebsrentner als auch auf die Aktiven zutreffen, die Betriebsrentner gegenüber den Aktiven besonders zu belasten (vgl. BAG 13. Mai 1997 – 1 AZR 75/97 – zu III der Gründe). Auch stellte dies eine gleichheitswidrige Behandlung der Betriebsrentner dar (vgl. BAG 18. November 2008 – 3 AZR 417/07 – Rn. 37; 28. Juli 1998 – 3 AZR 357/97 – zu I 5 der Gründe, BAGE 89, 279). Eine derartige unzulässige Belastung bzw. Ungleichbehandlung hat die Beklagte jedoch nicht vorgenommen. Es sind aktive und ehemalige Arbeitnehmer gleichermaßen betroffen.
121
2. Auf ihr Anpassungsrecht hat die Beklagte weder verzichtet noch ist dieses verwirkt.
122
a) Ein Verzicht ist nicht gegeben. Zwar kann auf Gestaltungsrechte durch einseitige Willenserklärung verzichtet werden (vgl. Palandt/Grüneberg 79. Aufl. § 397 Rn. 4 mwN).
123
Ausreichende Anhaltspunkte für einen ausdrücklichen Verzicht sind jedoch nicht erkennbar. Es fehlt an entsprechenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts. Die Entscheidung im Oktober 1995, die VO I in der Substanz unverändert zu lassen, sowie der Umstand, dass die VO I 1995 bis zum Jahr 2017 nicht geändert wurde, beinhalten keinen ausdrücklichen Verzicht. Gleiches gilt für die angebliche Äußerung des damaligen Hauptgeschäftsführers der Beklagten in einem Gespräch mit betroffenen Mitarbeitern am 21. November 2016, „die Regelung solle dauerhaft“ gelten. Bei derartigen Absichtserklärungen einen Rechtsbindungswillen anzunehmen, liegt fern. Das gilt gerade hinsichtlich der betrieblichen Altersversorgung, die als System nicht erstarren darf.
124
Auch ein konkludenter Verzicht ist nicht gegeben. Allein die längere Nichtausübung eines Rechts enthält noch keinen stillschweigenden Verzicht. An die Annahme eines konkludent erklärten Verzichts sind vielmehr strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BAG 28. Juli 1998 – 3 AZR 357/97 – unter II 3 a der Gründe mwN, BAGE 89, 279), die vorliegend nicht erfüllt sind. Von einem Verzicht kann vorliegend schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil die Beklagte damit ihre Pflicht zur sparsamen und wirtschaftlichen Haushaltsführung verletzt hätte. Dies kann ihr nicht unterstellt werden. Auch der Umstand, dass die VO I 1995 wiederholt gegenüber den Mitarbeitern verlautbart worden war, beinhaltet keinen Verzicht auf Abänderung.
125
b) Ebenso ist keine Verwirkung des Anpassungsrechts gegeben.
126
aa) Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung. Durch sie wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie dient dem Vertrauensschutz (BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 34 mwN). Deshalb kann allein der Zeitablauf nicht zur Verwirkung eines Rechts führen. Zu dem Zeitmoment müssen vielmehr besondere Umstände sowohl im Verhalten des Berechtigten als auch des Verpflichteten hinzutreten (Umstandsmoment), die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für die andere Seite als unzumutbar anzusehen. Dabei muss der Berechtigte unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erwecken konnten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, so dass die andere Seite sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (vgl. BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – aaO; 20. April 2010 – 3 AZR 225/08 – Rn. 53, BAGE 134, 111).
127
bb) Vorliegend fehlt es jedenfalls am Umstandsmoment. Es liegen keine Umstände vor, die es rechtfertigen könnten, die Geltendmachung des Anpassungsrechts mit Wirkung zum Januar 2017 als mit Treu und Glauben unvereinbar und beim Kläger den Eindruck erwecken konnten, er müsse nicht mehr mit einer Ablösung der VO I 1995 rechnen.
128
Ein schutzwürdiges Vertrauen der Arbeitnehmer ist insoweit selbst dann zu verneinen, wenn der Arbeitgeber erklärt hat, er beabsichtige, den Altbestand von Versorgungsberechtigten auch künftig zu schonen. Solche Erwartungen müssen in rechtsverbindlicher Weise festgelegt werden, bei einer Betriebsvereinbarung etwa durch den Ausschluss der Kündigung (BAG 9. April 1991 – 3 AZR 598/89 – zu III 2 der Gründe, BAGE 67, 385). Die Beklagte hat sich vorliegend auch nach dem Vortrag der Beklagten zu keinem Zeitpunkt rechtsgeschäftlich verpflichtet, die Überversorgung beizubehalten (vgl. auch BAG 28. Juli 1998 – 3 AZR 357/97 – unter II 3 b der Gründe mwN, BAGE 89, 279). Aus einzelnen Handlungen und Aussagen Verantwortlicher konnte der Kläger nicht auf einen derartigen Rechtsbindungswillen schließen.
129
III. Soweit es um die Änderung der auf betrieblicher Übung beruhenden Anpassungsregelung geht – Erhöhung nur noch des Grundversorgungsbetrags gemäß der Tarifentwicklung – hat die Beklagte die materiellen Grenzen ebenfalls eingehalten.
130
Insoweit gelten unmittelbar die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit, nicht jedoch das vom Senat entwickelte dreistufige Prüfungsschema (vgl. bei Eingriffen in Anpassungsregelungen für Versorgungsanwärter ausführlich BAG 11. Juli 2017 – 3 AZR 601/16 – Rn. 47). Im Streitfall sind diese Grundsätze nicht verletzt.
131
1. Zweifelhaft ist, ob tatsächlich ein verschlechternder Eingriff gegeben ist.
132
a) VIII iVm. X DV 2017 greift in die für den Kläger geltende Anpassungsregelung ein.
133
Bisher erfolgte – wie ausgeführt – eine Anpassung des Bruttogesamtversorgungsbetrags des Klägers jeweils gemäß den Steigerungen des Tarifentgelts. Da nach IV VO I 1995 stets eine Anrechnung der gesetzlichen Rente erfolgte, wurden spätere Steigerungen der gesetzlichen Rente im Rahmen des Gesamtversorgungssystems gegengerechnet. Nach VIII iVm. X DV 2017 wird nunmehr nur der – nettolimitierte – Grundversorgungsbetrag und die jährliche Zuwendung bei künftigen Veränderungen der Tarifgehälter entsprechend angepasst, nicht aber der Ausgleichsbetrag (X Nr. 2 Satz 2 DV 2017). Dieser wird vielmehr im Laufe der Jahre abgeschmolzen. Andererseits spielt die Entwicklung der gesetzlichen Rente keine Rolle mehr, dh. eine Steigerung der gesetzlichen Rente wirkt sich nicht mehr zu Lasten des Versorgungsbezugs des Klägers aus.
134
Zwar wird nicht der Betrag der nettolohnbezogenen Gesamtversorgungsobergrenze – wie zuvor der bruttolohnbezogene Gesamtversorgungsbetrag – entsprechend der Tarifentwicklung – unter Anrechnung der gesetzlichen Rente – gesteigert. Aber es erhöhen sich auch zukünftig die Gesamteinkünfte des Klägers. Das Ruhegeld – der sog. Grundversorgungsbetrag sowie die jährliche Zuwendung – wird weiterhin entsprechend der Tarifsteigerung angepasst, die gesetzliche Rente erhöht sich entsprechend der allgemeinen Rentensteigerung. Ein negativer Effekt auf die Gesamtrenteneinkünfte des Klägers liegt nur vor, wenn seine gesetzliche Rente geringer steigt als die Tarifgehälter und entsprechend auch das betriebliche Ruhegeld. Steigt sie dagegen in gleichem Umfang oder sogar stärker als die Tarifentgelte und damit stärker als seine betriebliche Rente, so entsteht dem Kläger kein Nachteil bzw. sogar einen Vorteil durch die Abkoppelung der gesetzlichen Rente von der Anpassung der betrieblichen Rente.
135
b) Damit ist die Regelung in VIII iVm. X DV 2017 eine sog. ambivalente Regelung, dh. sie birgt Risiken für den Kläger als Ruhegeldempfänger, aber auch Chancen. Letztlich hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob sich die Regelung günstiger auswirkt oder nicht. Erfolgt keine oder nur eine geringe Steigerung der Tarifgehälter, aber eine hohe Anpassung der gesetzlichen Rente, wirkt sich die Regelung in VIII iVm. X DV 2017 zugunsten des Klägers aus. Steigen die Tarifgehälter dagegen stark, die gesetzliche Rente kaum, wirkt sie sich zu Lasten des Klägers aus. Darüber hinaus kommt es darauf an, in welchem Größenverhältnis die betriebliche und die gesetzliche Rente zueinander bestehen.
136
2. Geht man aber davon aus, dass auch eine ambivalente Regelung einen verschlechternden Eingriff bedeutet, ist die bisherige Anpassungsregelung wirksam abgelöst. VIII iVm. X DV 2017 berücksichtigt die Interessen der Beklagten und des Klägers angemessen und wahrt die Grundsätze des Vertrauensschutzes sowie der Verhältnismäßigkeit. Die neue Anpassungsregelung stellt allenfalls einen geringfügigen Eingriff in die bisherigen Versorgungsrechte des Klägers dar. Hierfür ein ausreichend sachlicher Grund gegeben. Der Eingriff ist dem Kläger auch zumutbar.
137
a) VIII iVm. X DV 2017 bewirkt nur einen äußerst geringfügigen Eingriff.
138
aa) Auch Eingriffe in eine Anpassungsregelung können die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten. Ob dies der Fall ist, hängt von den Nachteilen ab, die dem Versorgungsberechtigten durch die konkrete Änderung entstehen. Mehr als geringfügig sind solche Eingriffe, die dem Versorgungsempfänger – hätte er mit ihnen gerechnet – während des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses vernünftigerweise hätten Anlass geben können, sie durch eine weitergehende private Absicherung auszugleichen (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 102 mwN, BAGE 164, 261).
139
bb) Hiernach lag kein Eingriff vor, der mehr als geringfügig war; es bestand kein Anlass zur Eigenvorsorge.
140
Die neue Anpassungsregelung sieht weiterhin vor, dass das betriebliche Ruhegeld – wie zuvor – anhand der Tarifentwicklung gesteigert wird. Denkbar sind sogar Konstellationen, in denen die Summe aus Betriebsrente und gesetzlicher Rente des Klägers stärker steigt als nach der Altregelung. Der theoretisch mögliche Fall, dass die gesetzlichen Renten gar nicht mehr steigen bzw. sogar gekürzt werden, musste nicht berücksichtigt werden, da hierfür keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte gegeben waren oder sind. Auch der Ruhegeldempfänger selbst hätte insoweit keinen Anlass gehabt, eine Eigenvorsorge zu betreiben.
141
cc) Außerdem sieht die Anpassungsregelung weiterhin eine Anpassung unabhängig von der wirtschaftlichen Lage – anders als die gesetzliche Regelung in § 16 Abs. 1 BetrAVG – vor. Darüber hinaus ist die Anpassung entsprechend der tariflichen Entgeltentwicklung im Regelfall günstiger als die Anpassungsgarantie iHv. 1 vH, die das Hamburger Zusatzversorgungsgesetz für den öffentlichen Dienst vorsieht (vgl. § 6 Abs. 6 HmbZVG), obwohl die Beklagte eine betriebliche Altersversorgung ausweislich des grundlegenden Beschlusses vom 6. August 1959 „nach Maßgabe der für die Hamburger Staatsangestellten und -arbeiter geltenden Regelung“ zugesagt hat.
142
dd) Auch das Abschmelzen des Ausgleichsbetrags über mehrere Jahre führt nicht dazu, dass ein mehr als geringfügiger Eingriff vorliegt. Vielmehr mindert die Einführung des lang gestreckten Ausgleichbetrages deutlich die Eingriffsdichte, zumal auch Betriebsrentensteigerungen nicht sofort vollständig verrechnet werden.
143
b) Für diesen – wenn überhaupt – äußerst geringfügigen Eingriff in die Anpassungsregelung liegt – entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts – ein ausreichender sachlicher Grund vor.
144
Die Änderung der Anpassungsregelung für laufende Versorgungsleistungen steht im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Altersversorgung bei der Beklagten. Die Beklagte nahm den Abbau der Überversorgung zum Anlass, auch das Anpassungsverfahren abzuändern, insbesondere zu vereinfachen. Das ursprüngliche Anpassungsverfahren, die Steigerung der Gesamtversorgung entsprechend der Entwicklung der Tarifgehälter unter Anrechnung der gesetzlichen Rentensteigerung, führte dazu, dass die Versorgung mehrfach neu berechnet werden musste: ein erstes Mal zum Stichtag der Tarifanpassung und ein zweites Mal zum Stichtag der Erhöhung der gesetzlichen Renten. Der wenig sinnvolle Verwaltungs- und Abwicklungsaufwand, der mit dieser Regelung verbunden war, wird durch die Regelung in VIII DV 2017 wesentlich verringert. Die Verringerung des Verwaltungsaufwands, die zugleich zu einer Kosteneinsparung führt, ist ein nachvollziehbares Anliegen der Beklagten (vgl. BAG 2. September 2014 – 3 AZR 951/12 – Rn. 72). Dies genügt bereits als Sachgrund für den äußerst geringfügigen Eingriff (vgl. BAG 16. Juli 1996 – 3 AZR 398/95 – zu II 2 e der Gründe, BAGE 83, 293).
145
3. Ein Sonderopfer gegenüber den Aktiven liegt auch insoweit ebenso wenig vor wie ein Verzicht auf das oder eine Verwirkung des Anpassungsrechts.
146
D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 91 Abs. 1 ZPO.
Zwanziger
Spinner
Günther-Gräff
Wischnath
D. Busch |
bag_36-18 | 27.06.2018 | 27.06.2018
36/18 - Rückzahlung einer tarifvertraglichen Sonderzuwendung bei Ausscheiden bis zum 31. März des Folgejahres
In Tarifverträgen kann der Anspruch auf eine jährliche Sonderzahlung vom Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem Stichtag außerhalb des Bezugszeitraums im Folgejahr abhängig gemacht werden.
Der Beklagte arbeitete seit 1995 als Busfahrer in dem Verkehrsunternehmen der Klägerin. Auf das Arbeitsverhältnis fand aufgrund einzelvertraglicher Bezugnahme ein Tarifvertrag Anwendung, der einen Anspruch auf eine bis zum 1. Dezember zu zahlende Sonderzuwendung vorsieht. Diese dient auch der Vergütung für geleistete Arbeit. Die Sonderzuwendung ist vom Arbeitnehmer zurückzuzahlen, wenn er in der Zeit bis zum 31. März des folgenden Jahres aus eigenem Verschulden oder auf eigenen Wunsch aus dem Beschäftigungsverhältnis ausscheidet. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis im Oktober 2015 zum Januar 2016. Mit der Abrechnung für den Monat November 2015 zahlte die Klägerin an ihn die tarifliche Sonderzuwendung in Höhe eines Monatsentgelts. Nachdem das Arbeitsverhältnis geendet hatte, verlangte die Klägerin die Sonderzuwendung nach der tarifvertraglichen Regelung zurück. Der Beklagte lehnte das ab, weil die Tarifvorschrift unwirksam sei. Sie verstoße als unverhältnismäßige Kündigungsbeschränkung gegen das Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision des Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.
Die Rückzahlungsregelung wäre nach der Rechtsprechung des Senats allerdings unwirksam, wenn sie als arbeitsvertragliche Allgemeine Geschäftsbedingung einer Klauselkontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB zu unterziehen wäre (ausführlich BAG 18. Januar 2012 10 AZR 612/10 BAGE 140, 231). Arbeitsvertraglich in ihrer Gesamtheit einbezogene Tarifverträge unterliegen jedoch keiner solchen Inhaltskontrolle, weil sie nur bei einer Abweichung von Rechtsvorschriften stattfindet (§ 307 Abs. 3 Satz 1 BGB). Tarifverträge stehen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften im Sinn von § 307 Abs. 3 BGB gleich.
Die Rückzahlungsverpflichtung des Beklagten, die sich aus der tarifvertraglichen Stichtagsregelung ergibt, verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Sie verletzt insbesondere nicht Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG, die die Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Normsetzung zu beachten haben. Den Tarifvertragsparteien steht dabei aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Darüber hinaus verfügen sie über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung. Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn es für die getroffene Regelung einen sachlich vertretbaren Grund gibt.
Die tarifvertragliche Regelung, die der Senat anzuwenden hatte, greift zwar in die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ein. Art. 12 Abs. 1 GG schützt auch die Entscheidung eines Arbeitnehmers, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in einem gewählten Beruf beizubehalten oder aufzugeben. Die Einschränkung der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ist hier aber noch verhältnismäßig. Die Grenzen des gegenüber einseitig gestellten Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen erweiterten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien sind nicht überschritten.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. Juni 2018 10 AZR 290/17
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Kammern Freiburg , Urteil vom 9. Mai 2017 9a Sa 12/17 | Tenor
1. Die Revision des Klägers und Widerbeklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg – Kammern Freiburg – vom 9. Mai 2017 – 9a Sa 12/17 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass ein Zinsanspruch aus dem Teilbetrag von 1.047,29 Euro erst ab dem 27. September 2016 besteht.
2. Der Kläger und Widerbeklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Der Anspruch auf eine Jahressonderzahlung kann in Tarifverträgen vom Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem Stichtag im Folgejahr abhängig gemacht werden.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten zuletzt noch über die Verpflichtung des Klägers und Widerbeklagten (Widerbeklagten), eine Sonderzuwendung für das Jahr 2015 an die Beklagte und Widerklägerin (Widerklägerin) zurückzuzahlen.
2
Der Widerbeklagte arbeitete seit dem Jahr 1995 als Busfahrer bei der Widerklägerin, die ein Verkehrsunternehmen betreibt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand kraft einzelvertraglicher Bezugnahme der Tarifvertrag für die Bediensteten der nichtbundeseigenen Eisenbahnen und von Kraftverkehrsbetrieben (ETV) vom 15. Dezember 1966 (Stand 1. August 2014), abgeschlossen zwischen dem Arbeitgeberverband Deutscher Eisenbahnen e. V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sowie der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, Anwendung. Anhang 1 zum ETV ist die Tarifvereinbarung Nr. 500/501 über die Zahlung einer Sonderzuwendung vom 7. Oktober 1971 (TV-Sonderzuwendung). Diese lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 1
(1)
Die Bediensteten erhalten in jedem Kalenderjahr anstelle einer Weihnachtszuwendung eine Sonderzuwendung, wenn sie
1.
am 1. Dezember seit dem 1. Oktober ununterbrochen bei demselben Arbeitgeber in einem Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnis stehen und
2.
nicht in der Zeit bis einschließlich 31. März des folgenden Jahres aus eigenem Verschulden oder auf eigenen Wunsch aus dem Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnis ausscheiden.
(2)
Ist die Zuwendung im Falle des Absatzes 1 Nr. 2 gezahlt worden, so ist sie in voller Höhe zurückzuzahlen.“
3
§ 2 TV-Sonderzuwendung regelt die Höhe der Zuwendung, die bei Arbeitsverhältnissen, die bereits vor dem Jahr 2005 bestanden, 100 % einer Monatsvergütung beträgt. § 3 Abs. 1 TV-Sonderzuwendung bestimmt, dass sich die Zuwendung für einen Bediensteten, der nicht während des ganzen Kalenderjahres Bezüge von demselben Arbeitgeber erhalten hat, um 1/12 für jeden Kalendermonat ohne Bezüge vermindert. § 4 TV-Sonderzuwendung regelt Fälle und deren Voraussetzungen, in denen das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis oder eine Kündigung für den Bezug der Sonderzuwendung unschädlich ist (zB Erreichen der Altersgrenze, Personalabbau, Gesundheitsschädigung, Schwangerschaft), wobei auch hier gegebenenfalls eine Zwölftelung stattfindet. Nach § 6 TV-Sonderzuwendung soll die Zuwendung spätestens am 1. Dezember gezahlt werden.
4
§ 30 ETV regelt den Verfall von Ansprüchen. Er lautet:
„Ansprüche aus diesem Tarifvertrag erlöschen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Entstehen des Anspruches schriftlich geltend gemacht werden.“
5
Der Widerbeklagte kündigte sein Arbeitsverhältnis im Oktober 2015 zum Januar 2016. Mit der Abrechnung für den Monat November 2015 zahlte die Widerklägerin an ihn gemäß der TV-Sonderzuwendung einen Betrag von 2.692,43 Euro brutto, der seinem Konto am 25. November 2015 gutgeschrieben wurde.
6
Nach dem Ausscheiden des Widerbeklagten aus dem Arbeitsverhältnis rechnete die Widerklägerin gegen seine Nettovergütung für den Monat Januar 2016 mit einem Betrag von 1.047,29 Euro auf. Sie erläuterte ihr Vorgehen im Einzelnen mit per E-Mail übermitteltem Schreiben vom 6. April 2016. Der Widerbeklagte hat daraufhin Klage erhoben. Ferner hat die Widerklägerin weitere 493,00 Euro im Weg der Widerklage geltend gemacht. Nachdem die Aufrechnung der Widerklägerin für unwirksam erklärt worden ist, macht sie auch diesen Teilbetrag im Weg der Widerklage geltend, die insgesamt den Nettobetrag der an den Widerbeklagten ausgezahlten Sonderzuwendung für das Jahr 2015 umfasst.
7
Die Widerklägerin hat gemeint, sie habe einen Rückzahlungsanspruch gegen den Widerbeklagten gemäß § 1 Abs. 2 TV-Sonderzuwendung. Die tarifvertragliche Rückzahlungsregelung sei wirksam. Die TV-Sonderzuwendung knüpfe allein an die Betriebstreue an und stelle keine Vergütung für geleistete Arbeit dar. Angesichts dessen sei eine Bindung bis zum 31. März des Folgejahres nicht als übermäßig lang zu beanstanden. Tarifverträge unterlägen nur im beschränkten Umfang der gerichtlichen Inhaltskontrolle, da sie von gleichberechtigten Partnern des Arbeitslebens ausgehandelt würden und eine Institutionsgarantie nach Art. 9 Abs. 3 GG genössen. Der Anspruch sei noch nicht verfallen, weil er erst mit dem Ausscheiden des Widerbeklagten fällig geworden und rechtzeitig geltend gemacht worden sei. Das Verhalten der Widerklägerin sei weder widersprüchlich noch treuwidrig. Auf Entreicherung könne sich der Widerbeklagte nicht berufen.
8
Die Widerklägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,
den Widerbeklagten zu verurteilen, an sie 493,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12. März 2016 sowie weitere 1.047,29 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
9
Der Widerbeklagte hat beantragt, die Widerklage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, die tarifliche Rückzahlungsregelung sei unwirksam. Sie führe zu einer überlangen Bindungsdauer. Außerdem werde durch sie in das vertragliche Synallagma eingegriffen. Die Sonderzuwendung stelle Vergütung für geleistete Arbeit dar und könne deshalb nicht zurückgefordert werden. Die Tarifvertragsparteien seien daran gehindert, Arbeitnehmern bereits erdiente Vergütungsansprüche im Nachhinein wieder zu entziehen, zumal der maßgebliche Stichtag außerhalb des Bezugszeitraums liege. Dies verstoße als unverhältnismäßige Kündigungsbeschränkung gegen das Grundrecht auf Berufsfreiheit des Widerbeklagten aus Art. 12 Abs. 1 GG. Der Rückforderungsanspruch sei ferner im Hinblick auf die tarifliche Ausschlussfrist des § 30 ETV verfallen. Der Anspruch auf Rückzahlung zu viel gezahlten Arbeitsentgelts werde im Zeitpunkt der Überzahlung am 25. November 2015 fällig. Außerdem habe der Widerbeklagte den erhaltenen Betrag im Rahmen der alltäglichen Lebensführung verbraucht und sei damit entreichert. Die Zuwendung könne zudem als Leistung in Kenntnis des Bestehens einer Nichtschuld nicht zurückgefordert werden. Das Verhalten der Widerklägerin sei treuwidrig. Sie habe den Eingang der Kündigung bestätigt und die Abwicklung des Arbeitsverhältnisses erläutert, dabei aber weder darauf hingewiesen, dass dem Widerbeklagten die Sonderzuwendung nicht zustehe, noch darauf, dass sie beabsichtige, diese im Fall einer Zahlung zurückzufordern.
10
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben der Widerklage stattgegeben. Hiergegen wendet sich der Widerbeklagte mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision und erstrebt weiterhin die Abweisung der Widerklage.
Entscheidungsgründe
11
Die zulässige Revision des Widerbeklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat ihn zu Recht verurteilt, die an ihn für das Kalenderjahr 2015 gezahlte Sonderzuwendung an die Widerklägerin zurückzuzahlen.
12
I. Der Rückzahlungsanspruch der Widerklägerin folgt aus § 1 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung.
13
1. Die TV-Sonderzuwendung ist – wie im Übrigen der ETV – kraft einzelvertraglicher Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbar.
14
2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung sind erfüllt.
15
a) An den Widerbeklagten ist von der Widerklägerin Ende November 2015 für dieses Kalenderjahr eine Sonderzuwendung gezahlt worden.
16
b) Der Widerbeklagte ist in der Zeit bis einschließlich 31. März des Folgejahres, nämlich im Januar 2016, auf eigenen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden.
17
aa) Die nicht vom Arbeitgeber veranlasste Eigenkündigung des Arbeitnehmers stellt ein Ausscheiden auf eigenen Wunsch im Sinn der Tarifnorm dar (vgl. BAG 11. Januar 1995 – 10 AZR 180/94 – zu II 1 b der Gründe).
18
bb) Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses „auf eigenen Wunsch“ des Widerbeklagten wird nicht dadurch infrage gestellt, dass sich die Widerklägerin mit der Kündigung, die nicht mit der tarifvertraglichen Frist ausgesprochen wurde, einverstanden erklärt hat. Die Initiative für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ging vom Widerbeklagten aus.
19
3. Die Rückzahlungsregelung in § 1 Abs. 2 iVm. Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung ist wirksam. Sie ist nicht am Maßstab der §§ 305 ff. BGB zu messen. Sie verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 oder Art. 12 Abs. 1 GG.
20
a) Allerdings wäre die Rückzahlungsregelung nach der Senatsrechtsprechung unwirksam, würde man sie als arbeitsvertragliche Vereinbarung einer Klauselkontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB unterziehen.
21
aa) Eine Sonderzahlung, die jedenfalls auch Vergütung für bereits erbrachte Arbeitsleistung darstellt, kann in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem Zeitpunkt außerhalb des Jahres abhängig gemacht werden, in dem die Arbeitsleistung erbracht wurde. Eine derartige Klausel benachteiligt den Arbeitnehmer unangemessen iSd. § 307 Abs. 1 BGB. Sie steht im Widerspruch zum Grundgedanken des § 611 Abs. 1 BGB, indem sie dem Arbeitnehmer bereits erarbeitetes Entgelt entzieht. Sie verkürzt außerdem in nicht zu rechtfertigender Weise die nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Arbeitnehmers, weil sie die Ausübung seines Kündigungsrechts unzulässig erschwert (vgl. ausführlich BAG 18. Januar 2012 – 10 AZR 612/10 – Rn. 22 ff., BAGE 140, 231; anders dagegen für eine arbeitsvertragliche Klausel, mit der eine Gratifikation gezahlt wird, die nicht (auch) der Vergütung für geleistete Arbeit dient und nur an den Bestand des Arbeitsverhältnisses anknüpft, BAG 18. Januar 2012 – 10 AZR 667/10 – Rn. 23 ff., BAGE 140, 239).
22
bb) Dies gilt selbst dann, wenn der Stichtag innerhalb des Bezugsjahres liegt und die Sonderzahlung (auch) Arbeitsleistung abgelten soll, die in dem Zeitraum vor dem Stichtag erbracht wurde. In diesem Fall ist die Sonderzahlung ebenfalls zum Teil Gegenleistung für erbrachte Arbeit. Ein im Austausch von Arbeit und Vergütung liegender Grund für die Kürzung der Vergütung besteht nicht. Die Kürzung erfolgt vielmehr aufgrund einer aus Sicht des Arbeitgebers nicht hinreichend erwiesenen Betriebstreue. Dieser Gesichtspunkt ändert aber nichts daran, dass der Arbeitnehmer die nach dem Vertrag geschuldete Leistung erbracht hat. Irgendeine Störung des Austauschverhältnisses ist nicht gegeben. Auch ein Stichtag innerhalb des Bezugsjahres erschwert dem Arbeitnehmer die Ausübung des Kündigungsrechts, obwohl er seine Arbeitsleistung jedenfalls teilweise erbracht hat. Er erleidet einen ungerechtfertigten Nachteil. Der Wert der Arbeitsleistung für den Arbeitgeber hängt von ihrer Qualität und vom Arbeitserfolg ab, regelmäßig jedoch nicht von der reinen Verweildauer des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis. Die Belohnung zunehmender Beschäftigungsdauer als solcher steht nicht in einem Verhältnis zur Qualität und zum Erfolg der Arbeitsleistung. Die einmal erbrachte Arbeitsleistung gewinnt auch regelmäßig nicht durch bloßes Verharren des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis nachträglich an Wert (BAG 13. November 2013 – 10 AZR 848/12 – Rn. 29 ff., BAGE 146, 284). Anders mag es liegen, wenn die Arbeitsleistung gerade in einem bestimmten Zeitraum vor dem Stichtag besonderen Wert hat. Das kann bei Saisonbetrieben der Fall sein, aber auch auf anderen branchen- oder betriebsbezogenen Besonderheiten beruhen. Möglich ist auch, dass eine Sonderzahlung an bis zu bestimmten Zeitpunkten eintretende Unternehmenserfolge anknüpft; in diesen Fällen ist eine zu bestimmten Stichtagen erfolgende Betrachtung oftmals zweckmäßig und nicht zu beanstanden (BAG 13. November 2013 – 10 AZR 848/12 – Rn. 32, aaO).
23
cc) Soweit der Anspruch auf eine Sonderzahlung in einer arbeitsvertraglichen Klausel nicht wirksam vom Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem bestimmten Stichtag abhängig gemacht werden kann, gilt dies auch für eine entsprechende Rückzahlungsklausel im Fall einer bereits erfolgten Zahlung. Eine Pflicht zur Rückzahlung durch den Arbeitnehmer besteht nicht, wenn ihm andererseits ein Anspruch auf die Leistung zusteht. Eine diesbezügliche Regelung stellt ebenfalls eine unangemessene Benachteiligung iSd. § 307 Abs. 1 BGB dar.
24
dd) Die streitgegenständliche Sonderzuwendung dient nicht nur der Honorierung vergangener und künftiger Betriebstreue, sondern auch der Vergütung für erbrachte Arbeitsleistung.
25
(1) Eine Sonderleistung kann vergangenheits- und zukunftsbezogene Elemente miteinander verknüpfen und sowohl die Belohnung bisheriger Dienste und erwiesener Betriebstreue bezwecken als auch als Anreiz für künftige Betriebstreue dienen. Bei einer solchen Sondervergütung wird die Belohnung künftiger Betriebstreue in der Regel dadurch sichergestellt, dass der Anspruch auf die Sonderzahlung den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über einen Stichtag hinaus bis zum Ende eines dem Arbeitnehmer noch zumutbaren Bindungszeitraums voraussetzt (BAG 18. Mai 2011 – 10 AZR 360/10 – Rn. 21).
26
(2) Die TV-Sonderzuwendung setzt (in geringem Maß) eine in der Vergangenheit erwiesene Betriebstreue voraus, weil die Sonderzuwendung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 nur an Arbeitnehmer gezahlt wird, die am 1. Dezember seit dem 1. Oktober ununterbrochen bei demselben Arbeitgeber in einem Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnis stehen. Eine Betriebszugehörigkeit von zwei Monaten im Auszahlungszeitpunkt ist demnach für die Zahlung erforderlich. Die TV-Sonderzuwendung verlangt ferner in § 1 Abs. 1 Nr. 2 eine künftige Betriebstreue, weil nur der Arbeitnehmer, der nicht bis einschließlich 31. März des folgenden Jahres, also nach dem Bezugszeitraum „Kalenderjahr“, aus eigenem Verschulden oder auf eigenen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet, die Sonderzuwendung erhalten soll.
27
(3) Bei der Sonderzuwendung handelt es sich aber nicht um eine reine Gratifikation, die nur die bisherige und die künftige Betriebstreue honoriert. Allein dem Umstand, dass die Sonderzuwendung zum Ende des Kalenderjahres ausgezahlt wird, lässt sich nicht entnehmen, dass mit ihr ausschließlich die Betriebstreue honoriert werden soll. Soweit (nur) andere Ziele als die Vergütung der Arbeitsleistung verfolgt werden, muss dies deutlich aus der zugrunde liegenden Regelung hervorgehen (vgl. BAG 13. Mai 2015 – 10 AZR 266/14 – Rn. 25). Die TV-Sonderzuwendung dient auch der Vergütung für geleistete Arbeit. Das zeigt schon die Regelung in § 3 Abs. 1 TV-Sonderzuwendung, wonach sich die Sonderzuwendung bei Arbeitnehmern, die nicht während des ganzen Kalenderjahres Vergütung von demselben Arbeitgeber erhalten, um 1/12 für jeden Kalendermonat ohne Bezüge vermindert. Dies betrifft nicht allein unterjährig eintretende Arbeitnehmer, sondern auch solche, die beispielsweise wegen langer Krankheitszeiten oder wegen der Inanspruchnahme von Elternzeit keinen Vergütungsanspruch gegen den Arbeitgeber haben. Eine entsprechende Zwölftelungsregelung enthält § 4 Abs. 1 TV-Sonderzuwendung für bestimmte Fälle unschädlichen vorzeitigen Ausscheidens. Damit ist der Anspruch auf die Sonderzuwendung grundsätzlich an den Vergütungsanspruch für geleistete Arbeit gebunden.
28
b) Tarifverträge sind aber wegen der Bereichsausnahme in § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB von einer AGB-Kontrolle ausgeschlossen.
29
aa) Auch eine Inhaltskontrolle von arbeitsvertraglich insgesamt in Bezug genommenen Tarifverträgen erfolgt nicht, weil sie gemäß § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nur bei einer Abweichung von Rechtsvorschriften stattfindet (BAG 18. September 2012 – 9 AZR 1/11 – Rn. 24; 13. Dezember 2007 – 6 AZR 222/07 – Rn. 25, BAGE 125, 216; 28. Juni 2007 – 6 AZR 750/06 – Rn. 22, BAGE 123, 191). Tarifverträge stehen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften iSv. § 307 Abs. 3 BGB gleich. Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, durch welche Regelungstechnik der betreffende Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet (BAG 6. Mai 2009 – 10 AZR 390/08 – Rn. 28; vgl. auch die Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/6857 S. 54). Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass der Tarifvertrag das Arbeitsverhältnis in seinem räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich erfasst (vgl. AR/Löwisch 8. Aufl. § 310 BGB Rn. 3; Däubler/Lorenz TVG 4. Aufl. § 3 Rn. 245).
30
bb) Beschränkt sich die Inbezugnahme jedoch auf einzelne Vorschriften eines Tarifvertrags, entfällt die durch § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB erzeugte Privilegierung (BAG 6. Mai 2009 – 10 AZR 390/08 – Rn. 29; Däubler/Lorenz TVG 4. Aufl. § 3 Rn. 239; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 3 Rn. 561 ff.). Begünstigungen bei einzelnen Regelungen werden häufig um den Preis von Benachteiligungen durch andere Vorschriften erwirkt. Erst die Gesamtheit der Regelungen eines Tarifvertrags begründet grundsätzlich die Vermutung, dass dieser die divergierenden Interessen angemessen ausgleicht. Der Tarifvertrag muss einschränkungslos und grundsätzlich in seiner Gesamtheit auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden. Einzelvertragliche Abweichungen zugunsten des Arbeitnehmers sind dabei unschädlich.
31
cc) Ob dies auch gilt, wenn (nur) abgrenzbare Teilkomplexe tarifvertraglicher Regelungen vollständig übernommen wurden, ist umstritten (vgl. BAG 6. Mai 2009 – 10 AZR 390/08 – Rn. 29 f. mwN), bedarf hier aber keiner weiteren Erörterung. In dem von beiden Parteien unterzeichneten Einstellungsschreiben vom 30. August 1995 werden die für die Widerklägerin geltenden Tarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung in vollem Umfang und einschränkungslos in Bezug genommen. Das Einstellungsschreiben beinhaltet insbesondere keine Zusätze, die eine Verschlechterung gegenüber den tarifvertraglichen Regelungen darstellen würde. Die einzige inhaltliche Regelung im Einstellungsschreiben betrifft die Vereinbarung einer Probezeit sowie die in diesem Zeitraum geltende Kündigungsfrist und stimmt mit den tarifvertraglichen Vorgaben überein (vgl. §§ 4, 28 Abs. 2 ETV). Der ETV ist im Übrigen auch nach seinem räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbar (vgl. § 1 ETV).
32
c) Die sich aus der Stichtagsregelung in § 1 Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung ergebende Rückzahlungsverpflichtung des Widerbeklagten aus § 1 Abs. 2 TV-Sonderzuwendung verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG.
33
aa) Zwar sind die Tarifvertragsparteien als Normgeber bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 856/15 – Rn. 28). Durch den Abschluss von Tarifverträgen üben die Tarifvertragsparteien weder Staatsgewalt iSv. Art. 1 Abs. 3 GG aus, noch werden mit Tarifverträgen staatliche Regelungskonzepte verfolgt. Der Abschluss von Tarifverträgen und die damit bewirkte Normsetzung ist vielmehr kollektiv ausgeübte Privatautonomie. Die Tarifvertragsparteien regeln auf dieser Grundlage, mit welchen tarifpolitischen Forderungen sie für ihre Mitglieder tarifvertragliche Regelungen mit welchem Tarifvertragspartner setzen wollen und letztlich vereinbaren. Mit der kollektiv ausgeübten privatautonomen Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge ist eine unmittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nicht zu vereinbaren. Sie führte zu einer umfassenden Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit und damit zu einer „Tarifzensur“ durch die Arbeitsgerichte (ErfK/Schmidt 18. Aufl. Einl. GG Rn. 47).
34
bb) Da die Grundrechtsgewährung jedoch nicht auf die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe beschränkt ist, sondern darüber hinaus den Staat dazu verpflichtet, die Rechtsordnung in einer Weise zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen wirksam werden können, trifft den Staat die Schutzpflicht, einer Grundrechtsverletzung durch andere Grundrechtsträger entgegenzuwirken. Dementsprechend verpflichtet die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte die Rechtsprechung dazu, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen oder eine unangemessene Beschränkung eines grundrechtlichen Freiheitsrechts zur Folge haben (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 856/15 – Rn. 29).
35
cc) Die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte verpflichtet dazu, den einzelnen Grundrechtsträger vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung seiner Freiheitsrechte und einer gleichheitswidrigen Regelbildung auch durch privatautonom legitimierte Normsetzung zu bewahren. Die Tarifvertragsparteien haben daher bei der tariflichen Normsetzung sowohl den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG als auch die Freiheitsgrundrechte wie Art. 12 GG zu beachten (BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 44; 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 31 mwN).
36
dd) Allerdings steht den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind (BAG 23. März 2011 – 10 AZR 701/09 – Rn. 21; 8. Dezember 2010 – 7 AZR 438/09 – Rn. 29, BAGE 136, 270). Darüber hinaus verfügen sie über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung (BAG 8. Dezember 2010 – 7 AZR 438/09 – aaO; 4. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 23). Die Tarifvertragsparteien sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 43; 7. Juli 2015 – 10 AZR 939/13 – Rn. 22; 15. April 2015 – 4 AZR 796/13 – Rn. 32 mwN, BAGE 151, 235).
37
ee) Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist vor diesem Hintergrund erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen (BAG 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 33; 23. März 2011 – 10 AZR 701/09 – Rn. 21; 21. September 2010 – 9 AZR 442/09 – Rn. 27). Die Tarifvertragsparteien dürfen bei der Gruppenbildung generalisieren und typisieren. Die Differenzierungsmerkmale müssen allerdings im Normzweck angelegt sein und dürfen ihm nicht widersprechen (BAG 23. März 2011 – 10 AZR 701/09 – Rn. 22 mwN).
38
ff) Auch bei der Prüfung, ob eine Tarifnorm gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstößt, ist der weite Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen. Dieser ist erst überschritten, wenn die Regelung auch unter Berücksichtigung der grundgesetzlich gewährleisteten Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) und der daraus resultierenden Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien die berufliche Freiheit der Arbeitnehmer unverhältnismäßig einschränkt (vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 34; 19. Dezember 2006 – 9 AZR 356/06 – Rn. 35, 37).
39
gg) Nach diesem Maßstab ist die Regelung in § 1 Abs. 1 TV-Sonderzuwendung nicht zu beanstanden.
40
(1) Soweit in § 1 Abs. 1 Nr. 1 TV-Sonderzuwendung der Bestand des Arbeitsverhältnisses am 1. Oktober des betreffenden Kalenderjahres gefordert wird, hat der Senat bereits in einer den ähnlich formulierten § 20 Abs. 1 TVöD-AT betreffenden Entscheidung ausführlich begründet, dass die Tarifvertragsparteien damit nicht den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschreiten (BAG 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 39 ff.). Hierauf wird Bezug genommen. Diese Voraussetzung hat der Widerbeklagte erfüllt.
41
(2) Auch die Regelung in § 1 Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung, wonach der Anspruch auf die Sonderzuwendung davon abhängig ist, dass der Arbeitnehmer nicht bis einschließlich 31. März des Folgejahres aus eigenem Verschulden oder auf eigenen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet, ist nicht zu beanstanden.
42
(a) Es liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor, wenn die tarifvertragliche Regelung zwischen Arbeitnehmern unterscheidet, deren Arbeitsverhältnis bis einschließlich 31. März des Folgejahres endet, und solchen Arbeitnehmern, die nicht oder später aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden. Mit der Jahressonderzahlung wird auch Betriebstreue honoriert (vgl. zum Tarifvertrag über eine Zuwendung für Angestellte vom 12. Oktober 1973 BAG 18. August 1999 – 10 AZR 424/98 – zu II 2 c bb der Gründe, BAGE 92, 218). Dies belegt die Stichtagsregelung. Darüber hinaus sollen die Arbeitnehmer durch die Jahressonderzahlung auch für die Zukunft zu reger und engagierter Mitarbeit motiviert werden (zu diesem Motivationsgedanken auch: BAG 23. Mai 2007 – 10 AZR 363/06 – Rn. 27; 8. März 1995 – 10 AZR 208/94 – zu I 2 b der Gründe; 26. Oktober 1994 – 10 AZR 109/93 – zu II 3 der Gründe). Angesichts dieser Zwecke, die mit der Jahressonderzahlung verfolgt werden, ist die Differenzierung zwischen Beschäftigten, die bis einschließlich 31. März des Folgejahres ausscheiden, und Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis erst später oder gar nicht endet, sachlich gerechtfertigt. Insbesondere ihren Zweck, die Arbeitnehmer auch für die Zukunft zu reger und engagierter Mitarbeit zu motivieren, kann die Jahressonderzahlung bei Arbeitnehmern nicht erfüllen, die noch im ersten Quartal des Folgejahres aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden. Der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien wird damit nicht überschritten.
43
(b) Gegen Art. 12 Abs. 1 GG wird auch nicht verstoßen, soweit die tarifvertragliche Regelung einen Stichtag außerhalb des Bezugszeitraums vorsieht.
44
(aa) Die Regelung greift allerdings in die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ein. Art. 12 Abs. 1 GG schützt mit der Freiheit der Arbeitsplatzwahl auch den Entschluss des einzelnen Arbeitnehmers, an welcher Stelle er dem gewählten Beruf nachgehen möchte. Dies umfasst seine Entscheidung, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in einem gewählten Beruf beizubehalten oder aufzugeben (BVerfG 24. April 1991 – 1 BvR 1341/90 – zu C III 1 der Gründe, BVerfGE 84, 133). Diese Freiheit wird durch § 1 Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung beeinträchtigt, weil mit dieser Regelung die selbstbestimmte Arbeitsplatzaufgabe des Arbeitnehmers verzögert oder verhindert werden soll (vgl. zu Stichtagsregelungen außerhalb des Bezugszeitraums in Allgemeinen Geschäftsbedingungen BAG 18. Januar 2012 – 10 AZR 612/10 – Rn. 27, BAGE 140, 231; zu Stichtagsregelungen außerhalb des Bezugszeitraums in Betriebsvereinbarungen BAG 12. April 2011 – 1 AZR 412/09 – Rn. 30, BAGE 137, 300).
45
(bb) Der Eingriff in die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ist von Gewicht. Das Arbeitsverhältnis darf nach der tarifvertraglichen Regelung nicht „bis einschließlich 31. März des folgenden Jahres enden“, so dass auch eine Kündigung zum Ablauf des 31. März für den Anspruch auf die Sonderzahlung schädlich wäre (vgl. BAG 11. Januar 1995 – 10 AZR 180/94 – zu II 1 b der Gründe mwN). In Verbindung mit den übrigen Kündigungsregelungen in § 28 Abs. 1 ETV, wonach eine Kündigung jeweils zum Ende eines Kalendermonats zu erfolgen hat, kann der Arbeitnehmer eine Kündigung zum Ablauf des 30. April des Folgejahres aussprechen, ohne seinen Sonderzuwendungsanspruch zu gefährden. Damit wird der Arbeitnehmer für einen Zeitraum von vier Monaten nach dem Bezugszeitraum gebunden. Der Bindungszeitraum wird nicht dadurch verlängert, dass der Arbeitnehmer eine Kündigung nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt aussprechen dürfte. § 1 Abs. 1 Nr. 1 TV-Sonderzuwendung stellt nur auf den Bestand und nicht den „ungekündigten“ Bestand des Arbeitsverhältnisses am 1. Dezember des Kalenderjahres ab.
46
(cc) Der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG ist sachlich gerechtfertigt. Mit der Regelung in § 1 Abs. 1 Nr. 2 TV-Sonderzuwendung haben die Tarifvertragsparteien den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Der Stichtagsregelung liegt ein berechtigtes Interesse der Arbeitgeber zugrunde. Sie verfolgt das legitime Ziel, die Arbeitnehmer zur Betriebstreue anzuhalten. Sie ist dazu geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Sie schafft einen Anreiz für Arbeitnehmer, von einer an sich statthaften Kündigungsmöglichkeit keinen oder nur verzögerten Gebrauch zu machen. Es ist auch kein anderes, gleich wirksames, aber die Berufsfreiheit des betroffenen Arbeitnehmers weniger einschränkendes Mittel ersichtlich, um diesen an der Arbeitsplatzaufgabe zu hindern (vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 41). Zwar könnte auch mit einer kürzeren Bindungsdauer das Ziel einer künftigen Betriebstreue gefördert werden, jedoch nicht in gleich wirksamer Weise.
47
(dd) Die Einschränkung der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ist hier angesichts des den Tarifvertragsparteien zustehenden, gegenüber einseitigen Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen erweiterten Gestaltungsspielraums noch angemessen.
48
(aaa) Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung weder tarifvertragliche Bindungs- und Rückzahlungsklauseln mit einem Stichtag innerhalb des Bezugszeitraums beanstandet (vgl. BAG 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 41; 4. September 1985 – 5 AZR 655/84 – zu II 3 der Gründe, BAGE 49, 281) noch solche mit einem Stichtag außerhalb des Bezugszeitraums (vgl. BAG 11. Januar 1995 – 10 AZR 180/94 – zu II 3 der Gründe; 23. Februar 1967 – 5 AZR 234/66 – zu 4 der Gründe; 31. März 1966 – 5 AZR 516/65 – zu 3 der Gründe, BAGE 18, 217). Die hierfür maßgeblichen Gründe sind immer noch gültig. Den Tarifvertragsparteien muss es überlassen bleiben, in eigener Verantwortung Vorteile in einer Hinsicht mit Zugeständnissen in anderer Hinsicht auszugleichen. Eine bestimmte Leistung des Arbeitgebers zu erhalten, kann es daher erforderlich machen, dass der Anspruch auf sie mit Einschränkungen verbunden wird, die Nachteile für einzelne Arbeitnehmer oder eine Gruppe von Arbeitnehmern mit sich bringen können. Vor allem im Bereich des Gratifikationsrechts ist den Tarifvertragsparteien ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt. Bei der Festsetzung der Gratifikationsleistungen und sonstigen Sonderzuwendungen handelt es sich nicht nur um einen Teilbereich der Lohnregelungsbefugnis und damit um einen typischen Regelungsbereich der Tarifvertragsparteien. Die Sonderzuwendungen des Arbeitgebers und ihre Voraussetzungen müssen vielmehr im Zusammenhang mit den Vergütungstarifen im Übrigen gesehen werden. Ein Vorteil im Entgeltsystem kann ein Zugeständnis im Bereich der Gratifikationen erforderlich machen. Dementsprechend hat das Bundesarbeitsgericht den Tarifvertragsparteien auch in seiner Rechtsprechung zum Gratifikationsrecht, insbesondere zu den Bindungs- und Rückzahlungsklauseln, einen weiten Gestaltungsspielraum zugestanden und dabei die Vereinbarung von Klauseln erlaubt, die in Einzelarbeitsverträgen regelmäßig als unzulässig angesehen werden (BAG 4. September 1985 – 5 AZR 655/84 – zu II 3 a der Gründe, BAGE 49, 281).
49
(bbb) Der Widerbeklagte erhielte die volle Jahressonderzahlung im Ergebnis für zwölf Monate vergütete Arbeitsleistung im Bezugszeitraum und weitere vier Monate Betriebszugehörigkeit im Folgejahr. Damit wird der auf den Bezugszeitraum „Kalenderjahr“ bezogene Vergütungsaspekt nicht vollständig entwertet, sondern nur um ein Drittel gestreckt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die für den Widerbeklagten geltende tarifliche Regelung einen Sonderzuwendungsanspruch von etwa einer Monatsvergütung beinhaltet (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BAG 11. Januar 1995 – 10 AZR 180/94 – zu II 3 der Gründe) und die Gründe, aus denen die Sonderzuwendung zurückgefordert werden kann, allein aus der Sphäre des Arbeitnehmers stammen. Angesichts dessen haben die Tarifvertragsparteien den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten.
50
II. Der Rückzahlungsanspruch der Widerklägerin ist nicht gemäß § 30 ETV erloschen.
51
1. Nach § 30 ETV erlöschen Ansprüche aus diesem Tarifvertrag, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Entstehen des Anspruchs schriftlich geltend gemacht werden.
52
2. Die Widerklägerin hat gegenüber dem Widerbeklagten ihren Rückzahlungsanspruch aus § 1 Abs. 2 TV-Sonderzuwendung rechtzeitig schriftlich geltend gemacht.
53
a) Der Rückzahlungsanspruch aus § 1 Abs. 2 TV-Sonderzuwendung ist ein „Anspruch aus diesem Tarifvertrag“ iSv. § 30 ETV. Die TV-Sonderzuwendung ist der Anhang 1 zum ETV und damit Teil des Tarifvertrags.
54
b) Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Rückzahlungsanspruch der Widerklägerin erst mit Ausscheiden des Widerbeklagten im Januar 2016 entstanden ist.
55
aa) Eine Forderung ist im Allgemeinen dann entstanden, wenn der von der Norm zu ihrer Entstehung vorausgesetzte Tatbestand verwirklicht ist, auch wenn der Gläubiger die Leistung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verlangen kann, also die Fälligkeit der Forderung hinausgeschoben ist. Der Lauf der Ausschlussfrist beginnt aber nicht vor Fälligkeit, nicht vor dem Zeitpunkt, zu dem der Gläubiger vom Schuldner die Leistung verlangen (§ 271 BGB) und im Weg der Klage durchsetzen kann (BAG 9. August 1990 – 2 AZR 579/89 – zu B II 2 f der Gründe).
56
bb) Soweit der Widerbeklagte darauf abstellt, bei einer „Überzahlung“ laufe die Ausschlussfrist für die Rückforderung bereits mit Gutschrift auf dem Konto, ist dies irrelevant. Im Zeitpunkt der Gutschrift am 25. November 2015 lag keine Überzahlung vor, weil die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfüllt waren und der Widerbeklagte noch nicht aus eigenem Verschulden oder auf eigenen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden war. Der Tatbestand der tariflichen Rückzahlungsklausel erfordert ein „Ausscheiden“ und nicht ein voraussichtliches oder geplantes Ausscheiden aus eigenem Verschulden oder auf eigenen Wunsch des Arbeitnehmers bis einschließlich 31. März des folgenden Jahres. Ob diese Tatbestandsvoraussetzung erfüllt ist, kann erst mit dem Ausscheiden sicher beurteilt werden. Dabei spielen nicht nur die Fälle eine Rolle, in denen sich die Parteien nach Kündigungsausspruch auf eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses verständigen. Angesichts der Kündigungsfrist, die je nach Betriebszugehörigkeit bis zu sechs Monaten zum Monatsende beträgt, sind jedenfalls auch Fälle vorstellbar, die noch während des Laufs dieser Kündigungsfrist zu einer für die Sonderzuwendung unschädlichen anderweitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen, wie sie etwa in § 4 Abs. 1 TV-Sonderzuwendung geregelt sind. Ferner fallen darunter auch Aufhebungsverträge auf Veranlassung des Arbeitgebers, der nach einer Kündigung des Arbeitnehmers eine noch frühere Beendigung des Arbeitsverhältnisses anstrebt.
57
cc) Jedenfalls das dem Widerbeklagten per E-Mail übermittelte Schreiben vom 6. April 2016 wahrt die Ausschlussfrist von drei Monaten. Eine Übermittlung per E-Mail ist für eine schriftliche Geltendmachung ausreichend (vgl. BAG 16. Dezember 2009 – 5 AZR 888/08 – Rn. 36 f.). Das Schreiben erfüllt die Anforderungen der Spezifizierung der Forderung nach Grund und Höhe (vgl. BAG 17. März 2016 – 6 AZR 133/15 – Rn. 42).
58
III. Der Widerbeklagte kann sich nicht mit Erfolg auf ein aus seiner Sicht treuwidriges Verhalten der Widerklägerin berufen, das er unter anderem daraus ableitet, dass die Widerklägerin ihm mit Schreiben vom 7. Oktober 2015 den Eingang seiner Kündigung bestätigt, die Abwicklung des Arbeitsverhältnisses erläutert und nicht auf die Rückforderung der später zunächst ausgezahlten Sonderzuwendung hingewiesen habe. Allein der Umstand, dass es den Widerbeklagten reut, die Kündigung zum Januar 2016 ausgesprochen zu haben, und er sich möglicherweise über die rechtlichen Folgen seiner Erklärung nicht vollständig im Klaren war, macht es nicht treuwidrig, wenn sich die Widerklägerin auf den von ihm geschaffenen Rechtszustand beruft.
59
IV. Soweit sich der Widerbeklagte auf Entreicherung beruft, steht dem entgegen, dass es sich hier nicht um einen Bereicherungsanspruch der Widerklägerin iSd. §§ 812 ff. BGB handelt.
60
1. Die Widerklägerin leitet ihren Anspruch aus der TV-Sonderzuwendung her, die nicht die Einrede der Entreicherung vorsieht.
61
2. § 818 Abs. 3 BGB findet nur Anwendung auf Bereicherungsansprüche aus §§ 812 ff. BGB, nicht aber auf vertragliche Rückforderungsansprüche (vgl. BGH 17. Juni 2003 – XI ZR 195/02 – zu II 3 der Gründe, BGHZ 155, 166; ebenso bei gesetzlichen Rückgewähransprüchen BGH 26. September 2006 – XI ZR 283/03 – Rn. 21). Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht in älterer Rechtsprechung einen anderen Begründungsansatz gewählt und gemeint, es handle sich um einen Fall verschärfter Haftung bei ungewissem Erfolgseintritt nach § 820 BGB, so dass sich der Arbeitnehmer deshalb nicht auf Entreicherung berufen könne (BAG 23. Februar 1967 – 5 AZR 234/66 – zu 5 der Gründe). Ob diese Begründung zutrifft, bedarf keiner Entscheidung, weil es hier nicht zu einem anderen Ergebnis käme.
62
3. Da der Widerbeklagte zum Auszahlungszeitpunkt noch nicht aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden war, liegt von vornherein keine Leistung in Kenntnis einer Nichtschuld iSv. § 814 BGB vor.
63
V. Die Höhe des Rückzahlungsanspruchs ist zwischen den Parteien unstreitig. Der Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1, § 291 BGB. Soweit die Widerklägerin Zinsen aus einem Teilbetrag von 1.047,29 Euro seit Rechtshängigkeit verlangt, wurden ihr diese allerdings vom Landesarbeitsgericht zu Unrecht bereits ab 26. September 2016 zugesprochen. Die Widerklage betreffend diesen Teilbetrag ist dem Widerbeklagten erst am 26. September 2016 zugestellt worden. Nach § 187 Abs. 1 BGB darf der Tag der Zustellung nicht mitgerechnet werden (vgl. BAG 15. November 2000 – 5 AZR 365/99 – zu III der Gründe, BAGE 96, 228), so dass Prozesszinsen erst ab 27. September 2016 zugesprochen werden dürfen.
64
VI. Der Widerbeklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.
Gallner
Brune
Schlünder
Simon
Schumann |
bag_36-19 | 30.10.2019 | 30.10.2019
36/19 - Die Bezugnahme im Arbeitsvertrag auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen genügt nicht zum Nachweis einer Ausschlussfrist
Die kirchenrechtlich vorgeschriebene arbeitsvertragliche Inbezugnahme einer kirchlichen Arbeitsrechtsregelung erfasst zwar inhaltlich auch eine darin enthaltene Ausschlussfrist, die damit zum Bestandteil des Arbeitsverhältnisses wird. Die Ausschlussfrist ist jedoch eine wesentliche Arbeitsbedingung iSv. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG. Die bloße Inbezugnahme der Arbeitsrechtsregelung als solche genügt für den danach erforderlichen Nachweis nicht. Auch ein sog. „qualifizierter Nachweis“ nach § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG, wonach sich die Ausschlussfrist nach der kirchlichen Arbeitsrechtsregelung richtet, ist nicht ausreichend, weil der abschließende Katalog dieser Bestimmung Ausschlussfristen nicht erfasst. Weist der kirchliche Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Ausschlussfrist nicht im Volltext nach, kann der Arbeitnehmer ggf. im Wege des Schadensersatzes verlangen, so gestellt zu werden, als ob er die Frist nicht versäumt hätte.
Der Kläger war bei der beklagten katholischen Kirchengemeinde als Küster und Reinigungskraft beschäftigt. Der Arbeitsvertrag nahm die Kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO) in Bezug. Diese sieht in § 57 eine sechsmonatige einstufige Ausschlussfrist vor. Der Kläger macht Differenzvergütungsansprüche wegen angeblich fehlerhafter Eingruppierung geltend. Die Beklagte verweigert die Erfüllung dieser Ansprüche unter Berufung auf die Ausschlussfrist. Der Kläger stellt die Wirksamkeit der Fristenregelung in Abrede und verlangt hilfsweise Schadensersatz, den er ua. darauf stützt, dass ihm die Beklagte die Ausschlussfrist nicht hinreichend nachgewiesen habe.
Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg.
Ein etwaiger Erfüllungsanspruch auf die Differenzvergütung wäre zwar verfallen, da die Inbezugnahme der KAVO auch deren Ausschlussfrist umfasst und diese wirksam den Verfall von Entgeltansprüchen anordnet, die wie vorliegend den gesetzlichen Mindestlohn übersteigen. Dem Kläger könnte jedoch ein Schadensersatzanspruch wegen Verletzung des Nachweisgesetzes zustehen. Bei kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen, welche als „ähnliche Regelungen“ nach dem Willen des Gesetzgebers nur im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 bis 9 und § 2 Abs. 2 Nr. 2 und 3 sowie gemäß § 3 Satz 2 NachwG bei Änderungen der kirchlichen Regelungen erleichterten Nachweismöglichkeiten unterliegen sollen. Der Nachweis der Ausschlussfrist bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses wird von diesen Erleichterungen nicht erfasst. Mangels hinreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts konnte der Senat allerdings nicht abschließend entscheiden,ob dem Kläger die begehrte Eingruppierung zusteht und deshalb ein Schadensersatzanspruch in Höhe der eingeklagten Differenzvergütung besteht. Er hat deshalb den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30. Oktober 2019 – 6 AZR 465/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 10. April 2018 – 3 Sa 144/17 – | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 10. April 2018 – 3 Sa 144/17 – aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. Vollständig in Bezug genommene kirchliche Arbeitsrechtsregelungen unterliegen keiner Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
2. Sehen kirchliche Arbeitsrechtsregelungen für die Geltendmachung von Ansprüchen eine Ausschlussfrist vor, ist dies als wesentliche Vertragsbedingung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG schriftlich niederzulegen. Der pauschale Verweis auf die Geltung der kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen reicht hierfür nicht aus.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Differenzvergütungsansprüche.
2
Der Kläger war vom 10. Juni 1996 bis zum 5. Juni 2016 als Küster und Reinigungskraft bei der beklagten katholischen Kirchengemeinde in D beschäftigt. Der vom Erzbischöflichen Generalvikariat genehmigte Arbeitsvertrag der Parteien sieht ua. folgende Regelungen vor:
„§ 2
Die Kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO) ist in ihrer jeweiligen Fassung einschließlich der Anlagen Bestandteil dieses Vertrages.
…
§ 5
Der Mitarbeiter ist in der Vergütungsgruppe K IX Fallgruppe ohne beginnend mit Stufe 08 eingruppiert. …
§ 7
Die Vertragspartner sollen bei Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis vor Einschaltung von staatlichen Gerichten oder Behörden zum Zwecke der gütlichen Einigung den beim Generalvikariat bestehenden Schlichtungsausschuss anrufen (§ 47 KAVO). Die Anrufung des Schlichtungsausschusses macht die Beachtung arbeitsrechtlicher Ausschlussfristen, insbesondere bei Kündigungen, nicht entbehrlich.
…
§ 11
Sonstige Vereinbarungen: Herr J verpflichtet sich zur Küsterausbildung am St. G und diese mit der Küsterprüfung bis zum 09.06.1998 erfolgreich abzuschließen.“
3
Die Kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung für die (Erz-)Bistümer Aachen, Essen, Köln, Münster (nordrhein-westfälischer Teil) und Paderborn (KAVO), Stand Februar 1996 (KAVO aF), lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 20
Eingruppierung
(1)
Die Eingruppierung des Mitarbeiters richtet sich nach den Tätigkeitsmerkmalen der Anlage 1. Der Mitarbeiter erhält Vergütung nach der Vergütungsgruppe, in der er eingruppiert ist.
(2)
Der Mitarbeiter ist in der Vergütungsgruppe eingruppiert, deren Tätigkeitsmerkmalen die gesamte von ihm nicht nur vorübergehend auszuübende Tätigkeit entspricht.
…
(4)
Die Vergütungsgruppe des Mitarbeiters ist im Arbeitsvertrag anzugeben.
§ 21a
Bewährungsaufstieg
(1)
Erfüllt der Mitarbeiter ein Tätigkeitsmerkmal der Anlage 1, das ein Aufrücken in eine höhere Vergütungsgruppe oder eine Vergütungsgruppenzulage nach Bewährung vorsieht, ist er nach Erfüllung der vorgeschriebenen Bewährungszeit höhergruppiert.
(2)
Das Erfordernis der Bewährung ist erfüllt, wenn der Mitarbeiter während der vorgeschriebenen Bewährungszeit sich den in der ihm übertragenen Tätigkeit auftretenden Anforderungen gewachsen gezeigt hat. Maßgebend ist hierbei die Tätigkeit, die der Vergütungsgruppe entspricht, in der der Mitarbeiter eingruppiert ist.“
4
Die Anlage 1 zur KAVO lautet mit Stand Oktober 1998 (KAVO aF) auszugsweise wie folgt:
„Vergütungsgruppe
Fallgruppe
Eingruppierung und Vergütungsgruppenzulage bei Bewährung nach § 21a; sonstige Vergütungsgruppenzulagen
Liturgischer Dienst
K VIII
3.1.1
Küster mit Küsterprüfung28)
K VII 9.3.1.1 nach 2 Jahren
K VIII
3.1.2
Küster/Hausmeister mit Küsterprüfung bei überwiegender Tätigkeit als Küster28)
K VII 9.3.1.2 nach 2 Jahren
K VIII
3.1.3
Küster/Kirchenmusiker mit Küsterprüfung und kirchenmusikalischem Eignungsnachweis28)
K VII 9.3.1.3 nach 2 Jahren
K VIII
3.1.4
Küster/Pfarramtshelfer mit Küsterprüfung mit überwiegender Tätigkeit als Küster28)
K VII 9.3.1.4 nach 2 Jahren
K VIII
3.1.6
Mitarbeiter der Fallgruppen 3.1.1 bis 3.1.4 mit abgeschlossener Berufs- oder Fachausbildung, die der ihnen übertragenen Küstertätigkeit förderlich ist, in den ersten zwei Jahren der Tätigkeit28)
…
K VII
3.1.6
Mitarbeiter nach zweijähriger Tätigkeit in Vergütungsgruppe K VIII, Fallgruppe 3.1.628)
K VI b 9.3.1.6 nach 4 Jahren
…
28)
Küster ohne Küsterprüfung sind in der jeweils nächstniedrigeren Vergütungsgruppe eingruppiert. Dies gilt auch für Küster in der Kombination mit anderen Tätigkeiten; in der Kombination mit der Tätigkeit als Kirchenmusiker nur, wenn die Küstertätigkeit überwiegt. Die Dauer der Bewährungszeit richtet sich nach der Bewährungszeit der Vergütungsgruppe, in der ein Küster mit Küsterprüfung eingruppiert ist.“
5
Der Kläger bestand die Küsterprüfung am 6. Mai 1998.
6
Mit „Nachtragsvertrag“ vom 20. Juli 1998 wurde § 5 des Arbeitsvertrags dahin gehend abgeändert, dass der Kläger mit Wirkung ab dem 1. Mai 1998 in Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.2 eingruppiert ist.
7
Ein weiterer „Nachtragsvertrag“ vom 25. September 2000 lautet auszugsweise wie folgt:
„§ 5 erhält folgenden Wortlaut: Der Mitarbeiter ist in der Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.6 beginnend mit Stufe 09 eingruppiert. …
Ab 01.05.2000 gilt: Der Mitarbeiter ist in der Vergütungsgruppe K VII Fallgruppe 3.1.6 beginnend mit Stufe 08 eingruppiert. …“
8
Der Kläger erhielt auch nach Ablauf der vierjährigen Bewährungszeit der Vergütungsgruppe K VII Fallgruppe 3.1.6 weiterhin eine Vergütung aus dieser Vergütungsgruppe. Ein Bewährungsaufstieg in die Vergütungsgruppe K VIb Fallgruppe 9.3.1.6 erfolgte nicht.
9
Das Vergütungssystem der KAVO wurde zum 1. Oktober 2005 reformiert (KAVO 2005). Dabei wurde der Bewährungsaufstieg abgeschafft und die Vergütung nach Entgeltgruppen statt Vergütungsgruppen eingeführt. Nach § 60v KAVO 2005 ergeben sich die im Rahmen der KAVO-Reform beschlossenen Überleitungs- und Besitzstandsbestimmungen aus den Anlagen 5a, 5b, 6 und 27 KAVO 2005. § 2 Abs. 1 der Anlage 27 KAVO 2005 verweist bzgl. der Zuordnung der Vergütungsgruppen auf die Zuordnungstabelle in Anlage 5a KAVO 2005. Danach erfolgte aus der Vergütungsgruppe K VII eine Überleitung in die Entgeltgruppe 5, wenn der Bewährungsaufstieg in die Vergütungsgruppe K VIb noch ausstand. Mitarbeiter, die bereits in die Vergütungsgruppe K VIb aufgestiegen waren, wurden dagegen in die Entgeltgruppe 6 übergeleitet.
10
Der Kläger wurde zum 1. Oktober 2005 in die Entgeltgruppe 5 KAVO 2005 überführt.
11
Nachdem der zuständigen Stelle der Beklagten ein mündliches Höhergruppierungsverlangen bekannt geworden war und der Kläger mit Schreiben vom 30. Dezember 2015 seine Höhergruppierung beantragt hatte, wurde er mit Wirkung zum 1. Mai 2015 in die Entgeltgruppe 6 höhergruppiert.
12
Der Kläger ist – soweit für die Revision noch von Bedeutung – der Auffassung, ausgehend von der seit dem 1. Mai 2000 maßgeblichen Eingruppierung in die Vergütungsgruppe K VII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF sei er im Wege des damals möglichen Bewährungsaufstiegs am 1. Mai 2004 und damit noch vor der Reform des Vergütungssystems in die Vergütungsgruppe K VIb KAVO aF aufgestiegen. Dementsprechend hätte er zum 1. Oktober 2005 in die Entgeltgruppe 6 KAVO 2005 übergeleitet werden müssen. Er habe daher seit dem 1. Mai 2004 einen Anspruch auf die Differenz zwischen den Vergütungsgruppen K VII und K VIb KAVO aF bzw. den Entgeltgruppen 5 und 6 KAVO 2005.
13
Die Beklagte lehnt unter Hinweis auf die Ausschlussfrist des § 57 KAVO die Zahlung einer Differenz für die Zeit vor dem 1. Mai 2015 ab.
14
§ 57 KAVO lautet in der hier maßgeblichen Fassung (aF) wie folgt:
„§ 57
Ausschlussfristen
(1)
Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit vom Mitarbeiter oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht werden, soweit in dieser Ordnung nichts anderes bestimmt ist.
(2)
Für denselben Sachverhalt reicht die einmalige Geltendmachung des Anspruchs aus, um die Ausschlussfrist auch für später fällig werdende Leistung unwirksam zu machen.“
15
Die aktuelle Fassung des § 57 Abs. 1 KAVO sieht in einem mit Wirkung zum 1. April 2018 neu eingefügten zweiten Satz vor, dass die Frist nicht gilt für unabdingbare Ansprüche nach dem Mindestlohngesetz oder nach zwingenden Rechtsverordnungen auf der Grundlage des Arbeitnehmerentsendegesetzes.
16
Nach Ansicht des Klägers ist der geltend gemachte Anspruch nicht nach § 57 Abs. 1 KAVO aF verfallen. Die Ausschlussfristenregelung sei mangels hinreichender Transparenz nicht zum Vertragsinhalt geworden. Jedenfalls könne die Beklagte sich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht auf die Ausschlussfrist berufen, da er diesbezüglich nicht ausreichend informiert worden sei. Es sei kein § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG genügender Nachweis erfolgt. Die KAVO sei nicht ausgelegt gewesen. Unter Verstoß gegen § 3 Satz 1 NachwG sei ihm auch der Bewährungsaufstieg nicht mitgeteilt worden. Die Beklagte sei daher selbst bei unterstelltem Verfall des Anspruchs zur Leistung verpflichtet. Es bestünde dann ein entsprechender Schadensersatzanspruch.
17
Der Kläger hat im Revisionsverfahren daher beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 14.292,59 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz hieraus seit dem 15. Januar 2016 zu zahlen.
18
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Kläger sei ab dem 1. Mai 2015 angesichts seines bevorstehenden Eintritts in den Ruhestand nur „aus Kulanz“ nach Entgeltgruppe 6 KAVO 2005 vergütet worden. Etwaige weitergehende Ansprüche wären ohnehin nach § 57 Abs. 1 KAVO aF verfallen. Die Ausschlussfristenregelung sei durch die Inbezugnahme der gesamten KAVO zum Vertragsinhalt geworden. Zudem sei sie in § 7 des ursprünglichen Vertrags erwähnt. Die Ansprüche wären im Übrigen zum Teil verjährt.
19
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel im dargestellten Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
20
Die Revision ist begründet. Mit der von ihm gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht die Berufung des Klägers gegen die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts nicht zurückweisen. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen nicht möglich. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
21
1. Auf das Arbeitsverhältnis fanden aufgrund vertraglicher Vereinbarung die Regelungen der KAVO für die nordrhein-westfälischen (Erz-)Bistümer in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung.
22
a) Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen wie der KAVO um Allgemeine Geschäftsbedingungen, welchen mangels normativer Wirkung in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen nur über Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen Wirkung verschafft werden kann (vgl. BAG 15. November 2018 – 6 AZR 240/17 – Rn. 20). Die Grundsätze zur Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (vgl. hierzu BAG 23. März 2017 – 6 AZR 705/15 – Rn. 14, BAGE 158, 349) finden auch auf die Auslegung von typischerweise formularmäßigen Bezugnahmeklauseln auf kirchliche Regelungswerke Anwendung. Diese sind grundsätzlich dahin auszulegen, dass sie dem kirchlichen Arbeitsrecht im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis umfassend Geltung verschaffen (vgl. BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 24, BAGE 163, 56; 16. Februar 2012 – 6 AZR 573/10 – Rn. 29 mwN, BAGE 141, 16; zum kirchlichen Mitarbeitervertretungsrecht BAG 22. März 2018 – 6 AZR 835/16 – Rn. 47 ff., BAGE 162, 247).
23
b) Demnach haben die Vertragsparteien hier in § 2 des ursprünglichen Arbeitsvertrags, der eine Allgemeine Geschäftsbedingung ist, die KAVO in ihrer jeweils geltenden Fassung in Bezug genommen. Für diese rechtliche Qualifikation spricht schon das äußere Erscheinungsbild der formularmäßigen Vertragsgestaltung (vgl. BAG 25. Juni 2015 – 6 AZR 383/14 – Rn. 23, BAGE 152, 82). Die Bezugnahmeklausel ist nicht intransparent iSd. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. hierzu BAG 21. Juni 2018 – 6 AZR 38/17 – Rn. 34). Das Bezugnahmeobjekt ist zwar hinsichtlich des Geltungsbereichs der einschlägigen KAVO nicht präzise bezeichnet, da nur von der „Kirchlichen Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO)“ die Rede ist, aber ausreichend bestimmbar. Die Beklagte gehört als Kirchengemeinde zum Erzbistum Köln. Es war daher für den Kläger klar ersichtlich, dass die für dieses Erzbistum einschlägige KAVO gelten soll. Diese wurde dann während der Dauer des Arbeitsverhältnisses auch tatsächlich zur Anwendung gebracht.
24
2. Nach § 21a iVm. Anlage 1 dieser KAVO in der damals geltenden Fassung hätte eine – nach zweijährigem Durchlaufen der Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF – zum 1. Mai 2000 erfolgte Eingruppierung in die Vergütungsgruppe K VII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF im Wege des damals möglichen Bewährungsaufstiegs zum 1. Mai 2004 zu einer Eingruppierung in die Vergütungsgruppe K VIb 9.3.1.6 KAVO aF führen können. Ob die Voraussetzungen eines solchen vom Kläger in Anspruch genommenen Bewährungsaufstiegs hier vorlagen, kann jedoch ungeachtet der vom Landesarbeitsgericht festgestellten Bewährung (§ 21a Abs. 2 KAVO aF), gegen die die Beklagte keine Gegenrüge erhoben hat, entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts noch nicht entschieden werden. Folglich kann auch die daraus abgeleitete Überleitung in die Entgeltgruppe 6 KAVO 2005 noch nicht abschließend beurteilt werden.
25
a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dass im Mai 1998 die Voraussetzungen einer Eingruppierung in die damalige Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF vorgelegen hätten, da der Kläger mit der am 6. Mai 1998 abgelegten Sakristanprüfung über eine Fachausbildung verfügt habe, die der übertragenen Küstertätigkeit förderlich gewesen sei.
26
b) Dies ist unzutreffend. Die Sakristanprüfung kann mit der für die Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF erforderlichen Berufs- oder Fachausbildung nicht identisch sein, weil die Fallgruppen 3.1.1 bis 3.1.4 der Vergütungsgruppe K VIII KAVO aF ihrerseits die Küsterprüfung bereits voraussetzen und die Fallgruppe 3.1.6 an diese Fallgruppen anknüpft („Mitarbeiter der Fallgruppen 3.1.1 bis 3.1.4 …“). Dabei ist unerheblich, dass die KAVO aF von Küsterprüfung spricht. Die Berufsbezeichnungen Küster, Sakristan oder Mesner werden synonym verwendet (vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch 8. Aufl. Stichwort Sakristan). Es handelt sich um die Tätigkeit eines (katholischen) Kirchendieners. Bei der geforderten Berufs- oder Fachausbildung muss es sich folglich um eine zusätzlich zur Küsterprüfung erworbene Qualifikation handeln.
27
c) Ob der Kläger neben der Küsterprüfung über eine der Küstertätigkeit förderliche, abgeschlossene Berufs- oder Fachausbildung verfügt, kann der Senat mangels Feststellungen zur Qualifikation des Klägers nicht beurteilen. Dem im Berufungsurteil in Bezug genommenen Akteninhalt ist zwar aus einer als Anlage vorgelegten Danksagung anlässlich des Ausscheidens des Klägers zu entnehmen, dass der Kläger eine Ausbildung als Radio- und Fernsehmechaniker absolviert habe. Ob dies zutrifft, ist aber nicht festgestellt. Zudem können die Tätigkeit als Küster und der Ausbildungsinhalt nur auf Grundlage der Berufsbezeichnungen nicht zueinander in Bezug gesetzt werden. Zur Beurteilung der Förderlichkeit bedarf es einer wertenden Betrachtung auf der Grundlage tätigkeitsbezogener Tatsachen. Solche sind nicht festgestellt.
28
d) Eine entsprechende Prüfung ist auch nicht wegen einer vertraglichen Anerkennung der Ausbildung als förderlich iSd. Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF entbehrlich. Der Änderungsvertrag vom 25. September 2000 sieht zwar im Gegensatz zum Vertrag vom 20. Juli 1998 eine entsprechende Eingruppierung vor. Dies stellt aber keine konstitutive Entgeltregelung dar, sondern offensichtlich nur die gemäß § 20 Abs. 4 KAVO aF vorgesehene deklaratorische Angabe der nach Maßgabe der vertraglich in Bezug genommenen KAVO als zutreffend angesehenen Eingruppierung. Ein Arbeitnehmer, der einen Arbeitsvertrag mit einem kirchlichen Arbeitgeber schließt, hat davon auszugehen, dass sein Arbeitgeber das spezifisch kirchliche Vertragsrecht in seiner jeweiligen Fassung zum Gegenstand des Arbeitsverhältnisses machen will und damit idR kirchenrechtlichen Geboten genügen will (BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 24, BAGE 163, 56). Dem stünde die Annahme einer von den in Bezug genommenen Eingruppierungsregelungen unabhängigen Vergütungsabrede regelmäßig entgegen. Hinzu kommt hier, dass die Bezeichnung des kirchlichen Regelwerks als „Arbeits- und Vergütungsordnung“ unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass sie bei einer Inbezugnahme Geltung für die Vergütungsregelung beansprucht. Es deutet nichts darauf hin, dass mit dem Änderungsvertrag vom 25. September 2000 dennoch eine abweichende Entgeltabrede getroffen werden sollte.
29
e) Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Vorliegen einer förderlichen Berufs- oder Fachausbildung iSd. Vergütungsgruppe K VIII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF unabhängig von den vertraglichen Regelungen unstreitig ist. Die Parteien haben keine diesbezüglichen Erklärungen abgegeben. Die Beklagte hat nur eine Höhergruppierung „aus Kulanz“ anlässlich des bevorstehenden Eintritts des Klägers in den Ruhestand und damit eine überobligatorische Leistung für die Zeit ab dem 1. Mai 2015 behauptet.
30
3. Die Vorinstanzen haben entgegen § 139 Abs. 2 ZPO nicht auf die Erforderlichkeit der Prüfung der Qualifikation des Klägers hingewiesen. Den Parteien ist daher in einem fortgesetzten Berufungsverfahren zunächst Gelegenheit zu weiterem diesbezüglichen Sachvortrag zu geben, denn die Entscheidung stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Zwar wäre ein etwaiger Erfüllungsanspruch nach § 57 Abs. 1 KAVO aF verfallen. Der Kläger könnte dann aber in gleicher Höhe Schadensersatz wegen Verletzung von § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG verlangen.
31
a) Hätte der Kläger einen vertraglichen Anspruch auf die streitgegenständliche Differenzvergütung gehabt, wäre dieser Erfüllungsanspruch nach § 57 Abs. 1 KAVO aF verfallen. Die Ausschlussfristenregelung wurde durch die vollständige Inbezugnahme der KAVO entgegen der Auffassung der Revision zum Vertragsinhalt.
32
aa) § 57 Abs. 1 KAVO aF ist eine wirksame Ausschlussfristenregelung. Sie verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
33
(1) Die KAVO unterliegt als Allgemeine Geschäftsbedingung der Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB (BAG 22. Juli 2010 – 6 AZR 847/07 – Rn. 24, BAGE 135, 163). Bei dieser Kontrolle ist als im Arbeitsrecht geltende Besonderheit (§ 310 Abs. 4 Satz 2 BGB) jedoch angemessen zu berücksichtigen, dass das Verfahren des Dritten Wegs mit paritätischer Besetzung der Arbeitsrechtlichen Kommission und Weisungsungebundenheit ihrer Mitglieder gewährleistet, dass die Arbeitgeberseite nicht einseitig ihre Interessen durchsetzen kann. Die Berücksichtigung dieser Besonderheit bewirkt, dass so zustande gekommene kirchliche Arbeitsrechtsregelungen grundsätzlich wie Tarifverträge nur daraufhin zu untersuchen sind, ob sie gegen die Verfassung, gegen anderes höherrangiges zwingendes Recht oder die guten Sitten verstoßen (BAG 22. März 2018 – 6 AZR 835/16 – Rn. 66, BAGE 162, 247; 4. August 2016 – 6 AZR 129/15 – Rn. 26 mwN). Anders verhält es sich dann, wenn ein kirchlicher Arbeitgeber unter Verstoß gegen seine kirchenrechtliche Verpflichtung die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen nur teilweise vertraglich in Bezug nimmt oder sich gänzlich von ihnen löst und ein eigenes Vertragswerk erstellt (vgl. hierzu BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 38 mwN, BAGE 163, 56). In diesem Fall handelt es sich um außerhalb des Dritten Wegs zustande gekommene Allgemeine Geschäftsbedingungen, welche uneingeschränkt nach den §§ 305 ff. BGB zu kontrollieren sind.
34
(2) Nach diesen Grundsätzen sind vollständig in Bezug genommene kirchliche Arbeitsrechtsregelungen auch nicht gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB auf Transparenz hin zu überprüfen (noch offengelassen von BAG 9. August 2011 – 9 AZR 475/10 – Rn. 25 ff.). Sie müssen jedoch wie Tarifverträge dem Gebot der Normenklarheit genügen (vgl. hierzu BAG 14. März 2019 – 6 AZR 339/18 – Rn. 34; 12. März 2019 – 1 AZR 307/17 – Rn. 38; 25. September 2018 – 3 AZR 402/17 – Rn. 30). Mit diesem Gleichlauf der Kontrolldichte wird eine nicht zu rechtfertigende Besserstellung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen im Verhältnis zu Tarifverträgen vermieden. Auch die typische inhaltliche Verzahnung zwischen dem kirchlichen Arbeitsrecht und den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes spricht für die Anlegung gleicher Kontrollmaßstäbe. Anderenfalls entstünden unauflösbare Wertungswidersprüche.
35
(3) Entgegen der Auffassung der Revision ist § 57 Abs. 1 KAVO aF daher nicht wegen unzureichender Bestimmung der Schriftform unwirksam. Zwar ist dem Wortlaut der Regelung nicht zu entnehmen, dass zur Geltendmachung auch Textform nach § 126b BGB ausreicht (vgl. zu § 70 Satz 1 BAT BAG 7. Juli 2010 – 4 AZR 549/08 – Rn. 88, BAGE 135, 80). Eine Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB findet jedoch aus den genannten Gründen ebenso wenig statt wie eine Kontrolle am Maßstab des § 309 Nr. 13 BGB. Ein Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit liegt nicht vor.
36
(4) § 57 Abs. 1 KAVO in der hier anzuwendenden Fassung war dementsprechend auch nicht wegen Intransparenz unwirksam, weil er entgegen § 3 Satz 1 MiLoG auch den gesetzlichen Mindestlohn erfasste (vgl. zur Transparenzkontrolle BAG 30. Januar 2019 – 5 AZR 43/18 – Rn. 30, BAGE 165, 205; 18. September 2018 – 9 AZR 162/18 – Rn. 27 ff., BAGE 163, 282; zur Anwendbarkeit des MiLoG auf kirchliche Arbeitgeber Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 22 Rn. 25). Wie bei tariflichen Verfallklauseln bestand diesbezüglich nur eine Teilunwirksamkeit (vgl. hierzu BAG 20. Juni 2018 – 5 AZR 377/17 – Rn. 25, BAGE 163, 99; kritisch Münzel ZAT 2019, 4, 8). Diese wirkt sich hier auch für die ab dem 1. Januar 2015 etwaig entstandenen Ansprüche des Klägers nicht aus, da der ab diesem Zeitpunkt zu leistende gesetzliche Mindestlohn nicht in Streit steht.
37
(5) Es kann offenbleiben, ob § 57 Abs. 1 KAVO aF mangels ausdrücklicher anderweitiger Regelung auch Ansprüche miteinbezieht, die durch vorsätzliches Handeln des Arbeitgebers verursacht wurden (vgl. BAG 26. September 2013 – 8 AZR 1013/12 – Rn. 30, 40, 43; offengelassen von BAG 28. Juni 2018 – 8 AZR 141/16 – Rn. 36). Die Ausschlussfrist wäre dann wegen Verstoßes gegen § 202 Abs. 1 BGB nach § 134 BGB nur insoweit nichtig. Im Übrigen bliebe sie wirksam (BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 541/17 – Rn. 41). Eine Transparenzkontrolle erfolgt, wie ausgeführt, nicht. Vorsätzliches Handeln der Beklagten ist hier nicht behauptet.
38
(6) Der von der Revision angenommene Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG liegt nicht vor. Zwar ergibt sich aus diesen Verfassungsnormen ein Recht auf effektiven Rechtsschutz (vgl. hierzu BVerfG 16. Juli 2019 – 2 BvR 881/17 – Rn. 16), welches bei der Auslegung und Anwendung von Ausschlussfristen zu beachten ist. Danach darf den Prozessparteien der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dem Arbeitnehmer dürfen keine übersteigerten Obliegenheiten zur gerichtlichen Geltendmachung seiner Ansprüche auferlegt werden (BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 39). Die einstufige Ausschlussfrist des § 57 Abs. 1 KAVO aF verlangt jedoch nur eine außergerichtliche schriftliche Geltendmachung und stellt damit keine Hürde für den Zugang zu den Gerichten für Arbeitssachen auf. Die vorherige Geltendmachung ist keine Voraussetzung für eine Klageerhebung, vielmehr kann eine Klage die Ausschlussfrist wahren. Aus der von der Revision angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2004 – 1 BvR 894/04 – ergibt sich nichts anderes.
39
bb) Der Kläger hat die streitgegenständlichen Ansprüche nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist des § 57 Abs. 1 KAVO aF schriftlich geltend gemacht. Entgegen der Ansicht der Revision lief diese Frist als Teil des Vertragsinhalts unabhängig davon an, ob der Kläger sie zur Kenntnis genommen hatte. Die Vergütung für April 2015 war gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 KAVO in der damals geltenden Fassung am 29. April 2015 zur Zahlung fällig. Der Kläger hat seine Ansprüche für diesen und die vorangegangenen Monate des streitbefangenen Zeitraums unstreitig erst mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 30. Dezember 2015 und damit nach Ablauf der sechsmonatigen Ausschlussfrist in der gebotenen Form geltend gemacht.
40
cc) Die Berufung der Beklagten auf den nach § 57 Abs. 1 KAVO aF eingetretenen Verfall ist nicht rechtsmissbräuchlich. Der von der Revision behauptete Verstoß gegen das Nachweisgesetz würde für sich genommen nicht ausreichen, um eine Ablehnung des Anspruchs unter Berufung auf die Ausschlussfrist als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Die Sanktion dafür ist allein der Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB. Erst wenn zusätzlich die Voraussetzungen eines individuellen Rechtsmissbrauchs erfüllt sind, ist es dem Arbeitgeber verwehrt, sich auf die Ausschlussfrist zu berufen (vgl. BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 149/17 – Rn. 51; 25. März 2015 – 5 AZR 368/13 – Rn. 36, BAGE 151, 170). Dies ist hier nicht ersichtlich. Der Kläger konnte nicht darlegen und beweisen, dass seine zum Verfall des Anspruchs führende Untätigkeit durch ein Verhalten der Beklagten veranlasst worden war (vgl. zu diesem Erfordernis BAG 11. April 2019 – 6 AZR 104/18 – Rn. 39; 28. Juni 2018 – 8 AZR 141/16 – Rn. 38; 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 45, BAGE 163, 56).
41
(1) Dabei kann mit der Revision angenommen werden, dass die KAVO und ihre jeweiligen Änderungen durch die Beklagte nicht bekannt gemacht wurden und eine Einsicht in die KAVO erst auf Verlangen des Klägers im Pfarrbüro gewährt worden wäre. Selbst ein Verstoß gegen die Bekanntmachungspflicht des für Tarifverträge geltenden § 8 TVG führt nicht zur Treuwidrigkeit der Berufung auf die Ausschlussfrist (BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – BAGE 100, 225). Es kann deshalb offenbleiben, ob § 8 TVG trotz kirchenrechtlicher Publizitätsvorgaben auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen analog angewendet werden kann.
42
(2) Die Beklagte hat dem Kläger nach dem Ergebnis der vom Landesarbeitsgericht durchgeführten Beweisaufnahme eine Einsicht in die KAVO nicht verweigert. Die Revision greift das Berufungsurteil insoweit nicht an. Das bloße Unterlassen der Einsichtnahme hat der Kläger zu verantworten und kann der Beklagten nicht als treuwidriges Verhalten angelastet werden.
43
(3) Entgegen der Revision hat die Beklagte den Kläger auch nicht von einer fristgemäßen Geltendmachung seiner Ansprüche abgehalten, indem sie den Eindruck erweckt hat, ein Anspruch auf eine höhere Vergütung setze einen vom Generalvikariat genehmigten Nachtrag zum Arbeitsvertrag voraus. Selbst wenn der Kläger vom Erfordernis eines neuen Vertragsschlusses hätte ausgehen dürfen, hätte ihn dies nicht auf Veranlassung der Beklagten von der Geltendmachung seiner Rechte abgehalten.
44
(4) Die Beklagte hat durch die rückwirkenden Erhöhungen der Vergütung aufgrund der verschiedenen Nachtragsverträge keinen Vertrauenstatbestand geschaffen, der in einem Zusammenhang mit der Ausschlussfristenregelung steht. Sie hat damit keinen Anlass für die Annahme gegeben, die rückwirkende Erfüllung eines vertraglichen Anspruchs lasse das Erfordernis der fristgerechten Geltendmachung eines anderen oder weitergehenden Anspruchs entfallen. Dies gilt auch, soweit die rückwirkend vereinbarten Entgeltsteigerungen den fraglichen Bewährungsaufstieg zugrunde legen.
45
(5) Der Ansatz der Revision, die Beklagte habe die Eingruppierung mit Blick auf den Bewährungsaufstieg regelmäßig prüfen lassen müssen, statt auf eine Forderung des Klägers zu warten, führt nicht weiter. Der Kläger wäre auch bei Unterstellung einer solchen Pflichtverletzung nicht gehindert gewesen, seine Forderung rechtzeitig zu erheben. Gerade vertragswidrige Verhaltensweisen führen zu Erfüllungsansprüchen, welche innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht werden müssen.
46
b) Der Kläger könnte jedoch entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts einen an die Stelle des vertraglichen Erfüllungsanspruchs getretenen Schadensersatzanspruch wegen unterlassener Unterrichtung über die Verfallfrist des § 57 Abs. 1 KAVO aF haben. Die Beklagte hat insoweit gegen ihre Verpflichtungen aus dem Nachweisgesetz verstoßen.
47
aa) Der Arbeitgeber hat gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses die wesentlichen Vertragsbedingungen schriftlich niederzulegen, die Niederschrift zu unterzeichnen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen. Eine Änderung der wesentlichen Vertragsbedingungen ist dem Arbeitnehmer gemäß § 3 Satz 1 NachwG spätestens einen Monat nach der Änderung schriftlich mitzuteilen. Befindet sich ein Arbeitgeber mit der Aushändigung der Niederschrift nach § 2 NachwG oder der Mitteilung nach § 3 NachwG in Verzug, hat er gemäß § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB den durch den eingetretenen Verzug adäquat verursachten Schaden zu ersetzen. Der Schadensersatzanspruch ist auf Naturalrestitution gerichtet (§ 249 Abs. 1 BGB). Deshalb kann ein Arbeitnehmer von dem Arbeitgeber verlangen, so gestellt zu werden, als wäre sein Zahlungsanspruch nicht untergegangen, wenn ein solcher Anspruch nur wegen Versäumung der Ausschlussfrist erloschen ist und bei gesetzmäßigem Nachweis seitens des Arbeitgebers bestehen würde (BAG 21. Februar 2012 – 9 AZR 486/10 – Rn. 34). Bei der Prüfung der adäquaten Verursachung kommt dem Arbeitnehmer die Vermutung eines aufklärungsgemäßen Verhaltens zugute (BAG 5. November 2003 – 5 AZR 676/02 – zu III 3 a der Gründe). Er hat allerdings die Kausalität zwischen der unterlassenen Aufklärung und dem eingetretenen Schaden darzulegen (BAG 20. Juni 2018 – 4 AZR 235/15 – Rn. 23; 20. April 2011 – 5 AZR 171/10 – Rn. 27, BAGE 137, 375; vgl. auch BAG 24. Mai 2017 – 5 AZR 251/16 – Rn. 68).
48
bb) Der Kläger hat Schadensersatz in Höhe der erhobenen Forderung wegen unterlassener Unterrichtung über die Verfallfrist verlangt und behauptet, er hätte den Anspruch bei Kenntnis von der Verfallfrist rechtzeitig geltend gemacht. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts könnte ein solcher Schadensersatzanspruch bestehen, falls der Kläger tatsächlich falsch eingruppiert war und deshalb den streitigen Vergütungsanspruch gehabt hätte. Vertraglich vereinbarte Verfallfristen sind wesentliche Vertragsbedingungen iSv. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG (BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – zu 4 b der Gründe, BAGE 100, 225). Keine der vorgelegten Fassungen des Arbeitsvertrags enthält eine ausdrückliche Ausschlussfristenregelung oder einen expliziten Hinweis auf die Verfallfrist des § 57 Abs. 1 KAVO. Die Beklagte hat den Kläger auch nicht gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 oder § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG über diese Frist informiert. Diese Normen sind auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen nicht anwendbar.
49
(1) Mit der Bezugnahmeklausel in § 2 des ursprünglichen Arbeitsvertrags, welche die Grundlage für die Anwendbarkeit der KAVO bildet, hat die Beklagte ihrer Verpflichtung genügt, die Anwendbarkeit der KAVO auf das Arbeitsverhältnis als wesentliche Vertragsbedingung iSv. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG nachzuweisen (vgl. BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – zu 4 b aa der Gründe, BAGE 100, 225). Entgegen der Ansicht der Beklagten hat sie mit dem Nachweis der nach kirchlichem Arbeitsrecht in Bezug zu nehmenden Arbeitsrechtsregelung jedoch noch nicht die darin enthaltene Ausschlussfrist nachgewiesen. Die Bezugnahme auf die KAVO stellt keinen in allgemeiner Form gehaltenen Hinweis nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG dar, welcher einen gesonderten Hinweis auf die in der KAVO enthaltene Verfallfrist entbehrlich machen könnte. § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG ist weder direkt noch analog auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen anwendbar.
50
(a) In die Niederschrift iSd. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG ist nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG ein in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf die Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen, die auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden sind, aufzunehmen. Hinsichtlich in Tarifverträgen enthaltener Ausschlussfristen geht die Rechtsprechung davon aus, dass der Arbeitgeber nur verpflichtet ist, den Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG auf den Tarifvertrag hinzuweisen. Eines gesonderten Hinweises auf die Ausschlussfrist bedürfe es nicht (BAG 5. November 2003 – 5 AZR 469/02 – zu I 5 c bb der Gründe, BAGE 108, 256; 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – zu 4 c der Gründe, BAGE 100, 225). Diese Rechtsprechung wird kritisiert (vgl. ErfK/Preis 19. Aufl. NachwG § 2 Rn. 25 f.; HK-ArbR/Schubert 4. Aufl. § 2 NachwG Rn. 14; Voltolini Die Nachweispflicht des Arbeitgebers im Hinblick auf tarifvertragliche Ausschlussfristen S. 176 ff.; mit unionsrechtlichen Bedenken EuArbR/Kolbe 2. Aufl. RL 91/533/EWG Art. 2 Rn. 57).
51
(b) Unabhängig von der für Tarifverträge geltenden Rechtslage ist § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG seinem unmissverständlichen Wortlaut nach auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen nicht anwendbar. Diese sind Allgemeine Geschäftsbedingungen und damit weder Tarifverträge noch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen. Der – wie dargelegt – an Tarifverträge angeglichene Kontrollmaßstab hat keine Veränderung der Rechtsqualität der Regelungen zur Folge.
52
(c) Der Senat folgt der sorgfältig begründeten Ansicht des Landesarbeitsgerichts, § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG finde bei der Bezugnahme auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen analog Anwendung, nicht. Es fehlt an der dafür erforderlichen unbewussten Regelungslücke.
53
(aa) Eine Analogie ist nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält. Die Lücke muss sich demnach aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem, dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergeben. Dabei muss die Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können. Anderenfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden (BAG 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 44).
54
(bb) Eine solche Lückenhaftigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG ist bezogen auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen nicht erkennbar. Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang des Gesetzes und der Gesetzesbegründung.
55
(aaa) Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG können die Angaben nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 bis Nr. 9 und Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 NachwG ersetzt werden durch einen Hinweis auf die einschlägigen Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen und ähnlichen Regelungen, die für das Arbeitsverhältnis gelten. Die Pflicht zur Mitteilung der Änderung wesentlicher Vertragsbedingungen nach § 3 Satz 1 NachwG gilt nicht bei einer Änderung der gesetzlichen Vorschriften, Tarifverträge, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen und ähnlichen Regelungen, die für das Arbeitsverhältnis gelten (§ 3 Satz 2 NachwG).
56
(bbb) Kirchliche Arbeitsrechtsregelungen sind „ähnliche Regelungen“ iSv. § 2 Abs. 3 Satz 1 und § 3 Satz 2 NachwG (BAG 14. Januar 2004 – 4 AZR 10/03 – zu III der Gründe). Der Gesetzgeber kannte die Besonderheit des kirchlichen Arbeitsrechts und wollte den Interessen kirchlicher Arbeitgeber, die auf eine Inbezugnahme des kirchlichen Arbeitsrechts angewiesen sind, um diesem im Arbeitsverhältnis Geltung zu verschaffen, mit der Aufnahme der „ähnlichen Regelungen“ in die Kataloge des § 2 Abs. 3 Satz 1 und § 3 Satz 2 NachwG im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens „angemessen“ Rechnung tragen (vgl. BT-Drs. 13/1753 S. 13; vgl. nunmehr auch § 11 Abs. 4 EntgTranspG). Eine vollständige Gleichstellung mit Tarifverträgen, Betriebs- und Dienstvereinbarungen hat er aber nicht vorgenommen, obwohl es sich bei den kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen gleichfalls um Kollektivvereinbarungen handelt und auch Tarifverträge oftmals nur aufgrund vertraglicher Bezugnahme zur Geltung gelangen. Der Gesetzgeber hat mithin bewusst differenziert. Eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen setzte sich über diese gesetzgeberische Entscheidung unzulässig rechtsfortbildend hinweg.
57
(ccc) Allerdings müssen kirchliche Arbeitsrechtsregelungen bekannt gemacht werden. Daraus folgt jedoch entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht, dass der Gesetzgeber die Problematik des Nachweises von Ausschlussfristen bei der Inbezugnahme von diesen Regelungen nicht gesehen haben könne, weil den Zielen des Nachweisgesetzes, ohne unzumutbaren Verwaltungsaufwand für den Arbeitgeber Transparenz und Beweissicherung zugunsten des Arbeitnehmers sicherzustellen, durch die kirchliche Publizitätspflicht genügt sei, die es dem kirchlichen Mitarbeiter ermögliche, sich Kenntnis vom Inhalt der Arbeitsrechtsregelung zu verschaffen. Die kirchenrechtlichen Veröffentlichungspflichten, hier im Amtsblatt der Diözese, können eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG nicht rechtfertigen. Es deutet nichts darauf hin, dass der Gesetzgeber ungeachtet der ihm offenkundig bekannten Besonderheiten des kirchlichen Arbeitsrechts generell von einer Vergleichbarkeit gesetzlicher Auslegungs- bzw. Bekanntmachungspflichten (zB § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG, § 8 TVG) und kirchlichen Veröffentlichungspflichten ausging. Hätte er kirchliche Arbeitgeber davon entbinden wollen, nicht nur das durch Inbezugnahme geltende kirchliche Arbeitsrecht als solches, sondern auch dessen wesentlichen Inhalt nachzuweisen, dann hätte er ihnen nicht nur durch die Aufnahme der Arbeitsrechtsregelungen in die punktuellen Ausnahmen in § 2 Abs. 3 Satz 1 und in § 3 Satz 2 NachwG Erleichterungen von der Nachweispflicht des § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG verschafft. Er ging offenkundig abschließend davon aus, dass damit deren Interessen „angemessen“ gewahrt sind. Diesen Willen des Gesetzgebers hat der Senat zu respektieren.
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(2) Der Hinweis auf die Verfallfrist des § 57 Abs. 1 KAVO aF wurde auch nicht gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG ersetzt.
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(a) § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG gestattet es, anstelle der in § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 bis Nr. 9 und Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 NachwG genannten Einzelangaben auf die für den betreffenden Bereich einschlägige Kollektivvereinbarung zu verweisen (sog. qualifizierter Hinweis). Die Nennung der konkreten Bestimmung ist nicht erforderlich. Es ist zB ausreichend, dass für das Arbeitsentgelt auf die jeweils gültige Fassung des betreffenden Entgelttarifvertrags verwiesen wird. Durch diese Verweisungsmöglichkeiten wird die praktische Handhabung der angeführten Nachweispflichten nach dem Willen des Gesetzgebers wesentlich erleichtert (vgl. BT-Drs. 13/668 S. 11; BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – zu 4 c bb der Gründe, BAGE 100, 225). Erforderlich ist jedoch neben der Angabe der wesentlichen Vertragsbedingung die genaue Bezeichnung der einschlägigen Kollektivvereinbarung und ggf. die Klarstellung ihrer dynamischen Anwendbarkeit (vgl. ErfK/Preis 19. Aufl. NachwG § 2 Rn. 30; HWK/Kliemt 8. Aufl. § 2 NachwG Rn. 53; NK-GA/Schaub § 2 NachwG Rn. 40 f.).
60
(b) Der Katalog des § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG betrifft ausschließlich die aufgezählten Angaben und ist damit abschließend (vgl. BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – zu 4 c bb der Gründe, BAGE 100, 225; Müller-Glöge RdA 2001 Sonderbeilage Heft 5 S. 46, 55). Die Vereinbarung einer Verfallklausel als wesentlicher Vertragsbedingung ist keiner Angabe nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 bis Nr. 9 und Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 NachwG zuzuordnen. Eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG auf in kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen enthaltene Verfallklauseln kommt nicht in Betracht. Eine unbewusste Regelungslücke ist wiederum nicht erkennbar. Soweit das Bundesarbeitsgericht einen Hinweis nach § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG auch für weitere, nicht ausdrücklich in § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG genannte wesentliche Vertragsbedingungen hat ausreichen lassen, bezieht sich diese Privilegierung nur auf die unter § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG fallenden Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen bzw. Dienstvereinbarungen (vgl. BAG 29. Mai 2002 – 5 AZR 105/01 – zu I 3 b bb der Gründe; 17. April 2002 – 5 AZR 89/01 – zu III 2 der Gründe, BAGE 101, 75). Kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gehören, wie dargelegt, nicht zu dieser Gruppe von Regelungswerken und nehmen an deren von der Rechtsprechung entwickelten Privilegierung deshalb nicht teil. Die Frage des Verhältnisses von § 2 Abs. 3 Satz 1 und § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG stellt sich vorliegend deshalb nicht (vgl. hierzu BAG 23. Januar 2002 – 4 AZR 56/01 – zu 4 c bb der Gründe, aaO). Folglich verbleibt es bei der klaren Anordnung des Gesetzgebers, dass nur die in § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG genannten Angaben durch einen Hinweis auf „ähnliche Regelungen“ ersetzt werden können.
61
(c) Eine analoge Anwendung des § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG auf dort nicht genannte Angaben ist auch nicht aus unionsrechtlichen Gründen geboten (aA EuArbR/Kolbe 2. Aufl. RL 91/533/EWG Art. 2 Rn. 56 f.). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zwar bzgl. der nicht in Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 91/533/EWG genannten Verpflichtung zur Leistung von Überstunden eine entsprechende Anwendung des Art. 2 Abs. 3 Richtlinie 91/533/EWG für möglich gehalten (EuGH 8. Februar 2001 – C-350/99 – [Lange] Rn. 24). Dies lässt jedoch nicht auf eine unbewusste Lückenhaftigkeit des Nachweisgesetzes schließen. Es besteht auch kein unionsrechtlicher Zwang zur Übertragung der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG. Gemäß Art. 7 Richtlinie 91/533/EWG bleibt das Recht der Mitgliedstaaten zum Erlass für die Arbeitnehmer günstigerer Rechtsvorschriften unberührt (Mindestharmonisierung). Der deutsche Gesetzgeber durfte daher einen erleichterten Nachweis auf die in § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG genannten Angaben beschränken.
62
(d) Zudem wäre selbst bei unterstellter analoger Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 Satz 1 NachwG hier kein ausreichender Hinweis auf die Verfallfrist erteilt worden. Der sog. qualifizierte Hinweis hätte sich konkret auf die Verfallklausel beziehen müssen. Dies ist nicht geschehen. Der ursprüngliche Arbeitsvertrag erwähnt zwar in § 7 die „Beachtung arbeitsrechtlicher Ausschlussfristen“. Dies erfolgt allerdings nur im Zusammenhang mit der Anrufung des Schlichtungsausschusses nach § 47 KAVO, welche eine Beachtung arbeitsrechtlicher Ausschlussfristen nicht entbehrlich mache. Ein Bezug zu § 57 Abs. 1 KAVO aF wird nicht hergestellt, vielmehr wird mit dem Passus „insbesondere bei Kündigungen“ ein inhaltlicher Zusammenhang mit einer gesetzlichen Frist (§ 4 Satz 1 KSchG) angeführt.
63
c) Es kommt daher nicht darauf an, dass die Höhe des Arbeitsentgelts gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 iVm. Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 NachwG nachgewiesen wurde. Hierfür reicht die Angabe der Vergütungs- bzw. Entgeltgruppe in Verbindung mit der dynamischen Inbezugnahme der KAVO im Arbeitsvertrag aus. Der konkrete Vergütungsbetrag muss ebenso wenig wie die Möglichkeit des Bewährungsaufstiegs angegeben werden (BAG 8. Juni 2005 – 4 AZR 406/04 – zu I 3 c bb der Gründe, BAGE 115, 105). Der Eintritt eines Bewährungsaufstiegs ist als bloße Rechtsfolge der vertraglichen Vereinbarung auch keine Änderung der wesentlichen Vertragsbedingung iSd. § 3 Satz 1 NachwG. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.
64
4. Das Landesarbeitsgericht wird im Rahmen des fortzusetzenden Berufungsverfahrens prüfen müssen, ob die eingruppierungsrechtlichen Voraussetzungen der KAVO einschließlich der Überleitungsbestimmungen bezogen auf den vertraglichen Primäranspruch erfüllt sind, denn nur ein solcher könnte sich in einen Schadensersatzanspruch umgewandelt haben. Der Kläger kann sich dabei zunächst darauf berufen, dass er seit dem 1. Mai 2000 nach der mitgeteilten Vergütungsgruppe K VII Fallgruppe 3.1.6 KAVO aF vergütet wurde und ihm demnach der Bewährungsaufstieg in die Vergütungsgruppe K VIb Fallgruppe 9.3.1.6 KAVO aF offenstand. Die Beklagte hat dann entsprechend den Grundsätzen der korrigierenden Rückgruppierung die objektive Fehlerhaftigkeit der bisher als zutreffend angesehenen Eingruppierung darzulegen und ggf. zu beweisen (vgl. BAG 11. Juli 2018 – 4 AZR 488/17 – Rn. 22; 17. November 2016 – 6 AZR 487/15 – Rn. 46 f.). Diese spezifische Darlegungs- und Beweislast setzt einen „begrenzten Vertrauensschutz“ um und gilt auch bei kirchlichen Arbeitsverhältnissen (BAG 20. März 2013 – 4 AZR 521/11 – Rn. 18 ff.). Sollte der Beklagten dies nicht gelingen, wäre die erhobene Einrede der Verjährung zu beachten.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
Döpfert
Niklas Benrath |
bag_36-20 | 13.10.2020 | 13.10.2020
36/20 - Betriebliche Altersversorgung - Ablösung einer Versorgungszusage
Dem Anspruch eines Versorgungsempfängers auf richtige Berechnung seiner Ausgangsrente auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung – und damit die Überprüfung der Wirksamkeit einer Ablösung einer früheren, günstigeren Versorgungsordnung – kann der Einwand der Verwirkung aus § 242 BGB nicht entgegengehalten werden.
Der Kläger war seit 1955 bei der Beklagten beschäftigt. Die betriebliche Altersversorgung bei der Beklagten war seit dem Jahr 1979 durch eine Betriebsvereinbarung (BV 1979) geregelt. Die BV 1979 wurde zum 1. Januar 1988 durch eine weitere Betriebsvereinbarung (BV 1988) geändert. Dabei wurde jedes Dienstjahr der ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit nach Inkrafttreten der BV 1988 mit 0,2 % des Arbeitseinkommens bewertet, statt wie zuvor nach der BV 1979 mit 0,4 %. Der Kläger schied mit Ablauf des 31. Dezember 2003 aus dem Arbeitsverhältnis aus und bezieht seit dem 1. Januar 2004 ua. eine Betriebsrente von der Beklagten.
Der Kläger verlangt die Zahlung einer höheren Ausgangsbetriebsrente. Die Halbierung der künftigen Steigerungsbeträge durch die BV 1988 sei mangels sachlich-proportionaler Gründe unzulässig. Die Beklagte verweist demgegenüber ua. auf ihre damalige wirtschaftliche Lage und hält dem Begehren des Klägers nach einer Neuberechnung seiner Ausgangsrente den Einwand der Verwirkung entgegen. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung insoweit zurückgewiesen.
Die vom Bundesarbeitsgericht eingeschränkt auf eine um 119,12 Euro brutto höhere Ausgangsrente zugelassene Revision des Klägers hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg und führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist der Anspruch des Klägers auf Berechnung seiner Ausgangsrente und damit die Überprüfung der Wirksamkeit der Ablösung der BV 1979 durch die BV 1988 nicht aus dem aus § 242 BGB abgeleiteten Grundsatz der Verwirkung ausgeschlossen. Der Kläger verfolgt ein Recht, dass durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumt wurde. Dieses ist von Gesetzes wegen nach § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG dem Einwand der Verwirkung entzogen. Ob die Klage begründet ist, konnte der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden. Das Landesarbeitsgericht hatte zu den von der Beklagten vorgebrachten Gründen für die Ablösung der früheren Betriebsvereinbarung keine Feststellungen getroffen. Dies wird es im fortgesetzten Berufungsverfahren nachzuholen haben.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 3 AZR 246/20 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Saarland, Urteil vom 13. November 2020 – 1 Sa 1/19 – | Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Saarland vom 13. November 2019 – 1 Sa 1/19 – aufgehoben, soweit er eine um 119,12 Euro höhere Ausgangsrente bei Rentenbeginn einschließlich der hierauf zum 1. Januar 2010 und 1. Januar 2013 erfolgten Anpassungen ab dem 1. Januar 2014 begehrt.
Die Sache wird insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Ablösung einer Versorgungsordnung und daran anknüpfend die zutreffende Berechnung der Ausgangsrente des Klägers sowie über Ansprüche auf Anpassung der laufenden Leistungen.
2
Der im November 1940 geborene Kläger trat am 1. März 1955 in ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten. Unter dem 21. Dezember 1979 schlossen die Beklagte und der bei ihr gebildete Gesamtbetriebsrat eine Betriebsvereinbarung über die Neuordnung der betrieblichen Altersversorgung, die ua. bestimmt:
„BETRIEBSVEREINBARUNG
zwischen der D GmbH
– nachstehend Firma genannt –
und
dem Gesamtbetriebsrat der Firma
über die Neuordnung der betrieblichen Altersversorgung
1.
Die beiliegende Versorgungsordnung, die zum Inhalt dieser Betriebsvereinbarung wird, gilt für alle Mitglieder der Firma und ersetzt die ‚Allgemeine Bedingungen betreffend die Versorgung der Angestellten und Arbeiter vom 01.10.1953‘.
2.
Nach der neuen Versorgungsordnung erhalten die Mitarbeiter eine Versorgung, die sich für jedes vollendete anrechnungsfähige Dienstjahr um 0,4 % des ruhegeldfähigen Einkommens erhöht.
Mitarbeiter, die vor dem 01.01.1970 in die Firma eingetreten sind, erhalten für jedes vollendete anrechnungsfähige Dienstjahr vor dem 01.01.1970 zusätzlich zu dem Steigerungsbetrag von 0,4 % einen weiteren Steigerungsbetrag von 0,6 %. …
Bei der Neuregelung entfällt die bisherige Anrechnung der Sozialversicherungsrente.
3.
Sollte einem der unter Ziffer 2 Abs. 2 genannten Mitarbeiter gegenüber den bisherigen Regelungen ein Nachteil entstehen, so wird die Firma bei Eintritt des Versorgungsfalles auf Antrag eine Vergleichsrechnung anstellen. Dabei werden Dienstjahre bis zum 31.12.1979 nach dem bisherigen System bewertet. Ein sich aus der Vergleichsrechnung etwa ergebender Nachteil wird ausgeglichen.“
3
Die in Nr. 1 genannte Versorgungsordnung „Allgemeine Bedingungen betreffend die Versorgung der Angestellten und Arbeiter“ vom 21. Dezember 1979 (im Folgenden VO 1979) lautet auszugsweise:
„§ 2
Begründung des Anspruchs
(1)
Der Anspruch auf Versorgung wird für jeden Versorgungsberechtigten 10 Jahre nach dem in der Versorgungszusage festgestellten Tage begründet, jedoch nur dann, wenn der Anwärter vom Erhalt der Anwartschaft an ununterbrochen im Dienste der Firma geblieben ist.
…
(2)
Scheidet ein Betriebsangehöriger nach Begründung seines Versorgungsanspruches aus dem Dienst der Firma aus, so fällt sein Versorgungsanspruch fort, es sei denn, daß sein Ausscheiden herbeigeführt wird durch
a)
seinen Tod, seine Arbeits- oder Berufungsunfähigkeit,
b)
Vollendung seines 65. Lebensjahres.
(3)
Der Versorgungsanspruch bleibt erhalten, wenn zum Zeitpunkt des Ausscheidens die gesetzlichen Fristen für das Entstehen einer unverfallbaren Anwartschaft erfüllt sind.
§ 3
Entstehung des Anspruches
(A)
Hat ein Betriebsangehöriger gemäß § 2 einen begründeten Versorgungsanspruch, so stehen ihm oder seinen Hinterbliebenen Versorgungsrenten nach Maßgabe nachstehender Bedingungen zu, wenn:
1.
der Betriebsangehörige das 65. Lebensjahr vollendet hat und sein Dienstverhältnis aus diesem Grunde beendet ist,
2.
der Betriebsangehörige vor Erreichen der Altersgrenze durch Vorlage des Rentenbescheides eines Sozialversicherungsträgers nachweist, daß er Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht und sein Dienstverhältnis aus diesem Grunde beendet ist,
…
…
§ 4
Versorgungsrenten
Für die Berechnung der Versorgungsrenten ist das Arbeitseinkommen maßgebend, welches der Betriebsangehörige während der letzten 10 Jahre vor seinem Ausscheiden bei der Firma von dieser im Monatsdurchschnitt bezogen hat. Arbeitseinkommen im Sinne dieser Bestimmung ist nur das von der Firma bezogene Grundgehalt, worunter der Bruttobetrag zu verstehen ist. Es zählen insbesondere nicht dazu:
Erfolgsbeteiligung, über 12 mal jährlich hinausgezahlte Monatsbezüge, vermögenswirksame Leistungen, Teuerungszulagen, Jubiläumsgaben, Gratifikationen, Auslösungen, Überseezulagen und sonstige außerordentliche oder regelmäßige Zuwendungen.
Hinzugezählt werden jedoch Überstunden- und Mehrarbeitsvergütungen.
§ 5
Zahlung der Versorgungsrenten
Alle Versorgungsrenten werden monatlich nachschüssig gezahlt. Versorgungsrenten werden jedoch frühestens nach Einstellung von Lohn- und Gehaltsfortzahlungen gezahlt.
§ 6
Ruhegeld
(1)
Der Anspruch auf Ruhegeld beginnt mit dem Tage, an welchem dem betreffenden Betriebsangehörigen gemäß § 3 Ziffer 1, 2 und 3 der Anspruch auf Versorgung zusteht.
(2)
Der Anspruch auf Ruhegeld erlischt mit dem Ende des Monats, in dem der Betriebsangehörige stirbt.
(3)
Das Ruhegeld berechnet sich nach dem Arbeitseinkommen im Sinne von § 4. Jedes Dienstjahr der ununterbrochenen Tätigkeit wird mit 0,4 % des Arbeitseinkommens bewertet.
(4)
Für die Berechnung der Höhe der vorgezogenen Altersrente werden anrechnungsfähige Dienstjahre nur bis zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente berücksichtigt. Das danach ermittelte Ruhegeld wird für jeden Monat des Rentenbezugs vor Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,5 % seines Wertes für die Dauer des Rentenbezuges gekürzt.
(5)
Wird das Ruhegeld aufgrund des § 3, Ziffer 2 gewährt, so ist, falls die Arbeits- und Berufungsunfähigkeit des Betriebsangehörigen vor Erreichen des 65. Lebensjahres ganz oder teilweise wiederhergestellt wird, das Ruhegeld um den Betrag zu kürzen, den der Betriebsangehörige durch seine Arbeit erwirbt oder zu erwerben unterläßt. Für die Zeit nach der Erreichung des 65. Lebensjahres kann keine Kürzung stattfinden. Über die Kürzung entscheidet die Firma.“
4
Die VO 1979 wurde durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung vom 28. September 1988 (im Folgenden VO 1988) geändert. Diese lautet auszugsweise:
„BETRIEBSVEREINBARUNG
zwischen der D GmbH
– nachstehend Firma genannt –
und
dem Gesamtbetriebsrat der Firma
über eine Änderung der betrieblichen Altersversorgung
Die D GmbH gewährt ihren männlichen und weiblichen Angestellten und Arbeitern sowie deren Hinterbliebenen Versorgung nach Maßgabe der ‚Allgemeinen Bedingungen betreffend die Versorgung der Angestellten und Arbeiter‘ in der Fassung vom 21.12.1979.
Gesamtbetriebsrat und Firma vereinbaren folgendes:
§ 6 Abs. 3 der vorgenannten Versorgungsordnung wird wie folgt geändert:
‚Das Ruhegeld berechnet sich nach dem Arbeitseinkommen im Sinne von § 4. Jedes Dienstjahr der ununterbrochenen Tätigkeit wird mit 0,2 % des Arbeitseinkommens bewertet.‘
Diese Änderung tritt mit Wirkung vom 01.01.1988 in Kraft.
Die übrigen Bedingungen der Versorgungsordnung vom 21.12.1979 bleiben unverändert.
Die Firma verpflichtet sich, das zum 01.01.1987 geschlossene Versorgungswerk für neu eintretende Mitglieder wieder rückwirkend zu öffnen.
Die seit dem 01.01.1987 neu eingetretenen Mitarbeiter werden eine entsprechende Zusage erhalten.“
5
Der Kläger schied mit Ablauf des 31. Dezember 2003 aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten aus. Seit dem 1. Januar 2004 bezog er ein Ruhegeld auf der Grundlage der VO 1988 iHv. zunächst 1.377,91 Euro brutto.
6
Bei der Berechnung des Ruhegeldes legte die Beklagte einen rentenfähigen Arbeitsverdienst iHv. 3.722,41 Euro und eine tatsächliche Dienstzeit von 48,83 Jahren zugrunde. Für den Zeitraum vom 1. März 1955 bis zum 28. Februar 1965 unterlegte sie die Dienstzeit mit einem Steigerungsfaktor von 1,0 %, für die Zeit vom 1. März 1965 bis zum 28. Februar 1979 mit 2 %, für die Zeit vom 1. März 1979 bis zum 28. Februar 1987 mit 0,4 % und für die Zeit ab dem 1. März 1987 bis zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis mit 0,2 %. Daraus ermittelte sie das anfängliche monatliche Ruhegeld iHv. 1.377,91 Euro.
7
Zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2007 lehnte die Beklagte unter Verweis auf ihre wirtschaftliche Lage die Anpassung des Ruhegeldes des Klägers ab. Zu den Anpassungsstichtagen 1. Januar 2010 und 1. Januar 2013 nahm die Beklagte hingegen Anpassungen vor und gewährt dem Kläger in der Folge ab dem 1. Januar 2013 ein Ruhegeld iHv. 1.529,15 Euro brutto monatlich.
8
Zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2016 lehnte die Beklagte unter Verweis auf ihre wirtschaftliche Lage eine Anpassung der laufenden Leistungen ab, wohingegen sie zum 1. Januar 2019 eine Anpassung vornahm und seither monatlich ein Ruhegeld iHv. 1.598,11 Euro brutto gewährt.
9
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Interesse – geltend gemacht, dass für die Ablösung der VO 1979 durch die VO 1988 keine rechtfertigenden Gründe iSd. dreistufigen Prüfungsschemas des Bundesarbeitsgerichts vorgelegen hätten. Die Absenkung des Steigerungssatzes von 0,4 % auf 0,2 % für die Zeit ab 1. Januar 1988 bewirke, soweit dies rückwirkend zum 1. Januar 1988 erfolgte, einen Eingriff in eine bereits erdiente Anwartschaft. Soweit darüber hinaus künftige Anwartschaften betroffen seien, lägen die zur Rechtfertigung des Eingriffs erforderlichen sachlich-proportionalen Gründe nicht vor. Die Anpassung zum 1. Januar 2007 sowie zum 1. Januar 2016 seien ohne rechtfertigende Gründe verweigert worden. Die wirtschaftliche Lage der Beklagten habe einer Anpassung des Ruhegeldes nicht entgegengestanden.
10
Der Kläger hat zuletzt – soweit für die Revision von Interesse – beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine um 271,10 Euro brutto höhere Betriebsrente zu zahlen und für die Vergangenheit eine Nachzahlung iHv. 18.731,80 Euro zu erbringen nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Teilbetrag der monatlichen Rente iHv. 119,12 Euro für die Monate ab Januar 2014.
11
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
12
Das Arbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte verurteilt, ab Oktober 2019 ein monatliches Ruhegeld iHv. 1.656,06 Euro sowie für die Zeit ab dem 1. Januar 2016 bis zum 30. September 2019 rückständiges Ruhegeld iHv. 1.732,59 Euro zu zahlen. Mit der vom Senat eingeschränkt zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch im Umfang der Zulassung insoweit weiter, als er ab Juni 2020 künftig ein um 271,10 Euro brutto monatlich höheres Ruhegeld und für die Zeit vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Mai 2020 rückständiges Ruhegeld iHv. insgesamt 18.731,80 Euro brutto verlangt. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
13
Die zulässige Revision ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann die Berufung des Klägers nicht zurückgewiesen werden. Ob die Klage begründet ist, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend entscheiden.
14
I. Die Revision ist zulässig.
15
1. Sie ist aufgrund der Zulassung durch den Beschluss des Senats vom 9. April 2020 (- 3 AZN 1406/19 -) statthaft, § 72 Abs. 1 Satz 1, § 72a Abs. 5 Satz 2 ArbGG und rechtzeitig innerhalb der Revisionsbegründungsfrist nach § 72a Abs. 6 Satz 3 ArbGG ordnungsgemäß begründet worden. Der Beschluss vom 9. April 2020 wurde dem Kläger am 4. Mai 2020 zugestellt. Seine Revisionsbegründung ging am 26. Juni 2020 mit einem den Anforderungen des § 130a Abs. 2 ZPO iVm. § 2 ERVV genügenden elektronischen Dokument beim Bundesarbeitsgericht ein.
16
2. Die Revision wurde vom Senat beschränkt auf die Streitgegenstände „Ablösung der VO 1979 durch die VO 1988“ und der damit erfolgten Änderung von § 6 Abs. 3 VO 1979, wodurch der jährliche Steigerungsbetrag ab dem 1. Januar 1988 noch 0,2 % statt wie zuvor 0,4 % beträgt zugelassen sowie hinsichtlich der „Anpassung zum 1. Januar 2016“ und daraus folgender Zahlungsansprüche, soweit die Anpassung eines um 119,12 Euro monatlich höheren anfänglichen Ruhegeldes betroffen ist. Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Streitgegenstände zu den weiteren ursprünglich verfolgten Streitgegenständen „Ablösung der VO 1953 durch die VO 1979“ und „Zahlungsansprüche aus der Zeit vor dem 1. Januar 2014“. Insoweit hat der Senat die Revision nicht zugelassen. Diese sind folglich auch nicht Gegenstand der Revision.
17
II. Die Revision ist im Umfang ihrer Zulassung begründet. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, der Kläger könne eine Berechnung des anfänglichen Ruhegeldes auf der Grundlage der VO 1979 anstelle der Berechnung auf der Grundlage der VO 1988 nicht mehr verlangen, weil Verwirkung eingetreten sei. Das Urteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht entscheiden, ob die Ablösung der VO 1979 durch die VO 1988 wirksam erfolgt ist. Das führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO) zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung. Ob die zulässige Klage, soweit über sie aufgrund der nur eingeschränkt zugelassenen und eingelegten Revision noch zu entscheiden ist, begründet ist, steht noch nicht fest. Dazu bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen und Würdigungen des Landesarbeitsgerichts.
18
1. Die Revision des Klägers ist nicht deshalb teilweise ohne Erfolg, weil der Kläger seinen Zahlungsanspruch in der Berufungsinstanz um spätere Zahlungszeiträume erweitert hat. Das Landesarbeitsgericht hat über die Anträge in der Sache entschieden. Daher hat der Senat in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO in der Revision nicht mehr zu prüfen, ob eine Klageänderung nach § 533 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG vorliegt und ob diese ggf. zulässig ist (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 32 mwN, BAGE 164, 261).
19
2. Die Klage ist zulässig.
20
a) Das gilt auch hinsichtlich des auf künftige Rentenzahlungen gerichteten Klageantrags für die Zeit ab Juni 2020. Der Klageantrag hat die Zahlung wiederkehrender Leistungen iSd. § 258 ZPO zum Gegenstand. Bei wiederkehrenden Leistungen, die – wie Betriebsrentenansprüche – von keiner Gegenleistung abhängen, können gemäß § 258 ZPO grundsätzlich auch künftig fällig werdende Teilbeträge eingeklagt werden. Im Gegensatz zu § 259 ZPO muss nicht die Besorgnis bestehen, dass der Schuldner sich der rechtzeitigen Leistung entziehen wird (vgl. zuletzt BAG 21. Juli 2020 – 3 AZR 142/16 – Rn. 33 mwN).
21
b) Entgegen der – vom Landesarbeitsgericht allerdings nur hilfsweise angedeuteten – Rechtsansicht hat der Kläger sein Recht, seinen Anspruch auf richtige Berechnung seines Anfangsruhegeldes klageweise geltend zu machen, nicht verwirkt; eine Prozessverwirkung ist nicht eingetreten.
22
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann das Recht, eine Klage zu erheben, grundsätzlich verwirkt werden mit der Folge, dass eine dennoch angebrachte Klage unzulässig ist. Eine solche Prozessverwirkung wird allerdings nur bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen angenommen. Das Klagerecht soll ausnahmsweise verwirken können, wenn der Anspruchsteller die Klage erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums erhebt und zusätzlich ein Vertrauenstatbestand beim Anspruchsgegner geschaffen hat, er werde gerichtlich nicht mehr belangt werden. Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes das Interesse des Berechtigten an der sachlichen Prüfung des von ihm behaupteten Anspruchs derart überwiegen, dass dem Gegner die Einlassung auf die nicht innerhalb angemessener Frist erhobene Klage nicht mehr zumutbar ist. Durch die Annahme einer prozessualen Verwirkung darf der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Dies ist im Zusammenhang mit den an das Zeit- und Umstandsmoment zu stellenden Anforderungen zu berücksichtigen (vgl. etwa BAG 26. April 2018 – 3 AZR 738/16 – Rn. 23 mwN, BAGE 162, 361).
23
bb) Es kann dahinstehen, ob eine Prozessverwirkung vorliegend bereits deshalb ausscheidet, weil § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG, der die Verwirkung von Rechten ausschließt, die Arbeitnehmern durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumt werden, auch einer Verwirkung der gerichtlichen Geltendmachung dieser Rechte entgegensteht. Denn die Voraussetzungen für eine Prozessverwirkung liegen nicht vor. Es fehlt jedenfalls am Umstandsmoment. Umstände, die es der Beklagten unzumutbar machen könnten, sich auf die Klage sachlich einzulassen, sind nicht ersichtlich. Einzig der Umstand, dass die Klage erst 13 Jahre nach dem Eintritt in den Ruhestand erhoben wurde, mag ggf. das erforderliche Zeit-, nicht jedoch das Umstandsmoment erfüllen.
24
3. Ob die Klage begründet ist, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht entscheiden. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger seinen Anspruch, die Unwirksamkeit der Ablösung der VO 1979 durch die VO 1988 geltend zu machen und in der Folge ein höheres Ausgangsruhegeld zum 1. Januar 2004 zu verlangen, nicht gemäß § 242 BGB verwirkt. Ob die Ablösung gemessen am dreistufigen Prüfungsschema des Senats wirksam ist, kann aufgrund der fehlenden Feststellungen zur wirtschaftlichen Lage der Beklagten zum Zeitpunkt der Ablösung am 1. Januar 1988 nicht abschließend beurteilt werden.
25
a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, das Recht des Klägers, eine Neuberechnung seines Ausgangsruhegeldes bei Eintritt des Versorgungsfalls am 1. Januar 2004 auf der Grundlage einer anderen Versorgungsordnung als der VO 1988 zu verlangen, sei verwirkt. Der Verwirkungseinwand sei vorliegend nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger eine Berechnung seines Ausgangsruhegeldes auf der Grundlage der VO 1979 begehrt, die eine Betriebsvereinbarung darstelle und Rechte aus Betriebsvereinbarungen nach § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG nicht verwirken könnten. Andere aus § 242 BGB abgeleitete Fallgruppen – wie etwa die der treuwidrigen Geltendmachung – seien möglich. Dies habe auch das Bundesarbeitsgericht (BAG 19. Juli 2016 – 3 AZR 134/15 – Rn. 57, BAGE 155, 326) anerkannt, in dem es im entschiedenen Fall den aus § 242 BGB abgeleiteten Einwand des Verbots widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium“) bei einer auf einer Betriebsvereinbarung beruhenden Versorgung geprüft habe. Dazu sei zu berücksichtigen, dass eine verspätete Geltendmachung nicht nur die Interessen des Verpflichteten berühre, sondern auch die Interessen der Solidargemeinschaft aller Betriebsrentner, die durch eine unbeschränkte, jederzeitige Neuberechnung gefährdet wäre. Dies sei in die entsprechende Billigkeitskontrolle einzustellen. Schließlich sei zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 28. Juni 2012 – 3 AZR 448/09 – Rn. 40) aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz resultierende Ansprüche auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung verwirken könnten und der Verwirkungseinwand hinsichtlich der Anpassungsentscheidung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG eine höchstrichterliche Konkretisierung erfahren habe (vgl. BAG 14. Mai 2019 – 3 AZR 112/18 – BAGE 166, 323). Es sei inkonsistent, den in der Normhierarchie höherstehenden gesetzlichen „Anspruch auf Anpassung der Rente“ unter leichteren Voraussetzungen einzuschränken als den aus einer Betriebsvereinbarung resultierenden Anspruch auf Berechnung des Rentenstammrechts. Unter Berücksichtigung all dessen sei es vorzugswürdig, den Anspruch auf Neuberechnung der Ausgangsrente nach § 242 BGB zu beschränken.
26
Der Kläger habe vorliegend über einen Zeitraum von nahezu 13 Jahren die Berechnung des Ausgangsruhegeldes unbeanstandet gelassen. Dies übersteige den Dreijahreszeitraum nach § 16 Abs. 1 BetrAVG um das Vierfache. Eine verlässliche Prognose der wirtschaftlichen Lage sei nicht möglich, wenn man Neuberechnungen nach so langer Zeit rückwirkend zulasse. Allein im Fall des Klägers seien dies mehr als 66.000,00 Euro. Wenn der Anspruch auf nachträgliche Anpassung der laufenden Leistungen bereits nach drei Jahren rechtsmissbräuchlich sein könne, müsse dies erst Recht gelten, wenn der Versorgungsempfänger nach 13 Jahren nicht nur eine unzureichende Anpassung rügt, sondern die Grundlage der Rentenberechnung radikal in Zweifel ziehen wolle. Der Kläger habe nicht nur die Erstberechnung seines Ruhegeldes nicht beanstandet, sondern auch die Anpassungen zum 1. Januar 2010 und zum 1. Januar 2013.
27
b) Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts sind nicht frei von Rechtsfehlern. Das Landesarbeitsgericht hat – obschon es § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG in seine Überlegungen einbezogen hat – angenommen, das Recht des Klägers, eine Berechnung seines anfänglichen Ruhegeldes (Ausgangsrente) auf der Grundlage der VO 1979 – einer (Gesamt)Betriebsvereinbarung – zu verlangen, weil die Ablösung durch die VO 1988 gemessen am dreistufigen Prüfungsschema des Senats unwirksam ist, sei verwirkt. Dies lässt § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG – der vorliegend Anwendung findet – jedoch gerade nicht zu.
28
aa) Es kann dahinstehen, ob mit der bisherigen Rechtsprechung anzunehmen ist, dass die Betriebsparteien keine Regelungsbefugnis für ausgeschiedene Arbeitnehmer haben. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob an der daraus gezogenen Folgerung festzuhalten ist, dass sich durch Betriebsvereinbarung festgelegte Rechte der ausgeschiedenen Arbeitnehmer – und damit auch der Betriebsrentner – nicht mehr aus der normativ geltenden Betriebsvereinbarung ergeben, sondern ab diesem Zeitpunkt einen individuellen selbständigen schuldrechtlichen Einzelanspruch darstellen (BAG 16. März 1956 – GS 1/55 – zu I 3 der Gründe, BAGE 3, 1, 25. Oktober 1988 – 3 AZR 483/86 – zu I 1 und 2 der Gründe, BAGE 60, 78; 13. Mai 1997 – 1 AZR 75/97 – zu I 3 der Gründe; kritisch Ahrendt FS 100 Jahre BetrVR S. 1 ff.). Jedenfalls wurden die Rechte iSv. § 77 Abs. 4 Satz 3 iVm. Satz 2 BetrVG durch eine Betriebsvereinbarung „eingeräumt“, denn der Inhalt dieser Rechte beruht auf der durch die Betriebsvereinbarung geschaffenen Regelung. Die Umwandlung der Rechtsnatur dieser Ansprüche berührte im Übrigen nicht die Rechtswirkungen der zugrunde liegenden Bestimmungen. Die Umwandlung dient der Sicherung der aufgrund einer während des Arbeitsverhältnisses normativ geltenden Betriebsvereinbarung erworbenen Rechte. Eine Einschränkung des durch die Betriebsvereinbarung vermittelten Schutzes aus § 77 Abs. 4 BetrVG ist damit nicht vereinbar.
29
Der Kläger verfolgt mit seiner Klage durch Betriebsvereinbarung eingeräumte Rechte. Die VO 1979 wurde in Nr. 1 der Betriebsvereinbarung vom 21. Dezember 1979 ausdrücklich zu deren Bestandteil gemacht. Durch diese Verweisung wurde die für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen geltende Schriftform des § 77 Abs. 2 Satz 1 BetrVG gewahrt (vgl. BAG 11. Dezember 2018 – 3 AZR 380/17 – Rn. 73 ff., BAGE 164, 261).
30
bb) § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG steht einer materiell-rechtlichen Verwirkung entgegen.
31
Zwar ist es zutreffend, dass diese Bestimmung nur die Verwirkung und damit die illoyal verspätete Geltendmachung eines einem Arbeitnehmer durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechts ausschließt (allgemeine Meinung statt vieler nur Fitting BetrVG 30. Aufl. § 77 Rn. 137 mwN; Richardi/Richardi BetrVG 16. Aufl. § 77 Rn. 200 mwN, vgl. auch BAG 19. Juli 2016 – 3 AZR 134/15 – Rn. 56, BAGE 155, 326). Demgegenüber kann der Ausübung eines einem Arbeitnehmer durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechts ein anderer aus § 242 BGB abgeleiteter Einwand, wie etwa der Rechtsmissbrauchseinwand oder der Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens, entgegengehalten werden (vgl. BAG 19. Juli 2016 – 3 AZR 134/15 – Rn. 57, aaO). Das Landesarbeitsgericht hat aber keine andere anerkannte Fallgruppe bejaht, sondern eine Verwirkung eines einem Arbeitnehmer durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechts angenommen. Dies zeigen auch seine Ausführungen zum Vergleich mit der Rechtsprechung des Senats zur Verwirkung des Rechts einer nachträglichen Anpassung (BAG 14. Mai 2019 – 3 AZR 112/18 – Rn. 32 f. mwN, BAGE 166, 323). Die Voraussetzungen einer anderen Fallgruppe sind zudem nicht ersichtlich.
32
Unabhängig davon, ob es einen vom Landesarbeitsgericht sog. Anspruch auf Anpassung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG überhaupt gibt, kann jedenfalls aus der Normhierarchie von gesetzlichem Anspruch aus § 16 Abs. 1 BetrAVG als höherrangigem Recht einerseits und einem „Anspruch aus einer Betriebsvereinbarung“ als niederrangigem Recht andererseits nichts für die Auffassung des Landesarbeitsgerichts abgeleitet werden. Der Ausschluss der Verwirkung bei Rechten von Arbeitnehmern aus einer Betriebsvereinbarung beruht auf § 77 Abs. 4 Satz 2 und Satz 3 BetrVG und damit auf einem Gesetz. Das Betriebsverfassungsgesetz ordnet – ähnlich wie § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG und § 3 Satz 3 MiLoG – den Ausschluss der Verwirkung kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung an. Daran fehlt es bei § 16 BetrAVG.
33
Soweit das Landesarbeitsgericht die immensen wirtschaftlichen Folgen einer erst nach vielen Jahren erfolgenden Geltendmachung einer ordnungsgemäßen Berechnung des Ausgangsruhegeldes und dabei dem Interesse der „Solidargemeinschaft“ aller Versorgungsberechtigten besonderes Gewicht beimisst, spricht auch dies nicht für die Auffassung des Landesarbeitsgerichts. Insoweit ist der Versorgungsschuldner über das Verjährungsrecht geschützt. Die rückwirkende Belastung mit Forderungen seit dem Jahr 2004 ist kein tragfähiges Argument.
34
c) Ob die Ablösung der BV 1979 durch die BV 1988 wirksam ist, kann der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen und Würdigungen des Landesarbeitsgerichts nicht selbst beurteilen.
35
aa) Regeln – wie hier – mehrere zeitlich aufeinanderfolgende Betriebsvereinbarungen denselben Gegenstand, gilt zwar das Ablösungsprinzip. Danach löst eine neue Betriebsvereinbarung eine ältere grundsätzlich auch dann ab, wenn die Neuregelung für den Arbeitnehmer ungünstiger ist (st. Rspr., vgl. ua. BAG 29. Oktober 2002 – 1 AZR 573/01 – zu I 2 a der Gründe mwN, BAGE 103, 187). Das Ablösungsprinzip ermöglicht allerdings nicht jede Änderung. Soweit in bestehende Besitzstände eingegriffen wird, sind die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BAG 10. Februar 2009 – 3 AZR 653/07 – Rn. 18).
36
(1) Diese Grundsätze hat der Senat für Eingriffe in die Höhe von Versorgungsanwartschaften durch ein dreistufiges Prüfungsschema präzisiert (st. Rspr. seit BAG 17. April 1985 – 3 AZR 72/83 – zu B II 3 c der Gründe, BAGE 49, 57; ausdrücklich daran festhaltend BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 32 ff., BAGE 166, 136). Danach sind den abgestuften Besitzständen der Arbeitnehmer entsprechend abgestufte, unterschiedlich gewichtete Eingriffsgründe des Arbeitgebers gegenüberzustellen. Der unter der Geltung der bisherigen Ordnung und in dem Vertrauen auf deren Inhalt bereits erdiente und entsprechend § 2 Abs. 1, § 2a Abs. 1 BetrAVG ermittelte Teilbetrag kann hiernach nur in seltenen Ausnahmefällen entzogen werden. Das setzt zwingende Gründe voraus. Zuwächse, die sich – wie etwa bei endgehaltsbezogenen Zusagen – dienstzeitunabhängig aus dynamischen Berechnungsfaktoren ergeben (erdiente Dynamik), können nur aus triftigen Gründen geschmälert werden. Für Eingriffe in dienstzeitabhängige, noch nicht erdiente Zuwachsraten genügen sachlich-proportionale Gründe (vgl. etwa BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 28 mwN, aaO).
37
(2) Ob eine spätere Betriebsvereinbarung in Besitzstände eingreift und deshalb eine Überprüfung anhand des dreistufigen Prüfungsschemas erforderlich ist, kann nur im jeweiligen Einzelfall und auf das Einzelfallergebnis bezogen festgestellt werden (vgl. BAG 15. Mai 2012 – 3 AZR 11/10 – Rn. 26, BAGE 141, 259; 21. April 2009 – 3 AZR 674/07 – Rn. 36). Dazu ist es erforderlich, die Versorgungsansprüche bzw. -anwartschaften nach den beiden unterschiedlichen Versorgungsordnungen zu berechnen und einander gegenüberzustellen. Deshalb kann insbesondere bei endgehaltsbezogenen Versorgungszusagen regelmäßig erst beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis festgestellt werden, ob mit der ablösenden Neuregelung in bestehende Besitzstände eingegriffen wird. In diesen Fällen kann regelmäßig erst zu diesem Zeitpunkt beurteilt werden, welche Versorgungsordnung sich als günstiger erweist (vgl. für einen Eingriff in die erdiente Dynamik BAG 11. Dezember 2001 – 3 AZR 128/01 – BAGE 100, 105).
38
bb) Die Ablösung der VO 1979 durch die VO 1988 führt danach – entgegen der Auffassung des Klägers – weder zu einem Eingriff in den erdienten Teilbetrag, noch zu einem solchen in die erdiente Dynamik. Der erdiente Teilbetrag und die erdiente Dynamik sind dadurch zu ermitteln, dass auf der Grundlage der VO 1979 und der VO 1988 die Versorgungsansprüche des Klägers errechnet werden.
39
Unter Zugrundelegung der für den Kläger günstigsten Berechnung aus dem Berechnungsbogen für eine betriebliche Versorgungsleistung – Altersbeihilfe konnte der Kläger bei unveränderter Fortgeltung der VO 1979 zum Zeitpunkt der vorgezogenen Inanspruchnahme des Ruhegeldes am 1. Januar 2004 einen Vollanspruch iHv. 1.497,03 Euro brutto erreichen. Dieser ergibt sich, wenn man in der Vergleichsberechnung für die Zeit ab dem 1. Januar 1988 ebenfalls einen jährlichen Steigerungssatz von 0,4 % anstelle von 0,2 % ansetzt. Dadurch erhöht sich die Vollleistung von 1.377,91 Euro brutto um weitere 119,12 Euro brutto (3.722,41 Euro brutto [tatsächliches rentenfähiges Einkommen bei Eintritt des Versorgungsfalls am 31. Dezember 2003] x 0,2 % x 16 Jahre) auf dann 1.497,03 Euro brutto. Zur Ermittlung des erdienten Teilbetrags zum Ablösestichtag 1. Januar 1988 ist der Wert der Vollleistung iHv. 1.497,03 Euro brutto zeitratierlich zu kürzen im Verhältnis der bisherigen Dienstzeit (1. März 1955 bis 31. Dezember 1987 = 394 Monate) zur möglichen Dienstzeit beim tatsächlichen Eintritt des Versorgungsfalls am 31. Dezember 2003 (1. März 1955 bis 31. Dezember 2003 = 586 Monate). Danach ergibt sich ein erdienter Teilbetrag iHv. 1.006,54 Euro brutto (1.497,03 Euro brutto x 394 Monate : 586 Monate).
40
Durch die Zugrundelegung eines rentenfähigen Einkommens beim Eintritt des Versorgungsfalls iHv. 3.722,41 Euro brutto sind die erdiente Dynamik und durch die Berücksichtigung des tatsächlichen Eintritts des Versorgungsfalls am 31. Dezember 2003 die vorgezogene Inanspruchnahme des Ruhegeldes bei der Berechnung bereits berücksichtigt. Da die Beklagte dem Kläger ab dem 1. Januar 2004 zunächst ein anfängliches Ruhegeld iHv. 1.377,91 Euro brutto und damit mehr als 1.006,54 Euro brutto gezahlt hat, liegt weder ein Eingriff in den erdienten Teilbetrag noch ein solcher in die erdiente Dynamik vor.
41
cc) Allerdings liegt ein Eingriff in künftige Zuwächse vor. Unter Zugrundelegung der VO 1979 hätte der Kläger bei Eintritt des Versorgungsfalls ein Anspruch auf monatliches Ruhegeld iHv. 1.497,03 Euro brutto gehabt. Tatsächlich hat er unter Berücksichtigung der durch die VO 1988 vorgenommenen Verschlechterung – Absenkung der künftigen jährlichen Steigerungsbeträge von 0,4 % auf 0,2 % – ein anfängliches monatliches Ruhegeld iHv. 1.377,91 Euro brutto erhalten und damit 119,12 Euro brutto weniger.
42
dd) Unter sachlich-proportionalen Gründen, die einen Eingriff auf der dritten Besitzstandsstufe rechtfertigen, sind nachvollziehbare, anerkennenswerte und damit willkürfreie Gründe zu verstehen. Diese können auf einer Fehlentwicklung der betrieblichen Altersversorgung, einer wirtschaftlich ungünstigen Entwicklung des Unternehmens beruhen oder auf geänderten anerkennenswerten Vorstellungen der Betriebsparteien.
43
(1) Beruft sich der Arbeitgeber – wie hier – auf wirtschaftliche Schwierigkeiten, müssen die sachlichen Gründe für den Eingriff in die betriebliche Altersversorgung nicht das für einen triftigen Grund erforderliche Gewicht erreicht haben. Eine langfristig unzureichende Eigenkapitalverzinsung oder langfristige Substanzgefährdung ist nicht erforderlich. Dementsprechend liegen sachliche Gründe nicht erst dann vor, wenn die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens konkret gefährdet ist. Zur Rechtfertigung des Eingriffs in die betriebliche Altersversorgung bedarf es auch nicht der Feststellung einer insolvenznahen Lage (vgl. BAG 16. Februar 2010 – 3 AZR 181/08 – Rn. 61, BAGE 133, 181). Entscheidend ist, ob wirtschaftliche Schwierigkeiten vorliegen, auf die ein vernünftiger Unternehmer reagieren darf (vgl. BAG 19. März 2019 – 3 AZR 201/17 – Rn. 57 mwN, BAGE 166, 136).
44
(2) Darüber hinaus müssen die Gründe für den Eingriff in die betriebliche Altersversorgung „proportional“ sein. Beruft sich der Arbeitgeber darauf, wirtschaftliche Schwierigkeiten hätten ihn veranlasst, die Kosten zu reduzieren, stehen ihm sachlich-proportionale Gründe zur Seite, wenn die Eingriffe in die betriebliche Altersversorgung in der eingetretenen wirtschaftlichen Situation nicht unverhältnismäßig waren (vgl. BAG 15. Januar 2013 – 3 AZR 705/10 – Rn. 42). Dies ist dann der Fall, wenn die Neuregelung der betrieblichen Altersversorgung in die künftigen dienstzeitabhängigen Zuwächse nicht weiter eingreift, als ein vernünftiger Unternehmer dies zur Kosteneinsparung in der konkreten wirtschaftlichen Situation für geboten erachten durfte. Eines ausgewogenen, die Sanierungslasten angemessen verteilenden Sanierungsplans bedarf es nicht (vgl. BAG 16. Februar 2010 – 3 AZR 181/08 – Rn. 61, BAGE 133, 181). Deshalb ist es nicht erforderlich, dass die einzelnen, zur Kosteneinsparung getroffenen Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen. Vielmehr reicht es aus, dass sich der Eingriff in das betriebliche Versorgungswerk in ein auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage zur Beseitigung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ausgerichtetes Gesamtkonzept einpasst (vgl. etwa BAG 15. Januar 2013 – 3 AZR 705/10 – Rn. 42) und die Ausgestaltung dieses Gesamtkonzepts plausibel ist (vgl. etwa BAG 12. November 2013 – 3 AZR 510/12 – Rn. 52). Anderweitige Maßnahmen zur Kosteneinsparung müssen nicht ausgeschöpft sein, bevor Eingriffe in künftige Zuwächse vorgenommen werden (vgl. BAG 19. April 2005 – 3 AZR 468/04 – zu B II 2 b dd der Gründe). Unternehmerische Entscheidungen, die auf den ersten Blick der Kostenreduzierung zuwiderlaufen, müssen einleuchtend sein (vgl. etwa BAG 15. Januar 2013 – 3 AZR 705/10 – Rn. 41). Dem Arbeitgeber und insbesondere den Betriebsparteien steht bei der Beurteilung der dem Eingriff zugrunde liegenden tatsächlichen Gegebenheiten und der finanziellen Auswirkungen der ergriffenen Maßnahmen eine Einschätzungsprärogative zu. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Gesamtkonzepts haben sie einen Beurteilungsspielraum.
45
(3) Hiervon ausgehend hat der Arbeitgeber im Prozess substantiiert darzutun, welche wirtschaftlichen Schwierigkeiten vorliegen, in welchem Gesamtumfang angesichts dessen eine Kosteneinsparung aus Sicht eines vernünftigen Unternehmers geboten war und wie das notwendige Einsparvolumen ermittelt wurde. Darüber hinaus hat er sein Gesamtkonzept zu erläutern. Hierzu hat er sämtliche anderen Maßnahmen im Einzelnen darzulegen, die zur Kosteneinsparung getroffen wurden. Zudem ist vorzutragen, in welchem Umfang diese Maßnahmen bei prognostischer Betrachtung zur Einsparung beitragen und wie das auf die durchgeführten Maßnahmen entfallende Einsparpotential ermittelt wurde. Ferner ist darzutun, in welchem Umfang die Neuregelung der betrieblichen Altersversorgung zur Kosteneinsparung beiträgt und nach welchen Kriterien das prognostizierte Einsparvolumen ermittelt wurde. Auf entsprechenden Einwand des Arbeitnehmers muss der Arbeitgeber erläutern, weshalb anderweitige Maßnahmen zur Reduzierung der Kosten nicht getroffen wurden (vgl. etwa BAG 12. November 2013 – 3 AZR 510/12 – Rn. 52) und unternehmerische Entscheidungen, die auf den ersten Blick dem Ziel der Kostenreduzierung zuwiderlaufen, erklären (vgl. etwa BAG 15. Januar 2013 – 3 AZR 705/10 – Rn. 41).
46
(4) Zur wirtschaftlichen Lage der Beklagten im Jahr 1988 hat das Landesarbeitsgericht – auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung konsequent – keine Feststellungen getroffen. Dies wird es im Rahmen des fortgesetzten Berufungsverfahrens nachzuholen haben. Dabei wird es den umfangreichen Sachvortrag der Beklagten und ggf. von ihr vorgelegte Privatgutachten (vgl. zu deren prozessualer Berücksichtigung BAG 10. März 2015 – 3 AZR 56/14 – Rn. 58 ff. mwN) und Jahresabschlüsse, unter Berücksichtigung des Bestreitens des Sachvortrags durch den Kläger, auszuwerten haben.
47
(5) Daneben wird das Landesarbeitsgericht ggf. zu berücksichtigen haben, dass die VO 1988 nicht nur die Absenkung der künftigen dienstzeitabhängigen Steigerungsbeträge zum Gegenstand hat, sondern auch die rückwirkende Wiedereröffnung des Versorgungswerks für alle Neueintritte ab dem 1. Januar 1987.
48
Ausgehend von diesem bislang nicht vertieft berücksichtigten und vom Landesarbeitsgericht nicht gewürdigten Umstand, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Betriebsparteien, denen bei der Beurteilung der dem Eingriff zugrunde liegenden tatsächlichen Gegebenheiten und der finanziellen Auswirkungen der ergriffenen Maßnahmen eine Einschätzungsprärogative zusteht und die hinsichtlich der Ausgestaltung des Gesamtkonzepts einen Beurteilungsspielraum haben (vgl. BAG 13. Oktober 2016 – 3 AZR 439/15 – Rn. 51 mwN), vorliegend zulässigerweise eine neue gestaltende Verteilungsentscheidung getroffen haben. Damit könnte ein sachlich-proportionaler Grund gegeben sein.
49
Zwar liegen in einem solchen Fall weder wirtschaftliche Gründe für den Eingriff noch eine Fehlentwicklung der betrieblichen Altersversorgung vor (vgl. dazu BAG 10. November 2015 – 3 AZR 390/14 – Rn. 35 ff., 39). Bei langfristig wirkenden Betriebsvereinbarungen über die betriebliche Altersversorgung kann sich aber die Situation ergeben, dass deren Inhalt späteren Gegebenheiten und veränderten Wertvorstellungen nicht mehr entspricht. Die Betriebsparteien, denen durch § 87 Abs. 1 Nr. 8 und Nr. 10 BetrVG ein Gestaltungsauftrag erteilt wurde, müssen daher die Möglichkeit haben, auf solche Änderungen für die Zukunft zu reagieren und insbesondere bislang nicht versorgte Arbeitnehmer in ein Versorgungswerk einzubeziehen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Dotierungsrahmen im Wesentlichen zumindest gleich hoch bleibt und der Eingriff für die nachteilig betroffene Arbeitnehmergruppe zumutbar ist (BAG 13. Oktober 2019 – 3 AZR 439/15 – Rn. 52). Dies wird das Landesarbeitsgericht unter Berücksichtigung des zu erwartenden Sachvortrags zu prüfen haben.
50
d) Der Rechtsstreit ist ebenfalls nicht zur Endentscheidung reif, soweit es um die Ermittlung des Anpassungsbedarfs zum 1. Januar 2013 und zum 1. Januar 2016 geht. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die Anpassung des Ruhegeldes zum 1. Januar 2007 von der Beklagten zu Recht unterlassen wurde. Das Landesarbeitsgericht hat die wirtschaftliche Lage der Beklagten in den Jahren 2004 bis 2006 nicht festgestellt und darauf aufbauend ihre Prognose, ihre wirtschaftliche Lage lasse eine Anpassung nicht zu, nicht überprüft. Dies wird es unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Senats (vgl. statt vieler nur BAG 26. April 2018 – 3 AZR 686/16 – Rn. 20 ff.) nachzuholen haben. Das Landesarbeitsgericht hat – obschon der Vortrag der Beklagten hierzu Anlass gegeben hat – auch nicht näher beleuchtet, ob die Anpassung zum 1. Januar 2007 möglicherweise unabhängig von der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage der Beklagten nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG als zu Recht unterblieben gilt. Auch dies wird das Landesarbeitsgericht nachzuholen haben.
51
aa) Soweit es die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage der Beklagten zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2007 angeht, wird das Landesarbeitsgericht folgende Grundsätze zu beachten haben:
52
(1) Bei der Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der Arbeitgeber die Belange der Versorgungsempfänger sowie seine eigene wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen. Lässt die wirtschaftliche Lage eine Anpassung der Betriebsrenten nicht zu, ist der Arbeitgeber zur Anpassung nicht verpflichtet.
53
(a) Die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers ist eine zukunftsbezogene Größe. Sie umschreibt die künftige Belastbarkeit des Arbeitgebers und setzt eine Prognose voraus. Beurteilungsgrundlage für die insoweit zum Anpassungsstichtag zu erstellende Prognose ist grundsätzlich die bisherige wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens vor dem Anpassungsstichtag, soweit daraus Schlüsse für dessen weitere Entwicklung gezogen werden können. Für eine zuverlässige Prognose muss die bisherige Entwicklung über einen längeren repräsentativen Zeitraum von in der Regel mindestens drei Jahren ausgewertet werden. Dabei handelt es sich grundsätzlich um einen Mindestzeitraum, der nicht stets und unter allen Umständen ausreichend ist. Ausnahmsweise kann es geboten sein, auf einen längeren Zeitraum abzustellen. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn die spätere Entwicklung der wirtschaftlichen Lage zu berechtigten Zweifeln an der Vertretbarkeit der Prognose des Arbeitgebers führt (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 30 mwN, BAGE 158, 165).
54
Zwar ist maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt der Anpassungsstichtag. Allerdings kann sich auch die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Anpassungsstichtag auf die Überprüfung der Anpassungsentscheidung des Arbeitgebers auswirken. Die wirtschaftlichen Daten nach dem Anpassungsstichtag bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz können die frühere Prognose bestätigen oder entkräften. Voraussetzung für die Berücksichtigung einer späteren Entwicklung ist allerdings, dass die Veränderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Unternehmens zum Anpassungsstichtag bereits vorhersehbar waren. Spätere unerwartete Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens können erst bei der nächsten Anpassungsprüfung berücksichtigt werden (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 31 mwN, BAGE 158, 165).
55
(b) Die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers rechtfertigt die Ablehnung einer Betriebsrentenanpassung insoweit, als das Unternehmen dadurch übermäßig belastet und seine Wettbewerbsfähigkeit gefährdet würde. Nach der Rechtsprechung des Senats wird die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet, wenn keine angemessene Eigenkapitalverzinsung erwirtschaftet wird oder wenn das Unternehmen nicht mehr über genügend Eigenkapital verfügt. Bei einer ungenügenden Eigenkapitalverzinsung reicht die Ertragskraft des Unternehmens nicht aus, um die Anpassungen finanzieren zu können. Bei einer ungenügenden Eigenkapitalausstattung muss verlorene Vermögenssubstanz wieder aufgebaut werden, bevor dem Unternehmen die Anpassung von Betriebsrenten zugemutet werden kann. Demnach rechtfertigt die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers die Ablehnung einer Betriebsrentenanpassung nur insoweit, als dieser annehmen darf, dass es ihm mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird, den Teuerungsausgleich aus den Unternehmenserträgen und den verfügbaren Wertzuwächsen des Unternehmensvermögens in der Zeit bis zum nächsten Anpassungsstichtag aufzubringen. Deshalb kommt es auf die voraussichtliche Entwicklung der Eigenkapitalverzinsung und der Eigenkapitalausstattung des Unternehmens an (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 32 mwN, BAGE 158, 165).
56
(c) Da für die Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers maßgeblich ist, kommt es auf die Verhältnisse im Unternehmen des versorgungspflichtigen Arbeitgebers an. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber in einen Konzern eingebunden ist. Ein Konzern ist lediglich eine wirtschaftliche Einheit ohne eigene Rechtspersönlichkeit und kann demnach nicht Schuldner der Betriebsrentenanpassung sein. Die Konzernverbindung allein ändert weder etwas an der Selbstständigkeit der beteiligten juristischen Personen noch an der Trennung der jeweiligen Vermögensmassen (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 34 mwN, BAGE 158, 165).
57
(d) Die angemessene Eigenkapitalverzinsung besteht grundsätzlich aus einem Basiszins und einem Zuschlag für das Risiko, dem das in dem Unternehmen investierte Kapital ausgesetzt ist. Der Basiszins entspricht der Umlaufrendite öffentlicher Anleihen. Der Risikozuschlag beträgt 2 vH (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 35 mwN, BAGE 158, 165).
58
(aa) Bei der Berechnung der Eigenkapitalverzinsung ist einerseits auf die erzielten Betriebsergebnisse, anderseits auf die Höhe des Eigenkapitals abzustellen. Beide Berechnungsfaktoren sind nicht ausgehend von den nach internationalen Rechnungslegungsregeln erstellten Abschlüssen, sondern auf der Grundlage der nach den handelsrechtlichen Rechnungslegungsregeln erstellten Jahresabschlüsse zu bestimmen (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 36 mwN, BAGE 158, 165). Allerdings sind beim erzielten Betriebsergebnis gegebenenfalls betriebswirtschaftlich gebotene Korrekturen vorzunehmen. Dies gilt nicht nur für Scheingewinne, sondern beispielsweise auch für betriebswirtschaftlich überhöhte Abschreibungen. Außerordentliche Erträge sind zwar keine Scheingewinne. Ihr Ausnahmecharakter kann jedoch bei der Beurteilung der künftigen Ertragsentwicklung nicht außer Acht gelassen werden. In der Regel sind außerordentliche Erträge und außerordentliche Verluste aus den der Prognose zugrunde gelegten früheren Jahresabschlüssen herauszurechnen. Etwas Anderes gilt jedoch dann, wenn außerordentliche Erträge oder Verluste auch der Höhe nach eine ausreichende Kontinuität aufweisen. Darüber hinaus sind wirtschaftliche Daten, die auf Entwicklungen oder Umständen beruhen, die nicht fortwirken und sich voraussichtlich nicht wiederholen werden, in der Regel nicht repräsentativ für die weitere Ertragslage und deshalb bei der Ermittlung der Eigenkapitalverzinsung regelmäßig nicht zu berücksichtigen (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 39 mwN, aaO).
59
(bb) Für die Frage, ob der Versorgungsschuldner eine angemessene Eigenkapitalverzinsung erzielt hat, kommt es auf das bilanzielle Eigenkapital iSv. § 266 Abs. 3 Buchst. A HGB an. Dazu zählen nicht nur das gezeichnete Kapital (Stammkapital) und die Kapitalrücklage, sondern auch Gewinnrücklagen, Gewinn- und Verlustvorträge und Jahresüberschüsse/Jahresfehlbeträge. Da sich das Eigenkapital während eines Geschäftsjahres ständig verändert, kann weder das zu Beginn des Geschäftsjahres vorhandene noch das am Ende des Geschäftsjahres erreichte Eigenkapital zugrunde gelegt werden. Vielmehr ist von einem Durchschnittswert auszugehen. Das Eigenkapital zu Beginn und zum Ende des Geschäftsjahres sind zu addieren und anschließend zu halbieren (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 40 mwN, BAGE 158, 165).
60
(cc) Das Eigenkapital kann nicht uneingeschränkt mit dem Betriebsergebnis nach Steuern verglichen werden. Zwar sind Betriebssteuern (sonstige Steuern) Aufwendungen des Unternehmens und schmälern die verwendungsfähigen Mittel, sodass sie beim erzielten Betriebsergebnis zu berücksichtigen sind. Anders verhält es sich hingegen bei den Steuern vom Einkommen und vom Ertrag; diese sind beim erzielten Betriebsergebnis nicht zu berücksichtigen. Dasselbe gilt für Steuererstattungen für Vorjahre, soweit sie in der Gewinn- und Verlustrechnung ebenfalls unter den Steuern vom Einkommen und vom Ertrag erfasst werden. Auch diese Erträge bleiben bei der Ermittlung des erzielten Betriebsergebnisses außer Betracht (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 41 mwN, BAGE 158, 165).
61
(e) Der Arbeitgeber hat darzulegen und zu beweisen, dass seine Anpassungsentscheidung billigem Ermessen entspricht und sich in den Grenzen des § 16 BetrAVG hält. Die Darlegungs- und Beweislast erstreckt sich auf alle die Anpassungsentscheidung beeinflussenden Umstände (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 42 mwN, BAGE 158, 165).
62
Für die Feststellung sowohl der erzielten Betriebsergebnisse als auch des vorhandenen Eigenkapitals bieten die handelsrechtlichen Jahresabschlüsse den geeigneten Einstieg. Betriebswirtschaftlich gebotene Korrekturen können aber dann vorgenommen werden, wenn der Sachvortrag der Parteien ausreichende Anhaltspunkte dafür enthält, dass derartige Korrekturen notwendig sind. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Jahresabschlüsse handelsrechtlich ordnungsgemäß erstellt wurden. Sofern der Versorgungsberechtigte die Fehlerhaftigkeit testierter Jahresabschlüsse geltend machen will, hat er die nach seiner Ansicht unterlaufenen Fehler näher zu bezeichnen. Hat er die ordnungsgemäße Erstellung der Jahresabschlüsse substantiiert bestritten, hat der Arbeitgeber vorzutragen und unter Beweis zu stellen, weshalb die Jahresabschlüsse insoweit nicht zu beanstanden sind (vgl. etwa BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 43 mwN, BAGE 158, 165).
63
(2) Mit Blick darauf, dass die Beklagte – soweit ersichtlich – für den entscheidenden, der Prognose der wirtschaftlichen Lage für den Anpassungsstichtag 1. Januar 2007 zugrunde zu legenden Zeitraum von mindestens dem 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2006 im vorliegenden Verfahren keine testierten Jahresabschlüsse vorgelegt, sondern lediglich umfassend zur wirtschaftlichen Lage vorgetragen hat, diese jedoch vom Kläger umfangreich bestritten wurde, sieht der Senat von weiteren Hinweisen hierzu ab.
64
bb) Für den Fall, dass die wirtschaftliche Lage der Beklagten zum 1. Januar 2007 einer Anpassung der laufenden Leistungen nicht entgegenstanden hat, wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen der Fiktion nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG vorgelegen haben. Die Beklagte hat im Verfahren geltend gemacht, sie habe den Kläger entsprechend § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG unterrichtet, weshalb die unterlassene Anpassung als zu Recht unterblieben im Sinne von § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG gelten würde. Feststellungen zum Inhalt eines Schreibens der Beklagten an den Kläger zur unterlassenen Anpassung des Ruhegeldes zum 1. Januar 2007 hat das Landesarbeitsgericht nicht getroffen. Dies wird es ggf. unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Senats zu § 16 Abs. 4 BetrAVG (BAG 11. Oktober 2011 – 3 AZR 732/09 – Rn. 26 ff., BAGE 139, 269) nachzuholen haben.
65
cc) Anschließend wird sich das Landesarbeitsgericht mit der Ermittlung des Anpassungsbedarfs zum 1. Januar 2013, zum 1. Januar 2016 und zum 1. Januar 2019 zu befassen haben.
66
(1) Soweit es den Anpassungsbedarf zum 1. Januar 2013 betrifft, wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, dass der Anpassungsbedarf zu diesem Stichtag anhand des Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2005 zu ermitteln ist. Da die Anpassung jeweils zu einem bestimmten Stichtag zu prüfen und ggf. vorzunehmen ist, kommt es aus Gründen der Rechtssicherheit auf die aktuelle statistische Grundlage an, die zum maßgeblichen Anpassungszeitpunkt vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht war (BAG 3. Juni 2020 – 3 AZR 441/19 – Rn. 36 mwN). Dies ist der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2005. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 wurde im Februar 2013 veröffentlicht und war zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2013 noch nicht maßgeblich. Für die Ermittlung des Anpassungsbedarfs kommt es auf die Indexwerte der Monate an, die dem Rentenbeginn und dem aktuellen Anpassungsstichtag unmittelbar vorausgehen.
67
Danach beläuft sich die Teuerungsrate vom Rentenbeginn (1. Januar 2004) bis zum aktuellen Anpassungsstichtag (1. Januar 2013) auf 17,25 vH. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2005 betrug im Dezember 2003 97,4 und im Dezember 2012 114,2. Daraus errechnet sich eine Preissteigerung von 17,25 vH ([114,2 : 97,4 – 1] x 100).
68
Das Landesarbeitsgericht wird – sofern die Anpassung zum 1. Januar 2007 von der Beklagten zu Recht unterlassen wurde oder nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG als zu Recht unterlassen gilt – den Anpassungsbedarf zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2013 um den bis zum 1. Januar 2007 angefallenen Anpassungsbedarf zu bereinigen haben (vgl. BAG 28. Mai 2013 – 3 AZR 125/11 – Rn. 28 ff.). Dieser beläuft sich gerechnet vom Rentenbeginn (1. Januar 2004) bis zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2007 auf 5,13 vH. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2005 betrug im Dezember 2003 97,4 und im Dezember 2006 102,4. Daraus errechnet sich eine Preissteigerung von 5,13 vH ([102,4 : 97,4 – 1] x 100). In diesem Fall beliefe sich der Anpassungsbedarf zum 1. Januar 2013 dann auf 12,12 vH (17,25 vH – 5,13 vH).
69
Das vom Landesarbeitsgericht ermittelte zutreffende Ausgangsruhegeld iHv. entweder 1.377,91 Euro – bei wirksamer Ablösung – oder 1.497,03 Euro – bei unwirksamer Ablösung – zum 1. Januar 2004 wäre dann zum 1. Januar 2013 entweder um 17,25 vH oder um 12,12 vH zu erhöhen.
70
(2) Soweit es den Anpassungsbedarf zum 1. Januar 2016 betrifft wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, dass der Anpassungsbedarf zu diesem Stichtag anhand des Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 zu ermitteln ist. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 wurde im Februar 2013 veröffentlicht und war zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2016 noch maßgeblich. Für die Ermittlung des Anpassungsbedarfs kommt es – wie ausgeführt – auf die Indexwerte der Monate an, die dem Rentenbeginn und dem aktuellen Anpassungsstichtag unmittelbar vorausgehen.
71
Danach beläuft sich die Teuerungsrate vom Rentenbeginn (1. Januar 2004) bis zum aktuellen Anpassungsstichtag (1. Januar 2016) auf 18,76 vH. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 betrug im Dezember 2003 90,1 und im Dezember 2015 107,0. Daraus errechnet sich eine Preissteigerung von 18,76 vH ([107,0 : 90,1 – 1] x 100).
72
Das Landesarbeitsgericht wird – sofern die Anpassung zum 1. Januar 2007 von der Beklagten zu Recht unterlassen wurde oder nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG als zu Recht unterlassen gilt – den Anpassungsbedarf zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2013 um den bis zum 1. Januar 2007 angefallenen Anpassungsbedarf zu bereinigen haben. Dieser beläuft sich auf gerechnet vom Rentenbeginn (1. Januar 2004) bis zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2007 auf 5,11 vH. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 betrug im Dezember 2003 90,1 und im Dezember 2006 94,7. Daraus errechnet sich eine Preissteigerung von 5,11 vH ([94,7 : 90,1 – 1] x 100). In diesem Fall beliefe sich der Anpassungsbedarf zum 1. Januar 2016 dann auf 13,65 vH (18,76 vH – 5,11 vH).
73
Das vom Landesarbeitsgericht ermittelte zutreffende Ausgangsruhegeld zum 1. Januar 2004 wäre dann zum 1. Januar 2016 entweder um 18,76 vH oder um 13,65 vH zu erhöhen.
74
(3) Soweit es den Anpassungsbedarf zum 1. Januar 2019 betrifft, wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, dass der Anpassungsbedarf zu diesem Stichtag anhand des Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 zu ermitteln ist. Der derzeit aktuelle Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2015 wurde erst im Februar 2019 veröffentlicht und war zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2019 deshalb noch nicht maßgeblich.
75
Die Teuerungsrate beläuft sich vom Rentenbeginn (1. Januar 2004) bis zum aktuellen Anpassungsstichtag (1. Januar 2019) auf 24,86 vH. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 betrug im Dezember 2003 90,1 und im Dezember 2018 112,5. Daraus errechnet sich eine Preissteigerung von 24,86 vH ([112,5 : 90,1 – 1] x 100).
76
Das Landesarbeitsgericht wird – sofern die Anpassung zum 1. Januar 2007 von der Beklagten zu Recht unterlassen wurde oder nach § 16 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG als zu Recht unterlassen gilt – den Anpassungsbedarf zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2019 um den bis zum 1. Januar 2007 angefallenen Anpassungsbedarf zu bereinigen haben. Dieser beläuft sich gerechnet vom Rentenbeginn (1. Januar 2004) bis zum Anpassungsstichtag 1. Januar 2007 auf 5,11 vH. Der Verbraucherpreisindex für Deutschland Basis 2010 betrug im Dezember 2003 90,1 und im Dezember 2006 94,7. Daraus errechnet sich eine Preissteigerung von 5,11 vH ([94,7 : 90,1 – 1] x 100). In diesem Fall beliefe sich der Anpassungsbedarf zum 1. Januar 2016 dann auf 19,75 vH (24,86 vH – 5,11 vH).
77
Das vom Landesarbeitsgericht ermittelte zutreffende Ausgangsruhegeld zum 1. Januar 2004 wäre dann zum 1. Januar 2019 entweder um 24,86 vH oder um 19,75 vH zu erhöhen.
78
dd) Schließlich wird das Landesarbeitsgericht die sich für die Zeit ab dem 1. Januar 2014 möglicherweise ergebenden Differenzen zwischen den danach geschuldeten monatlichen Ruhegeldern und den tatsächlich gezahlten Ruhegeldern zu ermitteln und ggf. zuzusprechen haben.
79
III. Das Landesarbeitsgericht wird zuletzt auch über die Kosten – einschließlich der Kosten der Revision – unter Beachtung der vom Senat hierfür aufgestellten Rechtsgrundsätze (vgl. BAG 8. März 2017 – 3 AZN 886/16 (A) – Rn. 4 ff. mwN) zu entscheiden haben. Das vom Landesarbeitsgericht für erforderlich gehaltene Abweichen vom Streitwertbezug der Kostenentscheidung ist jedoch problematisch, wenn – wie hier – der Kläger nicht nur den streitigen Teilbetrag, sondern seine gesamte Betriebsrente einklagt. Mit einer sog. Spitzenbetragsklage kann eine rechtskräftige Entscheidung über den eingeklagten Teilbetrag letztlich nicht herbeigeführt werden (vgl. etwa BGH 30. Januar 1985 – IVb ZR 67/83 – zu I 1 a der Gründe, BGHZ 93, 330; BAG 8. März 2017 – 3 AZN 886/16 (A) – aaO; MüKoZPO/Gottwald 6. Aufl. § 323 Rn. 26; Roth NJW 1988, 1233). Die Beklagte hat auch nicht kostenschonend den von ihr gezahlten Teilbetrag anerkannt.
Zwanziger
Spinner
Günther-Gräff
Wischnath
Busch |
bag_37-18 | 27.06.2018 | 27.06.2018
37/18 - Dividendenabhängige Tantieme - „Verwässerungsausgleich“ bei effektiven Kapitalerhöhungen
Die Regelung des „Verwässerungsschutzes“ bei nominellen Kapitalerhöhungen in § 216 Abs. 3 Satz 1 Aktiengesetz (AktG)* ist nicht entsprechend auf Fälle effektiver Kapitalerhöhung anwendbar.
Die Beklagte ist eine deutsche Großbank in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Dort arbeitete der Kläger von 1963 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2011. Ab dem Jahr 1991 sagte die Beklagte dem Kläger eine Tantieme zu, deren Höhe unter anderem von der Dividende abhängig war, die pro ausgegebener Aktie der Beklagten gezahlt wurde. Diese Zusage wurde zuletzt im Jahr 1999 modifiziert. Von 1999 bis 2010 erhöhte sich die Zahl der von der Beklagten ausgegebenen Aktien im Rahmen sogenannter effektiver Kapitalerhöhungen um 74,4 %. Das gezeichnete Kapital erhöhte sich entsprechend. Die Beklagte zahlte an den Kläger für das Geschäftsjahr 2010 eine dividendenabhängige Tantieme in Höhe von 31.146,00 Euro brutto.
Mit seiner Klage macht der Kläger geltend, die an ihn auf Basis der letzten Zusage von 1999 gezahlte dividendenabhängige Tantieme für das Geschäftsjahr 2010 sei angesichts der Erhöhung der Zahl ausgegebener Aktien um 74,4 % als Verwässe-rungsausgleich ebenfalls um diesen Prozentsatz zu erhöhen. Ihm stehe der Verwässerungsausgleich in analoger Anwendung des für nominelle Kapitalerhöhun-gen geltenden § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG zu. Die maßgebliche Interessenlage eines Arbeitnehmers, dessen Tantieme von der Dividende abhänge, sei bei nominellen und effektiven Kapitalerhöhungen identisch. Zumindest ergebe sich der geltend gemachte Anspruch aus einer ergänzenden Vertragsauslegung oder nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG gilt aufgrund seiner systemati-schen Stellung im AktG unmittelbar nur für sogenannte nominelle Kapitalerhöhun-gen aus Gesellschaftsmitteln. Eine analoge Anwendung auf effektive Kapitalerhöhungen, die mit einer Erhöhung des gezeichneten Kapitals verbunden sind, kommt nicht in Betracht. Für dividendenabhängige Rechte Dritter besteht keine planwidrige Gesetzeslücke, wie sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelung ergibt. Es führt ferner nicht zu Wertungswidersprüchen, wenn die Verwässerungsschutzregelungen für nominelle Kapitalerhöhungen nicht auf Fälle effektiver Kapitalerhöhungen übertragen werden. Auch für eine ergänzende Vertragsauslegung fehlt eine planwidrige Regelungslücke. Der geltend gemachte Anspruch ergibt sich schließlich nicht aus den Grundsätzen der Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB). Es handelt sich um keine schwerwiegende Veränderung der Umstände, die zur Grundlage des Vertrags im Sinn von § 313 BGB geworden sind.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. Juni 2018 10 AZR 295/17
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 7. April 2017 14 Sa 303/16
*§ 216 Abs. 3 Satz 1 AktG lautet:
Der wirtschaftliche Inhalt vertraglicher Beziehungen der Gesellschaft zu Dritten, die von der Gewinnausschüttung der Gesellschaft, dem Nennbetrag oder Wert ihrer Ak-tien oder ihres Grundkapitals oder sonst von den bisherigen Kapital- oder Gewinn-verhältnissen abhängen, wird durch die Kapitalerhöhung nicht berührt. | Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 7. April 2017 – 14 Sa 303/16 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Die Regelung des „Verwässerungsschutzes“ bei nominellen Kapitalerhöhungen in § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG ist nicht entsprechend auf Fälle effektiver Kapitalerhöhung anwendbar.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten noch über den weiteren Teil einer dividendenabhängigen Tantieme für das Jahr 2010.
2
Die Beklagte ist eine deutsche Großbank in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Dort arbeitete der Kläger seit 1. April 1963 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand mit dem 31. Mai 2011.
3
Mit Schreiben vom 25. Oktober 1990 teilte die Beklagte dem Kläger im Zusammenhang mit seiner Ernennung zum Direktor und einer Neufestsetzung seiner Vergütung mit:
„Des weiteren wird Ihnen auf unseren Vorschlag hin ab 01. Januar 1991 eine Tantieme von
DM 1.300,– pro 1 %
der von der Hauptversammlung zur Ausschüttung an die Aktionäre beschlossenen Dividende gewährt.“
4
In der Folgezeit wurde der Tantiemesatz des Klägers mehrfach erhöht, zuletzt mit einem Schreiben der Beklagten an den Kläger vom 25. März 1999 auf 2.100,00 DM pro 1 % der von der Hauptversammlung zur Ausschüttung an die Aktionäre beschlossenen Dividende. Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass die Höhe der an den Kläger zu zahlenden dividendenabhängigen Tantieme unter anderem von der auf eine Aktie entfallenden Dividende in Prozent ihres Nennwerts abhängig ist.
5
Anfang 1999 hatte die Beklagte 532.985.214 Aktien zu einem Nennwert von 5,00 DM ausgegeben. Das entspricht einem gezeichneten Kapital von 2.664.926.070,00 DM/1.362.555.063,58 Euro. In den Folgejahren kam es zu mehreren effektiven Kapitalerhöhungen gegen Einlagen, bei denen sich die Zahl ausgegebener Aktien bis Ende des Jahres 2010 auf schließlich 929.499.640 zu einem rechnerischen Nominalwert von je 2,56 Euro erhöhte. Das entspricht einem gezeichneten Kapital von 2.379.519.078,40 Euro. Damit war die Zahl ausgegebener Aktien um 74,4 % angestiegen, in entsprechender Weise auch das gezeichnete Kapital.
6
Die Beklagte zahlte an den Kläger für das Geschäftsjahr 2010 eine dividendenabhängige Tantieme in Höhe von 31.146,00 Euro brutto.
7
Der Kläger meint, ihm stehe unter analoger Anwendung von § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG ein „Verwässerungsausgleich“ bezogen auf die dividendenabhängige Tantieme für das Jahr 2010 iHv. 23.172,62 Euro brutto zu. Angesichts der Erhöhung der Zahl ausgegebener Aktien um 74,4 % seit dem Jahr 1999 sei die an ihn iHv. 31.146,00 Euro gezahlte dividendenabhängige Tantieme ebenfalls um diesen Prozentsatz zu steigern. Die Interessenlage eines Arbeitnehmers, dessen Tantieme von der Dividende abhänge, sei bei nominellen Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln und bei effektiven Kapitalerhöhungen gegen Erhöhung des gezeichneten Kapitals identisch. Zumindest ergebe sich der geltend gemachte Anspruch aus einer ergänzenden Vertragsauslegung oder nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).
8
Der Kläger hat – soweit für das Revisionsverfahren von Interesse – beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 23.172,62 Euro brutto zuzüglich Zinsen hieraus iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 1. Juni 2011 zu zahlen.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und vertritt die Ansicht, § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG sei nur auf nominelle, nicht auf effektive Kapitalerhöhungen anwendbar. Eine analoge Anwendung scheide mangels unbewusster Gesetzeslücke aus. Die Beschränkung auf nominelle Kapitalerhöhungen habe ihren berechtigten Grund darin, dass sich eine effektive Kapitalerhöhung gegen Einlagen regelmäßig positiv auf die Gesellschaft und damit mittelbar förderlich auf die Dividende auswirke. Eine ergänzende Vertragsauslegung oder Vertragsanpassung im Sinn der Argumentation des Klägers komme nicht in Betracht. Die Zusage sei ursprünglich einseitig von der Beklagten erteilt worden und könne angesichts der gesetzlichen Regelung nur so verstanden werden, dass eine Anpassung allein bei nominellen Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln erforderlich sei.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungsanspruch weiter.
Entscheidungsgründe
11
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerfrei erkannt, dass ihm kein Anspruch auf einen weiteren Teil der dividendenabhängigen Tantieme für das Jahr 2010 zusteht. Die Klage ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
12
I. Die auf einen weiteren Teil der dividendenabhängigen Tantieme für das Geschäftsjahr 2010 gerichtete Klage ist zulässig. Ihr steht nicht der Einwand doppelter Rechtshängigkeit (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) entgegen. Der vom Kläger gegen die Beklagte in einem anderweitigen, früher anhängigen Rechtsstreit der Parteien geltend gemachte Anspruch auf den weiteren Teil einer dividendenabhängigen Tantieme betrifft das Geschäftsjahr 2009. Das hat das Hessische Landesarbeitsgericht im Verfahren – 14 Sa 480/15 – mit rechtskräftigem Urteil vom 18. März 2016 festgestellt. Die Beklagte hat sich in der Revisionsinstanz nicht mehr auf § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO berufen.
13
II. Die Klage ist nicht begründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf den weiteren Teil einer dividendenabhängigen Tantieme für das Geschäftsjahr 2010 unter dem Gesichtspunkt eines „Verwässerungsausgleichs“ in entsprechender Anwendung von § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG zu. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung oder der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).
14
1. Dem Kläger steht für das Geschäftsjahr 2010 ein Anspruch auf eine dividendenabhängige Tantieme nach Maßgabe der Schreiben der Beklagten vom 25. Oktober 1990 und 25. März 1999 zu. In den Schreiben ist jeweils ein Vertragsangebot der Beklagten zu sehen, das der Kläger durch die Entgegennahme der Leistung konkludent angenommen hat (§ 151 Satz 1 BGB).
15
2. Der Anspruch des Klägers auf eine dividendenabhängige Tantieme ist durch Zahlung der Beklagten iHv. 31.146,00 Euro brutto erfüllt. Ihm steht kein weiter gehender Anspruch auf einen Verwässerungsausgleich wegen effektiver Kapitalerhöhungen in der Zeit seit 1999 zu.
16
a) Der Kläger kann seinen Anspruch nicht aus einer unmittelbaren Anwendung des § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG herleiten. Dieser gilt – obwohl er allgemein von „Kapitalerhöhungen“ spricht – nur für nominelle, nicht für effektive Kapitalerhöhungen. Das zeigt schon seine systematische Stellung im Ersten Buch (Aktiengesellschaft) Sechster Teil (Satzungsänderung. Maßnahmen der Kapitalbeschaffung und Kapitalherabsetzung) Zweiter Abschnitt (Maßnahmen der Kapitalbeschaffung) Vierter Unterabschnitt (Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln) des Aktiengesetzes. Der den Vierten Unterabschnitt einleitende § 207 Abs. 1 AktG betrifft ausdrücklich (nur) die „Erhöhung des Grundkapitals durch Umwandlung der Kapitalrücklage und von Gewinnrücklagen in Grundkapital“. Eine § 216 Abs. 3 AktG entsprechende Regelung fehlt dagegen im entsprechenden Ersten Unterabschnitt (Kapitalerhöhung gegen Einlagen). Dass § 216 Abs. 3 AktG unmittelbar nur nominelle und nicht effektive Kapitalerhöhungen betrifft, ist allgemeine Meinung im Schrifttum (vgl. Arnold/Gärtner AG 2013, 414, 415; Bürgers/Körber/Stadler AktG 4. Aufl. § 216 Rn. 22; Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 216 Rn. 9 f.; GroßkommAktG/Hirte 4. Aufl. § 216 Rn. 63; Hölters/Simons AktG 3. Aufl. § 216 Rn. 22; Köhler AG 1984, 197, 199; Hüffer/Koch AktG 13. Aufl. § 216 Rn. 19; Koch AG 2017, 6; KK-AktG/Lutter 2. Aufl. § 216 Rn. 29; MüKoAktG/Arnold 4. Aufl. § 216 Rn. 46; Schmidt/Lutter/Veil AktG 3. Aufl. § 216 Rn. 11 ff.). Diese Auslegung wird vom Kläger nicht in Zweifel gezogen.
17
b) Eine analoge Anwendung von § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG auf effektive Kapitalerhöhungen kommt nicht in Betracht.
18
aa) Die bisherige Rechtsprechung gibt zu der Frage keinen unmittelbaren Aufschluss. Allerdings wird im Schrifttum teilweise die Meinung vertreten, § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG könne analog auf den Fall einer effektiven Kapitalerhöhung angewandt werden.
19
(1) Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. Oktober 1958 (- II ZR 4/57 – BGHZ 28, 259) beinhaltet zwar die allgemein gehaltene Aussage: „Aktienabhängige Gläubigerrechte genießen nicht immer einen Verwässerungsschutz“ (zu III 4 der Gründe). Sie ist aber vor Inkrafttreten von § 216 Abs. 3 AktG (und auch der Vorgängerregelung des § 13 Abs. 3 KapErhG) ergangen. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 5. Oktober 1992 (- II ZR 172/91 – BGHZ 119, 305) geht zwar auf § 216 Abs. 3 AktG ein (zu IV 2 der Gründe). Es betrifft aber den besonderen Fall der Beeinträchtigung eines Genussscheinkapitals bei Kapitalherabsetzung. Der Senat hatte sich bereits selbst mit der Frage des Verwässerungsausgleichs bei dividendenabhängiger Tantieme zu beschäftigen (BAG 12. Oktober 2005 – 10 AZR 410/04 – und drei weitere parallele Entscheidungen vom selben Tag). Diese Entscheidungen behandeln aber allein die unmittelbare Anwendung des § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG bei einer nominellen Kapitalerhöhung aus Eigenmitteln der Gesellschaft. Ob eine Anwendung auch bei anderen Formen der Kapitalerhöhung in Betracht kommt, hat der Senat offengelassen (vgl. dort zu II 1 d aa der Gründe).
20
(2) Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde die Möglichkeit einer analogen Anwendung des § 216 Abs. 3 AktG auf andere Fälle als die der nominellen Kapitalerhöhung einhellig abgelehnt. Im älteren Schrifttum wurde diese Frage überwiegend ausdrücklich verneint oder noch nicht einmal erörtert (Nachw. bei Koch AG 2017, 6 Fn. 6). Nachdem in der Folgezeit drei Aufsätze erschienen waren (Koppensteiner ZHR 139 [1975], 191; Köhler AG 1984, 197; Zöllner ZGR 1986, 288), hat sich der Meinungsstand allerdings gewandelt. Nun spricht sich eine starke Meinungsgruppe im Schrifttum für eine analoge Anwendung von § 216 Abs. 3 AktG auf Fälle der effektiven Kapitalerhöhung aus (vgl. GroßkommAktG/Hirte 4. Aufl. § 216 Rn. 63; Köhler AG 1984, 197, 199 f.; Koppensteiner ZHR 139 [1975], 191, 197 ff.; MüKoAktG/Arnold 4. Aufl. § 216 Rn. 46; zustimmend KK-AktG/Lutter 2. Aufl. § 216 Rn. 29; wohl auch Arnold/Gärtner AG 2013, 414 ff.; Zöllner ZGR 1986, 288 ff.; weitere Nachw. bei Koch AG 2017, 6 Fn. 9). Allerdings ziehen auch die Vertreter dieser Ansicht übereinstimmend keine vollständige Übernahme der schematischen Rechtsfolgen des § 216 Abs. 3 AktG in Betracht, der einen bloßen „Umbuchungsvorgang“ betrifft (vgl. BAG 12. Oktober 2005 – 10 AZR 410/04 – zu II 1 d bb der Gründe). Sie betonen vielmehr das Erfordernis einer wirtschaftlichen Bewertung der konkreten Auswirkungen der effektiven Kapitalerhöhung.
21
(3) Die wohl noch immer überwiegende Auffassung im Schrifttum lehnt eine analoge Anwendung des § 216 Abs. 3 AktG auf Fälle effektiver Kapitalerhöhung weiterhin ab (vgl. Bürgers/Körber/Stadler AktG 4. Aufl. § 216 Rn. 22; Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 216 Rn. 10; GroßkommAktG/Wiedemann 4. Aufl. § 189 Rn. 17; Hölters/Simons AktG 3. Aufl. § 216 Rn. 22; Hüffer FS Bezzenberger 2000 S. 191, 201 ff.; Hüffer/Koch AktG 13. Aufl. § 216 Rn. 19; Koch AG 2017, 6 ff., dort weitere Nachw. in Fn. 10; KK-AktG/Lutter 2. Aufl. § 189 Rn. 25; unentschieden Schmidt/Lutter/Veil AktG 3. Aufl. § 216 Rn. 14; Spindler/Stilz/Fock/Wüsthoff AktG 3. Aufl. § 216 Rn. 30). Die Vertreter dieser Auffassung gehen allerdings überwiegend davon aus, dass es auch bei einer effektiven Kapitalerhöhung zu Verwässerungseffekten kommen kann, die je nach Ausmaß im Weg einer ergänzenden Vertragsauslegung oder einer Vertragsanpassung (§ 313 BGB) zu berücksichtigen seien.
22
bb) Die Voraussetzungen einer analogen Anwendung von § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG auf Fälle effektiver Kapitalerhöhung sind nicht erfüllt.
23
(1) Zu den anerkannten Methoden der Auslegung gehört auch die wortsinnübersteigende Gesetzesanwendung durch Analogie. Hierzu bedarf es einer besonderen Legitimation. Die analoge Anwendung einer Norm setzt voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke besteht und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann. Anderenfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers – also der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln will – als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Weg der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden. Analoge Gesetzesanwendung erfordert darüber hinaus, dass der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangt wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle (BAG 23. Juli 2015 – 6 AZR 490/14 – Rn. 34, BAGE 152, 147; 10. Dezember 2013 – 9 AZR 51/13 – Rn. 23, BAGE 146, 384). Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass ein Gericht seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt. Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BAG 12. Juli 2016 – 9 AZR 352/15 – Rn. 19). An beiden erforderlichen Voraussetzungen einer Analogie fehlt es hier.
24
(2) Eine planwidrige Regelungslücke besteht nicht.
25
(a) Das AktG regelt den Verwässerungsschutz dividendenbezogener Rechte Dritter bei effektiver Kapitalerhöhung nicht, wohl aber Fälle der nominellen Kapitalerhöhung. Für die letztgenannte Konstellation belegt § 216 Abs. 3 AktG, dass der Gesetzgeber das Problem gesehen und einer Lösung zugeführt hat. Dabei ist die nominelle Kapitalerhöhung ein eher seltener Vorgang, während die sogenannten „regulären“ effektiven Kapitalerhöhungen in größeren Gesellschaften häufig wiederkehrende Vorgänge sind (vgl. Koch AG 2017, 6, 10 mwN). Das Problem möglicher Verwässerung ist seit Langem bekannt (vgl. zum Problem des Aktionärsbezugsrechts bereits Horrwitz JW 1923, 917). Es ist fernliegend anzunehmen, der Gesetzgeber habe bewusst für einen Ausnahmefall eine Regelung eingeführt, den tatsächlichen Regelfall dabei aber übersehen. Näher liegt die Annahme, dass er den Vertragsparteien die Korrektur nur zugemutet hat, wo sie sich durch eine einfache Rechenoperation ohne Weiteres vollziehen lässt (vgl. Koch aaO). Soweit zum Teil vermutet wird, dem Gesetzgeber sei die Frage des Anpassungsmaßstabs als zu schwierig erschienen, weshalb er es nicht als sinnvoll angesehen habe, eine Regelung selbst zu formulieren, sondern dies der Praxis überlassen habe (vgl. Zöllner ZGR 1986, 288, 294 f.), überzeugt auch das nicht. Dann wäre jedenfalls zu erwarten, dass der Gesetzgeber die Anpassungspflicht dem Grunde nach regelt und hinsichtlich der Höhe eine den Einzelfall berücksichtigende Lösung vorgibt (zB „angemessen“, „verhältnismäßig“, „nach billigem Ermessen“ usw.).
26
(b) Auch die Entstehungsgeschichte des § 216 Abs. 3 AktG gibt keine Hinweise auf eine planwidrige Regelungslücke.
27
(aa) Schon das Aktiengesetz vom 30. Januar 1937 (RGBl. I S. 107) sah in den §§ 149 ff. die Möglichkeit einer effektiven Kapitalerhöhung vor. Trotz der bereits bestehenden Diskussion über Verwässerungseffekte regelte das Gesetz keine Anpassungs- oder Ausgleichsmechanismen zur Wahrung dividendenabhängiger Rechte Dritter. Die nominelle Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln war im AktG 1937 nicht vorgesehen. Sie wurde nach der „Theorie der Doppelmaßnahme“ so konstruiert, dass die Gesellschaft zunächst eine Ausschüttung an die Aktionäre beschloss, die in einem weiteren Schritt als Sacheinlage auf das erhöhte Kapital eingebracht wurde (vgl. hierzu die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung vom 3. Juni 1958, BT-Drs. III/416 S. 8). Bei dieser Konstruktion werden dividendenabhängige Ansprüche durch Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln nicht berührt, weil sie im ersten Schritt an die erfolgende Ausschüttung anknüpfen können.
28
(bb) Dividendenabhängige Ansprüche Dritter wurden erstmals in § 54 Abs. 1 der Ersten Verordnung zur Durchführung der Dividendenabgabeverordnung (1. DADV) vom 18. August 1941 (RGBl. I S. 493) mit einem gewissen Schutz versehen. Zu diesem Zeitpunkt war die nominelle Kapitalerhöhung als Rechtsfigur noch nicht anerkannt. Die Praxis behalf sich mit der Theorie der Doppelmaßnahme. Aus der damals ausschließlichen Geltung für reguläre (effektive) Kapitalerhöhungen ist nicht abzuleiten, der Normgeber habe mit der 1. DADV dividendenabhängige Ansprüche vollständig den Aktionärsrechten gleichstellen wollen. Das zeigt sich an der Dividendenabgabeverordnung (DAV) vom 12. Juni 1941 (RGBl. I S. 323), die der 1. DADV zugrunde liegt (vgl. § 15 DAV). Diese gibt schon in ihrer vollständigen Bezeichnung („Verordnung zur Begrenzung von Gewinnausschüttungen“) ihre eigentliche Zielrichtung zu erkennen, die sich aus der damaligen Kriegssituation ergab, auf die im Normtext mehrfach hingewiesen wird (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 DAV). Diesbezüglich hat Hüffer (FS Bezzenberger 2000 S. 191, 193 ff.) zutreffend dargelegt, dass schon § 54 Abs. 1 der 1. DADV nur den Schutz von Inhabern dividendenabhängiger Ansprüche vor Vermögenseinbußen bezweckte, nicht aber deren Gleichbehandlung mit Aktionären.
29
(cc) Das Gesetz über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Verschmelzung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (KapErhG) vom 23. Dezember 1959 (BGBl. I S. 789) regelt erstmals die nominelle Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln in Abkehr von der bisherigen „Theorie der Doppelmaßnahme“ (vgl. die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung vom 3. Juni 1958, BT-Drs. III/416 S. 8, wo die bisher allein bekannte effektive Kapitalerhöhung auch als „gewöhnliche“ Kapitalerhöhung bezeichnet wird). Der in diesem Zusammenhang eingeführte § 13 Abs. 3 KapErhG (im Ersten Abschnitt „Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln“) entspricht dabei der Regelung in § 54 Abs. 1 der 1. DADV und ist fast wörtlich übernommen. Aus der Übernahme des § 54 Abs. 1 der 1. DADV in § 13 Abs. 3 KapErhG ist abzulesen, dass der Gesetzgeber eine solche Regelung (nur) für die mit diesem Gesetz eingeführte nominelle Kapitalerhöhung für erforderlich hielt.
30
(dd) Das am 1. Januar 1966 in Kraft getretene Aktiengesetz vom 6. September 1965 (AktG, BGBl. I S. 1089) hat § 13 Abs. 3 KapErhG unverändert in § 216 Abs. 3 übernommen. Die Norm gilt in dieser Fassung bis heute. In der Gesetzesbegründung der Bundesregierung vom 3. Februar 1962 (BT-Drs. IV/171 S. 195) heißt es dazu:
„Die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln ist durch den Ersten Abschnitt des Gesetzes über die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln und über die Gewinn- und Verlustrechnung vom 23. Dezember 1959 (Bundesgesetzbl. I S. 789) als neue Möglichkeit, das Grundkapital einer Aktiengesellschaft zu erhöhen, geschaffen worden. Sie gehört sachlich, soweit sie sich auf Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien bezieht, in das Aktiengesetz und wird deshalb in dem Entwurf als besondere Art der Kapitalerhöhung übernommen. Mit Rücksicht darauf, daß die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln jetzt bereits geltendes Recht ist, kann davon abgesehen werden, zu ihr im allgemeinen sowie zu den einzelnen Vorschriften im besonderen Stellung zu nehmen und sie zu begründen.“
31
Konsequent heißt es deshalb zu den §§ 204 bis 208 des damaligen Entwurfs lediglich: „Die Vorschriften entsprechen §§ 13 bis 17 Kap.erh.Ges.“ Ferner führt die Gesetzesbegründung auf Seite 195 als „Vorbemerkung“ zum Vierten Unterabschnitt „Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln“ aus:
„Es besteht Anlaß, darauf hinzuweisen, daß der Entwurf in der Kapitalerhöhung gegen Einlagen und in der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln zwei rechtlich und wirtschaftlich ganz verschiedene Vorgänge sieht. Beide Vorgänge sind durch eine Reihe von Vorschriften hinreichend genau geregelt. Jede Typenvermischung, etwa eine Verbindung von gewöhnlicher Kapitalerhöhung gegen Einlagen mit einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln in einem Beschluß, oder ein ‚genehmigtes Kapital aus Gesellschaftsmitteln‘, ist daher nach der Vorstellung des Entwurfs unzulässig.“
32
Daran wird deutlich, dass der Gesetzgeber die „gewöhnliche“ (effektive) Kapitalerhöhung gegen Einlagen und die nominelle Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln als zwei unterschiedliche Instrumentarien wahrgenommen und in ihnen sogar „zwei rechtlich und wirtschaftlich ganz verschiedene Vorgänge“ gesehen hat. Wenn er dann eine Regelung zum Schutz dividendenabhängiger Ansprüche Dritter vor Verwässerung nur im Unterabschnitt „Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln“ trifft, spricht dieser Umstand gegen eine unbewusste, planwidrige Regelungslücke. Das gilt umso mehr, als durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. Oktober 1958 (- II ZR 4/57 – BGHZ 28, 259) hervorgehoben wurde, dass aktienabhängige Gläubigerrechte nicht immer einen Verwässerungsschutz genießen, sondern dies jeweils von der inhaltlichen Ausgestaltung des infrage stehenden Gläubigerrechts abhängt.
33
(ee) Auch in der weiteren Entwicklung des Aktienrechts hat der Gesetzgeber keine Veranlassung gesehen, eine Regelung über den Verwässerungsschutz von dividendenabhängigen Ansprüchen Dritter bei effektiven Kapitalerhöhungen in das AktG aufzunehmen, obwohl jedenfalls seit den Aufsätzen von Koppensteiner (ZHR 139 [1975], 191), Köhler (AG 1984, 197) und Zöllner (ZGR 1986, 288) eine Diskussion darüber entstanden war. Vielmehr wird in der Begründung der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. vom 1. Februar 1994 zum Entwurf eines Gesetzes für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts (BT-Drs. 12/6721 S. 10) die Gefahr der Verwässerung bei effektiven Kapitalerhöhungen gegen Einlagen hinsichtlich des Bezugsrechts der Aktionäre nach § 186 AktG erörtert. Eine Regelung zugunsten Dritter etwa bei dividendenabhängigen Tantiemeansprüchen, einem Hauptanwendungsfall des für nominelle Kapitalerhöhungen geltenden § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG (vgl. BAG 12. Oktober 2005 – 10 AZR 410/04 – zu II 1 d aa der Gründe), sieht der Entwurf aber nicht vor. Auch in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vom 13. Juni 1994 (BT-Drs. 12/7848 S. 9) zu dem Gesetzentwurf wird hinsichtlich einer vorgesehenen Änderung des § 186 Abs. 3 AktG eine bestimmte Fallgestaltung des Bezugsrechts von Aktionären bei effektiver Kapitalerhöhung angesprochen, ohne einen Verwässerungsausgleichsanspruch für Dritte zu behandeln. Nachdem sich der Gesetzgeber mehrfach mit dem Regelungskomplex beschäftigt, trotz bestehender Diskussionen im Schrifttum aber keine Regelung getroffen hat, kann eine planwidrige Regelungslücke in Bezug auf dividendenabhängige Rechte Dritter bei effektiven Kapitalerhöhungen nicht angenommen werden.
34
(3) Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen kommt eine analoge Anwendung von § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG auf Fälle der effektiven Kapitalerhöhung auch deshalb nicht in Betracht, weil nicht nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen die gleiche Rechtsfolge wie im Fall dividendenabhängiger Ansprüche bei nominellen Kapitalerhöhungen erforderlich ist.
35
(a) Die nominelle Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln ist vorrangig ein „Mittel der Dividendenpolitik“ (vgl. Hüffer FS Bezzenberger 2000 S. 191 ff.). Durch Erhöhung des dividendenberechtigten Kapitals sinkt – bei gleichbleibendem Gesamtausschüttungsbetrag – prozentual die Dividende, was im Interesse der Gesellschaft liegen kann, um aus optischen Gründen extrem hohe Dividendensätze zu vermeiden. Dem Ziel, das mit den herkömmlichen Formen der effektiven Kapitalerhöhungen verfolgt wird, der Kapitalbeschaffung, dient die nominelle Kapitalerhöhung dagegen nicht. § 216 Abs. 3 AktG dann analog anzuwenden, wenn durch sonstige Maßnahmen eine wirtschaftliche Ungleichbehandlung von Aktionären und Dritten eintritt, liegt fern. Eine solche pauschalierende Gleichbehandlung kann schon deswegen nicht aus § 216 Abs. 3 AktG abgeleitet werden, weil mit der Anknüpfung an die Dividende selbst für den besonders naheliegenden Alternativfall einer Gewinnthesaurierung eine wirtschaftliche Ungleichbehandlung offenkundig in Kauf genommen wird. Durch die Anknüpfung an die Dividende haben die Vertragsparteien bewusst einen Bemessungsparameter gewählt, der die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft nicht unmittelbar wiedergibt, sondern von weiteren Maßnahmen abhängig ist, die von der betroffenen Gesellschaft getroffen werden können (vgl. Koch AG 2017, 6, 12).
36
(b) Eine Gleichstellung der Rechtsfolgen von nomineller und effektiver Kapitalerhöhung kommt ferner deshalb nicht in Betracht, weil auch die wirtschaftlichen Folgen der beiden Kapitalmaßnahmen unterschiedlich ausfallen. Während bei der nominellen Kapitalerhöhung bereits in der Gesellschaft vorhandene Werte bilanztechnisch „umdeklariert“ werden (vgl. BAG 12. Oktober 2005 – 10 AZR 410/04 – zu II 1 d bb der Gründe: „Umbuchungsvorgang“), was zu einer exakt proportionalen Verwässerung im Umfang der Kapitalerhöhung führt, werden mit der Eigenkapitalverstärkung der Gesellschaft neue Betriebsmittel zugeführt, die langfristig ihre Ertragslage verbessern. Damit verbietet sich einerseits eine Übertragung der schematischen Regelung einer reinen Rechenoperation aus § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG auf andere Fälle einer potenziellen Verwässerung (vgl. Koch AG 2017, 6, 12). Andererseits erfordert die typischerweise verbesserte Ertragskraft bei effektiven Kapitalerhöhungen schon grundsätzlich nicht dieselben Schutzmechanismen zugunsten Dritter wie bei nominellen Kapitalerhöhungen, die an der Ertragskraft der Gesellschaft nichts ändern.
37
(c) Auch die Vertreter einer analogen Anwendung des § 216 Abs. 3 AktG auf Fälle der effektiven Kapitalerhöhung sehen das Erfordernis einer Berücksichtigung der potenziellen Stärkung der Ertragskraft. Die Ansichten, wie dies zu bewerten ist, gehen zum Teil weit auseinander. Erwogen wird zB eine Betrachtung der Entwicklung des Börsenkurses (vgl. Köhler AG 1984, 197, 200), was aber nur bei börsennotierten Aktiengesellschaften möglich wäre und keinen objektiven Rückschluss auf den Unternehmenswert zulässt (vgl. Zöllner ZGR 1986, 288, 302). Andere Stimmen befürworten eine Unternehmensbewertung (vgl. Koppensteiner ZHR 139 [1975], 191, 202) ggf. durch Sachverständige, was aber mit einem sehr großen Aufwand verbunden wäre, gerade im Fall häufig wiederkehrender effektiver Kapitalerhöhungen. Auch die Berechnung eines Bezugsrechts wird in Betracht gezogen (vgl. GroßkommAktG/Wiedemann 4. Aufl. § 189 Rn. 18; ähnlich KK-AktG/Lutter 2. Aufl. § 189 Rn. 25). Schon diese offenkundigen Schwierigkeiten auf Rechtsfolgenseite (vgl. dazu Zöllner ZGR 1986, 288, 294 f.) zeigen, dass die Konstruktion einer durch Analogie ausfüllungsbedürftigen Gesetzeslücke kein gangbarer Weg ist (vgl. Hüffer FS Bezzenberger 2000 S. 191, 203 ff.). Sie offenbaren zudem, dass bei der nominellen und der effektiven Kapitalerhöhung nicht die gleichen Rechtsfolgen zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen erforderlich sind.
38
c) Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer ergänzenden Vertragsauslegung, auf deren Möglichkeit im Schrifttum im Zusammenhang mit einem etwaigen Verwässerungsausgleich für Dritte bei effektiven Kapitalerhöhungen hingewiesen wird (vgl. Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 216 Rn. 10; GroßkommAktG/Wiedemann 4. Aufl. § 189 Rn. 17; Hölters/Simons AktG 3. Aufl. § 216 Rn. 22; Hüffer FS Bezzenberger 2000 S. 191, 207; Hüffer/Koch AktG 13. Aufl. § 216 Rn. 19; KK-AktG/Lutter 2. Aufl. § 189 Rn. 25; ablehnend für den Regelfall Bürgers/Körber/Stadler AktG 4. Aufl. § 216 Rn. 22).
39
aa) Weist ein vorformulierter Vertrag unter Zugrundelegung des Regelungskonzepts der Parteien eine Lücke auf, die geschlossen werden muss, um den Regelungsplan der Parteien zu verwirklichen, und beruht eine solche Lücke nicht auf AGB-rechtlichen Einbeziehungs- oder Inhaltskontrollschranken, ist nach allgemeiner Meinung eine ergänzende Vertragsauslegung zulässig (BAG 21. November 2017 – 9 AZR 141/17 – Rn. 35; 25. Juni 2015 – 6 AZR 383/14 – Rn. 39 mwN, BAGE 152, 82). Die ergänzende Auslegung hat nach einem objektiv-generalisierenden Maßstab zu erfolgen, der nicht am Willen und den Interessen der konkret beteiligten Parteien, sondern der typischerweise beteiligten Verkehrskreise ausgerichtet sein muss. Die Vertragsergänzung muss für den betroffenen Vertragstyp als allgemeine Lösung eines stets wiederkehrenden Interessengegensatzes angemessen sein. Maßgeblich ist, was die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Parteien vereinbart hätten (st. Rspr. seit BAG 16. Dezember 2009 – 5 AZR 888/08 – Rn. 22). Lassen sich nach diesen Kriterien hinreichende Anhaltspunkte für einen hypothetischen Parteiwillen nicht finden, etwa weil mehrere gleichwertige Möglichkeiten der Lückenschließung in Betracht kommen, scheidet eine ergänzende Vertragsauslegung grundsätzlich aus. So sind die Vertragsparteien vor einer mit dem Grundsatz der Privatautonomie nicht zu vereinbarenden Auswahl der Möglichkeit der Lückenschließung durch das Gericht nach dessen eigenen Kriterien geschützt (BAG 25. Juni 2015 – 6 AZR 383/14 – aaO).
40
bb) Die für eine ergänzende Vertragsauslegung erforderliche planwidrige Regelungslücke, die einer solchen Auslegung zugänglich wäre, besteht dann, wenn die Parteien einen Punkt übersehen oder wenn sie ihn zwar nicht übersehen, aber bewusst offengelassen haben, weil sie ihn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht für regelungsbedürftig gehalten haben, und wenn sich diese Annahme nachträglich als unzutreffend herausstellt. Von einer planwidrigen Unvollständigkeit kann nur gesprochen werden, wenn der Vertrag eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihm zugrunde liegenden Regelungsplan der Parteien zu verwirklichen, also ohne Vervollständigung des Vertrags eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen wäre (st. Rspr., zB BAG 13. Juni 2012 – 10 AZR 313/11 – Rn. 28; 17. April 2012 – 3 AZR 803/09 – Rn. 24 mwN).
41
cc) Hier fehlt es bereits an einer solchen planwidrigen Regelungslücke.
42
(1) Ausgangspunkt für die Bewertung der vertraglichen Vereinbarung der Parteien ist zunächst erneut § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG, der nicht nur den Rechtsgrund, sondern auch den Maßstab für einen möglicherweise erforderlichen Verwässerungsausgleich darstellt (BAG 12. Oktober 2005 – 10 AZR 410/04 – zu II 1 d der Gründe). § 216 Abs. 3 Satz 1 AktG ist aber weder unmittelbar noch analog auf Fälle der effektiven Kapitalerhöhung anzuwenden. Das Gesetz sieht vielmehr keinen Verwässerungsausgleich für dividendenabhängige Ansprüche Dritter bei effektiven Kapitalerhöhungen vor. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch könnte ihm daher nur dann zustehen, wenn die Parteien eine von diesem gesetzlichen Leitbild abweichende Vereinbarung getroffen oder gewollt hätten.
43
(2) Den Schreiben der Beklagten vom 25. Oktober 1990 und vom 25. März 1999 lassen sich keine von der gesetzlichen Wertung abweichenden Regelungen eines Verwässerungsausgleichs entnehmen. Bei der Bewertung der von der Beklagten vorformulierten Vertragsbedingungen, die vom Kläger gemäß § 151 BGB durch Entgegennahme der Leistung angenommen wurden, ist auf die Sicht der typischerweise beteiligten Verkehrskreise abzustellen, also auf die einer Großbank und der bei ihr beschäftigten Direktoren. Zum Zeitpunkt der Zusagen ging die immer noch herrschende Meinung im Schrifttum davon aus, dass im Fall effektiver Kapitalerhöhungen dividendenabhängige Ansprüche Dritter von Gesetzes wegen nicht durch einen Verwässerungsausgleich geschützt sind, wobei seit den Aufsätzen von Koppensteiner (ZHR 139 [1975], 191), Köhler (AG 1984, 197) und Zöllner (ZGR 1986, 288) die maßgeblichen Fragen jedenfalls diskutiert wurden. Gleichwohl beinhaltet die Vereinbarung der Parteien keine Regelung zu einem Verwässerungsausgleich im Fall effektiver Kapitalerhöhungen, was nicht nur möglich, sondern im Fall dividendenabhängiger Ansprüche Dritter ein gängiges Element von Vertragsgestaltungen ist (vgl. GroßkommAktG/Wiedemann 4. Aufl. § 189 Rn. 16; Koch AG 2017, 6, 8, 10 mwN in Fn. 14 und Fn. 15) oder ausdrücklich empfohlen wird (vgl. GroßkommAktG/Hirte 4. Aufl. § 216 Rn. 69; Hüffer FS Bezzenberger 2000 S. 191, 209; KK-AktG/Lutter 2. Aufl. § 189 Rn. 26). Angesichts dieser Umstände gibt es keinen Hinweis darauf, die Parteien hätten einen Punkt übersehen oder unzutreffend für nicht regelungsbedürftig gehalten. Vielmehr kann das Schweigen zu einem Verwässerungsausgleich nur so verstanden werden, dass keine von der gesetzlichen Wertung abweichende Regelung getroffen werden sollte.
44
(3) Eine solche Betrachtung entspricht jedenfalls dem Interesse des Arbeitgebers. Dieser hat zunächst einseitig eine Zusage über eine dividendenabhängige Tantieme erteilt. Es gibt keinen Anlass für die Annahme, er habe sich hinsichtlich des Verwässerungsschutzes über das gesetzlich Geregelte hinaus verpflichten wollen.
45
(4) Entgegen der Auffassung des Klägers gibt es auch keinen Hinweis darauf, dass er nach dem Regelungsplan der Parteien am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens „wie ein Aktionär“ habe beteiligt werden sollen und deshalb eine ergänzende Vertragsauslegung erforderlich sei. Das vom Kläger vorgebrachte Argument einer wegen gleicher Interessenlage notwendigen Gleichbehandlung von dividendenberechtigten Aktionären und dividendenabhängigen Tantiemeberechtigten ist nicht tragfähig. Dem Kläger wurden keine Aktien zugesagt oder übertragen. Damit trägt er im Übrigen auch nicht das Kursrisiko der Aktionäre. Seine Tantieme bezieht sich auf die Dividende als nur einen von mehreren Berechnungsfaktoren, der selbst durch Maßnahmen der Gesellschaft beeinflusst werden kann, etwa durch die Thesaurierung von Gewinnen, die nicht als Dividende ausgeschüttet werden. Dies verdeutlicht, dass bei der Tantiemeberechtigung zwar ein gewisser Anknüpfungspunkt an die wirtschaftliche Lage der Aktionäre beabsichtigt war, aber gerade keine wirtschaftliche Gleichstellung.
46
d) Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).
47
aa) Stellen sich wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, als falsch heraus, kann die Anpassung des Vertrags nach § 313 Abs. 2 iVm. Abs. 1 BGB nur verlangt werden, wenn einem Teil nicht zugemutet werden kann, am Vertrag festzuhalten. Zu berücksichtigen sind alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung (BAG 23. April 2013 – 3 AZR 513/11 – Rn. 36). Geschäftsgrundlage sind nur die nicht zum Vertragsinhalt gewordenen, bei Vertragsschluss bestehenden gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf dieser Vorstellung beruht (vgl. BAG 14. Juli 2015 – 3 AZR 517/13 – Rn. 66; 11. Juli 2012 – 2 AZR 42/11 – Rn. 32; BGH 7. März 2013 – VII ZR 68/10 – Rn. 18, BGHZ 196, 299). Eine Störung der Geschäftsgrundlage kann bei einem beiderseitigen Irrtum über die Rechtslage bei Abschluss des Vertrags anzunehmen sein, wenn ohne diesen beiderseitigen Irrtum der Vertrag nicht wie geschehen geschlossen worden wäre. Eine Vertragsanpassung ist jedoch auch in diesem Fall nur bei erheblichen Störungen des Äquivalenzverhältnisses in Betracht zu ziehen (BAG 24. August 2016 – 5 AZR 129/16 – Rn. 55, BAGE 156, 157).
48
bb) Nach diesem Maßstab sind hier weder eine schwerwiegende Veränderung der Umstände, die zur Grundlage des Vertrags iSv. § 313 BGB geworden sind, noch eine Unzumutbarkeit für den Kläger, am unveränderten Vertrag festzuhalten, erkennbar oder von ihm vorgebracht.
49
(1) Die Erwartung, es komme in der Zeit nach Vertragsschluss nicht zu effektiven Kapitalerhöhungen, die möglicherweise Einfluss auf die dividendenabhängige Tantieme haben, kann nicht als Grundlage des Vertrags angesehen werden. Im Gegensatz zu nominellen Kapitalerhöhungen sind effektive Kapitalerhöhungen in größeren Gesellschaften häufig wiederkehrende Vorgänge (vgl. Koch AG 2017, 6, 10; Köhler AG 1984, 197, 200; Koppensteiner ZHR 139 [1975], 191, 206: Kapitalerhöhungen gegen Einlagen stellen das Mittel der Kapitalbeschaffung dar). Eine solche Vertragsgrundlage ist insbesondere für die hier maßgebliche letzte Zusage mit Schreiben vom 25. März 1999 fernliegend, nachdem es bei der Beklagten bereits in der Zeit seit der ersten Zusage mit Schreiben vom 25. Oktober 1990 mehrere effektive Kapitalerhöhungen gegeben hatte. Das hat der Kläger selbst im Rahmen der zwischenzeitlich rechtskräftig wegen Verjährung abgewiesenen Klageerweiterung hinsichtlich eines Verwässerungsausgleichs für effektive Kapitalerhöhungen der Jahre 1991 bis 1999 vorgetragen.
50
(2) Ferner kann weder dem Vortrag des Klägers noch den übrigen Umständen eine Unzumutbarkeit, am unveränderten Vertrag festzuhalten, entnommen werden. Ob und inwieweit die effektiven Kapitalerhöhungen angesichts der Eigenkapitalverstärkung der Beklagten tatsächlich zu einer Verwässerung des dividendenabhängigen Tantiemeanspruchs des Klägers geführt haben, ist nicht zu erkennen. Eine schwere Störung des Äquivalenzverhältnisses ist umso weniger anzunehmen, als der vom Kläger als Verwässerungsausgleich geltend gemachte Differenzbetrag, der nur einen geringen Teil seiner jährlichen Vergütung darstellt, kleiner ist als die tatsächlich an ihn gezahlte dividendenabhängige Tantieme. Das zeigt, dass selbst ein unterstellter Verwässerungseffekt den dividendenabhängigen Tantiemeanspruch des Klägers allenfalls geschmälert, aber nicht entwertet hätte.
51
e) Soweit der Kläger eine Verfahrensrüge erhoben hat, hat der Senat sie geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (vgl. § 564 Satz 1 ZPO).
52
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Gallner
Brune
Schlünder
Simon
Schumann |
bag_38-19 | 19.11.2019 | 19.11.2019
38/19 - Mindestpersonalbesetzung als Maßnahme des Gesundheitsschutzes
Der Senat hat dem Antrag der Arbeitgeberin, mit dem diese einen Einigungsstellenspruch über Mindestbesetzungen im Pflegedienst einer Klinik angefochten hat, stattgegeben, ohne über die Zulässigkeit von solchen Regelungen als Maßnahme des Gesundheitsschutzes zu entscheiden.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 19. November 2019 – 1 ABR 22/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 25. April 2018 – 6 TaBV 21/17 – | Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 25. April 2018 – 6 TaBV 21/17 – wird zurückgewiesen.
Leitsatz
Einer Einigungsstelle kann im Rahmen der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht gleichzeitig der Regelungsauftrag zur Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung iSv. § 5 ArbSchG und zur Regelung erforderlicher Schutzmaßnahmen iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG sowie deren Wirksamkeitskontrolle iSv. § 3 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG übertragen werden.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs.
2
Die antragstellende Arbeitgeberin betreibt eine Spezialklinik zur Behandlung von Wirbelsäulen und Gelenken, für die der beteiligte Betriebsrat gebildet ist. Nachdem es zwischen den Beteiligten zu Auseinandersetzungen über die Mindestbesetzung des Pflegedienstes gekommen war, beschloss der Betriebsrat am 6. März 2013 die Einrichtung einer Einigungsstelle zum „Arbeits- und Gesundheitsschutz“. Dies teilte er der Arbeitgeberin am 7. März 2013 mit.
3
Mit E-Mail vom 3. April 2013 informierte der Verfahrensbevollmächtigte des Betriebsrats den Vorsitzenden der Einigungsstelle darüber, dass deren Gegenstand die „Mindestbesetzung in der Dienstplanung für den Pflegedienst für Früh-, Spät- und Nachtdienst in den Stationen 2a, 2b, 2c sowie 4a, 4b und 4c“ sei. In den Protokollen der beiden ersten Einigungsstellensitzungen am 16. April 2013 und 7. Mai 2013 ist der Regelungsgegenstand ebenfalls entsprechend bezeichnet. Ausweislich des Protokolls vom 16. April 2013 verständigten sich die Beteiligten darauf, die vom Betriebsrat „geltend gemachte gesundheitliche Gefährdungssituation der Beschäftigten näher zu analysieren und dies im Rahmen dieser Einigungsstelle zu tun …“. In der Sitzung der Einigungsstelle am 7. Mai 2013 kamen deren Beisitzer überein, einen externen Sachverständigen hinzuzuziehen. Der von der Einigungsstelle beauftragte Arbeitswissenschaftler Dr. H legte im September 2013 einen gutachterlichen Bericht zur Arbeitssituation der Pflegekräfte auf den Stationen 4a und 4b vor.
4
Die Beteiligten schlossen am 23./25. September 2013 eine „Zwischenvereinbarung als Regelungsabrede“ (Regelungsabrede 2013), die auszugsweise lautet:
„Teil II
Zwischen den Betriebsparteien wird vereinbart, im Rahmen dieser Einigungsstelle nach § 87 I Nr. 7 BetrVG, dass nach Maßgabe der Empfehlung im Gutachten von Dr. H S. 20 f. eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird.
Methode: moderierte Gefährdungsbeurteilung.
Moderator: Dr. H.
Teil III
Diese Einigungsstelle tritt wieder zusammen,
a) … wenn zwischen den Betriebsparteien keine Einigung über Einzelheiten der Durchführung und Schlussfolgerungen aus der Gefährdungsbeurteilung besteht
b) wenn zwischen den Betriebsparteien keine Einigung besteht über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung Personalbesetzung im Rahmen von § 87 I Nr. 7 BetrVG iVm. ArbSchG
c) bei fehlender Einigung über die Dienstpläne gemäß ab 1.4.2014.“
5
Am 14. März 2014 trafen die Beteiligten folgende „Vereinbarung“:
„Die … (Arbeitgeberin) bestreitet auch weiterhin die Zuständigkeit der Einigungsstelle im Hinblick auf eine Personalbemessung/Mindestbesetzung …
Dies vorausgeschickt vereinbaren die Betriebsparteien Folgendes:
1.
Durchführung einer teilnehmenden Beobachtung mit integrierten kriteriengeleiteten Beobachtungsinterviews durch Herrn Dr. H in Bezug auf
a) die geänderte Belegungssituation auf den Stationen 4a und 4b
b) die Stationen 4c sowie 3a/b und 3c
…
2.
Erstellung eines Gutachtens durch Herrn Dr. H auf Basis der Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung und der Beobachtungsinterviews
…
4.
1Der Prozess der moderierten Gefährdungsbeurteilung wird von einem von Arbeitgeber und Betriebsrat paritätisch besetzten … Steuerungskreis geleitet.
…
4Dem Steuerungskreis obliegt die Regelung von ggf. gemäß § 3 iVm. §§ 4, 5 ArbSchG sich ergebenden erforderlichen Maßnahmen.
5.
Sollten einzelne Fragen und/oder Entscheidungen im Steuerungskreis nicht einverständlich geklärt werden können, werden diese Fragen gemäß Ziffer III. der Regelungsabrede vom 23. September 2013 in der Einigungsstelle verhandelt und ggf. entschieden.“
6
Das in Nr. 2 der Vereinbarung genannte Gutachten legte Herr Dr. H Anfang Juni 2014 vor.
7
Die Beteiligten schlossen am 25. November 2014 eine für die Pflegekräfte der Stationen 3a bis 3c und 4a bis 4c geltende Betriebsvereinbarung zur „Regelung der Arbeit des Steuerkreises zur Gestaltung des Gefährdungsbeurteilungsprozesses in Ausführung der Regelungsabrede vom 14. März 2014“ (BV 2014). Nach deren Nr. 3.1 obliegt dem Steuerungskreis die Regelung von ggf. gemäß § 3 iVm. §§ 4, 5 ArbSchG sich ergebenden erforderlichen Maßnahmen. In Nr. 3.3 BV 2014 ist festgelegt, dass der Steuerungskreis verantwortlich ist für „Organisation, Planung, Durchführung, Auswertung und Dokumentation von Gefährdungsanalysen, Bewertungen, Festlegung von Maßnahmen, Umsetzung von Maßnahmen und deren Wirksamkeitskontrolle“. Gemäß Nr. 3.4 Satz 1 BV 2014 entwickelt er aus „den Ergebnissen der Begutachtung von Dr. … H und Gefährdungsanalyse und -beurteilung“ Maßnahmen und „veranlasst ggf. ergänzende Untersuchungen“. Für die Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen ist der Steuerungskreis zuständig (Nr. 3.4 Satz 3 BV 2014). Nr. 3.5 BV 2014 entspricht der Regelung in Nr. 5 der Vereinbarung vom 14. März 2014.
8
Die Einigungsstelle nahm – nachdem der Steuerungskreis zunächst mehrmals getagt hatte – im Laufe des Jahres 2015 wieder ihre Tätigkeit auf. Am 17. Mai 2016 beschloss sie gegen die Stimmen der arbeitgeberseitigen Beisitzer die „Einholung eines Sachverständigengutachtens in Bezug auf den Gegenstand Arbeitsbereichs-/Tätigkeitsbezogene Gefährdungsbeurteilung der Tätigkeit der Pflegekräfte auf den Stationen 2c, 3a, 3c, 4a und 4c (inklusive Ambulanz) einschließlich des Aufnahmezentrums … mit Schwerpunkt psychischer Belastung“. Weiter heißt es in dem Beschluss:
„Dabei soll im Rahmen des Gutachtens aufgrund der bisherigen Anträge des Betriebsrates … auch eine Stellungnahme zu folgenden Fragen erfolgen:
●
Aufgrund welcher Risikofaktoren ist hinsichtlich der Arbeitssituation der Pflegekräfte generell bzw. aufgrund der speziellen Situation von einer Gefährdung der Gesundheit auszugehen?
…“
9
Die Personalleiterin der Arbeitgeberin erklärte sich Ende Juli 2016 mit der Erteilung des Gutachtenauftrags an Herrn Dr. R auf der Grundlage des von diesem unterbreiteten Angebots einverstanden. Dieser legte seine „Gutachterliche Stellungnahme“ Ende November 2016 vor.
10
Die Einigungsstelle beschloss am 8. Dezember 2016 eine „Betriebsvereinbarung allgemeiner Pflegedienst zur Dienstplanung der Pflegekräfte in Abhängigkeit der Belegung der Stationen“ (BV Besetzung). Diese regelt nach ihrem § 1 („Geltungsbereich“) die Dienstplanung für die Pflegekräfte des allgemeinen Pflegedienstes, derzeit auf den Stationen 2c, 3a incl. 2a, 3c, 4b und 4c incl. 4a. § 2 Abs. 1 BV Besetzung bestimmt, dass bei der Dienstplanung zur Vermeidung einer gesundheitlichen Gefährdung der Bedarf an erforderlichen Pflegeminuten je Patient zu beachten ist. In § 3 Nr. 1 bis Nr. 5 BV Besetzung ist die Anzahl der einzusetzenden Pflegekräfte für die einzelnen Stationen jeweils für den Früh-, Spät- und Nachtdienst von Montag bis Freitag sowie – sofern die Station in dieser Zeit nicht geschlossen ist – an Wochenenden und Wochenfeiertagen festgelegt. Nach § 2 Abs. 7 Satz 1 BV Besetzung sind während des laufenden Dienstplanmonats Belegungserhöhungen nur durchzuführen, wenn die erforderliche Zahl von Pflegekräften zur Verfügung steht.
11
Der vom Einigungsstellenvorsitzenden unterzeichnete Spruch wurde der Arbeitgeberin am 27. Dezember 2016 zugeleitet. Mit am selben Tag beim Arbeitsgericht eingegangenem Antrag hat sie diesen angefochten.
12
Die Arbeitgeberin hat geltend gemacht, der Regelungsauftrag der Einigungsstelle sei nicht hinreichend bestimmt. Zumindest fehle es an deren Zuständigkeit. Ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 3 ArbSchG bestehe nicht. Die Gutachten hätten keine konkreten Gesundheitsgefährdungen der Pflegekräfte ergeben. Betriebliche Besetzungsregeln seien ohnehin nicht vom Mitbestimmungsrecht erfasst. Der Spruch sei auch ermessensfehlerhaft, da er ihre durch Art. 12 GG geschützte unternehmerische Freiheit missachte.
13
Die Arbeitgeberin hat sinngemäß beantragt
festzustellen, dass der Spruch der bei ihr gebildeten Einigungsstelle zu § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. ArbSchG vom 8. Dezember 2016, zugestellt am 27. Dezember 2016, unwirksam ist.
14
Der Betriebsrat hat Antragsabweisung beantragt und geltend gemacht, der Spruch sei wirksam. Die Einigungsstelle sei beauftragt worden „Schlussfolgerungen aus der Gefährdungsbeurteilung und ggf. Abschluss einer Betriebsvereinbarung Personalbesetzung“ zu regeln. Das Gutachten aus dem Jahr 2014 habe eine konkrete Gefährdung der Pflegekräfte aufgrund hoher Arbeitsintensität aufgezeigt. Vorgaben zur Personalbemessung könnten eine – nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG mitbestimmungspflichtige – Maßnahme des Arbeitsschutzes darstellen. Diese sei vorliegend auch erforderlich und angemessen. Die BV Besetzung lege lediglich eine Belastungsgrenze zur Vermeidung gesundheitlicher Gefährdungen fest. Die Arbeitgeberin habe verschiedene Handlungsmöglichkeiten, um die vorgegebene Mindestbesetzung der Pflegekräfte einzuhalten.
15
Das Arbeitsgericht hat den Antrag der Arbeitgeberin abgewiesen. Auf ihre Beschwerde hat das Landesarbeitsgericht dem Antrag stattgegeben. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Betriebsrat die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
16
B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Spruch der Einigungsstelle vom 8. Dezember 2016 unwirksam ist.
17
I. Der zutreffend auf die Feststellung der Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruchs und damit auf das Nichtbestehen eines betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses iSv. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtete Antrag der Arbeitgeberin ist zulässig (vgl. BAG 13. August 2019 – 1 ABR 6/18 – Rn. 12 mwN). Sie hat an der begehrten Feststellung ein berechtigtes Interesse. Der Umstand, dass die Arbeitgeberin – nach ihrem Vorbringen in der Rechtsbeschwerde – die BV Besetzung zum 30. Juni 2018 gekündigt hat, steht dem nicht entgegen. Sollte der Spruch die Einigung der Betriebsparteien nach § 87 Abs. 2 Satz 2 BetrVG (wirksam) ersetzen, würde die Betriebsvereinbarung nach ihrer Kündigung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG nachwirken.
18
II. Der Antrag ist begründet. Zwar ist entgegen der Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts nicht davon auszugehen, dass das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG allein aus systematischen Gründen keine Maßnahmen erfasst, die – wie Besetzungsregeln – ggf. die Personaleinsatzplanung des Arbeitgebers und damit eine Angelegenheit iSd. § 92 BetrVG berühren. Dies verkennt, dass das Beteiligungsrecht des Betriebsrats bei der Personalplanung nach § 92 BetrVG einerseits und sein Mitbestimmungsrecht beim Arbeits- und Gesundheitsschutz nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG andererseits unterschiedliche Angelegenheiten betreffen. Aus diesem Grund gibt auch die vom Landesarbeitsgericht herangezogene Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 6/1786 S. 31), nach der die Beteiligung der Arbeitnehmer auf wirtschaftlichem Gebiet dem Unternehmensverfassungsrecht vorbehalten bleiben sollte, für die von ihm angenommene Einschränkung nichts her. Dennoch ist das Landesarbeitsgericht letztlich zutreffend davon ausgegangen, dass die auf dem Spruch beruhende BV Besetzung vom 8. Dezember 2016 unwirksam ist.
19
1. Der Regelungsauftrag der Einigungsstelle war mangels hinreichender Bestimmtheit schon nicht geeignet, ihr die erforderliche Spruchkompetenz zu vermitteln. Der Mangel in der notwendigen Bestimmung des Regelungsauftrags der Einigungsstelle bewirkt die Unwirksamkeit des gesamten Spruchs (vgl. BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 15, BAGE 159, 12).
20
a) Einigungs- oder Bestellungsgegenstand bei der Bildung einer Einigungsstelle sowohl nach § 76 Abs. 2 Satz 1 BetrVG als auch nach § 76 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 BetrVG iVm. § 100 ArbGG ist – neben der Person des Vorsitzenden und der Anzahl der vom Arbeitgeber und Betriebsrat zu benennenden Beisitzer – auch die Festlegung des von ihr zu verhandelnden Regelungsgegenstands. Dieser kann weit gefasst werden, was nicht zuletzt dem im Einigungsstellenverfahren angelegten Einigungsvorrang (§ 76 Abs. 3 Satz 3 BetrVG) entspricht. Stets aber muss hinreichend klar sein, über welchen Gegenstand die Einigungsstelle überhaupt verhandeln und ggf. durch Spruch befinden soll. Das ist unerlässlich, weil mit dem Regelungsgegenstand der Zuständigkeitsrahmen der Einigungsstelle begrenzt wird, damit diese der gesetzgeberischen Konzeption genügen kann, eine regelungsbedürftige Angelegenheit im Rahmen der gestellten Anträge vollständig zu lösen. Da ein Einigungsstellenspruch auch dann unwirksam ist, wenn die Einigungsstelle ihrem Regelungsauftrag nicht ausreichend nachkommt und keine abschließende Regelung trifft, muss sowohl für das Einigungsstellenverfahren als auch für die gerichtliche Überprüfung der Zuständigkeit der Einigungsstelle oder ihres Spruchs erkennbar sein, für welche konkreten Regelungsfragen sie errichtet worden ist. Das gilt auch für eine Einigungsstelle zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten in den Angelegenheiten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (vgl. BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 11 f., BAGE 159, 12).
21
b) Ausgehend hiervon lassen die Vereinbarungen der Beteiligten nicht erkennen, welchen Regelungsauftrag die Einigungsstelle zum Zeitpunkt ihres Spruchs zu erfüllen hatte.
22
aa) Der anfangs im Beschluss des Betriebsrats vom 6. März 2013 zur Anrufung der Einigungsstelle und in der Mitteilung an die Arbeitgeberin vom 7. März 2013 benannte Regelungsauftrag „Arbeits- und Gesundheitsschutz“ war wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit nicht geeignet, eine Spruchkompetenz zu vermitteln. Er lässt nicht erkennen, welche vorhandenen Regelungskonflikte einer Lösung zugeführt werden sollen und welche Angelegenheiten in der Einigungsstelle überhaupt behandelt werden müssen (vgl. dazu BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 13, BAGE 159, 12).
23
bb) Es bedarf keiner Entscheidung, ob die Beteiligten diesen unbestimmten Regelungsauftrag – entsprechend der E-Mail des Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats vom 3. April 2013 und der Angaben in den Protokollen der Einigungsstellensitzungen vom 16. April 2013 und 7. Mai 2013 – nachfolgend zunächst einvernehmlich auf den Regelungsgegenstand „Mindestbesetzung in der Dienstplanung für den Pflegedienst für Früh-, Spät- und Nachtdienst in den Stationen 2a, 2b, 2c sowie 4a, 4b und 4c“ beschränkt haben (vgl. hierzu auch BAG 11. Februar 2014 – 1 ABR 72/12 – Rn. 16; 9. November 2011 – 1 ABR 75/09 – Rn. 21). Denn jedenfalls haben die Betriebsparteien den Regelungsauftrag der Einigungsstelle durch die Bestimmungen in Teil III der Regelungsabrede 2013 erheblich erweitert. Danach sollte die Einigungsstelle wieder zusammen treten, wenn zwischen den Betriebsparteien keine Einigung über die Dienstpläne für die Zeit ab April 2014 (Buchst. c), über den „Abschluss einer Betriebsvereinbarung Personalbesetzung“ (Buchst. b) oder über Einzelheiten „der Durchführung und Schlussforderungen“ aus der in Teil II der Regelungsabrede 2013 vereinbarten moderierten Gefährdungsbeurteilung erzielt wird. Aufgrund der in Teil III Buchst. a der Regelungsabrede 2013 getroffenen Vereinbarung war die Einigungsstelle damit einerseits für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten der Beteiligten in Bezug auf die Ausführung („Durchführung“) der Gefährdungsbeurteilung zuständig; andererseits sollte sie im Konfliktfall auch die sich aus der durchgeführten Gefährdungsbeurteilung ergebenden erforderlichen Maßnahmen iSd. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG regeln. Zu diesen gehörte die – ausdrücklich in Teil III Buchst. b Regelungsabrede 2013 aufgeführte – „Betriebsvereinbarung Personalbesetzung“. Der übrige Inhalt der Regelungsabrede 2013 spricht dafür, dass sich diese Regelungsgegenstände in personeller Hinsicht nicht auf das Personal des gesamten Krankenhauses, sondern nur auf den Pflegedienst auf den (damals vorhandenen) Stationen beziehen sollten.
24
cc) Sowohl durch die Regelungen in Nr. 4 Satz 1, Satz 4 und Nr. 5 der Vereinbarung vom 14. März 2014 als auch durch die nachfolgend vereinbarte BV 2014 haben die Betriebsparteien den bisherigen Regelungsgegenstand der Einigungsstelle inhaltlich erneut verändert. Dabei kann dahinstehen, ob der Einigungsstelle angesichts von Nr. 4 Satz 4 der Vereinbarung vom 14. März 2014 nur noch der Regelungsauftrag oblag, im Streitfall über erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG zu entscheiden. Denn die Betriebsparteien haben mit dem Abschluss der BV 2014 ihre – bislang nur schuldrechtlichen – Abreden in Nr. 4 Satz 1, Satz 4 und Nr. 5 der Vereinbarung vom 14. März 2014 einvernehmlich aufgehoben und durch die BV 2014 ersetzt. Dies zeigt deren Überschrift („Regelung der Arbeit des Steuerungskreises“) und der zum Teil wortlautidentische Inhalt ihrer Bestimmungen in Nr. 3.1 und Nr. 3.5. Nach der – Nr. 5 der Vereinbarung vom 14. März 2014 entsprechenden – Regelung in Nr. 3.5 BV 2014 soll die von den Betriebsparteien errichtete Einigungsstelle zwar weiterhin über (alle) „einzelnen Fragen“ und „Entscheidungen“ verhandeln und ggf. entscheiden, die nicht einverständlich im paritätisch besetzten Steuerungskreis geklärt werden können. Dem Steuerungskreis obliegt jedoch nach Nr. 3.1 iVm. Nr. 3.3 und Nr. 3.4 Satz 1 und 3 BV 2014 nicht nur die Aufgabe, bezogen auf die Pflegekräfte der Stationen 3a bis 3c sowie 4a bis 4c (vgl. Nr. 1 BV 2014) erforderliche Arbeitsschutzmaßnahmen iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG und Vorgaben für deren Wirksamkeitskontrolle festzulegen. Vielmehr ist er auch verantwortlich für „Organisation, Planung, Durchführung, Auswertung und Dokumentation von Gefährdungsanalysen“, deren „Bewertungen“ sowie der „Umsetzung von Maßnahmen“ (Nr. 3.3 BV 2014) und der Überprüfung ihrer Wirksamkeit (Nr. 3.4 Satz 3 BV 2014). Zudem hat er gemäß Nr. 3.4 Satz 1 BV 2014 die Aufgabe, ggf. „ergänzende Untersuchungen“ zu veranlassen. Angesichts dieser umfassenden Aufgaben des Steuerungskreises lässt sich der Bestimmung in Nr. 3.5 BV 2014 nicht entnehmen, welcher gegenständlich umrissene Regelungsauftrag der Einigungsstelle zukommen sollte. Entgegen der Annahme des Betriebsrats können die Regelungen der erst nach Vorlage des zweiten Gutachtens von Herrn Dr. H abgeschlossenen BV 2014 auch nicht dahin verstanden werden, dass die Einigungsstelle (nur noch) für „Schlussfolgerungen aus der Gefährdungsbeurteilung und ggf. Abschluss einer Betriebsvereinbarung Personalbesetzung“ zuständig sein sollte. Da der Steuerungskreis nach Abschluss der BV 2014 in zumindest inhaltlich oder gegenständlich abgrenzbaren Teilen seines umfangreichen Aufgabenfeldes kein abschließendes Einvernehmen über Regelungen oder Maßnahmen iSv. Nr. 3.1, Nr. 3.3 oder Nr. 3.4 BV 2014 erzielt hat, vermochte die Einigungsstelle auf der Grundlage des ihr nunmehr durch Nr. 3.5 BV 2014 zugewiesenen Auftrags nicht zu beurteilen, durch welche Regelungen sie diesem ausreichend nachkommt.
25
dd) Die Betriebsparteien haben den Regelungsauftrag der Einigungsstelle auch in der Folgezeit nicht einvernehmlich auf den Gegenstand „Mindestbesetzung der Pflegekräfte“ zurückgeführt. Ungeachtet dessen, ob eine solche Beschränkung wegen des Konflikts der Beteiligten über die Erforderlichkeit einer solchen Maßnahme überhaupt möglich gewesen wäre, fehlt es jedenfalls an dem notwendigen Einverständnis der Arbeitgeberin. Diese hat im Laufe des Einigungsstellenverfahrens ausdrücklich geltend gemacht, die Einigungsstelle sei für eine Regelung zur Personalbemessung oder Mindestbesetzung der Pflegekräfte unzuständig. Schon die Vereinbarung der Beteiligten vom 14. März 2014 enthält in ihrer „Präambel“ einen entsprechenden, von der Arbeitgeberin geäußerten Vorbehalt. Noch in der Sitzung der Einigungsstelle am 8. Dezember 2016 hat sie – ausweislich des diesbezüglichen Protokolls – vorgebracht, dass es einer solchen Regelung angesichts des von ihr „aufgegriffenen Optimierungsbedarfs“ nicht bedürfe. Vor diesem Hintergrund kann weder davon ausgegangen werden, die Betriebsparteien hätten den Regelungsauftrag durch ihre wechselseitig in das Einigungsstellenverfahren eingebrachten Entwürfe einvernehmlich konkretisiert (vgl. BAG 9. November 2010 – 1 ABR 75/09 – Rn. 3 und Rn. 21), noch kann das im Spruch benannte Regelungsthema als ein abtrennbarer Teilbereich eines pauschal gefassten Gesamtauftrags und damit als dessen einvernehmliche Beschränkung verstanden werden (vgl. BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 14, BAGE 159, 12).
26
2. Auch wenn der Senat – zu Gunsten des Betriebsrats – annehmen würde, die Regelungen in Nr. 3.1 und Nr. 3.3 bis Nr. 3.5 BV 2014 seien dahin zu verstehen, dass der Einigungsstelle nicht nur die Ausgestaltung der Beurteilung der Arbeitsbedingungen iSv. § 5 ArbSchG („Gefährdungsbeurteilung“), sondern auch die Regelung erforderlicher Schutzmaßnahmen iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG sowie die Regelung ihrer Wirksamkeitskontrolle iSv. § 3 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG obliegen sollte, vermag ein solcher Regelungsauftrag keine Spruchkompetenz zu vermitteln. Einer Einigungsstelle kann im Rahmen der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht gleichzeitig ein Auftrag zur Ausgestaltung der von § 5 ArbSchG und der von § 3 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ArbSchG erfassten Angelegenheiten übertragen werden.
27
a) Die Errichtung einer Einigungsstelle richtet sich nach § 76 Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 BetrVG. Grundlage hierfür ist in den Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung stets ein gegenwärtiger Regelungskonflikt der Betriebsparteien (BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 10, BAGE 159, 12). Die Einigungsstelle soll – wie § 87 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zeigt – eingeschaltet werden, wenn eine Einigung der Betriebsparteien über eine Angelegenheit iSd. § 87 Abs. 1 BetrVG nicht zustande kommt und daher der vorhandene Regelungskonflikt nur mit ihrer Hilfe einer Lösung zugeführt werden kann.
28
b) Nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG hat der Betriebsrat bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen, die der Arbeitgeber auf Grund einer öffentlich-rechtlichen Rahmenvorschrift zu treffen hat, bei deren Gestaltung ihm aber Handlungsspielräume verbleiben. Das Mitbestimmungsrecht setzt ein, wenn eine gesetzliche Handlungspflicht objektiv besteht und wegen Fehlens einer zwingenden gesetzlichen Vorgabe betriebliche Regelungen verlangt, um das vom Gesetz vorgegebene Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu erreichen (vgl. BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 18, BAGE 159, 12; 8. Juni 2004 – 1 ABR 13/03 – zu B I 2 b aa der Gründe, BAGE 111, 36). Sowohl § 5 ArbSchG als auch § 3 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ArbSchG stellen zwar ausfüllungsbedürftige Rahmenvorschriften in diesem Sinne dar. Allerdings kann ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG erst eingreifen, wenn eine konkrete Gefährdung nach Art und Umfang entweder feststeht oder im Rahmen einer nach § 5 ArbSchG vom Arbeitgeber durchgeführten Beurteilung der Arbeitsbedingungen festgestellt wurde (vgl. ausf. BAG 24. April 2018 – 1 ABR 6/16 – Rn. 37; 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 20 ff. mwN, BAGE 159, 12).
29
c) Systematisch baut die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG damit auf § 5 ArbSchG auf. Welche Schutzmaßnahmen angemessen und geeignet sind, lässt sich erst beurteilen, wenn im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung das von der Arbeit für die Beschäftigten ausgehende Gefährdungspotential eruiert wurde. Die vom Arbeitgeber – und nicht von den Betriebsparteien gemeinsam – durchzuführende Beurteilung der Arbeitsbedingungen iSv. § 5 ArbSchG umfasst die Überprüfung, ob und ggf. welche Gefährdungen mit einer Tätigkeit einhergehen. Die mit der Arbeit des Beschäftigten verbundenen möglichen Gefährdungen müssen anhand der jeweiligen Gefahrenquellen ermittelt und im Hinblick auf ihre Schwere (Art und Umfang des möglichen Schadens) und das Risiko ihrer Realisierung (Eintrittswahrscheinlichkeit) bewertet werden. Untrennbare Bestandteile der Gefährdungsbeurteilung sind die Prüfung, ob Schutzmaßnahmen geboten sind, und die Bewertung der Dringlichkeit eines Handlungsbedarfs. Das im Rahmen von § 5 ArbSchG von der Einigungsstelle auszugestaltende Verfahren zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung erfasst jedoch weder die Beantwortung der Frage, welche konkreten Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer angesichts einer festgestellten Gefährdung ergriffen werden können, noch die auf konkrete Schutzmaßnahmen bezogene Kontrolle ihrer Wirksamkeit (vgl. BAG 13. August 2019 – 1 ABR 6/18 – Rn. 33 und 39). Ein dem Arbeitgeber bei diesen Angelegenheiten zustehender Entscheidungsspielraum ist – mitbestimmungsrechtlich – den Rahmenvorschriften des § 3 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ArbSchG zugeordnet. Sofern das Vorliegen einer konkreten Gefährdung der Arbeitnehmer zwischen den Betriebsparteien nicht außer Streit steht, ist daher zunächst eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen nach § 5 ArbSchG durchzuführen. Ergibt diese, dass Schutzmaßnahmen erforderlich sind, hat sie der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG zu treffen. Kann einer Gefährdung mittels unterschiedlicher Schutzmaßnahmen begegnet werden, besteht im Rahmen dieser Norm ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei der Entscheidung, welche der möglichen Maßnahmen umgesetzt werden soll.
30
d) Aufgrund dieses rechtssystematischen Zusammenhangs zwischen § 5 ArbSchG einerseits und § 3 Abs. 1 ArbSchG andererseits kann sich der Einigungs- oder Bestellungsgegenstand bei der Errichtung einer Einigungsstelle nicht sowohl auf die Ausgestaltung des Verfahrens zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung iSv. § 5 ArbSchG als auch – im Vorgriff – auf ggf. erforderliche Schutzmaßnahmen und die Regelung ihrer Wirksamkeitskontrolle nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 ArbSchG erstrecken. Das Bestehen eines Mitbestimmungsrechts iSd. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 3 Abs. 1 ArbSchG bestimmt sich nach Maßgabe konkret feststehender Gefährdungen, die einen Handlungsbedarf für die Betriebsparteien erzeugen. Dieser ist von ihnen zu beraten und einer Lösung zuzuführen. Ein mit Hilfe des Einigungsstellenverfahrens nach § 87 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu lösender, gegenwärtiger Konflikt der Betriebsparteien kann erst dann auftreten, wenn derartige Verhandlungen gescheitert sind. In Bezug auf die von § 3 Abs. 1 ArbSchG erfassten Angelegenheiten kann der Regelungsauftrag der Einigungsstelle daher nur rahmenvorschriftbezogen festgelegt und – zB personen- oder arbeitsplatzbezogen – nach den zu gestaltenden Konstellationen konkretisiert werden. Die hiervon abweichende Einsetzung einer Einigungsstelle „ins Blaue hinein“ widerspräche dem in § 87 Abs. 2 BetrVG angelegten Verhandlungsprimat der Betriebsparteien.
31
3. Ungeachtet dessen ist der Spruch auch dann unwirksam, wenn der Einigungsstelle der Regelungsauftrag Mindestbesetzung der Pflegekräfte in den Stationen 2c, 3a incl. 2a, 3c, 4b und 4c incl. 4a erteilt worden wäre. Denn selbst dann fehlte es hinsichtlich der Regelungen in §§ 2, 3 BV Besetzung an einem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG.
32
a) Besteht – wie vorliegend – zwischen den Betriebsparteien Streit darüber, ob die Arbeitnehmer durch psychische Belastungen bei der Arbeit gefährdet sind, müssen sie zunächst die Vorgaben für die nach § 5 Abs. 1 ArbSchG vom Arbeitgeber durchzuführende Beurteilung der Arbeitsbedingungen festlegen. Nach der Konzeption des Arbeitsschutzgesetzes ist die Gefährdungsbeurteilung das maßgebende Instrument, um von der Arbeit ausgehende Gefährdungen zu ermitteln. Je genauer und wirklichkeitsnäher im Betrieb die Gefährdungen anhand der jeweiligen Gefahrenquellen ermittelt und beurteilt werden, umso gezielter können konkrete Maßnahmen getroffen werden (vgl. BAG 8. Juni 2004 – 1 ABR 4/03 – zu B III 2 b aa der Gründe, BAGE 111, 48). Das dem Betriebsrat bei der Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung iSv. § 5 ArbSchG zustehende Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG umfasst die Klärung, inwieweit die Arbeitsbedingungen mehrerer Beschäftigter gleichartig sind und deshalb die Beurteilung eines Arbeitsplatzes oder einer Tätigkeit ausreicht (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 ArbSchG). Zudem müssen die Betriebsparteien regeln, mit welchen Methoden und Verfahren das Vorliegen und der Grad einer Gefährdung sowie die Dringlichkeit eines möglichen Handlungsbedarfs festgestellt werden sollen. Dies gilt auch für Gefährdungen, die mit psychischen Belastungen bei der Arbeit verbunden sind (vgl. § 5 Abs. 3 Nr. 6 ArbSchG). Die nach der gesetzlichen Konzeption mitbestimmte Ausgestaltung der für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung wesentlichen Grundlagen soll verhindern, dass später Streit über das angewandte Verfahren und die Methoden entstehen. Können die Betriebsparteien hierüber kein Einvernehmen erzielen, hat nach § 87 Abs. 2 BetrVG die Einigungsstelle zu entscheiden.
33
b) Grund und Ausmaß von Gefährdungen der Arbeitnehmer durch Arbeit können nicht durch die Einigungsstelle selbst geklärt werden. Diese ist weder die nach § 13 Abs. 1 ArbSchG verantwortliche Person für die Erfüllung der sich ua. aus § 5 ArbSchG ergebenden Pflichten des Arbeitgebers, noch können an sie Arbeitsschutzpflichten iSd. § 13 Abs. 2 ArbSchG delegiert werden. Daher ist es auch nicht ihre Aufgabe, die Beurteilung, ob Gefährdungen vorliegen, selbst vorzunehmen oder diese selbst durch Hinzuziehung von Sachverständigen zu ermitteln (vgl. BAG 28. März 2017 – 1 ABR 25/15 – Rn. 23, BAGE 159, 12). Die Einigungsstelle kann allerdings Sachverständige hinzuziehen, um sich zu den in Betracht kommenden Verfahren zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung sachkundig zu machen.
34
c) Daran gemessen waren die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG im Streitfall nicht gegeben. Es fehlt an einer – vorliegend zunächst erforderlichen – Gefährdungsbeurteilung iSv. § 5 Abs. 1 ArbSchG, die auf der Grundlage einer von den Beteiligten zuvor getroffenen Regelung über das Verfahren zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen durchgeführt wurde.
35
aa) Der „gutachterliche Bericht zur Arbeitssituation der Pflegekräfte … (Stationen 4a und 4b)“ von September 2013 genügt diesen Anforderungen schon deshalb nicht, weil er nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts von der Einigungsstelle selbst in Auftrag gegeben wurde. Diese sah es – wie im Protokoll der Einigungsstellensitzung vom 16. April 2013 angegeben – als ihren „Auftrag“ an, die gesundheitliche Gefährdungssituation der Beschäftigten näher zu analysieren. Ungeachtet dessen bezieht sich dieser Bericht zudem nur auf die Arbeitssituation der Pflegekräfte auf den beiden Stationen 4a und 4b und nicht auf die erst später eröffneten Stationen 3a/b und 3c.
36
bb) Das im Juni 2014 erstellte Gutachten wurde ebenfalls nicht in Vollzug einer von den Beteiligten zuvor (abstrakt) getroffenen Regelung über die Beurteilung der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte iSv. § 5 ArbSchG erstellt. Zwar haben die Beteiligten sich in Nr. 1 der Vereinbarung vom 14. März 2014 auf dessen Durchführung sowie der hierbei anzuwendenden Methode (teilnehmende Beobachtung mit integrierten kriteriengeleiteten Beobachtungsinterviews) geeinigt. Jedoch fehlt es an Festlegungen, welche Art von Gefährdungen – ausschließlich durch psychische Belastungen bedingte oder auch physische Gefährdungen – der Gutachter eruieren soll. Darüber hinaus enthält die Regelung in Nr. 1 der Vereinbarung keine Vorgaben, dass der Gutachter ggf. festgestellte Gefährdungen im Hinblick auf das mit ihnen verbundene Risiko (Eintrittswahrscheinlichkeit und Ausmaß eines möglichen Schadens) bewerten und eine sich hieraus ergebende Dringlichkeit eines Handlungsbedarfs bestimmen soll.
37
cc) Auch die „gutachterliche Stellungnahme“ durch Herrn Dr. R im Jahre 2016 erfolgte nicht auf der Grundlage einer zwischen den Betriebsparteien in Ausübung der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 5 ArbSchG getroffenen Vereinbarung. Vielmehr hatte die Einigungsstelle gegen die Stimmen der arbeitsgeberseitigen Beisitzer beschlossen, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Die an den Sachverständigen gerichtete Frage, aufgrund welcher Risikofaktoren bei der Arbeitssituation der Pflegekräfte von einer Gesundheitsgefährdung auszugehen ist, zeigt, dass dieser – entgegen der Annahme des Betriebsrats – von der Einigungsstelle hinzugezogen worden war, um den nach ihrer Ansicht hinsichtlich etwa bestehender Gefährdungen weiterhin aufklärungsbedürftigen Sachverhalt näher zu ermitteln. Der Umstand, dass die Personalleiterin der Arbeitgeberin im Nachgang zu dem durch Spruch getroffenen „Beweisbeschluss“ der Erteilung des Gutachtenauftrags an Herrn Dr. R zustimmte, ändert hieran nichts. Wie der Inhalt ihrer E-Mail vom 29. Juli 2016 zeigt, betraf dies lediglich die Person des Gutachters und die Höhe der Kosten. Das – vom Vorsitzenden der Einigungsstelle erbetene – Einverständnis sollte erkennbar lediglich einem späteren Streit über die durch die Einigungsstelle verursachten und vom Arbeitgeber nach § 76a Abs. 1 BetrVG zu tragenden Kosten vorbeugen.
38
4. Auf die von der Rechtsbeschwerde erhobenen Verfahrensrügen kommt es nach alledem nicht an.
Schmidt
K. Schmidt
Ahrendt
H. Schwitzer
Fritz |
bag_39-18 | 14.08.2018 | 14.08.2018
39/18 - Arbeitskampf - Streikbruchprämie als zulässiges Kampfmittel
Ein bestreikter Arbeitgeber ist grundsätzlich berechtigt, zum Streik aufgerufene Arbeitnehmer durch Zusage einer Prämie (Streikbruchprämie) von einer Streikbeteiligung abzuhalten.
Der Kläger ist bei dem beklagten Einzelhandelsunternehmen als Verkäufer vollzeitbeschäftigt. In den Jahren 2015 und 2016 wurde der Betrieb, in dem er eingesetzt ist, an mehreren Tagen bestreikt. Dazu hatte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di aufgerufen mit dem Ziel, einen Tarifvertrag zur Anerkennung regionaler Einzelhandelstarifverträge zu schließen. Vor Streikbeginn versprach der Arbeitgeber in einem betrieblichen Aushang allen Arbeitnehmern, die sich nicht am Streik beteiligen und ihrer regulären Tätigkeit nachgehen, die Zahlung einer Streikbruchprämie. Diese war zunächst pro Streiktag in Höhe von 200 Euro brutto (bei einer Teilzeitbeschäftigung entsprechend anteilig) und in einem zweiten betrieblichen Aushang in Höhe von 100 Euro brutto zugesagt. Der Kläger, der ein Bruttomonatseinkommen von 1.480 Euro bezog, folgte dem gewerkschaftlichen Streikaufruf und legte an mehreren Tagen die Arbeit nieder. Mit seiner Klage hat er die Zahlung von Prämien – insgesamt 1.200 Euro brutto – verlangt und sich hierfür vor allem auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. In der Zusage der Prämienzahlung an alle arbeitswilligen Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber liegt zwar eine Ungleichbehandlung der streikenden und der nicht streikenden Beschäftigten. Diese ist aber aus arbeitskampfrechtlichen Gründen gerechtfertigt. Der Arbeitgeber wollte mit der freiwilligen Sonderleistung betrieblichen Ablaufstörungen begegnen und damit dem Streikdruck entgegenwirken. Vor dem Hintergrund der für beide soziale Gegenspieler geltenden Kampfmittelfreiheit handelt es sich um eine grundsätzlich zulässige Maßnahme des Arbeitgebers. Für diese gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Danach war die ausgelobte Streikbruchprämie – auch soweit sie den Tagesverdienst Streikender um ein Mehrfaches überstieg – nicht unangemessen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. August 2018 – 1 AZR 287/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 18. Mai 2017 – 7 Sa 815/16 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachen vom 18. Mai 2017 – 7 Sa 815/16 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Leitsatz
Ein bestreikter Arbeitgeber ist grundsätzlich berechtigt, mittels Zahlung einer Streikbruchprämie einem Streikdruck zu begegnen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Zahlung einer Streikbruchprämie.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten – einem nicht tarifgebundenen Einzelhandelsunternehmen – in deren Betrieb in B als Verkäufer zu einer monatlichen Bruttovergütung iHv. 1.480,00 Euro vollzeitbeschäftigt. Er bekleidet das Amt des dort gewählten einköpfigen Betriebsrats und ist Ersatzmitglied im Personalausschuss des im Unternehmen gebildeten Gesamtbetriebsrats.
3
Der Betrieb wurde am 15. und 16. Oktober 2015, 12. November 2015, 5. Dezember 2015, 19. Dezember 2015, 6. Februar 2016, vom 8. bis 10. Februar 2016 sowie am 1. April 2016 bestreikt. Hierzu hatte die ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) mit dem Ziel aufgerufen, mit der Beklagten einen Tarifvertrag zur Anerkennung einschlägiger Einzelhandelstarifverträge zu schließen. Vor Beginn der von ver.di zunächst für den 15. und 16. Oktober 2015 angekündigten Streikmaßnahmen gab die Beklagte mit einem betrieblichen Aushang Folgendes bekannt:
„STREIKBRUCHPRÄMIE
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir erwarten, dass die Gewerkschaft ver.di in unserem Markt zum Streik aufrufen wird.
Sollte es in unserem Markt tatsächlich zu einem Streik an einem oder mehreren Tagen kommen und die Verkaufsfähigkeit des Marktes erheblich gefährdet sein, hat T entschieden, allen arbeitswilligen Mitarbeitern und Auszubildenden, die bei einem Streik ihrer regulären Tätigkeit nachgehen und nicht streiken, eine Prämie in Höhe von
200,00 EUR brutto je Streiktag (Vollzeit)
(Teilzeit wird stundenanteilig berechnet)
auszuzahlen.
Ihr Marktleiter wird dokumentieren, dass Sie an Stelle des Streiks gearbeitet haben und meldet dies an die Personalabteilung. Die Streikbruchprämie wird dann im Rahmen der nächsten monatlichen Gehaltsabrechnung ausgezahlt.“
4
Anfang November 2015 veröffentlichte die Beklagte folgenden Aushang:
„STREIKBRUCHPRÄMIE
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
es zeigt sich, dass es in einigen Märkten erneut zu Streikmaßnahmen kam und auch künftig mit weiteren Streiks zu rechnen ist. Wir möchten auch für mögliche neue Streiks eine Streikbruchprämie ausloben gemäß der nachfolgenden Regelung:
Sollte es in einem Markt tatsächlich zu einem Streik an einem oder mehreren Tagen kommen und die Verkaufsfähigkeit des Marktes erheblich gefährdet sein, hat T entschieden, allen arbeitswilligen Mitarbeitern und Auszubildenden, die bei einem Streik ihrer regulären Tätigkeit nachgehen und nicht streiken, eine Prämie in Höhe von
100,00 EUR brutto je Streiktag (Vollzeit)
(Teilzeit wird stundenanteilig berechnet)
auszuzahlen.
Diese Streikbruchprämie wird wieder je Streik und bis zur Mitteilung einer neuen Regelung gezahlt.
Ihr Marktleiter wird dokumentieren, dass Sie an Stelle des Streiks gearbeitet haben und meldet dies an die Personalabteilung. Die Streikbruchprämie wird dann im Rahmen der nächsten monatlichen Gehaltsabrechnung ausgezahlt.“
5
Am 16. Oktober 2015 nahm der Kläger entsprechend seiner der Beklagten mit Schreiben vom 8. Oktober 2015 mitgeteilten Ankündigung an einer Schulung des Personalausschusses des Gesamtbetriebsrats teil. Sein für diesen Tag fortgezahltes Entgelt umfasste keine Streikbruchprämie. An den anderen Streiktagen folgte er dem gewerkschaftlichen Streikaufruf und legte die Arbeit nieder.
6
Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst für den Tag seiner Schulungsteilnahme und mit späterer Klageerweiterung auch für die Tage, an denen er sich am Streik beteiligt hatte, die den nichtstreikenden Arbeitnehmern versprochenen Prämien iHv. 200,00 Euro (16. Oktober 2015), weiteren 200,00 Euro (15. Oktober 2015) und weiteren 800,00 Euro (12. November 2015, 5. Dezember 2015, 19. Dezember 2015, 6. Februar 2016, 8. bis 10. Februar 2016 sowie 1. April 2016) verlangt. Er hat sich hierbei auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und das Maßregelungsverbot sowie – betreffend den 16. Oktober 2015 – auch auf das betriebsverfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot gestützt.
7
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn
1.
200,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Dezember 2015,
2.
1.000,00 Euro brutto nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit,
zu zahlen.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger kann die begehrten Prämienzahlungen nicht auf eine in den betrieblichen Aushängen zu sehende Gesamtzusage (dazu allg. BAG 22. März 2017 – 5 AZR 424/16 – Rn. 13 mwN) stützen. Er erfüllt nicht deren Voraussetzungen. Eine Rechtsgrundlage für die streitbefangenen Zahlungen ist auch nicht durch die Gesamtzusage iVm. dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz oder durch das Maßregelungsverbot des § 612a BGB oder – was nur die für den 16. Oktober 2015 verfolgte Prämienzahlung betreffen könnte – durch das betriebsratsamtsbezogene Benachteiligungsverbot vermittelt.
11
I. Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen, die sich nach den Bedingungen der in der ausgelobten Streikbruchprämie liegenden Gesamtzusage bestimmen.
12
1. Das folgt für den 15. Oktober 2015, den 12. November 2015, den 5. Dezember 2015, den 19. Dezember 2015, den 6. Februar 2016, die Zeit vom 8. bis 10. Februar 2016 sowie den 1. April 2016 schon daraus, dass er an diesen Tagen dem gewerkschaftlichen Streikaufruf gefolgt ist und seine „reguläre Tätigkeit“ nicht erbracht hat. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die in den betrieblichen Aushängen verlautbarte „erhebliche Gefährdung der Verkaufsfähigkeit des Marktes“ als ein weiteres – kumulativ zur Nichtteilnahme am Streik gefordertes – anspruchsbegründendes Merkmal zu verstehen ist.
13
2. Auch hinsichtlich des 16. Oktober 2015 liegen die Voraussetzungen der Prämienzahlung nicht vor.
14
a) Der Kläger hat an diesem Tag in Ausübung seines Mandats als Ersatzmitglied des beim Gesamtbetriebsrat gebildeten Personalausschusses an einer Schulung teilgenommen. Hierfür war er nach § 37 Abs. 6 Satz 1 iVm. Abs. 2 BetrVG von seiner beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts befreit und hat Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts nach § 611 Abs. 1 BGB iVm. § 37 Abs. 6 und Abs. 2 BetrVG (vgl. zB BAG 29. April 2015 – 7 AZR 123/13 – Rn. 12 mwN).
15
aa) Dem steht nicht entgegen, dass der Betrieb an diesem Tag bestreikt worden ist. Ein Betriebsratsmitglied, das vor Beginn eines Arbeitskampfes für einen festliegenden Zeitraum von seiner beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts befreit war, verliert den Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nicht allein deswegen, weil während dieser Zeit der Beschäftigungsbetrieb bestreikt wurde. Ein Arbeitskampf schließt nicht aus, dass während Zeiten einer Arbeitsniederlegung erforderliche Betriebsratstätigkeit zu leisten ist. Das Betriebsverfassungsgesetz ist während eines Arbeitskampfs prinzipiell anzuwenden. Seine Einschränkungen bedürfen einer arbeitskampfrechtlichen Rechtfertigung (vgl. BAG 20. März 2018 – 1 ABR 70/16 – Rn. 35 f. mwN). Verrichtet dementsprechend ein Betriebsratsmitglied erforderliche Betriebsratstätigkeit, ist es grundsätzlich unerheblich, ob es sich am Streik beteiligt hätte, wäre es für diese Zeit nicht von seiner Arbeitspflicht befreit gewesen. Das gilt jedenfalls solange es nicht seine Teilnahme am Streik trotz der Arbeitsbefreiung erklärt oder sich tatsächlich am Streikgeschehen beteiligt (vgl. BAG 15. Januar 1991 – 1 AZR 178/90 – zu II 5 der Gründe, BAGE 67, 50).
16
bb) Soweit die Beklagte die Auffassung vertreten hat, die Schulungsteilnahme sei freiwillig und nicht erforderlich gewesen, schließt das die Annahme eines dem Grunde nach bestehenden Entgeltanspruchs gemäß § 611a Abs. 2 BGB iVm. § 37 Abs. 6 und Abs. 2 BetrVG nicht aus. Nach dem unwidersprochenen schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz hat er als einköpfiger Betriebsrat seine Teilnahme an der Schulung beschlossen und dies vor deren Beginn der Beklagten angezeigt. Diese hat ihm das Entgelt für diesen Tag (fort-)gezahlt. Der Sache nach hat sie damit die vor Beginn des Streiks feststehende Befreiung des Klägers von seiner Arbeitspflicht am 16. Oktober 2015 aufgrund einer erforderlichen amtsbezogenen Schulung und die Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruchs nicht in Abrede gestellt.
17
b) Diesen Anspruch hat die Beklagte vollständig erfüllt. Die dem Kläger für den 16. Oktober 2015 fortzuzahlende Vergütung umfasst nicht die in dem ersten betrieblichen Aushang zugesagte Streikbruchprämie.
18
aa) Arbeitsentgelt iSv. § 37 Abs. 2 BetrVG sind alle Vergütungsbestandteile, nicht dagegen Aufwendungsersatz. Eine dritte Kategorie von Zahlungen, also solche, die weder Aufwendungsersatz noch Arbeitsentgelt darstellt, ist der gesetzlichen Regelung des § 37 Abs. 2 BetrVG fremd (ausf. BAG 13. Juli 1994 – 7 AZR 477/93 – zu 1 b der Gründe, BAGE 77, 195). Entsprechend sind im Rahmen des Lohnausfallprinzips nach § 37 Abs. 2 BetrVG neben der Grundvergütung alle Zuschläge und Zulagen zu zahlen, die das Betriebsratsmitglied ohne Arbeitsbefreiung verdient hätte, insbesondere Zuschläge für Mehr-, Über-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, Erschwernis- und Sozialzulagen. Hierzu zählen, worauf die Revision richtig verweist, grundsätzlich auch Leistungen, die den tatsächlichen Arbeitsantritt voraussetzen (für eine tarifvertragliche sog. Antrittsgebühr BAG 13. Juli 1994 – 7 AZR 477/93 – aaO).
19
bb) Der Kläger unterfällt hingegen nicht dem Kreis der Anspruchsberechtigten, an die sich die ausgelobte Streikbruchprämie richtete. Unter Heranziehung der für eine Gesamtzusage maßgebenden Auslegungsgrundsätze (dazu ausf. zB BAG 24. Januar 2017 – 3 AZR 372/15 – Rn. 33) war die Sonderzahlung nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn ausschließlich denjenigen Arbeitnehmern versprochen, deren Arbeitspflicht an einem Streiktag nicht aus einem anderen Grund als dem der Teilnahme am Streik suspendiert war.
20
(1) Darauf deutet bereits die im jeweiligen betrieblichen Aushang formulierte Beschreibung des Adressatenkreises der „arbeitswilligen Mitarbeiter…, die bei einem Streik ihrer regulären Tätigkeit nachgehen und nicht streiken“ hin. Vor allem aber folgt dies aus dem Charakter der vor Beginn der Streikmaßnahmen zugesicherten Prämie. Sie richtete sich nur an Arbeitnehmer, die – dem erwarteten Streikaufruf nicht Folge leistend – tatsächlich während des Streiks ihre Arbeitsleistung erbringen. Die Beklagte hat sich, erkennbar für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, mit der Prämie keines Mittels allgemeiner Motivationssteigerung bedient, sondern wollte in der spezifischen Situation der Auseinandersetzung um einen Tarifvertragsschluss und eines vor diesem Hintergrund erwarteten Streiks dessen Folgen begrenzen. Eine Aufrechterhaltung des Betriebs trotz des Streiks vermochten nur diejenigen Arbeitnehmer zu gewährleisten, die ihrer Arbeitspflicht tatsächlich nachkommen konnten und hiervon nicht aus anderen Gründen – sei es Urlaub, Arbeitsunfähigkeit oder auch erforderliche Betriebsratstätigkeit – befreit waren.
21
(2) Dieses Verständnis der Streikbruchprämie verbietet sich im Hinblick auf die Freistellung wegen erforderlicher Betriebsratstätigkeit nicht wegen der Schutzbestimmungen des § 78 BetrVG.
22
(a) Nach dessen Satz 1 dürfen ua. die Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert werden. Weiterhin dürfen sie nach Satz 2 wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden. Eine Benachteiligung iSv. § 78 Satz 2 BetrVG ist – ohne dass es auf eine Benachteiligungsabsicht ankäme – jede Schlechterstellung im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern, die nicht auf sachlichen Gründen, sondern auf der Tätigkeit als Betriebsratsmitglied beruht (BAG 25. Juni 2014 – 7 AZR 847/12 – Rn. 29, BAGE 148, 299).
23
(b) Der Kläger wird als Betriebsratsmitglied, dessen Arbeitspflicht an dem Streiktag aus Gründen seiner Mandatstätigkeit suspendiert war, durch die „Vorenthaltung“ der Streikbruchprämie nicht wegen seiner Betriebsratstätigkeit gegenüber anderen Arbeitnehmern benachteiligt. Das Betriebsratsmitglied wird nicht anders behandelt als diejenigen Arbeitnehmer, die aus anderen Gründen von der Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt waren und deshalb ihre „reguläre Tätigkeit“ nicht erbracht haben.
24
II. Ein Anspruch auf die Prämienzahlungen wird nicht durch den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vermittelt.
25
1. Allerdings folgt das nicht aus der Begründung des Landesarbeitsgerichts. Dieses ist davon ausgegangen, die Streikbruchprämie aufgrund des ersten betrieblichen Aushangs sei zwar rechtswidrig; der Kläger habe aber keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht, weshalb er die Prämie nicht verlangen könne. Diese Argumentation vernachlässigt, dass der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwar für sich gesehen keine Anspruchsgrundlage bildet (ausf. BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 18 ff., BAGE 148, 139). Wendet jedoch ein Arbeitgeber einer nach bestimmten Kriterien definierten Gruppe von Arbeitnehmern eine Leistung zu und nimmt damit andere Arbeitnehmer hiervon aus, kann dies dazu führen, dass er verpflichtet ist, dem (Kreis der) ausgeschlossenen Arbeitnehmer die der Gruppe versprochene Leistung zu gewähren, wenn er bei der Festlegung der zugrunde liegenden Anspruchsvoraussetzungen gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt (vgl. BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 18, aaO). Voraussetzung für die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die Regelbildung des Arbeitgebers ist, dass dieser durch ein eigenes gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk oder eine eigene Ordnung geschaffen hat. Liegen einer Leistung bestimmte Voraussetzungen zugrunde, muss die vom Arbeitgeber damit selbst geschaffene Gruppenbildung gemessen am Zweck der Leistung sachlich gerechtfertigt sein (vgl. etwa BAG 22. Januar 2009 – 8 AZR 808/07 – Rn. 35 mwN). Das ist der Fall, wenn die Differenzierungsgründe unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Leistung auf vernünftigen, einleuchtenden Erwägungen beruhen und nicht gegen verfassungsrechtliche Wertentscheidungen oder gesetzliche Verbote verstoßen. Rechtsfolge einer Verletzung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ist dann die Korrektur der arbeitgeberseitig bestimmten gleichbehandlungswidrigen Voraussetzung. Die sachlich nicht gerechtfertigte Gruppenbildung führt im Ergebnis zu einer Anpassung dieses Merkmals durch ein gleichbehandlungskonformes. Der Arbeitnehmer, der ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt wurde, kann die Leistung, von der er nach der Regelbildung des Arbeitgebers wegen Nichterfüllung des gleichbehandlungswidrigen Tatbestandsmerkmals ausgeschlossen war, von diesem verlangen, wenn es keine weiteren Voraussetzungen gibt oder etwaige weitere Voraussetzungen von ihm erfüllt werden (BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 22 f. mwN, aaO).
26
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Beklagte nicht zu den Prämienzahlungen verpflichtet.
27
a) Für die Prämie ist der Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes eröffnet. Die Beklagte hat diese als freiwillige Leistung nach einem selbstbestimmten generalisierenden Prinzip zugesagt und in zweifacher Hinsicht eine Gruppenbildung vorgenommen. Sie hat zum einen unterschieden zwischen streikenden und nichtstreikenden Arbeitnehmern und zum anderen zwischen denjenigen Arbeitnehmern, deren Arbeitspflicht an einem Streiktag von vornherein aus anderen als streikbedingten Gründen suspendiert war, und denjenigen, bei denen das nicht der Fall war.
28
b) Aus der Ausgestaltung der Prämie ergibt sich deren Zweck. Die Beklagte wollte die zur Arbeitsleistung verpflichteten Arbeitnehmer mittels einer finanziellen Leistung dazu anhalten, sich an einem von ihr aufgrund der Tarifauseinandersetzung mit ver.di konkret erwarteten Streik nicht zu beteiligen, also von der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Möglichkeit zur Teilnahme an dieser Arbeitskampfmaßnahme (zur Beteiligung aller vom Streikaufruf angesprochenen Arbeitnehmer BAG 22. März 1994 – 1 AZR 622/93 – zu II 3 a der Gründe mwN, BAGE 76, 196) keinen Gebrauch zu machen. Mit ihrem Versprechen einer Sonderleistung für diejenigen Arbeitnehmer, die einem gewerkschaftlichen Streikaufruf („Sollte es … tatsächlich zu einem Streik … kommen …“) nicht folgend weiter ihre Arbeitsleistung erbringen, sollte – als Streikabwehrmaßnahme – betrieblichen Ablaufstörungen entgegengewirkt und damit letztlich die Streikwirkung begrenzt werden.
29
c) Gemessen an diesem Zweck sind die Gruppenbildungen aus arbeitskampfrechtlichen Gründen zulässig. Eine Prämie, mit der ein bestreikter Arbeitgeber die zum Arbeitskampf aufgerufenen Arbeitnehmer von der Beteiligung am Streik abzuhalten und seinen Betrieb aufrechtzuerhalten sucht, ist kein generell unzulässiges Kampfmittel. Es erweist sich auch in der hier von der Beklagten ausgelobten Gestaltung nicht als unzulässig.
30
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats muss der Arbeitgeber die Folgen einer gegen ihn gerichteten arbeitskampfbedingten Arbeitsniederlegung nicht hinnehmen. Er kann vielmehr versuchen, durch Gegenmaßnahmen die Folgen der streikbedingten Betriebsstörung zu begrenzen. Solche Maßnahmen sind durch die Arbeitsniederlegung bedingt und Teil des Systems von Druck und Gegendruck, das den Arbeitskampf kennzeichnet (vgl. BAG 20. März 2018 – 1 ABR 70/16 – Rn. 41 mwN). Das während einer Auseinandersetzung um den Abschluss eines Tarifvertrags erfolgte arbeitgeberseitige Versprechen einer finanziellen Zusatzleistung mit dem Ziel, die zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer von der Beteiligung am Streik abzuhalten („echte“ Streikbruchprämie, vgl. von Hoyningen-Huene in Anm. zu AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 127), stellt eine Arbeitskampfmaßnahme dar. Der Arbeitgeber nimmt Einfluss auf das Arbeitskampfgeschehen, indem er streikbedingte betriebliche Ablaufstörungen zu minimieren und damit die Wirksamkeit des gewerkschaftlichen Arbeitskampfmittels zur Druckausübung abzuschwächen versucht.
31
bb) Aus dem Umstand, dass eine Streikbruchprämie ein in einer kampfweisen Auseinandersetzung um einen Tarifvertrag eingesetztes Mittel der Arbeitgeberseite zur Begrenzung von Folgen eines Streiks ist, folgt nicht zwangsläufig deren Zulässigkeit.
32
(1) Das Arbeitskampfrecht ist weitgehend durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts richterrechtlich – auf der Grundlage des Art. 9 Abs. 3 GG und auf der Ebene einfachen Gesetzesrechts – geregelt (vgl. BVerfG 10. September 2004 – 1 BvR 1191/03 – Rn. 16). Zentraler Maßstab für die Beurteilung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Arbeitskampfs ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn. Das betrifft nicht nur auf die Erzwingung eines Tarifvertragsabschlusses gerichtete gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen (dazu ausf. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 41 ff. mwN, BAGE 132, 140; 19. Juni 2007 – 1 AZR 396/06 – BAGE 123, 134), sondern ebenso hiergegen gerichtete Kampfmittel der anderen (möglichen) Tarifvertragspartei (dazu zB Greiner NJW 2010, 2977; kritisch Däubler/Rödl Arbeitskampfrecht 4. Aufl. § 21 Rn. 43 ff.). Dabei ist nicht entscheidend, ob es sich um von einem Arbeitgeberverband getragene Abwehr- oder Verteidigungsaktionen gegen einen auf den Abschluss eines Verbandstarifvertrags gerichteten Streik handelt oder um gegen die Erzwingung eines Haustarifvertrags (auch bezeichnet als Firmen- oder Unternehmenstarifvertrag) gerichtete Maßnahmen eines nicht verbandsangehörigen Arbeitgebers. Letzterer kann selbst Tarifvertragspartei sein (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 TVG). Demzufolge gelten die Grundsätze des Arbeitskampfrechts auch für Arbeitskämpfe um den Abschluss eines Tarifvertrags mit einem Außenseiter-Arbeitgeber (vgl. BVerfG 2. März 1999 – 1 BvR 1213/85 – zu C II 2 b der Gründe, BVerfGE 88, 103).
33
(2) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert eine Würdigung, ob ein Kampfmittel zur Erreichung eines rechtmäßigen Kampfziels geeignet und erforderlich ist und bezogen auf das Kampfziel angemessen (proportional) eingesetzt wird (BVerfG 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09 – Rn. 25 mwN).
34
(a) Geeignet ist ein Kampfmittel, wenn durch seinen Einsatz die Durchsetzung des Kampfziels, das auf Arbeitgeberseite typischerweise auf den Nichtabschluss des verlangten Tarifvertrags oder auf den Abschluss eines inhaltlich anderen Tarifvertrags gerichtet ist, gefördert werden kann. Dabei kommt den einen Arbeitskampf führenden Koalitionen – und im Fall eines Arbeitskampfes um einen Firmentarifvertrag dem nicht verbandsgebundenen Arbeitgeber – eine Einschätzungsprärogative zu. Diese durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Freiheit in der Wahl der Arbeitskampfmittel (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 42, BAGE 132, 140) steht bei der die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichernden Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts auch dem einzelnen Arbeitgeber zu.
35
(b) Erforderlich ist ein Kampfmittel, wenn mildere Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels nach der Beurteilung der den Arbeitskampf Führenden nicht zur Verfügung stehen. Auch insoweit umfasst Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich deren Einschätzung, ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels das gewählte Mittel für erforderlich oder andere Mittel für ausreichend erachten. Die Grenze bildet der Rechtsmissbrauch (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 43, BAGE 132, 140).
36
(c) Verhältnismäßig im engeren Sinn (proportional) ist ein Arbeitskampfmittel, das sich unter hinreichender Würdigung der grundrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit zur Erreichung des angestrebten Kampfziels unter Berücksichtigung der Rechtspositionen der von der Kampfmaßnahme unmittelbar oder mittelbar Betroffenen als angemessen darstellt. Insoweit steht einer Arbeitskampfpartei zwar keine Einschätzungsprärogative zu. Allerdings ist in die notwendige rechtliche Abwägung einzustellen, dass es gerade Wesen einer Arbeitskampfmaßnahme ist, Druck zur Erreichung eines legitimen Ziels auszuüben. Unverhältnismäßig ist ein Arbeitskampfmittel daher erst, wenn es sich auch unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs als unangemessene Beeinträchtigung gegenläufiger, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen darstellt (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 44, BAGE 132, 140). Bei dieser Beurteilung kann von Bedeutung sein, ob das Kampfmittel mit eigenen Opfern verbunden ist und ob dem Gegner effektive Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ein Arbeitskampfmittel, das frei von eigenen Risiken eingesetzt werden kann und zugleich dem Gegner keine Verteidigungsmöglichkeiten lässt, gefährdet typischerweise die Verhandlungsparität. Nach der Rechtsordnung ist keiner Seite ein so starkes Kampfmittel zugebilligt, dass dem Gegenspieler keine wirksame Reaktionsmöglichkeit bleibt, sondern die Chancen auf die Herbeiführung eines angemessenen Verhandlungsergebnisses zerstört werden (vgl. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 46, aaO).
37
cc) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Streikbruchprämie kein generell unzulässiges Kampfmittel.
38
(1) Die Prämie ist nicht von vornherein ungeeignet, das von der Arbeitgeberseite verfolgte Ziel – die Abwehr oder Milderung der Folgen eines Streiks – zu erreichen. Der durch eine kollektive Arbeitsniederlegung ausgeübte Druck auf die Arbeitgeberseite als Tarifvertragspartei ist umso geringer, je weniger Arbeitnehmer einem Streikaufruf folgen. Die Wahl des Mittels, welches der Arbeitgeber für diesen Zweck für geeignet hält, unterliegt in der jeweiligen konkreten Arbeitskampfsituation seiner Einschätzungsprärogative.
39
(2) Die Prämie ist kein offensichtlich nicht erforderliches Mittel, um dem Druck, der durch einen Streik ausgeübt werden könnte, entgegenzuwirken. Ein Arbeitgeber, demgegenüber von Seiten der Gewerkschaft Streikmaßnahmen konkret in Aussicht gestellt werden, muss mit der Auslobung der Streikbruchprämie auch nicht warten, bis ein Streik tatsächlich begonnen hat. Soll mit dem Zahlungsversprechen der Druckausübung durch einen Streik begegnet werden, ist es ohnehin kein milderes Mittel, hiermit bis zum Beginn der kollektiven Arbeitsniederlegung zuzuwarten. Zudem ist es den Tarifpartnern grundsätzlich unbenommen, schon vor der kampfweisen Auseinandersetzung ihre Kampfmittel offenzulegen (ErfK/Preis 18. Aufl. § 612a BGB Rn. 16).
40
(3) Eine Streikbruchprämie ist nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne.
41
(a) Mit ihr ist keine unangemessene Beeinträchtigung der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition der streikführenden Gewerkschaft verbunden. Der Arbeitgeberstrategie, Streikdruck durch finanzielle Anreize an nichtstreikende Arbeitnehmer zu minimieren, ist die zum Streik aufrufende Gewerkschaft nicht in dem Sinn wehrlos ausgesetzt, dass der von ihr getragene Streik strukturell sinnentleert würde. Sie kann vielmehr – für ihre Forderungen werbend – auf zum Streik aufgerufene Arbeitnehmer einwirken und versuchen, sie trotz zugesagter Streikbruchprämie für eine Teilnahme am gewerkschaftlichen Streik zu gewinnen. Des Weiteren kann sie ihre Kampftaktik auf eine Streikbruchprämienauslobung einstellen und etwa eine gezielte Rotation der tatsächlich die Arbeit niederlegenden Arbeitnehmer organisieren, um die Selbstschädigung der Streikenden zu mildern und eine Abschöpfung der ausgelobten Prämie als Schädigung des Arbeitgebers zu bewirken. Es erscheint im Übrigen nicht ausgeschlossen, dass bei einer solchen in der Belegschaft kommunizierten, solidarischen „Prämienrotation“ der vom Streikaufruf erfassten Arbeitnehmer deren Streikbereitschaft prinzipiell gesteigert werden könnte. Hinzu kommt, dass sich der Arbeitgeber mit der Streikbruchprämie keines Arbeitskampfmittels bedient, welches für ihn ohne Folgewirkungen wäre. Die Prämie ist mit finanziellen Aufwendungen verbunden. Weiterhin besteht das Risiko, im Fall eines Tarifvertragsabschlusses aufgrund einer vereinbarten sog. Maßregelungsklausel die Prämienzahlungen auch streikenden Arbeitnehmern (nachträglich) gewähren zu müssen (vgl. zB BAG 13. Juli 1993 – 1 AZR 676/92 – BAGE 73, 320).
42
(b) Die Höhe der Streikbruchprämie – und deren Verhältnis zum Verdienst der zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer – ist für sich gesehen bei der Angemessenheitsprüfung des Arbeitskampfmittels regelmäßig kein geeignetes Kriterium (im Ergebnis offenlassend – BAG 13. Juli 1993 – 1 AZR 676/92 – zu III 1 d und 2 der Gründe, BAGE 73, 320). Zum einen kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die gegen eine Streikbruchprämie mögliche Abwehrstrategie einer Gewerkschaft umso wirkungsvoller erscheinen dürfte, je höher die Prämie im Verhältnis zum Verdienst ausfällt und sie – wie vorliegend – für jeden einzelnen Streiktag zugesagt ist. Zum anderen unterliegt eine Streikbruchprämie, worauf bereits das Arbeitsgericht verwiesen hat, einem ökonomisch-selbstregulierenden Effekt. Ein Arbeitgeber wird das Streikbruchprämienversprechen typischerweise nicht so ausgestalten, dass ihn die streikbedingten Sonderzahlungen finanziell stärker belasten als ein Nachgeben gegenüber den Forderungen der streikführenden Gewerkschaft. Ungeachtet dessen bewirkt auch eine gegenüber dem Entgeltanspruch der zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer sehr hohe Streikbruchprämie nur einen Anreiz und keinen Zwang, nicht am gewerkschaftlichen Streik teilzunehmen. Insoweit ist die Gewerkschaft dem Arbeitskampfmittel nicht in dem Sinne ausgesetzt, dass ihre Chancen zur Herbeiführung eines angemessenen Verhandlungsergebnisses von vornherein als ausgeschlossen erscheinen.
43
(4) Der Zulässigkeit einer Prämie mit dem Zweck, Arbeitnehmer in einer konkreten Arbeitskampfsituation von Arbeitsniederlegungen abzuhalten oder streikende Arbeitnehmer während des Arbeitskampfes zur Wiederaufnahme der Arbeit zu veranlassen, stehen weder Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG noch § 138 Abs. 1 BGB entgegen (aA Däubler/Rödl Arbeitskampfrecht 4. Aufl. § 21 Rn. 195 ff.).
44
(a) In einem nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Verhalten – im Sinn der die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichernden einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts – liegt keine nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtige Abrede oder rechtswidrige Maßnahme (vgl. nur M. Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck GG 7. Aufl. Art. 9 Rn. 185 ff. mwN). Arbeitskampfmaßnahmen ist es immanent, dass sie die durch die Tarifvertragsfreiheit geschützte Entscheidungsfreiheit der Gegenseite durch Zufügung von Schäden oder den Erfolg gegnerischer Kampfmaßnahmen abwehrenden Verhalten zu beeinflussen versuchen.
45
(b) Deshalb folgt die Unzulässigkeit der als Kampfmaßnahme kollektivrechtlich zu beurteilenden Streikbruchprämie nicht aus dem Umstand, dass der individualrechtliche Anspruch des einzelnen Arbeitnehmers auf Prämienzahlung dessen Nichtteilnahme am Streik voraussetzt. Es steht in der Beurteilung des zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmers, ob er sein Recht auf Beteiligung am Arbeitskampf in Anbetracht der zugesagten Streikprämie im Einzelfall nicht ausübt (vgl. Belling NZA 1990, 214, 219).
46
ee) Danach hat sich die Beklagte mit der von ihr zugesagten Streikbruchprämie keines unzulässigen Kampmittels bedient. Die Prämie ist auch im konkreten Arbeitskampf und in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht unverhältnismäßig im engeren Sinn.
47
(1) Das gilt zum einen im Hinblick auf die Höhe der Streikbruchprämie von (bei Vollzeitbeschäftigung) täglich 200,00 Euro und später 100,00 Euro. Selbst wenn man davon ausgeht, dass damit Streikbrucharbeit in starkem Maß gefördert gewesen sein dürfte, ist nicht ersichtlich, dass hiervon ein Zwang auf die zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer ausgeht, dem die streikführende Gewerkschaft wehrlos ausgesetzt gewesen wäre.
48
(2) Es gilt zum anderen im Hinblick auf das von ver.di verfolgte Ziel der Durchsetzung eines Tarifvertragsschlusses mit der nicht verbandsangehörigen Beklagten. Zwar dürfte eine kampfführende Gewerkschaft bei einem Streik mit dem Ziel des Abschlusses eines Haustarifvertrags von einer seitens des einzelnen Arbeitgebers ausgelobten Streikbruchprämie typischerweise stärker betroffen sein als bei einem auf die Erzwingung eines Verbandstarifvertrags gerichteten Streik. Das gilt jedenfalls dann, wenn eine Streikbruchprämie als – verbandsgetragenes – Kampfmittel nicht von allen verbandsorganisierten Arbeitgebern gewährt wird. Auch in der kampfweisen Auseinandersetzung mit dem „Außenseiter-Arbeitgeber“ sind jedoch die Maßnahmen, mit denen dieser dem Streikdruck standhalten oder ihm begegnen will, nicht limitiert. Zudem ist die Prämie mit Aufwendungen des sie als Kampfmittel einsetzenden Außenseiter-Arbeitgebers verbunden und nicht völlig frei von den oben angeführten – dann auch nicht verbandsgetragenen – Risiken.
49
(3) Die selbstschädigende Wirkung der konkret ausgelobten Streikbruchprämie ist schließlich nicht deshalb relativiert, weil sich das Prämienversprechen von vornherein nur an die Arbeitnehmer gewandt hat, deren Arbeitspflicht nicht aus anderen als streikbedingten Gründen suspendiert war. Auch unter Berücksichtigung dieses Umstandes hat sich die Beklagte keines Kampfmittels ohne jegliches Opfer und Risiko bedient.
50
ff) Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung steht einer Streikbruchprämie der hier streitbefangenen Art als zulässiges Kampfmittel nicht Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen.
51
(1) Bei der Anwendung und Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes ist die EMRK als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 128, BVerfGE 137, 273). Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, deren Gewährleistungen und ihrer Zusatzprotokolle zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung mittels einer konventionsfreundlichen Auslegung einzupassen. In diesem Rahmen sind als Auslegungshilfe auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Dies beruht auf der Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung der EMRK auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt (vgl. BVerfG 18. August 2013 – 2 BvR 1380/08 – Rn. 27 f.; BAG 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14 – Rn. 74, BAGE 155, 347). Eine Heranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung oder vollständige Harmonisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen ihrer Wertungen (vgl. BVerfG 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 – Rn. 126).
52
(2) Vorliegend ist die durch Art. 11 EMRK geschützte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das damit verbundene Streikrecht (vgl. dazu zB EGMR 21. April 2009 – 68959/01 – [Enerji Yapi-Yol Sen]) zu berücksichtigen. Der EGMR hat mit den Entscheidungen zu Art. 11 EMRK verdeutlicht, dass an die Rechtfertigung einer Einschränkung der Vereinigungsfreiheit und des damit verbundenen Streikrechts nicht unerhebliche Anforderungen zu stellen sind (vgl. BAG 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 – Rn. 130, BAGE 143, 354).
53
(3) Durch die Zulässigkeit einer Streikbruchprämie als gegen einen Streik gerichtetes arbeitgeberseitiges Kampfmittel wird das Streikrecht nicht unverhältnismäßig beschränkt. Gegenteiliges lässt sich der vom Kläger angeführten Entscheidung des EGMR in der Sache „Wilson, National Union of Journalists u.a. / Großbritannien“ nicht entnehmen. In dieser Rechtssache hat der EGMR in der Rechtsprechung britischer Gerichte, die es gebilligt hat, dass ein Arbeitgeber den Beschäftigten beträchtliche Gehaltserhöhungen dafür anbieten darf, dass diese der Beendigung der Anwendung der bisher geltenden Tarifverträge auf ihr Arbeitsverhältnis sowie des Systems kollektiven Verhandelns und gewerkschaftlicher Vertretung zustimmen, eine Verletzung von Art. 11 EMRK gesehen (EGMR 2. Sektion 2. Juli 2002 – 30668/96, 30671/96, 30678/96 -). Mit einer solchen Sachlage des höheren Entgelts bei einem Gewerkschaftsaustritt oder einem Verzicht auf wesentliche Gewerkschaftsrechte ist die in einer konkreten kampfweisen Auseinandersetzung versprochene Streikbruchprämie nicht vergleichbar. Die Streikbruchprämie – in der hier vorliegenden Gestaltung – bezweckt nicht, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, einer Gewerkschaft beizutreten oder eine solche zu gründen. Ebenso wenig zielt sie darauf, einen Streik zu verbieten oder den Einzelnen auf Dauer von der Teilnahme an einem Streik und damit der Ausübung seines Streikrechts abzuhalten. Im Übrigen sind die Tarifvertragsparteien vorliegend – anders als in der vom EGMR entschiedenen Rechtssache – im Zeitpunkt der Auslobung eines finanziellen Anreizes durch die Beklagte in einer Phase kollektiven Verhandelns gewesen. Der finanzielle Vorteil der Prämie für nichtstreikende Arbeitnehmer war von vornherein auf die Dauer des Streiks begrenzt. Dem Wortlaut des Art. 11 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR lässt sich kein Verbot bestimmter Kampfmittel entnehmen.
54
III. Es kann dahinstehen, inwieweit der von dem Kläger – ergänzend – geltend gemachte Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB eine eigenständige Anspruchsgrundlage für die streitgegenständlichen Forderungen bilden würde. Die Prämiengestaltung der hier streitbefangenen Art mit ihrer zulässigen Differenzierung zwischen streikenden und nichtstreikenden Arbeitnehmern stellt von vornherein keine Maßregelung iSv. § 612a BGB dar (vgl. auch BAG 31. Mai 2005 – 1 AZR 254/04 – zu II 2 c cc der Gründe, BAGE 115, 68; 13. Juli 1993 – 1 AZR 676/92 – zu IV 1 der Gründe, BAGE 73, 320).
Schmidt
Treber
K. Schmidt
N. Schuster
Benrath |
bag_39-19 | 19.11.2019 | 19.11.2019
39/19 - Saisonarbeitsverhältnis - Beschäftigung während der Badesaison
Die Vereinbarung einer auf die Badesaison begrenzten Beschäftigung im unbefristeten Arbeitsvertrag eines in einem Freibad beschäftigten Arbeitnehmers kann jedenfalls dann wirksam sein, wenn für den Arbeitnehmer außerhalb der Badesaison kein Beschäftigungsbedarf besteht.
Der Kläger war seit Juli 2000 bei der beklagten Gemeinde tätig. Nach dem Arbeitsvertrag vom 1. April 2006 wird der Kläger als vollbeschäftigter Arbeitnehmer jeweils für die Saison vom 1. April bis zum 31. Oktober eines Kalenderjahres eingestellt. Der Kläger wurde seitdem in den Monaten April bis Oktober eines jeden Jahres beschäftigt und vergütet. Die Beschäftigung erfolgte nahezu ausschließlich im gemeindlichen Freibad als Badeaufsicht sowie mit der Reinigung und Pflege des Schwimmbads. Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger die Feststellung begehrt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch Befristungsabrede vom 1. April 2006 am 31. Oktober 2016 aufgelöst wurde und dass das Arbeitsverhältnis über den 31. Oktober 2016 hinaus als unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Siebten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Parteien haben in dem Vertrag vom 1. April 2006 nicht eine Vielzahl befristeter Arbeitsverhältnisse für die künftigen Jahre vereinbart. Vielmehr ist das Arbeitverhältnis unbefristet, lediglich die Arbeits- und Vergütungspflicht ist auf die Monate April bis Oktober eines jeden Jahres begrenzt. Diese Vereinbarung ist wirksam. Der Kläger wird dadurch nicht nach § 307 Abs. 1 BGB unangemessen benachteiligt, da die Beklagte bei Abschluss des Arbeitsvertrags davon ausgehen durfte, nur während der Badesaison Beschäftigungsbedarf für den Kläger zu haben.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. November 2019 – 7 AZR 582/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 5. Oktober 2017 – 15 Sa 184/17 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 5. Oktober 2017 – 15 Sa 184/17 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund Befristung am 31. Oktober 2016 geendet hat und ob die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger nicht nur von April bis Oktober, sondern auch in den Monaten November bis März eines jeden Jahres zu beschäftigen und zu vergüten.
2
Der am 14. Juli 1955 geborene und mit einem GdB von 60 schwerbehinderte Kläger war ab dem 1. Juli 2000 bei der beklagten Gemeinde tätig. § 1 des Arbeitsvertrags vom 5. Juli 2000 lautet:
„§ 1
Herr H wird ab 01. Juli 2000 als vollbeschäftigter Angestellter auf unbestimmte Zeit eingestellt.
Während der Badesaison sind die Aufgaben der Badeaufsicht für das Freibad B sowie die Reinigung und Pflege der Anlagen des Schwimmbades wahrzunehmen.
Außerhalb der Badesaison sowie bei witterungsbedingter Schließung bzw. Einschränkung des Badebetriebes innerhalb der Badesaison sind zusätzlich die laufenden Unterhaltungs- und Pflegearbeiten der gemeindlichen Grünflächen und Anlagen gem. besonderer Weisung des Bürgermeisters durchzuführen.
In dringenden Fällen hat der Angestellte auf Anordnung des Arbeitgebers darüber hinaus Arbeit zu leisten.“
3
Mit Schreiben vom 27. September 2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31. Dezember 2005 und bot dem Kläger gleichzeitig ein Arbeitsverhältnis als Saisonarbeitnehmer an.
4
Am 1. April 2006 schlossen die Parteien einen neuen Arbeitsvertrag, der ua. folgende Bestimmungen enthält:
„§ 1
Herr H wird als vollbeschäftigter Arbeitnehmer jeweils für die Saison vom 01.04. bis 31.10. eines Kalenderjahres eingestellt.
In dringenden Fällen hat der Arbeitnehmer auf Anordnung des Arbeitgebers darüber hinaus Arbeit zu leisten.
§ 2
Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) jeweils geltenden Fassung. …“
5
Seither war der Kläger fast ausschließlich im Freibad der Beklagten tätig. Dort war er während der Badesaison von Mai bis September mit den Aufgaben der Badeaufsicht sowie mit der Reinigung und Pflege der Anlagen des Schwimmbades betraut; in den Monaten April und Oktober nahm der Kläger die sich aus dem Badebetrieb ergebenden Vor- und Nachbereitungsarbeiten vor. Die Parteien schlossen im Jahr 2006 einen Änderungsvertrag, wonach der Kläger „einmalig bis zum 31.12.2006 eingestellt“ wurde, und in den Jahren 2013 bis 2015 jeweils Änderungsverträge über eine Einstellung des Klägers bis zum 30. November des jeweiligen Jahres. In dieser Zeit erbrachte der Kläger keine Arbeitsleistungen, sondern erhielt Freizeitausgleich für zuvor geleistete Überstunden. Mit Aufgaben am Bauhof wurde der Kläger nur in der Zeit vom 20. Juni bis zum 3. Juli 2016 sowie vom 3. April bis zum 26. Juni 2017 tage- oder stundenweise beschäftigt, als im Freibad kein Beschäftigungsbedarf bestand. Zuvor hatte die Beklagte zur Badesaison 2016 aufgrund der Vorgaben der Richtlinie 94.05 der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e.V. idF von April 2015 unbefristet eine Fachkraft für Bäderbetriebe eingestellt, die sie im Winter auf dem Bauhof beschäftigt, da sie aufgrund der Arbeitsmarktsituation eine Fachkraft nur mit der Zusage einer dauerhaften Beschäftigung gewinnen konnte.
6
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, zwischen ihm und der Beklagten bestehe ein durchgehendes unbefristetes Arbeitsverhältnis. Der Arbeitsvertrag sei nicht befristet. Sollte der Arbeitsvertrag nicht nur eine Suspendierung der Hauptpflichten vorsehen oder als Rahmenvertrag zu verstehen sein, sondern eine Befristung zum 31. Oktober 2016 enthalten, sei diese wegen Verstoßes gegen das Schriftformgebot in § 14 Abs. 4 TzBfG und wegen Fehlens eines sachlichen Grundes iSv. § 14 Abs. 1 TzBfG unwirksam. Eine etwaige Befristung sei insbesondere nicht wegen eines nur vorübergehenden betrieblichen Bedarfs an der Arbeitsleistung gerechtfertigt. Bei Vertragsschluss sei nicht die Prognose gerechtfertigt gewesen, dass der Beschäftigungsbedarf am 31. Oktober eines jeden Jahres ende. Gegen die Richtigkeit einer solchen Prognose sprächen die in den Jahren 2006 sowie 2013 bis 2015 geschlossenen Änderungsverträge. Die Einstellung der Fachkraft für Bäderbetriebe zeige, dass auch im Winter ein Beschäftigungsbedarf bestehe. Die mögliche Befristung verstoße außerdem gegen § 30 Abs. 2 TVöD.
7
Der Kläger hat beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch Befristungsabrede vom 1. April 2006 zum 31. Oktober 2016 aufgelöst wurde,
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis über den 31. Oktober 2016 hinaus als unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Arbeitsvertrag vom 1. April 2006 sei unbefristet. Sie habe sich darin verpflichtet, den Kläger vom 1. April bis 31. Oktober eines jeden Kalenderjahres als Saisonkraft zu beschäftigen. Da es zulässig sei, über viele Jahre hinweg befristete Saisonarbeitsverträge abzuschließen, müsse es auch möglich sein, in einem unbefristeten Arbeitsvertrag eine zeitlich begrenzte Beschäftigung als Saisonkraft zu vereinbaren. Die Beschäftigung sei nach dem Arbeitsvertrag auf die Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober beschränkt. Dies sei nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG gerechtfertigt, da bereits bei Vertragsschluss absehbar gewesen sei, dass ein betrieblicher Bedarf an der Arbeitsleistung des Klägers als Badeaufsicht nur in der Zeit vom 1. April bis 31. Oktober eines jeden Jahres bestehe. Im Bauhof gebe es keinen Beschäftigungsbedarf für den Kläger; der Kläger sei aus gesundheitlichen Gründen auch nicht in der Lage, die dort regelmäßig anfallenden schweren Arbeiten auszuführen.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger, der seit dem Jahr 2019 Altersrente bezieht, sein Begehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
10
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
11
I. Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen.
12
1. Bei dem Klageantrag zu 1. handelt es sich um einen Befristungskontrollantrag iSv. § 17 Satz 1 TzBfG, mit dem der Kläger geltend macht, die im Arbeitsvertrag vom 1. April 2006 vereinbarte Befristung zum 31. Oktober 2016 sei unwirksam. Der Klageantrag zu 2. ist als allgemeine Feststellungsklage iSv. § 256 Abs. 1 ZPO zu verstehen, die auf die Feststellung gerichtet ist, dass die Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis auch in der Zeit vom 1. November bis zum 31. März eines jeden Jahres bestehen. Dies ergibt die Auslegung des Klagebegehrens unter Heranziehung der Klagebegründung sowie unter Berücksichtigung des Klageziels und der Interessenlage des Klägers (zur Auslegung von Klageanträgen vgl. etwa BAG 25. April 2018 – 5 AZR 245/17 – Rn. 17 mwN; 4. November 2015 – 7 AZR 851/13 – Rn. 14).
13
a) Der Antrag zu 2. ist seinem Wortlaut nach zwar auf die Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses gerichtet. Der Kläger ist der Ansicht, dass eine Befristung des Arbeitsvertrags zum 31. Oktober 2016 nicht vereinbart worden sei. Für eine auf den unbefristeten Bestand des Arbeitsverhältnisses gerichtete allgemeine Feststellungsklage fehlte es jedoch an dem nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderlichen Feststellungsinteresse, da auch die Beklagte von einem unbefristeten Arbeitsverhältnis ausgeht. Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Kläger nach dem unbefristeten Arbeitsvertrag als Saisonkraft (nur) in der Zeit vom 1. April bis 31. Oktober eines jeden Jahres zu beschäftigen und zu vergüten ist und dass die Hauptleistungspflichten in der Zeit vom 1. November bis 31. März ruhen. Wie sich aus der Klagebegründung ergibt, geht es dem Kläger darum, während des gesamten Jahres – und nicht nur während der Freibadsaison – beschäftigt und vergütet zu werden. Er richtet sich damit gegen die Suspendierung der Hauptleistungspflichten in der Zeit vom 1. November bis zum 31. März.
14
b) Das Feststellungsbegehren ist nach dem Antragswortlaut („besteht“) gegenwartsbezogen. Der Klageantrag ist auch nicht deshalb mittlerweile als rein vergangenheitsbezogener Feststellungsantrag zu verstehen, weil dem Kläger während des Revisionsverfahrens Altersrente bewilligt wurde. Eine zeitliche Beschränkung des Feststellungsbegehrens bis zum Beginn des Rentenbezugs entspräche nicht der Interessenlage des Klägers, da das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht infolge des Bezugs der vorgezogenen Altersrente geendet hat. Nach § 33 Abs. 1 TVöD endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat. Versicherte, die im Jahr 1955 geboren sind, erreichen die Regelaltersgrenze gemäß §§ 35, 235 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 SGB VI im Alter von 65 Jahren und neun Monaten. Danach wird das Arbeitsverhältnis des am 14. Juli 1955 geborenen Klägers nach § 33 Abs. 1 TVöD erst am 30. April 2021 enden.
15
2. Mit diesem Inhalt ist die Klage insgesamt zulässig.
16
a) Der Zulässigkeit der Befristungskontrollklage steht nicht entgegen, dass die Beklagte sich nicht der Befristung und der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Oktober 2016 berühmt, sondern von einem unbefristeten Arbeitsverhältnis ausgeht. Für eine Befristungskontrollklage bedarf es keines besonderen Feststellungsinteresses (BAG 21. März 2017 – 7 AZR 369/15 – Rn. 10 mwN). Es besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis für den Klageantrag, da es bei objektiver Betrachtung zumindest nicht ausgeschlossen erscheint, die Vereinbarung der Parteien als Befristungsabrede zu verstehen (vgl. zur Kündigungsschutzklage BAG 22. Mai 1980 – 2 AZR 613/78 – zu A II 2 b der Gründe).
17
b) Der Antrag zu 2. erfüllt die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO.
18
aa) Die Klage ist auf die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtet. Eine Feststellungsklage muss sich nicht auf ein Rechtsverhältnis im Ganzen beziehen, sondern kann sich auch auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen sowie auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (BAG 25. April 2018 – 7 AZR 520/16 – Rn. 17 mwN). So liegt der Fall hier. Die Parteien streiten darüber, ob die Hauptleistungspflichten auch in der Zeit vom 1. November bis zum 31. März eines jeden Jahres bestehen.
19
bb) Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Interesse an der begehrten Feststellung liegt vor, da die Beklagte die Auffassung vertritt, den Kläger nur in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober beschäftigen und vergüten zu müssen.
20
II. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann die Klage allerdings nicht als unbegründet abgewiesen werden.
21
1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Parteien hätten mit der Vereinbarung in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags vom 1. April 2006 für eine unbegrenzte Anzahl von Jahren befristete Arbeitsverträge jeweils für die Saison vom 1. April bis zum 31. Oktober geschlossen. Die Befristung des Arbeitsvertrags zum 31. Oktober 2016 sei wirksam. Sie sei wegen eines nur vorübergehenden Bedarfs an der Arbeitsleistung des Klägers nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG gerechtfertigt. Der Bedarf an der Arbeitsleistung bestehe auch dann nur vorübergehend, wenn man auf den Beschäftigungsbedarf bei der Beklagten insgesamt abstelle und nicht nur auf den Beschäftigungsbedarf im Freibad. Die Parteien seien bei Abschluss des Arbeitsvertrags übereinstimmend davon ausgegangen, dass der Kläger in erster Linie im Freibad eingesetzt werden solle. So sei es auch geschehen. Die Beklagte habe bei Abschluss des Arbeitsvertrags davon ausgehen dürfen, dass der Beschäftigungsbedarf im Freibad auf die Monate April bis Oktober begrenzt sei, da das Freibad witterungsbedingt nur in den Monaten Mai bis September geöffnet sei und Vor- sowie Nachbereitungsarbeiten nur unmittelbar davor und danach in den Monaten April und Oktober anfielen. Die sporadische Tätigkeit des Klägers auf dem Bauhof und die Einstellung der Fachkraft für Bäderbetriebe stehe der Prognose eines fehlenden Beschäftigungsbedarfs in den Monaten November bis März nicht entgegen. Die Prognose eines vorübergehenden Beschäftigungsbedarfs werde auch durch die Änderungsverträge nicht in Frage gestellt, da die befristeten Einstellungen für den Monat November allein dem Zweck gedient hätten, dem Kläger Freizeitausgleich für zuvor erbrachte Überstunden zu gewähren.
22
2. Diese Würdigung ist nicht frei von Rechtsfehlern. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Parteien eine Befristung des Arbeitsvertrags zum 31. Oktober 2016 vereinbart haben. Der Arbeitsvertrag vom 1. April 2006 ist vielmehr unbefristet, lediglich die Hauptleistungspflichten sind nach § 1 Abs. 1 des Vertrags auf die Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres begrenzt. Dies ergibt die Auslegung des Arbeitsvertrags.
23
a) Die Auslegung der Abrede in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags richtet sich nach den für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Auslegungsregeln.
24
aa) Das Landesarbeitsgericht hat zwar keine Feststellungen dazu getroffen, ob es sich bei der Abrede in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung handelt, wofür die äußere Gestaltung der Vertragsurkunde spricht. Dies bedarf jedoch keiner weiteren Aufklärung, denn es handelt sich jedenfalls um eine Einmalbedingung iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB. Der Kläger konnte auf den Inhalt der vorformulierten Klausel in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags – wie die Parteivertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt haben – keinen Einfluss nehmen.
25
bb) Allgemeine Geschäftsbedingungen und Einmalbedingungen iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei nicht die Verständnismöglichkeiten des konkreten, sondern die des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind. Ansatzpunkt für die nicht am Willen der jeweiligen Vertragspartner zu orientierende Auslegung ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Ist dieser nicht eindeutig, kommt es für die Auslegung entscheidend darauf an, wie der Vertragstext aus Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen ist (BAG 12. Juni 2019 – 7 AZR 428/17 – Rn. 17; 8. Dezember 2010 – 7 AZR 438/09 – Rn. 21, BAGE 136, 270). Von Bedeutung für das Auslegungsergebnis sind ferner der von den Vertragsparteien verfolgte Regelungszweck sowie die der jeweils anderen Seite erkennbare Interessenlage der Beteiligten (BAG 7. Juli 2015 – 10 AZR 260/14 – Rn. 19, BAGE 152, 99). Ein übereinstimmender Parteiwille im Sinne einer gemäß § 305b BGB vorrangigen Individualabrede bleibt jedoch maßgeblich (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 509/15 – Rn. 15 mwN; BGH 3. Dezember 2014 – VIII ZR 224/13 – Rn. 31; für die Berücksichtigung als Auslegungsgrundsatz hingegen BAG 15. September 2009 – 3 AZR 173/08 – Rn. 27). Die Auslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen und von Einmalbedingungen iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB durch das Berufungsgericht unterliegt einer uneingeschränkten revisionsrechtlichen Nachprüfung (BAG 9. Dezember 2015 – 7 AZR 68/14 – Rn. 14; 8. Dezember 2010 – 10 AZR 671/09 – Rn. 15, BAGE 136, 294).
26
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Regelung in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags, wonach der Kläger als „vollbeschäftigter Arbeitnehmer jeweils für die Saison vom 01.04. bis 31.10. eines Kalenderjahres eingestellt“ wird, weder als Vereinbarung einer unbegrenzten Anzahl befristeter Saisonarbeitsverträge noch als Rahmenvertrag über den Abschluss befristeter Arbeitsverträge oder als Arbeitsvertrag für das Jahr 2006 verbunden mit der Zusage auf Abschluss entsprechender Arbeitsverträge in den Folgejahren auszulegen. Die Parteien haben damit vielmehr vereinbart, dass der Kläger auf der Grundlage eines unbefristeten Arbeitsvertrags nur während der Saison in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres als vollbeschäftigter Arbeitnehmer beschäftigt wird.
27
aa) Der Vertragswortlaut ist zwar nicht eindeutig. Der Formulierung in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags „… wird … jeweils für die Saison … eingestellt“ zwingt entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht zu der Annahme, die Parteien hätten eine unbegrenzte Anzahl befristeter Saisonarbeitsverträge geschlossen. Mit dem Begriff der „Einstellung“ kann umgangs- und fachsprachlich der Abschluss eines Arbeitsvertrags, aber auch der Beginn der tatsächlichen Beschäftigung im Betrieb gemeint sein. Daher ermöglicht der Wortlaut von § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags auch die Auslegung, dass die Parteien einen unbefristeten Arbeitsvertrag des Inhalts geschlossen haben, dass der Kläger nur jeweils in der Zeit vom 1. April bis 31. Oktober beschäftigt und vergütet wird und dass die Hauptleistungspflichten im Übrigen ruhen.
28
bb) Der Gesamtzusammenhang der Regelungen spricht jedoch dafür, die Klausel als Abrede über die Begrenzung der Hauptleistungspflichten auf die Saison auszulegen. Im Eingangssatz heißt es, zwischen den Parteien werde „folgender Arbeitsvertrag“ geschlossen. Die Verwendung des Singulars deutet darauf hin, dass die Parteien nur einen Arbeitsvertrag und nicht eine unbegrenzte Anzahl von befristeten Arbeitsverträgen abschließen wollten.
29
cc) Für dieses Verständnis sprechen auch der Regelungszweck und die Interessenlage der Parteien bei Abschluss des Arbeitsvertrags. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zwischen den Parteien bis zum 31. Dezember 2005 ein unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis bestand. Die Beklagte kündigte dieses Arbeitsverhältnis und bot dem Kläger ein Saisonarbeitsverhältnis an, um ihn zukünftig nur während der Badesaison beschäftigen und vergüten zu müssen. Dieser Zweck konnte durch die Vereinbarung, dass die Hauptleistungspflichten nur während der Badesaison bestehen und außerhalb der Saison ruhen, erreicht werden. Einer Befristung des Arbeitsvertrags bedurfte es dazu nicht. Ein weitergehendes Interesse der Beklagten an einer Befristung des Arbeitsvertrags ist nicht ersichtlich. Sie wollte den Kläger auch zukünftig als Bademeister im Freibad einsetzen. Der Kläger erhielt durch Abschluss des unbefristeten Arbeitsvertrags Planungssicherheit für die Folgejahre.
30
dd) Das Verhalten der Parteien nach Abschluss der Vereinbarung, das als Indiz für die Ermittlung des tatsächlichen Willens und Verständnisses der Parteien bei Vertragsschluss bedeutsam ist (BAG 15. September 2009 – 3 AZR 173/08 – Rn. 27; BGH 16. Juni 2009 – XI ZR 145/08 – Rn. 17, BGHZ 181, 278), bestätigt diese Auslegung. Die Parteien haben für die Folgejahre keine befristeten Arbeitsverträge abgeschlossen und im vorliegenden Rechtsstreit übereinstimmend die Auffassung vertreten, der Arbeitsvertrag enthalte keine Befristungsabrede, sondern eine Vereinbarung über die Suspendierung der Hauptleistungspflichten außerhalb der Saison.
31
III. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich aber aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar (§ 561 ZPO).
32
1. Der Befristungskontrollantrag ist mangels Befristungsabrede unbegründet.
33
a) Streitgegenstand einer Befristungskontrollklage nach § 17 Satz 1 TzBfG ist die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer zu einem bestimmten Zeitpunkt vereinbarten Befristung zu dem in dieser Vereinbarung vorgesehenen Termin (BAG 15. Februar 2017 – 7 AZR 153/15 – Rn. 11, BAGE 158, 116). Die begehrte Feststellung erfordert nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung eine Entscheidung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund Befristung. Ist keine Befristung vereinbart, geht die Befristungskontrollklage „ins Leere“ und ist damit unbegründet (BAG 30. August 2017 – 7 AZR 524/15 – Rn. 27, BAGE 160, 117; vgl. zur Kündigungsschutzklage: BAG 21. November 2013 – 2 AZR 474/12 – Rn. 20, BAGE 146, 333; 16. Januar 1987 – 7 AZR 546/85 -).
34
b) Danach ist der Befristungskontrollantrag unbegründet, da die Parteien in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags keine Befristung des Arbeitsvertrags zum 31. Oktober 2016 vereinbart haben.
35
2. Der auf die Feststellung des Bestehens der Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis auch in den Monaten November bis März eines jeden Jahres gerichtete Antrag zu 2. ist ebenfalls unbegründet. Die Parteien haben in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags vereinbart, dass die Hauptleistungspflichten jeweils nur in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober bestehen. Die Hauptleistungspflichten ruhen daher außerhalb dieses Zeitraums. Diese Vereinbarung ist wirksam.
36
a) Die Vertragsklausel ist nicht wegen Verletzung des Transparenzgebots nach § 307 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BGB unwirksam.
37
aa) Das Transparenzgebot verlangt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Vertragsklausel so genau beschrieben werden, dass für den Verwender der Klausel keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume entstehen und der Gefahr vorgebeugt wird, dass der Vertragspartner von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird (vgl. BAG 12. Juni 2019 – 7 AZR 428/17 – Rn. 26; 24. September 2008 – 6 AZR 76/07 – Rn. 30 mwN, BAGE 128, 73).
38
bb) Danach ist § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags nicht intransparent. Der Vertragsklausel lässt sich mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass der Kläger nur in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres als vollbeschäftigter Arbeitnehmer beschäftigt und vergütet werden soll. Zwar bestimmt § 1 Abs. 2 des Arbeitsvertrags, dass der Kläger in dringenden Fällen auf Anordnung des Arbeitgebers darüber hinaus Arbeit zu leisten hat. Dies kann jedoch nicht so verstanden werden, dass der Kläger verpflichtet sein soll, auch außerhalb des Zeitraums vom 1. April bis zum 31. Oktober eines Jahres auf Anordnung der Beklagten Arbeitsleistungen zu erbringen. Vielmehr wurde der Beklagten mit dieser Regelung das Recht eingeräumt, innerhalb der Saison vom 1. April bis zum 31. Oktober Überstunden anzuordnen. Dies war auch für den Kläger erkennbar, da bereits der Arbeitsvertrag vom 5. Juli 2000, der eine durchgehende Vollzeitbeschäftigung während des ganzen Jahres vorsah, eine solche Regelung enthielt.
39
b) Die Vertragsklausel hält auch einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 2 BGB stand.
40
aa) § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags ist am Maßstab des § 307 Abs. 1 Satz 1 iVm. Abs. 2 BGB zu messen. Die Abrede stellt eine von Rechtsvorschriften abweichende Regelung (§ 307 Abs. 3 Satz 1 BGB) dar. Nach § 611 Abs. 1 (seit dem 1. April 2017 § 611a) BGB begründet das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis regelmäßige beiderseitige Hauptleistungspflichten. Entgegen § 611 Abs. 1 BGB soll demgegenüber das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht fortlaufend mit der Verpflichtung zur Dienstleistung und Vergütung verbunden sein, sondern jeweils in der Zeit vom 1. November bis 31. März zeitweise ruhen (vgl. BAG 10. Januar 2007 – 5 AZR 84/06 – Rn. 20).
41
bb) Der Kläger wird durch die Vertragsklausel nicht entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB.
42
(1) Unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 BGB ist jede Beeinträchtigung eines rechtlich anerkannten Interesses des Arbeitnehmers, die nicht durch begründete und billigenswerte Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt ist oder durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen wird. Die Feststellung einer unangemessenen Benachteiligung setzt eine wechselseitige Berücksichtigung und Bewertung rechtlich anzuerkennender Interessen der Vertragspartner voraus. Es bedarf einer umfassenden Würdigung der beiderseitigen Positionen unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben. Bei der Beurteilung der Unangemessenheit ist ein genereller, typisierender, vom Einzelfall losgelöster Maßstab anzulegen. Abzuwägen sind die Interessen des Verwenders gegenüber den Interessen der typischerweise beteiligten Vertragspartner. Im Rahmen der Inhaltskontrolle sind dabei Art und Gegenstand, Zweck und besondere Eigenart des jeweiligen Geschäfts zu berücksichtigen. Zu prüfen ist, ob der Klauselinhalt bei der in Rede stehenden Art des Rechtsgeschäfts generell und unter Berücksichtigung der typischen Interessen der beteiligten Verkehrskreise eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners ergibt (st. Rspr., vgl. etwa BAG 25. April 2018 – 7 AZR 520/16 – Rn. 33; 23. März 2016 – 7 AZR 828/13 – Rn. 49, BAGE 154, 354).
43
(2) Die Begrenzung der Hauptleistungspflichten auf die Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres benachteiligt den Kläger nicht unangemessen.
44
(a) Die Beklagte hat ein berechtigtes Interesse, Arbeits- und Entgeltverpflichtungen nur für diese Zeit zu begründen, da außerhalb der Badesaison von November bis März kein Beschäftigungsbedarf für den Kläger besteht. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Beklagte habe bei Abschluss des Arbeitsvertrags vom 1. April 2006 davon ausgehen dürfen, den Kläger nur in der Zeit von April bis Oktober eines jeden Jahres beschäftigen zu können, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
45
(aa) In Bezug auf die Beschäftigung im Freibad ergibt sich dies bereits daraus, dass das Freibad witterungsbedingt nur in den Sommermonaten geöffnet ist. Die Öffnungszeiten unterliegen zwar Schwankungen; das Freibad war aber nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts in den Jahren zuvor nur in den Monaten Mai bis September geöffnet und die Aufgaben der Badeaufsicht sowie der Reinigung und Pflege der Anlagen des Freibades fallen nur während der Badesaison, die Vor- und Nachbereitungsarbeiten nur unmittelbar vor und nach der Saison an. Aufgrund dieser Umstände durfte die Beklagte davon ausgehen, dass eine Beschäftigung des Klägers im Freibad (nur) in den Monaten April bis Oktober möglich ist.
46
Die Rüge des Klägers, die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts seien unbeachtlich, weil sie nicht auf einem entsprechenden Vortrag der Beklagten beruhten, ist unzulässig. Der Kläger hat nicht dargelegt, welchen Vortrag die Parteien in den Vorinstanzen gehalten haben, den das Landesarbeitsgericht nicht oder unzutreffend berücksichtigt oder gewürdigt haben soll (vgl. zu den Anforderungen an eine auf das Übergehen von Sachvortrag gestützte Verfahrensrüge BAG 18. November 2019 – 4 AZR 105/19 – Rn. 18). Die erstmals in der Revisionsinstanz aufgestellte Behauptung, die Anlage des Freibades müsse auch in den Wintermonaten gepflegt werden, kann als neuer Tatsachenvortrag in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden.
47
Die Prognose, der Beschäftigungsbedarf beschränke sich auf die Monate April bis Oktober, wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Parteien im Jahr 2006 einen Änderungsvertrag über eine „Einstellung“ des Klägers bis zum 31. Dezember 2006 und in den Jahren 2013 bis 2015 jeweils Änderungsverträge über eine „Einstellung“ des Klägers bis zum 30. November geschlossen haben. Der Kläger wurde in diesen Zeiten nicht beschäftigt. Diese Verträge wurden nur geschlossen, um die Überstunden des Klägers durch bezahlte Freizeitgewährung ausgleichen zu können.
48
(bb) Der Kläger beruft sich ohne Erfolg auf eine Beschäftigungsmöglichkeit im Bauhof der Beklagten. Die Prognose der Beklagten, für den Kläger werde in den Monaten November bis März auch im Bauhof kein Beschäftigungsbedarf bestehen, hat sich durch die nachträgliche Entwicklung bestätigt. Die Beklagte hat den Kläger nach Abschluss des Vertrags am 1. April 2006 in den Monaten November bis März nicht beschäftigt. Der Kläger war nur sporadisch auf dem Bauhof eingesetzt, und zwar nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nur im Juni und Juli 2016 für knapp zwei Wochen und in der Zeit von April bis Juni 2017 für einige Stunden, weil im Freibad in dieser Zeit kein Beschäftigungsbedarf bestand.
49
Die Annahme, im Bauhof bestehe in den Monaten November bis März kein Beschäftigungsbedarf, wird auch nicht durch die unbefristete Einstellung der Fachkraft für Bäderbetriebe zur Badesaison 2016 in Frage gestellt. Die Einstellung dieser Fachkraft beruhte auf den Vorgaben der Richtlinie 94.05 der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e.V.; sie konnte aufgrund der Arbeitsmarktsituation nur mit einer dauerhaften Vollzeitbeschäftigung erfolgen.
50
(b) Das Interesse der Beklagten an der Begründung einer Beschäftigungs- und Vergütungspflicht nur für die Monate April bis Oktober eines jeden Jahres überwiegt das Interesse des Klägers an einer ganzjährigen Beschäftigung und Vergütung. Der Kläger steht aufgrund der Suspendierung der beiderseitigen Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis während der Monate November bis März eines jeden Jahres nicht schlechter, als wenn die Beklagte mit ihm jeweils befristete Arbeitsverträge für die Badesaison geschlossen hätte. Dazu wäre sie berechtigt gewesen. Die Befristungen wären nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG gerechtfertigt.
51
(aa) Ein sachlicher Grund für die Befristung eines Arbeitsvertrags liegt nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG vor, wenn der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend besteht. Der Sachgrund setzt voraus, dass im Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist, dass nach dem vorgesehenen Vertragsende für die Beschäftigung des befristet eingestellten Arbeitnehmers kein dauerhafter betrieblicher Bedarf mehr besteht. Hierüber hat der Arbeitgeber bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags eine Prognose zu erstellen, der konkrete Anhaltspunkte zugrunde liegen müssen. Die Prognose ist Teil des Sachgrundes für die Befristung. Die tatsächlichen Grundlagen für die Prognose hat der Arbeitgeber im Prozess darzulegen (st. Rspr. BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 212/17 – Rn. 11; 17. März 2010 – 7 AZR 640/08 – Rn. 12 f., BAGE 133, 319; 11. Februar 2004 – 7 AZR 362/03 – zu I 2 a der Gründe, BAGE 109, 339). Die allgemeine Unsicherheit über die zukünftig bestehende Beschäftigungsmöglichkeit rechtfertigt die Befristung nicht. Eine solche Unsicherheit gehört zum unternehmerischen Risiko des Arbeitgebers, das er nicht durch Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrags auf den Arbeitnehmer abwälzen darf (st. Rspr., vgl. BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 212/17 – Rn. 11; 23. Mai 2018 – 7 AZR 16/17 – Rn. 43).
52
Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG ist die Befristung von Arbeitsverträgen in Kampagne- und in Saisonbetrieben für die Dauer der Kampagne oder der Saison grundsätzlich gerechtfertigt (vgl. zur Rechtslage vor Inkrafttreten des TzBfG: BAG 12. Oktober 1960 – GS 1/59 – zu C 3 der Gründe, BAGE 10, 65; 28. August 1987 – 7 AZR 249/86 – zu I 2 c der Gründe; 29. Januar 1987 – 2 AZR 109/86 – zu B II 2 der Gründe). Auch die wiederholte Befristung des Arbeitsvertrags mit einem Saisonarbeitnehmer ist zulässig (BAG 29. Januar 1987 – 2 AZR 109/86 – zu B II 4 der Gründe). Ein Arbeitgeber ist nicht gehalten, mit einem Arbeitnehmer, den er über viele Wochen nicht vertragsgemäß beschäftigen kann, einen Dauerarbeitsvertrag abzuschließen (BAG 23. Januar 2019 – 7 AZR 212/17 – Rn. 22; 11. Februar 2004 – 7 AZR 362/03 – zu I 2 b dd der Gründe, BAGE 109, 339).
53
(bb) Danach wäre die Befristung eines gesonderten Saisonarbeitsvertrags für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TzBfG gerechtfertigt, auch wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgeht, dass die Dienststelle, für die der Kläger eingestellt worden ist, nicht das von der Beklagten betriebene Freibad, sondern die gesamte Gemeindeverwaltung ist, die nicht als Saisonbetrieb anzusehen ist. Die Beklagte durfte bei Abschluss des Arbeitsvertrags vom 1. April 2006 davon ausgehen, den Kläger jeweils nur in den Monaten April bis Oktober beschäftigen zu können, da dieser in dem Freibad beschäftigt werden sollte.
54
(c) Ein Interesse am Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrags, der eine Beschäftigung und Vergütung während der Badesaison zum Gegenstand hat, bestand nicht nur auf Seiten der Beklagten, sondern auch auf Seiten des Klägers. Durch den Abschluss des unbefristeten Arbeitsvertrags erhielt der Kläger Planungssicherheit für die Folgejahre. Er konnte – anders als bei Abschluss jeweils befristeter Arbeitsverträge – davon ausgehen, auch in den Folgejahren während der Saison beschäftigt und vergütet zu werden.
55
(d) Der Kläger erhält zwar in den Monaten November bis März kein Entgelt, muss aber auch nicht arbeiten. Er kann in diesem Zeitraum einer anderen Beschäftigung nachgehen. Der Kläger hat grundsätzlich auch die Möglichkeit, in den Monaten November bis März unter den Voraussetzungen des § 137 SGB III Arbeitslosengeld in Anspruch zu nehmen, da er nicht in einem Beschäftigungsverhältnis zur Beklagten steht; der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses steht dem Bezug von Arbeitslosengeld nach § 137 SGB III nicht entgegen.
56
(e) Die Vergütung nur der geleisteten Arbeit entspricht dem Grundsatz des § 611 Abs. 1 (seit dem 1. April 2017 § 611a) BGB. Die Beklagte wälzt kein ihr zugewiesenes Risiko auf den Kläger ab. Deshalb besteht weder eine Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundgedanken des § 611 BGB noch gefährdet die Einschränkung der Arbeits- und Vergütungspflicht den Vertragszweck (vgl. BAG 10. Januar 2007 – 5 AZR 84/06 – Rn. 23).
57
c) Die in § 1 Abs. 1 des Arbeitsvertrags vereinbarte Begrenzung der Beschäftigung ist entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht wegen Verstoßes gegen das in § 14 Abs. 4 TzBfG normierte Schriftformgebot oder nach § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD unwirksam. Diese Vorschriften gelten nur für die Befristung von Arbeitsverträgen, nicht aber für die vorliegende Vereinbarung über die Begrenzung der Hauptleistungspflichten auf einen bestimmten Zeitraum des jeweiligen Kalenderjahres.
58
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Gräfl
Klose
M. Rennpferdt
Schiller
Wicht |
bag_39-20 | 22.10.2020 | 22.10.2020
39/20 - Vorausabtretung der Insolvenzverwaltervergütung einer angestellten Rechtsanwältin an die Arbeitgeberkanzlei
Eine vertragliche Abrede über die Vorausabtretung der Insolvenzverwaltervergütung angestellter Rechtsanwälte an ihre Arbeitgeberkanzlei ist mit den Grundsätzen der Insolvenzverwaltervergütung und der persönlichen Stellung des Insolvenzverwalters vereinbar.
Die Klägerin, eine Rechtsanwaltskanzlei, schloss mit der Beklagten, einer angestellten Rechtsanwältin, folgende Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag:
„Die Rechtsanwältin ist berechtigt, sich auch als Gutachterin, vorläufige Insolvenzverwalterin, Insolvenzverwalterin, Treuhänderin etc. sowie Zwangsverwalterin bestellen zu lassen
Sämtliche Tätigkeiten der vorgenannten Art werden ausschließlich auf Rechnung der Gesellschaft ausgeführt. Von der Rechtsanwältin beantragte Vergütungen tritt diese hiermit im Voraus an den Arbeitgeber ab. …
Für die Haftpflichtfälle wird die Arbeitnehmerin im Innenverhältnis freigestellt, soweit nicht die Haftpflichtversicherung den Schaden deckt.“
Nachdem die Klägerin das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 31. Oktober 2012 gekündigt hatte, verlangte sie von dieser die Auskehrung der Insolvenzverwaltervergütungen für noch im bestehenden Arbeitsverhältnis begonnene, aber erst ab November 2012 abgeschlossene Insolvenzverfahren. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass solche Insolvenzverwaltervergütungen von der Abrede nicht erfasst würden.
Das Landesarbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts weit überwiegend Erfolg, die der Klägerin war erfolglos.
Die Parteien haben mit der streitbefangenen Klausel nur die Vorausabtretung von Insolvenzverwaltervergütungen geregelt, die noch im bestehenden Arbeitsverhältnis beantragt wurden. In dieser Auslegung ist die Vereinbarung wirksam, insbesondere steht sie nicht im Widerspruch zu der persönlichen Stellung des Insolvenzverwalters und ist nicht unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB. Eine – rechtlich grundsätzlich mögliche – Abtretungsvereinbarung über Insolvenzverwaltervergütungen für begonnene, aber erst nach dem Ausscheiden der Beklagten aus dem Arbeitsverhältnis von dieser abgeschlossene Insolvenzverfahren enthält die Klausel dagegen nicht. Eine solche folgt auch nicht aus einer ergänzenden Vertragsauslegung, da mehrere gleichwertige Möglichkeiten zur Schließung einer etwaigen planwidrigen Regelungslücke in Betracht kommen. Andere Anspruchsgrundlagen, die die Beklagte verpflichteten, nach dem 1. November 2012 beantragte Insolvenzverwaltervergütungen an die Klägerin auszukehren, bestehen nicht. Dementsprechend hat die Klägerin allein für ein noch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses zu Ende geführtes Insolvenzverfahren Anspruch auf die von der Beklagten erhaltene Insolvenzverwaltervergütung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Oktober 2020 – 6 AZR 566/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. November 2018 – 18 Sa 25/15 – | Tenor
I. Auf die Revisionen der Parteien wird – unter Zurückweisung der Revisionen der Parteien im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. November 2018 – 18 Sa 25/15 – teilweise aufgehoben, soweit es der Klage über 1.406,58 Euro (Insolvenzverfahren St – 3 IN 714/11 -) hinaus stattgegeben hat.
II. Auf die Berufung der Klägerin wird – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 19. November 2014 – 63 Ca 798/14 – teilweise abgeändert und klarstellend insgesamt wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Insolvenzverwaltervergütung in Höhe von 1.406,58 Euro (Insolvenzverfahren St – 3 IN 714/11 -) zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Leitsatz
Der Vergütungsanspruch des Insolvenzverwalters kann wirksam im Voraus abgetreten werden. Die Vorausabtretung der Insolvenzverwaltervergütung eines angestellten Rechtsanwalts, der während des bestehenden Arbeitsverhältnisses auch als Insolvenzverwalter tätig wird, an den Arbeitgeber verstößt nicht gegen § 56 InsO.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Insolvenzverwaltervergütungsansprüche.
2
Die Beklagte war bei der Klägerin als angestellte Rechtsanwältin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden beschäftigt. Ihr monatliches Entgelt betrug 3.200,00 Euro brutto. Am 10. November 2010 vereinbarten die Parteien folgende Änderung zum Arbeitsvertrag, die die Klägerin als „Gesellschaft“ bzw. „Arbeitgeber“ und die Beklagte als „Rechtsanwältin“ bzw. „Arbeitnehmerin“ bezeichnet:
„…
Die Rechtsanwältin ist berechtigt, sich auch selbst als Gutachterin, vorläufige Insolvenzverwalterin, Insolvenzverwalterin, Treuhänderin etc. sowie Zwangsverwalterin bestellen zu lassen.
Sämtliche Tätigkeiten der vorgenannten Art werden ausschließlich auf Rechnung der Gesellschaft ausgeführt. Von der Rechtsanwältin beantragte Vergütungen tritt diese hiermit im Voraus an den Arbeitgeber ab. Der Arbeitgeber nimmt hiermit die Abtretung an. Die Vergütungen sind unmittelbar auf das Konto des Arbeitgebers abzuführen.
Für die Haftpflichtfälle wird die Arbeitnehmerin im Innenverhältnis freigestellt, soweit nicht die Haftpflichtversicherung den Schaden deckt.“
3
In der Folgezeit wurde die Beklagte vom Amtsgericht Frankfurt (Oder) ua. als Gutachterin und Insolvenzverwalterin bestellt.
4
Die Klägerin kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 31. Oktober 2012. Im April 2013 informierte sie das Amtsgericht Frankfurt (Oder) über den Inhalt der Vereinbarung vom 10. November 2010 und bat um Überweisung der abgetretenen Vergütungsansprüche aus im Einzelnen aufgeführten Gutachteraufträgen und Insolvenzverfahren. Das Amtsgericht Frankfurt (Oder) hinterlegte die geprüften Beträge.
5
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung erhaltener Verwaltervergütungen für konkret bezeichnete Insolvenzverfahren, die Einwilligung zur Auszahlung der beim Amtsgericht Frankfurt (Oder) hinterlegten Beträge und die Zahlung von Kopierkosten für die Erstellung von Auszügen aus Gerichtsakten des Insolvenzgerichts.
6
Sie hat die Auffassung vertreten, ihr stünden die geltend gemachten Ansprüche aufgrund der Vereinbarung vom 10. November 2010 in Verbindung mit bereicherungsrechtlichen Bestimmungen zu. Die Abtretungsvereinbarung erfasse alle Vergütungen für bis zum 31. Oktober 2012 akquirierte und beauftragte Gutachtenaufträge und Insolvenzverfahren, für die die Beklagte bestellt worden sei und zwar unabhängig davon, ob die Verfahren bei deren Ausscheiden aus der Kanzlei abgeschlossen oder gegenüber dem Insolvenzgericht abgerechnet gewesen seien. Jedenfalls sei die Abtretungsvereinbarung dahin auszulegen, dass Vergütungsansprüche entsprechend dem tatsächlichen Arbeitsaufwand der bei ihr beschäftigten Mitarbeiter vor dem Ausscheiden der Beklagten aus der Kanzlei umfasst seien. Zumindest ergebe sich der Anspruch aus arbeitsvertraglicher Treuepflicht, enttäuschter Vergütungserwartung bzw. entsprechender Anwendung von § 667 Alt. 2 BGB.
7
Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 117.431,99 Euro sowie 138,00 Euro Kopierkosten zu zahlen,
2.
die Beklagte zu verurteilen, in die Auszahlung von 51.944,00 Euro Vergütung für im Einzelnen aufgeschlüsselte Insolvenzverfahren, die beim Amtsgericht Frankfurt (Oder) bei der Hinterlegungsstelle hinterlegt ist, an sie einzuwilligen.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Vereinbarung vom 10. November 2010 sei abschließend und begrenzt auf die während des Arbeitsverhältnisses abschlussreif bearbeiteten Verfahren bzw. auf die während des bestehenden Arbeitsvertrags beantragten insolvenzrechtlichen Vergütungen. Eine Vereinbarung über eine anteilige Abtretung verstoße gegen § 134 BGB iVm. § 56 InsO. Für eine entsprechende Anwendung des § 667 Alt. 2 BGB fehle es vor dem Hintergrund der Vereinbarung vom 10. November 2010 an einer Regelungslücke. Außerdem widerspreche die (analoge) Anwendung der Norm dem gesetzlich verankerten Leitbild der Unabhängigkeit des Insolvenzverwalteramtes. Zudem habe die Klägerin im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien auf etwaige Ansprüche verzichtet. Jedenfalls sei ihre Geltendmachung vor diesem Hintergrund rechtsmissbräuchlich.
9
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil auf die Berufung der Klägerin teilweise abgeändert und die Beklagte zur Zahlung von 43.865,53 Euro nebst Zinsen sowie zur Einwilligung in die teilweise Auszahlung der beim Amtsgericht Frankfurt (Oder) hinterlegten Beträge verurteilt. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihre abgewiesenen Zahlungsansprüche weiter. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
10
Die Revision der Klägerin ist erfolglos, die der Beklagten ist überwiegend erfolgreich.
11
I. Die Klage ist nur zu einem geringen Teil begründet. Der Klägerin steht die Vergütung in Höhe von 1.406,58 Euro zu, die die Beklagte für ihre Tätigkeit als Insolvenzverwalterin in dem Insolvenzverfahren St (Amtsgericht Frankfurt (Oder) – 3 IN 714/11 -) nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses der Parteien beantragt hat. Im Übrigen ist sie unbegründet.
12
1. Der Anspruch der Klägerin auf die Vergütung für das Insolvenzverfahren St folgt aus der Vereinbarung über die Änderung des Arbeitsvertrags vom 10. November 2010.
13
a) Mit dieser Vereinbarung haben die Parteien eine Vorausabtretung nur für die Insolvenzverwaltervergütungen vereinbart, die die Beklagte im laufenden Arbeitsverhältnis beantragt hat.
14
aa) Die Auslegung der Abtretungsvereinbarung richtet sich nach den für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Auslegungsregeln. Für diese rechtliche Einordnung begründet bereits das äußere Erscheinungsbild der Vereinbarung eine tatsächliche Vermutung (st. Rspr., vgl. nur BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 27, BAGE 163, 56). Jedenfalls wäre die Vereinbarung als Einmalbedingung iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB eine Allgemeine Geschäftsbedingung, die vom Senat als typische Erklärung selbst ausgelegt werden kann (vgl. zB BAG 18. Oktober 2018 – 6 AZR 246/17 – Rn. 12 mwN).
15
bb) Der Inhalt von Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Einmalbedingungen iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB ist nach einem objektiv-generalisierenden Maßstab zu ermitteln. Sie sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei nicht die Verständnismöglichkeiten des konkreten, sondern die des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind. Ansatzpunkt für die nicht am Willen der jeweiligen Vertragspartner zu orientierende Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Ist dieser nicht eindeutig, kommt es für die Auslegung entscheidend darauf an, wie der Vertragstext aus Sicht der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise zu verstehen ist (BAG 12. Juni 2019 – 7 AZR 428/17 – Rn. 17 mwN; 18. Oktober 2018 – 6 AZR 246/17 – Rn. 19). Soweit auch der mit dem Vertrag verfolgte Zweck einzubeziehen ist, kann das nur in Bezug auf typische und von redlichen Geschäftspartnern verfolgte Ziele gelten (BAG 3. Dezember 2019 – 9 AZR 44/19 – Rn. 15 mwN).
16
cc) Danach sind von der Abtretungsvereinbarung nur Vergütungen für Insolvenzverfahren erfasst, die die Beklagte noch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses beantragt und damit abgeschlossen hat. Dies folgt neben dem Wortlaut insbesondere aus dem objektiv zum Ausdruck kommenden typischen Sinn und Zweck der Klausel.
17
(1) Die abgetretene Insolvenzverwaltervergütung soll Arbeitgeber dafür entschädigen, dass sie angestellten Rechtsanwälten einen weitgehend risikofreien Einstieg in die Insolvenzverwaltertätigkeit ermöglichen, indem sie ihnen sächliche und personelle Betriebsmittel zur Verfügung stellen, die für die Durchführung der Insolvenzverwaltertätigkeit und insoweit auch für die Bestellung zum Insolvenzverwalter durch das Insolvenzgericht unabdingbar sind und die sie insbesondere zu Beginn der beruflichen Tätigkeit regelmäßig wirtschaftlich nicht vorhalten können (vgl. AG Köln 1. Oktober 2018 – 142 C 87/18 – zu III der Gründe; Graeber ZInsO 2019, 2612). Dies dient zugleich der Qualifizierung und Befähigung junger Rechtsanwälte für die Bearbeitung von Insolvenzverfahren. Mit solchen Klauseln eröffnen sich die als Arbeitgeber auftretenden Rechtsanwaltskanzleien zudem die Möglichkeit, eine Vielzahl von Insolvenzverfahren in ihrer Kanzlei bearbeiten zu lassen und verschaffen sich damit auch als juristische Personen faktisch einen Zugang zum Markt der Insolvenzverwaltertätigkeit (vgl. hierzu BVerfG 12. Januar 2016 – 1 BvR 3102/13 – Rn. 61, BVerfGE 141, 121). Diese wechselseitige Interessenlage der an dem Vertragsabschluss beteiligten Arbeitsvertragsparteien besteht typischerweise nur für die Zeit eines bestehenden Arbeitsverhältnisses. Sie ändert sich insbesondere dadurch, dass der Insolvenzverwalter durch sein Ausscheiden aus der anstellenden Kanzlei den Zugriff auf deren Ressourcen verliert.
18
(2) Für ein solches, den typischen Zwecken einer Klausel über die Abtretung der Vergütung aus Insolvenzverwaltertätigkeit entsprechendes Verständnis der Vereinbarung vom 10. November 2010 sprechen auch die von den Parteien verwendeten Begrifflichkeiten. Die Verknüpfung zwischen „beantragter“ Vergütung und deren Abtretung an den „Arbeitgeber“ kann ein redlicher, den beteiligten Verkehrskreisen der Rechtsanwälte und Insolvenzverwalter angehörender Arbeitnehmer nur so verstehen, dass mit der Klausel eine Vergütungsregelung allein für die im bestehenden Arbeitsverhältnis auch abgeschlossenen Insolvenzverfahren getroffen werden soll, zumal die Vergütungen auf das Konto des „Arbeitgebers“ und damit auf das Konto eines der Vertragspartner des Arbeitsverhältnisses der Parteien abzuführen sind.
19
Das wird durch die weitere Formulierung, dass die „Arbeitnehmerin“ – und damit ebenfalls eine Vertragspartnerin des Arbeitsverhältnisses – für Haftpflichtfälle im Innenverhältnis freigestellt wird, bestätigt. Die Haftungsfreistellung beschränkt sich damit auf Schäden, die aus Insolvenzverfahren resultieren, die noch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses abgeschlossen worden sind, unabhängig davon, ob diese Schäden während des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht worden sind. Nur dieses Zusammenspiel zwischen Abführungsverpflichtung und Haftungsfreistellung ist aus Sicht redlicher Vertragsparteien interessengerecht. Für einen bisher angestellten Rechtsanwalt, der auch Insolvenzverwaltertätigkeiten wahrgenommen hat, ist es nicht konsistent, ohne Anspruch auf Haftungsfreistellung für Schäden zu haften, die noch während des Arbeitsverhältnisses entstanden sind, aber erst nach dessen Beendigung geltend gemacht werden, da er die Vergütung für die diesen Schäden zugrunde liegende Insolvenzverwaltertätigkeit an den Arbeitgeber abgeführt hat. Umgekehrt hat der die Haftungsfreistellung gewährende Arbeitgeber regelmäßig kein Interesse daran, im Innenverhältnis auch noch für Schäden zu haften, die erst aus einer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgeübten Tätigkeit des Insolvenzverwalters entstehen.
20
b) In dieser Auslegung ist die Vereinbarung vom 10. November 2010 wirksam.
21
aa) Die Vorausabtretung der Insolvenzverwaltervergütung entspricht dem Bestimmtheitsgrundsatz (zu den Voraussetzungen vgl. BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 553/11 – Rn. 18 mwN). Ihr stehen keine Abtretungsverbote entgegen.
22
(1) Die Insolvenzordnung und die die Vergütung des Insolvenzverwalters regelnden §§ 63 und 64 InsO sowie die aufgrund der Ermächtigung gemäß § 65 InsO erlassene ergänzende Insolvenzrechtliche Vergütungsverordnung (InsVV) enthalten kein ausdrückliches Abtretungsverbot für Insolvenzverwaltervergütungen.
23
(2) Die Abtretung ist auch nicht nach § 851 Abs. 1 ZPO, § 399 Alt. 1 BGB ausgeschlossen. Zwar ist das Amt des Insolvenzverwalters ein höchstpersönliches Amt. Der Insolvenzverwaltervergütungsanspruch ist aber kein höchstpersönlicher Anspruch und unterliegt darum keinem Abtretungsverbot.
24
(a) Eine Forderung ist nach § 399 Alt. 1 BGB nicht übertragbar, wenn die Leistung an einen anderen als den ursprünglichen Gläubiger nicht ohne Veränderung ihres Inhalts erfolgen kann. Dies ist ua. dann anzunehmen, wenn die Leistung auf höchstpersönlichen Ansprüchen des Berechtigten beruht, die er nur selbst erheben kann, wie dies zB auf Entschädigungen für erlittenes Unrecht (BGH 22. Mai 2014 – IX ZB 72/12 – Rn. 21) oder personenbezogene Naturalleistungen wie Unterhalt in Natur (BGH 4. Dezember 2009 – V ZR 9/09 – Rn. 14 mwN; sh. auch die Aufzählung in MüKoBGB/Roth/Kieninger 8. Aufl. § 399 Rn. 9 ff.) zutrifft. Forderungen sind auch nicht übertragbar, wenn ohne Veränderung des Leistungsinhalts die dem Gläubiger gebührende Leistung mit seiner Person derart verknüpft ist, dass die Leistung an einen anderen Gläubiger als eine andere Leistung erschiene. In all diesen Fällen bliebe die Identität der abgetretenen Forderung nicht gewahrt (BGH 18. Juni 2020 – IX ZB 11/19 – Rn. 20 mwN).
25
(b) Die Verwaltervergütung ist mit der Person des Insolvenzverwalters nicht derart verknüpft, dass die Leistung an den Arbeitgeber sie als eine andere Leistung erscheinen lassen würde. Mit der Insolvenzverwaltervergütung wird die Tätigkeit abgegolten, die der bestellte Insolvenzverwalter bei der Bearbeitung der Insolvenzverfahren erbringt (vgl. BGH 17. September 2020 – IX ZB 29/19 – Rn. 9 mwN). Dieser Zweck wird auch nicht dadurch modifiziert, dass die Vergütung nach § 64 Abs. 1, § 65 InsO iVm. §§ 1 ff. InsVV durch das Insolvenzgericht festgesetzt wird. Der Gesetzgeber hat mit den §§ 63 bis 65 InsO, §§ 1 ff. InsVV ein besonderes Regelungssystem für die Festsetzung und Abwicklung der Insolvenzverwaltervergütung geschaffen, um in wirtschaftlicher und persönlicher Hinsicht die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters bei der Ausübung seines Amtes gegenüber den Verfahrensbeteiligten zu gewährleisten. Die Festsetzung der Vergütung ist Teil der Pflicht des Insolvenzgerichts zur Überwachung des Verwalters und damit Korrektiv für die Übertragung hoheitlicher Befugnisse an diesen (vgl. BGH 16. Februar 2017 – IX ZB 103/15 – Rn. 31 mwN, BGHZ 214, 78). Eine besondere Bindung des Vergütungsanspruchs an die Person des Insolvenzverwalters folgt daraus nicht.
26
(c) Der Anspruch auf Insolvenzverwaltervergütung ist auch nicht wie ein Anspruch auf eine höchstpersönliche Dienstleistung unpfändbar. Der Insolvenzverwalter kann sich selbst bei der Erfüllung der ihm persönlich obliegenden Pflichten der Hilfe von Mitarbeitern bedienen und für die ihn nicht höchstpersönlich treffenden Verpflichtungen Dritte einsetzen (MüKoInsO/Graeber 4. Aufl. § 56 Rn. 150 f.). Der Anspruch auf seine Vergütung unterliegt deshalb nur dem Pfändungsschutz für sonstige Einkünfte nach § 850i ZPO (Zöller/Herget ZPO 33. Aufl. § 850i Rn. 1).
27
(3) Aus den oben genannten Gründen verstößt eine Vorausabtretung der Insolvenzverwaltervergütung an den Arbeitgeber auch nicht gegen § 56 Abs. 1 Satz 1 InsO mit der Folge, dass sie nach § 134 BGB nichtig wäre. Die Beschränkung des Zugangs zum Amt des Insolvenzverwalters auf natürliche Personen, die § 56 InsO anordnet, trägt der besonderen Funktion des Insolvenzverfahrens Rechnung, für dessen sachgerechten Verfahrensablauf die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters von zentraler Bedeutung ist (BGH 16. Februar 2017 – IX ZB 103/15 – Rn. 30 mwN, BGHZ 214, 78). Zugleich werden dadurch eine effektive Aufsicht über die Durchführung dieses Amtes durch das Insolvenzgericht gesichert und Aufsichtsprobleme vermieden (BVerfG 12. Januar 2016 – 1 BvR 3102/13 – Rn. 45 ff., BVerfGE 141, 121; zu möglichen Aufsichtsproblemen Pape WuB 2016, 626, 627). Der Ausschluss juristischer Personen von der Bestellung zum Insolvenzverwalter ist jedoch nur deshalb angemessen und darum mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, weil über Vertragsgestaltungen wie die hier vorliegende auch juristischen Personen ein Marktzugang zur Insolvenzverwaltung faktisch ermöglicht wird (vgl. BVerfG 12. Januar 2016 – 1 BvR 3102/13 – Rn. 38, 61, aaO). Das Grundgesetz gebietet eine Beschränkung des Zugangs zum Verwalteramt auf natürliche Personen also nicht (aA Mitlehner Anm. NZI 2020, 134, 136). Es steht vielmehr lediglich der derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung durch § 56 InsO aufgrund der Möglichkeit zu einem Geschäftsmodell, wie es auch die Klägerin nutzt und wie es der streitbefangenen Klausel zugrunde liegt, nicht entgegen. Die Abtretung der Vergütungsansprüche durch die Vereinbarung vom 10. November 2010 widerspricht darum weder dem Wesen des höchstpersönlichen Amtes des Insolvenzverwalters noch dem Zweck des § 56 InsO (Graeber ZinsO 2019, 2612, 2614; Bei der Kellen DZWiR 2020, 341, 344 f.). Mit der Aufsicht des Insolvenzgerichts auch über die Festsetzung der Vergütung des Verwalters (Rn. 25) ist dem Kontroll- und Schutzbedürfnis der Gläubiger an einem rechtmäßig durchgeführten Insolvenzverfahren ebenso Genüge getan wie dem Interesse des Verwalters an einer angemessenen Vergütung.
28
bb) Mit dem oben dargelegten Inhaltsverständnis benachteiligt die Vereinbarung die Beklagte auch nicht unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 BGB.
29
(1) Unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 BGB ist jede Beeinträchtigung eines rechtlich anerkannten Interesses des Arbeitnehmers, die nicht durch begründete und billigenswerte Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt ist oder durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen wird. Die Feststellung einer unangemessenen Benachteiligung setzt eine wechselseitige Berücksichtigung und Bewertung rechtlich anzuerkennender Interessen der Vertragspartner voraus. Es bedarf einer umfassenden Würdigung der beiderseitigen Positionen unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben. Bei der Beurteilung der Unangemessenheit ist ein genereller, typisierender, vom Einzelfall losgelöster Maßstab anzulegen. Abzuwägen sind die Interessen des Verwenders gegenüber den Interessen der typischerweise beteiligten Vertragspartner. Im Rahmen der Inhaltskontrolle sind dabei Art und Gegenstand, Zweck und besondere Eigenart des jeweiligen Geschäfts zu berücksichtigen. Zu prüfen ist, ob der Klauselinhalt bei der in Rede stehenden Art des Rechtsgeschäfts generell und unter Berücksichtigung der typischen Interessen der beteiligten Verkehrskreise eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners ergibt (st. Rspr., vgl. zB BAG 19. November 2019 – 7 AZR 582/17 – Rn. 42 mwN).
30
(2) Danach sind die Interessen der Beklagten durch die Vorausabtretung der im bestehenden Arbeitsverhältnis beantragten Insolvenzverwaltervergütungen angemessen berücksichtigt. Eine erfolgreiche Bearbeitung der betreffenden Insolvenzverfahren und eine hierdurch erworbene Qualifizierung für mögliche weitere Bestellungen zur Insolvenzverwalterin wirken sich für sie zwar nicht unmittelbar finanziell aus, eröffnen ihr jedoch die Chance auf einen künftigen Zugang zur Tätigkeit als Insolvenzverwalterin mit eigener Kanzlei. Zudem trägt die Klägerin die gesamten Kosten der Beklagten für deren Tätigkeit als bestellte Insolvenzverwalterin einschließlich ihres Gehalts als angestellte Rechtsanwältin. Schließlich überlässt die Klägerin der Beklagten ohne einen zusätzlichen Aufwandsersatz die für die Durchführung der Insolvenzverwaltung erforderlichen persönlichen und sächlichen Betriebsmittel und stellt sie von der Haftung frei, soweit die Haftpflichtversicherung einen etwaigen Schaden nicht trägt. Damit ist der Beklagten nicht das Risiko aufgebürdet, dass die Kosten der Insolvenzverwaltung durch die Verwaltervergütung nicht abgedeckt werden (vgl. Graeber ZInsO 2019, 2612).
31
c) Die Parteien haben im Zusammenhang mit der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses Ansprüche auf abgetretene und noch nicht an die Klägerin gezahlte Insolvenzverwaltervergütungen auch nicht rechtsgeschäftlich durch Erlass zum Erlöschen gebracht. Besondere Umstände, die diesen Schluss nahelegen, lassen sich dem Vorbringen der Beklagten nicht entnehmen. Insoweit kann offenbleiben, ob die von ihr mit der Revisionsbegründung erhobene Rüge, das Landesarbeitsgericht habe ihren hierzu ergangenen Sachvortrag nebst Beweisantritten übergangen, den gesetzlichen Anforderungen iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO genügt.
32
aa) Ein Erlassvertrag (§ 397 Abs. 1 BGB) ist dann anzunehmen, wenn die Parteien vom Bestehen einer bestimmten Schuld ausgehen, diese aber übereinstimmend als nicht mehr zu erfüllen betrachten. Wenn feststeht, dass eine Forderung entstanden ist, verbietet dieser Umstand im Allgemeinen die Annahme, der Gläubiger habe sein Recht einfach wieder aufgegeben. An die Feststellung eines Verzichtswillens sind hohe Anforderungen zu stellen. Ein Erlass liegt im Zweifel nicht vor (BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 28, BAGE 152, 315; ausführlich zu den Voraussetzungen eines Erlassvertrags sh. auch BGH 4. Dezember 2015 – V ZR 142/14 – Rn. 24 ff. mwN).
33
bb) Es fehlt vorliegend bereits an einer auf einen Erlass gerichteten rechtsgeschäftlichen Erklärung der Klägerin. Eine solche kann der vom 30. Oktober 2012 datierenden E-Mail der Gesellschafterin der Klägerin, Rechtsanwältin L, nicht entnommen werden. Diese enthält lediglich die Erklärung, an dem Abschluss einer wie Anfang September 2012 vorgeschlagenen Abwicklungsvereinbarung nicht mehr interessiert zu sein. Ein etwaiger Verzicht auf das Auskehren noch ausstehender Insolvenzverwaltervergütungen ist dieser Mitteilung nicht zu entnehmen. Auch die von der Beklagten geschilderten, ihr gegenüber angeblich getätigten Äußerungen des Gesellschafters der Klägerin, Rechtsanwalt N, tragen den daraus von ihr gezogenen Schluss, die Klägerin habe auf etwaige Ansprüche aus Anlass der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit auf Ansprüche aus der Vereinbarung vom 10. November 2010 verzichtet, nicht. Es ist weder hinreichend konkret vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Parteien im Lauf dieses Gesprächs über noch offene Ansprüche auf Insolvenzverwaltervergütungen und deren weiteres Schicksal gesprochen haben. Die Äußerung des Gesellschafters N, es sei nichts mehr zu vereinbaren, sowie der Umstand, dass es zwischen den Parteien nicht zu einer Abwicklungsvereinbarung gekommen ist, sprechen vielmehr dafür, dass die im Arbeitsverhältnis getroffene Abtretungsvereinbarung nach dem Willen der Klägerin Bestand haben sollte. Sofern sich die Bemerkung, die Beklagte müsse sich wirtschaftlich keine Sorgen machen, weil sie aus den laufenden Verfahren „genug Vergütungen“ erzielen werde, überhaupt konkret auf die Vergütungen für noch laufende Insolvenzverfahren bezogen haben sollte, ist ihr ein Wille der Klägerin, auch auf die Auskehrung der Vergütung aus abgeschlossenen Insolvenzen verzichten zu wollen, nicht zu entnehmen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der inhaltsgleichen Erwähnung gegenüber dem ebenfalls ausgeschiedenen Rechtsanwalt S. Soweit die Beklagte vorträgt, im zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses habe die Klägerin durch verschiedene Beteiligte mehrfach sinngemäß erklärt, ihr würden die Vergütungsansprüche aus laufenden Insolvenzverfahren verbleiben, mag dies zutreffen. Der Umstand, dass sich die Parteien in der Folgezeit aber gerade nicht auf eine Abwicklungsvereinbarung verständigen konnten, legt jedoch den Schluss nahe, dass ein Verzicht der Klägerin nur eine Option für den Fall einer gütlichen Einigung bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Parteien war.
34
d) Ebenso wenig hat die Klägerin das Recht verwirkt, sich auf die Abtretungsvereinbarung zu berufen (zu den Voraussetzungen hierfür vgl. BAG 20. März 2018 – 9 AZR 508/17 – Rn. 26 mwN), oder sich diesbezüglich in sonstiger Weise treuwidrig verhalten. Die Beklagte durfte sich – wie ausgeführt – bereits nach ihrem eigenen Vorbringen über die Auseinandersetzungen der Parteien im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der Tatsache, dass es vor diesem Hintergrund nicht zu einer Abwicklungsvereinbarung zwischen ihnen gekommen ist, nicht darauf einstellen, von der Klägerin nicht mehr in Anspruch genommen zu werden.
35
e) Der Anspruch der Klägerin auf die Insolvenzverwaltervergütung für das Insolvenzverfahren St (Amtsgericht Frankfurt (Oder) – 3 IN 714/11 -) gilt auch nicht nach § 389 BGB als erloschen. Die von der Beklagten erklärte Aufrechnung ist mangels hinreichender Bestimmtheit der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen (dazu BAG 23. Februar 2016 – 9 AZR 226/15 – Rn. 25 mwN; BGH 19. Mai 2011 – IX ZR 222/08 – Rn. 6 mwN) unzulässig. Die Beklagte hat nicht vorgetragen, in welcher Höhe welche vollwirksamen und fälligen Provisionsansprüche und Umsatzbeteiligungen, mit denen sie aufrechnen will, im Einzelnen bestehen.
36
2. Die Klage ist unbegründet, soweit die Klägerin Insolvenzverwaltervergütungen für im laufenden Arbeitsverhältnis begonnene und erst nach dessen Auflösung zum 31. Oktober 2012 beendete Insolvenzverfahren geltend macht. Solche Vergütungen werden weder von der Abtretungsvereinbarung umfasst noch ergibt sich der Anspruch auf die Zahlung dieser Vergütungen aus gesetzlichen Grundlagen.
37
a) Der Anspruch folgt nicht aus der Vereinbarung vom 10. November 2010. Diese erfasst – wie oben ausgeführt (Rn. 16 ff.) – nach ihrem Sinn und Zweck unter Berücksichtigung der von den Parteien gewählten Begrifflichkeiten nur Vergütungen für im bestehenden Arbeitsverhältnis begonnene und auch abgeschlossene Insolvenzverfahren.
38
b) Die Vereinbarung ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht hilfsweise dahin auszulegen, dass sie auch Vergütungsansprüche – jedenfalls entsprechend dem tatsächlichen Arbeitsaufwand ihrer Mitarbeiter – für nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgeschlossene Insolvenzverfahren erfasst. Dies ließe sich nur durch eine ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB begründen. Deren Voraussetzungen liegen nicht vor.
39
aa) Die ergänzende Vertragsauslegung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen orientiert sich an einem objektiv-generalisierenden, am Willen und Interesse der typischerweise an Geschäften dieser Art beteiligten Verkehrskreise ausgerichteten Maßstab. Maßgeblich für die Feststellung und Bewertung des mutmaßlichen Parteiwillens und der Interessenlage ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, denn die ergänzende Vertragsauslegung schließt eine anfängliche Regelungslücke rückwirkend. Es ist deshalb zu fragen, was die Parteien vereinbart hätten, wenn ihnen bei Vertragsschluss die gesetzlich angeordnete Unwirksamkeit der Klausel bekannt gewesen wäre (BAG 24. September 2019 – 9 AZR 273/18 – Rn. 29 mwN, BAGE 168, 54). Lassen sich nach diesen Kriterien hinreichende Anhaltspunkte für einen typischen Parteiwillen nicht finden, etwa weil mehrere gleichwertige Möglichkeiten der Lückenschließung in Betracht kommen, scheidet eine ergänzende Vertragsauslegung aus (BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 297/15 – Rn. 49, BAGE 158, 154).
40
bb) Vorliegend kommt unter Berücksichtigung der Interessenlage typischer Vertragsparteien nicht nur eine Ergänzung der Vorausabtretungsvereinbarung in Betracht, die – wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat – eine zeitanteilige Aufteilung der nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig gewordenen Insolvenzverwaltervergütungen vorsieht. Vielmehr bestehen unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der getroffenen Vereinbarung sowie der durch das Ausscheiden der Beklagten geänderten Interessenlage (Rn. 17) zahlreiche weitere rechtlich zulässige Möglichkeiten zu regeln, welcher Anteil der Vergütung für Insolvenzen, die erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgeschlossen werden, dem früheren Arbeitgeber zustehen soll. So sind beispielsweise Vereinbarungen vorstellbar, die Umfang und Komplexität der Insolvenzverfahren bei der Festlegung des an den Arbeitgeber abzuführenden Anteils der Vergütung berücksichtigen. Auch kann lediglich ein Prozentsatz der erlangten Insolvenzverwaltervergütung abzuführen sein (vgl. Graeber ZinsO 2019, 2612, 2614 f.). Denkbar wäre zudem, von der Festlegung des Anteils der Insolvenzverwaltervergütung, der nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses an den Arbeitgeber abzuführen ist, abzusehen, und die vom Arbeitgeber erbrachten Leistungen für zum Auflösungszeitpunkt noch nicht abgeschlossene Insolvenzverfahren dem ausgeschiedenen Insolvenzverwalter in Rechnung stellen zu lassen (vgl. Mitlehner Anm. NZI 2020, 134, 136). Die von der Klägerin begehrte ergänzende Vertragsauslegung käme daher einer Vertragshilfe gleich. Es hätte ihr oblegen, bei der von ihr formulierten Klausel den naheliegenden Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Abschluss sämtlicher laufender Insolvenzverfahren der Beklagten zu berücksichtigen.
41
c) Die Klägerin kann ihren Anspruch auch nicht auf eine gesetzliche Grundlage stützen.
42
aa) Der Klägerin stehen die begehrten Insolvenzverwaltervergütungen nicht unter bereicherungsrechtlichen Gesichtspunkten iSv. §§ 812 ff. BGB zu. Die Beklagte hat die Insolvenzverwaltervergütungen nicht ohne Rechtsgrund erlangt.
43
bb) Ein Anspruch der Klägerin auf die begehrten Insolvenzverwaltervergütungen folgt auch nicht aus § 612 Abs. 1 BGB in Verbindung mit einer enttäuschten Vergütungserwartung.
44
Dabei kann offenbleiben, ob § 612 Abs. 1 BGB auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation überhaupt anwendbar ist. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellte, dass die Zurverfügungstellung von sächlichen und personellen Betriebsmitteln und die Haftungsfreistellung der Beklagten im Innenverhältnis Dienstleistungen iSv. § 612 BGB darstellen und diese Leistungen nur gegen eine Entschädigung in Form einer „Vergütung“ zu erwarten sind, kommt § 612 Abs. 1 BGB als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht. Denn dies setzt voraus, dass weder eine positive noch eine negative Regelung zur Vergütung getroffen wurde (vgl. BAG 26. Juni 2019 – 5 AZR 452/18 – Rn. 37 mwN, BAGE 167, 158). Hier haben die Parteien jedoch eine – wenn auch aus Sicht der Klägerin unvollständige – Regelung getroffen. Unabhängig davon wäre jedenfalls die von der Klägerin begehrte vollständige Abführung der im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht fälligen Verwaltervergütung aus den oben genannten Gründen (Rn. 40) nicht die „übliche Vergütung“ iSd. § 612 Abs. 2 BGB. Insoweit kann dahinstehen, ob es für die Fälle einer Abtretung von Insolvenzverwaltervergütungen überhaupt eine übliche Vergütung gibt und welchen Inhalt diese gegebenenfalls hätte.
45
cc) Auch die übrigen von der Klägerin vorgetragenen Rechtsgrundlagen vermögen ihren Anspruch nicht zu begründen.
46
(1) Die Klägerin hat – entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts – keinen Herausgabeanspruch nach § 667 Alt. 2 BGB analog auf die begehrten Insolvenzverwaltervergütungen.
47
(a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts enthalten die auftragsrechtlichen Bestimmungen allgemeine Grundsätze, die grundsätzlich auch für Arbeitsverhältnisse gelten. § 667 BGB ist auf Arbeitsverhältnisse entsprechend anzuwenden, obwohl Arbeitnehmer nicht iSv. § 662 BGB unentgeltlich tätig werden. Der beauftragte Arbeitnehmer soll durch die Geschäftsbesorgung keinen Nachteil erleiden, aus ihr aber auch regelmäßig neben der vereinbarten Arbeitsvergütung keine weiteren materiellen Vorteile ziehen. Es besteht die Verpflichtung des Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber als Auftraggeber alles, was aus der Geschäftsbesorgung erlangt wurde, herauszugeben oder jedenfalls zu ersetzen. Das kann jeder Vorteil sein, den der Beauftragte aufgrund eines inneren Zusammenhangs mit dem geführten Geschäft erhalten hat (vgl. BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 956/13 – Rn. 32, BAGE 151, 367).
48
(b) Die Grundsätze des § 667 Alt. 2 BGB finden vorliegend jedoch keine Anwendung. Die Beklagte hat die Vergütung für ihre Insolvenzverwaltertätigkeit nicht in Ausübung ihrer arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit für die Klägerin erhalten. Nach der Vereinbarung vom 10. November 2010 war die Beklagte zwar berechtigt, sich ua. als Gutachterin, (vorläufige) Insolvenzverwalterin oder Treuhänderin bestellen zu lassen. Eine vertragliche Verpflichtung hierzu sah die Vereinbarung jedoch nicht vor. Eine solche Verpflichtung wäre ohnehin wegen des bei der gerichtlichen Bestellung nach § 56 InsO verfassungsrechtlich geforderten Vorauswahlverfahrens (BVerfG 3. August 2004 – 1 BvR 135/00 ua. -) auf eine rechtliche Unmöglichkeit gerichtet. Vielmehr stand es der Beklagten nach dem klaren und mit der Rechtslage im Einklang stehenden Wortlaut der Vereinbarung frei, von der Möglichkeit, sich zur Insolvenzverwalterin bestellen zu lassen, Gebrauch zu machen. Damit fehlt der Vereinbarung bereits der Charakter eines „Auftragsverhältnisses“ (vgl. hierzu BGH 10. Juli 2015 – V ZR 206/14 – Rn. 26 ff., BGHZ 206, 211; Mitlehner Anm. NZI 2020, 134, 135 f.; aA Bei der Kellen DZWIR 2020, 341, 344). Zudem war die einzelne Bestellung zum Insolvenzverwalter kein der Beklagten als „Auftragnehmerin“ von der Klägerin als „Auftraggeberin“ übertragenes Geschäft. Der Insolvenzverwalter wird durch das Insolvenzgericht bestellt. Ihm wird dadurch von Seiten des Staates die Befugnis eingeräumt, fremdes Vermögen zu verwalten (vgl. BVerfG 12. Januar 2016 – 1 BvR 3102/13 – Rn. 45, BVerfGE 141, 121; BGH 16. Februar 2017 – IX ZB 103/15 – Rn. 31 mwN, BGHZ 214, 78). Das Insolvenzverfahren ist Teil des Zwangsvollstreckungsrechts. Es bezweckt – gegebenenfalls neben der Erhaltung von Arbeitsplätzen in Unternehmen – die unter Berücksichtigung der Lage des Schuldners bestmögliche Befriedigung der Forderungen der Gläubiger, die auch im Rahmen der Zwangsvollstreckung als private vermögenswerte Rechte von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt sind. Mit der Durchsetzung berechtigter Forderungen ist das Insolvenzverfahren zudem ein Element zur Verwirklichung des Justizgewährungsanspruchs. Damit liegt ein funktionierendes Insolvenzverfahren nicht nur im subjektiven Interesse der einzelnen Gläubiger, sondern auch im öffentlichen Interesse an der Wahrung einer am Rechtsfrieden orientierten, rechtsstaatlichen Ordnung (ausführlich hierzu BVerfG 12. Januar 2016 – 1 BvR 3102/13 – Rn. 43 f., aaO; Mitlehner Anm. NZI 2020, 134). Dieser übergeordnete Zweck ist mit einem „Auftragsverhältnis“ zwischen dem Arbeitgeber als „Auftraggeber“ und dem bestellten Insolvenzverwalter als „Auftragnehmer“ nicht vereinbar und schließt es damit aus (zur Wahrnehmung eines Aufsichtsratsmandats im Arbeitsverhältnis vgl. BAG 21. Mai 2015 – 8 AZR 956/13 – Rn. 33, BAGE 151, 367).
49
(c) Ob die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für die der Beklagten zur Ausübung ihrer Insolvenzverwaltertätigkeiten zur Verfügung gestellten persönlichen und sächlichen Betriebsmittel und der (anteiligen) Kosten für eine Haftpflichtversicherung hat, musste der Senat nicht entscheiden. Es ist zwar denkbar, dass zwischen der zur Insolvenzverwalterin bestellten Beklagten als Auftraggeberin und der Klägerin als Auftragnehmerin ein Auftragsverhältnis betreffend die Nutzung der erforderlichen Kanzleiausstattung und die Haftungsfreistellung begründet worden ist und der Klägerin gegebenenfalls ein Anspruch auf Ersatz ihrer diesbezüglichen Aufwendungen nach § 670 BGB zusteht (vgl. Mitlehner Anm. NZI 2020, 134, 135 f.). Ein solcher Anspruch ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.
50
(2) Ein Anspruch auf die begehrten Insolvenzverwaltervergütungen folgt schließlich nicht aus § 241 Abs. 2 iVm. § 280 BGB. Selbst wenn die Beklagte – wie die Klägerin meint – eine (nachwirkende) arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht verletzt hätte, indem sie die unter teilweiser Nutzung der Betriebsmittel der Klägerin bearbeiteten Insolvenzverfahren dem Insolvenzgericht gegenüber abgerechnet und die beantragten Vergütungen vollständig vereinnahmt hat, führte dies nach § 280 Abs. 1 iVm. §§ 249 ff. BGB lediglich zu einem Ersatz der von der Klägerin getätigten Aufwendungen für die Überlassung von Ausstattungsgegenständen, Personalkosten und anteiligen Kosten für eine etwaige Haftpflichtversicherung. Ein solcher Schadensersatzanspruch ist vorliegend ebenfalls nicht Streitgegenstand.
51
3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten Kosten für Kopien in Höhe von 138,00 Euro, die sie zur Ermittlung der konkreten Höhe der eingeklagten Insolvenzverwaltervergütungen gefertigt hat. Insoweit besteht bereits dem Grunde nach kein Anspruch. Einen anteiligen Ersatzanspruch bezogen auf das Insolvenzverfahren St (Amtsgericht Frankfurt (Oder) – 3 IN 714/11 -) hat die Klägerin nicht schlüssig vorgetragen. Sie hat nicht dargelegt, in welcher Höhe Kopierkosten für die diesbezüglichen Ermittlungsarbeiten angefallen sind.
52
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
Spelge
Krumbiegel
Wemheuer
D. Knauß
Kammann |
bag_4-17 | 26.01.2017 | 26.01.2017
4/17 - Massenentlassungsschutz - Benachteiligung von Personen in Elternzeit
Massenentlassungen innerhalb von 30 Kalendertagen bedürfen nach Maßgabe von § 17 KSchG zu ihrer Wirksamkeit einer vorherigen ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats und einer vorherigen ordnungsgemäßen Anzeige an die Agentur für Arbeit. Dieser durch § 17 KSchG gewährleistete Schutz ist europarechtlich durch die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) determiniert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk]) ist unter „Entlassung“ die Kündigungserklärung zu verstehen.
Hiervon ausgehend hielt der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts die Kündigung gegenüber einer Arbeitnehmerin vom 10. März 2010 für wirksam, die sich zur Zeit der wegen einer Betriebsstilllegung durchgeführten Massenentlassungen in Elternzeit befand und deren Arbeitsverhältnis erst nach Ablauf des Zeitraums von 30 Kalendertagen gekündigt wurde, obwohl sich die Kündigungen der übrigen Arbeitsverhältnisse mangels einer ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats gemäß § 17 KSchG als unwirksam erwiesen hatten (BAG 25. April 2013 – 6 AZR 49/12 -).
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – dieses Urteil aufgehoben, weil es die Klägerin in ihren Grundrechten aus Art. 3 iVm. Art. 6 GG verletze. Die Klägerin werde unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen versagt werde, weil das Abwarten der wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt habe, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt wurde. In diesen Fällen gelte der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zu der Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei.
An diese nationalrechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs bei Massenentlassungen durch das Bundesverfassungsgericht ist der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts ungeachtet der Probleme gebunden, die ua. dann entstehen, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG erteilt wird oder wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist. Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat deshalb nun auf die Revision der Klägerin festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 10. März 2010 nicht aufgelöst worden ist.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 31. Oktober 2011 – 17 Sa 761/11 – | Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 31. Oktober 2011 – 17 Sa 761/11 – im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es die Berufung hinsichtlich der gegen die Beklagte zu 1. gerichteten Kündigungsschutzklage gegen die Wirksamkeit der Kündigung vom 10. März 2010 mit dem Antrag auf Feststellung des unveränderten Fortbestands des Arbeitsverhältnisses bis zum 30. Juni 2013 zurückgewiesen hat.
2. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 6. April 2011- 2 Ca 2422/10 – im Kostenpunkt und insoweit abgeändert, als es die gegen die Beklagte zu 1. gerichtete Kündigungsschutzklage gegen die Wirksamkeit der Kündigung vom 10. März 2010 sowie den gegen die Beklagte zu 1. gerichteten Hilfsantrag auf Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten zu 1. zu unveränderten Bedingungen bis 30. Juni 2013 abgewiesen hat.
Insoweit wird das Urteil wie folgt gefasst:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1. durch die Kündigung der Beklagten zu 1. vom 10. März 2010 nicht aufgelöst worden ist, sondern bis zum 30. Juni 2013 unverändert fortbestanden hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Klägerin trägt die Gerichtskosten erster Instanz zu 43 % sowie die Gerichtskosten zweiter Instanz zu 57 %. Die Beklagte zu 1. trägt die Gerichtskosten erster Instanz zu 57 %, die Gerichtskosten zweiter Instanz zu 43 %. Die Gerichtskosten der Revisionsinstanz tragen die Klägerin und die Beklagte zu 1. je zur Hälfte.
Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. erster Instanz zu 43 % und die zweiter Instanz zu 57 %. Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2. voll. Die Beklagte zu 1. trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin der ersten Instanz zu 57 % und die der zweiten Instanz zu 43 %. Ihre außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz tragen die Klägerin und die Beklagte zu 1. je zur Hälfte.
Leitsatz
Bei Arbeitnehmern in Elternzeit ist Entlassung iSd. § 17 KSchG bereits der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten nur noch darüber, ob die Klägerin sich auf den Massenentlassungsschutz nach § 17 KSchG berufen kann.
2
Die frühere Beklagte zu 1. (künftig Beklagte) ist die nach Rücknahme der Revision gegen die frühere Beklagte zu 2. mit Schriftsatz vom 23. April 2013 einzig verbliebene Beklagte. Sie ist eine ehemalige Fluggesellschaft, deren Hauptanteilseigner der griechische Staat ist. Sie unterhielt in Deutschland ua. eine Station in F mit 36 Arbeitnehmern. In dieser war die Klägerin, die sich bis zum 26. September 2011 in Elternzeit befand, seit Februar 1992 als Ticketing/Reservation Agent tätig.
3
Die Beklagte ist aufgrund des Beschlusses des Berufungsgerichts Athen (Efeteio) vom 2. Oktober 2009 in Sonderliquidation nach Art. 14 A des Gesetzes 3429/2005. Das führt gemäß Art. 14 A Nr. 4 dieses Gesetzes nicht zur Auflösung des Unternehmens. Der eingesetzte Liquidator führt die Geschäfte des Unternehmens, er verwaltet und vertritt es. Das Gericht setzte zunächst die E S.A., eine Aktiengesellschaft griechischen Rechts mit Sitz in Athen, später mit Wirkung zum 24. März 2015 die E T A.E als Liquidatorin ein.
4
Am 17. Dezember 2009 erstattete die Beklagte Massenentlassungsanzeige zur Beendigung aller 36 Arbeitsverhältnisse in der Station F. Ein Konsultationsverfahren führte sie nicht durch. Auf den am 17. Dezember 2009 eingegangenen Antrag der Beklagten vom 16. Dezember 2009 erklärte die zuständige Behörde die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin mit Bescheid vom 2. März 2010 für zulässig. Daraufhin kündigte Rechtsanwalt G das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 10. März 2010, das dieser am 12. März 2010 zuging, „namens und in Vollmacht des Sonderliquidators“ zum 30. Juni 2010. Zuvor hatte er mit Schreiben vom 24. Dezember 2009 und 15. Januar 2010 die Arbeitsverhältnisse der übrigen Arbeitnehmer der Station in F gekündigt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist zwischenzeitlich durch eine weitere Kündigung der Beklagten zum 30. Juni 2013 beendet.
5
Mit nicht unterzeichnetem Telefax vom 1. April 2010 hat sich die Klägerin gegen die Kündigung gewandt. Das unterschriebene Original der Klageschrift ist erst am 8. April 2010 beim Arbeitsgericht eingegangen. Als Beklagte ist die „E S.A. … als Sonderliquidator über das Vermögen der Firma O S.A.“ angegeben. Die Klägerin hat mit am selben Tag beim Arbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz vom 2. Juli 2010 beantragt, die Klage nachträglich zuzulassen.
6
Die Klägerin begehrt nach verschiedenen Rücknahmen von Anträgen und einer Beschränkung der Revision zuletzt nur noch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten bis zum 30. Juni 2013. Sie hat erstinstanzlich geltend gemacht, hinsichtlich der Kündigung vom 10. März 2010 liege keine wirksame Massenentlassungsanzeige vor. Jedenfalls sei dieser weder eine Unterrichtung des Betriebsrats oder eine Beratung mit demselben vorausgegangen, noch sei eine Stellungnahme des Betriebsrats zu einer eventuellen Massenentlassungsanzeige beigefügt gewesen.
7
Die Klägerin hat zuletzt bezogen auf das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung vom 10. März 2010 nicht aufgelöst worden ist, sondern über den 30. Juni 2010 hinaus bis zum 30. Juni 2013 unverändert fortbestanden hat;
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin auch nicht durch andere Beendigungsgründe aufgelöst worden ist und über den 30. Juni 2010 hinaus bis zum 30. Juni 2013 unverändert fortbestanden hat.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Kündigung nach § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam gelte. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Kündigungsschutzklage nachträglich zugelassen werde. Die dagegen gerichtete Revision hat der Senat mit Urteil vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 -) zurückgewiesen. Er hat angenommen, der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG sei in der maßgeblichen Station in F bei Zugang der Kündigung am 12. März 2010 nicht mehr erreicht gewesen. Der 30-Tage-Zeitraum des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG sei bei Zugang der Kündigungserklärung verstrichen gewesen. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 8. Juni 2016 (- 1 BvR 3634/13 -) aufgehoben.
Entscheidungsgründe
9
Die Revision ist im Umfang der von der Klägerin zuletzt gestellten Anträge begründet, soweit sie sich gegen die Beklagte richtet. Die Kündigung der Beklagten vom 10. März 2010 war gemäß § 17 Abs. 2 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam, weil die Beklagte zuvor kein Konsultationsverfahren durchgeführt hatte. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat daher bis zum 30. Juni 2013 fortbestanden. Hinsichtlich der früheren Beklagten zu 2. ist das Urteil des Landesarbeitsgerichts durch Revisionsrücknahme rechtskräftig geworden.
10
I. Die deutschen Gerichte sind für die Entscheidung des Rechtsstreits international zuständig (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 24, BAGE 144, 125).
11
II. Die Revision der Klägerin ist zulässig. Dafür ist das deutsche Prozessrecht maßgeblich (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 303/12 – Rn. 19). Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin sind unter Beachtung der §§ 25 ff. des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG) postulationsfähig (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 303/12 – Rn. 21 ff.).
12
III. Die O S.A. als Schuldnerin ist, zuletzt vertreten durch die E T A.E als Sonderliquidatorin, passivlegitimiert. Die Auswirkungen der Bestellung der E S.A. bzw. der E T A.E zur Sonderliquidatorin über das Vermögen der Beklagten als Schuldnerin sowie ihre Befugnisse und ihre Rechtsstellung als Liquidatorin beurteilen sich nach griechischem Recht. Dabei ist unerheblich, ob das Sonderliquidationsverfahren ein Insolvenzverfahren iSv. Art. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) ist (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 24 ff.). Auch der deutsche ordre public steht der Anerkennung der Eröffnung des Sonderliquidationsverfahrens nicht entgegen. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 – Rn. 41 bis 68) ausführlich begründet. Daran hält er fest. Dagegen wendet sich die Klägerin nicht. Der Senat sieht daher davon ab, seine Ausführungen zu wiederholen.
13
IV. Die noch zur Entscheidung des Senats gestellten Anträge bedürfen der Auslegung. Den in der Revision zuletzt zu 2. gestellten Antrag festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungsgründe aufgelöst worden ist, hat die Klägerin in der Berufungsinstanz ausdrücklich gegen die Beklagte zu 2. gerichtet. Das Landesarbeitsgericht hat ihn dementsprechend beschieden. Die Umstellung dieses Antrags auf die Beklagte ist keine in der Revisionsinstanz unzulässige Klageänderung, weil in dem in den Vorinstanzen gegen die Beklagte gestellten Antrag zu 1. bereits der allgemeine Feststellungsantrag enthalten ist, der mit dem Antrag zu 2. lediglich klargestellt worden ist. Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 13. Januar 2017 auf Hinweis des Senats erklärt hat, in den Anträgen zu 1. und 2. könne jeweils der Zusatz „und bis zum 30. Juni 2013“ ergänzt werden, liegt darin eine Beschränkung der Revision.
14
V. Die materiell-rechtliche Wirksamkeit der Kündigung der Beklagten bestimmt sich nach deutschem Arbeitsrecht. Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob das Sonderliquidationsverfahren der EuInsVO unterfällt (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 56 ff., BAGE 144, 125).
15
VI. Die Kündigung der Beklagten gilt nicht bereits nach § 7 Halbs. 1 KSchG als rechtswirksam.
16
1. Die gegen die „E S.A. … als Sonderliquidator über das Vermögen der Firma O S.A.“ gerichtete Kündigungsschutzklage war unabhängig von dieser Bezeichnung aus den in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Dezember 2012 (- 6 AZR 752/11 – Rn. 34 f.) genannten Gründen von vornherein gegen die O S.A. gerichtet. Entsprechendes gilt für den Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage. Der Senat hat darum die ungenaue Parteibezeichnung richtiggestellt und nach der Ernennung der E T A.E zur neuen Sonderliquidatorin das Passivrubrum berichtigt.
17
2. Die Wirksamkeitsfiktion des § 7 Halbs. 1 KSchG ist nicht eingetreten. Die Kündigungsschutzklage ist verspätet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage jedoch zu Recht nachträglich zugelassen. Seine Würdigung hält der revisionsrechtlichen Prüfung stand. Das hat der Senat in der Entscheidung vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 – Rn. 82 bis 105) ausführlich begründet. Daran hält er fest. Gegen diese Würdigung hat die Beklagte nach der Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht keine Rügen erhoben. Der Senat sieht daher davon ab, seine Ausführungen zu wiederholen.
18
VII. Die Beklagte hat vor der Kündigung vom 10. März 2010 das nach § 17 Abs. 2 KSchG auch für die von ihr geplante Betriebsstilllegung erforderliche (BAG in st. Rspr., zuletzt 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 22) Konsultationsverfahren nicht durchgeführt. Sie hat gegenüber dem Gesamtbetriebsrat als zuständigem Gremium nicht deutlich gemacht, dass dieses Verfahren durchgeführt werden sollte und hat ihn auch nicht rechtzeitig unterrichtet. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2012 (- 6 AZR 752/11 – Rn. 44 ff.) ausführlich begründet und verweist darauf. Auf diesen Fehler kann sich die Klägerin berufen. Die Kündigung ist darum gemäß § 134 BGB nichtig (BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 19, BAGE 144, 366). Auf die weiteren, von der Klägerin geltend gemachten Unwirksamkeitsgründe kam es deshalb nicht an.
19
1. Die Klägerin ist mit der Rüge, die Kündigung sei unwirksam, weil das Konsultationsverfahren nicht erfolgt sei, nicht nach § 6 Satz 1 KSchG präkludiert. Sie hat erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 1. April 2011 nicht nur gerügt, es sei keine Massenentlassungsanzeige erfolgt, sondern auch geltend gemacht, es sei keine Unterrichtung des Betriebsrats und keine Beratung mit ihm erfolgt. Darauf hat die Beklagte nicht erwidert. Jedenfalls in einer solchen Prozesssituation genügte es den Anforderungen des § 6 Satz 1 KSchG, dass die Beklagte dem erstinstanzlichen Vortrag der Klägerin die „Stoßrichtung“ der Rüge entnehmen konnte (vgl. BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 13 ff., BAGE 154, 53; vgl. Moll/Katerndahl Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 48, die generell davon ausgehen, Sinn und Zweck des § 6 Satz 1 KSchG erforderten keine Substantiierung der Rüge).
20
2. Die Beklagte musste vor der Kündigung der Klägerin das Massenentlassungsverfahren durchführen. Der nach § 17 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 KSchG maßgebliche Schwellenwert war überschritten.
21
a) Für die Berechnung des Schwellenwerts war auf die Station in F, in der die Klägerin eingesetzt war und der sie damit „angehörte“ (vgl. EuGH 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 44 ff.), nicht aber auf die Gesamtheit der von der Beklagten in Deutschland unterhaltenen Stationen abzustellen (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 85, BAGE 144, 125). Ein betriebsverfassungsrechtliches Betriebsverständnis unter Heranziehung der §§ 1, 4 BetrVG führt zu keinem anderen Ergebnis (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 84, aaO).
22
b) In der Station F waren 36 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte musste daher gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG das Konsultationsverfahren durchführen, sobald sie beabsichtigte, innerhalb von 30 Tagen mehr als fünf Arbeitnehmer zu entlassen. Angesichts der von ihr geplanten Entlassung aller Arbeitnehmer dieser Station war sie deshalb zur Einleitung des Konsultationsverfahrens verpflichtet. Das galt auch bezüglich der beabsichtigten Kündigung der Klägerin, obwohl diese Kündigungserklärung wegen der erforderlichen behördlichen Zustimmung nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG in der bis zum 31. Dezember 2014 geltenden Fassung vom 5. Dezember 2006 (BEEG aF) möglicherweise erst außerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erfolgen konnte und tatsächlich außerhalb dieses Zeitraums zugegangen ist.
23
aa) Der unionsrechtlich determinierte Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen knüpft an den Zeitpunkt der Entlassung und damit an den Zugang der Kündigungserklärung an (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 39, Slg. 2005, I-885; BAG in st. Rspr. seit 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – Rn. 18, BAGE 117, 281; zuletzt 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 17). Massenentlassungen liegen nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie – MERL -, ABl. EG L 225 vom 12. August 1998 S. 16) nur vor, wenn innerhalb von 30 Tagen eine bestimmte, von der Betriebsgröße abhängige Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird (Schwellenwert). Diese Definition ist vom Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG – mit von Art. 5 MERL gedeckten günstigeren Schwellenwerten (BAG 19. März 2015 – 8 AZR 119/14 – Rn. 42 f.) – in deutsches Recht umgesetzt worden. Maßgeblich für den Massenentlassungsschutz ist also grundsätzlich, ob der Arbeitgeber innerhalb von 30 Tagen mindestens die in § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 KSchG genannte Anzahl von Kündigungen erklärt.
24
bb) Ausgehend von der Systematik der MERL entscheidet sich grundsätzlich erst im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärungen und damit aus der ex-post-Perspektive, ob tatsächlich eine Massenentlassung erfolgt ist und sich der gekündigte Arbeitnehmer auf diesen Schutz berufen kann.
25
(1) Anzahl und Zeitpunkt der Kündigungen stehen allerdings bei Einleitung des dem Anzeigeverfahren vorgelagerten Konsultationsverfahrens regelmäßig noch nicht fest. Das Konsultationsverfahren ist gemäß Art. 2 Abs. 1 MERL und § 17 Abs. 2 KSchG „rechtzeitig“ einzuleiten, dh. zu dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt (EuGH 10. September 2009 – C-44/08 – [Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK ua.] Rn. 41, Slg. 2009, I-8163; BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 25). Der Arbeitgeber darf auch bei einer geplanten Betriebsstilllegung im Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und damit vollendete Tatsachen geschaffen haben (vgl. EUArbR/Spelge RL 98/59/EG Art. 2 Rn. 16; APS/Moll 5. Aufl. KSchG § 17 Rn. 72; vgl. für §§ 111 ff. BetrVG BAG 14. April 2015 – 1 AZR 223/14 – Rn. 21). Anderenfalls kann der Betriebsrat den von Art. 2 MERL und § 17 Abs. 2 KSchG beabsichtigten möglichen Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers nicht (mehr) nehmen. Der Arbeitgeber muss darum regelmäßig das Konsultationsverfahren auf alle für eine Kündigung in Betracht kommenden Arbeitnehmer erstrecken. Das gilt grundsätzlich auch für Arbeitnehmer, deren Kündigung wie im Fall der Klägerin behördlicher Zustimmung bedarf. Nur dann, wenn der Arbeitgeber bei Einleitung des Verfahrens sicher ausschließen kann, dass Arbeitnehmer innerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, etwa weil er ihre Entlassung erst in einer zweiten „Kündigungswelle“ plant (vgl. die der Entscheidung des BAG vom 9. Juni 2016 – 6 AZR 638/15 – zugrunde liegende Konstellation), muss er diese nach der Konzeption der MERL auch dann nicht in das Konsultationsverfahren einbeziehen, wenn ihnen Sonderkündigungsschutz zukommt.
26
(2) Arbeitnehmer, die außerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, können sich jedoch unabhängig davon, ob dies auf ein behördliches Zustimmungserfordernis zurückzuführen ist, nach der unionsrechtlichen Ausgestaltung des Massenentlassungsschutzes auf Fehler im Konsultationsverfahren nicht berufen. Bei einer solchen Kündigung wird der Schutz der MERL nicht ausgelöst, weil keine Massenentlassung vorliegt. Das ist im Hinblick auf die Zielrichtung der Richtlinie auch konsequent, die ausweislich ihres Erwägungsgrundes 2 den Schutz von Arbeitnehmern bei Massenentlassungen verstärken soll. Des verstärkten Schutzes der MERL bedürfen Arbeitnehmer aber nur und insoweit, als die von der Richtlinie vorausgesetzten sozio-ökonomischen Auswirkungen (dazu EuGH 15. Februar 2007 – C-270/05 – [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 28, Slg. 2007, I-1499; BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 27 f., BAGE 154, 53) eintreten können. Arbeitnehmer, denen eine Kündigung außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugeht, sind daher ausgehend vom Zweck der MERL nicht schutzwürdig. Unterfiele die Entlassung einzelner Arbeitnehmer dem Anwendungsbereich der Richtlinie, widerspräche dies zudem dem üblichen Sinn des Begriffs der „Massenentlassung“ (EuGH 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 64).
27
cc) Der deutsche Gesetzgeber hat diese Systematik der MERL in § 17 KSchG übernommen. Die Klägerin hätte darum zwar wie die übrigen Arbeitnehmer der Station F in das von der Beklagten wegen der Ende 2009/Anfang 2010 geplanten Massenentlassung durchzuführende Konsultationsverfahren einbezogen werden müssen. Sie konnte sich nach dieser Systematik aber nicht auf den Massenentlassungsschutz und damit nicht auf Fehler im Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG berufen, weil ihre Kündigung tatsächlich nicht Teil einer Massenentlassung war. Die Klägerin hat nicht dargelegt (zur Darlegungslast für die Überschreitung des Schwellenwerts BAG 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – Rn. 34; vgl. auch 21. März 2012 – 6 AZR 596/10 – Rn. 12 mwN), dass innerhalb von 30 Tagen im zeitlichen Umfeld der ihr am 12. März 2010 zugegangenen Kündigungserklärung noch mindestens fünf Kündigungen anderer Arbeitnehmer der Station F erfolgt sind.
28
dd) Diese Konzeption des deutschen Gesetzgebers ist aber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – mit Art. 3 Abs. 1 iVm. Art. 6 GG sowie mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in seiner Verstärkung durch Art. 3 Abs. 2 GG nicht uneingeschränkt vereinbar. Die Klägerin werde unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen versagt werde, weil das Abwarten der gemäß § 18 BEEG aF wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt habe, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt wurde. Daher seien Personen mit besonderem Kündigungsschutz, denen Kündigungen allein deshalb außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugingen, weil zuvor ein anderes behördliches Verfahren, das keinen dem Massenentlassungsschutz gleichwertigen Schutz biete, habe durchgeführt werden müssen, so zu behandeln wie Arbeitnehmer, für deren Kündigungen § 17 KSchG gilt. In diesen Fällen gelte deshalb der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zu der Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei. § 17 KSchG sei einer derartigen verfassungskonformen Auslegung zugänglich (BVerfG 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – Rn. 15 ff. unter Heranziehung der für die Wahrung der Ausschlussfrist nach § 626 Abs. 2 BGB geltenden Grundsätze, vgl. dazu HaKo/Gieseler 5. Aufl. § 626 BGB Rn. 147).
29
ee) Das Bundesverfassungsgericht hat mit diesen Vorgaben zur verfassungskonformen Auslegung des § 17 KSchG, ohne dies ausdrücklich offenzulegen, den nationalrechtlichen Entlassungsbegriff für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz gegenüber den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union erweitert (vgl. Laskawy EWiR 2016, 711, 712). Es hat zwar nur verlangt, dass Kündigungen von Arbeitnehmern, bei denen ein „nicht gleichwertiges behördliches Verfahren“ zur Verzögerung des Kündigungszugangs führt, so behandelt werden, wie Kündigungen, für die die Regeln des Massenentlassungsschutzes gelten. Es hat jedoch dem Senat die verfassungskonforme Auslegung des § 17 KSchG, wonach die 30-Tage-Frist als gewahrt gelte, wenn der Antrag innerhalb von 30 Tagen erfolge, vorgegeben. Das hat zwingend die Neudefinition des Entlassungsbegriffs für Arbeitnehmer mit „nicht gleichwertigem“ Sonderkündigungsschutz zur Folge. Maßgeblich ist für diesen Personenkreis nicht der Zugang der Kündigung, sondern der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der Behörde. Diese Neudefinition ist für den Senat bindend. Nach einer Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht ist das Fachgericht im Umfang der Feststellung nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Die Bindungswirkung erstreckt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch auf die den Tenor tragenden Gründe (vgl. nur BVerfG 8. September 2010 – 2 BvL 3/10 – Rn. 12, BVerfGK 18, 26). Die stattgebende Kammerentscheidung vom 8. Juni 2016 nimmt gemäß § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG teil (BVerfG 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05 – Rn. 74, BVerfGK 7, 21). In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Handhabung des § 17 KSchG entsprechend seinem Wortlaut und Normzweck durch den Senat in seinem Urteil vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 -) als unvereinbar mit dem Grundgesetz angesehen. Auch diese Feststellung ist bindend (vgl. BVerfG 6. Mai 1986 – 1 BvR 677/84 – zu II 1 b der Gründe, BVerfGE 72, 119). Die verfassungsrechtlich gebotene Einbeziehung von Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz, die außerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, in den Massenentlassungsschutz lässt sich in der Systematik des § 17 KSchG nur durch die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene verfassungskonforme Erweiterung des Entlassungsbegriffs verwirklichen, auch wenn diese Erweiterung die Grenzen der zulässigen richterlichen Rechtsfortbildung (dazu BVerfG 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10 – Rn. 52 ff., BVerfGE 128, 193) wohl überschritten hätte, wenn der Senat sie von sich aus vorgenommen hätte.
30
ff) Mit den Vorgaben zur verfassungskonformen Erweiterung des Entlassungsbegriffs in § 17 KSchG hat das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen nicht überschritten. Der Entlassungsbegriff unterliegt zwar allein der autonomen Interpretation durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH 12. Oktober 2004 – C-55/02 – [Kommission/Portugal] Rn. 45, Slg. 2004, I-9387). Die Erweiterung des nationalrechtlichen Entlassungsbegriffs ist jedoch noch von der Günstigkeitsklausel in Art. 5 MERL gedeckt. Das Unionsrecht belässt insoweit dem nationalen Gesetzgeber einen Spielraum, der die verfassungsgerichtliche Prüfung ermöglicht (BVerfG 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08 – [Investitionszulagengesetz] Rn. 45 f., BVerfGE 129, 186; BAG 16. Februar 2012 – 6 AZR 553/10 – Rn. 36, BAGE 141, 1). Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, der grundsätzlich gegenüber jeglichem nationalen Recht und damit auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht gilt (dazu EuGH 15. Januar 2013 – C-416/10 – [Križan] Rn. 70; 11. Januar 2000 – C-285/98 – [Kreil] Slg. 2000, I-69 [zur Unvereinbarkeit des Art. 12a GG mit der RL 76/207/EWG]; 9. März 1978 – 106/77 – [Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal] Rn. 17 f., Slg. 1978, 629; BVerfG st. Rspr., zuletzt 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT] Rn. 117 ff.) und der auch im Verhältnis zwischen einem Verfassungsgericht und innerstaatlichen Fachgerichten zu berücksichtigen ist (EuGH 15. Januar 2013 – C-416/10 – [Križan] Rn. 70), tritt deshalb zurück, weshalb der Senat keinen Anlass zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV hatte.
31
(1) Die MERL gewährt nur einen Mindestschutz bei Massenentlassungen. Die Mitgliedstaaten können für die Arbeitnehmer günstigere einzelstaatliche Maßnahmen erlassen (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 29, 32). Das stellt Art. 5 MERL klar. Die Mitgliedstaaten sind jedoch ungeachtet dessen an die Auslegung gebunden, die der Gerichtshof der Europäischen Union den von ihm autonom auszulegenden Begriffen gibt (vgl. für den Betriebsbegriff EuGH 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 67). Die nationalen Regelungen dürfen darum den Schutzstandard der Arbeitnehmer im Vergleich zu dem Standard, der nach der autonomen Auslegung der MERL durch den Gerichtshof der Europäischen Union besteht, nicht absenken (vgl. EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 52 ff.). Eine solche Absenkung tritt durch die Erweiterung des Entlassungsbegriffs jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht ein.
32
(2) Auch die den nationalen Gestaltungsmöglichkeiten durch das Gebot des effet utile gezogene immanente Grenze ist nicht überschritten. Nationale Bestimmungen, die dem in Art. 2 bis Art. 4 MERL geregelten Verfahren seine praktische Wirksamkeit nehmen, weil sie dazu führen, dass jede tatsächliche Möglichkeit des Arbeitgebers, Massenentlassungen vorzunehmen, praktisch ausgeschlossen ist, sind von Art. 5 MERL nicht mehr gedeckt. Ob diese Grenzen überschritten sind, haben die nationalen Gerichte zu prüfen (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 37 f., 43). Das vom nationalen Verfassungsrecht geprägte Verständnis des Entlassungsbegriffs macht die Kündigung von Arbeitnehmern, die dem Schutz des § 18 BEEG unterfallen, nicht praktisch unmöglich.
33
3. Unter Zugrundelegung des erweiterten nationalen Entlassungsbegriffs kann sich auch die Klägerin darauf berufen, dass die Beklagte vor der Kündigung vom 10. März 2010 das Konsultationsverfahren nicht durchgeführt hat.
34
a) Die Kündigungserklärung ist der Klägerin allein deshalb später als 30 Tage zugegangen als den Arbeitnehmern, die sich auf den Massenentlassungsschutz auch nach dem Unionsrecht berufen können, weil die Beklagte zunächst die behördliche Zustimmung nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG aF einholen musste. Das Zustimmungsverfahren nach § 18 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 BEEG aF gewährte im Fall der hier vorliegenden Betriebsstilllegung keinen § 17 KSchG gleichwertigen Schutz, weil die Kündigung regelmäßig für zulässig erklärt wird und sich deshalb die unterschiedliche Ausgestaltung des Kündigungsschutzes zu Lasten der Klägerin auswirkte. Dieser wurde die Gestaltungsoption, die dem Betriebsrat vor der Kündigung zukommt, genommen (BVerfG 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – Rn. 18 f., 25).
35
b) Der Antrag der Beklagten auf Zustimmung zur Kündigung der Klägerin nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG aF vom 16. Dezember 2009 ist am Folgetag und damit innerhalb von 30 Tagen vor dem Zugang von mindestens fünf Kündigungserklärungen, die die Beklagte mit Schreiben vom 24. Dezember 2009 erklärte (vgl. BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 -; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 753/11 -; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 755/11 -; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 756/11 – und 13. Dezember 2012 – 6 AZR 6/12 -), bei der zuständigen Behörde eingegangen.
36
VIII. Die vom Bundesverfassungsgericht für erforderlich gehaltene verfassungskonforme Auslegung des Entlassungsbegriffs für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz wirft allerdings zahlreiche Folgeprobleme auf. Dies betrifft ua. die Frage, welche anderen behördlichen Zustimmungserfordernisse ebenso wie § 18 BEEG keinen dem Massenentlassungsschutz vergleichbaren Schutz bieten. Ungeklärt ist auch, ob der verfassungskonforme Entlassungsbegriff für alle Massenentlassungen gilt oder nur bei Betriebsstilllegungen (zweifelnd bereits für § 18 BEEG bei bloßen Betriebsänderungen Hexel DB 2016, 2486, 2487). Offen ist ferner, wie Kündigungen zu behandeln sind, bei denen der Antrag außerhalb des zeitlichen Zusammenhangs von 30 Tagen mit anderen Massenentlassungen erfolgt. Probleme entstehen insbesondere, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG (vgl. dazu BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 638/15 – Rn. 28) erteilt wird, wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist oder wenn ein Arbeitgeber Kündigungen so staffelt, dass die Schwellenwerte stets (gerade noch) unterschritten werden, um so den Massenentlassungsschutz zu vermeiden. Der vorliegende Fall gibt jedoch keine Veranlassung, diese Fragen näher zu erörtern.
37
IX. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92, 100 ZPO. Dabei war zur Wahrung des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung eine Kostenverteilung auch bezüglich der aus dem Revisionsverfahren ausgeschiedenen Beklagten zu 2. zu treffen (vgl. BAG 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14 – Rn. 106; BGH 14. Juli 1981 – VI ZR 35/79 – zu III der Gründe). Bei der Kostenentscheidung war zu berücksichtigen, dass die Klägerin in den Tatsacheninstanzen unterschiedliche, von den zuletzt in der Revision gestellten abweichende Anträge gestellt hatte.
Fischermeier
Spelge
Krumbiegel
M. Jostes
Augat |
bag_4-18 | 25.01.2018 | 25.01.2018
4/18 - Kein Betriebsübergang iSv. § 613a Abs. 1 BGB bei fehlendem Wechsel in der für den Betrieb der wirtschaftlichen Einheit verantwortlichen Person
Die Parteien streiten darüber, ob das ursprünglich zwischen ihnen begründete Arbeitsverhältnis – wie der Beklagte meint – über den 31. März 2011 hinaus fortbesteht oder – wie die Klägerin meint – in Folge eines Betriebsübergangs auf eine neu gegründete Gesellschaft (im Folgenden Gesellschaft) übergegangen ist. Der Beklagte war seit 1976 als Schlosser im Betrieb der Klägerin in Berlin beschäftigt. Weitere Betriebe unterhielt die Klägerin in Oberstenfeld und Niederorschel. Im März 2011 schlossen die Klägerin und die Gesellschaft eine „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ ab, wonach die Gesellschaft ab dem 1. April 2011 die komplette Produktion der Klägerin an allen 3 Standorten in Lohnfertigung mit den dort tätigen Arbeitnehmern weiterführen und für die Klägerin die Betriebsführung des gesamten Geschäftsbetriebs an allen Standorten übernehmen sollte. Darüber hinaus wurde ua. vereinbart, dass die Gesellschaft, sofern die Betriebsführung im Zusammenhang mit der Lohnfertigung und der Produktion ausgeführt wird, ausschließlich für Rechnung und im Namen der Klägerin tätig wird. Insoweit erteilte die Klägerin der Gesellschaft Generalhandlungsvollmacht. Die Klägerin und die Gesellschaft sind ab dem 1. April 2011 entsprechend der Vereinbarung verfahren. Zuvor hatten die Klägerin und die Gesellschaft die Arbeitnehmer darüber unterrichtet, dass ihre Arbeitsverhältnisse mit Ablauf des 31. März 2011 in Folge eines Betriebsübergangs auf die Gesellschaft übergehen würden. Mit Schreiben von Ende März 2014 kündigte die Gesellschaft das Arbeitsverhältnis mit dem Beklagten wegen Stilllegung des Berliner Betriebs. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage des Beklagten gegen die Gesellschaft wurde rechtskräftig abgewiesen. Mit Schreiben vom 8. Juni 2015 forderte der Beklagte die Klägerin auf anzuerkennen, dass zwischen ihnen über den 31. März 2011 hinaus ein Arbeitsverhältnis besteht. Die Klägerin hat daraufhin Klage erhoben mit dem Antrag festzustellen, dass zwischen den Parteien über den 31. März 2011 hinaus ein Arbeitsverhältnis nicht bestanden hat und nicht besteht.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das Arbeitsverhältnis des Beklagten ist nicht im Wege des Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB von der Klägerin auf die Gesellschaft übergegangen. Ein Betriebsübergang setzt voraus, dass die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche natürliche oder juristische Person, die insoweit die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt. Diese Voraussetzung war nicht erfüllt; die Klägerin hatte ihre Verantwortung für den Betrieb des Unternehmens nicht an die Gesellschaft abgegeben. Dem Beklagten war es auch nicht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) versagt, sich auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin zu berufen. Der Umstand, dass die Kündigungsschutzklage des Beklagten gegen die Gesellschaft rechtskräftig abgewiesen worden war, war ohne Belang.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 25. Januar 2018 – 8 AZR 338/16 –
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 11. Mai 2016 – 15 Sa 108/16 –
Der Senat hat am 25. Januar 2018 auch über fünf weitere, weitgehend gleich gelagerte Sachen entsprechend entschieden. | Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Mai 2016 – 15 Sa 108/16 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob das zwischen ihnen begründete Arbeitsverhältnis über den 31. März 2011 hinaus zwischen ihnen fortbesteht, und in diesem Zusammenhang darüber, ob das Arbeitsverhältnis zum 1. April 2011 infolge eines Betriebsübergangs auf die I W GmbH + Co. KG, die später unter F H-K GmbH + Co. KG firmierte (im Folgenden F), übergegangen ist.
2
Der Beklagte war seit 1980 bei der Klägerin in deren Betrieb in B, in dem zuletzt Fassaden- und Balkonprofile produziert wurden, als Elektriker beschäftigt. Weitere Betriebe unterhielt die Klägerin in N und O. Der Beklagte war Vorsitzender des B Betriebsrats und Mitglied des Gesamtbetriebsrats.
3
Im Sommer 2010 beschloss der Beirat der Klägerin auszugsweise Folgendes:
„Die W GmbH + Co. KG soll in Zukunft nur noch die Immobilien halten und verwalten sowie das Anlagevermögen, die Lizenzrechte sowie die sonstigen Vermögensgegenstände der Gesellschaft.
Der Betrieb der Gesellschaft soll zukünftig – im Wesentlichen unverändert – durch eine neu gegründete Schwestergesellschaft in der Rechtsform einer GmbH + Co. KG mit den gleichen Beteiligungsverhältnissen wie bei der W GmbH + Co. KG geführt werden (W I GmbH + Co. KG). In der neuen Gesellschaft soll derselbe Beirat installiert werden wie bei der W GmbH + Co. KG.
Diese neue Gesellschaft soll die Produktion der W-Produkte als Lohnfertigung für die W GmbH + Co. KG übernehmen sowie die Bereiche Einkauf, Vertrieb, Marketing, Forschung und Entwicklung sowie das Rechnungswesen etc. für die W GmbH + Co. KG mittels Dienstleistungsverträgen erledigen. Die neu gegründete Gesellschaft soll dabei die Möglichkeit haben, neben der Auftragsproduktion für die W GmbH + Co. KG eigene, nicht in Konkurrenz zu den W-Produkten stehende Produkte zu entwickeln und zu vertreiben sowie Fremdaufträge von anderen Unternehmen (ausgenommen Konkurrenzunternehmen) zu übernehmen.
Die Arbeitsverhältnisse der W GmbH + Co. KG sollen auf die neu gegründete W I GmbH + Co. KG übergehen (Betriebsübergang gemäß § 613a BGB).
Die Rechtsverhältnisse zwischen den beiden Gesellschaften werden durch Abschluss entsprechender Verträge (z.B. Dienstleistungsverträge) geregelt.
Es handelt sich um eine strategische Entscheidung, die mittel- und langfristige Vorteile für das Unternehmen hat, v.a. im arbeitsrechtlichen Bereich.“
4
Am 28. Oktober 2010 vereinbarten die Klägerin und der bei ihr gebildete Gesamtbetriebsrat zur Umsetzung dieses Konzepts einen Interessenausgleich, der insbesondere die Übernahme aller Arbeitnehmer durch die neu zu gründende Gesellschaft F im Wege eines Betriebsübergangs zum Gegenstand hatte.
5
Im März 2011 schlossen die Klägerin und die – seinerzeit noch als I W GmbH + Co. KG firmierende – F eine „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ (im Folgenden Vereinbarung) ab. Hierin heißt es:
„Vorbemerkung:
W ist ein weltweit tätiger Hersteller von Bauelementen (Fensterbänke, Balkon-, Fassadenelemente, Terrassenprofile), Tischplatten, Industrieformteilen und Sperrholz-Formteilen (insbesondere Federleisten) und verfügt in Deutschland über 3 Standorte in O, N und B.
Im Dezember 2010 wurde eine neue Schwestergesellschaft, die I W GmbH + Co. KG, mit dem Sitz in O gegründet. Diese neue Gesellschaft soll in Zukunft die Produkte von W in Lohnfertigung herstellen und im Übrigen die drei Betriebe von W in Deutschland führen. Die Mitarbeiter von W werden zum Stichtag 1. April 2011 im Rahmen eines gesetzlichen Betriebsübergangs gemäß § 613a BGB auf die neu gegründete I W GmbH + Co. KG übergehen.
Dies vorausgeschickt, vereinbaren die Vertragsparteien folgendes:
A. Lohnfertigung
§ 1
Vertragsinhalt/Entgelt
Die I W führt die komplette Produktion der W-Produkte an allen 3 inländischen Standorten ab dem 1. April 2011 in Lohnfertigung weiter. Dies umfasst insbesondere die Herstellung und Bearbeitung der folgenden Produkte nach den Vorgaben von W:
–
Fensterbänke,
–
Balkon- und Fassadenelemente,
–
Terrassenprofile,
–
Tischplatten,
–
Industrieformteile und
–
Sperrholz-Formteile (insbesondere Federleisten).
Die Vergütung der von der I W erbrachten Leistungen erfolgt anhand der von der I W nachgewiesenen Lohnkosten (zuzüglich Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung sowie sonstigen Lohnnebenkosten) plus eines Aufschlages zu den Brutto-Lohnsummen von 3 %. Darüber hinaus hat die I W Anspruch auf Erstattung der gerechtfertigten Sachkosten, die im direkten Zusammenhang mit der Wertschöpfung entstehen.
Das Entgelt gemäß Absatz 2 (Sätze 1 und 2) hat W der I W innerhalb von 14 Arbeitstagen nach Rechnungsstellung zu erstatten. Die lnrechnungstellung erfolgt monatlich zu Beginn des darauf folgenden Kalendermonats.
Auf diese Zahlungen leistet W monatlich im Voraus Abschlagszahlungen an die I W in Höhe von ca. 1,6 Mio. €. Diese werden von der im nachfolgenden Kalendermonat zu erfolgenden Abrechnung in Abzug gebracht.
Miete und/oder Pacht für die Nutzung der Produktionshallen und -maschinen sowie sonstiges Anlagevermögen ist von der I W nicht zu entrichten. Die mit der Produktion zusammenhängenden Nebenkosten (insbesondere Energiekosten und sonstige Verbrauchskosten) trägt W.
…
B. Betriebsführung im Übrigen
§ 6
Betriebsführung mittels Geschäftsbesorgungsvertrag
Die I W übernehmen darüber hinaus für W ab dem 1. April 2011 die Betriebsführung des gesamten Geschäftsbetriebes an allen drei inländischen Standorten. Insbesondere umfasst dies sämtliche, in den folgenden Abteilungen zu erledigenden Arbeiten nach den Vorgaben von W:
–
Einkauf
–
Vertrieb
–
Marketing
–
Finanzbuchhaltung
–
Forschung und Entwicklung sowie
–
Instandhaltung.
Der Auftrag zur Betriebsführung erstreckt sich auf alle Geschäfte und Maßnahmen, die dem Betriebsablauf und dem gewerblichen Zweck des Betriebes dienen.
Die Geschäftsbesorgung und die Betriebsführung erfolgt durch die I W mit eigenen, auf sie gem. § 613a BGB übergegangen Arbeitnehmern.
Grundlage dafür ist ein Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen den Vertragsparteien mit folgendem Inhalt:
§ 7
Handeln für Rechnung und im Namen von W / Bevollmächtigung
Die I W handeln bei ihrer Tätigkeit gem. § 6, sofern diese im Zusammenhang mit der Lohnfertigung und der Herstellung der W-Produkte ausgeführt wird, für welche W die Patentrechte und das Know-how besitzt, ausschließlich für Rechnung und im Namen von W.
Insofern erteilt W der I W Generalhandlungsvollmacht zur Vertretung von W bei allen Rechtsgeschäften und Rechtshandlungen, bei denen das Gesetz eine Stellvertretung gestattet und die der Betrieb des Gewerbes von W mit sich bringt. Die I W dürfen von dieser Vollmacht nur für die Zwecke der Betriebsführung und im Rahmen dieses Auftrages Gebrauch machen.
§ 8
Verpflichtungen des Auftragnehmers I W
Die I W erledigen und managen eigenverantwortlich die in § 6 aufgeführten Abteilungen an allen drei Standorten. Sie sind verantwortlich für die gesamten Abläufe ab Auftragseingang bis zum Zahlungseingang durch den Kunden von W. Des Weiteren kümmern sie sich im Vertrieb darum, dass ausreichende Auftragseingänge zu verzeichnen sind. Hinzu kommen die Erledigung der erforderlichen lnstandhaltungsmaßnahmen, der gebotenen Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten sowie die pünktliche und ordnungsgemäße Erstellung der Finanzbuchhaltung.
Dabei sind neben den Vorgaben von W alle gesetzlichen Vorgaben zu beachten.
Die I W stellen sicher, dass das für den reibungslosen Ablauf der in § 6 genannten Abteilungen eingesetzte Personal über die erforderlichen beruflichen Qualifikationen verfügt. Die I W sorgen für die nötigen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen.
§ 9
Entgelt für die Geschäftsbesorgung
Die Vergütung der von der I W erbrachten Leistungen erfolgt anhand der von der I W nachgewiesenen Kosten für die Gehälter der in den in § 6 genannten Abteilungen eingesetzten Mitarbeiter (zuzüglich Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung sowie sonstigen Nebenkosten) plus eines Aufschlages zu den Brutto-Gehaltssummen von 3 %. Darüber hinaus haben die I W Anspruch auf Erstattung der gerechtfertigten Sachkosten, die im direkten Zusammenhang mit der Wertschöpfung entstehen.
Das Entgelt zuzüglich der Aufwendungen hat W der I W innerhalb von 14 Arbeitstagen nach Rechnungsstellung zu erstatten. Die lnrechnungstellung erfolgt monatlich zu Beginn des darauf folgenden Kalendermonats.
Auf diese Zahlungen leistet W monatlich im Voraus Abschlagszahlungen an die I W in Höhe von ca. 0,8 Mio. €.
Diese werden von der im nachfolgenden Kalendermonat zu erfolgenden Abrechnung in Abzug gebracht.
Miete und/oder Pacht für die Nutzung der Verwaltungsgebäude sowie das Anlagevermögen ist von der I W nicht zu entrichten. Die mit der Verwaltung zusammenhängenden Nebenkosten (insbesondere Energiekosten und sonstige Verbrauchskosten) trägt W.
§ 10
Gewerbliche Schutzrechte
W verfügt zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung über eine Reihe von gewerblichen Schutzrechten (Altschutzrechte). Unbeschadet der Benutzung dieser Schutzrechte zur Ausführung der Lohnfertigung und der Durchführung von weiteren Entwicklungsarbeiten durch die Mitarbeiter der I W in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, berührt dieser Vertrag nicht die rechtliche Situation dieser Schutzrechte, insbesondere verbleiben diese Schutzrechte im ausschließlichen Eigentum von W.
…
§ 14
Vertragsdauer
Das Vertragsverhältnis ist auf Dauer angelegt. Der Vertrag beginnt am 1. April 2011 und hat eine feste Erstlaufzeit von fünf Jahren. Er kann von beiden Parteien ordentlich erstmals auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Erstlaufzeit gekündigt werden, und zwar mit einer Frist von einem Jahr. Erfolgt keine Kündigung, verlängert sich die Vertragslaufzeit jeweils um fünf weitere Jahre. Auch in diesem Fall beträgt die Kündigungsfrist ein Jahr.
Das Recht beider Vertragsparteien, den Vertrag aus wichtigem Grund fristlos zu kündigen, bleibt unberührt.
…“
6
Mit Schreiben vom 1. März 2011 informierten die Klägerin und die F die Arbeitnehmer der Klägerin darüber, dass ihre Arbeitsverhältnisse zum 1. April 2011 gemäß § 613a BGB von der Klägerin auf die F übergehen würden.
7
Nahezu alle Arbeitnehmer – so auch der Beklagte – widersprachen dem von der Klägerin und der F angenommenen Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse auf die F nicht, erbrachten über den 31. März 2011 hinaus ihre Arbeitsleistung an ihren bisherigen Arbeitsplätzen in unveränderter Art und Weise und stellten weiterhin ausschließlich W-Produkte her. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts schloss die F ab dem 1. April 2011 Verträge mit Dritten, insbesondere mit Kunden und Lieferanten, auf Rechnung und im Namen der Klägerin. Der Marktauftritt zum Vertrieb der W-Produkte erfolgte weiterhin über die Internetseite der Klägerin. Gegenüber den Arbeitnehmern sowie gegenüber verschiedenen Behörden (zB der Agentur für Arbeit und dem Finanzamt) trat die F hingegen im eigenen Namen auf. Unter dem 16. August 2011 beantragten die F und der Betriebsrat des Betriebs in B bei den zuständigen Tarifvertragsparteien eine Abweichung vom ausgehandelten Tarifergebnis. Vom 1. Oktober 2011 bis zum 30. September 2012 wurde im Betrieb in B Kurzarbeit geleistet.
8
Am 12. November 2012 schlossen die F und der Betriebsrat des Betriebs in B einen Interessenausgleich, der vorsah, dass für die Zeit bis zum 31. Dezember 2014 Arbeitnehmer des Betriebs während produktionsfreier Zeiten befristet an anderen Standorten eingesetzt werden konnten. Ein weiterer Antrag der F auf Bewilligung von Kurzarbeitergeld wurde durch die Bundesagentur für Arbeit zurückgewiesen. Soweit die F anschließend Änderungskündigungen gegenüber Arbeitnehmern des Betriebs in B aussprach, obsiegten die dagegen klagenden Arbeitnehmer mit ihren Änderungsschutzklagen.
9
Im Mai/Juni 2013 beschlossen die Gesellschafter der F, diese zu liquidieren und die Betriebe in O, N und B stillzulegen. Die Liquidation der F wurde am 12. Juli 2013 in das Handelsregister eingetragen.
10
Am 17. Juli 2013 schlossen die Klägerin und die F eine neue „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ ab. Danach führte die F lediglich Teile der Produktion in Lohnfertigung weiter; zudem war die Klägerin berechtigt, auch andere Unternehmen mit der Lohnfertigung zu beauftragen.
11
Am 23. Januar 2014 schlossen die F und der B Betriebsrat wegen der beabsichtigten Betriebsstilllegung einen Interessenausgleich und Sozialplan, der im Wesentlichen Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen, jedoch keine Abfindungen vorsah. Mit Schreiben vom 26. März 2014 kündigte die F das Arbeitsverhältnis mit dem Beklagten zum 31. Oktober 2014 wegen der Stilllegung des B Betriebs zum 30. September 2014. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage des Beklagten wurde durch Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 (- 11 Sa 2297/14 -) rechtskräftig abgewiesen.
12
Mit Schreiben vom 8. Juni 2015 forderte der Beklagte die Klägerin auf, verbindlich anzuerkennen, dass zwischen ihnen über den 31. März 2011 hinaus ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis besteht.
13
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Feststellung, dass zwischen den Parteien über den 31. März 2011 hinaus ein Arbeitsverhältnis nicht bestanden hat und nicht besteht. Sie hat die Auffassung vertreten, die rechtskräftige Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 über die Beendigungskündigung sei präjudiziell. Im Übrigen sei das Arbeitsverhältnis des Beklagten zum 1. April 2011 im Wege eines Betriebsübergangs auf die F übergegangen. Jedenfalls seien etwaige Ansprüche des Beklagten ihr gegenüber verwirkt.
14
Die Klägerin hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass zwischen den Parteien nach dem 31. März 2011 ein Arbeitsverhältnis nicht bestanden hat und nicht besteht.
15
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, ein Betriebsübergang von der Klägerin auf die F habe nicht stattgefunden. Diese sei nach außen nicht als Vollrechtsinhaberin aufgetreten. Außerdem habe die wirtschaftliche Einheit ihre Identität nicht gewahrt. Die Klägerin könne sich schon deshalb nicht auf Verwirkung berufen, weil ihm die „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ aus März 2011 nicht bekannt gewesen sei. Das in dem gegen die F geführten Kündigungsschutzprozess ergangene Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 sei nicht präjudiziell, da es allenfalls die Parteien dieses Prozesses binde.
16
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
17
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das angefochtene Urteil unterliegt nicht bereits deshalb der Aufhebung, weil die erkennende Kammer des Landesarbeitsgerichts der Klägerin nicht die Möglichkeit eingeräumt hätte, sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten.Im Übrigen hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung des Beklagten zu Recht abgeändert und die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage ist unbegründet.
18
A. Entgegen der Auffassung der Revision unterliegt das Berufungsurteil nicht bereits deshalb der Aufhebung nach § 562 ZPO, weil die erkennende Berufungskammer der Klägerin nicht die Möglichkeit eingeräumt hätte, sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung in einer den Anforderungen des Art. 103 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK, §§ 128, 139 ZPO entsprechenden Weise mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Die Rüge der Klägerin, die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts sei bereits vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung getroffen gewesen, das angefochtene Urteil sei überdies schon fertig abgesetzt gewesen und habe postfertig in der Akte gelegen, greift nicht durch. Die dahingehende Annahme der Klägerin basiert auf reinen Vermutungen.Allein der Umstand, dass das angefochtene Urteil noch am Tag der Sitzung, die am Vormittag des 11. Mai 2016 stattgefunden hat, zur Post gegeben wurde, lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass das Urteil bereits vor der Sitzung getroffen war.
19
B. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung des Beklagten zu Recht abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Klage ist zwar zulässig, aber unbegründet.
20
I. Die von der Klägerin erhobene negative Feststellungsklage ist zulässig. Die Klage ist auf die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses iSv. § 256 Abs. 1 ZPO, nämlich des Nichtbestehens eines Arbeitsverhältnisses zwischen den Parteien gerichtet. Für die begehrte Feststellung besteht auch das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse, dasich der Beklagte der Klägerin gegenüber auf den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses zwischen ihnen berufen hat.
21
II. Die Klage ist unbegründet. Das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis besteht über den 31. März 2011 hinaus zwischen diesen fort. Das Landesarbeitsgericht hat nicht nur zutreffend angenommen, dass das rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 (- 11 Sa 2297/14 -), mit dem die gegen die F gerichtete Kündigungsschutzklage des Beklagten abgewiesen wurde, im vorliegenden Rechtsstreit keine präjudizielle Wirkung entfaltet. Auch seine Würdigung, dass das Arbeitsverhältnis des Beklagten nicht infolge eines Betriebsübergangs iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf die F übergegangen ist und dass der Beklagte sein Recht, sich auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin zu berufen, nicht verwirkt hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Aus der Regelung in § 613a Abs. 6 BGB folgt nichts Abweichendes.
22
1. Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin entfaltet das rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 (- 11 Sa 2297/14 -), mit dem die gegen die F gerichtete Kündigungsschutzklage des Beklagten abgewiesen wurde, im vorliegenden Rechtsstreit keine präjudizielle Wirkung.
23
a) Zwar bewirkt die Rechtskraft eines Urteils, dass über das Bestehen oder Nichtbestehen der aus dem vorgetragenen Sachverhalt im Urteil hergeleiteten Rechtsfolge eine nochmalige Verhandlung und Entscheidung unzulässig ist, die erkannte Rechtsfolge also unangreifbar ist. Dies gilt nicht nur dann, wenn in einem nachfolgenden Prozess über den gleichen prozessualen Anspruch gestritten wird, sondern auch dann, wenn es sich zwar um einen anderen Anspruch handelt, für diesen aber die bereits rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge vorgreiflich ist. Hat das Gericht im Zweitprozess den Streitgegenstand des rechtskräftig entschiedenen Vorprozesses als Vorfrage erneut zu prüfen, hat es den Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung seinem Urteil zugrunde zu legen. Das Gericht muss die präjudizielle Wirkung der Vorentscheidung ohne erneute sachliche Prüfung beachten (BAG 23. März 2017 – 8 AZR 91/15 – Rn. 14, BAGE 159, 1). Die Bindungswirkung einer rechtskräftigen Entscheidung tritt allerdings grundsätzlich nur zwischen den Prozessparteien zueinander ein.
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b) Danach hat das rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 (- 11 Sa 2297/14 -), mit dem die gegen die F gerichtete Kündigungsschutzklage des Beklagten abgewiesen wurde, im vorliegenden Rechtsstreit keine präjudizielle Wirkung.
25
Die Klägerin war nicht Partei des zwischen dem Beklagten und der F geführten Kündigungsschutzprozesses. Die Rechtskraft des zwischen dem Beklagten und der F ergangenen Urteils des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. April 2015 (- 11 Sa 2297/14 -) wirkt auch nicht ausnahmsweise gegenüber der Klägerin des vorliegenden Rechtsstreits. Zwar kann die bindende Feststellung eines Rechtsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betriebsveräußerer nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch gegenüber dem neuen Inhaber wirken. Die Rechtskraft eines gegen den früheren Arbeitgeber ergehenden Urteils wirkt in entsprechender Anwendung der §§ 265, 325 Abs. 1 ZPO für und gegen den neuen Inhaber, wenn der Betriebsübergang nach Rechtshängigkeit erfolgt ist (st. Rspr. vgl. etwa BAG 19. November 2014 – 4 AZR 761/12 – Rn. 23 mwN, BAGE 150, 97; 24. August 2006 – 8 AZR 574/05 – Rn. 25). Vorliegend geht es jedoch nicht um die Frage, ob ein gegen den früheren Arbeitgeber ergangenes Urteil auch für und gegen den neuen Inhaber wirkt. Die Klägerin ist nicht Rechtsnachfolgerin der F, sie macht vielmehr geltend, die F sei ihre Rechtsnachfolgerin geworden.
26
2. Das Landesarbeitsgericht hat ferner zutreffend angenommen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht infolge eines Betriebsübergangs iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zum 1. April 2011 auf die F übergegangen ist. Da die einschlägigen unionsrechtlichen Vorgaben durch die im Folgenden dargestellte und zitierte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt sind, bedurfte es auch keines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV.
27
a) Die Richtlinie 2001/23/EG soll nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse unabhängig von einem Inhaberwechsel gewährleisten (vgl. etwa EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25 mwN; so auch BAG 23. März 2017 – 8 AZR 91/15 – Rn. 21 mwN, BAGE 159, 1).
28
aa) Für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2001/23/EG ist nach ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b deshalb entscheidend, dass der Übergang eine ihre Identität bewahrende (auf Dauer angelegte) wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit betrifft (vgl. etwa EuGH 26. November 2015 – C-509/14 – [ADIF/Aira Pascual ua.] Rn. 31; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25; 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 30 mwN). Um eine solche Einheit handelt es sich bei jeder hinreichend strukturierten und selbständigen Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck (EuGH 19. Oktober 2017 – C-200/16 – [Securitas] Rn. 25; 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 31 f. mwN; 6. September 2011 – C-108/10 – [Scattolon] Rn. 42 mwN zur Vorgängerrichtlinie 77/187/EWG; 29. Juli 2010 – C-151/09 – [UGT-FSP] Rn. 26; 13. September 2007 – C-458/05 – [Jouini ua.] Rn. 31; 26. September 2000 – C-175/99 – [Mayeur] Rn. 32 zur Vorgängerrichtlinie 77/187/EWG). Darauf, ob es sich dabei um ein „Unternehmen“, einen „Betrieb“ oder einen „Unternehmens-“ oder „Betriebsteil“ – auch iSd. jeweiligen nationalen Rechts – handelt, kommt es nicht an (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 25; 20. Januar 2011 – C-463/09 – [CLECE] Rn. 30). Entscheidend ist nur, dass der Übergang eine wirtschaftliche Einheit im og. Sinn betrifft (vgl. auch BAG 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 30 f.).
29
Zudem ist die Richtlinie 2001/23/EG nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nur in den Fällen anwendbar, in denen die für den Betrieb des Betriebs oder Unternehmens, dh. die für den Betrieb der wirtschaftlichen Einheit verantwortliche natürliche oder juristische Person, die in dieser Eigenschaft die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten eingeht, (im Rahmen vertraglicher Beziehungen) wechselt (ua. EuGH 19. Oktober 2017 – C-200/16 – [Securitas] Rn. 23; 26. November 2015 – C-509/14 – [ADIF/Aira Pascual ua.] Rn. 28; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 24 mwN; 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 29 mwN). Ein „Übergang“ iSd. Richtlinie 2001/23/EG erfordert eine Übernahme durch einen „neuen“ Arbeitgeber (st. Rspr., ua. EuGH 6. April 2017 – C-336/15 – [Unionen] Rn. 18 mwN; 6. März 2014 – C-458/12 – [Amatori ua.] Rn. 30 mwN; 6. September 2011 – C-108/10 – [Scattolon] Rn. 60 mwN).
30
Diese Rechtsprechung ist auch für das Verständnis der anzuwendenden Bestimmungen des nationalen Rechts, hier: § 613a BGB, maßgebend (vgl. auch BAG 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 31).
31
bb) Ein Betriebs(teil-)übergang iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB setzt demnach nicht nur voraus, dass der Übergang eine auf Dauer angelegte, ihre Identität bewahrende wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit betrifft. Erforderlich für das Vorliegen eines Betriebs(teil-)übergangs iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ist ferner, dass die für den Betrieb der wirtschaftlichen Einheit verantwortliche natürliche oder juristische Person, die in dieser Eigenschaft die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt (vgl. etwa BAG 27. April 2017 – 8 AZR 859/15 – Rn. 30 f.; 25. August 2016 – 8 AZR 53/15 – Rn. 25; 22. Januar 2015 – 8 AZR 139/14 – Rn. 13 mwN).
32
b) Der Betrieb der Klägerin in B ist als wirtschaftliche Einheit iSd. Richtlinie 2001/23/EG und damit iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB, in deren Rahmen das Arbeitsverhältnis des Beklagten bestand, nicht zum 1. April 2011 von der Klägerin auf die F übergegangen. Es fehlt an einem Wechsel in der Person des für den Betrieb der wirtschaftlichen Einheit Verantwortlichen.
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aa) Zwar hat die Klägerin der F entsprechend der „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ von März 2011 ab dem 1. April 2011 die für die Herstellung und Bearbeitung der W-Produkte erforderlichen Betriebsmittel zur Verfügung gestellt. Auch wurden über den 31. März 2011 hinaus in den der F zur Nutzung überlassenen Betriebsräumlichkeiten der Klägerin weiterhin W-Produkte hergestellt und bearbeitet. Gegen einen Betriebs(teil-)übergang iSv. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB spricht insoweit nicht, dass die vorgenannten Betriebsmittel im Eigentum der Klägerin verblieben sind. Für die Anwendung der Richtlinie 2001/23/EG und damit auch für die Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB kommt es nicht darauf an, dass der Erwerber das Eigentum an den erforderlichen Aktiva, insbesondere Vermögensgegenständen, erwirbt bzw. dass dieses überhaupt übertragen wird (EuGH 15. Dezember 2005 – C-232/04 und C-233/04 – [Güney-Görres] Rn. 37; 20. November 2003 – C-340/01 – [Abler] Rn. 41; 2. Dezember 1999 – C-234/98 – [Allen ua.] Rn. 16 und 30). Maßgeblich ist vielmehr die tatsächliche Verfügungsbefugnis.
34
bb) Die F hat allerdings nicht die Verantwortlichkeit für den Betrieb der in Rede stehenden wirtschaftlichen Einheit übernommen.
35
(1) Verantwortlich für den Betrieb einer wirtschaftlichen Einheit ist die Person, die die wirtschaftliche Einheit im eigenen Namen führt und nach außen als deren Inhaber auftritt. Der bisherige Inhaber muss seine wirtschaftliche Betätigung in dem Betrieb oder Betriebsteil einstellen(vgl. BAG 10. Mai 2012 – 8 AZR 434/11 – Rn. 27; 15. Dezember 2005 – 8 AZR 202/05 – zu B I 1 c aa der Gründe mwN). Danach reicht es nicht aus, lediglich im Verhältnis zur Belegschaft als Inhaber aufzutreten. Erforderlich ist vielmehr die Nutzung der wirtschaftlichen Einheit nach außen (vgl. BAG 10. Mai 2012 – 8 AZR 434/11 – aaO; 31. Januar 2008 – 8 AZR 2/07 – Rn. 28). Diese Auslegung von § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB entspricht der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 durch den Gerichtshof der Europäischen Union, wonach der Zeitpunkt des Übergangs im Sinne dieser Bestimmung dem Zeitpunkt entspricht, zu dem die Inhaberschaft, mit der die Verantwortung für den Betrieb der übertragenen Einheit verbunden ist, vom Veräußerer auf den Erwerber übergeht und dieser den Betrieb fortführt (EuGH 26. Mai 2005 – C-478/03 – [CELTEC] Rn. 44).
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(2) Danach hat die F zu keinem Zeitpunkt die Verantwortung für den Betrieb der in Rede stehenden wirtschaftlichen Einheit übernommen, vielmehr ist diese Verantwortung über den 31. März 2011 bei der Klägerin verblieben. Die Klägerin hat ihre wirtschaftliche Betätigung in der in Rede stehenden wirtschaftlichen Einheit nicht eingestellt.
37
Dies ergibt sich aus der „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ aus März 2011. Zwar heißt es in § 1 Abs. 1 Satz 1 der Vereinbarung, dass die I W (die spätere F) die komplette Produktion der W-Produkte an allen drei inländischen Standorten ab dem 1. April 2011 in „Lohnfertigung“ weiterführt; auch waren die Klägerin und die F in § 6 Abs. 1 der Vereinbarung übereingekommen, dass die F ab dem 1. April 2011 die Betriebsführung des gesamten Geschäftsbetriebs an allen drei inländischen Standorten übernimmt. Diese Abreden bewirkten jedoch nicht die Übertragung der Verantwortung für den Betrieb der wirtschaftlichen Einheit von der Klägerin auf die F. Zum einen hatten die Klägerin und die F in § 6 Abs. 1 der Vereinbarung ausdrücklich geregelt, dass die F die Betriebsführung „für W“ und nicht „an deren Stelle“ übernimmt, was nichts anderes bedeutet, als dass die F nicht im eigenen, sondern im Namen der Klägerin nach außen in Erscheinung treten sollte; zum anderen hatten die Klägerin und die F in § 7 Abs. 1 der Vereinbarung nochmals ausdrücklich bestätigt, dass die F bei ihrer Tätigkeit gemäß § 6, sofern diese im Zusammenhang mit der Lohnfertigung und der Herstellung der W-Produkte ausgeführt wird, für welche die Klägerin die Patentrechte und das Know-How besitzt, ausschließlich im Namen der Klägerin handelt. Insoweit hatte die Klägerin der F in § 7 Abs. 2 der Vereinbarung Generalhandlungsvollmacht zur Vertretung von W bei allen Rechtsgeschäften und Rechtshandlungen eingeräumt, bei denen eine Stellvertretung gestattet ist und die der Betrieb des Gewerbes der Klägerin mit sich bringt. Auch diese Regelung bestätigt, dass die F nicht im eigenen Namen nach außen auftreten sollte, sondern dass aus Rechtsgeschäften der F ausschließlich die Klägerin berechtigt und verpflichtet sein sollte. Nach den vertraglichen Vereinbarungen sollte die F demnach nur wie ein leitender Angestellter bzw. Generalbevollmächtigter für die Klägerin tätig werden und damit gerade nicht die Verantwortung für den Betrieb der in Rede stehenden wirtschaftlichen Einheit nach außen übernehmen. Diese sollte bei der Klägerin verbleiben, die weiterhin als Inhaber der wirtschaftlichen Einheit nach außen hin auftreten wollte. Bereits deshalb kann die Klägerin aus dem Umstand, dass sich im B Betrieb nichts änderte und der bisherige Betriebsleiter nunmehr bei der F beschäftigt war, nichts zu ihren Gunsten ableiten.
38
Etwas anderes folgt weder daraus, dass die F gegenüber den Arbeitnehmern, gegenüber verschiedenen Behörden (zB der Agentur für Arbeit und dem Finanzamt) sowie gegenüber den Tarifvertragsparteien – soweit es um die Arbeitsverhältnisse ging – tatsächlich im eigenen Namen aufgetreten ist, noch aus der in § 6 Abs. 2 der Vereinbarung getroffenen Regelung. Zwar sollte danach die Geschäftsbesorgung und die Betriebsführung durch die F mit eigenen, auf sie gemäß § 613a BGB übergegangenen Arbeitnehmern erfolgen. Diese Regelung unterstreicht aber nur, dass die Klägerin und die F nicht von einer Personalgestellung, sondern von einem Betriebsübergang ausgingen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass die F gegenüber den Arbeitnehmern, verschiedenen Behörden (zB der Agentur für Arbeit und dem Finanzamt) sowie den Tarifvertragsparteien, soweit es um die Arbeitsverhältnisse ging, im eigenen Namen aufgetreten ist. Anhaltspunkte für eine weitergehende, von der „Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“ abweichende Vertragspraxis bestehen nicht.
39
3. Dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin steht ferner nicht die Regelung in § 613a Abs. 6 BGB entgegen. Der Beklagte war nach Ablauf der einmonatigen Frist des § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB nach Zugang des Unterrichtungsschreibens der Klägerin und der F vom 1. März 2011 nicht daran gehindert, sich auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin zu berufen. § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB ist im vorliegenden Fall weder unmittelbar noch analog anwendbar.
40
a) § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB, wonach der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Monats nach Zugang der Unterrichtung nach Abs. 5 schriftlich widersprechen kann, ist vorliegend nicht unmittelbar anwendbar. § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB knüpft an die in § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB getroffene Bestimmung an, wonach der neue Inhaber im Fall eines Betriebs- oder Betriebsteilübergangs in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen eintritt und setzt damit voraus, dass es zu einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang gekommen ist. Dass ein Betriebs(teil-)übergang von der Klägerin auf die F nicht stattgefunden hat, wurde unter Rn. 26 ff. ausgeführt.
41
b) § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB ist aber auch nicht analog in den Fällen anwendbar, in denen – wie hier – der vermeintliche Veräußerer und/oder der vermeintliche neue Inhaber den Arbeitnehmer über einen rechtsirrig angenommenen Betriebsübergang unterrichtet haben.
42
aa) Eine Analogie ist nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält. Die Lücke muss sich demnach aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergeben. Dabei muss die Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können. Andernfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden.Darüber hinaus muss der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand vergleichbar sein, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie beim Erlass der herangezogenen Norm, zum gleichen Abwägungsergebnis gekommen(vgl. etwa BGH 18. Oktober 2017 – IV ZR 97/15 – Rn. 22; 17. Oktober 2017 – VI ZR 477/16 – Rn. 19 mwN; 4. Dezember 2014 – III ZR 61/14 – Rn. 9 mwN; vgl. etwa BAG 12. Juli 2016 – 9 AZR 352/15 – Rn. 19; 24. September 2015 – 6 AZR 511/14 – Rn. 26 mwN; 23. Juli 2015 – 6 AZR 490/14 – Rn. 34, BAGE 152, 147). Der gesetzlich ungeregelte Fall muss demnach nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangen wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle (vgl. etwa BAG 12. Juli 2016 – 9 AZR 352/15 – aaO; 24. September 2015 – 6 AZR 511/14 – aaO; 23. Juli 2015 – 6 AZR 490/14 – aaO).
43
bb) Daran gemessen kommt eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 6 BGB auf Fälle, in denen eine Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB erfolgt ist, weil der (bisherige) Arbeitgeber und/oder ein vermeintlicher Übernehmer rechtsirrig einen Betriebsübergang annehmen, nicht in Betracht. Insoweit fehlt es bereits an der erforderlichen, positiv festzustellenden planwidrigen Regelungslücke. Aus Sinn und Zweck der in § 613a BGB getroffenen Bestimmungen und der inneren Systematik von § 613a BGB ergibt sich vielmehr, dass der Gesetzgeber nur die Fälle regeln wollte, in denen ein Betriebs(teil-)übergang tatsächlich stattfindet. Darüber hinaus fehlt es an der hinreichenden Vergleichbarkeit des hier zu beurteilenden Sachverhalts mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand.
44
(1) Mit der Regelung in § 613a BGB ging es dem Gesetzgeber darum, die auch unionsrechtlich gebotene Gewährleistung der Rechte der Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel sicherzustellen (vgl. den dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 23/2001/EG sowie zB EuGH 29. Juli 2010 – C-151/09 – [UGT-FSP] Rn. 22 mwN). Gibt es einen solchen Inhaberwechsel nicht, bedarf es des durch § 613a Abs. 1 und Abs. 2 BGB vermittelten Schutzes nicht. Die Rechte der Arbeitnehmer bleiben vielmehr im Rahmen des unverändert fortbestehenden Arbeitsverhältnisses mit ihrem Arbeitgeber gewahrt.
45
(2) Ebenso von Bedeutung ist, dass das Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB den grundrechtlichen Wertungen des Art. 12 Abs. 1 GG Rechnung trägt, der dem Arbeitnehmer die freie Wahl des Arbeitsplatzes und damit auch die freie Wahl des Vertragspartners garantiert. Der Arbeitnehmer soll nicht verpflichtet werden, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat (BT-Drs. 14/7760 S. 20 unter Hinweis auf BAG 22. April 1993 – 2 AZR 50/92 -; vgl. auch BAG 19. November 2015 – 8 AZR 773/14 – Rn. 17, BAGE 153, 296; 24. April 2014 – 8 AZR 369/13 – Rn. 18, BAGE 148, 90; zu den Wertungen von Art. 15 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), wonach jede Person das Recht hat, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, mithin auch bei der Wahl des Arbeitgebers frei sein muss und nicht verpflichtet werden kann, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, der nicht frei gewählt wurde vgl. etwa EuGH 16. Dezember 1992 – C-132/91, C-138/91 und C-139/91 – [Katsikas ua.] Rn. 32). Findet hingegen kein Betriebsübergang statt, stellt sich die Frage, ob der Arbeitnehmer verpflichtet wird, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht frei gewählt hat, von vornherein nicht.
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(3) Bereits diese Umstände sprechen dafür, dass der Gesetzgeber mit den in § 613a BGB getroffenen Bestimmungen von vornherein nur die Fälle erfassen und regeln wollte, in denen tatsächlich ein Betriebs(teil-)übergang vom „bisherigen Arbeitgeber“ auf den „neuen Inhaber“ stattfindet. Eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 6 BGB auf Fälle, in denen eine Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB erfolgt ist, weil der (bisherige) Arbeitgeber und ein vermeintlicher Übernehmer rechtsirrig einen Betriebsübergang annehmen, liefe im Übrigen dem Schutzzweck von § 613a BGB zuwider. Liegt kein Betriebsübergang vor, tritt die Rechtsfolge des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nicht ein. Das Arbeitsverhältnis geht nicht auf einen „neuen Arbeitgeber“ über. Für den Arbeitnehmer bestünde in einem solchen Fall bei analoger Anwendung von § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB die Gefahr, infolge eines nicht rechtzeitigen Widerspruchs ohne Arbeitsverhältnis dazustehen. Die Annahme, dass diese Folge Bestandteil des ursprünglichen Regelungsplans des Gesetzgebers war, ist indes fernliegend.
47
(4) Auch der Zweck der Frist des § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB erfordert keine andere Bewertung. Zwar hat der Gesetzgeber mit der Monatsfrist dem Bedürfnis von bisherigem Arbeitgeber und neuem Inhaber nach Planungssicherheit Rechnung getragen. Letztere sollen durch eine ordnungsgemäße Unterrichtung innerhalb einer kurzen Zeit eine rechtssichere Zuordnung der Arbeitsverhältnisse herbeiführen können (vgl. BT-Drs. 14/7760 S. 19; BAG 19. November 2015 – 8 AZR 773/14 – Rn. 29, BAGE 153, 296). Liegt jedoch kein Betriebsübergang vor, besteht auf Seiten des Arbeitgebers und des vermeintlichen neuen Inhabers kein schutzwürdiges Interesse an der Gewährleistung einer Planungssicherheit. Dies gilt auch, wenn der Arbeitgeber und/oder der vermeintliche neue Inhaber über einen aus ihrer Sicht vorliegenden Betriebsübergang unterrichtet und sich dabei in einem entschuldbaren Irrtum befunden haben. Auch in einem solchen Fall geht das Risiko der Einschätzung, ob ein Betriebs(teil-)übergang vorliegt oder nicht, nicht auf den Arbeitnehmer über.
48
4. Entgegen der Ansicht der Klägerin hatte der Beklagte sein Recht, sich auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin zu berufen, auch nicht verwirkt.
49
a) Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB). Mit ihr wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes und trägt dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rechnung. Die Verwirkung verfolgt allerdings nicht den Zweck, den Schuldner bereits dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn dessen Gläubiger seine Rechte längere Zeit nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, sodass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes auf Seiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass ihm die Erfüllung des Anspruchs nicht mehr zuzumuten ist (vgl. BAG 24. August 2017 – 8 AZR 265/16 – Rn. 18; 17. Oktober 2013 – 8 AZR 974/12 – Rn. 26).
50
aa) Zeitmoment und Umstandsmoment beeinflussen sich wechselseitig; beide Elemente sind – bildhaft ausgedrückt – im Sinne „kommunizierender Röhren“ miteinander verbunden (vgl. BAG 24. August 2017 – 8 AZR 265/16 – Rn. 19; 22. Juni 2011 – 8 AZR 752/09 – Rn. 30). Je stärker das gesetzte Vertrauen oder die Umstände sind, die eine Geltendmachung für den Gegner unzumutbar machen, desto schneller kann ein Anspruch oder Recht verwirken (BAG 24. Juli 2008 – 8 AZR 175/07 – Rn. 27). Umgekehrt gilt, je länger der Arbeitnehmer untätig geblieben ist, desto geringer sind die Anforderungen an das Umstandsmoment. Es müssen letztlich besondere Verhaltensweisen sowohl des Berechtigten als auch des Verpflichteten vorliegen, die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar anzusehen (vgl. BAG 17. Oktober 2013 – 8 AZR 974/12 – Rn. 27 mwN).
51
bb) Die Beurteilung der Frage, ob ein Recht verwirkt ist, obliegt grundsätzlich den Tatsachengerichten, die den ihnen zur Begründung des Verwirkungseinwands vorgetragenen Sachverhalt eigenverantwortlich zu würdigen haben. Allerdings unterliegt der revisionsrechtlichen Überprüfung, ob das Tatsachengericht die von der Rechtsprechung entwickelten rechtlichen Voraussetzungen der Verwirkung beachtet sowie alle erheblichen Gesichtspunkte berücksichtigt hat und ob die Bewertung dieser Gesichtspunkte von den getroffenen tatsächlichen Feststellungen getragen wird (vgl. BAG 17. Oktober 2013 – 8 AZR 974/12 – Rn. 28; 11. November 2010 – 8 AZR 185/09 – Rn. 25; 20. Mai 2010 – 8 AZR 734/08 – Rn. 24).
52
b) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Beklagte habe sein Recht, sich auf den unveränderten Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin über den 31. März 2011 hinaus zu berufen, nicht verwirkt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
53
aa) Dabei kann dahinstehen, ob das Recht, sich auf den Bestand eines Arbeitsverhältnisses zu berufen, überhaupt verwirkt werden kann (bejahend BAG 30. Januar 1991 – 7 AZR 497/89 – zu I 2 der Gründe, BAGE 67, 124; offengelassen von BAG 24. Mai 2006 – 7 AZR 365/05 – Rn. 30; 10. Oktober 2007 – 7 AZR 448/06 – Rn. 25; 20. September 2016 – 9 AZR 735/15 – Rn. 47; zweifelnd BAG 18. Februar 2003 – 3 AZR 160/02 – zu B II 2 a der Gründe, BAGE 105, 59). Das Landesarbeitsgericht hat jedenfalls die von der Rechtsprechung entwickelten rechtlichen Voraussetzungen der Verwirkung beachtet und ist unter Berücksichtigung aller erheblichen Gesichtspunkte zu der revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Annahme gelangt, die Klägerin habe nicht dargetan, dass sie davon ausgehen konnte, der Beklagte habe sein Recht überhaupt gekannt. Der Beklagte habe bis zu seinem Schreiben vom 8. Juni 2015 nicht zum Ausdruck gebracht, dass seiner Ansicht nach ein Betriebsübergang nicht stattgefunden habe. Vielmehr habe er selbst in der Kündigungsschutzklage einen Betriebsübergang als zutreffend unterstellt.
54
bb) Hiergegen kann die Klägerin nicht mit Erfolg einwenden, das Landesarbeitsgericht habe bei seiner Beurteilung den Umstand außer Acht gelassen, dass der Beklagte sich zunächst nur mit einer Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung der F zur Wehr gesetzt und von einer Klage gegen sie, die Klägerin abgesehen hat. Der Beklagte hat mit der Kündigungsschutzklage nicht zu erkennen gegeben, an einem Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin nicht mehr interessiert zu sein. Eine Klageerhebung gegenüber der F innerhalb der Frist des § 4 Satz 1 KSchG war vielmehr schon deshalb geboten, um ein Wirksamwerden der Kündigung der F nach § 7 KSchG zu verhindern. Solange noch nicht geklärt war, ob es mit dem 1. April 2011 zu einem Betriebsübergang von der Klägerin auf die F gekommen war, musste der Beklagte – auch um sich für den Fall eines Betriebsübergangs ein Widerspruchsrecht gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses von der Klägerin auf die F zu erhalten und sich nicht dem Vorwurf einer unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) aufgrund einer Disposition über sein Arbeitsverhältnis auszusetzen (vgl. hierzu BAG 24. August 2017 – 8 AZR 265/16 – Rn. 50; 26. Mai 2011 – 8 AZR 18/10 – Rn. 32; 18. März 2010 – 8 AZR 840/08 – Rn. 35; 23. Juli 2009 – 8 AZR 357/08 – Rn. 45) – zunächst die Kündigung der F angreifen. Im Übrigen gilt auch hier, dass sich der Beklagte mit der Erhebung der Kündigungsschutzklage genau so verhalten hat, wie es die Klägerin nach den gesamten Umständen, insbesondere aufgrund ihres eigenen Unterrichtungsschreibens vom 1. März 2011 über einen Betriebsübergang auf die F erwarten musste. Dass der Beklagte seit 2013 von der Liquidation der F wusste und im Jahr 2014 von den Interessenausgleichsverhandlungen und dem Tätigwerden der Einigungsstelle erfahren hat, ist insoweit ebenso wie der Umstand, dass er etwas mehr als vier Jahre die Arbeitgeberstellung der F nicht angezweifelt und die Klägerin nicht als Arbeitgeber angesprochen hatte, ohne Belang. Das gilt entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin auch für das Tätigwerden des Beklagten als Betriebsratsvorsitzender und Mitglied des Gesamtbetriebsrats. Auch insoweit hat der Beklagte sich genau so verhalten, wie es die Klägerin nach den gesamten Umständen, insbesondere aufgrund ihres eigenen Unterrichtungsschreibens vom 1. März 2011 über einen Betriebsübergang auf die F erwarten musste.
Schlewing
Vogelsang
Roloff
R. Kandler
Bloesinger |
bag_4-19 | 30.01.2019 | 30.01.2019
4/19 - Wirksamkeit eines Kopftuchverbots?
Das Verbot eines Unternehmens der Privatwirtschaft, auffällige großflächige Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen am Arbeitsplatz zu tragen, wirft Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht auf. Diese Fragen müssen im Zusammenhang mit Konventions- und Verfassungsrecht durch ein Vorabentscheidungsersuchen geklärt werden, das der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union richtet.
Die Beklagte ist ein Unternehmen des Einzelhandels. Die Klägerin ist muslimischen Glaubens. Sie ist als Verkaufsberaterin und Kassiererin beschäftigt. Nach Rückkehr aus der Elternzeit trug die Klägerin – anders als zuvor – ein Kopftuch. Sie erfüllt damit ein islamisches Bedeckungsgebot, das sie als zwingend empfindet. Der Aufforderung der Beklagten, das Kopftuch am Arbeitsplatz abzulegen, kam die Klägerin nicht nach. Die Beklagte stützt sich zuletzt auf eine für alle Verkaufsfilialen geltende Kleiderordnung. Nach ihr ist das Tragen auffälliger großflächiger religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verboten. Mit ihrer Klage will die Klägerin festgestellt wissen, dass die darauf beruhende Weisung der Beklagten unwirksam ist. Sie ist der Auffassung, die Weisung sei unwirksam, weil sie dadurch wegen ihrer Religion diskriminiert werde. Die Beklagte beruft sich auf ihre unternehmerische Freiheit und den Schutz der negativen Religionsfreiheit ihrer Kunden und Arbeitnehmer.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union, Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG und dem Verhältnis von primärem Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht zu beantworten. Ist eine allgemeine Anordnung in der Privatwirtschaft, die auch das Tragen auffälliger religiöser Zeichen verbietet, aufgrund der von Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) geschützten unternehmerischen Freiheit diskriminierungsrechtlich stets gerechtfertigt? Oder kann die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerin berücksichtigt werden, die von der GRC, der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und dem Grundgesetz geschützt wird?*
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 30. Januar 2019 – 10 AZR 299/18 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 27. März 2018 – 7 Sa 304/17 –
*Der genaue Wortlaut der Fragen kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Fragen ersucht:
1. Kann eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion im Sinn von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens nur dann angemessen sein, wenn nach dieser Regel das Tragen jeglicher sichtbarer und nicht nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verboten ist?
2. Sofern die Frage zu 1. verneint wird:
a) Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass die Rechte aus Art. 10 GRC und Art. 9 EMRK in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?
b) Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, als günstigere Vorschriften im Sinn von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?
3. Sofern die Fragen zu 2a) und 2b) verneint werden:
Müssen nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, in der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, wegen primären Unionsrechts unangewendet bleiben, auch wenn primäres Unionsrecht, wie zum Beispiel Art. 16 GRC, einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkennt?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Ob das Verbot eines Unternehmens der Privatwirtschaft, auffällige großflächige Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen am Arbeitsplatz zu tragen, wirksam ist, hängt von der Auslegung von Unionsrecht ab. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts richtet im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV vier Fragen an den Gerichtshof der Europäischen Union. Sie betreffen das Verständnis der Richtlinie 2000/78/EG sowie der Religionsfreiheit nach Art. 10 GRC und der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC, auch im Verhältnis zu nationalem Verfassungsrecht.
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG), auch unter Berücksichtigung von Art. 10 und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie Art. 9 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Konvention).
2
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten im Kern darüber, ob die Weisung, am Arbeitsplatz kein sogenanntes islamisches Kopftuch zu tragen, rechtmäßig ist.
4
Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deutschem Recht. Sie betreibt in Deutschland Drogeriemärkte. Die Klägerin ist gläubige Muslima. Sie ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit dem Jahr 2002 als Verkaufsberaterin und Kassiererin in der Filiale Ansbach beschäftigt.
5
Nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit im Jahr 2014 trug sie – anders als zuvor – ein Kopftuch. Sie kam der Aufforderung der Beklagten, das Kopftuch am Arbeitsplatz abzulegen, nicht nach. Daraufhin wurde sie nicht mehr beschäftigt. Später versah die Klägerin eine andere Tätigkeit. Dabei musste sie ihr Kopftuch nicht ablegen. Am 21. Juni 2016 wurde sie aufgefordert, das Kopftuch abzulegen. Nachdem sie dies abgelehnt hatte, wurde sie nach Hause geschickt. Im Juli 2016 erhielt sie die Weisung, ohne auffällige großflächige religiöse, politische und sonstige weltanschauliche Zeichen am Arbeitsplatz zu erscheinen.
6
Die Klägerin beruft sich darauf, dass sie das Kopftuch ausschließlich trage, um ein religiöses Gebot zu erfüllen. Sie empfinde das islamische Bedeckungsgebot als zwingend. Sie bestreitet die unternehmensweite Geltung der Regel und hält die darauf gestützte Weisung für unwirksam. Nach ihrer Auffassung könne sie sich auf die verfassungsrechtlich geschützte Religionsfreiheit berufen. Dem auf der unternehmerischen Freiheit beruhenden Wunsch einer Neutralitätspolitik komme kein unbedingter Vorrang vor der Religionsfreiheit zu. Vielmehr sei eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) stehe dem nicht entgegen. Das Unionsrecht enthalte lediglich Mindestanforderungen. Auch eine danach zulässige Ungleichbehandlung könne nach nationalem Recht unzulässig sein.
7
Mit ihrer Klage will die Klägerin festgestellt wissen, dass die Weisung der Beklagten, ohne Kopftuch zu arbeiten, unwirksam ist. Ferner verlangt sie Vergütung.
8
Die Beklagte hält die Weisung für rechtmäßig. Sie behauptet, dass bei ihr seit jeher eine Kleiderordnung gelte, nach der unter anderem Kopfbedeckungen aller Art nicht am Arbeitsplatz getragen werden dürften. Seit Juli 2016 gelte für alle Verkaufsfilialen die Regel, nach der das Tragen auffälliger großflächiger religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verboten sei. Ziel der Beklagten sei es, im Unternehmen Neutralität zu wahren. Unter anderem sollten Konflikte unter den Beschäftigten vermieden werden. Zu solchen Problemen, die auf die unterschiedlichen Religionen und Kulturen zurückzuführen seien, sei es in der Vergangenheit bereits in drei Fällen gekommen. Sie hingen nicht mit dem Tragen eines Kopftuchs oder eines anderen religiösen Zeichens zusammen.
9
Die Beklagte stützt sich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Sache Achbita gegen G4S Secure Solutions (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 -, im Folgenden entsprechend der Bezeichnung des Gerichtshofs G4S Secure Solutions). Für ein wirksames Bekundungsverbot sei es nicht erforderlich darzulegen, dass wirtschaftliche Nachteile einträten und Kunden ausblieben. Der Gerichtshof habe der durch Art. 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit größeres Gewicht als der Religionsfreiheit eingeräumt. Ein abweichendes Ergebnis könne durch nationale Grundrechte nicht gerechtfertigt werden.
10
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Abweisung der Klage weiter.
11
B. Einschlägiges nationales Recht
12
I. Verfassungsrecht
13
1. Art. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2017 (BGBl. I S. 2347) lautet:
„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
…“
14
2. In Art. 12 GG ist geregelt:
„(1) 1Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. 2Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
…“
15
II. Gesetzliche Vorschriften
16
1. In § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I 2002 S. 42, berichtigt S. 2909 und BGBl. I 2003 S. 738) heißt es:
„§ 134
Gesetzliches Verbot
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“
17
2. § 106 der Gewerbeordnung (GewO) in der Fassung des Gesetzes vom 24. August 2002 (BGBl. I S. 3412) regelt unter der Überschrift „Weisungsrecht des Arbeitgebers“:
„1Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. 2Dies gilt auch hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. 3Bei der Ausübung des Ermessens hat der Arbeitgeber auch auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen.“
18
3. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897) regelt auszugsweise:
19
a) In § 1 AGG wird das Ziel des Gesetzes benannt. Dort heißt es:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“
20
b) § 3 AGG lautet:
„§ 3
Begriffsbestimmungen
…
(2) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
…“
21
c) In § 7 AGG ist unter der Überschrift „Benachteiligungsverbot“ geregelt:
„(1) Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.
…“
22
C. Einschlägiges Unionsrecht
23
I. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember 2007 (ABl. C 303 S. 1) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Juni 2016 (ABl. C 202 S. 389)
24
1. Art. 10 der Charta lautet:
„Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.
…“
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2. In Art. 16 der Charta heißt es unter der Überschrift „Unternehmerische Freiheit“:
„Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.“
26
II. Richtlinie 2000/78/EG
27
1. In Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG heißt es:
„Der Begriff ‚Diskriminierung‘
(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder
…“
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2. In Art. 8 der Richtlinie 2000/78/EG ist unter der Überschrift „Mindestanforderungen“ geregelt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.
(2) Die Umsetzung dieser Richtlinie darf keinesfalls als Rechtfertigung für eine Absenkung des von den Mitgliedstaaten bereits garantierten allgemeinen Schutzniveaus in Bezug auf Diskriminierungen in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen benutzt werden.“
29
D. Einschlägiges Völkerrecht
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Art. 9 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 in der Neufassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1198), geändert durch Gesetz zu dem Protokoll Nr. 15 vom 24. Juni 2013 zur Änderung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 2. Dezember 2014 (BGBl. II S. 1034) lautet:
„Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
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E. Rechtsprechung
32
I. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
33
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass das Verbot eines privaten Arbeitgebers, Zeichen religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, einen Eingriff in das durch Art. 9 der Konvention geschützte Recht der Arbeitnehmer darstellt, ihre Religion zu bekennen. Das Tragen religiöser Kleidung, etwa eines Kopftuchs, ist als Religionsbekenntnis ein von Art. 9 der Konvention geschütztes Verhalten (EGMR 18. September 2018 – 3413/09 – [Lachiri gegen Belgien] Rn. 31; 15. Januar 2013 – 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10 – [Eweida ua. gegen Vereinigtes Königreich] Rn. 80; 10. November 2005 – 44774/98 – [Şahin gegen Türkei] Rn. 78). Das Kopftuchverbot eines privaten Arbeitgebers stellt einen dem Konventionsstaat nicht unmittelbar zuzurechnenden Eingriff dar. Die damit befassten staatlichen Gerichte haben das Recht aus Art. 9 der Konvention ausreichend zu schützen und einen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten der Betroffenen und denen der anderen herzustellen. Bei einer Kleiderordnung ist das Recht der Arbeitnehmer, ihren Glauben zu bekennen, mit dem Anliegen des Arbeitgebers, ein bestimmtes Unternehmensbild zu vermitteln, abzuwägen (EGMR 15. Januar 2013 – 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10 – [Eweida ua. gegen Vereinigtes Königreich] Rn. 84, 91, 94).
34
II. Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
35
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fällt das Tragen eines islamischen Kopftuchs in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Die Regelung in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht, das sich auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, ebenso erstreckt wie auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben. Vom Schutz umfasst sind damit auch Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben. Erfasst sind nicht nur imperative Glaubenssätze (vgl. BVerfG 27. Juni 2017 – 2 BvR 1333/17 – Rn. 38; 18. Oktober 2016 – 1 BvR 354/11 – Rn. 58; 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 85 mwN, BVerfGE 138, 296). Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG steht in enger Beziehung zum höchsten nationalen Verfassungswert der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02 – zu B II 5 a der Gründe mwN, BVerfGE 108, 282).
36
2. Im Weg der mittelbaren Drittwirkung wirkt dieser grundrechtliche Schutz auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen ein. Die Grundrechte sind von den Fachgerichten, insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen. Die Grundrechte entfalten hierbei ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als „Richtlinien“ in das Zivilrecht ein. Die Freiheit der einen ist mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen. Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 32 f.; zu der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit BVerfG 30. Juli 2003 – 1 BvR 792/03 – zu B II 1 b der Gründe, BVerfGK 1, 308).
37
3. Nach diesen Grundsätzen geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass sich Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, auch bei der Ausübung ihres Berufs auf den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG berufen können. Unerheblich ist danach, dass im Islam unterschiedliche Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot vertreten werden, weil die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung hinreichend plausibel ist (vgl. BVerfG 27. Juni 2017 – 2 BvR 1333/17 – Rn. 38 f. [angestellte Rechtsreferendarin im öffentlichen Dienst]; 18. Oktober 2016 – 1 BvR 354/11 – Rn. 57, 59 [angestellte Erzieherin in einer öffentlichen Kindertagesstätte]; 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 87 ff. mwN, BVerfGE 138, 296 [angestellte Sozialpädagogin und angestellte Lehrerin in öffentlichen Schulen]; 30. Juli 2003 – 1 BvR 792/03 – zu B II 1 b der Gründe, BVerfGK 1, 308 [angestellte Verkäuferin]).
38
4. Ein Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild, namentlich das Tragen religiös konnotierter Kleidung, erweist sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts als unverhältnismäßig im engeren Sinn, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist und das Verbot nicht voraussetzt, dass zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegt (vgl. BVerfG 18. Oktober 2016 – 1 BvR 354/11 – Rn. 61; 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 101, BVerfGE 138, 296).
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III. Bundesarbeitsgericht (BAG)
40
1. Wie das Bundesverfassungsgericht verlangt das Bundesarbeitsgericht eine Abwägung der kollidierenden Grundrechte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber auch dann, wenn es sich um einen privaten Arbeitgeber handelt. Dieser muss einen ihm offenbarten und beachtlichen Glaubens- oder Gewissenskonflikt seines Arbeitnehmers bei der Ausübung des Weisungsrechts berücksichtigen. Das bei der Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts zu wahrende billige Ermessen – jetzt in § 106 Satz 1 GewO kodifiziert – wird inhaltlich durch die Grundrechte des Arbeitnehmers mitbestimmt. Kollidieren sie mit dem Recht des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer im Rahmen der durch Art. 12 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten unternehmerischen Betätigungsfreiheit eine von der vertraglichen Vereinbarung gedeckte Tätigkeit zuzuweisen, sind die gegensätzlichen Rechtspositionen grundrechtskonform auszugleichen. Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie im Sinn einer praktischen Konkordanz für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (BAG 24. Februar 2011 – 2 AZR 636/09 – Rn. 22 f., BAGE 137, 164; 10. Oktober 2002 – 2 AZR 472/01 – zu B II 3 c der Gründe mwN, BAGE 103, 111).
41
2. Das Bundesarbeitsgericht verlangt von dem insoweit darlegungspflichtigen Arbeitgeber den Vortrag von Tatsachen realer Gefährdungen, die darin liegen, dass es bei dem weiteren Einsatz einer Arbeitnehmerin als Verkäuferin mit einem islamischen Kopftuch zu konkreten betrieblichen Störungen oder wirtschaftlichen Einbußen käme. Bloße Vermutungen und Befürchtungen genügen nicht, insbesondere weil bei der Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs der unterschiedlichen grundrechtlichen Positionen zu berücksichtigen ist, dass Grundrechte nicht auf einen möglichen „Verdacht“ hin beiseitegestellt werden können (BAG 10. Oktober 2002 – 2 AZR 472/01 – zu B II 3 c bb der Gründe, BAGE 103, 111).
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F. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erläuterung der Vorlagefragen
43
I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
44
1. Die Weisung der Beklagten, wonach die Klägerin nur ohne Kopftuch arbeiten dürfe, ist auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Die Beklagte beruft sich für die der Klägerin erteilte Weisung auf eine allgemeine Anordnung, die unternehmensweit für alle Verkaufsfilialen gelten soll und die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet.
45
2. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers findet seine Grenzen nach § 106 Satz 1 GewO zum einen in den rechtlichen Rahmenbedingungen (Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarungen, Tarifvertrag, Gesetz) und zum anderen im billigen Ermessen (BAG 18. Oktober 2017 – 10 AZR 330/16 – Rn. 78, BAGE 160, 296). Das Direktionsrecht des Arbeitgebers und seine Ausübung werden durch gesetzliche Verbote beschränkt (BAG 15. September 2009 – 9 AZR 757/08 – Rn. 35, BAGE 132, 88). Zu den Verbotsgesetzen in diesem Sinn zählt § 7 AGG, der Benachteiligungen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes verbietet (vgl. für eine Kündigung BAG 26. März 2015 – 2 AZR 237/14 – Rn. 32, BAGE 151, 189; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. Dezember 2018 AGG § 7 vor Rn. 1). Damit sind Benachteiligungen wegen der Religion verboten. Der Begriff der Benachteiligung ist in § 3 AGG definiert. Stellt eine Weisung eine Benachteiligung iSv. § 7 iVm. §§ 1, 3 AGG dar, sind die Grenzen des eingeräumten Weisungsrechts überschritten; die Weisung ist nach § 134 BGB unwirksam. Der Senat muss deshalb prüfen, ob die Weisung und die ihr zugrunde liegende allgemeine Anordnung eine Ungleichbehandlung iSv. § 3 AGG darstellen und diese Ungleichbehandlung zu einer unzulässigen Benachteiligung führt.
46
3. Wahrt eine Weisung die rechtlichen Rahmenbedingungen, ist weiter erforderlich, dass sie billigem Ermessen entspricht. Die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen verlangt eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit. In die Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen (BAG 18. Oktober 2017 – 10 AZR 330/16 – Rn. 45, BAGE 160, 296).
47
4. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die Weisung und die ihr zugrunde liegende Regel, auf die sich die Beklagte beruft, eine unzulässige Benachteiligung wegen der Religion iSv. § 3 Abs. 2 AGG und eine unzulässige Einschränkung der durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützten Religionsfreiheit darstellen. § 3 Abs. 2 AGG wurde erlassen, um Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG umzusetzen. Für das Verständnis von § 3 Abs. 2 AGG kommt es daher auf die Auslegung von Vorschriften dieser Richtlinie sowie der Charta an.
48
II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage (Frage zu 1.)
49
Die erste Vorlagefrage betrifft die Prüfung, unter welchen Voraussetzungen eine allgemeine Regel, die das Tragen von Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, geeignet ist, das Ziel einer unternehmerischen Neutralitätspolitik zu verfolgen.
50
1. Aus Sicht des Senats ist mit der auf einer allgemeinen Regel beruhenden Weisung eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion iSv. § 3 Abs. 2 AGG und Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG verbunden.
51
a) Eine mittelbare auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG liegt vor, wenn eine dem Anschein nach neutrale Verpflichtung tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden.
52
b) Die Klägerin wird durch die auf einer allgemeinen Regel beruhende Weisung wegen der Religion ungleichbehandelt.
53
aa) Der Begriff der Religion iSv. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG wird in der Richtlinie nicht definiert. Er umfasst nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch das „forum externum“, dh. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 25 ff.; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 27 ff.).
54
bb) Das Tragen eines islamischen Kopftuchs ist eine Bekundung des Glaubens in diesem Sinn. Nach Auffassung des Senats hat die Klägerin in ausreichendem Umfang dargelegt, dass sie sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet fühlt, ein Kopftuch zu tragen. Sie hat vorgetragen, gläubige Muslima zu sein und das islamische Bedeckungsgebot als unbedingte Verpflichtung zu erachten. In der Gegenwart von Männern, mit denen sie nicht verwandt sei, fühle sie sich verpflichtet, ihren Körper – mit Ausnahme von Gesicht, Händen und Füßen – mit Kleidung derart zu bedecken, dass die Konturen und die Farbe des Körpers nicht zu sehen seien.
55
c) Die unterschiedliche Behandlung aufgrund der von der Beklagten behaupteten allgemeinen Regel kann keine unmittelbare Ungleichbehandlung darstellen. Davon ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Verfahren G4S Secure Solutions sowie Bougnaoui und ADDH auszugehen (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – Rn. 30 ff.; 14. März 2017 – C-188/15 – Rn. 32). Die Frage der Abgrenzung der mittelbaren von der unmittelbaren Ungleichbehandlung bei Bekundungsverboten wird aus Sicht des Senats dadurch eindeutig geklärt.
56
d) Es handelt sich um eine mittelbare Ungleichbehandlung. Die Klägerin wird wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligt.
57
aa) Dafür genügt es, dass von einer nationalen, neutral formulierten Maßnahme wesentlich mehr Innehabende der geschützten persönlichen Eigenschaft benachteiligt sind als Personen, die diese Eigenschaft nicht besitzen (EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 101).
58
bb) Aus Sicht des Senats ist dies der Fall. Es ist zu erwarten, dass Agnostiker ihre Überzeugung systematisch seltener nach außen durch spezifische Bekleidung, Schmuckstücke oder Aufkleber ausdrücken als Menschen, die einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Weltanschauung verfolgen (vgl. Schlachter EuZA 2018, 173, 178).
59
2. Für die Entscheidung über die Revision kommt es darauf an, ob diese Ungleichbehandlung zu einer unzulässigen mittelbaren Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 AGG führt. Darüber kann der Senat nicht ohne Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV befinden. Die Entscheidung hängt von der Bedeutung der unionsrechtlichen Vorgabe in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG ab. Danach liegt keine mittelbare Diskriminierung vor, wenn die Maßnahme durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
60
a) Eine Maßnahme stellt keine Ungleichbehandlung dar, wenn sie einem legitimen Ziel dient, für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sowie darüber hinaus angemessen ist (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 40; 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 118 ff., 122 ff.).
61
b) In Übereinstimmung mit dem Gerichtshof geht der Senat davon aus, dass der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, von der nach Art. 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit umfasst wird und damit ein rechtmäßiges Ziel darstellt (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 38; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 33).
62
c) Für den Senat stellt sich mit Blick auf die Entscheidungen des Gerichtshofs in den Sachen G4S Secure Solutions sowie Bougnaoui und ADDH (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – Rn. 40; 14. März 2017 – C-188/15 – Rn. 32) die Frage, ob nur ein umfassendes Verbot, das jegliche sichtbare Form der Bekundung erfasst, geeignet ist, das Ziel einer unternehmerischen Neutralitätspolitik zu verfolgen, oder ob – wie im Streitfall – auch ein auf auffällige großflächige Zeichen beschränktes Verbot dafür genügt, solange es in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt wird.
63
aa) Der Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache G4S Secure Solutions lag eine Regel zugrunde, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen verbot (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – Rn. 30). Auf diese Entscheidung bezieht sich das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Bougnaoui und ADDH (EuGH 14. März 2017 – C-188/15 – Rn. 32).
64
bb) Für den Senat ergibt sich daraus nicht eindeutig, ob der Gerichtshof nur der in der Sache G4S Secure Solutions maßgeblichen Sachverhaltsgestaltung Rechnung getragen und in der mit dieser Sache im Zusammenhang stehenden, am selben Tag ergangenen Entscheidung in der Sache Bougnaoui und ADDH darauf Bezug genommen hat oder ob in den Ausführungen eine allgemeingültige Aussage liegt. Aus Sicht des Senats ist die Rechtslage deshalb aufgrund der Entscheidungen vom 14. März 2017 nicht vollständig geklärt.
65
cc) Die Klärung dieser Frage durch den Gerichtshof ist für die Entscheidung über die Revision durch den Senat erheblich.
66
(1) Wegen der weiteren im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG zu prüfenden Voraussetzungen der Erforderlichkeit und der Angemessenheit ist nach Auffassung des Senats nicht anzunehmen, dass nur ein vollständiges Verbot geeignet ist, das Ziel einer unternehmerischen Neutralitätspolitik zu verfolgen. Vielmehr kann auch ein auf bestimmte Formen der Bekundung beschränktes Verbot förderlich sein, das angestrebte Ziel zu verwirklichen. So ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beispielsweise davon ausgegangen, dass eine von einer Arbeitnehmerin getragene Halskette mit einem unaufdringlichen Kreuz nicht vom beruflichen Erscheinungsbild habe ablenken können (vgl. EGMR 15. Januar 2013 – 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10 – [Eweida ua. gegen Vereinigtes Königreich] Rn. 94).
67
(2) Sollte nur eine allgemeine interne Regel eines Unternehmens, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, ein geeignetes Mittel sein, um eine unzulässige mittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 AGG und Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG auszuschließen, wäre die Revision der Beklagten unbegründet. Die von ihr als Grundlage der erteilten Weisung herangezogene Regel verbietet nicht jegliche Zeichen, sondern nur auffällige großflächige Zeichen. Wäre hingegen auch eine solche beschränkte Regel ein geeignetes Mittel, um eine unzulässige Benachteiligung auszuschließen, wäre die Revision – vorbehaltlich der weiteren im Folgenden erörterten Punkte – in Form einer Zurückverweisung begründet. In diesem Fall müsste das Berufungsgericht klären, ob die allgemeine Regel, auf die sich die Beklagte beruft, unternehmensweit in allen Verkaufsfilialen gilt.
68
III. Erläuterung der zweiten und dritten Vorlagefrage (Fragen zu 2a) und zu 2b))
69
Die Fragen zu 2a) und zu 2b) betreffen die Prüfung der Angemessenheit iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG. Kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass auch ein in einer allgemeinen Regel enthaltenes und auf auffällige großflächige Zeichen beschränktes Verbot geeignet sein kann, das Ziel einer Neutralitätspolitik des Unternehmens zu verfolgen, ist zu prüfen, ob das Verbot erforderlich und angemessen im engeren Sinn ist.
70
1. Der Senat geht davon aus, dass eine Regel wie diejenige, auf die sich die Beklagte beruft, erforderlich ist. Sie ist nach dem Vortrag der Beklagten auf das unbedingt Erforderliche beschränkt (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 42), indem sie nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen verbietet und sich nur an Arbeitnehmer mit Kundenkontakt richtet.
71
2. Ob sich das Verbot als angemessen iSd. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG umsetzenden § 3 Abs. 2 AGG erweist, kann der Senat nicht beurteilen, ohne den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV anzurufen. Es geht um die Auslegung von Unionsrecht.
72
a) Für den Senat stellt sich die Frage, ob im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG eine Abwägung der gegenläufigen Interessen vorgenommen werden kann.
73
aa) Bislang hat der Gerichtshof für die Angemessenheit einer Ungleichbehandlung vorausgesetzt, dass die durch eine Maßnahme verursachten Nachteile im Hinblick auf die angestrebten Ziele nicht unverhältnismäßig sind und dass diese Praxis nicht eine übermäßige Beeinträchtigung der legitimen Interessen derjenigen Personen bewirkt, die sich auf ein geschütztes Merkmal berufen können (EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 123 mwN).
74
In der Entscheidung G4S Secure Solutions verlangt der Gerichtshof zu prüfen, ob ein alternativer Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden in Betracht komme. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkung der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 43).
75
bb) Für den Senat stellt sich die Frage, ob schon bei der Prüfung der Angemessenheit einer Regel, die ein Bekundungsverbot aufstellt, eine Abwägung der widerstreitenden Interessen – hier Art. 16 der Charta einerseits und Art. 10 der Charta bzw. Art. 9 der Konvention andererseits – vorzunehmen ist oder ob dies erst bei der Anwendung der Regel im Einzelfall, zB bei einer Weisung an den Arbeitnehmer oder bei Ausspruch einer Kündigung, zu erfolgen hat.
76
cc) Die Klärung dieser Frage durch den Gerichtshof ist für die Entscheidung über die Revision durch den Senat erheblich.
77
(1) Nach Auffassung des Senats sind die Rechte der Charta und der Konvention schon bei der Prüfung, ob eine allgemeine Regel an sich eine unzulässige mittelbare Benachteiligung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG darstellt, zu berücksichtigen.
78
(a) Beruht eine konkrete Behandlung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber auf einer allgemeinen Vorgabe, muss bereits diese Regelung als Grundlage für die Einzelmaßnahme rechtmäßig sein.
79
(b) Die Charta ist im Streitfall zu berücksichtigen, weil es um die Durchführung des Rechts der Union iSv. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 der Charta geht. Mit dem AGG wird die Richtlinie 2000/78/EG in diesem Sinn im deutschen Recht durchgeführt. Zudem betrifft der Rechtsstreit eine Person, die im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses eine Ungleichbehandlung wegen ihrer Religion erfahren hat (vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 49 mwN).
80
(c) Zu berücksichtigen ist ferner Art. 9 der Konvention. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die Rechte der Charta, die den durch die Konvention garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht entspricht ausweislich der Erläuterungen zur Charta (ABl. EU C 303 vom 14. Dezember 2007 S. 17, 21) dem durch Art. 9 der Konvention garantierten Recht. Es hat die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses (EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 27; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 29).
81
(2) Können die Rechte aus der Charta und der Konvention bei der Beurteilung der Angemessenheit iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG berücksichtigt werden, kommt der durch Art. 10 der Charta und Art. 9 der Konvention geschützten Religionsfreiheit nach Auffassung des Senats der Vorrang zu. Die von der Beklagten herangezogene Regel verbietet ohne hinreichenden Anlass unter anderem das Tragen auffälliger großflächiger religiöser Symbole.
82
(a) Auf den Schutz durch diese Rechte kann sich die Klägerin auch im Verhältnis zu der Beklagten – dh. im Verhältnis Privater – berufen (vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 49; zu der Horizontalwirkung von Rechten aus der Konvention im Arbeitsrecht etwa EGMR 21. Juli 2011 – 28274/08 – [Heinisch gegen Deutschland] Rn. 44; 23. September 2010 – 1620/03 – [Schüth gegen Deutschland] Rn. 55).
83
(b) Das Tragen eines islamischen Kopftuchs zur Erfüllung einer als zwingend empfundenen religiösen Verpflichtung fällt in den Schutzbereich von Art. 10 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Konvention. Ein anlassloses Verbot, auffällige großflächige religiöse Zeichen am Arbeitsplatz zu tragen, beeinträchtigt nach Auffassung des Senats die Religionsfreiheit in nicht zu rechtfertigender Weise.
84
(aa) Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind Einschränkungen der Religionsfreiheit zwar möglich (EuGH 5. September 2012 – C-71/11, C-99/11 – Rn. 60). Die Beeinträchtigung durch das hier im Streit stehende Bekundungsverbot kann mit dem durch Art. 16 der Charta geschützten Ziel einer unternehmerischen Neutralitätspolitik sowie der negativen Religionsfreiheit der anderen Arbeitnehmer und der Kunden aus Sicht des Senats jedoch nicht gerechtfertigt werden.
85
(bb) Der Senat geht – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – davon aus, dass eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen ist (vgl. EGMR 15. Januar 2013 – 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10 – [Eweida ua. gegen Vereinigtes Königreich] Rn. 94). Sie führt nach Auffassung des Senats dazu, dass die Religionsfreiheit überwiegt, weil die von der Beklagten vorgebrachten Störungen nicht hinreichend gewichtig sind, um ein Bekundungsverbot zu tragen. Auch die negative individuelle Religionsfreiheit trägt das Verbot nicht (vgl. dazu EGMR 17. Februar 2011 – 12884/03 – [Wasmuth gegen Deutschland] Rn. 50 mwN). Der Schwerpunkt der Regel liegt in der Wahrnehmung der unternehmerischen Freiheit, die sich als Reflex auf die negative Religionsfreiheit auswirkt. Zudem stellt die Religionsfreiheit nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Voraussetzung des für die Demokratie unentbehrlichen Pluralismus dar. Konflikte zwischen Gläubigen und Anders- oder Nichtgläubigen sollten nicht im Weg der Beseitigung, sondern unter Bewahrung der religiösen Vielfalt gelöst werden (EGMR 16. Dezember 2004 – 39023/97 – [Supreme Holy Council of the Muslim Community gegen Bulgarien] Rn. 93).
86
(3) Dürften nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Rechte aus der Charta und der Konvention bei der Prüfung der Angemessenheit einer Regel nicht berücksichtigt werden, wäre die Revision in Form einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht zur Feststellung weiterer Tatsachen erfolgreich. Wäre es nach Auffassung des Gerichtshofs hingegen zulässig, die Rechte aus der Konvention und der Charta in die Abwägung einzustellen, bliebe die Revision erfolglos.
87
b) Für den Fall, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass kollidierende Rechte aus der Charta und der Konvention im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit im engeren Sinn keine Berücksichtigung finden können, stellt sich die weitere Frage, ob nationales Recht von Verfassungsrang, insbesondere die durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, eine günstigere Regelung iSv. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG darstellen kann.
88
aa) Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG können die Mitgliedstaaten Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in der Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.
89
bb) Der Senat vermag ohne Anrufung des Gerichtshofs nicht zu beurteilen, unter welchen Voraussetzungen von einer günstigeren Vorschrift iSd. Richtlinie auszugehen ist. Es stellt sich die Frage, ob darunter nur nationale Regelungen fallen, die den Diskriminierungsschutz zum Ziel haben, oder ob auch solche Vorschriften erfasst sind, die wie die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG den freiheitsrechtlichen Bereich schützen sollen.
90
In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Frage, die in der Literatur kontrovers diskutiert wird, – soweit ersichtlich – bislang ungeklärt (gegen eine Einbeziehung von Freiheitsrechten in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG Wagner EuR 2018, 724, 742; für eine Einbeziehung Klein NVwZ 2017, 920, 921; Neugebauer/Sura RdA 2018, 350, 355; Preis/Morgenbrodt ZESAR 2017, 309, 317; Sagan EuZW 2017, 457, 460 f.).
91
cc) Die Frage ist für die Entscheidung über die Revision im Streitfall relevant.
92
(1) Der Senat geht davon aus, dass auch Freiheitsrechte als günstigere Vorschriften iSv. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG in Betracht kommen, solange sie im Ergebnis den diskriminierungsrechtlichen Schutzstandard erhöhen.
93
(a) Grundsätzlich stehen Gleichheitssatz und Freiheitsrechte in Idealkonkurrenz nebeneinander. Gleichwohl ist die gleichheits- und freiheitsrechtliche Prüfung verschränkt, indem die freiheitsrechtliche Relevanz eines Sachverhalts den Rechtfertigungsstandard im Rahmen der Gleichheitsprüfung verschärfen kann und freiheitsrechtliche Wertungen im Rahmen der Gleichheitsprüfung zu berücksichtigen sind (Wollenschläger in von Mangoldt/Klein/Starck GG 7. Aufl. Art. 3 Rn. 329 f.). Im Rahmen der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung sind infolge der Wertoffenheit des Gleichheitssatzes die Wertentscheidungen der Freiheitsrechte zu berücksichtigen (Heun in Dreier GG 3. Aufl. Art. 3 Rn. 140). Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass der spezielle Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG sowohl den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als auch die durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Glaubensfreiheit verstärkt (BVerfG 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 125, BVerfGE 138, 296).
94
(b) Das Bekenntnis zur Religion ist daher sowohl freiheits- als auch gleichheitsrechtlich abgesichert. Erfasst ist die Freiheit, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen zu haben und zu betätigen. Die Entscheidung hierzu wird gleichheitsrechtlich abgesichert, weil die Person nicht fürchten muss, deswegen Nachteile zu erleiden (vgl. für das Unionsrecht Preis/Sagan/Grünberger/Husemann EuArbR 2. Aufl. § 5 Rn. 78).
95
(c) Durch die Einbeziehung der freiheitsrechtlichen Aspekte in den unionsrechtlichen Diskriminierungsschutz wird der Diskriminierungsschutz im Ergebnis erweitert. Es wird sichergestellt, dass der Aspekt der Ausübung des Freiheitsrechts Berücksichtigung findet.
96
(2) Die Entscheidung über die Revision hängt von der Beantwortung der Vorlagefrage ab.
97
(a) Nach nationalem Recht tritt die als Freiheitsrecht durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gegenüber der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit des Arbeitgebers nur dann zurück, wenn Tatsachen realer Gefährdungen nachgewiesen sind (BAG 10. Oktober 2002 – 2 AZR 472/01 – zu B II 3 c bb der Gründe, BAGE 103, 111). Für ein Bekundungsverbot durch Gesetz verlangt das Bundesverfassungsgericht eine hinreichend konkrete Gefahr für die mit dem Verbot geschützten Güter. Es reicht nicht aus, wenn ein religiös konnotiertes äußeres Erscheinungsbild lediglich abstrakt geeignet ist, die Schutzgüter zu gefährden (vgl. BVerfG 18. Oktober 2016 – 1 BvR 354/11 – Rn. 61; 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – Rn. 101, BVerfGE 138, 296).
98
(b) Stellte die durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in ihrem durch die nationale Rechtsprechung herausgearbeiteten Verständnis keine günstigere Vorschrift iSv. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG dar und könnte sie im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit iSv. § 3 Abs. 2 AGG nicht berücksichtigt werden, hätte die Revision in Form einer Zurückverweisung an das Berufungsgericht Erfolg. Ginge nationales Verfassungsrecht dagegen in die Prüfung der Angemessenheit ein, wäre die Revision unbegründet. Die von der Beklagten angeführten Gründe stellen keine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter dar und vermögen das streitige Bekundungsverbot nicht zu tragen.
99
IV. Erläuterung der vierten Vorlagefrage (Frage zu 3.)
100
Die Vorlagefrage zu 3. betrifft das Verhältnis von Unionsrecht zu nationalem Verfassungsrecht.
101
1. Beantwortete der Gerichtshof die vorangehenden Fragen zu 2a) und zu 2b) in dem Sinn, dass in die Prüfung, ob eine unzulässige Benachteiligung wegen der Religion vorliegt, weder Rechte aus der Charta und der Konvention noch innerstaatliche Vorschriften von Verfassungsrang Eingang finden können, stellt sich für den Senat die Frage, ob damit das Unionsrecht – hier Art. 16 der Charta – die Einbeziehung nationaler Grundrechte in die Prüfung, ob eine Weisung des Arbeitgebers wirksam ist, insgesamt ausschließt (vgl. zu dem Anwendungsvorrang, auch im Verhältnis zu nationalem Verfassungsrecht, EuGH 9. März 1978 – C-106/77 – [Simmenthal] Rn. 17 f., Slg. 1978, 629).
102
a) Ginge die unternehmerische Freiheit im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit einer Regel iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b lit. i der Richtlinie 2000/78/EG stets vor, wahrte die Regel die rechtlichen Rahmenbedingungen iSv. § 106 Satz 1 und Satz 2 GewO. Nach nationalem Recht wäre dann zu prüfen, ob die Ausübung des Weisungsrechts im Einzelfall billigem Ermessen iSv. § 106 Satz 1 GewO entspräche. Dafür ist eine Abwägung der wechselseitigen Interessen nach den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit vorzunehmen. In die Abwägung sind alle Umstände des Einzelfalls, auch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Arbeitnehmerin, einzubeziehen (vgl. BAG 18. Oktober 2017 – 10 AZR 330/16 – Rn. 45, BAGE 160, 296). Aus Sicht des Senats kommt es darauf an, ob Art. 16 der Charta dazu führt, dass Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG unangewendet bleiben müssen.
103
b) Die Frage der Unanwendbarkeit nationalen Rechts stellt sich immer dann, wenn das Unionsrecht dem Einzelnen ein Recht verleiht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann und eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 75 f.). Ein solches subjektives Recht wirkt unmittelbar (vgl. für die horizontale Direktwirkung zB von Art. 31 Abs. 2 der Charta EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 67, 69 ff. mwN). Besteht kein subjektives Recht, das im Privatrechtsverhältnis direkt wirkt, kommt lediglich ein Schadensersatzanspruch gegen den Mitgliedstaat in Betracht, wenn „reines“ Richtlinienrecht ohne zugrunde liegendes unmittelbar wirkendes Primärrecht nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde (vgl. EuGH 7. August 2018 – C-122/17 – [Smith] Rn. 43 ff.; 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 43). Im Streitfall kommt aus Sicht des Senats als subjektives Recht in diesem Sinn nur eine Bestimmung der Charta – ihr Art. 16 -, nicht jedoch die Richtlinie 2000/78/EG in Betracht.
104
2. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Frage, ob sich ein Einzelner im Rahmen eines ausschließlich zwischen Privaten geführten Rechtsstreits auf Art. 16 der Charta berufen kann, – soweit ersichtlich – bislang ungeklärt. Es liegt zwar Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dem identisch formulierten Vorbehalt in Art. 27 der Charta vor. Der Senat kann ohne Vorabentscheidungsersuchen jedoch nicht beurteilen, ob die zu Art. 27 der Charta ergangene Rechtsprechung auf die durch Art. 16 der Charta geschützte unternehmerische Freiheit übertragen werden kann.
105
3. Diese Frage ist für die Entscheidung über die Revision im Streitfall erheblich.
106
a) Gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der unternehmerischen Freiheit aus Art. 16 der Charta bei der Abwägung mit der Religionsfreiheit im Zusammenhang mit Bekundungsverboten in einem Unternehmen stets der Vorrang zukommt, scheidet eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 106 Satz 1 GewO unter Einbeziehung von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG aus Sicht des Senats aus.
107
b) Der Senat selbst versteht das Unionsrecht dahin, dass Art. 16 der Charta und der Anwendungsvorrang des Unionsrechts einer Einbeziehung nationaler Rechte von Verfassungsrang in die Prüfung einer – wie hier – streitigen Weisung nicht entgegenstehen.
108
aa) Der Gerichtshof hat sich in der Entscheidung Association de médiation sociale mit Art. 27 der Charta auseinandergesetzt. Danach ist das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen in den Fällen und unter den Voraussetzungen, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind, zu gewährleisten. Nach Auffassung des Gerichtshofs ergibt sich aus dem Wortlaut klar, dass Art. 27 der Charta durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss. Aufgrund von Art. 27 der Charta als solchem ist eine nationale Regelung, die mit einer Richtlinie nicht konform ist, nicht unangewendet zu lassen (EuGH 15. Januar 2014 – C-176/12 – [Association de médiation sociale] Rn. 44 ff.).
109
bb) Aus Sicht des Senats können diese Erwägungen auf Art. 16 der Charta und die Richtlinie 2000/78/EG übertragen werden.
110
(1) Ebenso wie Art. 27 der Charta das Recht auf Unterrichtung und Anhörung nur nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gewährleistet, steht auch der durch Art. 16 der Charta vermittelte Schutz der unternehmerischen Freiheit unter einem solchen Vorbehalt.
111
(2) Sollte der Gerichtshof dieser Auffassung zustimmen, könnte sich die privatrechtlich organisierte Beklagte auch nicht auf die zu der Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG im Zusammenhang mit Art. 16 der Charta ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs berufen (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [G4S Secure Solutions] Rn. 37 ff.; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 33). In diesem Fall verliehe Art. 16 der Charta dem Einzelnen allein kein subjektives Recht gegenüber Privaten. Bei einer Zusammenschau von Art. 16 der Charta und der Richtlinie 2000/78/EG könnte aus Sicht des Senats nichts anderes gelten (vgl. für Art. 27 der Charta EuGH 15. Januar 2014 – C-176/12 – [Association de médiation sociale] Rn. 49).
112
(3) Nach Auffassung des Senats kann in diesem Fall die durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in dem durch die nationale Rechtsprechung gefundenen Verständnis berücksichtigt werden. Da der unternehmerischen Freiheit im Verhältnis zu der Religionsfreiheit der Klägerin im Rahmen der durchzuführenden Abwägung das geringere Gewicht zukommt, wäre die der Klägerin erteilte Weisung unwirksam.
113
c) Die Entscheidung über die Revision hängt deshalb davon ab, wie der Gerichtshof die Frage beantwortet. Sollte er zu dem Ergebnis kommen, dass Art. 16 der Charta die Anwendung nationaler Grundrechte nicht ausschließt, bliebe die Revision aus den dargelegten Gründen erfolglos. Stünde Art. 16 der Charta einer Berücksichtigung nationaler Grundrechte jedoch entgegen, wäre die Revision in Form einer Zurückverweisung an das Berufungsgericht begründet. Nach Feststellung der weiteren Tatsachen durch die Tatsacheninstanz müsste dann eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG erwogen werden.
114
G. Die Entscheidung über die Aussetzung des Rechtsstreits beruht auf § 148 ZPO analog.
Gallner
Brune
Pessinger
Uhamou
Schurkus |
bag_4-20 | 22.01.2020 | 22.01.2020
4/20 - Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung bei der Umsetzung eines Arbeitnehmers vor der Entscheidung über dessen Gleichstellungsantrag
Hat ein als behinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 anerkannter Arbeitnehmer die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen beantragt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung von der beabsichtigten Umsetzung dieses Arbeitnehmers zu unterrichten und sie hierzu anzuhören, wenn über den Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden ist.
Die Arbeitgeberin, ein Jobcenter, beschäftigt eine Arbeitnehmerin, die als behinderter Mensch mit einem GdB von 30 anerkannt ist. Am 4. Februar 2015 stellte diese einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen bei der Bundesagentur für Arbeit und informierte den Leiter des Jobcenters hierüber. Das Jobcenter setzte die Arbeitnehmerin im November 2015 für die Dauer von sechs Monaten in ein anderes Team um, ohne zuvor die Schwerbehinderten-vertretung unterrichtet und angehört zu haben. Mit Bescheid vom 21. April 2016 stellte die Bundesagentur für Arbeit die Arbeitnehmerin rückwirkend zum 4. Februar 2015 einem schwerbehinderten Menschen gleich.
Die Schwerbehindertenvertretung hat im Wege eines Hauptantrags und mehrerer Hilfsanträge im Wesentlichen geltend gemacht, das Jobcenter habe sie vorsorglich auch dann zu unterrichten und anzuhören, wenn behinderte Arbeitnehmer, die einen Gleichstellungsantrag gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt haben, auf einen anderen Arbeitsplatz umgesetzt werden sollen.
Das Arbeitsgericht hat dem Hauptantrag stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Anträge abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Schwerbehindertenvertretung blieb vor dem Siebten Senat des Bundesarbeits-gerichts ohne Erfolg. Nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Diese Regelung gilt gemäß § 151 Abs. 1 SGB IX für schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen. Die Beteiligungspflicht bei Umsetzungen besteht danach nicht, wenn die Umsetzung einen behinderten Arbeitnehmer betrifft, der einen Antrag auf Gleichstellung gestellt hat, über den noch nicht entschieden ist. Die Gleichstellung erfolgt erst durch die konstitutiv wirkende Feststellung der Bundesagentur für Arbeit. Erst ab diesem Zeitpunkt besteht das Beteiligungsrecht der Schwerbehinderten-vertretung bei der Umsetzung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Zwar wirkt die Gleichstellung nach § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX auf den Tag des Eingangs des Antrags zurück. Dies begründet jedoch nicht die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Schwerbehindertenvertretung vor der Entscheidung über den Gleichstellungsantrag vorsorglich über eine Umsetzung zu unterrichten und zu dieser anzuhören. Das ist mit den Vorgaben des Unionsrechts und der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2020 – 7 ABR 18/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Mai 2018 – 23 TaBV 1699/17 | Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Mai 2018 – 23 TaBV 1699/17 – wird zurückgewiesen.
Leitsatz
Hat ein als behinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 30 anerkannter Arbeitnehmer die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen beantragt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt, ist der Arbeitgeber nicht nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung von der beabsichtigten Umsetzung dieses Arbeitnehmers (vorsorglich) zu unterrichten und sie hierzu anzuhören, wenn über den Gleichstellungsantrag zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden ist.
Entscheidungsgründe
1
A. Die Beteiligten streiten über Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung bei der Umsetzung von Arbeitnehmern mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30, über deren Gleichstellungsantrag im Zeitpunkt der Umsetzung noch nicht entschieden ist.
2
Die Antragstellerin ist die bei dem zu 2. beteiligten Jobcenter gebildete Schwerbehindertenvertretung. In dem Jobcenter ist die Arbeitnehmerin L beschäftigt, die als behinderter Mensch mit einem GdB von 30 anerkannt ist. Diese stellte am 4. Februar 2015 einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen und informierte den Geschäftsführer des Jobcenters hierüber.
3
Am 9. November 2015 setzte das Jobcenter Frau L für die Dauer von sechs Monaten im Rahmen einer Personalentwicklungsmaßnahme vom Team 816 in das Team 831 um und wies ihr einen anderen Arbeitsplatz in demselben Gebäude zu, ohne die Schwerbehindertenvertretung zu unterrichten und anzuhören. Mit Beschluss der Bundesagentur für Arbeit vom 21. April 2016 wurde Frau L rückwirkend zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung ab dem 4. Februar 2015 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
4
Vor diesem Hintergrund verlangte die Schwerbehindertenvertretung vom Jobcenter vorgerichtlich erfolglos, sie bei zukünftigen Umsetzungen von behinderten Arbeitnehmern, die ihre Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen beantragt und dies dem Jobcenter mitgeteilt haben, im Wege der Unterrichtung und Anhörung zu beteiligen. Dieses Begehren verfolgt sie mit dem vorliegenden Verfahren weiter.
5
Die Antragstellerin hat die Auffassung vertreten, die aus § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX (bis zum 31. Dezember 2017: § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) folgende Unterrichtungs- und Anhörungspflicht bestehe bei Maßnahmen, die einen behinderten Arbeitnehmer betreffen, aufgrund der Rückwirkung eines dem Gleichstellungsantrag stattgebenden Bescheids der Bundesagentur für Arbeit bereits ab dem Zeitpunkt der Antragstellung, wenn der Arbeitgeber von der Antragstellung Kenntnis habe. Sie sei daher in einem solchen Fall vorsorglich zu unterrichten und anzuhören. Das sei erforderlich, um dem Sinn und Zweck der Unterrichtungs- und Anhörungspflicht Rechnung zu tragen und einen anderenfalls rückwirkend eintretenden rechtswidrigen Zustand zu vermeiden. Bereits durch die Stellung des Gleichstellungsantrags und deren Bekanntgabe gegenüber dem Arbeitgeber sei ein Schutz durch die Schwerbehindertenvertretung geboten. Diese Sichtweise gebiete auch eine richtlinien- und konventionsrechtskonforme Auslegung von § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX unter Berücksichtigung der Vorgaben in Art. 5 Richtlinie 2000/78/EG und Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (nachfolgend UN-BRK).
6
Die Antragstellerin hat – soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren von Bedeutung – zuletzt sinngemäß beantragt,
1.
dem Jobcenter aufzugeben, es zu unterlassen, behinderte Arbeitnehmer, die einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt haben, auf einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen, ohne die Schwerbehindertenvertretung zuvor unterrichtet und angehört zu haben,
2.
hilfsweise festzustellen, dass das Jobcenter verpflichtet ist, die Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinsichtlich der Umsetzung eines behinderten Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz zu unterrichten und anzuhören, sofern der Arbeitnehmer einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und dies dem Jobcenter auch mitgeteilt hat,
3.
hilfsweise dem Jobcenter aufzugeben, es zu unterlassen, einem behinderten Arbeitnehmer Arbeit auf einem Arbeitsplatz zuzuweisen, ohne die Schwerbehindertenvertretung zuvor unterrichtet und angehört zu haben, sofern der behinderte Arbeitnehmer zuvor einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und das Jobcenter über die Antragstellung informiert hat,
4.
hilfsweise festzustellen, dass das Jobcenter verpflichtet ist, die Schwerbehindertenvertretung vor Zuweisung von Arbeit auf einem vom bisherigen Arbeitsplatz abweichenden Arbeitsplatz gegenüber einem behinderten Arbeitnehmer zu unterrichten und anzuhören, sofern der behinderte Arbeitnehmer einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt hat.
7
Das Jobcenter hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Es hat den Standpunkt eingenommen, der Anwendungsbereich des § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sei nach § 151 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX für behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 erst mit einer stattgebenden Bescheidung des Gleichstellungsantrags eröffnet.
8
Das Arbeitsgericht hat dem Hauptantrag stattgegeben. Auf die Beschwerde des Jobcenters hat das Landesarbeitsgericht die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die Anträge abgewiesen. Dabei hat es den Hauptantrag für nicht hinreichend bestimmt und daher für unzulässig gehalten; die Hilfsanträge hat es zum Teil als unzulässig, zum Teil als unbegründet abgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Antragstellerin die zuletzt gestellten Anträge weiter. Hilfsweise beantragt sie für den Fall der Unzulässigkeit des Hauptantrags zusätzlich,
1a.
dem Jobcenter aufzugeben, es zu unterlassen, behinderte Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung von mindestens 30, die einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt haben, über den noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, und dieses dem Jobcenter mitgeteilt haben, im Wege der Umsetzung Arbeit auf einem anderen Arbeitsplatz zuzuweisen, ohne die Antragstellerin zumindest sieben Tage zuvor mündlich über die Umsetzung, ihren Zeitpunkt sowie den Arbeitsplatz einschließlich seiner leidensgerechten Gestaltung in Bezug auf die Behinderung des Arbeitnehmers unterrichtet zu haben und die Antragstellerin dergestalt angehört zu haben, dass die Antragstellerin binnen sieben Tagen zu dieser Umsetzung Stellung nehmen kann.
9
Das Jobcenter beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
10
B. Die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin bleibt ohne Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die im Beschwerdeverfahren zuletzt gestellten Anträge zu Recht abgewiesen. Der erstmals im Rechtsbeschwerdeverfahren angebrachte Hilfsantrag zu 1a. ist unbegründet.
11
I. Das Landesarbeitsgericht hat den Hauptantrag zu Recht als unzulässig abgewiesen. Der Antrag ist nicht hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
12
1. Dem Jobcenter soll mit diesem Antrag untersagt werden, behinderte Arbeitnehmer, die einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt haben, auf einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen, ohne dass die Schwerbehindertenvertretung zuvor unterrichtet und angehört wurde. Der Antrag kann nicht dahin ausgelegt werden, dass die vom Jobcenter verlangte Unterrichtung und Anhörung nach Maßgabe der in der Rechtsbeschwerdebegründung durch den weiteren Hilfsantrag zu 1a. vorgenommenen Konkretisierung erfolgen soll. In den Vorinstanzen hatte die Antragstellerin keinen Sachvortrag zu den Einzelheiten der Art und Weise und des Inhalts der Unterrichtung und Anhörung gehalten. Zwar macht die Antragstellerin mit der Rechtsbeschwerde geltend, sie hätte bei Erteilung eines Hinweises auf die Unzulässigkeit des Hauptantrags durch das Landesarbeitsgericht einen entsprechend konkretisierten Antrag gestellt. Sie verteidigt jedoch die Zulässigkeit des in den Vorinstanzen gestellten Hauptantrags und stellt den konkretisierten Antrag in der Rechtsbeschwerde hilfsweise für den Fall der Unzulässigkeit des Hauptantrags. Damit sind die Anträge – auch nach der gebotenen Auslegung – nicht identisch.
13
2. Der Hauptantrag ist nicht hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO und deshalb unzulässig.
14
a) Im Beschlussverfahren muss ein Antrag ebenso bestimmt sein wie im Urteilsverfahren. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gilt auch für das Beschlussverfahren und die in ihm gestellten Anträge. Der jeweilige Streitgegenstand muss so konkret umschrieben werden, dass der Umfang der Rechtskraftwirkung für die Beteiligten nicht zweifelhaft ist. Der in Anspruch genommene Beteiligte muss bei einer dem Antrag stattgebenden Entscheidung eindeutig erkennen können, was von ihm verlangt wird. Das Gericht ist gehalten, eine entsprechende Auslegung des Antrags vorzunehmen, wenn hierdurch eine vom Antragsteller erkennbar erstrebte Sachentscheidung ermöglicht wird. Die Prüfung, welche Maßnahmen der Schuldner vorzunehmen oder zu unterlassen hat, darf dadurch grundsätzlich nicht in das Vollstreckungsverfahren verlagert werden (BAG 27. Juli 2016 – 7 ABR 16/14 – Rn. 13; 9. Juli 2013 – 1 ABR 17/12 – Rn. 14; 12. August 2009 – 7 ABR 15/08 – Rn. 12 mwN, BAGE 131, 316). Dessen Aufgabe ist es zu klären, ob der Schuldner einer Verpflichtung nachgekommen ist, und nicht, wie diese aussieht (BAG 27. Juli 2016 – 7 ABR 16/14 – Rn. 13; 22. Mai 2012 – 1 ABR 11/11 – Rn. 15, BAGE 141, 360). Ein Unterlassungsantrag muss deshalb – bereits aus rechtsstaatlichen Gründen – eindeutig erkennen lassen, was vom Schuldner verlangt wird. Soll der Schuldner zur zukünftigen Unterlassung einzelner Handlungen verpflichtet werden, müssen diese so genau bezeichnet sein, dass kein Zweifel besteht, welches Verhalten im Einzelnen betroffen ist. Für den Schuldner muss aufgrund des Unterlassungstitels erkennbar sein, welche Handlungen oder Äußerungen er künftig zu unterlassen hat, um sich rechtmäßig verhalten zu können (vgl. BAG 14. März 2012 – 7 ABR 67/10 – Rn. 9; 17. März 2010 – 7 ABR 95/08 – Rn. 13, BAGE 133, 342).
15
b) Diesen Anforderungen genügt der Hauptantrag nicht. Dem Jobcenter sollen Umsetzungen behinderter Arbeitnehmer, die einen Gleichstellungsantrag gestellt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt haben, untersagt werden, sofern die Schwerbehindertenvertretung nicht zuvor unterrichtet und angehört wurde. Damit ist zwar klar, dass von der Unterlassungsverpflichtung alle künftigen Umsetzungen von behinderten Mitarbeitern, die einen (noch nicht beschiedenen) Gleichstellungantrag gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt haben, erfasst sein sollen. Unbestimmt bleibt hingegen, wie die Unterrichtung und Anhörung im Einzelnen ausgestaltet sein soll, bei deren Fehlen der begehrte Unterlassungstitel zur Anwendung kommen soll. Es fehlt an der hinreichenden Präzisierung, in welcher Form und Frist, mit welchem Inhalt und in welchem Umfang die Unterrichtung erfolgen und welche Zeit die Antragstellerin zu einer Stellungnahme haben soll. So bleibt ua. unklar, ob der Schwerbehindertenvertretung nur die beabsichtigte Umsetzung an sich oder darüber hinaus auch die einzelnen Bedingungen oder sonstigen Umstände der beabsichtigten Umsetzung mitzuteilen sind, und ob dies mündlich oder schriftlich geschehen soll. Die Beantwortung dieser Fragen darf nicht in das Vollstreckungsverfahren verlagert werden. Der beantragte Tenor ließe offen, welches rechtmäßige Verhalten der Arbeitgeberin genau abverlangt würde (vgl. BAG 14. März 2012 – 7 ABR 67/10 – Rn. 10 zu einem Antrag, mit dem der Arbeitgeberin untersagt werden sollte, einen Aufhebungsvertrag zu schließen, „bevor nicht der Schwerbehindertenvertreter unterrichtet und ihm Gelegenheit gegeben wurde, dazu Stellung zu nehmen“).
16
II. Auch der dem Senat mit der Abweisung des Hauptantrags zur Entscheidung anfallende im Rechtsbeschwerdeverfahren zusätzlich angebrachte Hilfsantrag zu 1a. bleibt ohne Erfolg.
17
1. Mit diesem Antrag hat die Antragstellerin keine in der Rechtsbeschwerdeinstanz unzulässige Antragserweiterung vorgenommen.
18
a) Antragserweiterungen sind ebenso wie sonstige Antragsänderungen im Rechtsbeschwerdeverfahren grundsätzlich unzulässig (§ 559 ZPO). Eine Ausnahme besteht dann, wenn der geänderte Sachantrag sich auf einen in der Beschwerdeinstanz festgestellten Sachverhalt stützen kann, sich das rechtliche Prüfprogramm nicht wesentlich ändert, Verfahrensrechte der anderen Verfahrensbeteiligten nicht verkürzt werden und die geänderte Antragstellung darauf beruht, dass die Vorinstanzen einen nach § 139 Abs. 1 ZPO gebotenen Hinweis unterlassen haben (vgl. BAG 15. Mai 2018 – 1 ABR 75/16 – Rn. 36, BAGE 162, 379; 23. August 2016 – 1 ABR 22/14 – Rn. 48, BAGE 156, 135). In diesen Fällen ist es aus prozessökonomischen Gründen angezeigt, den Beteiligten eine anderenfalls erforderliche Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht oder gar eine erneute erstinstanzliche Anrufung der Gerichte für Arbeitssachen zu ersparen (BAG 22. Juli 2014 – 1 ABR 94/12 – Rn. 31 mwN).
19
b) Danach ist die mit dem Hilfsantrag zu 1a. in der Rechtsbeschwerdeinstanz vorgenommene Antragserweiterung ausnahmsweise zulässig.
20
aa) Die geänderte Antragstellung beruht darauf, dass das Landesarbeitsgericht einen nach § 139 Abs. 1 ZPO gebotenen Hinweis unterlassen hat.
21
(1) Hält ein Gericht einen Antrag abweichend vom Ausspruch der Vorinstanz für unzulässig, weil er seines Erachtens dem Bestimmtheitserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht genügt, so muss es auf eine Heilung dieses Mangels hinwirken. Die betroffene Partei muss Gelegenheit erhalten, ihren Sachantrag den Zulässigkeitsbedenken des erkennenden Gerichts anzupassen (BAG 27. Juli 2016 – 7 ABR 16/14 – Rn. 21).
22
(2) Dem Inhalt der Akte (vgl. § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO) kann nicht entnommen werden, dass das Landesarbeitsgericht die Antragstellerin, die mit dem Hauptantrag erstinstanzlich obsiegt hatte, auf dessen fehlende Bestimmtheit hingewiesen und ihr die Möglichkeit eingeräumt hat, einen sachdienlichen Antrag zu stellen. Zwar können sich sonst gebotene Hinweise des Gerichts erübrigen, wenn die betroffene Partei von der Gegenseite die erforderliche Unterrichtung erhalten hat. Dies gilt jedoch nicht für die gerichtliche Pflicht, auf sachdienliche Anträge hinzuwirken (BAG 27. Juli 2016 – 7 ABR 16/14 – Rn. 21). Zudem hatte das Jobcenter die fehlende Bestimmtheit des Hauptantrags in den Vorinstanzen nicht geltend gemacht.
23
bb) Über den Hilfsantrag zu 1a. kann auf der Grundlage des vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und im Rahmen des vom Landesarbeitsgericht durchgeführten rechtlichen Prüfprogramms entschieden werden. Verfahrensrechte des Jobcenters werden nicht verkürzt.
24
2. Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig. Er lässt erkennen, für welche Angelegenheiten das Beteiligungsrecht festgestellt werden soll und wie die Unterrichtung und Anhörung im Einzelnen ausgestaltet sein soll. Der Antrag ist damit hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Antragstellerin ist nach § 81 Abs. 1 ArbGG antragsbefugt. Sie macht ihr Beteiligungsrecht aus § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gegenüber dem Jobcenter geltend.
25
3. Der Hilfsantrag zu 1a. ist unbegründet. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf die mit dem Antrag begehrte Unterlassung der Umsetzung behinderter Arbeitnehmer. Hat ein als behinderter Mensch mit einem GdB von 30 anerkannter Arbeitnehmer die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen beantragt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung von der beabsichtigten Umsetzung dieses Arbeitnehmers (vorsorglich) zu unterrichten und sie hierzu anzuhören, wenn über den Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden ist. Das ergibt die Auslegung von § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX, was das Landesarbeitsgericht im Rahmen seiner Ausführungen zur Unbegründetheit des Hilfsantrags zu 2. zutreffend erkannt hat. Es kann daher dahinstehen, ob sich aus § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX für den Fall der ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung erfolgten Umsetzung eines schwerbehinderten oder eines einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellten behinderten Arbeitnehmers überhaupt ein Unterlassungsanspruch der Schwerbehindertenvertretung gegen den Arbeitgeber ableiten lässt.
26
a) Nach § 178 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB IX muss der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend unterrichten und vor einer Entscheidung anhören. Gegenstand der Unterrichtung und Anhörung sind alle Angelegenheiten bzw. Entscheidungen, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren (BAG 19. Dezember 2018 – 7 ABR 80/16 – Rn. 21; 14. März 2012 – 7 ABR 67/10 – Rn. 20 f.). Daher besteht die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht grundsätzlich, wenn der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Menschen innerhalb derselben Dienststelle im Wege einer Umsetzung andere Aufgaben überträgt. Dies gilt auch für die Umsetzung von behinderten Arbeitnehmern, die durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind (§ 151 Abs. 1 SGB IX).
27
b) Die Beteiligungspflicht setzt nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen der §§ 178 Abs. 2, 151 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX voraus, dass die beabsichtigte Umsetzung einen schwerbehinderten oder einen bereits durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit mit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellten behinderten Arbeitnehmer betrifft. Nach § 151 Abs. 1 SGB IX gelten die Regelungen des 3. Teils des SGB IX, in dessen Kapitel 5 sich § 178 SGB IX befindet, für schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen. Menschen sind nach § 2 Abs. 2 Halbs. 1 SGB IX im Sinne des 3. Teils des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Für behinderte Arbeitnehmer mit einem GdB von unter 50 findet die Vorschrift nur Anwendung, wenn diese schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind. Die Gleichstellung, die nach § 2 Abs. 3 SGB IX einen GdB von mindestens 30 voraussetzt, erfolgt auf Antrag des Behinderten nach § 151 Abs. 2 Satz 1 SGB IX durch rechtsbegründenden Verwaltungsakt der Bundesagentur für Arbeit und wirkt konstitutiv. Im Unterschied zu den kraft Gesetzes geschützten schwerbehinderten Personen, bei denen durch die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch ein bestehender Rechtsschutz nur festgestellt wird, wird der Schutz des einfach Behinderten durch die Gleichstellung erst begründet (vgl. BAG 31. Juli 2014 – 2 AZR 434/13 – Rn. 48; 10. April 2014 – 2 AZR 647/13 – Rn. 39; 18. November 2008 – 9 AZR 643/07 – Rn. 22; Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 151 Rn. 20). Ob die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX besteht, ist nach den Umständen zum Zeitpunkt der Umsetzung zu beurteilen. Ist zu diesem Zeitpunkt der von der Umsetzung betroffene Arbeitnehmer weder schwerbehindert noch über seinen Gleichstellungsantrag positiv entschieden, sind die Voraussetzungen für die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht daher nicht erfüllt. Der Arbeitnehmer unterfällt zu diesem Zeitpunkt nicht dem Anwendungsbereich des 3. Teils des SGB IX. Eine vorsorgliche Beteiligungspflicht regelt § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht. Gegenteiliges folgt nicht aus § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX, wonach die Gleichstellung mit dem Tag des Eingangs des Antrags wirksam wird. Diese Rückwirkung wird erst durch den stattgebenden Gleichstellungsbescheid begründet, weshalb sie im Zeitpunkt der vor dem Bescheid erfolgten Umsetzung noch nicht eingetreten ist. Das Gesetz enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass die ggf. später eintretende Rückwirkung gegen den Wortlaut des § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX eine vorsorgliche Beteiligungspflicht bewirken soll.
28
c) Systematische Erwägungen bestätigen dieses Ergebnis.
29
aa) Die in § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX angeordnete Rückwirkung des konstitutiven Gleichstellungsbescheids hat zwar grundsätzlich zur Folge, dass behinderte Menschen seit dem Zeitpunkt der Antragstellung den individuellen Schutzvorschriften des 3. Teils des SGB IX unterliegen. Die Rückwirkung ist, wie die Vorschriften zum Wahlverfahren in § 177 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX zeigen, nach der gesetzgeberischen Vorstellung aber nicht allumfassend, sondern gerade im Zusammenhang mit der kollektiven Interessenvertretung durch die Schwerbehindertenvertretung eingeschränkt.
30
So sind behinderte Arbeitnehmer mit einem GdB von unter 50, die vor der Wahl der Schwerbehindertenvertretung einen Gleichstellungsantrag gestellt haben, über den am Wahltag noch nicht oder (anfechtbar) abschlägig entschieden ist, im Sinne von § 177 Abs. 2 SGB IX nicht als Schwerbehinderte zu behandeln und daher nicht berechtigt, die Schwerbehindertenvertretung zu wählen. Es genügt nicht, dass vor der Wahl ein Gleichstellungsantrag gestellt worden ist (Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 177 Rn. 13; Düwell Wahl der Schwerbehindertenvertretung 2. Aufl. S. 45; Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 151 Rn. 21; vgl. zu § 24 Abs. 1 und Abs. 2 SchwbG BayVGH 1. Juli 1987 – 18 C 87.00852 -).
31
Auch bei der Ermittlung der für die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung nach § 177 Abs. 1 SGB IX erforderlichen Mindestanzahl von fünf schwerbehinderten Menschen sind Beschäftigte mit einem GdB von 30 oder 40 nur dann zu berücksichtigen, wenn sie durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit bereits gleichgestellt sind (vgl. Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 177 Rn. 23; Pahlen in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 177 Rn. 3). Ist über den Gleichstellungsantrag hingegen noch nicht entschieden, sind die einfach behinderten Beschäftigten nicht mitzuzählen, auch wenn ein später ggf. stattgebender Bescheid die Gleichstellung mit rückwirkender Kraft zum Zeitpunkt der Antragstellung bewirkt. Anderenfalls bestünde im Hinblick auf die Wirksamkeit der Wahl der Schwerbehindertenvertretung, die nach den Umständen zum Zeitpunkt der Wahl zu beurteilen ist, eine erhebliche Rechtsunsicherheit, da sich erst im Nachhinein herausstellen würde, ob die Beschäftigtenzahl zutreffend ermittelt wurde.
32
bb) Auch die Regelung zur Einschränkung des Sonderkündigungsschutzes in § 173 Abs. 3 SGB IX spricht in systematischer Hinsicht für das hier gefundene Ergebnis.
33
(1) Nach § 168 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Allerdings findet das Zustimmungserfordernis nach § 173 Abs. 3 SGB IX keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. § 173 Abs. 3 SGB IX gilt nicht nur für schwerbehinderte Menschen, sondern auch für ihnen gleichgestellte behinderte Menschen (vgl. zur wortgleichen Vorgängerregelung in § 90 Abs. 2a SGB IX aF ausführlich BAG 1. März 2007 – 2 AZR 217/06 – Rn. 29 ff., 37 ff., 43 ff., BAGE 121, 335). Das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes setzt damit grundsätzlich voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung entweder die Schwerbehinderung bereits anerkannt (oder eine Gleichstellung erfolgt) ist oder die Stellung des Antrags auf Anerkennung der Schwerbehinderung (bzw. auf Gleichstellung) mindestens drei Wochen zurückliegt (vgl. zu § 90 Abs. 2a SGB IX aF: BAG 9. Juni 2011 – 2 AZR 703/09 – Rn. 18; 29. November 2007 – 2 AZR 613/06 – Rn. 15; 1. März 2007 – 2 AZR 217/06 – aaO).
34
(2) § 173 Abs. 3 SGB IX verdeutlicht, dass der Gesetzgeber für den im 4. Kapitel des 3. Teils des SGB IX geregelten Sonderkündigungsschutz die Problematik eines laufenden Anerkennungs- bzw. Gleichstellungsverfahrens erkannt und für den Fall, dass die Schwerbehinderung noch nicht anerkannt (oder eine Gleichstellung noch nicht erfolgt) ist, den Sonderkündigungsschutz auf eine zeitnah vor der Kündigung erfolgte Antragstellung erstreckt hat. Wenn der Gesetzgeber beabsichtigt hätte, die im 5. Kapitel des 3. Teils des SGB IX geregelte Unterrichtungs- und Anhörungspflicht der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX auch für Umsetzungen behinderter Menschen, über deren Gleichstellungsantrag zum Zeitpunkt der Umsetzung noch nicht entschieden ist, vorzusehen, hätte es gerade angesichts der konstitutiven Wirkung des Gleichstellungsbescheids der Bundesagentur für Arbeit nahegelegen, hier eine vergleichbare Regelung aufzunehmen. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil ein Verstoß gegen die in § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelte Unterrichtungs- und Anhörungspflicht der Schwerbehindertenvertretung vor einer Umsetzung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmers – im Gegensatz zur unterbliebenen Beteiligung des Integrationsamts im Fall der Kündigung – nicht zur individualrechtlichen Unwirksamkeit der Umsetzung führt (vgl. BAG 28. Juni 2007 – 6 AZR 750/06 – Rn. 48, BAGE 123, 191 zu § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF; 28. Juli 1983 – 2 AZR 122/82 – BAGE 43, 210 zur entsprechenden Vorschrift im SchwbG; Pahlen in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben SGB IX 14. Aufl. § 178 Rn. 9 mwN). Mit der zum 30. Dezember 2016 in Kraft getretenen Änderung des § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) hat der Gesetzgeber die Unwirksamkeitsfolge lediglich für die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF (seit dem 1. Januar 2018: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) ausspricht, angeordnet, was nach § 68 Abs. 1 SGB IX aF (seit dem 1. Januar 2018: § 151 Abs. 1 SGB IX) gleichermaßen für Schwerbehinderten gleichgestellte behinderte Menschen gilt.
35
d) Sinn und Zweck der in § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelten Beteiligungspflicht sprechen ebenfalls gegen eine Verpflichtung des Arbeitgebers, die Schwerbehindertenvertretung von der beabsichtigten Umsetzung eines behinderten Arbeitnehmers zu unterrichten und zu dieser anzuhören, wenn über dessen Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden ist.
36
aa) § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist Teil des in § 182 Abs. 1 SGB IX verankerten Grundsatzes der engen Zusammenarbeit von Arbeitgeber, Schwerbehindertenvertretung und Betriebs- oder Personalrat, um die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben sicherzustellen. Die Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 1 Satz 1 SGB IX besteht deshalb darin, die Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Betrieb oder die Dienststelle zu fördern. Sie hat die Interessen der schwerbehinderten Menschen gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten und ihnen beratend und helfend zur Seite zu stehen. Damit korrespondiert die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Sie eröffnet der Schwerbehindertenvertretung die Möglichkeit, den Arbeitgeber aus ihrer fachlichen Sicht auf mögliche, ggf. nicht bedachte Auswirkungen von Entscheidungen hinzuweisen, die für die Belange eines schwerbehinderten Menschen oder schwerbehinderter Beschäftigter als Kollektiv erheblich sind (vgl. BAG 17. August 2010 – 9 ABR 83/09 – Rn. 16 f., BAGE 135, 207 zu § 95 SGB IX aF).
37
bb) Daraus ergibt sich, dass die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht des Arbeitgebers aus § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bei einfach behinderten Menschen grundsätzlich erst dann entsteht, wenn die Gleichstellung konstitutiv durch einen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit festgestellt ist. Erst dann können sachdienliche Hinweise der Schwerbehindertenvertretung auf mögliche, ggf. nicht bedachte Auswirkungen von Entscheidungen gegenüber dem Arbeitgeber ihren Schutzzweck zugunsten der einfach behinderten Beschäftigten vollumfänglich entfalten, weil diese zuvor nicht in den Anwendungsbereich des 3. Teils des SGB IX fallen und den Arbeitgeber entsprechende Handlungsverpflichtungen – wie zB nach § 164 SGB IX – nicht treffen. Die Auffassung der Antragstellerin, eine frühzeitige Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung sei generell geboten, um eine Vergrößerung der Gruppe der schwerbehinderten Beschäftigten zu vermeiden und zu bewirken, dass eine Gleichstellung aufgrund ihrer frühzeitigen Einschaltung und Beteiligung nicht mehr erforderlich sei, verkennt, dass die Schwerbehindertenvertretung keine Generalzuständigkeit für alle einfach behinderten Arbeitnehmer besitzt, sondern nur für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen, wie sich aus § 151 Abs. 1 SGB IX ergibt.
38
e) § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist nicht unter Berücksichtigung von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e bzw. i iVm. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK dahin auszulegen, dass die Unterrichtungs- und Anhörungspflicht des Arbeitgebers auch dann besteht, wenn die Umsetzung einen als behinderter Mensch mit einem GdB von 30 anerkannten Arbeitnehmer betrifft, über dessen Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden ist.
39
aa) Behinderte Menschen, die nicht iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX schwerbehindert sind, werden zwar vom Schutz der Richtlinie 2000/78/EG und der UN-BRK erfasst. Deren Vorgaben gelten für alle Fälle einer Behinderung in ihrem Sinne und nicht nur für Behinderungen, die so schwer sind, dass sie einen bestimmten Grad überschreiten. Der Begriff der Behinderung im Sinne des Unionsrechts und der UN-BRK ist daher nicht auf behinderte Menschen beschränkt, bei denen eine Schwerbehinderung vorliegt (§ 2 Abs. 2 SGB IX: GdB wenigstens 50) oder die diesen gleichgestellt sind, weil nach § 2 Abs. 3 SGB IX der GdB weniger als 50 aber wenigstens 30 beträgt, und die aus arbeitsplatzbezogenen Gründen ihre Gleichstellung beantragt haben (vgl. BAG 27. Januar 2011 – 8 AZR 580/09 – Rn. 36; 3. April 2007 – 9 AZR 823/06 – Rn. 23, BAGE 122, 54).
40
bb) Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i iVm. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK geben jedoch nicht vor, dass die Schwerbehindertenvertretung bei Maßnahmen zu unterrichten und anzuhören ist, die behinderte Menschen betreffen.
41
(1) Nach Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG haben die Mitgliedstaaten angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, was nach Art. 5 Satz 2 der Richtlinie 2000/78/EG bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um Menschen mit Behinderung ua. die Ausübung eines Berufs zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten (BAG 21. April 2016 – 8 AZR 402/14 – Rn. 20, BAGE 155, 61). Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i der UN-BRK haben die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden. Nach der Legaldefinition in Art. 2 Unterabs. 4 der UN-BRK sind „angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Die Bestimmungen der UN-BRK sind Bestandteil der Unionsrechtsordnung (EuGH 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 ff.) und damit zugleich Bestandteil des – ggf. unionsrechtskonform auszulegenden – deutschen Rechts (BAG 21. April 2016 – 8 AZR 402/14 – Rn. 20, aaO; 4. November 2015 – 7 ABR 62/13 – Rn. 27, BAGE 153, 187; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 53, BAGE 147, 60). Der Umstand, dass die UN-BRK seit ihrem Inkrafttreten integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, führt darüber hinaus dazu, dass auch die Richtlinie 2000/78/EG ihrerseits nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen ist (EuGH 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 bis 32). In Deutschland haben die UN-BRK sowie das hierzu ergangene Fakultativprotokoll Gesetzeskraft (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl. II S. 1419; vgl. BVerfG 10. Oktober 2014 – 1 BvR 856/13 – Rn. 6).
42
(2) Die in § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelte Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung in Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, ist keine angemessene Vorkehrung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i iVm. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK.
43
(a) Der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ iSv. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK und von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ist weit zu verstehen und umfasst die Beseitigung der verschiedenen Barrieren, die die volle und wirksame, gleichberechtigte Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben behindern. Gemeint sind geeignete materielle oder organisatorische Maßnahmen, die der einzelne Arbeitgeber im Rahmen der Zumutbarkeit zu ergreifen hat, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten und dem behinderten Arbeitnehmer ua. die Ausübung eines Berufs zu ermöglichen (vgl. EuGH 11. September 2019 – C-397/18 – [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 64; 4. Juli 2013 – C-312/11 -; 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 49, 54, 55; BAG 21. April 2016 – 8 AZR 402/14 – Rn. 22, BAGE 155, 61; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 52, BAGE 147, 60). Es geht zB um eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen (EuGH 11. September 2019 – C-397/18 – [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 65).
44
(b) Danach ist das in § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelte Verfahren der Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung keine „angemessene Vorkehrung“ iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i iVm. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK. Durch die Beteiligungspflicht soll es zwar der Schwerbehindertenvertretung ermöglicht werden, nach § 178 Abs. 1 SGB IX tätig zu werden und den Arbeitgeber auf mögliche, ggf. nicht bedachte Auswirkungen von Entscheidungen hinzuweisen, die für die Belange eines schwerbehinderten Menschen oder schwerbehinderter Beschäftigter als Kollektiv erheblich sind (vgl. BAG 17. August 2010 – 9 ABR 83/09 – Rn. 16 f., BAGE 135, 207 zu § 95 SGB IX aF). Dies dient letztlich dem allgemeinen Ziel der Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Betrieb oder die Dienststelle, was im Übrigen nach § 176 Satz 1 SGB IX auch Aufgabe der jeweils bestehenden betrieblichen Interessenvertretung ist. Allerdings beschreibt § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX keine im konkreten Einzelfall geeignete, erforderliche und dem Arbeitgeber zumutbare materielle oder organisatorische Maßnahme in Bezug auf die Arbeitsumgebung, die Arbeitsorganisation oder die Aus- und Fortbildung, die dazu dient, den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten und dem behinderten Arbeitnehmer die Ausübung eines Berufs zu ermöglichen. Eine Pflicht, Arbeitsplätze in der genannten Art anzupassen, ist zB vorgesehen in § 164 Abs. 4 und Abs. 5 SGB IX. Im Gegensatz zu diesen Normen ist § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX eine reine Verfahrensregelung. Unter den in Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG und dessen 20. Erwägungsgrund genannten angemessenen Vorkehrungen finden sich keine Verfahrensregelungen. Dies spricht dagegen, derartige Regelungen als Vorkehrungen im Sinne der Richtlinie anzusehen (vgl. Wietfeld SAE 2017, 22, 24).
45
(c) Der Umstand, dass sich im Zuge der Unterrichtung und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX herausstellen kann, dass zugunsten des schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmers angemessene, den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastende Vorkehrungen iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG, Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK getroffen werden können, gebietet keine andere Beurteilung. Hierdurch wird das Beteiligungsverfahren nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX weder eine angemessene Vorkehrung iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG, Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK noch Teil einer solchen (vgl. zum Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX aF BAG 21. April 2016 – 8 AZR 402/14 – Rn. 25, BAGE 155, 61).
46
cc) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e der UN-BRK. Danach sind von den Vertragsstaaten geeignete Schritte vorzunehmen, um für Menschen mit Behinderungen Beschäftigungsmöglichkeiten und beruflichen Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt sowie die Unterstützung bei der Arbeitssuche, beim Erhalt und der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes und beim beruflichen Wiedereinstieg zu fördern. Auch dabei geht es um konkrete materielle oder organisatorische Maßnahmen, nicht aber um abstrakte Verfahrens- bzw. Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung.
47
dd) Ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst. Die vorliegend maßgeblichen unionsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt (vgl. EuGH 11. September 2019 – C-397/18 – [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 64; 4. Juli 2013 – C-312/11 -; 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 49, 54, 55).
48
f) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin gebietet auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur vorzeitigen Zurruhesetzung schwerbehinderter und gleichgestellter Beamter keine andere Auslegung.
49
Soweit das Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung vom 7. April 2011 (- 2 B 79.10 -) ausgeführt hat, aus seiner bisherigen Rechtsprechung und den einschlägigen Gesetzestexten lasse sich entnehmen, dass der Dienstherr, sobald ihn der Beamte über seinen Gleichstellungsantrag unterrichte, vorsorglich die Schwerbehindertenvertretung anzuhören habe, handelt es sich lediglich um ein die Entscheidung nicht tragendes obiter dictum. Im Übrigen ist die Versetzung eines Beamten in den Ruhestand mit der Umsetzung eines Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz nicht vergleichbar. Die Versetzung eines Beamten in den Ruhestand kann als Verwaltungsakt anfechtbar sein, wenn die gebotene vorherige Anhörung der Schwerbehindertenvertretung unterblieben ist (vgl. BVerwG 15. Februar 1990 – 1 WB 36.88 – BVerwGE 86, 244). Das ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei einer beamtenrechtlichen Umsetzung, die keinen Verwaltungsakt darstellt (BVerwG 22. Mai 1980 – 2 C 30.78 – BVerwGE 60, 144), gerade nicht der Fall (BVerwG 10. Juli 1985 – 2 B 75.84 – zu 1 der Gründe). Auch arbeitsrechtlich führt ein Verstoß gegen die in § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelte Verpflichtung, die Schwerbehindertenvertretung vor einer Umsetzung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmers zu unterrichten und anzuhören, nicht zur individualrechtlichen Unwirksamkeit dieser Maßnahme (vgl. BAG 28. Juni 2007 – 6 AZR 750/06 – Rn. 48, BAGE 123, 19 zu § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF).
50
III. Der mit der Abweisung der Anträge zu 1. und 1a. dem Senat zur Entscheidung anfallende Hilfsantrag zu 2. ist zulässig, aber unbegründet.
51
1. Der Antrag ist zulässig.
52
a) Der Antrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Er ist auf die Feststellung der Verpflichtung des Jobcenters gerichtet, die Antragstellerin bei der Umsetzung eines behinderten Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz zu unterrichten und zu dieser anzuhören, sofern der Arbeitnehmer einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt hat. Damit lässt der Antrag erkennen, für welche Angelegenheiten das Beteiligungsrecht festgestellt werden soll. Zwar fehlt es auch insoweit an einer näheren Bestimmung, wie die Unterrichtung und Anhörung im Einzelnen ausgestaltet sein soll. Das steht der Bestimmtheit des Feststellungsantrags aber nicht entgegen. Wenn bereits das Bestehen des Beteiligungsrechts als solches streitig ist und über dessen ggf. zu beachtende Ausgestaltung noch kein Streit besteht, kann dieses zum Gegenstand eines Feststellungsantrags gemacht werden, ohne dass die Modifikationen bereits im Einzelnen beschrieben werden müssten (BAG 19. Dezember 2018 – 7 ABR 80/16 – Rn. 17; 20. Juni 2018 – 7 ABR 39/16 – Rn. 20; 14. März 2012 – 7 ABR 67/10 – Rn. 16; 8. Juni 2004 – 1 ABR 13/03 – zu B I 2 a aa der Gründe mwN, BAGE 111, 36). Das ist hier der Fall. Über die einzelnen bei der Ausübung des Beteiligungsrechts zu beachtenden gesetzlichen Vorgaben besteht gegenwärtig kein Streit.
53
b) Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt. Der Feststellungsantrag muss nicht auf das Bestehen eines Rechtsverhältnisses insgesamt gerichtet sein. Er kann sich vielmehr auf die Feststellung einzelner Rechte oder Pflichten beschränken wie im vorliegenden Fall. Da das Jobcenter die Verpflichtungen bestreitet, hat die Schwerbehindertenvertretung ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung.
54
2. Der Antrag ist unbegründet. Das Jobcenter ist, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen unter II. ergibt, nicht nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung über die Umsetzung eines behinderten Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz zu unterrichten und zu dieser anzuhören, wenn der Arbeitnehmer einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt und dies dem Jobcenter mitgeteilt hat.
55
IV. Der erstmals im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag zu 3. ist wegen anderweitiger Rechtshängigkeit nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO unzulässig, da er identisch ist mit dem Hauptantrag. Der Hilfsantrag zu 3. unterscheidet sich im Wortlaut von dem Hauptantrag lediglich dadurch, dass dem Jobcenter untersagt werden soll, einem behinderten Arbeitnehmer in der streitigen Situation „Arbeit auf einem Arbeitsplatz zuzuweisen“, während dem Jobcenter mit dem Hauptantrag aufgegeben werden soll, es zu unterlassen, den behinderten Arbeitnehmer „auf einen anderen Arbeitsplatz umzusetzen“. Die Antragstellerin hat in ihrer Rechtsbeschwerdebegründung auf Seite 23 klargestellt, dass sich auch der Hilfsantrag zu 3. auf die Zuweisung von Arbeit im Rahmen einer Umsetzung bezieht. Damit enthält dieser Antrag kein über den Hauptantrag hinausgehendes oder hiervon abweichendes Begehren, da eine Umsetzung mit der Zuweisung von anderen Arbeitsaufgaben verbunden ist.
56
V. Auch der erstmals im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag zu 4. ist wegen anderweitiger Rechtshängigkeit nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO unzulässig. Dieser Antrag ist identisch mit dem Hilfsantrag zu 2. Zwar begehrt die Antragstellerin mit diesem Antrag nach dem Wortlaut die Feststellung der Beteiligungspflicht „vor Zuweisung von Arbeit auf einem vom bisherigen Arbeitsplatz abweichenden Arbeitsplatz“, während der bereits rechtshängige Hilfsantrag zu 2. die Feststellung der Beteiligungspflicht „hinsichtlich der Umsetzung eines behinderten Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz“ zum Gegenstand hat. Auch darin liegt aber kein abweichendes Begehren.
Gräfl
M. Rennpferdt
Waskow
R. Schiller
Strippelmann |
bag_40-18 | 23.08.2018 | 23.08.2018
40/18 - Offene Videoüberwachung - Verwertungsverbot
Die Speicherung von Bildsequenzen aus einer rechtmäßigen offenen Videoüberwachung, die vorsätzliche Handlungen eines Arbeitnehmers zulasten des Eigentums des Arbeitgebers zeigen, wird nicht durch bloßen Zeitablauf unverhältnismäßig, solange die Ahndung der Pflichtverletzung durch den Arbeitgeber arbeitsrechtlich möglich ist.
Die Klägerin war in einem vormals von dem Beklagten betriebenen Tabak- und Zeitschriftenhandel mit angeschlossener Lottoannahmestelle tätig. Dort hatte der Beklagte eine offene Videoüberwachung installiert. Mit den Aufzeichnungen wollte er sein Eigentum vor Straftaten sowohl von Kunden als auch von eigenen Arbeitnehmern schützen. Nach dem Vortrag des Beklagten wurde im 3. Quartal 2016 ein Fehlbestand bei Tabakwaren festgestellt. Bei einer im August 2016 vorgenommenen Auswertung der Videoaufzeichnungen habe sich gezeigt, dass die Klägerin an zwei Tagen im Februar 2016 vereinnahmte Gelder nicht in die Registrierkasse gelegt habe. Der Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos.
Die Vorinstanzen haben der dagegen gerichteten Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, die Erkenntnisse aus den Videoaufzeichnungen unterlägen einem Verwertungsverbot. Der Beklagte hätte die Bildsequenzen unverzüglich, jedenfalls deutlich vor dem 1. August 2016 löschen müssen.
Auf die Revision des Beklagten hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts das Berufungsurteil hinsichtlich des Kündigungsschutzantrags aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Sollte es sich – was der Senat nach den bisherigen Feststellungen nicht beurteilen kann – um eine rechtmäßige offene Videoüberwachung gehandelt haben, wäre die Verarbeitung und Nutzung der einschlägigen Bildsequenzen nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF* zulässig gewesen und hätte dementsprechend nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin verletzt. Der Beklagte musste das Bildmaterial nicht sofort auswerten. Er durfte hiermit solange warten, bis er dafür einen berechtigten Anlass sah. Sollte die Videoüberwachung rechtmäßig erfolgt sein, stünden auch die Vorschriften der seit dem 25. Mai 2018 geltenden Datenschutz-Grundverordnung einer gerichtlichen Verwertung der erhobenen personenbezogenen Daten der Klägerin im weiteren Verfahren nicht entgegen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 20. Dezember 2017 – 2 Sa 192/17 –
*§ 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG in der bis zum 25. Mai 2018 geltenden Fassung (aF) lautet:
Personenbezogene Daten eines Beschäftigten dürfen für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung erforderlich ist. | Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird – unter Verwerfung der Revision als unzulässig im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20. Dezember 2017 – 2 Sa 192/17 – aufgehoben, soweit es dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben und den widerklagend verfolgten Antrag abgewiesen hat, die Klägerin zu verurteilen, an den Beklagten 44,75 Euro nebst Zinsen als Ersatz von durch Unterschlagungen verursachten Schäden zu zahlen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Die Speicherung von Bildsequenzen aus einer zulässigen offenen Videoüberwachung, die vorsätzliche Handlungen eines Arbeitnehmers zulasten des Eigentums des Arbeitgebers zeigen, wird nicht durch bloßen Zeitablauf unverhältnismäßig, solange die Rechtsverfolgung durch den Arbeitgeber materiell-rechtlich möglich ist.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung sowie um Schadensersatzansprüche.
2
Die Klägerin war seit 2006 in einem vormals von dem Beklagten betriebenen Tabak- und Zeitschriftenhandel mit angeschlossener Lottoannahmestelle beschäftigt. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 13. August 2016 fristlos „wegen der begangenen Straftaten“.
3
Dagegen hat sich die Klägerin rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt. Sie habe kein Geld für sich vereinnahmt, sondern Warenverkäufe stets in die Registrierkasse eingebucht und das vom Kunden überreichte Geld jeweils in „die Kasse“ gelegt. Eine Verdachtskündigung scheide auch deshalb aus, weil sie zu den Vorwürfen nicht ordnungsgemäß angehört worden sei.
4
Die Klägerin hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 13. August 2016 aufgelöst worden ist.
5
Der Beklagte hat Klageabweisung sowie im Wege der Widerklage beantragt,
die Klägerin zu verurteilen, an ihn 475,31 Euro nebst Zinsen zu zahlen.
6
Die Kündigung sei als Tat-, jedenfalls aber als Verdachtskündigung gerechtfertigt. Bei einer stichprobenartigen Ermittlung der Warenaufschläge im dritten Quartal 2016 sei ein Schwund an Tabakprodukten festgestellt worden. Ab dem 1. August 2016 seien für zwei Arbeitstage der Klägerin die Aufzeichnungen der in der Filiale installierten Videokamera ausgewertet worden. Die Videoüberwachung sei offen erfolgt und habe dem Schutz seines Eigentums vor Straftaten sowohl durch Dritte als auch durch eigene Arbeitnehmer gedient. Bei der Auswertung habe sich gezeigt, dass die Klägerin am 3. Februar 2016 in drei Fällen Verkäufe von Tabakwaren nicht registriert und das vereinnahmte Geld nicht in die Registrier-, sondern in die Lottokasse gelegt habe. An diesem Tag sei sie um 13:05 Uhr mit der Lottokasse ins Büro gegangen und sofort wieder zurückgekommen, habe die Kasse jedoch in der anderen Hand gehalten. Am 4. Februar 2016 habe die Klägerin gegen 10:05 Uhr wiederum den Verkauf einer Schachtel Zigaretten nicht registriert und den vereinnahmten Betrag in die Lottokasse gelegt. Um 12:20 Uhr habe sie eine Tabakdose im Wert von 18,50 Euro verkauft, aber nur 1,00 Euro in die Sortimentkasse gelegt und den Restbetrag „für eigene Zwecke vereinnahmt“. Überdies habe sie es nach dem Verkauf einer Schachtel Zigaretten unterlassen, den Zahlungsbetrag in die Sortimentkasse einzugeben. Um 13:03 Uhr habe sie den Verkaufsraum für zwei Minuten mit der Lottokasse verlassen. Die Klägerin sei ordnungsgemäß angehört worden. Sie sei vor Übergabe des Kündigungsschreibens von zwei Mitarbeiterinnen zu den Vorgängen am 3. und 4. Februar 2016 befragt worden, habe aber lediglich erklärt, „nichts gemacht“ zu haben. Die Klägerin müsse die Kosten für die Auswertung der Videoaufzeichnungen iHv. 430,56 Euro und die durch die Unterschlagungen verursachten Schäden iHv. 44,75 Euro ersetzen.
7
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte seine Anträge weiter.
Entscheidungsgründe
8
Die Revision ist unzulässig, soweit der Beklagte von der Klägerin widerklagend die Erstattung der Kosten verlangt, die durch die Auswertung der Videoaufzeichnungen angefallen seien. Im Übrigen ist die Revision zulässig und begründet.
9
A. Die Revision ist in Bezug auf den Ersatz der für die Analyse des Bildmaterials aufgewendeten Kosten unzulässig. Es fehlt insofern an einer den Anforderungen aus § 551 Abs. 3 ZPO genügenden Revisionsbegründung. Das Landesarbeitsgericht hat die Abweisung dieses Widerklageantrags ua. darauf gestützt, vor der Auswertung der Videoaufzeichnungen habe kein auf Tatsachen beruhender konkreter Verdacht gegen die Klägerin bestanden. Mit dieser selbstständig tragenden Begründung setzt die Revision sich nicht auseinander (zu dieser Anforderung BAG 6. Juli 2016 – 4 AZR 966/13 – Rn. 16).
10
B. Hinsichtlich des Kündigungsschutz- und des Widerklageantrags im verbleibenden Umfang ist die Revision zulässig und begründet. Sie führt insoweit zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO).
11
I. Das Landesarbeitsgericht durfte mit der gegebenen Begründung weder dem Kündigungsschutzantrag stattgeben noch den widerklagend erhobenen Antrag auf Ersatz der vermeintlich durch Unterschlagungen verursachten Schäden abweisen.
12
1. Das Berufungsgericht hat gemeint, der Beklagte könne sich zur Rechtfertigung der Kündigung und des Schadensersatzverlangens nicht mit Erfolg auf die Auswertung der Videoaufnahmen vom 3. und 4. Februar 2016 berufen. Es könne unterstellt werden, dass eine offene Videoüberwachung „auch des Arbeitsplatzes der Klägerin“ nach § 6b Abs. 1 BDSG in der bis einschließlich zum 24. Mai 2018 geltenden Fassung (im Folgenden BDSG aF) rechtmäßig gewesen sei. Gleichwohl habe der Beklagte keinen zulässigen Beweis für die Richtigkeit „der von der Klägerin bestrittenen Behauptungen“ angetreten. Ein Beweisverwertungsverbot folge jedenfalls daraus, dass er „die Videoaufnahmen“ für die betreffenden Tage erst knapp sechs Monate später und damit zu einem Zeitpunkt ausgewertet habe, zu dem er sie gemäß § 6b Abs. 5 BDSG aF längst hätte gelöscht haben müssen. In dem monatelangen Unterbleiben der Löschung liege eine besonders schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin.
13
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landesarbeitsgericht hat die Grundsätze, die für das Eingreifen eines Verbots der Verwertung von Sachvortrag und Beweismitteln gelten, mehrfach falsch angewendet.
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a) Weder die Zivilprozessordnung noch das Arbeitsgerichtsgesetz enthalten Bestimmungen, die die Verwertbarkeit von Erkenntnissen oder Beweismitteln einschränken, die eine Arbeitsvertragspartei rechtswidrig erlangt hat. Ein Verwertungsverbot kann sich zwar aus einer verfassungskonformen Auslegung des Verfahrensrechts ergeben. Da der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich gebietet, den Sachvortrag der Parteien und die von ihnen angebotenen Beweise zu berücksichtigen, kommt ein „verfassungsrechtliches Verwertungsverbot“ (Ehmann Anm. AP BGB § 611 Persönlichkeitsrecht Nr. 40) jedoch nur in Betracht, wenn dies wegen einer grundrechtlich geschützten Position einer Prozesspartei zwingend geboten ist (ausführlich BAG 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 20 ff., BAGE 156, 370). Das setzt in aller Regel voraus, dass bereits durch die Informations- oder Beweisbeschaffung das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Partei verletzt worden ist, ohne dass dies durch überwiegende Belange der anderen Partei gerechtfertigt gewesen wäre. Überdies müssen die betroffenen Schutzzwecke des bei der Gewinnung verletzten Grundrechts der Verwertung der Erkenntnis oder des Beweismittels im Rechtsstreit entgegenstehen (vgl. BAG 15. August 2002 – 2 AZR 214/01 – zu II 3 b aa der Gründe, BAGE 102, 190; Musielak/Voit/Foerste ZPO 15. Aufl. § 286 Rn. 6). Die prozessuale Verwertung muss selbst einen Grundrechtsverstoß darstellen (Hk-ZPO/Saenger 7. Aufl. § 286 Rn. 20). Das ist der Fall, wenn das nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebundene Gericht ohne Rechtfertigung in eine verfassungsrechtlich geschützte Position einer Prozesspartei eingriffe, indem es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch einen Privaten perpetuierte oder vertiefte. Insofern kommt die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat zum Tragen. Auf eine nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts durch einen Privaten darf kein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch ein Staatsorgan „aufgesattelt“ werden (vgl. BVerfG 31. Juli 2001 – 1 BvR 304/01 – zu II 1 b bb der Gründe; BAG 23. April 2009 – 6 AZR 189/08 – Rn. 26, BAGE 130, 347). Nicht abschließend geklärt ist, ob die Gerichte jenseits der sie treffenden Pflicht, ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe zu unterlassen, wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten sein können, einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private aktiv zu begegnen und Sachvortrag oder Beweisantritte einer Partei aus Gründen der Generalprävention außer Acht zu lassen. Dafür wäre jedenfalls Voraussetzung, dass die verletzte Schutznorm in den betreffenden Fällen ohne ein prozessuales Verwertungsverbot leerliefe (Musielak/Voit/Foerste aaO; Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 43; zurückhaltend auch BGH 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 – Rn. 52).
15
b) Obwohl die Vorschriften des BDSG aF nicht die Zulässigkeit von Parteivorbringen und seine Verwertung im Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen begrenzen, und obgleich es für das Eingreifen eines Verwertungsverbots darauf ankommt, ob bei der Erkenntnis- oder Beweisgewinnung das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt worden ist, sind die einfachrechtlichen Vorgaben insofern nicht ohne Bedeutung. Die Bestimmungen des BDSG aF über die Anforderungen an eine zulässige Datenverarbeitung konkretisieren und aktualisieren für den Einzelnen den Schutz seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und am eigenen Bild (§ 1 Abs. 1 BDSG aF). Sie regeln, in welchem Umfang im Anwendungsbereich des Gesetzes Eingriffe durch öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen im Sinne des § 1 Abs. 2 BDSG aF in diese Rechtspositionen erlaubt sind. War die betreffende Maßnahme nach den Vorschriften des BDSG aF zulässig, liegt insoweit keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und am eigenen Bild vor (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 17, BAGE 159, 380; 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16 – Rn. 22, BAGE 159, 278). Ein Verwertungsverbot scheidet von vornherein aus. So liegt es namentlich, wenn die umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen und Grundrechtspositionen im Rahmen der Generalklauseln des § 32 Abs. 1 BDSG aF zugunsten des Arbeitgebers ausfällt. Nur dann, wenn die fragliche Maßnahme nach den Bestimmungen des BDSG aF nicht erlaubt war, muss gesondert geprüft werden, ob die Verwertung von im Zuge dieser Maßnahme gewonnenen Erkenntnissen oder Beweismitteln durch das Gericht einen Grundrechtsverstoß darstellen würde. Daran kann es zum einen fehlen, wenn die Unzulässigkeit der vom Arbeitgeber durchgeführten Maßnahme allein aus der (Grund-)Rechtswidrigkeit der Datenerhebung(en) gegenüber anderen Beschäftigten resultiert oder die verletzte einfachrechtliche Norm keinen eigenen „Grundrechtsgehalt“ hat (vgl. BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 32 f., BAGE 157, 69). Zum anderen kann es sein, dass die gerichtliche Verwertung weder einen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff darstellte noch aufgrund einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht zu unterlassen ist, weil durch sie die ungerechtfertigte „vorprozessuale“ Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer Prozesspartei nicht perpetuiert oder vertieft würde und der Verwertung auch Gründe der Generalprävention nicht entgegenstehen (näher Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 58 ff.).
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c) Der Senat unterscheidet zwischen Sachvortrags- und Beweisverwertungsverboten. Ein Sachvortragsverwertungsverbot spielt keine Rolle, wenn der Arbeitnehmer den betreffenden Vortrag des Arbeitgebers ausreichend bestreitet. Dann greift die Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO schon einfachrechtlich nicht ein. Sie muss nicht erst in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift „ausgeschaltet“ werden. Sieht der Arbeitnehmer hingegen von einem – ggf. wahrheitswidrigen – Bestreiten ab, bewirkt ein Sachvortragsverwertungsverbot, dass das inkriminierte Vorbringen des Arbeitgebers gleichwohl als bestritten zu behandeln ist. Damit wird der Streit auf die Beweisebene gehoben. Dort greift zulasten des Arbeitgebers ggf. ein korrespondierendes Beweisverwertungsverbot mit der Folge, dass er für seinen – als streitig anzusehenden – Vortrag beweisfällig bleibt. Insofern bedeutet ein Verbot der „Verwertung“, dass das Gericht den fraglichen Vortrag seiner Entscheidung weder als unstreitig (Sachvortragsverwertungsverbot) noch als aufgrund des inkriminierten Beweismittels bewiesen (Beweisverwertungsverbot) zugrunde legen darf (ausführlich Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 43 ff.).
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d) Das Gericht muss – nur – dann von Amts wegen prüfen, ob ein Verwertungsverbot eingreift, wenn entsprechende Anhaltspunkte dazu Anlass geben und die betreffende Partei nicht wirksam darauf verzichtet hat, die – etwaige – Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts geltend zu machen (BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 20, BAGE 157, 69; 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 25, BAGE 156, 370). Es trifft nicht zu, dass der Arbeitgeber Tatsachen lediglich unter Angabe der genauen Beschaffungsmodalitäten in den Rechtsstreit einbringen kann (so Dzida/Grau NZA 2010, 1201, 1205; Lunk NZA 2009, 457, 458). Vielmehr ist es der von einer möglicherweise grundrechtswidrigen Erkenntnis- oder Beweismittelgewinnung betroffene Arbeitnehmer, der relevante Umstände aufzeigen muss, wenn sich nicht schon aus dem Vorbringen des Arbeitgebers (einschließlich der Beweisantritte) oder sonst wie „Verwertbarkeitszweifel“ ergeben. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass ein Verwertungsverbot eingreifen könnte, gelten die allgemeinen Grundsätze einer Prüfung von Amts wegen. Es erfolgt keine Amtsermittlung. Vielmehr bleibt es beim Beibringungsgrundsatz. Das Gericht wird begründeten Zweifeln durch Hinweise und Auflagen an die Parteien nachgehen und ggf. Beweis zu den tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Verwertungsverbots erheben. So wird es regelmäßig Grund zu der Nachfrage haben, aus welchem Anlass und auf welche Weise eine Videoaufzeichnung zustande gekommen ist, deren Inaugenscheinnahme als (einziger) Beweis angeboten wird (ausführlich Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 63 ff.).
18
e) Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht geprüft, ob zugunsten der Klägerin ein Verwertungsverbot eingreift. Entsprechende Anhaltspunkte bot schon der Vortrag des Beklagten. Dieser hat sich zur Rechtfertigung der Kündigung und seines Schadensersatzverlangens auf die Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 gestützt. Die Klägerin hat auch nicht auf die Geltendmachung möglicher Persönlichkeitsrechtsverletzungen verzichtet, sondern sich, ohne dass dies erforderlich gewesen wäre, ausdrücklich auf ein „Beweisverwertungsverbot“ berufen.
19
f) Die vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen tragen allerdings nicht seine Annahme, es sei ausschließlich das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots zu beurteilen. Der angefochtenen Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, welche Behauptungen des Beklagten das Berufungsgericht mit der Folge als von der Klägerin ausreichend bestritten angesehen hat, dass nicht zunächst das Eingreifen eines Sachvortragsverwertungsverbots zu prüfen gewesen wäre.
20
g) Dessen ungeachtet hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerhaft angenommen, es bestehe irgendein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer – so seine Unterstellung – offenen, auch im Verhältnis zur Klägerin zulässigen Videoüberwachung, die vorsätzliche Verletzungen des Eigentums des Beklagten belegen (sollen). Es hat verkannt, dass § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF eine eigenständige Erlaubnisnorm für die Verarbeitung und Nutzung von Daten im Beschäftigungsverhältnis darstellt. Danach waren die Verarbeitung und die Nutzung der vom Beklagten in das Verfahren eingeführten Aufzeichnungsteile rechtmäßig und verletzten dementsprechend nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin. Jedenfalls stellte die gerichtliche Verwertung dieser Sequenzen keinen Grundrechtsverstoß dar. Ein Verwertungsverbot ist auch nicht deshalb anzunehmen, weil sich die vom Beklagten als relevant angesehenen Aufzeichnungsteile in einer Beweisaufnahme als „irrelevant“ herausstellen könnten.
21
aa) Die Verarbeitung und Nutzung der – unterstellt rechtmäßig aufgezeichneten – relevanten Bildsequenzen war zulässig. Es kann dahinstehen, ob das Landesarbeitsgericht § 6b Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 BDSG aF zutreffend angewendet hat. Jedenfalls waren die Speicherung der betreffenden Passagen bis zum 1. August 2016 sowie deren anschließende Auswertung nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF erlaubt.
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(1) Sofern zulässig erhobene Daten den Verdacht einer Pflichtverletzung begründen, dürfen sie für die Zwecke und unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF auch verarbeitet und genutzt werden. Der Arbeitgeber darf deshalb grundsätzlich alle Daten speichern und verwenden, die er benötigt, um die ihm obliegende Darlegungs- und Beweislast in einem potenziellen Rechtsstreit um die Wirksamkeit einer Kündigung und/oder das Bestehen von Schadensersatzansprüchen zu erfüllen (vgl. BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 28, BAGE 159, 380; 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16 – Rn. 26, BAGE 159, 278).
23
(2) Dabei spielt es keine Rolle, ob die rechtmäßige Erhebung der Daten (nur) auf § 32 Abs. 1 BDSG aF oder (zugleich) auf § 6b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BDSG aF beruhte. § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF stellt für die Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten eines Beschäftigten, die der Arbeitgeber durch eine Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume erlangt hat, eine eigenständige, von den Voraussetzungen des § 6b Abs. 3 BDSG aF unabhängige Erlaubnisnorm dar. Ist danach eine bestimmte Datenverarbeitung oder -nutzung rechtmäßig, kommt es im Verhältnis zu den betroffenen Arbeitnehmern nicht darauf an, ob die Anforderungen gemäß § 6b Abs. 3 BDSG aF erfüllt sind. Die für die Überwachung im öffentlichen Raum geltende Bestimmung schließt eine eigenständige Rechtfertigung der Datenverarbeitung nach § 32 BDSG aF nicht aus. Diese Vorschrift dient speziell dem Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz (BT-Drs. 16/13657 S. 20 f.). Dagegen soll § 6b BDSG aF – unabhängig von den aufgrund der engeren schuldrechtlichen Bindungen im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses bestehenden Interessen – den Schutz der Allgemeinheit vor einem Ausufern der Videoüberwachung im öffentlichen Raum gewährleisten (zum Ziel einer restriktiveren Verwendungspraxis Bericht und Beschluss-empfehlung des Innenausschusses, BT-Drs. 14/5793 S. 61). Für die Eigenständigkeit der Erlaubnistatbestände des § 32 BDSG aF spricht auch, dass die Videoüberwachung nicht öffentlich zugänglicher (Arbeits-)Räume im BDSG aF nicht gesondert geregelt ist. Ihre Zulässigkeit richtet sich daher, soweit Arbeitnehmer betroffen sind, unzweifelhaft allein nach § 32 BDSG aF. Es erschiene aber wenig plausibel, wenn bezogen auf den Beschäftigtendatenschutz von Arbeitnehmern, die in öffentlich zugänglichen Räumen arbeiten, andere Maßstäbe gelten sollten als für Arbeitnehmer, die dies nicht tun (so bereits BAG 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 43, BAGE 156, 370).
24
(3) Die Verarbeitung und Nutzung von rechtmäßig erhobenen personenbezogenen Daten nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF muss „erforderlich“ sein. Es hat eine „volle“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen (vgl. BAG 17. November 2016 – 2 AZR 730/15 – Rn. 30). Die Verarbeitung und die Nutzung der personenbezogenen Daten müssen geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht. Die Datenverarbeitung und -nutzung darf keine übermäßige Belastung für die Betroffenen darstellen und muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 30, BAGE 159, 380). Dies beurteilt sich ggf. für jedes personenbezogene Datum gesondert.
25
(4) Der vom Senat bei der Anwendung von § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF herangezogene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt dem durch die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr sowie Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (dazu EuGH 11. Dezember 2014 – C-212/13 – [Ryneš] Rn. 28) und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (dazu EuGH 9. November 2010 – C-92/09 und C-93/09 – [Volker und Markus Schecke] Rn. 52; BAG 19. Februar 2015 – 8 AZR 1007/13 – Rn. 20 f.) garantierten Schutzniveau für die von einer Datenerhebung Betroffenen (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 32, BAGE 159, 380; EGMR 5. Oktober 2010 – 420/07 – [Köpke/Deutschland]).
26
(5) Das Landesarbeitsgericht hat die Verhältnismäßigkeit der Speicherung undifferenziert für das gesamte am 3. und 4. Februar 2016 aufgezeichnete Bildmaterial („die Videoaufnahmen“) geprüft. Es hat verkannt, dass vorliegend ausschließlich die Verarbeitung der relevanten Sequenzen zu beurteilen ist und nicht diejenige der Passagen, die nicht in den Rechtsstreit eingeführt werden sollen.
27
(a) Die Speicherung von Bildsequenzen, die geeignet sind, den mit einer rechtmäßigen Videoaufzeichnung verfolgten Zweck zu fördern, bleibt, weil es sich oft um die einzigen, regelmäßig aber um die „zuverlässigsten“ Erkenntnis- und Beweismittel handelt, grundsätzlich erforderlich, bis der Zweck entweder erreicht oder aufgegeben oder nicht mehr erreichbar ist. Die Eignung beurteilt sich objektiv. Sie besteht oder besteht nicht – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber sie erkannt hat. Eine etwaige Pflicht, das gesamte Bildmaterial zeitnah zu sichten, diente allein dazu, die – eindeutig – nicht zweckrelevanten Passagen zu identifizieren und zu löschen. Ihre Missachtung ließe den Bedarf an den zweckrelevanten Passagen nicht entfallen. Diese dürften auch nach einer „Bedarfsklärung“ – zumindest vorerst – gespeichert bleiben (zu § 6b BDSG aF vgl. BT-Drs. 14/5793 S. 63).
28
(b) Das Landesarbeitsgericht hat keine Tatsachen festgestellt, die den Schluss zuließen, dem Beklagten sei es mit der Speicherung der Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 nicht – mehr – darum gegangen, seine Rechte gegenüber der Klägerin aufgrund möglicher Eigentumsverletzungen durchzusetzen. Es hat im Gegenteil selbst gemeint, er habe das Bildmaterial zu eben diesem Zweck bis in den August 2016 vorgehalten. Der Zweck war auch nach wie vor erreichbar. Etwaige Kündigungsrechte waren noch nicht verwirkt und mögliche Schadensersatzansprüche weder verjährt noch – soweit ersichtlich – verfallen. Damit blieb die Speicherung der relevanten Sequenzen erforderlich.
29
(c) Eine noch erforderliche Speicherung von Aufzeichnungsteilen, die vorsätzliche Handlungen gegen das Eigentum des Arbeitgebers belegen (sollen), ist nur ganz ausnahmsweise unangemessen (nicht verhältnismäßig im engeren Sinne).
30
(aa) Der rechtmäßig gefilmte Vorsatztäter ist in Bezug auf die Aufdeckung und Verfolgung seiner materiell-rechtlich noch verfolgbaren Tat nicht schutzwürdig. Er wird dies auch nicht durch bloßen Zeitablauf. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich vor dem Eintritt von Verfall, Verjährung oder Verwirkung der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen (vgl. BGH 24. November 1981 – VI ZR 164/79 – zu II 1 b der Gründe). Zugleich verliert das in Bezug auf vorsätzliche Schädigungshandlungen beträchtliche, durch Art. 12 und Art. 14 GG geschützte Verarbeitungs- und Nutzungsinteresse des Arbeitgebers nicht an Gewicht, solange die Rechtsverfolgung materiell-rechtlich nicht ausgeschlossen ist. Überdies ist zu beachten, dass gedeihliche Arbeitsvertragsbeziehungen von beiderseitigem Vertrauen getragen sein müssen (EGMR [Große Kammer] 5. September 2017 – 61496/08 – [Bărbulescu/Rumänien] Rn. 121 aE). Dem widerspräche es, wenn der Arbeitgeber gezwungen wäre, die Aufzeichnungen aus einer offenen, vorrangig zu präventiven (Verhinderung von Pflichtverletzungen) und nur bei Verfehlung dieses Primärziels zu repressiven Zwecken (Aufklärung und Verfolgung von Pflichtverletzungen) eingesetzten Videoüberwachung laufend vollumfänglich einzusehen, um relevante Sequenzen weiterverarbeiten zu dürfen. Das hielte ihn zu ständigem Misstrauen an. Zugleich würde durch einen faktischen Zwang zu zeitnaher Aufdeckung und „Sanktionierung“ von Pflichtverletzungen der Arbeitnehmerschutz durch die Vorgaben des Datenschutzrechts in sein Gegenteil verkehrt. Die Speicherung – nach wie vor – erforderlicher Sequenzen kann deshalb nur unangemessen sein, wenn das Verhalten des Arbeitgebers objektiv den Schluss zulässt, er wolle diese Passagen nicht allein zur Rechtsverfolgung verwenden. Es muss die greifbare Gefahr eines Missbrauchs personenbezogener Daten bestehen.
31
(bb) So kann es zwar – was hier einzig in Betracht kommt – auch liegen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, der Arbeitgeber wolle sich mögliche Kündigungsgründe oder zum Schadensersatz verpflichtende Sachverhalte „aufsparen“, um dadurch den Arbeitnehmer unter Druck zu setzen (zu § 626 Abs. 2 BGB BAG 25. Februar 1983 – 2 AZR 298/81 – zu II 2 b der Gründe). Doch hat das Landesarbeitsgericht keine Tatsachen festgestellt, die eine solche Absicht des Beklagten belegen könnten. Hierfür genügt es nicht, dass er mit der Auswertung der Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 gewartet hat, bis er dazu nach einer stichprobenartigen Überprüfung der Warenaufschläge im dritten Quartal 2016 einen Anlass sah. Das gilt umso mehr, als er nach der Feststellung eines Schwunds an Tabakprodukten „ohne Umschweife“ mit der Analyse des Bildmaterials begonnen und anschließend unverzüglich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin betrieben hat.
32
(cc) Solange sich die Speicherung der relevanten Sequenzen im Verhältnis zu dem betreffenden Arbeitnehmer nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF als gerechtfertigt darstellt, müssen grundsätzlich auch miterfasste Dritte (zB Kunden) die weitere Verarbeitung und mögliche Nutzung dieses Videomaterials dulden. Anders könnte es nur liegen, wenn auf diese bezogen von einer greifbaren Missbrauchsgefahr auszugehen wäre. Dafür ist vorliegend gleichfalls nichts ersichtlich. Deshalb bedarf keiner Entscheidung, ob miterfasste Personen ggf. die Löschung der betreffenden Aufzeichnungsteile oder ob sie lediglich verlangen könnten, dass sie darin – etwa durch „Verpixelung“ – unkenntlich gemacht werden.
33
(d) Für den vorliegenden Rechtsstreit ist ebenso ohne Belang, ob die Verarbeitung und Nutzung der nicht relevanten Videosequenzen den Vorgaben des BDSG aF entsprach. Deren Verwertung steht hier nicht in Rede. Allerdings kann der Arbeitgeber – wie der Streitfall illustriert – mit Blick auf mögliche „heimliche“ Verletzungen seines Eigentums durch eigene Beschäftigte nicht darauf verwiesen werden, die gesamten Aufzeichnungen nach kurzer Zeit unbesehen überschreiben zu lassen. Würden die Speicherintervalle so kurz bemessen, dass die Aufzeichnungen bei Bekanntwerden von Vorfällen üblicherweise schon gelöscht sind, wäre die Maßnahme insoweit praktisch wirkungslos und damit jedenfalls unverhältnismäßig. Dementsprechend könnten wochen- oder sogar monatelange Speicherintervalle nicht zu beanstanden sein, wenn Straftaten oder erhebliche Pflichtverletzungen erst bei aufwendigen Überprüfungen oder Abrechnungsmaßnahmen entdeckt werden können (vgl. Grages/Plath CR 2017, 791, 796 mwN). Insofern besteht ein erheblicher Unterschied zu Videoüberwachungen, die – allein – darauf abzielen, als solche bereits festgestellte Taten Dritter (zB Diebstähle, Raubüberfälle oder Sachbeschädigungen) „lediglich“ aufzuklären und zu verfolgen (dazu Scholz in Simitis BDSG 8. Aufl. § 6b Rn. 144). Da eine zeitnahe, unbesehene Löschung des Bildmaterials nicht in Betracht kommt, stellt sich die Frage, wodurch stärker in die Persönlichkeitsrechte der Gefilmten (Beschäftigte und Kunden) eingegriffen wird: durch eine vollumfängliche Auswertung der Videoaufzeichnungen ohne konkreten Anlass mit anschließender Löschung der irrelevanten Sequenzen oder durch eine rein anlassbezogene Auswertung „ausgewählter“ Passagen bei längerer Speicherung des gesamten Bildmaterials? Das Erfordernis einer unverzüglichen anlasslosen Bedarfsklärung, die ihrerseits einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers darstellte, weil die Aufzeichnungen eingesehen würden, dürfte sich nur rechtfertigen lassen, wenn der erheblichen Gefahr einer Zweckentfremdung der gespeicherten Daten begegnet werden muss. Diese Gefahr könnte bei der Videoaufzeichnung des Kassenbereichs in einem privaten Ladenlokal – je nach ihrer Ausgestaltung – als geringer einzustufen sein als bei einer Überwachung öffentlich zugänglicher Räume durch öffentliche Stellen (zu § 6b BDSG aF vgl. BT-Drs. 14/5793 S. 62). Jedenfalls unzulässig dürfte es sein, das gesamte Bildmaterial zunächst über einen längeren Zeitraum vorzuhalten, um es sodann ohne konkreten Anlass in Augenschein zu nehmen. Unter diesen Umständen dürfte sich die – unvermeidliche – Einsichtnahme (auch) in die irrelevanten Aufzeichnungsteile als unverhältnismäßig darstellen. So ist der Beklagte im Streitfall indes nicht vorgegangen.
34
(6) Durften nach alledem zumindest die relevanten Aufzeichnungsteile bis in das dritte Quartal 2016 gespeichert bleiben, stellte sich ihre anlassbezogene Auswertung ab dem 1. August 2016 und ihre weitere Verwendung (Nutzung) als unproblematisch rechtmäßig dar.
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bb) Das Landesarbeitsgericht hat des Weiteren verkannt, dass selbst dann, wenn die Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 schon vor ihrer Auswertung im August 2016 zu löschen gewesen wären, durch die Verwertung der relevanten Bildsequenzen im vorliegenden Rechtsstreit eine mögliche Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin nicht perpetuiert oder vertieft würde und auch Gründe der Generalprävention es nicht gebieten, von der Verwertung abzusehen. Das Interesse des Arbeitnehmers oder eines mitgefilmten Dritten daran, dass zur Verfolgung von vorsätzlich schädigendem Verhalten erforderliches Bildmaterial nicht länger gespeichert bleibt, kann – wie gezeigt – nur dadurch überwiegen, dass der in der Verdinglichung (BVerfG 31. Juli 2001 – 1 BvR 304/01 – zu II 1 b aa der Gründe) liegenden Gefahr einer Verbreitung der Aufzeichnungen zu anderen, die Aufzeichnung nicht rechtfertigenden Zwecken begegnet werden muss. Das Verbot der weiteren Speicherung und eine etwaige Löschpflicht dienen unter diesen Umständen einzig dazu, einem Missbrauch personenbezogener Daten vorzubeugen. Es soll nicht die Zweckerreichung verhindert, sondern allein eine Zweckentfremdung vereitelt werden. Dieses Gefahrenpotenzial ist nicht im Zivilprozess einzugrenzen oder (zusätzlich) zu sanktionieren (vgl. BGH 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 – Rn. 52). Es verwirklicht sich nicht, soweit die Sequenzen dazu verwendet werden, den „Tatbeweis“ in einem Rechtsstreit zu führen, ihre Inaugenscheinnahme also lediglich der Durchsetzung rechtlich geschützter Belange des Arbeitgebers dienen soll (vgl. EGMR 27. Mai 2014 – 10764/09 – [De la Flor Cabrera/Spanien]). Damit stellt die Verwertung keinen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff durch das Gericht dar. Aspekte der Generalprävention bedingen zumindest im Fall einer offenen Überwachung kein anderes Ergebnis. Einem rechtsstaatswidrigen planmäßigen Unterlaufen der Löschpflicht steht insofern entgegen, dass die Betroffenen ihre Löschansprüche geltend machen und sie ggf. gerichtlich durchsetzen können. Zudem können Verstöße gegen die datenschutzrechtlichen Bestimmungen gemäß § 43 Abs. 2 BDSG aF mit Geldbußen geahndet werden und sind vorsätzliche Handlungen gegen Entgelt oder in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht nach § 44 Abs. 1 BDSG aF mit Freiheitsstrafe bedroht (für den Einsatz sog. Dashcams im Straßenverkehr vgl. BGH 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 – Rn. 53). Jedenfalls dann, wenn es tatsächlich zu einer Zweckentfremdung von personenbezogenen Daten kommt, können den Betroffenen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche sowie, soweit es sich um Arbeitnehmer der verantwortlichen Stelle handelt, außerordentliche Kündigungsrechte zustehen (vgl. Kempter/Steinat NZA 2017, 1505, 1511). Damit sieht das nationale Recht ausreichende und angemessene Vorkehrungen gegen Missbrauch vor (vgl. EGMR [Große Kammer] 5. September 2017 – 61496/08 – [Bărbulescu/Rumänien] Rn. 120, 121).
36
cc) Ein Verbot, die fraglichen Videosequenzen in Augenschein zu nehmen, folgt schließlich nicht daraus, dass sie möglicherweise gar kein Verhalten der Klägerin zeigen, das eine vorsätzliche Verletzung des Eigentums des Beklagten darstellt oder doch auf eine solche hindeutet. Da Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich gebietet, einem erheblichen Beweisantritt nachzugehen, darf eine Beweiserhebung nicht auf die bloße Möglichkeit ihrer Grundrechtswidrigkeit hin unterbleiben (Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 61; für ein einfachrechtliches Verwertungsverbot vgl. BGH 10. Dezember 2002 – VI ZR 378/01 – zu II 2 b aa der Gründe, BGHZ 153, 165). Auch insofern bestehen ausreichende andere Schutzmechanismen. Ergibt die Inaugenscheinnahme „rein gar nichts“ im Sinne des Arbeitgebers, verliert er nicht nur den Prozess. Vielmehr kann darin, dass er – eindeutig – irrelevante Sequenzen weiterverarbeitet und auch noch entsprechenden Beweis im Rechtsstreit angetreten hat und erheben ließ, eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen, für die der Arbeitgeber gemäß § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG eine Geldentschädigung schuldet (zu einem solchen Anspruch BAG 15. September 2016 – 8 AZR 351/15 – Rn. 35; 19. Februar 2015 – 8 AZR 1007/13 – Rn. 14 f.).
37
II. Die angefochtene Entscheidung stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Die vom Beklagten behaupteten Unterschlagungen durch die Klägerin wären im Falle ihrer Erweislichkeit sowohl geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses iSv. § 626 BGB zu bilden, als auch einen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB zu begründen. Überdies könnte die Kündigung als Verdachtskündigung wirksam sein.
38
III. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende Hinweise veranlasst:
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1. Das Landesarbeitsgericht wird dem Beklagten aufzugeben haben, eindeutig zu erklären, welche Handlungen der Klägerin am 4. Februar 2016 aufgezeichnet worden seien. Es ist unklar, ob sie das für den Verkauf einer Tabakdose vereinnahmte Geld – in voller Höhe – registriert hat, und ob der Beklagte behaupten will, sie habe 17,50 Euro „unter laufender Kamera“ eingesteckt. Zudem lässt sich seinem Vorbringen nicht eindeutig entnehmen, ob er der Klägerin auch vorwirft, das für den zweiten Verkauf einer Schachtel Zigaretten vereinnahmte – anschließend in eine und ggf. welche Kasse gelegte? – Geld unterschlagen zu haben.
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2. Sodann wird die Klägerin eindeutig erklären müssen, welche von dem Beklagten behaupteten Verhaltensweisen sie (wie?) bestreitet. So ist fraglich, ob sie nicht nur alle Warenverkäufe korrekt registriert, sondern die vereinnahmten Gelder auch stets – vollständig – in die Registrierkasse (nicht: in die Lottokasse) gelegt haben will. Jedenfalls scheint die Klägerin die Behauptungen des Beklagten nicht in Abrede stellen zu wollen, sie sei an beiden fraglichen Tagen jeweils einmal – am 3. Februar 2016 „für Sekunden“, am 4. Februar 2016 für zwei Minuten – mit der Lottokasse aus dem Verkaufsraum in das nicht überwachte Büro gegangen.
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3. Sollte die Klägerin behaupten, Warenverkäufe immer ordnungsgemäß registriert und die vereinnahmten Gelder stets vollständig in die Registrierkasse gelegt zu haben, könnte der Hinweis veranlasst sein, dass sie sich zu ihrer Entlastung mit der Inaugenscheinnahme der betreffenden Videosequenzen einverstanden erklären kann. Diese Möglichkeit drängte sich umso mehr auf, wenn die Klägerin auch bestreiten sollte, sich an den fraglichen Tagen mit der Lottokasse in das Büro zurückgezogen zu haben.
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4. Falls die Klägerin nicht in die Verwertung der (vermeintlich) relevanten Sequenzen einwilligen sollte, wird das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage des klargestellten und ggf. ergänzten Vorbringens beider Parteien prüfen müssen, ob ein Sachvortrags- und/oder Beweisverwertungsverbot eingreift, das sich ggf. auf die mittelbare Verwertung der Videoaufzeichnungen durch die Vernehmung von Zeugen über den Inhalt des Bildmaterials erstreckte (vgl. BVerfG 31. Juli 2001 – 1 BvR 304/01 – zu II 1 b bb der Gründe; BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 19, BAGE 157, 69; 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 24, BAGE 156, 370).
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a) Nach dem – soweit ersichtlich unstreitigen – Vortrag des Beklagten ist die Überwachung des Kassenbereichs offen erfolgt, um sowohl Straftaten Dritter als auch solche von eigenen Arbeitnehmern zu verhindern oder doch aufdecken und verfolgen zu können. Danach dürfte ein Verwertungsverbot schon deshalb ausscheiden, weil auch die Datenerhebung mit den Bestimmungen des BDSG aF im Einklang stand. Die Videoaufzeichnung dürfte im Hinblick auf Straftaten durch Dritte (zB Diebstahl, Raub) nach § 6b Abs. 1 Nr. 3 BDSG aF und in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverletzungen durch eigene Beschäftigte – daneben – gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF zulässig gewesen sein. Bei der offenen, sich gegen alle Arbeitnehmer gleichermaßen richtenden Aufzeichnung des „Kassierverhaltens“ handelt es sich um eine zum Schutz des Eigentums des Arbeitgebers grundsätzlich erlaubte Maßnahme (vgl. EGMR 28. November 2017 – 70838/13 – [Antović und Mirković/Montenegro] Rn. 59), die sich schon aufgrund des Vorliegens einer abstrakten Gefahr als verhältnismäßig erweisen kann (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 31, BAGE 159, 380). Da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die vom Beklagten vorgenommenen Videoaufzeichnungen bei den betroffenen Arbeitnehmern zu einem ständigen Überwachungs- und daran anknüpfenden Anpassungs- und Leistungsdruck führen konnten (vgl. BAG 25. April 2017 – 1 ABR 46/15 – Rn. 30, BAGE 159, 49), sieht der Senat von Hinweisen dazu ab, ob in einem solchen Fall nach den berührten Schutzzwecken des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Bildsequenzen eingreifen kann, die vorsätzliche Handlungen zulasten des Arbeitgebers belegen (zweifelnd Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 60 f.).
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b) Eine Unverhältnismäßigkeit der Datenerhebung iSv. § 32 Abs. 1 BDSG aF und ein Verwertungsverbot dürften nur in Betracht kommen, wenn die Videoüberwachung der Klägerin nicht bekannt und für sie auch nicht erkennbar war. Dass der Kassenbereich gefilmt wurde, dürfte sie unstreitig gewusst haben. In diesem Fall käme es nicht darauf an, ob ihr ausdrücklich eröffnet worden war, dass die Überwachung sich ua. gegen sie richtete und offenbar ihr genaues „Kassierverhalten“, insb. die Eingabe bestimmter Beträge in die Registrierkasse aufgezeichnet wurde. Selbst wenn dies nicht geschehen sein sollte, wäre die Erhebung ihrer diesbezüglichen personenbezogenen Daten nicht allein deshalb unverhältnismäßig gewesen. Zwar stellt eine „berechtigte Privatheitserwartung“ des Betroffenen einen beachtlichen Faktor im Rahmen der Interessenabwägung dar (EGMR 9. Januar 2018 – 1874/13, 8567/13 – [López Ribalda ua./Spanien] Rn. 57; [Große Kammer] 5. September 2017 – 61496/08 – [Bărbulescu/Rumänien] Rn. 119 – 122; vgl. auch Erwägungsgrund 47 zur Verordnung [EU] 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG [Datenschutz-Grundverordnung; DS-GVO]: „vernünftige Erwartungen“). Doch konnte von einer solchen keine Rede sein, wenn die Klägerin angesichts ihres Wissens um die Überwachung des Kassenbereichs zumindest damit rechnen musste, dass mithilfe der Videoaufzeichnungen auch vorsätzliche Handlungen von Beschäftigten zulasten des Eigentums des Beklagten verhindert sowie ggf. aufgedeckt und verfolgt werden konnten und sollten (vgl. Erwägungsgrund 47 DS-GVO). Die Klägerin wäre dann nicht heimlich „ausgespäht“ worden (zum Ausspähungsschutz als Komponente des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechts PWW/Prütting BGB 13. Aufl. § 12 Rn. 49). Anders hätte es allenfalls gelegen, wenn der Beklagte – wofür nichts ersichtlich ist – sie in Bezug auf die Erfassung ihres „Kassierverhaltens“ „in Sicherheit gewiegt“ hätte.
45
c) Der danach wahrscheinlichen Verwertung der relevanten Videosequenzen durch das Landesarbeitsgericht im fortgesetzten Berufungsverfahren und dem diesbezüglichen „Vorhalten“ des Bildmaterials durch den Beklagten stehen weder die DS-GVO noch das durch das Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die DS-GVO und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU) vom 30. Juni 2017 geänderte BDSG (nF) entgegen.
46
aa) Nach Art. 88 DS-GVO iVm. § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG nF (der eigenständig neben § 4 Abs. 3 BDSG nF gilt) darf der Beklagte die relevanten Sequenzen weiterhin zur Durchführung des Verfahrens „aufbewahren“; er muss diese Passagen nach wie vor nicht löschen. Das Gleiche folgt aus Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DS-GVO.
47
bb) Es kann dahinstehen, ob (1.) die Zulässigkeit von Sachvortrag und Beweisantritten sowie von deren Verwertung durch die Gerichte für Arbeitssachen in den Anwendungsbereich der DS-GVO fällt (vgl. deren Art. 2, 9 Abs. 2 Buchst. f, Art. 55 Abs. 3 und Erwägungsgrund 20), ob ggf. (2.) die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, dass sie sich auch nach Inkrafttreten des BDSG nF allein nach dem Arbeitsgerichtsgesetz und der Zivilprozessordnung beantwortet, von der Öffnungsklausel in Art. 88 DS-GVO umfasst ist, ob und ggf. inwieweit (3.) im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine automatisierte oder dateimäßige Verarbeitung iSv. Art. 2 Abs. 1 DS-GVO erfolgt, und ob (4.) ein Verstoß gegen die Vorgaben der DS-GVO Anlass geben kann, das Eingreifen eines „sekundärrechtlichen Verwertungsverbots“ und die Möglichkeit seiner „Realisierung“ durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Prozessrechts zu prüfen (dazu Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 66 f.). Jedenfalls stellten sowohl die „Aufrechterhaltung“ seines Sachvortrags und seiner Beweisantritte durch den Beklagten (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DS-GVO) als auch deren Verwertung durch das Berufungsgericht (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 DS-GVO iVm. § 3 BDSG nF) verhältnismäßige und damit rechtmäßige Datenverarbeitungen nach der DS-GVO und dem BDSG nF dar.
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5. Falls das Landesarbeitsgericht „lediglich“ von dem dringenden Verdacht vorsätzlicher Verletzungen des Eigentums des Beklagten durch die Klägerin ausgehen sollte, käme es darauf an, ob diese vor Zugang der Kündigung ordnungsgemäß zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen angehört worden ist. Für die Ordnungsgemäßheit der Anhörung vor Ausspruch einer Verdachtskündigung ist entscheidend, ob der Arbeitnehmer in einlassungsfähiger Weise mit den ihm vorgeworfenen Verhaltensweisen konfrontiert wird und ausreichende Gelegenheit erhält, dazu Stellung zu nehmen. Hierfür müssen ihm nicht zwingend die Videosequenzen vorgespielt werden, die den gegen ihn gerichteten Verdacht begründen sollen. Auch spielt es keine Rolle, wenn der Arbeitgeber, ohne dass dies für den Arbeitnehmer erkennbar wäre, entschlossen ist, das Arbeitsverhältnis „in jedem Fall“, also unabhängig von der Einlassung des Arbeitnehmers im Rahmen der noch vorzunehmenden Anhörung zu kündigen. An einer ordnungsgemäßen Anhörung fehlt es allerdings, wenn dem Arbeitnehmer der – ob zutreffende oder unzutreffende – Eindruck vermittelt wird, er vermöge die Kündigung durch etwaige Erklärungen ohnehin nicht mehr abzuwenden. So könnte es hier liegen, wenn der Klägerin vor ihrer „Anhörung“ das vorbereitete Kündigungsschreiben gezeigt und ihr dessen Übergabe als sicher in Aussicht gestellt worden sein sollte.
49
6. Der Senat geht davon aus, dass die Kündigung – schon mangels einschlägiger Abmahnung – nicht auf den bloßen Vorwurf gestützt sein soll, die Klägerin habe Warenverkäufe nicht korrekt registriert und/oder vereinnahmtes Geld in die falsche Kasse gelegt (ohne Gelder für sich zu verwenden). Deshalb sieht er von Hinweisen dazu ab, ob die Videoüberwachung auch zur Vermeidung, Aufdeckung und Verfolgung fahrlässiger Pflichtverletzungen zulässig war und ob sich die Verarbeitung und Nutzung der für diesen Zweck relevanten Videosequenzen durch reinen Zeitablauf – über die Vorgaben des materiellen Rechts hinaus – als unangemessen darstellen und ggf. der Verstoß gegen eine daraus resultierende Löschpflicht ein Verwertungsverbot nach sich ziehen kann.
50
7. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, eine Umdeutung nach § 140 BGB der außerordentlichen in eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung scheide aus, weil eine solche sozial nicht gerechtfertigt wäre (§ 1 Abs. 2 KSchG), lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Das Kündigungsschutzgesetz findet Anwendung. Die Klägerin war länger als sechs Monate bei dem Beklagten tätig (§ 1 Abs. 1 KSchG). Dieser beschäftigte regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 KSchG). Er hat schon nicht behauptet, die Entscheidung, die Filiale in I zu schließen, sei bereits bei Zugang der Kündigung getroffen gewesen.
Koch
Rachor
Niemann
Söller
Torsten Falke |
bag_40-19 | 20.11.2019 | 20.11.2019
40/19 - Freizeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos - Freistellung in gerichtlichem Vergleich
Eine Freistellung in einem gerichtlichen Vergleich erfüllt den Anspruch des Arbeitnehmers auf Freitzeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos nur dann, wenn in dem Vergleich hinreichend deutlich zum Ausdruck kommt, dass mit der Freistellung auch ein Positivsaldo auf dem Arbeitszeitkonto ausgeglichen werden soll. Dem genügt die Klausel, der Arbeitnehmer werde unwiderruflich von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt, nicht.
Die Klägerin war bei der Beklagten als Sekretärin beschäftigt. Nachdem die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt hatte, schlossen die Parteien im Kündigungsschutzprozess am 15. November 2016 einen gerichtlichen Vergleich, wonach das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Arbeitgeberkündigung mit Ablauf des 31. Januar 2017 endete. Bis dahin stellte die Beklagte die Klägerin unwiderruflich von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung unter Fortzahlung der vereinbarten Vergütung frei. In diesem Zeitraum sollte auch der Resturlaub eingebracht sein. Eine allgemeine Abgeltungs- bzw. Ausgleichsklausel enthält der Vergleich nicht.
Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat die Klägerin die Abgeltung von 67,10 Gutstunden auf ihrem Arbeitszeitkonto mit 1.317,28 Euro brutto nebst Zinsen verlangt. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen.
Die vom Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts zugelassene Revision der Klägerin war erfolgreich und führte zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Endet das Arbeitsverhältnis und können Gutstunden auf dem Arbeitszeitkonto nicht mehr durch Freizeit ausgeglichen werden, sind sie vom Arbeitgeber in Geld abzugelten. Die Freistellung des Arbeitnehmers von der Arbeitspflicht in einem gerichtlichen Vergleich ist nur dann geeignet, den Anspruch auf Freizeitausgleich zum Abbau von Gutstunden auf dem Arbeitszeitkonto zu erfüllen, wenn der Arbeitnehmer erkennen kann, dass der Arbeitgeber ihn zur Erfüllung des Anspruchs auf Freizeitausgleich von der Arbeitspflicht freistellen will. Daran fehlte es vorliegend. In dem gerichtlichen Vergleich ist weder ausdrücklich noch konkludent hinreichend deutlich festgehalten, dass die Freistellung auch dem Abbau des Arbeitszeitkontos dienen bzw. mit ihr der Freizeitausgleichsanspruch aus dem Arbeitszeitkonto erfüllt sein soll.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. November 2019 – 5 AZR 578/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 19. Juni 2018 – 12 Sa 218/18 – | Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 19. Juni 2018 – 12 Sa 218/18 – aufgehoben.
2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Münster vom 28. September 2017 – 2 Ca 572/17 – wird zurückgewiesen mit der Klarstellung, dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 1.317,28 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2017 zu zahlen.
3. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Abgeltung eines Zeitguthabens und dabei insbesondere darüber, ob das Arbeitszeitkonto der Klägerin durch die in einem gerichtlichen Vergleich im Kündigungsschutzprozess vereinbarte Freistellung ausgeglichen worden ist.
2
Die Klägerin war bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin seit dem 1. Januar 2014 als Sekretärin beschäftigt und hat zuletzt 3.250,00 Euro brutto monatlich verdient. Nachdem die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt hatte, schlossen die Parteien im Kündigungsschutzprozess am 15. November 2016 einen gerichtlichen Vergleich. Danach endete das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Arbeitgeberkündigung mit Ablauf des 31. Januar 2017. Außerdem heißt es in dem Vergleich unter Ziff. 3:
„Die Beklagten stellen die Klägerin unwiderruflich von der Pflicht der Erbringung der Arbeitsleistung bis einschließlich 31.01.2017 unter Fortzahlung der vereinbarten Vergütung frei. Urlaubsansprüche der Klägerin für 2016 und 2017 werden mit der Freistellung in Natura gewährt.“
3
Damit sollte der Rechtsstreit erledigt sein, eine allgemeine Abgeltungs- bzw. Ausgleichsklausel enthält der Vergleich hingegen nicht.
4
Bei der Beklagten wurde für die Klägerin ein (elektronisches) Arbeitszeitkonto geführt. Sollten dort erfasste Arbeitsstunden ausgeglichen werden, musste über das Zeiterfassungsprogramm ein Antrag auf Freizeitausgleich gestellt werden, der der Genehmigung der Beklagten bedurfte. Zum 30. September 2016 wies das Arbeitszeitkonto der Klägerin einen Saldo zu ihren Gunsten von 67,10 Stunden auf. Dessen Abgeltung verlangte die Klägerin nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolglos.
5
Mit der am 27. März 2017 anhängig gemachten Klage hat die Klägerin die Abgeltung des Guthabens auf ihrem Arbeitszeitkonto begehrt und gemeint, dieses sei vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch Freizeit ausgeglichen worden.
6
Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.317,28 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Februar 2017 zu zahlen.
7
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, durch die im gerichtlichen Vergleich vereinbarte unwiderrufliche Freistellung sei – neben der Urlaubsgewährung – auch der Anspruch der Klägerin auf Freizeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos erfüllt. Einer ausdrücklichen Vereinbarung hierzu habe es nicht bedurft.
8
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
9
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht entsprochen. Die Klage ist zulässig und begründet.
10
I. Die Klage richtet sich nach dem Zusammenschluss der ursprünglich als Gesamtschuldner verklagten natürlichen Personen zu einer Partnerschaftsgesellschaft mbB gegen diese. Dementsprechend hat das Landesarbeitsgericht in der Berufungsverhandlung ohne Einwände der Parteien das Passivrubrum berichtigt (vgl. BAG 21. August 2019 – 7 AZR 572/17 – Rn. 15 mwN). Deshalb war bei Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils klarzustellen, dass sich die ausgeurteilte Zahlungsverpflichtung gegen die jetzige Beklagte richtet.
11
II. Die Klägerin hat Anspruch auf Abgeltung des Zeitguthabens auf dem für sie bei der Beklagten geführten Arbeitszeitkonto, das nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zuletzt 67,10 Stunden betrug. Weil dieser Positivsaldo nicht bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Freizeit abgebaut wurde, kann die Klägerin dessen Ausgleich in Geld verlangen. Das folgt aus einer konkludenten Abrede der Parteien bei der Errichtung des Arbeitszeitkontos.
12
1. Ein Arbeitszeitkonto hält im Allgemeinen fest, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer seine Hauptleistungspflicht nach § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB erbracht hat oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands nicht erbringen musste und deshalb Vergütung beanspruchen kann bzw. in welchem Umfang er noch Arbeitsleistung für die vereinbarte und gezahlte Vergütung erbringen muss (BAG 29. Juni 2016 – 5 AZR 617/15 – Rn. 17, BAGE 155, 310). Abhängig von der zugrunde liegenden Abrede der Vertragsparteien kann ein Arbeitszeitkonto den Vergütungsanspruch verbindlich bestimmen (vgl. BAG 19. März 2008 – 5 AZR 328/07 – Rn. 10 mwN; 10. November 2010 – 5 AZR 766/09 – Rn. 16, BAGE 136, 152) oder für die Höhe eines Anspruchs auf Freizeitausgleich oder die Höhe eines Vorschusses maßgebend sein (BAG 21. März 2012 – 5 AZR 676/11 – Rn. 26, BAGE 141, 88).
13
2. Begehrt der Arbeitnehmer die Abgeltung eines Guthabens auf seinem Arbeitszeitkonto, macht er folglich (nur) den Vergütungsanspruch für vorgeleistete Arbeit geltend (BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 20 mwN, BAGE 152, 315). Auf die Anspruchsvoraussetzungen „echter“ Überstundenvergütung – entsprechende ausdrückliche arbeitsvertragliche Vereinbarung der Vergütung von Überstunden oder die Fiktion einer stillschweigenden Vereinbarung nach § 612 Abs. 1 BGB – kommt es deshalb nicht an. Auch die vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast für die Leistung von Überstunden und deren arbeitgeberseitige Veranlassung und Zurechnung im Überstundenprozess (vgl. dazu zuletzt BAG 26. Juni 2019 – 5 AZR 452/18 – Rn. 39, 44 mwN) spielen keine Rolle. Denn der Arbeitgeber stellt mit der vorbehaltlosen Ausweisung in einem für den Arbeitnehmer geführten Arbeitszeitkonto dessen Saldo streitlos und bringt damit regelmäßig zum Ausdruck, dass bestimmte Arbeitsstunden tatsächlich und mit seiner Billigung geleistet wurden (BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 23, aaO).
14
3. Der Abbau eines Arbeitszeitkontos, der nicht spiegelbildlich zu seinem Aufbau erfolgen muss (BAG 17. März 2010 – 5 AZR 296/09 – Rn. 15), richtet sich nach der der Führung des Arbeitszeitkontos zugrunde liegenden Vereinbarung (Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag). Im Streitfall erfolgte der Abbau des Arbeitszeitkontos nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts durch Freizeitausgleich. Dass während des vollzogenen Arbeitsverhältnisses Zeitgutgaben – auch – durch Geldleistung ausgeglichen worden wäre, hat die Klägerin nicht behauptet. An einer ausdrücklichen Vereinbarung der Parteien über den Umgang mit Positiv- oder Negativsalden auf dem Arbeitszeitkonto im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fehlt es.
15
4. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses geht regelmäßig die Schließung des Arbeitszeitkontos einher, ein Freizeitausgleich ist nach dem Ausscheiden des Arbeitnehmers nicht mehr möglich (BAG 26. Juni 2013 – 5 AZR 428/12 – Rn. 22 f.). Wenn nicht ausdrücklich anderes vereinbart ist, enthält die einvernehmliche Errichtung eines Arbeitszeitkontos die konkludente Abrede, dass das Konto spätestens mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses auszugleichen ist (BAG 13. Dezember 2000 – 5 AZR 334/99 – zu II 2 c der Gründe; so im Ergebnis auch die hM im Schrifttum, vgl. etwa MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 BGB Rn. 1059; Staudinger/Richardi/Fischinger [2016] § 611 BGB Rn. 1080; MHdB ArbR/Reichold 4. Aufl. § 40 Rn. 82; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 160 Rn. 48; soweit der gesetzliche Mindestlohn betroffen ist, sieht § 2 Abs. 2 Satz 2 MiLoG bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nunmehr – zusätzlich – einen gesetzlichen Ausgleichsanspruch vor). Denn regelmäßig will weder der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber vorgeleistete Arbeit „schenken“ noch der mit der Zahlung einer verstetigten Vergütung vorleistende Arbeitgeber auf eine finanzielle Erstattung seiner Vorschussleistung verzichten (zu Letzterem sh. BAG 13. Dezember 2000 – 5 AZR 334/99 – zu II 2 c der Gründe). Gelingt es vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht, ein positives Guthaben des Arbeitnehmers durch entsprechende Freizeit abzubauen, hat der Arbeitgeber den Positivsaldo finanziell auszugleichen.
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5. Davon ausgehend ist mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien am 31. Januar 2017 der streitgegenständliche Abgeltungsanspruch entstanden und fällig geworden. Denn bis dahin ist der aus dem Guthaben auf dem Arbeitszeitkonto folgende Anspruch der Klägerin auf Freizeitausgleich nicht durch Erfüllung (§ 362 Abs. 1 BGB) erloschen.
17
a) Freizeit ist im arbeitsrechtlichen Sinne das Gegenteil von Arbeitszeit (BAG 17. März 2010 – 5 AZR 296/09 – Rn. 17). Die Erfüllung des Freizeitausgleichsanspruchs erfolgt daher durch Freistellung des Arbeitnehmers von seiner Pflicht, Arbeitsleistungen zu erbringen. Die Umsetzung erfolgt dadurch, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zum Abbau eines vorhandenen Freizeitguthabens an Tagen, die für diesen „an sich“ Arbeitstage wären, von seiner Pflicht, Arbeitsleistungen zu erbringen, befreit (BAG 11. Februar 2009 – 5 AZR 341/08 – Rn. 13; vgl. auch BAG 17. März 2010 – 5 AZR 296/09 – Rn. 17; 19. September 2018 – 10 AZR 496/17 – Rn. 22).
18
b) Die Klägerin war zwar jedenfalls im Anschluss an den gerichtlichen Vergleich bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung unter Fortzahlung ihrer Vergütung unwiderruflich freigestellt. Doch hatte die Beklagte damit den Freizeitausgleichsanspruch der Klägerin zum Abbau des Arbeitszeitkontos nicht erfüllt.
19
aa) Allerdings hätte die Beklagte Freizeitausgleich zum Zwecke des Abbaus des Arbeitszeitguthabens einseitig festlegen können (zum Freizeitausgleich als Weisung des Arbeitgebers zur Verteilung der Arbeitszeit sh. BAG 19. Mai 2009 – 9 AZR 433/08 – Rn. 28 mwN, BAGE 131, 30). Es ist nicht ersichtlich und von der Klägerin auch nicht behauptet worden, der Beklagten wäre solches nach der der Führung des Arbeitszeitkontos zugrunde liegenden Vereinbarung verwehrt gewesen. Das Erfordernis eines Antrags der Klägerin auf Freizeitausgleich bedeutet lediglich, dass sie damit – ähnlich wie es § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG für den Urlaub vorsieht – ihren Wunsch für die zeitliche Lage des Freizeitausgleichs zum Ausdruck brachte.
20
bb) Mit der Freistellung der Klägerin im Anschluss an den gerichtlichen Vergleich hat die Beklagte indes nur ihre Verpflichtung aus dem Vergleich erfüllt, nicht jedoch zugleich die ihr aus der der Führung des Arbeitszeitkontos zugrunde liegenden Vereinbarung obliegende Leistung „Freizeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos“ iSd. § 362 Abs. 1 BGB bewirkt (zum Eintritt der Erfüllungswirkung vgl. BAG 17. Januar 2018 – 5 AZR 69/17 – Rn. 14 mwN). Dafür ist die bloße Freistellung als solche nicht ausreichend. Wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen, die eine Freistellung haben kann, muss der Arbeitnehmer erkennen können, dass der Arbeitgeber ihn zur Erfüllung des Anspruchs auf Freizeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos von der Arbeitspflicht freistellen will. Anderenfalls ist nicht feststellbar, ob der Arbeitgeber als Schuldner des Freizeitausgleichsanspruchs eine Erfüllungshandlung bewirken, (nur) den Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers – zB weil er an der Weiterarbeit nach Ausspruch einer Kündigung kein Interesse hat – ausschließen oder aus sonstigen Gründen als Gläubiger der Arbeitsleistung auf deren Annahme mit den in § 615 BGB bezeichneten Folgen – insbesondere der Anrechnung anderweitigen Verdienstes nach § 615 Satz 2 BGB – verzichten will (ebenso zum Urlaubsanspruch BAG 10. Februar 2015 – 9 AZR 455/13 – Rn. 19 mwN, BAGE 150, 355; 20. August 2019 – 9 AZR 468/18 – Rn. 18). Daran fehlt es vorliegend. In dem gerichtlichen Vergleich ist weder ausdrücklich noch konkludent mit hinreichender Deutlichkeit festgehalten, dass die Beklagte die Klägerin (auch) unter Anrechnung des Freizeitausgleichsanspruchs zum Abbau des Arbeitszeitkontos von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung freistellt. Die Beklagte hat auch nicht in Vollzug des gerichtlichen Vergleichs durch anderweitige Erklärungen zum Ausdruck gebracht, dass die Freistellung zum Zwecke der Erfüllung des Freizeitausgleichsanspruchs erfolge.
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cc) Anders als für den Urlaub, der nach Ziff. 3 Satz 2 des gerichtlichen Vergleichs „mit der Freistellung in Natura gewährt“ sein soll, fehlt es zum Abbau des Positivsaldos auf dem Arbeitszeitkonto an einer ausdrücklichen Anrechnungsklausel etwa dahingehend, dass die Freistellung unter Anrechnung auf den Anspruch auf Freizeitausgleich zum Abbau des Arbeitszeitkontos erfolgt oder dieser mit der Freistellung (mit)erfüllt sein soll. Eine dahingehende konkludente Vereinbarung lässt sich dem Prozessvergleich nicht hinreichend deutlich durch Auslegung entnehmen. Die gegenteilige Auffassung des Landesarbeitsgerichts hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
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(1) Nach §§ 133, 157 BGB sind Verträge – auch Prozessvergleiche – so auszulegen, wie die Parteien sie nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen mussten. Dabei ist zunächst vom Wortlaut auszugehen. Zur Ermittlung des wirklichen Willens der Parteien sind jedoch auch die außerhalb der Vereinbarung liegenden Umstände einzubeziehen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Ebenso sind die bestehende Interessenlage und der mit dem Rechtsgeschäft verfolgte Zweck zu berücksichtigen (st. Rspr., vgl. nur BAG 25. Januar 2017 – 4 AZR 522/15 – Rn. 25; 24. September 2015 – 2 AZR 716/14 – Rn. 35, BAGE 153, 20, jeweils mwN). Dabei unterliegt die Auslegung typischer Klauseln in Prozessvergleichen, die zur Beilegung einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten verwendet werden, selbst wenn der materielle Regelungsgehalt des Vergleichs ausschließlich individuell bestimmt ist, der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung (BAG 27. Mai 2015 – 5 AZR 137/14 – Rn. 18 mwN, BAGE 151, 382; GMP/Müller-Glöge ArbGG 9. Aufl. § 73 Rn. 22; ErfK/Koch 19. Aufl. ArbGG § 73 Rn. 8; Düwell/Lipke/Düwell ArbGG 5. Aufl. § 73 Rn. 53; aA etwa GK-ArbGG/Mikosch Stand Juni 2018 § 73 Rn. 43a mwN auch zu abw. Rspr.). Um eine solche typische Klausel handelt es sich bei der Freistellungsvereinbarung in Ziff. 3 des Prozessvergleichs (vgl. BAG 23. Januar 2008 – 5 AZR 393/07 – Rn. 2, 12).
23
(2) Die Freistellung knüpft an die zuvor geregelte Beendigung des Arbeitsverhältnisses an. Dabei waren sich die Parteien einig, dass ihr Arbeitsverhältnis nicht mit dem Zugang der fristlosen Kündigung vom 27. September 2016, sondern durch eine (umgedeutete) ordentliche Kündigung enden sollte, und zwar nicht mit der Frist des § 622 Abs. 2 Nr. 1 BGB, sondern erst zu dem bei Abschluss des Vergleichs noch in der Zukunft liegenden Termin 31. Januar 2017. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zog die Klägerin diese „Verlängerung“ einer Abfindung vor. Weil aber – wie typischerweise in solchen Konstellationen – offensichtlich von beiden Seiten kein Interesse an einer Weiterarbeit der Klägerin bis zum vereinbarten Beendigungszeitpunkt bestand, vereinbarten die Parteien eine Freistellung „von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung … unter Fortzahlung der vereinbarten Vergütung“. Diese bezahlte Freistellung hat damit nach dem Willen der Parteien bei Vergleichsschluss primär „Abfindungscharakter“. Mit ihr wird lediglich die Arbeitspflicht der Klägerin aufgehoben, weitere Rechtsfolgen regelt sie nicht (vgl. BAG 23. Januar 2008 – 5 AZR 393/07 – Rn. 13). Konsequenterweise nahmen die Parteien deshalb in Ziff. 3 Satz 2 des Vergleichs auf, dass mit der Freistellung auch der (restliche) Urlaub „in Natura gewährt“ wird. Dagegen ist weder in Ziff. 3 noch an sonstiger Stelle des Vergleichs vom Abbau des Guthabens auf dem Arbeitszeitkonto oder ähnlichem die Rede. Ferner ergibt sich weder aus den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch aus dem Vorbringen der Parteien, dass der Positivsaldo auf dem Arbeitszeitkonto bei den Vergleichsverhandlungen auch nur angesprochen worden wäre.
24
(3) Der Vergleich enthält zudem keine Abgeltungs- bzw. Ausgleichsklausel dahingehend, dass mit ihm alle oder zumindest alle finanziellen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und dessen Beendigung abgegolten sind (zum Rechtscharakter derartiger Klauseln in gerichtlichen Vergleichen vgl. zB BAG 27. Mai 2015 – 5 AZR 137/14 – Rn. 21 mwN, BAGE 151, 382) und auf diese Weise hinreichend deutlich erkennbar wäre, dass die vereinbarte Freistellung auch zum Zwecke der Erfüllung des Freizeitausgleichsanspruchs zum Abbau des Arbeitszeitkontos erfolgen sollte. Wollten die Parteien – worauf das Landesarbeitsgericht seine gegenteilige Auslegung maßgeblich stützt – mit dem Vergleich „alle Streitfragen … antizipieren und einer Lösung zuführen“, wäre es zwingend erforderlich gewesen, eine entsprechende umfassende Abgeltungs- bzw. Ausgleichsklausel aufzunehmen. Das haben die Parteien jedoch – unerheblich, ob bewusst im Hinblick auf bei Vergleichsschluss nicht bekannte oder nicht bedachte Sachverhalte oder aus Nachlässigkeit – unterlassen. Damit verbietet sich eine Auslegung, die faktisch die fehlende Abgeltungs- bzw. Ausgleichsklausel ersetzen würde.
25
6. Der Abgeltungsanspruch der Klägerin ist nicht nach der arbeitsvertraglichen Ausschlussfristenregelung verfallen. Ist – wie im Streitfall – zugunsten des Arbeitnehmers ein Saldo auf dem Arbeitszeitkonto vorbehaltlos ausgewiesen und bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch bezahlte Freizeit oder zusätzliches Entgelt abgebaut worden, sind die Guthabenstunden streitlos gestellt und müssen nicht innerhalb von Ausschlussfristen geltend gemacht werden (BAG 20. Juni 2018 – 5 AZR 262/17 – Rn. 39, BAGE 163, 89). Die Notwendigkeit zur Geltendmachung des auf dem Arbeitszeitkonto der Klägerin ausgewiesenen Guthabens lebte auch nicht wieder auf, als sich dieses bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einen Zahlungsanspruch wandelte (vgl. BAG 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – Rn. 34 mwN, BAGE 152, 315).
26
7. Die Höhe des sich aus dem Arbeitszeitguthaben ergebenden Abgeltungsbetrags hat das Landesarbeitsgericht als unstreitig festgestellt. Angriffe dagegen hat die Beklagte nicht erhoben.
27
8. Der Anspruch der Klägerin auf die vom Arbeitsgericht zugesprochenen Zinsen folgt aus § 288 Abs. 1 BGB iVm. § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB.
28
III. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Linck
Volk
Biebl
Schad
J. Schubert |
bag_40-20 | 11.11.2020 | 11.11.2020
40/20 - Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten bei der Vergütung?
Tarifvertragliche Bestimmungen, die eine zusätzliche Vergütung davon abhängig machen, dass dieselbe Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird, ohne zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu unterscheiden, werfen Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht auf. Diese Fragen müssen durch ein Vorabentscheidungsersuchen geklärt werden, das der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union richtet.
Die Beklagte ist ein Luftfahrtunternehmen. Der Kläger ist bei ihr als Flugzeugführer und Erster Offizier in Teilzeit beschäftigt. Seine Arbeitszeit ist auf 90 % der Vollarbeitszeit verringert. Er erhält eine um 10 % ermäßigte Grundvergütung. Nach den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträgen erhält ein Arbeitnehmer eine über die Grundvergütung hinausgehende Mehrflugdienststundenvergütung, wenn er eine bestimmte Zahl von Flugdienststunden im Monat geleistet und damit die Grenzen für die erhöhte Vergütung überschritten („ausgelöst“) hat. Die sog. Auslösegrenzen gelten einheitlich für Arbeitnehmer in Teilzeit und in Vollzeit.
Mit seiner Klage verlangt der Kläger von der Beklagten für die erbrachten Mehrflugdienststunden eine höhere als die bereits geleistete Vergütung. Er ist der Auffassung, die tariflichen Bestimmungen seien unwirksam. Sie behandelten Teilzeitbeschäftigte schlechter als Arbeitnehmer in Vollzeit. Ein sachlicher Grund bestehe dafür nicht. Die Auslösegrenzen seien entsprechend seinem Teilzeitanteil abzusenken. Die Beklagte hält die Tarifnormen für wirksam. Die Vergütung für Mehrflugdienststunden diene dazu, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen. Sie bestehe erst, wenn die tariflichen Auslösegrenzen überschritten seien.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union, Fragen nach der Auslegung der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG zu beantworten. Ist für die Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten schlechter behandelt werden, weil eine zusätzliche Vergütung davon abhängt, dass eine einheitlich geltende Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird, auf die Gesamtvergütung und nicht auf den Entgeltbestandteil der zusätzlichen Vergütung abzustellen? Kann eine mögliche schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten gerechtfertigt werden, wenn mit der zusätzlichen Vergütung der Zweck verfolgt wird, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen?*
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11. November 2020 – 10 AZR 185/20 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 19. November 2019 – 6 Sa 370/19 –
*Der genaue Wortlaut der Fragen kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Fragen ersucht:
1. Behandelt eine nationale gesetzliche Vorschrift Teilzeitbeschäftigte schlechter gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten iSv. § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG, wenn sie es zulässt, eine zusätzliche Vergütung für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte einheitlich daran zu binden, dass dieselbe Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird, und es damit erlaubt, auf die Gesamtvergütung, nicht auf den Entgeltbestandteil der zusätzlichen Vergütung abzustellen?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird:
Ist eine nationale gesetzliche Vorschrift, die es erlaubt, einen Anspruch auf eine zusätzliche Vergütung davon abhängig zu machen, dass für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte einheitlich dieselbe Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird, mit § 4 Nr. 1 und dem Pro-rata-temporis-Grundsatz in § 4 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG vereinbar, wenn mit der zusätzlichen Vergütung der Zweck verfolgt wird, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Tarifvertragliche Bestimmungen, die eine zusätzliche Vergütung davon abhängig machen, dass dieselbe Zahl von Arbeitsstunden überschritten wird, ohne zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu unterscheiden, werfen Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht auf. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über zwei Fragen. Sie betreffen das Verständnis der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (juris: EGRL 81/97).
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG (Rahmenvereinbarung).
2
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger als Arbeitnehmer in Teilzeit Anspruch auf eine erhöhte Vergütung – eine sog. Mehrflugdienststundenvergütung – hat.
4
Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deutschem Recht. Sie betreibt ein Luftfahrtunternehmen, das Kurz- und Langstreckenflüge durchführt. Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem Jahr 2001 als Flugzeugführer und Erster Offizier beschäftigt. Er wird auch auf dem Flugzeugmuster Airbus A340 eingesetzt.
5
Seit dem Jahr 2010 arbeitet der Kläger in Teilzeit mit einer Arbeitszeit, die auf 90 % der Vollarbeitszeit verringert ist. Die Teilzeitarbeit leistet der Kläger nach den Regelungen einer Betriebsvereinbarung. Auf ihrer Grundlage wird der Kläger wie ein Vollzeitbeschäftigter eingesetzt, ohne dass die zu leistenden Flugdienststunden reduziert werden. Er erhält jedoch zusätzlich 37 freie Tage im Jahr. Seine Grundvergütung einschließlich der Stellenzulagen ist um 10 % ermäßigt. Die monatliche Bruttovergütung betrug zuletzt 13.824,15 Euro.
6
Nach den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträgen für das Cockpitpersonal der Beklagten ist ein Bestandteil der Arbeitszeit, die mit dem Grundentgelt vergütet wird, die Flugdienstzeit. Ein Arbeitnehmer erhält eine über die Grundvergütung hinausgehende Mehrflugdienststundenvergütung, wenn er eine bestimmte Zahl von Flugdienststunden im Monat geleistet und damit die Grenzen für die erhöhte Vergütung überschritten („ausgelöst“) hat. Dafür sehen die tarifvertraglichen Bestimmungen drei der Höhe nach ansteigende Stunden-sätze vor, die über dem Stundenentgelt liegen, das auf der Basis der Grundvergütung ermittelt wird. Sie sind für die Berechnung der Vergütung heranzuziehen, wenn der Arbeitnehmer auf der Kurzstrecke 106, 121 und 136 monatliche Flugdienststunden erbracht und damit die sog. Auslösegrenzen überschritten hat. Für Flugdienststunden auf Langstreckenflügen gelten abgesenkte Auslösegrenzen von 93, 106 und 120 Flugdienststunden im Monat. Die tariflichen Bestimmungen sehen nicht vor, dass diese Grenzen für Arbeitnehmer, die Teilzeitarbeit leisten, entsprechend ihrem Teilzeitanteil zu verringern sind.
7
Um die monatliche Mehrflugdienststundenvergütung des Klägers bestimmen zu können, errechnet die Beklagte eine individuelle Auslösegrenze, die die Teilzeitarbeit des Klägers berücksichtigt. Für Flugdienststunden, die der Kläger über seine individuelle Auslösegrenze hinaus erbringt, erhält er das aus der Grundvergütung ermittelte Stundenentgelt. Erst wenn seine Flugdienstzeit die für Vollzeitbeschäftigte geltenden Auslösegrenzen überschreitet, erhält er eine erhöhte Vergütung.
8
Der Kläger ist der Auffassung, er habe einen Anspruch auf die erhöhte Vergütung bereits dann, wenn er die entsprechend seinem Teilzeitfaktor abgesenkten Auslösegrenzen überschreite. Die tariflichen Bestimmungen, die identische Auslösegrenzen für Voll- und Teilzeit enthielten, verstießen gegen das Verbot, Teilzeitbeschäftigte im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten schlechter zu behandeln. Ein Arbeitnehmer in Teilzeit komme erst in den Genuss der erhöhten Vergütung, wenn er die Differenz zwischen seiner individuellen Auslösegrenze und den tarifvertraglichen Auslösegrenzen gearbeitet habe. Der Pro-rata-temporis-Grundsatz bleibe dabei unbeachtet. Für die unterschiedliche Behandlung bestehe kein sachlicher Grund. Mit der Mehrflugdienststundenvergütung hätten die Tarifvertragsparteien nicht bezweckt, besondere Belastungen auszugleichen. Sie hätten das Ziel verfolgt, den individuellen Freizeitbereich der Arbeitnehmer zu schützen. Um einen Eingriff in diesen geschützten Bereich handle es sich bereits dann, wenn die entsprechend dem Teilzeitfaktor abgesenkte Flugdienstzeit überschritten werde.
9
Mit seiner Klage verlangt der Kläger von der Beklagten die Differenz zwischen der bereits gezahlten und der erhöhten Mehrflugdienststundenvergütung auf der Grundlage der abgesenkten Auslösegrenzen.
10
Die Beklagte meint, dass sie keine höhere als die bereits gezahlte Vergütung schulde. Die tariflichen Bestimmungen seien wirksam. Für die unterschiedliche Behandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten bestehe ein sachlicher Grund. Die Mehrflugdienststundenvergütung diene dazu, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen. Sie bestehe erst, wenn die Auslösegrenzen überschritten seien.
11
Das Arbeitsgericht hat der Klage auf die Vergütungsdifferenzen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger weiterhin sein Ziel, dass die Beklagte verurteilt wird, die Vergütungsdifferenzen zu zahlen.
12
B. Einschlägiges nationales Recht
13
I. Gesetzliche Vorschriften
14
1. In § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I 2002 S. 42, berichtigt S. 2909 und BGBl. I 2003 S. 738), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2187), heißt es:
„§ 134 Gesetzliches Verbot
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“
15
2. Das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG) vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I S. 1966), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. November 2019 (BGBl. I S. 1746), regelt auszugsweise:
„§ 2 Begriff des teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmers
(1)
… 3Vergleichbar ist ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer des Betriebes mit der derselben Art des Arbeitsverhältnisses und der gleichen oder einer ähnlichen Tätigkeit. …
§ 4 Verbot der Diskriminierung
(1)
1Ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darf wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. 2Einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht.
…
§ 22 Abweichende Vereinbarungen
(1)
Außer in den Fällen des § 9a Absatz 6, § 12 Absatz 6, § 13 Absatz 4 und § 14 Absatz 2 Satz 3 und 4 kann von den Vorschriften dieses Gesetzes nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden.“
16
II. Anzuwendende Tarifverträge
17
1. Der Manteltarifvertrag Nr. 4, gültig ab dem 1. März 2013, für die Mitarbeiter des Cockpitpersonals der Lufthansa CityLine GmbH vom 8. Dezember 2016 (MTV Nr. 4) regelt auszugsweise:
„§ 6 Arbeitszeit
(1)
Die Arbeitszeit umfasst die Zeit, in der die Mitarbeiter auf Anordnung der CLH* Dienst leisten. Die Arbeitszeit schließt ein:
a)
die Flugdienstzeit (§ 8),
b)
Büro- oder Verwaltungstätigkeiten,
c)
Einweisungen, Ausbildungen und Umschulungen,
d)
Bordverkaufsabrechnungen,
e)
fliegerärztliche Untersuchungen und Impfungen,
f)
Bereitschaftsdienste (= Standby), soweit sie nicht zur Flugdienstzeit zählen,
g)
Begleitung von Passagieren (zB Kinder oder Kranke),
h)
Dienstreisen und Dienstgänge, soweit sie nicht zur Flugdienstzeit zählen,
i)
Proceedings ab Show-Up-Zeit und Bodenzeiten bei Zwischenaufenthalten,
j)
notwendige Tätigkeiten im Sinne des § 37 Betriebsverfassungsgesetz (soweit für das Cockpitpersonal der CLH zutreffend) im erforderlichen Umfang.
…
(2)
a)
Die tägliche Arbeitszeit (ohne Pausen), zu der ein Mitarbeiter eingeteilt werden kann, darf im Kurzstreckenverkehr 14 Stunden nicht überschreiten, soweit der betreffende Mitarbeiter nicht damit einverstanden ist. Hierbei zählen Bereitschaftsdienste zur Hälfte, sofern sie nicht auf einem Flughafen abzuleisten sind; Beförderungszeiten nach Beendigung des Flugdienstes zum dienstlichen Wohnsitz sind nicht mitzurechnen.
b)
Wird ein Mitarbeiter an mehr als zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Bodendienst beschäftigt, so wird die Grundarbeitszeit auf der Basis von 38,5 Arbeitsstunden je Woche festgelegt. Eventuelle Mehrarbeit wird durch zusätzliche Freizeit bis zum Ende des darauffolgenden Monats ausgeglichen.
(3)
Die Mitarbeiter werden auf Basis von Dienstplänen eingesetzt. Diese gelten in der Regel in Abschnitten von vier Wochen und sind rechtzeitig im Voraus zu veröffentlichen. …
(4)
Bei der Einplanung und Einteilung der Mitarbeiter sind die Bestimmungen der Tarifverträge zu beachten und ist im Rahmen der betrieblich vertretbaren Möglichkeiten eine gleichmäßige Belastung aller Mitarbeiter am jeweiligen Stationierungsort zu gewährleisten, sowohl im Vergleich untereinander bezogen auf die jeweilige Beschäftigungsgruppe (Flotte und Funktion) als auch unter Berücksichtigung des CLH Programms und der personellen Umstände in Bezug auf den Einzelnen über den Zwölf-Monatszeitraum hinweg.
…
*Von den Tarifvertragsparteien gewählte Abkürzung für Lufthansa CityLine GmbH
§ 7 Flugzeit
(1)
Die Flugzeit im Sinne dieses MTV ist die gesamte Zeit von dem Zeitpunkt an, zu dem ein Flugzeug mit eigener oder fremder Kraft zum Start abrollt, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem es am Ende des Fluges zum Stillstand kommt (Blockzeit).
(2)
Die Summe der Flugzeiten (= Blockzeiten) jedes Mitarbeiters darf 1.000 Stunden pro Kalenderjahr nicht überschreiten.
§ 8 Flugdienstzeit
(1)
Die bezahlungswirksame Flugdienstzeit umfasst:
a)
die Zeiten für Vorarbeiten vom angeordneten Antritt des Flugdienstes bis zum Beginn der Blockzeit, wie im OM oder vorübergehend durch Einzelanordnung festgelegt ist,
b)
die Blockzeit,
c)
die Zeiten für Abschlussarbeiten nach dem Ende der Blockzeit, wie im OM oder vorübergehend durch Einzelanordnung festgelegt ist, mindestens jedoch 15 Minuten, auf Langstrecke mindestens 30 Minuten,
d)
die auf Anordnung im Flugsimulator verbrachte Zeit einschließlich der Zeiten nach a) und c) und
e)
alle übrigen Zeiten zwischen den Vorarbeiten nach a) und den Abschlussarbeiten nach c),
f)
Proceedingzeiten innerhalb einer Einsatzkette werden zu 50 % angerechnet. Davon ausgenommen sind Zeiten zwischen Ende Proceeding und Dienstbeginn bzw. zwischen Dienstende und Beginn Proceeding. Diesbezüglich stellt ein Einzel-Off-Tag keine Unterbrechung der Einsatzkette dar.
(2)
…
(3)
a)
Die uneingeschränkte Flugdienstzeit der Mitarbeiter zwischen zwei Ruhezeiten beträgt zehn Stunden. Innerhalb sieben aufeinanderfolgender Tage ist eine viermalige Verlängerung der Flugdienstzeit nach Satz 1 um jeweils bis zu zwei Stunden zulässig oder eine zweimalige Verlängerung um jeweils bis zu vier Stunden. In keinem Falle darf die Summe der Verlängerungen innerhalb sieben aufeinanderfolgender Tage acht Stunden überschreiten.
b)
Die Sieben-Tages-Zeiträume beginnen jeweils um 00:00 UTC des ersten und enden jeweils um 24:00 UTC des letzten Tages.
(4)
…
(5)
Die Flugdienstzeiten dürfen innerhalb 30 aufeinanderfolgender Tage 210 Stunden, innerhalb eines Kalenderjahres 1.800 Stunden nicht überschreiten.“
18
2. § 4 des Vergütungstarifvertrags Nr. 6 für die Mitarbeiter des Cockpitpersonals der Lufthansa CityLine GmbH vom 11. Juli 2014 (VTV Nr. 6) regelt in Auszügen:
„§ 4 Mehrflugdienststundenvergütung
(1)
Ab der 106. monatlichen Flugdienststunde (gem. § 8 Abs. 1 MTV Cockpit Nr. 1) wird eine Mehrflugdienststundenvergütung in Höhe von 1/100 des individuellen monatlichen Gesamtgehaltes (gem. § 3) pro Flugdienststunde gezahlt.
(2)
Ab der 121. monatlichen Flugdienststunde (gem. § 8 Abs. 1 MTV Cockpit Nr. 1) wird eine Mehrflugdienststundenvergütung in Höhe von 1/85 des individuellen monatlichen Gesamtgehaltes (gem. § 3) pro Flugdienststunde gezahlt.
(3)
Ab der 136. monatlichen Flugdienststunde (gem. § 8 Abs. 1 MTV Cockpit Nr. 1) wird eine Mehrflugdienststundenvergütung in Höhe von 1/73 des individuellen monatlichen Gesamtgehaltes (gem. § 3) pro Flugdienststunde gezahlt.
(4)
…
(5)
Bei der Berechnung des Anspruchs auf Mehrflugdienststundenvergütung nach den Abs. 1 bis 3 werden dem Mitarbeiter für jeden Monat wegen Urlaubs oder von der CLH angeordneter Schulung ausfallenden vollen Kalendertag 3,5 zusätzliche Flugdienststunden angerechnet, höchstens jedoch 98 Flugdienststunden pro Monat.“
19
3. Eine weitere Vereinbarung der Tarifvertragsparteien vom 29. November 2014, die als „Eckpunktepapier ‚Jump‘“ bezeichnet ist, bestimmt in Abschnitt III Nr. 6 auszugsweise:
„-
Mehrflugdienststundenvergütung
●
Für die Vergütung der Mehrflugdienststunden im Interkontbereich auf der A340 im Rahmen des Projekts ‚Jump‘ werden die Auslösegrenzen wie folgt festgesetzt:
○
1. Stufe: 93 Stunden
○
2. Stufe: 106 Stunden
○
3. Stufe: 120 Stunden
●
Die Zuschreibung gemäß § 4 Abs. 5 VTV beträgt für jeden vollen Kalendertag 3,1 Flugdienststunden, höchstens jedoch 87 je Monat.“
20
C. Einschlägiges Unionsrecht
21
Die von UNICE, CEEP und EGB geschlossene Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 (ABl. EG L 14 vom 20. Januar 1998 S. 9) regelt in Auszügen:
„Paragraph 3: Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Vereinbarung ist
…
2.
‚vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter‘ ein Vollzeitbeschäftigter desselben Betriebs mit derselben Art von Arbeitsvertrag oder Beschäftigungsverhältnis, der in der gleichen oder einer ähnlichen Arbeit/Beschäftigung tätig ist, wobei auch die Betriebszugehörigkeitsdauer und die Qualifikationen/Fertigkeiten sowie andere Erwägungen heranzuziehen sind.
…
Paragraph 4: Grundsatz der Nichtdiskriminierung
1.
Teilzeitbeschäftigte dürfen in ihren Beschäftigungsbedingungen nur deswegen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden, es sei denn, die unterschiedliche Behandlung ist aus objektiven Gründen gerechtfertigt.
2.
Es gilt, wo dies angemessen ist, der Pro-rata-temporis-Grundsatz.
3.
Die Anwendungsmodalitäten dieser Vorschrift werden von den Mitgliedstaaten und/oder den Sozialpartnern unter Berücksichtigung der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und der einzelstaatlichen gesetzlichen und tarifvertraglichen Bestimmungen und Gepflogenheiten festgelegt.“
22
D. Rechtsprechung
23
I. Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof)
24
Der Gerichtshof hat sich in drei Vorabentscheidungsverfahren unter dem Gesichtspunkt der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen damit befasst, unter welchen Voraussetzungen eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten beim Entgelt festzustellen ist.
25
1. In den Rechtssachen Helmig ua. ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass es immer dann eine Ungleichbehandlung sei, wenn bei gleicher Zahl von Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet würden, die an Vollzeitbeschäftigte gezahlte Vergütung höher sei als die an Teilzeitbeschäftigte geleistete. Der Gerichtshof hat einen Vergleich der Gesamtvergütungen vorgenommen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Teilzeitbeschäftigte die gleiche Gesamtvergütung wie Vollzeitbeschäftigte erhielten, wenn sie die tarifvertraglich festgesetzte Regelarbeitszeit überschritten und dann ebenfalls Überstundenzuschläge erhielten (EuGH 15. Dezember 1994 – C-399/92 ua. – [Helmig ua.] Rn. 26 ff.).
26
2. Demgegenüber hat der Gerichtshof im Jahr 2004 – wie schon in früheren Entscheidungen – Entgeltbestandteile isoliert betrachtet. In der Rechtssache Elsner-Lakeberg hat der Gerichtshof als Methode der Prüfung, ob der Grundsatz des gleichen Entgelts für männliche und weibliche Beschäftigte gewahrt ist, verlangt, dass jeder Entgeltbestandteil einzeln am Maßstab dieses Grundsatzes geprüft und nicht nur eine Gesamtbewertung vorgenommen werde. Der Gerichtshof hat eine Benachteiligung angenommen, weil bei Teilzeitbeschäftigten die Zahl zusätzlicher Stunden, von der an ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung entstehe, nicht proportional zu ihrer Arbeitszeit vermindert werde (EuGH 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg] Rn. 15, 17; vgl. auch 26. Juni 2001 – C-381/99 – [Brunnhofer] Rn. 35; 17. Mai 1990 – C-262/88 – [Barber] Rn. 34 f.).
27
3. In der Sache Voß ist der Gerichtshof von einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten ausgegangen, wenn sie von einer abgesenkten Stundenvergütung früher betroffen seien als Vollzeitbeschäftigte. Der Gerichtshof hat die Methoden der Gesamt- und der Einzelbetrachtung gegenübergestellt und die Vergütungsbestandteile untersucht, im Einzelfall den negativen Entgeltbestandteil eines Vergütungsabschlags (EuGH 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß] Rn. 36).
28
II. Bundesarbeitsgericht (BAG)
29
1. Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten
30
a) Die Rechtsprechung des Dritten, des Fünften, teilweise auch des Sechsten und des Zehnten Senats des Bundesarbeitsgerichts hat sich auf die Entscheidung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Helmig ua. gestützt. Den deutschen Urteilen lag jeweils ein Vergleich der Gesamtvergütungen zugrunde. Es handle sich um keine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten, wenn für die gleiche Zahl von Arbeitsstunden für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte die gleiche Vergütung geschuldet werde (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 33; 16. Juni 2004 – 5 AZR 448/03 – zu 3 c der Gründe; 5. November 2003 – 5 AZR 8/03 – zu II 2 b aa der Gründe; 21. April 1999 – 5 AZR 200/98 – zu I 3 a der Gründe, BAGE 91, 262; 23. April 1998 – 6 AZR 558/96 – zu II 1 b der Gründe; 25. Juli 1996 – 6 AZR 138/94 – zu II 1 c der Gründe, BAGE 83, 327; 30. Januar 1996 – 3 AZR 275/94 – zu II 1 d der Gründe; 20. Juni 1995 – 3 AZR 684/93 – zu II 1 c der Gründe, BAGE 80, 173; 20. Juni 1995 – 3 AZR 539/93 – zu II 1 c der Gründe).
31
b) Auf der Grundlage der Entscheidung Elsner-Lakeberg hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts dagegen angenommen, dass die formale Gleichbehandlung mit Blick auf die Gesamtvergütung zu einer Ungleichbehandlung führe und der Entgeltbestandteil des Überstundenzuschlags isoliert zu betrachten sei. Die Anforderung, dass Teilzeitbeschäftigte erst die gesamte Differenz bis zu der Vollarbeitszeit über ihre Teilzeitquote hinaus arbeiten müssten, um für die nächste Stunde einen Überstundenzuschlag zu erhalten, sei mit einer höheren Belastungsgrenze von Teilzeit- gegenüber Vollzeitbeschäftigten verbunden (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 53, BAGE 158, 360).
32
c) Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat sich mit Urteil vom 19. Dezember 2018 dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts angeschlossen und seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben (BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 58 ff., BAGE 165, 1). Danach führe die formale Gleichbehandlung im Hinblick auf die Gesamtvergütung zu einer Ungleichbehandlung. Der Vergleich von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten sei methodisch für jeden einzelnen Entgeltbestandteil vorzunehmen. Eine Gesamtbewertung der geleisteten Vergütungsbestandteile scheide aus. Entgelte für die Regelarbeitszeit und für Mehr- oder Überarbeitsvergütungen seien gesondert zu vergleichen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 45, 53, BAGE 158, 360).
33
2. Belastungsausgleich
34
Soweit das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit die Gesamtvergütung in den Blick genommen und eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG hinsichtlich des Entgelts abgelehnt hatte, musste es nicht darüber befinden, ob der Zweck des Belastungsausgleichs eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen kann. Im Zusammenhang mit der Ermittlung, welchen Zweck die Tarifvertragsparteien mit Mehrarbeitszuschlägen verfolgten, und mit der Prüfung, ob eine Regelung mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Gleichbehandlung und des Verbots von Diskriminierungen vereinbar ist, hat das Bundesarbeitsgericht den Belastungsausgleich thematisiert. Der Sechste Senat hat diese Rechtsprechung dahin zusammengefasst, dass die unterschiedliche Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten unter zwei Voraussetzungen gerechtfertigt sei. Die tarifliche Regelung müsse den Zweck haben, besondere Belastungen auszugleichen, die entstünden, wenn Beschäftigte über die von den Tarifvertragsparteien vorgegebene tarifliche Arbeitszeit hinaus tätig würden. Zugleich müsse die Tarifnorm zum Ziel haben, den Arbeitgeber von einer solchen übermäßigen Inanspruchnahme abzuhalten (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 57 mwN, BAGE 158, 360; vgl. auch 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 28; 16. Juni 2004 – 5 AZR 448/03 – zu 4 c der Gründe; 25. Juli 1996 – 6 AZR 138/94 – zu II 3 der Gründe, BAGE 83, 327; 20. Juni 1995 – 3 AZR 684/93 – zu II 3 und 4 der Gründe, BAGE 80, 173). Der Sechste Senat musste allerdings ebenso wenig wie der Zehnte Senat zuletzt die Frage beantworten, ob der Belastungsausgleich die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt. In beiden Fällen bestand der Zweck der zusätzlichen Vergütung darin, den Eingriff in den geschützten Freizeitbereich auszugleichen (BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 65 ff., BAGE 165, 1; 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 58 ff., BAGE 158, 360).
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III. Landesarbeitsgerichte (LAG)
36
Die vom Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts vollzogene Abkehr weg von der Gesamtbetrachtung der Vergütung hin zu einer Betrachtung der Entgeltbestandteile hat bei den Gerichten für Arbeitssachen und im Schrifttum nicht uneingeschränkt Zustimmung gefunden (dem Zehnten Senat zustimmend LAG Nürnberg 18. Februar 2020 – 7 Sa 202/19 – zu II 2 (2) c der Gründe; Hessisches LAG 19. Dezember 2019 – 5 Sa 435/19 – zu B II 2 a bb (1) der Gründe; 22. Mai 2019 – 6 Sa 393/18 -; BeckOK ArbR/Bayreuther Stand 1. September 2020 TzBfG § 4 Rn. 14; ErfK/Preis 20. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 32; HWK/Schmalenberg 9. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 9; Baumgarten PersR 2019, 36, 38; Reinhardt-Kasperek DB 2019, 1456; kritisch Fink ArbRB 2019, 218, 219; Thüsing/Mathy SR 2019, 292, 298; vgl. auch Bayreuther NZA 2019, 1684, 1685). Zwei Kammern des Landesarbeitsgerichts Nürnberg haben auf die Entscheidung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Helmig ua. Bezug genommen und ausgeführt, dass die Gesamtvergütung zu betrachten sei (vgl. EuGH 15. Dezember 1994 – C-399/92 ua. – [Helmig ua.]). Sie haben angenommen, dass sich aus der Entscheidung in der Rechtssache Elsner-Lakeberg nichts Abweichendes ergebe (vgl. EuGH 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg]). Ferner sei nicht ersichtlich, dass sich der Gerichtshof in der Rechtssache Voß von seiner Rechtsprechung in den Rechtssachen Helmig ua. gelöst habe (vgl. EuGH 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß]). Zudem habe der Rechtssache Voß eine besondere Konstellation zugrunde gelegen (LAG Nürnberg 13. Juni 2019 – 3 Sa 348/18 – zu B I 3 b der Gründe; 30. April 2019 – 7 Sa 346/18 – zu B I 3 b der Gründe; vgl. auch Rambach ZTR 2019, 195, 198 ff.). Das Schrifttum nimmt aufgrund dessen an, es sei weiterhin fraglich, ob eine Bestimmung, die die Vergütung von Mehrarbeit an die für einen Vollzeitbeschäftigten geltende Arbeitszeit knüpfe, eine Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten beinhalte (Günther in Sponer/Steinherr TVöD/TV-L Gesamtausgabe Stand 1. März 2020 § 7 TVöD Rn. 105.2; vgl. auch Bayer GWR 2019, 200).
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E. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erläuterung der Vorlagefragen
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I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
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1. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf weitere Vergütung ergibt sich nicht aufgrund der anwendbaren tariflichen Bestimmungen. Sie sehen eine erhöhte Vergütung in Form der Mehrflugdienststundenvergütung erst vor, wenn die einheitlich für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte geltenden Auslösegrenzen überschritten sind. Der Anspruch ist jedoch gegeben, wenn die tariflichen Bestimmungen, die die Vergütung für Mehrflugdienststunden regeln, nicht mit § 4 Abs. 1 TzBfG vereinbar sind. Das wäre der Fall, wenn in den für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte einheitlich geltenden Auslösegrenzen eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten läge, für die keine sachlichen Gründe angeführt werden könnten. Der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG führte dazu, dass die diskriminierende Regelung nach § 134 BGB nichtig wäre. Die Diskriminierung für die Vergangenheit könnte allein durch eine „Anpassung nach oben“ beseitigt werden, weil die begünstigende Regelung das einzig gültige Bezugssystem bliebe (vgl. EuGH 14. März 2018 – C-482/16 – [Stollwitzer] Rn. 30; 28. Januar 2015 – C-417/13 – [Starjakob] Rn. 46 f. mwN; Schmidt RdA 2020, 269, 270 mwN). Eine „Anpassung nach unten“ scheidet aus. An den Kläger wäre die ihm zu Unrecht vorenthaltene Mehrflugdienststundenvergütung in dem Umfang zu leisten, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspräche (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 39; 27. April 2017 – 6 AZR 119/16 – Rn. 44 ff., BAGE 159, 92).
40
2. Der Senat muss daher zunächst prüfen, ob die tariflichen Bestimmungen über die Mehrflugdienststundenvergütung dazu führen, dass Teilzeitbeschäftigte gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten schlechter iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG behandelt werden.
41
3. Ob auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts iSv. § 3 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gegeben ist, weil sich die zu beurteilenden Tarifnormen auf einen signifikant höheren Anteil von Personen eines Geschlechts im Vergleich zu Personen des anderen Geschlechts ungünstig auswirken, hat der Senat nicht zu beurteilen (vgl. zu dieser Frage EuGH 3. Oktober 2019 – C-274/18 – [Schuch-Ghannadan] Rn. 45 mwN; BVerfG 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 68 f., BVerfGE 153, 358; BAG 3. Juni 2020 – 3 AZR 480/18 – Rn. 69). Das Landesarbeitsgericht hat keine entsprechenden Feststellungen getroffen.
42
4. Nimmt der Senat eine schlechtere Behandlung iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG hinsichtlich des Entgelts an, muss er im Folgenden prüfen, ob diese unterschiedliche Behandlung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist, die es erlauben, vom Pro-rata-temporis-Grundsatz abzuweichen.
43
5. Für das Verständnis von § 4 Abs. 1 TzBfG ist das Unionsrecht maßgeblich.
44
a) Mit § 4 Abs. 1 TzBfG wurden § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung umgesetzt. Daher ist für die Auslegung von § 4 Abs. 1 TzBfG die für das Unionsrecht ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen. Das gilt auch mit Blick darauf, dass die zu beurteilenden Vorschriften in Tarifverträgen enthalten sind. Das in Art. 28 der Charta gewährleistete Recht auf Kollektivverhandlungen muss im Geltungsbereich des Unionsrechts im Einklang mit ihm ausgeübt werden. Wenn die nationalen Sozialpartner Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich der von den Sozialpartnern auf Unionsebene geschlossenen Rahmenvereinbarung fallen, müssen sie die Rahmenvereinbarung beachten (EuGH 19. September 2018 – C-312/17 – [Bedi] Rn. 69 f.; BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 31 mwN).
45
b) Unionsrecht muss nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die Europäische Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV keine Kompetenz für die Regelung des Arbeitsentgelts hat. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Sie bezieht sich auf Maßnahmen, mit denen das Unionsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb der Union eingriffe, wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines Mindestlohns. Sie lässt sich jedoch nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehenden Fragen erstrecken. Sonst würden einige in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführte Bereiche eines großen Teils ihrer Substanz beraubt (EuGH 19. Juni 2014 – C-501/12 ua. – [Specht ua.] Rn. 33 mwN). Art. 153 Abs. 5 AEUV steht deswegen einem Verständnis von § 4 der Rahmenvereinbarung nicht entgegen, wonach dieser Paragraf die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung zugunsten Teilzeitbeschäftigter auch für das Arbeitsentgelt zu gewährleisten und dabei, wo dies angemessen ist, den Pro-rata-temporis-Grundsatz zu beachten (EuGH 10. Juni 2010 – C-395/08 ua. – [Bruno ua.] Rn. 38).
46
c) Aus Sicht des Senats nicht entscheidungserheblich sind die Regelungen in der Verordnung (EG) Nr. 859/2008 der Kommission vom 20. August 2008 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates in Bezug auf gemeinsame technische Vorschriften und Verwaltungsverfahren für den gewerblichen Luftverkehr mit Flächenflugzeugen (ABl. EU L 254 vom 20. September 2008 S. 1). Diese unionsrechtlichen Bestimmungen gestalten ua. die Arbeitszeit des Bordpersonals aus, indem sie Höchstgrenzen für Dienst-, Flugdienst- und Blockzeiten bestimmen (vgl. BAG 14. Januar 2014 – 1 ABR 66/12 – Rn. 32 f., BAGE 147, 113). Sie treffen jedoch keine Aussage über die Teilzeitarbeit des Bordpersonals.
47
II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage
48
Die erste Vorlagefrage betrifft die Auslegung von § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung mit Blick darauf, nach welcher Methodik zu ermitteln ist, ob eine nationale Vorschrift zu einer schlechteren Behandlung von Teilzeitbeschäftigten iSv. § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung hinsichtlich des Entgelts führt.
49
1. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG dürfen Teilzeitbeschäftigte wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte, es sei denn, sachliche Gründe rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. Teilzeitbeschäftigten ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil der Arbeitszeit an der Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht. Die Norm des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG konkretisiert das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG für den Bereich des Entgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung. Auch tarifliche Regelungen müssen mit § 4 TzBfG vereinbar sein. Die in dieser Vorschrift geregelten Diskriminierungsverbote stehen nach § 22 TzBfG nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien (st. Rspr., zB BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 47 mwN, BAGE 165, 1). Teilzeitbeschäftigte werden wegen der Teilzeitarbeit ungleichbehandelt, wenn die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft (BAG 29. Januar 2020 – 4 ABR 26/19 – Rn. 30; 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 48 mwN, aaO).
50
2. Der Kläger als Flugzeugführer in Teilzeit ist mit den in Vollzeit beschäftigten Piloten vergleichbar. Vergleichsgruppe iSv. § 4 Abs. 1 TzBfG sind für den Kläger die mit der tariflichen Vollzeit beschäftigten Flugzeugführer (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 28).
51
a) Vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer iSd. § 4 Abs. 1 TzBfG sind nach § 2 Abs. 1 Satz 3 TzBfG Arbeitnehmer „mit derselben Art des Arbeitsverhältnisses und der gleichen oder einer ähnlichen Tätigkeit“. Auch die in § 3 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung genannten Kriterien, die den „vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten“ definieren, stellen auf die inhaltliche Tätigkeit der betroffenen Personen ab (EuGH 1. März 2012 – C-393/10 – [O´Brien] Rn. 61; vgl. auch 28. Februar 2013 – C-427/11 – [Kenny ua.] Rn. 27). Maßgeblich ist vor allem die Vergleichbarkeit der Tätigkeit. Diese funktionale Sichtweise ist allerdings dann nicht maßgeblich, wenn es für die Leistungserbringung nicht auf die Tätigkeit, sondern auf andere Faktoren – etwa die Betriebszugehörigkeit – ankommt. Entscheidend für die Vergleichbarkeit ist dann, nach welchen Kriterien die Bestimmungen die Gruppenbildung vorgenommen haben oder an welche Gesichtspunkte sie für die Erbringung der Leistung anknüpfen (vgl. BAG 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 27 mwN; EUArbRK/Kietaibl 3. Aufl. Richtlinie 97/81/EG Anhang § 3 Rn. 8, § 4 Rn. 12).
52
b) Die Mehrflugdienststundenvergütung ist von der Beklagten nach den tariflichen Bestimmungen für eine bestimmte Zahl geleisteter Flugdienststunden zu erbringen. Die Tarifnormen stellen für die zu leistende zusätzliche Vergütung auf eine bestimmte Form der Arbeitsleistung ab und machen sie allein davon abhängig, ob die relevante Tätigkeit in einem bestimmten Umfang verrichtet wird. Alle Arbeitnehmer, die dem Cockpitpersonal zuzurechnen sind und Flugdienststunden erbringen, werden von den Tarifnormen in gleicher Weise erfasst. Sie üben vergleichbare Tätigkeiten aus. Die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich wie im Fall des Klägers nur durch die kürzere Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten in Form zusätzlicher freier Tage. Etwas anderes ergibt sich auch nicht, wenn der Zweck der Mehrflugdienststundenvergütung darin liegt, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen. Bei dieser Betrachtung wird zwischen stärker und weniger stark belasteten Arbeitnehmern im Cockpit unterschieden. Für eine Vergleichbarkeit ist schon nicht erforderlich, dass die gesamten Arbeitsbedingungen identisch sind (ErfK/Preis 20. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 26). Jedenfalls ist die möglicherweise geringere Belastung eines Teilzeitbeschäftigten regelmäßig nur die Folge seiner kürzeren Arbeitszeit. Die fehlende Vergleichbarkeit von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten kann damit nicht begründet werden. Sonst „liefe“ der Diskriminierungsschutz von Teilzeitbeschäftigten „leer“.
53
3. Für die Entscheidung über die Revision kommt es darauf an, ob der teilzeitbeschäftigte Kläger hinsichtlich der Mehrflugdienststundenvergütung schlechter behandelt wird als Flugzeugführer, die in Vollzeit arbeiten. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV anzurufen. Die Entscheidung hängt davon ab, wie § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung auszulegen ist. Es kommt darauf an, nach welcher Methodik zu prüfen ist, ob Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts ungleichbehandelt werden.
54
a) Im Urteil vom 19. Dezember 2018 hat der vorlegende Senat die einzelnen Entgeltbestandteile gesondert betrachtet (BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 51 ff., BAGE 165, 1). Er hat sich auf die Vorgehensweise des Gerichtshofs in den Entscheidungen über die Rechtssachen Voß und Elsner-Lakeberg bezogen (EuGH 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß]; 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg]). Nach dieser Methodik ist eine Ungleichbehandlung anzunehmen. Sie ergibt sich daraus, dass teilzeitbeschäftigte Flugzeugführer erst dann in den Genuss der erhöhten Vergütung kommen, wenn sie Flugdienststunden zwischen ihrer individuellen, entsprechend ihrem Teilzeitfaktor abgesenkten ersten Auslösegrenze und den festen Auslösegrenzen ohne erhöhte Vergütung geleistet haben. Bei isolierter Betrachtung des Entgeltbestandteils der Mehrflugdienststundenvergütung erhält ein Teilzeitbeschäftigter das erhöhte Entgelt in Form der Mehrflugdienststundenvergütung nicht für die erste Stunde, mit der die individuelle erste Auslösegrenze überschritten wird, sondern erst dann, wenn die für Vollzeitbeschäftigte geltende Schwelle überschritten wird. Das gilt entsprechend für die zweite und dritte Stufe der Auslösegrenzen. Für Teilzeitbeschäftigte würde die Schwelle, von der an ein Anspruch entsteht, nicht proportional zu ihrer individuellen Arbeitszeit abgesenkt. Dadurch käme es für Teilzeitbeschäftigte zu nachteiligen Auswirkungen auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung und damit zu einer unmittelbaren Ungleichbehandlung (vgl. BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 50 mwN, aaO).
55
b) Ist für die Prüfung einer Ungleichbehandlung dagegen auf die Gesamtvergütung abzustellen, wie der Gerichtshof in den Rechtssachen Helmig ua. angenommen hat, scheidet eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten aus (vgl. EuGH 15. Dezember 1994 – C-399/92 ua. – [Helmig ua.] Rn. 26 ff.). Flugzeugführer in Teilzeit und in Vollzeit erhalten dann für Arbeitszeiten, die über den individuellen Auslösegrenzen des Teilzeitbeschäftigten liegen, die gleiche Vergütung.
56
c) Die aufgeworfene Frage erfordert eine Klärung durch den Gerichtshof.
57
aa) In seinem Urteil vom 19. Dezember 2018 hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts angenommen, dass sich die Rechtsfrage, welche Methodik für die Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts benachteiligt werden, anzuwenden ist, spätestens seit der Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2007 (- C-300/06 – [Voß]) nicht mehr stelle. Schon die Entscheidung vom 27. Mai 2004 (- C-285/02 – [Elsner-Lakeberg]) habe eine Zäsur im Verständnis der Vergleichsmethoden markiert. Spätestens nachdem der Gerichtshof in der Entscheidung vom 6. Dezember 2007 wiederholt hatte, dass für die Prüfung einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten die Vergütungsbestandteile zu untersuchen seien, sei die Rechtsfrage aus Sicht des Zehnten Senats geklärt gewesen (vgl. BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 62, BAGE 165, 1 mit Bezug auf EuGH 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß] Rn. 36). Der Zehnte Senat ist, ohne dies ausdrücklich auszusprechen, von einer geklärten Rechtslage im Sinn eines sog. acte éclairé ausgegangen. Mit Blick auf die vom Gerichtshof in den Rechtssachen Voß und Elsner-Lakeberg angewandte Methodik, die Vergütungsbestandteile zu untersuchen, bestanden für den Zehnten Senat keine vernünftigen Zweifel, die ein Vorabentscheidungsersuchen erforderlich gemacht hätten.
58
bb) In der Folge der Entscheidung des Zehnten Senats des Bundesarbeitsgerichts wurden in der Rechtsprechung und im Schrifttum die genannten Bedenken an der Methodik, die einzelnen Entgeltbestandteile zu betrachten, geäußert. Daher kann der Senat nicht länger davon ausgehen, dass daran keine vernünftigen Zweifel bestehen. Unabhängig davon, dass er an seiner im Urteil vom 19. Dezember 2018 geäußerten Rechtsauffassung festhält (- 10 AZR 231/18 – Rn. 62, BAGE 165, 1), ist die Annahme einer geklärten Rechtslage nicht mehr gerechtfertigt. Der Senat ersucht den Gerichtshof deshalb nach Art. 267 AEUV, die Rechtsfrage zu beantworten.
59
d) Die Klärung dieser Frage durch den Gerichtshof ist für die Entscheidung über die Revision durch den Senat erheblich.
60
aa) Müsste der Senat auf die Gesamtvergütung abstellen, um beurteilen zu können, ob die tariflichen Bestimmungen den Kläger schlechter als einen Vollzeitbeschäftigten behandeln, hätte die Revision keinen Erfolg. Sie wäre zurückzuweisen.
61
bb) Wäre dagegen der Vergütungsbestandteil der Mehrflugdienststundenvergütung isoliert in den Blick zu nehmen, wäre eine Ungleichbehandlung zu bejahen. Der Senat müsste prüfen, ob sachliche Gründe die unterschiedliche Behandlung rechtfertigten. Dieser Punkt ist Gegenstand der zweiten Vorlagefrage.
62
III. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
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Die zweite Vorlagefrage betrifft die Auslegung von § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung hinsichtlich der sachlichen Gründe, die eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten und ein Abweichen vom Pro-rata-temporis-Grundsatz rechtfertigen.
64
1. Werden Teilzeitbeschäftigte in Bezug auf das Entgelt durch die tariflichen Bestimmungen über die Mehrflugdienststundenvergütung schlechter behandelt, hat der Senat weiter zu prüfen, ob die Ungleichbehandlung durch einen sachlichen Grund iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG gerechtfertigt werden kann. Dabei ist zu untersuchen, ob es der Pro-rata-temporis-Grundsatz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG erforderlich macht, die nach den tariflichen Bestimmungen einheitlich für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte geltenden Auslösegrenzen entsprechend dem Teilzeitfaktor abzusenken, oder ob es der Zweck der Leistung erlaubt, davon abzuweichen.
65
2. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG regelt – entsprechend § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung – kein absolutes Benachteiligungsverbot. Die Vorschrift konkretisiert das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG für den Bereich des Arbeitsentgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung. § 4 Abs. 1 TzBfG verbietet eine Abweichung vom Pro-rata-temporis-Grundsatz zum Nachteil Teilzeitbeschäftigter, wenn dafür kein sachlicher Grund besteht. Allein das unterschiedliche Arbeitspensum berechtigt jedoch nicht dazu, Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte unterschiedlich zu behandeln. Die Rechtfertigungsgründe müssen anderer Art sein. Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren. Eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten kann nur gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt (BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 32; 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 66, BAGE 165, 1; 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55 mwN, BAGE 158, 360).
66
3. Für die Entscheidung über die Revision ist von Bedeutung, ob der in den Tarifverträgen angelegte Zweck eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten und ein Abweichen vom Pro-rata-temporis-Grundsatz an sich rechtfertigen kann. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV anzurufen. Die Entscheidung hängt davon ab, wie § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der Rahmenvereinbarung auszulegen sind. Es kommt darauf an, ob der mit den tariflichen Bestimmungen verfolgte Zweck, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen, allgemein geeignet ist, eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten zu rechtfertigen.
67
a) Die tariflichen Bestimmungen über die Mehrflugdienststundenvergütung dienen dem Zweck, eine besondere Belastung auszugleichen. Das ergibt die Auslegung der Tarifnormen.
68
aa) Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, in Ausübung ihrer grundrechtlich geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Der Zweck ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder durch Auslegung der Tarifnorm – anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen – zu ermitteln (BAG 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 34 mwN, BAGE 165, 1).
69
bb) Der Wortlaut der Tarifnormen über die Mehrflugdienststundenvergütung bestimmt nicht, zu welchem Zweck dieses Entgelt geleistet wird.
70
cc) Die Systematik der Tarifwerke spricht dafür, dass die Tarifvertragsparteien Belastungen ausgleichen wollten.
71
(1) Die Mehrflugdienststundenvergütung fällt nur für eine bestimmte Tätigkeit an. Sie wird lediglich für Flugdienstzeiten iSv. § 8 Abs. 1 MTV Nr. 4 geleistet, die in einem bestimmten Umfang erbracht werden. Sie wird nicht für jegliche Arten von Tätigkeiten gewährt, die nach § 6 Abs. 1 MTV Nr. 4 zu der Arbeitszeit des Cockpitpersonals und damit zu der arbeitsvertraglichen Leistungspflicht dieser Arbeitnehmer gehören. So erhält beispielsweise ein Arbeitnehmer, der nach 105 geleisteten Flugdienststunden auf der Kurzstrecke Büro- und Verwaltungstätigkeiten iSv. § 6 Abs. 1 Buchst. b MTV Nr. 4 erledigt, nach § 4 Abs. 1 VTV Nr. 6 keine Mehrflugdienststundenvergütung. Wäre es den Tarifvertragsparteien darum gegangen, ein Freizeitopfer zu kompensieren, hätten sie für sämtliche in § 6 Abs. 1 MTV Nr. 4 aufgezählten Tätigkeiten eine zeitliche Obergrenze ziehen müssen. Ein Eingriff in den geschützten Freizeitbereich erfolgt unabhängig von der konkret ausgeführten Tätigkeit.
72
(2) Die identische Höhe der Stundensätze der Mehrflugdienststundenvergütung auf der Langstrecke und der Kurzstrecke spricht nicht gegen den bezweckten Belastungsausgleich. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien die Auslösegrenzen für Stunden auf der Langstrecke herabgesetzt. Damit haben sie den besonderen Belastungen im Langstreckenverkehr, zB den längeren Aufenthalten im Ausland, den Nachtflugzeiten und dem sog. Jetlag, im Vergleich zur Kurzstrecke Rechnung getragen. Aus Sicht des Senats ist es nachvollziehbar, dass die Belastungen auf der Langstrecke bereits nach einer kürzeren Arbeitszeit eintreten können als auf der Kurzstrecke.
73
dd) Der Gesamtzusammenhang der Tarifnormen spricht gegen den vom Kläger angenommenen Leistungszweck, Eingriffe in den geschützten Freizeitbereich auszugleichen.
74
(1) Das tarifliche Regelwerk fordert von den Arbeitnehmern eine hohe zeitliche Flexibilität. Eine regelmäßige Wochen- oder Monatsarbeitszeit, auf die sich die Arbeitnehmer einstellen könnten, ist nicht vorgesehen. Geregelt ist lediglich die zulässige Höchstarbeitszeit von 14 Stunden täglich auf der Kurzstrecke (§ 6 Abs. 2 Buchst. a MTV Nr. 4), von 1.000 Flugstunden im Jahr (§ 7 Abs. 2 MTV Nr. 4), von 210 Flugdienststunden innerhalb von 30 aufeinanderfolgenden Tagen und von 1.800 Flugdienststunden in einem Kalenderjahr (§ 8 Abs. 5 MTV Nr. 4) sowie eine „Grundarbeitszeit“ für Mitarbeiter, die an mehr als zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Bodendienst beschäftigt sind (§ 6 Abs. 2 Buchst. b MTV Nr. 4). Vor diesem Hintergrund müssen die Arbeitnehmer davon ausgehen, dass sie von der Arbeitgeberin bis zur Grenze des arbeitszeitrechtlich Zulässigen zur Arbeitsleistung herangezogen werden können. Daher liegt es nahe, dass der damit verbundene Eingriff in den persönlichen Freizeitbereich bereits durch die Grundvergütung ausgeglichen werden soll.
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(2) Das in § 6 Abs. 4 MTV Nr. 4 geregelte Gebot der gleichmäßigen Belastung spricht für den Zweck des Belastungsausgleichs. Danach sollen die Mitarbeiter bei der Gestaltung der Dienstpläne so eingeplant und eingeteilt werden, dass eine möglichst gleichmäßige Belastung aller Mitarbeiter gewährleistet wird. Schon nach dem Wortlaut ist der Schutz vor Belastung, nicht der Freizeitschutz bezweckt.
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(3) § 4 Abs. 5 VTV Nr. 6 hindert nicht, den Zweck der Mehrflugdienststundenvergütung in einem Belastungsausgleich zu sehen. Nach dieser Regelung sind bei der monatlichen Berechnung des Anspruchs auf Mehrflugdienststundenvergütung jeweils 3,5 zusätzliche Flugdienststunden für jeden vollen Kalendertag anzurechnen, der aufgrund Urlaubs oder wegen einer angeordneten Schulung ausfällt, höchstens jedoch 98 Flugdienststunden pro Monat. Tatsächlich nicht geleistete Flugdienststunden belasten den Arbeitnehmer nicht und müssten deshalb nicht ausgeglichen werden. In der Tarifnorm kommt jedoch das weitere Ziel zum Ausdruck, den Arbeitnehmer nicht davon abzuhalten, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen und ihn zu einer aufgeschlossenen Teilnahme an den angeordneten Schulungen zu bewegen (vgl. zu dem möglichen Anreiz, Urlaub nicht in Anspruch zu nehmen, EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 41 f. mwN; BAG 17. Juni 2020 – 10 AZR 210/19 (A) -, vor dem Gerichtshof anhängig unter dem Aktenzeichen – C-514/20 – [Koch Personaldienstleistungen]; zu der Anrechnung von Urlaubszeiten auf die Mehrflugdienststundenvergütung BAG 7. Dezember 2005 – 5 AZR 228/05 – Rn. 29).
77
b) Aus Sicht des vorlegenden Senats ist offen, ob der mit der Tarifnorm verfolgte Zweck, Arbeitsbelastungen auszugleichen, die schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten rechtfertigen kann. Die Rechtslage erscheint weder von vornherein eindeutig – „acte clair“ – noch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel zulässt – „acte éclairé“ – (vgl. EuGH 9. September 2015 – C-72/14 ua. – [van Dijk] Rn. 52 ff.; 9. September 2015 – C-160/14 – [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 38 ff.; BVerfG 30. Juli 2019 – 2 BvR 1685/14 ua. – Rn. 315, BVerfGE 151, 202; BAG 17. Juni 2020 – 10 AZR 210/19 (A) – Rn. 38).
78
aa) Der Senat entnimmt der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass nur objektive Gründe in Betracht kommen, eine Ungleichbehandlung iSv. § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung zu rechtfertigen. Dieser Begriff ist so zu verstehen, dass die in Rede stehende Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entsprechen sowie geeignet und erforderlich sein muss, um das verfolgte Ziel zu erreichen (EuGH 1. März 2012 – C-393/10 – [O’Brien] Rn. 64; vgl. auch EUArbRK/Kietaibl 3. Aufl. Richtlinie 97/81/EG Anhang § 4 Rn. 21). Die hier erhebliche Frage, ob ein bestimmter Schwellenwert, von dem eine Leistung abhängt, aus Gründen des Belastungsausgleichs gerechtfertigt werden kann, wird im Schrifttum überwiegend bejaht (Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath/Ahrendt/Tillmanns ArbR 4. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 28; BeckOK ArbR/Bayreuther Stand 1. September 2020 TzBfG § 4 Rn. 34; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 35; ErfK/Preis 20. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 44; Fink ArbRB 2019, 218, 220; Thüsing/Mathy SR 2019, 292, 299 f.). Gegen eine Rechtfertigung könnte sprechen, dass eine einheitliche Belastungsgrenze mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes den unterschiedlichen Vertragsgestaltungen von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zuwiderläuft. Belastungsgrenzen könnten individuell bereits dann überschritten sein, wenn Arbeitnehmer mehr Arbeit leisten, als sie vertraglich vereinbart haben (vgl. Schüren jurisPR-ArbR 37/2017 Anm. 1 zu C mwN; ders. Anm. AP TVG § 1 Tarifverträge: Nährmittelindustrie Nr. 1 zu II). Der Senat kann daher nicht von einer geklärten Rechtslage ausgehen, an der keine vernünftigen Zweifel bestehen.
79
bb) Die Rechtsfrage kann aus Sicht des Senats nicht deshalb als geklärt angesehen werden, weil der Gerichtshof mehrfach darauf hingewiesen hat, es sei Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob objektive Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigten (EuGH 1. März 2012 – C-393/10 – [O’Brien] Rn. 67; 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß] Rn. 43; 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg] Rn. 18). Das betraf jeweils die Beurteilung, ob im konkreten Fall überhaupt ein Rechtfertigungsgrund angeführt wurde und ob ein genannter Grund einer Prüfung am anzulegenden Rechtfertigungsmaßstab standhielte. Die Hinweise bezogen sich nach Auffassung des Senats nicht auf die Frage, ob ein Sachverhalt an sich geeignet ist, eine Ungleichbehandlung Teilzeitbeschäftigter zu rechtfertigen. Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass ein bestimmter Grund – Haushaltserwägungen – von vornherein nicht als Rechtfertigungsgrund infrage kommt (EuGH 1. März 2012 – C-393/10 – [O’Brien] Rn. 66).
80
c) Die Entscheidung über die Revision hängt von der Beantwortung der zweiten Vorlagefrage ab.
81
aa) Kann der Ausgleich von Arbeitsbelastungen nicht herangezogen werden, um eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten zu rechtfertigen, hätte die Revision Erfolg. Die Sache wäre an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das Landesarbeitsgericht müsste Tatsachen feststellen, aus denen sich ergibt, in welchem konkreten Umfang der Kläger Flugdienststunden geleistet hat, die über den individuellen, entsprechend seinem Teilzeitfaktor abgesenkten Auslösegrenzen liegen.
82
bb) Läge im Ausgleich von Belastungen ein an sich geeigneter Grund, um eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten zu rechtfertigen, müsste der Senat im Einzelnen prüfen, ob die konkrete Ausgestaltung des Belastungsausgleichs mit den gewählten Grenzen einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dient sowie geeignet und erforderlich ist, um dieses Ziel zu erreichen. Wäre dies der Fall, hätte die Revision keinen Erfolg und wäre zurückzuweisen.
83
F. Die Entscheidung über die Aussetzung des Rechtsstreits beruht auf § 148 ZPO analog.
Gallner
Brune
Pessinger
R. Bicknase
Simon |
bag_42-18 | 06.09.2018 | 06.09.2018
42/18 - Stufenzuordnung im TVöD (VKA) unter Berücksichtigung früherer befristeter Arbeitsverhältnisse
Bei der Stufenzuordnung nach Begründung eines Arbeitsverhältnisses, auf das der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) in der für die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) geltenden Fassung anzuwenden ist, sind Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus vorherigen befristeten Arbeitsverhältnissen mit demselben Arbeitgeber zu berücksichtigen, wenn die Wiedereinstellung für eine gleichwertige oder gleichartige Tätigkeit erfolgt („horizontale“ Wiedereinstellung) und es zu keiner längeren als einer sechsmonatigen rechtlichen Unterbrechung zwischen den Arbeitsverhältnissen gekommen ist.
Die Klägerin war im Zeitraum vom 5. August 1996 bis 31. Juli 2008 mit kurzen Unterbrechungen aufgrund mehrerer befristeter Arbeitsverhältnisse bei der beklagten Stadt als Erzieherin in einer Kindertagesstätte beschäftigt. Als solche ist die Klägerin auch in dem seit dem 4. August 2008 bestehenden, unbefristeten Arbeitsverhältnis mit der Beklagten tätig. Kraft einzelvertraglicher Bezugnahme ist der TVöD in der im Bereich der VKA jeweils geltenden Fassung anzuwenden. Die nach ihrer Wiedereinstellung zum 4. August 2008 nach § 16 TVöD (VKA) vorzunehmende Stufenzuordnung erfolgte ohne vollständige Berücksichtigung der in den vorangegangenen Arbeitsverhältnissen mit der Beklagten erworbenen einschlägigen Berufserfahrung. Das hält die Klägerin für fehlerhaft. Sie meint, sie sei ab dem 1. März 2015 der Stufe 6 ihrer Entgeltgruppe zuzuordnen und entsprechend zu vergüten.
Das Arbeitsgericht hat dem entsprechenden Feststellungsantrag stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht unter teilweiser Abänderung des arbeitsgerichtlichen Urteils der Klägerin ab 1. März 2015 die Stufe 4 zugebilligt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die auf die Wieder-herstellung des Urteils des Arbeitsgerichts gerichtete Revision der Klägerin hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Begründung des Arbeitsverhältnisses am 4. August 2008 ist eine Einstellung iSd. § 16 TVöD (VKA). Bei der nach der Einstellung vorzunehmenden Zuordnung der Klägerin zu einer Stufe ihrer Entgeltgruppe waren unter Berücksichtigung des Benachteiligungs-verbots des § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG alle Zeiten einschlägiger Berufserfahrung als Erzieherin aus den vorherigen befristeten Arbeitsverhältnissen mit der Beklagten zu berücksichtigen. Dem stehen die rechtlichen Unterbrechungen zwischen den einzelnen Befristungen nicht entgegen. Solche sind jedenfalls dann unschädlich, wenn sie wie im Fall der Klägerin jeweils nicht länger als sechs Monate dauern. Diese war daher bei ihrer Einstellung im August 2008 bereits der Stufe 5 ihrer Entgeltgruppe zuzuordnen. Im März 2015 war sie daraus in die begehrte Stufe 6 aufgestiegen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 6. September 2018 – 6 AZR 836/16 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 7. Juli 2016 – 8 Sa 334/16 – | Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 7. Juli 2016 – 8 Sa 334/16 – teilweise aufgehoben.
2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Detmold vom 24. Februar 2016 – 2 Ca 794/15 – wird insgesamt zurückgewiesen.
3. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Leitsatz
Bei der Stufenzuordnung nach Begründung eines Arbeitsverhältnisses, auf das der TVöD (VKA) anzuwenden ist, sind Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus vorherigen befristeten Arbeitsverhältnissen mit demselben Arbeitgeber jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn es jeweils zu keiner längeren als einer sechsmonatigen rechtlichen Unterbrechung zwischen den Arbeitsverhältnissen gekommen ist. § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B ist teilnichtig, soweit er eine uneingeschränkte Anrechnung derart erworbener einschlägiger Berufserfahrung ausschließt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die tarifliche Stufenzuordnung der Klägerin.
2
Die Klägerin war in der Zeit vom 5. August 1996 bis 31. August 2004, 13. Januar 2005 bis 16. Februar 2005, 15. August 2005 bis 31. August 2007 und vom 1. Oktober 2007 bis 31. Juli 2008 befristet als Erzieherin in einer Kindertagesstätte der Beklagten tätig. Seit dem 4. August 2008 ist die Klägerin in einem zwischenzeitlich entfristeten Arbeitsverhältnis bei der Beklagten wiederum als Erzieherin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung die Durchgeschriebene Fassung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) für den Dienstleistungsbereich Pflege- und Betreuungseinrichtungen im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD-B) in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. Der TVöD-B in der am 4. August 2008 geltenden Fassung lautete auszugsweise wie folgt:
„§ 12
Eingruppierung
[Derzeit nicht belegt, wird im Zusammenhang mit der Entgeltordnung geregelt.]
…
§ 15
Tabellenentgelt
(1)
1Die/Der Beschäftigte erhält monatlich ein Tabellenentgelt. 2Die Höhe bestimmt sich nach der Entgeltgruppe, in die sie/er eingruppiert ist, und nach der für sie/ihn geltenden Stufe.
…
§ 16
Stufen der Entgelttabelle
(1)
1Die Entgeltgruppen 2 bis 15 umfassen sechs Stufen. 2Die Abweichungen von Satz 1 sind im Anhang zu § 16 geregelt.
(2)
1Bei Einstellung werden die Beschäftigten der Stufe 1 zugeordnet, sofern keine einschlägige Berufserfahrung vorliegt. 2Verfügt die/der Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr, erfolgt die Einstellung in die Stufe 2; verfügt sie/er über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens drei Jahren, erfolgt bei Einstellung nach dem 31. Dezember 2008 in der Regel eine Zuordnung zur Stufe 3. …
(2a)
…
(3)
1Die Beschäftigten erreichen – von Stufe 3 an die jeweils nächste Stufe in Abhängigkeit von ihrer Leistung gemäß § 17 Abs. 2 – nach folgenden Zeiten einer ununterbrochenen Tätigkeit innerhalb derselben Entgeltgruppe bei ihrem Arbeitgeber (Stufenlaufzeit):
–
Stufe 2 nach einem Jahr in Stufe 1,
–
Stufe 3 nach zwei Jahren in Stufe 2,
–
Stufe 4 nach drei Jahren in Stufe 3,
–
Stufe 5 nach vier Jahren in Stufe 4 und
–
Stufe 6 nach fünf Jahren in Stufe 5.
…
§ 17
Allgemeine Regelungen zu den Stufen
(1)
…
(2)
1Bei Leistungen der/des Beschäftigten, die erheblich über dem Durchschnitt liegen, kann die erforderliche Zeit für das Erreichen der Stufen 4 bis 6 jeweils verkürzt werden. 2Bei Leistungen, die erheblich unter dem Durchschnitt liegen, kann die erforderliche Zeit für das Erreichen der Stufen 4 bis 6 jeweils verlängert werden. …
Protokollerklärung zu Absatz 2:
… 2Leistungsbezogene Stufenaufstiege unterstützen insbesondere die Anliegen der Personalentwicklung.
…
(3)
1Den Zeiten einer ununterbrochenen Tätigkeit im Sinne des § 16 Abs. 3 Satz 1 stehen gleich:
…
e)
Zeiten einer sonstigen Unterbrechung von weniger als einem Monat im Kalenderjahr,
…“
3
Die Überleitung in die ab 1. November 2009 geltenden neuen S-Entgeltgruppen und -stufen regelt § 28a Abs. 1 und Abs. 2 TVÜ-VKA wie folgt:
„(1)
1Die unter den Anhang zu der Anlage C (VKA) zum TVöD fallenden Beschäftigten (§ 1 Abs. 1 und 2) werden am 1. November 2009 in die Entgeltgruppe, in der sie nach dem Anhang zu der Anlage C (VKA) zum TVöD eingruppiert sind, übergeleitet. 2Die Stufenzuordnung in der neuen Entgeltgruppe bestimmt sich nach Absatz 2, das der/dem Beschäftigten in der neuen Entgeltgruppe und Stufe zustehende Entgelt nach den Absätzen 3 und 4. 3Die Absätze 5 bis 10 bleiben unberührt.
(2)
1Die Beschäftigten werden wie folgt einer Stufe und innerhalb dieser Stufe dem Jahr der Stufenlaufzeit ihrer Entgeltgruppe, in der sie gemäß dem Anhang zu der Anlage C (VKA) zum TVöD eingruppiert sind, zugeordnet:
bisherige Stufe und Jahr innerhalb der Stufe
neue Stufe und Jahr
…
2/1
2/1
2/2
2/2
…
5/1
4/3
5/2
4/4
5/3
5/1
5/4
5/2
5/5
5/3
…“
4
Mit Inkrafttreten der Eingruppierungsvorschriften des TVöD für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst zum 1. November 2009 ordnete die Beklagte die Klägerin der Entgeltgruppe S 6 Stufe 2 zu und zahlte ihr ab 1. August 2011 ein Entgelt aus der Stufe 3 und ab 1. August 2015 aus der Stufe 4.
5
§ 12.2 TVöD-B in der ab 1. Januar 2010 geltenden Fassung, der § 52 TVöD – Besonderer Teil Pflege- und Betreuungseinrichtungen (BT-B) entspricht, lautet wie folgt:
„§ 12.2
Eingruppierung und Entgelt der Beschäftigten
im Sozial- und Erziehungsdienst
(1)
1Bis zum Inkrafttreten der Eingruppierungsvorschriften einschließlich Entgeltordnung richtet sich die Eingruppierung der Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst nach den Merkmalen des Anhangs zur Anlage C. 2Sie erhalten abweichend von § 15 Abs. 2 Entgelt nach der Anlage C.
(2)
Anstelle des § 16 gilt Folgendes:
1Die Entgeltgruppen S 2 bis S 18 umfassen sechs Stufen. 2Bei Einstellung werden die Beschäftigten der Stufe 1 zugeordnet, sofern keine einschlägige Berufserfahrung vorliegt. 3Verfügt die/der Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr, erfolgt die Einstellung in die Stufe 2; verfügt sie/er über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens vier Jahren, erfolgt in der Regel eine Zuordnung zur Stufe 3. … 6Die Beschäftigten erreichen die jeweils nächste Stufe – von Stufe 3 an in Abhängigkeit von ihrer Leistung gemäß § 17 Abs. 2 – nach folgenden Zeiten einer ununterbrochenen Tätigkeit innerhalb derselben Entgeltgruppe bei ihrem Arbeitgeber (Stufenlaufzeit):
–
Stufe 2 nach einem Jahr in Stufe 1,
–
Stufe 3 nach drei Jahren in Stufe 2,
–
Stufe 4 nach vier Jahren in Stufe 3,
–
Stufe 5 nach vier Jahren in Stufe 4 und
–
Stufe 6 nach fünf Jahren in Stufe 5.
…“
6
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die nur eingeschränkte Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrungszeiten aus vorherigen Arbeitsverhältnissen verstoße gegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG. § 16 Abs. 2 TVöD-B sei deswegen teilnichtig. Aufgrund der in den befristeten Arbeitsverhältnissen seit dem 5. August 1996 erworbenen Beschäftigungszeiten stehe ihr ab 1. März 2015 eine Vergütung nach der Stufe 6 zu.
7
Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an sie ab dem 1. März 2015 eine Vergütung nach der Vergütungsgruppe S 6 TVöD Stufe 6 zu zahlen.
8
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat gemeint, die in den befristeten Arbeitsverhältnissen zurückgelegten Zeiten seien für die Stufenzuordnung nicht zu berücksichtigen, weil zwischen den Arbeitsverhältnissen rechtlich relevante Unterbrechungen lägen.
9
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils der Klägerin ab 1. März 2015 lediglich die Stufe 4 zugebilligt. Es hat den mehr als einmonatigen Unterbrechungszeitraum vom 17. Februar 2005 bis 14. August 2005 nach § 17 Abs. 3 Satz 1 Buchst. e TVöD als schädlich angesehen und deshalb nur die seit dem 15. August 2005 erworbenen Berufserfahrungszeiten der Stufenzuordnung in dem am 4. August 2008 begründeten Arbeitsverhältnis zugrunde gelegt. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
10
Die Revision ist begründet. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts war daher aufzuheben, soweit es auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und die Klage teilweise abgewiesen hat. Die Berufung der Beklagten ist insgesamt zurückzuweisen. Das führt zur Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
11
I. Die Revision ist zulässig. Zu ihrer ordnungsgemäßen Begründung müssen gemäß § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO die Revisionsgründe angegeben werden. Die Revisionsbegründung muss die Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs erkennbar sind. Daher muss die Revisionsbegründung eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen des angefochtenen Urteils enthalten (BAG 17. November 2016 – 6 AZR 620/15 – Rn. 17). Diesen Anforderungen wird die Revision noch gerecht. Sie rügt, das Landesarbeitsgericht sei rechtsfehlerhaft von einer schädlichen Unterbrechung ausgegangen und habe deswegen Berufserfahrungszeiten zu Unrecht nicht berücksichtigt. Die Revision nimmt demgegenüber an, dass aus Gründen des Diskriminierungsschutzes sämtliche Unterbrechungszeiten zwischen vorhergehenden befristeten Arbeitsverhältnissen unschädlich seien. Andernfalls verstoße § 16 Abs. 2 TVöD-B gegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG. Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs werden damit klar. Das genügt für die Zulässigkeit der Revision (vgl. BAG 19. November 2015 – 6 AZR 559/14 – Rn. 13, BAGE 153, 271). Ob die geltend gemachte Rechtsverletzung tatsächlich vorliegt, ist erst für die Begründetheit der Revision von Bedeutung.
12
II. Die Revision hat Erfolg. Die als allgemein übliches Stufenfeststellungsbegehren zulässige Klage (vgl. zuletzt BAG 16. Mai 2018 – 4 AZR 274/16 – Rn. 10 mwN; 16. April 2015 – 6 AZR 352/14 – Rn. 22 mwN) ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin ab dem 1. März 2015 eine Vergütung nach der Stufe 6 der Entgeltgruppe S 6 TVöD-B zu zahlen. Die in den früheren befristeten Arbeitsverhältnissen mit der Beklagten erworbenen Zeiten einschlägiger Berufserfahrung von elf Jahren und 17 Tagen waren gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B bei der Stufenzuordnung zu berücksichtigen. Die Klägerin war bei ihrer Einstellung am 4. August 2008 darum der Stufe 5 ihrer Entgeltgruppe zuzuordnen. Daraus war sie gemäß § 28a Abs. 2 Satz 1 TVÜ-VKA zum 1. November 2009 in die Stufe 5/1 ihrer Entgeltgruppe überzuleiten, aus der sie jedenfalls im März 2015 in die begehrte Stufe 6 aufgestiegen war.
13
1. Für die Stufenzuordnung der Klägerin in dem seit dem 4. August 2008 bestehenden Arbeitsverhältnis ist im Ausgangspunkt § 16 Abs. 2 TVöD-B in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung maßgeblich. Nach Satz 1 dieser Tarifnorm werden die Beschäftigten der Stufe 1 zugeordnet, sofern keine einschlägige Berufserfahrung vorliegt. Verfügt die oder der Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr, erfolgt die Einstellung nach § 16 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 TVöD-B in die Stufe 2.
14
2. Bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses der Parteien zum 4. August 2008 handelte es sich um eine Einstellung iSv. § 16 Abs. 2 TVöD-B. Das frühere Arbeitsverhältnis endete mit dem 31. Juli 2008 aufgrund seiner Befristung. Der Begriff der Einstellung iSv. § 16 Abs. 2 TVöD-B erfasst auch die Wiederbegründung eines Arbeitsverhältnisses nach einer rechtlichen Unterbrechung. Die Tarifvertragsparteien haben nicht zwischen Neueinstellungen und Wiedereinstellungen unterschieden (vgl. für § 16 Abs. 2 TVöD-V BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 11 mwN).
15
3. Die in den befristeten Arbeitsverhältnissen mit der Beklagten seit dem 5. August 1996 erworbene Berufserfahrung von elf Jahren und 17 Tagen ist einschlägig iSd. § 16 Abs. 2 TVöD-B. Die Klägerin war stets als Erzieherin in einer Kindertagesstätte der Beklagten tätig. Auch die Wiedereinstellung am 4. August 2008 erfolgte als Erzieherin in einer Kindertagesstätte und damit für eine gleichartige Tätigkeit (sog. horizontale Wiedereinstellung, vgl. hierzu und zu sog. vertikalen Wiedereinstellungen auf geringer- oder höherwertigen Stellen, die § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG nicht unterfallen: BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 22 mwN; 17. Dezember 2015 – 6 AZR 432/14 – Rn. 24 ff.; zum Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung vgl. BAG 20. September 2012 – 6 AZR 211/11 – Rn. 23). Das wird von keiner der Parteien in Frage gestellt.
16
4. § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B ist insofern teilnichtig, als die darin enthaltene, auf ein bzw. drei Jahre limitierte Anerkennung einschlägiger Berufserfahrung gegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG verstößt (vgl. BAG 24. Oktober 2013 – 6 AZR 964/11 – Rn. 18). Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus vorherigen befristeten Arbeitsverhältnissen mit demselben Arbeitgeber sind im Geltungsbereich des TVöD-B bei einer sog. horizontalen Wiedereinstellung jedenfalls dann uneingeschränkt zu berücksichtigen, wenn es zu keiner längeren als einer sechsmonatigen rechtlichen Unterbrechung zwischen den Arbeitsverhältnissen gekommen ist.
17
a) Nach § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG müssen für befristet beschäftigte Arbeitnehmer dieselben Zeiten wie für unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer berücksichtigt werden, wenn es sich um wiederholte Einstellungen für eine gleichwertige oder gleichartige Tätigkeit handelt. Verrichten Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen identische Aufgaben wie Dauerbeschäftigte, erlangen sie die gleiche Berufserfahrung (BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 22 mwN). Eine Unterscheidung zwischen befristet und unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern ist nur erlaubt, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist. § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG konkretisiert den Grundsatz der Nichtdiskriminierung in § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG und stellt klar, dass ua. bei Entgeltansprüchen, die von zurückzulegenden Beschäftigungszeiten abhängen, für befristet Beschäftigte dieselben Zeiten wie für unbefristet Beschäftigte zu berücksichtigen sind (vgl. BT-Drs. 14/4374 S. 16). Mit § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG wird Paragraf 4 Nr. 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge umgesetzt, die im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist (Rahmenvereinbarung; vgl. BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 22 mwN).
18
b) Die Rahmenvereinbarung, vor allem ihr Paragraf 4, soll verhindern, dass befristete Arbeitsverhältnisse von einem Arbeitgeber benutzt werden, um diesen Arbeitnehmern Rechte vorzuenthalten, die Dauerbeschäftigten zuerkannt werden. Deshalb muss Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung als Ausdruck eines Grundsatzes des Sozialrechts der Union verstanden werden, der nicht restriktiv ausgelegt werden darf (vgl. EuGH 25. Juli 2018 – C-96/17 – [Vernaza Ayovi] Rn. 22 f. mwN). Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. für die st. Rspr. EuGH 25. Juli 2018 – C-96/17 – [Vernaza Ayovi] Rn. 32 mwN). Die in § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B enthaltene, auf ein bzw. drei Jahre limitierte Anerkennung einschlägiger Berufserfahrung benachteiligt befristet Beschäftigte ungerechtfertigt. Eine solche Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte untersagt § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG in Umsetzung von Paragraf 4 Nr. 4 der Rahmenvereinbarung (vgl. für § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-V BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 23; für § 16 Abs. 3 TV-L BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 28, BAGE 144, 263).
19
Dabei sind entgegen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vertretenen Ansicht der Beklagten als Vergleichsgruppe nicht die nach einer Unterbrechung zum gleichen Zeitpunkt wie die Klägerin wieder eingestellten, zuvor in einem unbefristeten und durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag beendeten Arbeitsverhältnis mit der Beklagten beschäftigten Arbeitnehmer heranzuziehen. Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung und § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG als deren nationalrechtliche Umsetzungsnorm untersagen eine unterschiedliche Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten bei befristet Beschäftigten im Vergleich zu Dauerbeschäftigten (vgl. EuGH 20. September 2018 – C-466/17 – [Motter] Rn. 26, 28; 18. Oktober 2012 – C-302/11 bis C-305/11 – [Valenza ua.] Rn. 43). Daher ist Vergleichsgruppe die Gruppe der ohne rechtliche Unterbrechung tätigen Dauerbeschäftigten, nicht diejenige der nach einer rechtlichen Unterbrechung wieder eingestellten, zuvor unbefristet Beschäftigten (BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 29, BAGE 144, 263, auch zur früheren, mit dieser Entscheidung ausdrücklich aufgegebenen Rechtsprechung). Das hat der Gesetzgeber klargestellt, wenn er für befristet Beschäftigte die Anerkennung derselben Zeiten wie für unbefristet Beschäftigte verlangt (BT-Drs. 14/4374 S. 16).
20
c) Befristet und unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer, die identische oder ähnliche Aufgaben versehen, sind nach § 3 Abs. 2 Satz 1 TzBfG vergleichbar. Das gilt auch hinsichtlich ihrer Berufserfahrung (zu diesem Erfordernis zum Beispiel EuGH 14. September 2016 – C-596/14 – [de Diego Porras] Rn. 40 mwN; 13. März 2014 – C-38/13 – [Nierodzik] Rn. 30). Der einzige Unterschied zwischen diesen Arbeitnehmergruppen besteht darin, dass die Rechtsbeziehung mit dem Arbeitgeber im einen Fall befristet, im anderen Fall auf Dauer angelegt ist (vgl. EuGH 18. Oktober 2012 – C-302/11 bis C-305/11 – [Valenza ua.] Rn. 44 ff.; BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 24).
21
d) Für die nur limitierte Berücksichtigung der erworbenen Berufserfahrung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B bei den zuvor befristet beschäftigten Arbeitnehmern gibt es keinen sachlichen Grund (zu den diesbezüglichen Anforderungen vgl.: EuGH 20. September 2018 – C-466/17 – [Motter] Rn. 36 ff. mwN; 25. Juli 2018 – C-96/17 – [Vernaza Ayovi] Rn. 37 ff.; BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 25 ff. mwN; 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 32 f., BAGE 144, 263), der diese unterschiedliche Behandlung rechtfertigte. Zunächst oder ständig befristet Beschäftigte erlitten bei der Stufenzuordnung nur deswegen Nachteile, weil sie ihre Berufserfahrung in einem oder mehreren befristeten Arbeitsverhältnissen erworben hätten. Die bloße Tatsache, dass nach dem nationalen Recht ein neues Arbeitsverhältnis begründet worden ist, kann keinen sachlichen Grund iSv. Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung darstellen (EuGH 18. Oktober 2012 – C-302/11 bis C-305/11 – [Valenza ua.] Rn. 65; BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 27). Der Stufenaufstieg im Entgeltsystem des TVöD-B soll die gewonnene Berufserfahrung honorieren. Die Tarifvertragsparteien sind davon ausgegangen, dass die Beschäftigten durch die Ausübung der ihnen übertragenen Tätigkeit laufend Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die die Arbeitsqualität und Arbeitsquantität verbessern (vgl. für den TV-L BAG 27. März 2014 – 6 AZR 571/12 – Rn. 21, BAGE 148, 1; für den TVöD-AT (VKA) BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 28; 27. Januar 2011 – 6 AZR 526/09 – Rn. 35, BAGE 137, 80). Derselbe Gedanke liegt ersichtlich der Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TVöD-B zugrunde (vgl. BAG 20. September 2012 – 6 AZR 211/11 – Rn. 19, 23). Es spricht jedoch nichts dafür, dass die Tarifvertragsparteien die in befristeten Arbeitsverhältnissen erworbene Berufserfahrung geringer gewichten wollten als die in unbefristeten Arbeitsverhältnissen erworbene. Dem steht schon entgegen, dass die Tarifvertragsparteien bei der Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B nicht zwischen einschlägiger Berufserfahrung aus befristeten und aus unbefristeten Arbeitsverhältnissen unterscheiden. Unabhängig davon gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien den Personenkreis der befristet Beschäftigten entgegen dem Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 2 TzBfG gegenüber unbefristet Beschäftigten zurücksetzen wollten (vgl. für § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-V BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 28; für § 16 Abs. 2 und Abs. 3 TV-L BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 34, BAGE 144, 263).
22
e) Bei Verstößen gegen die Diskriminierungsverbote des § 4 TzBfG sind die leistungsgewährenden Tarifvertragsbestimmungen auf diejenigen Personen zu erstrecken, die entgegen den Diskriminierungsverboten von den tariflichen Leistungen ausgeschlossen wurden. Das gilt jedenfalls so lange, bis die Tarifvertragsparteien selbst eine diskriminierungsfreie Regelung schaffen (BAG 24. Oktober 2013 – 6 AZR 964/11 – Rn. 18; auch zur Möglichkeit der zukunftsgerichteten „Anpassung nach unten“ im Ausnahmefall einer aus mehreren selbständigen Teilregelungen bestehenden Tarifnorm BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 28 ff., BAGE 154, 118 [zu § 6 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 TV UmBw]).
23
aa) Als leistungsgewährende Tarifvertragsbestimmung ist im vorliegenden Fall die Stufenlaufzeitregelung des § 16 Abs. 3 TVöD-B anzusehen. Dies gebieten Sinn und Zweck der Diskriminierungsverbote des § 4 TzBfG. Mit diesen soll eine Gleichbehandlung zwischen befristet Beschäftigten und vergleichbaren Dauerbeschäftigten erreicht werden. Bei Dauerbeschäftigten führt eine ununterbrochene Tätigkeit innerhalb derselben Entgeltgruppe entsprechend der Stufenlaufzeitregelung des § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-B als Ausdruck gesteigerter Berufserfahrung von sechs Jahren oder mehr zu einem Stufenaufstieg in die Stufe 4 und höher. Ist § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B insoweit teilnichtig, als die darin vorgesehene limitierte Anerkennung einschlägiger Berufserfahrung befristet Beschäftigte im Vergleich zu Dauerbeschäftigten ungerechtfertigt benachteiligt, kann die von § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG sowie Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung geforderte Gleichbehandlung nur dergestalt erfolgen, dass die Berücksichtigung der über drei Jahre hinausgehenden einschlägigen Berufserfahrung nach den Vorgaben des § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-B erfolgt. Dies ist in § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B insofern angelegt, als die dort geregelte Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung im Umfang von bis zu drei Jahren der Stufenaufstiegsregelung in § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-B hinsichtlich der Stufen 2 und 3 entspricht.
24
bb) Dem steht entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht die durch § 17 Abs. 2 TVöD-B eröffnete Möglichkeit zu leistungsabhängigen Stufenlaufzeitverkürzungen und -verlängerungen entgegen. Diese soll insbesondere die Anliegen der Personalentwicklung unterstützen (Protokollerklärung zu § 17 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B). Sinn und Zweck der Diskriminierungsverbote des § 4 TzBfG ist demgegenüber eine Gleichbehandlung der befristet Beschäftigten mit vergleichbaren Dauerbeschäftigten. Letztere steigen in den Stufen grundsätzlich nach Ablauf der in § 16 Abs. 3 TVöD-B festgelegten Zeiten auf. Diese tarifliche Stufenlaufzeitregelung bildet in typisierender Weise die nach Vorstellung der Tarifvertragsparteien anzunehmende Entwicklung vergleichbarer Dauerbeschäftigter ab. Deshalb sind befristet Beschäftigte bei ihrer Wiedereinstellung durch denselben Arbeitgeber grundsätzlich der Stufe zuzuordnen, die sich aus der Staffelung in § 16 Abs. 3 TVöD-B ergibt. Die Beklagte hat allerdings in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zutreffend darauf hingewiesen, dass der Arbeitgeber diese Zeiten nach § 17 Abs. 2 TVöD-B im Einzelfall leistungsabhängig verlängern oder verkürzen kann und ihm diese Möglichkeit auch bei der Wiedereinstellung von befristet Beschäftigten offenstehen muss. Dies ist ihm jedoch entgegen der Annahme der Beklagten ungeachtet der Teilnichtigkeit des § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B bei Heranziehung des § 16 Abs. 3 TVöD-B als leistungsgewährende Tarifvertragsbestimmung nicht verwehrt. Vielmehr kann der Arbeitgeber, der die erforderliche Dokumentation schon im befristeten Arbeitsverhältnis vorgenommen hat (zu den diesbezüglichen Anforderungen Fieberg in Fürst GKÖD Bd. IV Stand März 2008 E § 17 Rn. 10 bis 12, 17; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck TVöD Stand Dezember 2017 Teil B 1 § 17 Rn. 20 ff.), dem zuvor bei ihm befristet beschäftigten Arbeitnehmer entgegenhalten, dass ein vergleichbarer Dauerbeschäftigter (noch) nicht der seiner Berufserfahrung entsprechenden Stufe des § 16 Abs. 3 TVöD-B zugeordnet worden wäre. Derartige erhebliche unterdurchschnittliche Leistungen der Klägerin hat die Beklagte jedoch nicht behauptet.
25
f) Ab welcher Dauer eine rechtliche Unterbrechung zwischen zwei Arbeitsverhältnissen eine Berücksichtigung der im früheren Arbeitsverhältnis erworbenen Berufserfahrung als einschlägige Berufserfahrung ausschließt, ist in § 16 Abs. 2 TVöD-B nicht geregelt. Zur Lückenschließung ist entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht auf die Regelung des § 17 Abs. 3 Satz 1 Buchst. e TVöD-B abzustellen. Vielmehr ist von einer Unschädlichkeit jedenfalls immer dann auszugehen, wenn es zu keiner längeren als einer sechsmonatigen rechtlichen Unterbrechung zwischen den Arbeitsverhältnissen gekommen ist.
26
aa) Ein Rückgriff auf § 17 Abs. 3 Satz 1 Buchst. e TVöD-B, wie ihn das Landesarbeitsgericht vorgenommen hat, entspräche nicht dem Regelungskonzept der Tarifvertragsparteien des TVöD-B, das bei der Schließung einer unbewussten Regelungslücke im Tarifvertrag zu berücksichtigen ist. § 17 Abs. 3 TVöD-B enthält in einem geschlossenen System für bestimmte tatsächliche Unterbrechungen rechtlich fortbestehender Arbeitsverhältnisse Ausnahmen von dem Grundsatz, dass Berufserfahrung nur erworben werden kann, wenn der Arbeitnehmer auch tatsächlich arbeitet. Zudem führen nach dem Willen der Tarifvertragsparteien erst tatsächliche Unterbrechungen von mehr als drei Jahren dazu, dass eine Zuordnung zu einer niedrigeren als der bisher innegehabten Stufe erfolgt (§ 17 Abs. 3 Satz 3 TVöD-B). Vorliegend geht es hingegen um die Frage, bis zu welcher Dauer rechtlicher Unterbrechungen die Tarifvertragsparteien davon ausgehen, dass noch kein Verlust von Erfahrungswissen eintritt.
27
bb) Dies ist unter Heranziehung der zur Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L geltenden Erwägungen jedenfalls bei einer nicht länger als sechs Monate dauernden rechtlichen Unterbrechung zwischen den Arbeitsverhältnissen der Fall.
28
(1) Nach der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L besteht ein zu berücksichtigendes vorheriges Arbeitsverhältnis außerhalb des Wissenschaftsbereichs, wenn zwischen dem Ende des vorherigen und dem Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses ein Zeitraum von längstens sechs Monaten liegt. Die Tarifvertragsparteien des TV-L haben dabei berücksichtigt, dass die einschlägige Berufserfahrung bei kurzen rechtlichen Unterbrechungen in einem neuen Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber typischerweise von Beginn an verwertbar ist. Im Rahmen ihrer Einschätzungsprärogative haben sie den unschädlichen Zeitraum für den Personenkreis, der dem der Klägerin entspricht, auf sechs Monate festgelegt (vgl. BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 30; 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 35, BAGE 144, 263).
29
(2) Diese Erwägungen sind auch ohne eine entsprechende Protokollerklärung auf die Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TVöD-B zu übertragen. Die unbewusste Regelungslücke ist dahin zu schließen, dass jedenfalls kurze rechtliche Unterbrechungen von höchstens sechs Monaten zwischen zwei Arbeitsverhältnissen ebenso wie in der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L nicht zu einem Verlust von Erfahrungswissen führen. Eine solche Schließung entspricht dem Regelungskonzept der Tarifvertragsparteien des TVöD-B. Diese sind ebenso wie die Tarifvertragsparteien des TV-L davon ausgegangen, dass Arbeitnehmer durch die Ausübung identischer Tätigkeiten laufend Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die die Arbeitsgüte und Arbeitsmenge verbessern. Bei der Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 TVöD-B ist erworbene Berufserfahrung nur zu berücksichtigen, wenn sie im Tarifsinn einschlägig und dem Arbeitnehmer daher bei seiner aktuellen Tätigkeit nützlich ist. Ein Verlust von Erfahrungswissen ist aber jedenfalls bei einer höchstens sechsmonatigen rechtlichen Unterbrechung aus Sicht der Tarifvertragsparteien des TVöD-B offenkundig nicht zu erwarten (vgl. zu § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-V BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 31 ff.; zu planwidrigen Regelungslücken in Tarifverträgen zum Beispiel: BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 450/15 – Rn. 24; 16. April 2015 – 6 AZR 142/14 – Rn. 37 ff., BAGE 151, 263; 3. Juli 2014 – 6 AZR 1088/12 – Rn. 23 f.).
30
5. Sofern bei der nach den vorstehenden Maßstäben vorzunehmenden Stufenzuordnung bei einer Wiedereinstellung zuvor befristet Beschäftigter „angebrochene“ Stufenlaufzeiten verbleiben, sind diese im Rahmen des weiteren Stufenaufstiegs nach § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-B zu berücksichtigen. Ein anderes Tarifverständnis verstieße gegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG (BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 17 ff. mwN).
31
6. Nach vorstehenden Grundsätzen war die Klägerin bei ihrer (Wieder-)Einstellung am 4. August 2008 der Stufe 5 ihrer Entgeltgruppe zuzuordnen. Sie hatte in den befristeten Arbeitsverhältnissen zur Beklagten seit dem 5. August 1996 insgesamt elf Jahre und 17 Tage einschlägige Berufserfahrung erworben. Gemäß § 16 Abs. 3 Satz 1 TVöD-B erreicht ein Beschäftigter die Stufe 2 nach einem Jahr in Stufe 1, die Stufe 3 nach weiteren zwei Jahren in Stufe 2, die Stufe 4 nach weiteren drei Jahren in Stufe 3 und schließlich die Stufe 5 nach weiteren vier Jahren in Stufe 4 und damit insgesamt nach zehn Jahren. Bei der Einstellung der Klägerin verblieb somit eine „angebrochene“ Stufenlaufzeit von einem Jahr und 17 Tagen. Dass die Klägerin die einschlägige Berufserfahrung jedenfalls teilweise unter der Geltung des BAT erworben hat, steht deren Berücksichtigung nicht entgegen. Die Klägerin ist unter Berücksichtigung des § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG hinsichtlich ihrer Stufenzuordnung so zu stellen, wie ein vergleichbarer Dauerbeschäftigter mit einer gleich langen Beschäftigungszeit im Regelungssystem des TVöD-B stünde. Dieser wäre nach zehn Jahren der Stufe 5 seiner Entgeltgruppe zugeordnet gewesen.
32
Bei Inkrafttreten der Entgeltordnung zum TVöD für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst zum 1. November 2009 wies die Klägerin somit in der Stufe 5 eine Stufenlaufzeit von zwei Jahren drei Monaten und 14 Tagen auf. Damit war die Klägerin gemäß § 28a Abs. 2 Satz 1 TVÜ-VKA zu diesem Zeitpunkt aus der Stufe 5/3 (Stufe 5 und angebrochenes drittes Jahr der Stufenlaufzeit) in die Stufe 5/1 (Stufe 5 und angebrochenes erstes Jahr der Stufenlaufzeit) überzuleiten. Dabei war die in der bisherigen Stufe unterhalb eines vollen Jahres zurückgelegte Zeit – im Falle der Klägerin drei Monate und 14 Tage – für den Aufstieg in das nächste Jahr der Stufenlaufzeit bzw. in eine höhere Stufe zu berücksichtigen (§ 28a Abs. 2 Satz 9 TVÜ-VKA). Der weitere Stufenaufstieg richtet sich nach § 12.2 Abs. 2 TVöD-B (§ 28a Abs. 2 Satz 10 TVÜ-VKA), wobei die Beschäftigten das Tabellenentgelt nach der neuen Stufe vom Beginn des Monats an erhalten, in dem die nächste Stufe erreicht wird (§ 17 Abs. 1 TVöD-B). Damit stieg die Klägerin nach weiteren 56 Monaten in die Stufe 6 ihrer Entgeltgruppe auf und hatte jedenfalls ab März 2015 Anspruch auf Entgelt nach der Stufe 6 der Entgeltgruppe S 6.
33
III. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen (§ 97 Abs. 1, § 91 Abs. 1 ZPO).
Spelge
Krumbiegel
Heinkel
D. Reidelbach
Döpfert |
bag_42-19 | 28.11.2019 | 28.11.2019
42/19 - Unwirksame Versetzung - Schadensersatz - Reisekosten
Kann ein Arbeitnehmer vom Arbeitgeber im Wege des Schadensersatzes Erstattung der Kosten verlangen, die ihm durch die Benutzung seines privaten PKW entstanden sind, können die Tatsachengerichte bei der Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO die Regelungen des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG) über den Fahrtkostenersatz heranziehen.
Der Kläger ist bei der Beklagten langjährig als Metallbaumeister beschäftigt. Nachdem er zunächst am Betriebssitz der Beklagten in Hessen gearbeitet hatte, versetzte diese ihn ab November 2014 „für mindestens 2 Jahre, ggf. auch länger“ in ihre Niederlassung in Sachsen. Hiergegen erhob der Kläger vor dem Arbeitsgericht Klage, kam allerdings der Versetzung nach. Im Mai 2016 erklärte das Landesarbeitsgericht die Versetzung für unwirksam. Gleichwohl arbeitete der Kläger in der Zeit von Juni bis September 2016 weisungsgemäß weiter in Sachsen. Für die wöchentlichen Fahrten zwischen seinem Hauptwohnsitz in Hessen und seiner Wohnung in Sachsen nutzte er seinen privaten PKW. Der Kläger hat die Beklagte mit seiner Klage ua. auf Ersatz der Fahrtkosten für die Monate Juni bis September 2016 in Anspruch genommen. Er hat die Auffassung vertreten, er könne entsprechend den steuerrechtlichen Regelungen für jeden gefahrenen Kilometer ein Kilometergeld iHv. 0,30 Euro beanspruchen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage ua. wegen der Fahrkostenerstattung stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts insoweit teilweise abgeändert und dem Kläger Reisekosten lediglich iHd. nach der Trennungsgeldverordnung (TGV) zu erstattenden Kosten für die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dies auch nur für Heimfahrten alle zwei Wochen zugesprochen. Mit der Revision verfolgt der Kläger ua. sein Begehren auf Zahlung eines Kilometergeldes iHv. 0,30 Euro pro gefahrenem Kilometer weiter.
Seine Revision hatte insoweit vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Kläger kann – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – von der Beklagten als Schadensersatz die Erstattung der Kosten verlangen, die ihm durch die Benutzung seines privaten PKW für die wöchentlichen Fahrten zwischen seinem Hauptwohnsitz in Hessen und seiner Wohnung in Sachsen entstanden sind. Allerdings hat das Landesarbeitsgericht mit der Heranziehung der Bestimmungen der TGV seiner Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO einen unrichtigen Maßstab zugrunde gelegt. Heranzuziehen waren vielmehr die Regelungen des JVEG über den Fahrtkostenersatz, wonach für jeden gefahrenen Kilometer ein Kilometergeld iHv. 0,30 Euro zu zahlen ist. Eine Vorteilsausgleichung war nicht veranlasst.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. November 2019 – 8 AZR 125/18 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 10. November 2017 – 10 Sa 964/17 – | Tenor
Auf die Revision des Klägers wird – unter Zurückweisung der Revision des Klägers im Übrigen – das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 10. November 2017 – 10 Sa 964/17 – im Kostenpunkt und im Übrigen insoweit teilweise aufgehoben, als das Landesarbeitsgericht in Ziffer 5 des Tenors das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 9. Mai 2017 – 3 Ca 160/16 – auf die Berufung der Beklagten teilweise abgeändert und die Klage wegen der geltend gemachten Reisekosten teilweise abgewiesen hat. Insoweit wird die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 9. Mai 2017 – 3 Ca 160/16 – zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger 22 vH und die Beklagte 78 vH zu tragen, mit Ausnahme der Kosten der Säumnis des Klägers im Termin am 11. Oktober 2016, die dieser selbst zu tragen hat.
Von den Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz haben der Kläger 29 vH und die Beklagte 71 vH zu tragen.
Von den Kosten des Revisionsverfahrens haben der Kläger 17 vH und die Beklagte 83 vH zu tragen.
Leitsatz
1. Befolgt der Arbeitnehmer eine unwirksame Versetzung, ist der Arbeitgeber nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB zum Ersatz der zusätzlichen Reisekosten des Arbeitnehmers verpflichtet, die für die Fahrten von seiner Wohnung zu dem Arbeitsort, an den er versetzt wurde, entstehen.
2. Der Umstand, dass keine – auch keine vorläufige – Bindung des Arbeitnehmers nach § 106 Satz 1 GewO, § 315 BGB an unbillige Weisungen des Arbeitgebers besteht, führt nicht dazu, dass ein Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers, der die unwirksame Versetzung befolgt, wegen eines Mitverschuldens gemäß § 254 Abs. 1 BGB ausgeschlossen oder gemindert ist.
3. Im Rahmen einer Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO können wegen der Reisekosten die Regelungen des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG) herangezogen werden.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch darüber, ob die Beklagte dem Kläger Reisekosten für wöchentliche Heimreisen in der Zeit von Juni bis September 2016 zu erstatten sowie für dieselbe Zeit Tagegelder zu zahlen hat.
2
Der Kläger ist seit 1997 bei der Beklagten als Metallbaumeister beschäftigt. Aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit gelten für das Arbeitsverhältnis der Parteien die Tarifverträge für das hessische Tischlerhandwerk, Bestattungs- und Montagegewerbe, ua. der Manteltarifvertrag vom 2. April 2012 (im Folgenden MTV).
3
Im MTV heißt es auszugsweise:
„§ 10
Montageregelung
1.
Für Arbeiten außerhalb des Betriebes wird ein Montagezuschlag gezahlt, wenn die Arbeit einen vollen Arbeitstag in Anspruch nimmt und mit erkennbaren Mehraufwendungen und Erschwernissen (…) verbunden ist.
Der Zuschlag beträgt je Stunde 10 % des tariflichen Facharbeiter-Ecklohnes.
2.
Für Montagearbeiten in Entfernungen, die ein auswärtiges Übernachten erforderlich machen, wird zur Abgeltung der dadurch entstehenden Mehraufwendungen für jeden vollen Tag der durch die Montage bedingten Abwesenheit vom Betrieb ein Betrag in Höhe von 2,5 Facharbeiter-Ecklöhnen (Stundenlohn) als Tagegeld gezahlt.
Hiervon abweichend kann durch Betriebsvereinbarung geregelt werden, dass nur die steuerfreien Pauschbeträge gem. den Lohnsteuer-Richtlinien gezahlt werden.
Die notwendigen Aufwendungen für die Übernachtung sind vom Betrieb zu tragen.
3.
Übersteigt die Fahrzeit von der Wohnung des Arbeitnehmers zur Montagestelle und zurück die gewöhnliche Fahrzeit zum Betrieb und zurück, gilt der übersteigende Teil als Arbeitszeit und wird als solche vergütet. Fahrzeit vom Betrieb zur Montagestelle zählt als Arbeitszeit. Abweichungen hiervon können betriebsintern geregelt werden.
Die Fahrtkosten vom Betrieb zur Montagestelle und zurück werden in Höhe des Tarifes der 2. Klasse der üblichen öffentlichen Verkehrsmittel ersetzt. Benutzt ein Arbeitnehmer ein eigenes Fahrzeug, so erhält er als Vergütung die gleichen Sätze, die bei der Benutzung des sonst in Frage kommenden öffentlichen Verkehrsmittels zu zahlen wären.
Die Fahrtkosten von der Wohnung des Arbeitnehmers zur Montagestelle und zurück werden nur insoweit ersetzt, als sie die Kosten der Fahrt von der Wohnung des Arbeitnehmers zum Betrieb übersteigen.
Für den Transport zur Montagestelle stellt der Betrieb ein Fahrzeug zur Verfügung. Benutzt ein Arbeitnehmer auf Wunsch des Arbeitgebers ein eigenes Fahrzeug, so erhält er als Vergütung den jeweils steuerlich zulässigen Kilometergeldsatz.
4.
Dauert eine Montagearbeit, die ein Übernachten erforderlich macht, länger als 2 Wochen, so steht dem Arbeitnehmer nach jeweils 2 Wochen zum folgenden Wochenende eine Heimreise unter Vergütung der Kosten für die Hin- und Rückfahrt zu.
5.
…“
4
Ab dem 1. November 2014 versetzte die Beklagte den Kläger „für mindestens 2 Jahre, ggf. auch länger“ vom Betriebssitz in M (Hessen) in ihre ca. 487 km entfernte Niederlassung in G (Sachsen). Gegen diese Versetzung erhob der Kläger vor dem Arbeitsgericht Klage, kam allerdings der Aufforderung nach, in G zu arbeiten. Die Beklagte stellte ihm bis Mitte Februar 2015 eine Dienstwohnung zur Verfügung, danach mietete der Kläger eine private Unterkunft in G. Eine Vereinbarung über die Erstattung von versetzungsbedingten Fahrtkosten oder die Gewährung von Tagegeldern trafen die Parteien nicht. Der Kläger fuhr wöchentlich jeweils sonntags von seinem Hauptwohnsitz in R (Hessen) nach G und jeweils freitags zurück. Hierfür nutzte er seinen privaten PKW.
5
Mit – rechtskräftigem – Urteil vom 20. Mai 2016 (- 10 Sa 231/15 -) stellte das Hessische Landesarbeitsgericht die Unwirksamkeit der Versetzung des Klägers fest. Der Kläger arbeitete danach zunächst weiter in G. Mit Schreiben vom 11. Oktober 2016 teilte die Beklagte ihm mit, dass er ab dem 17. Oktober 2016 wieder in M arbeiten solle.
6
Der Kläger hat die Beklagte mit seiner Klage ua. auf Ersatz der ihm in der Zeit von Juni bis September 2016 für die wöchentlichen Heimreisen entstandenen Reisekosten sowie auf Zahlung von Tagegeldern für dieselbe Zeit in Anspruch genommen.
7
Er hat die Ansicht vertreten, er habe nach § 670 BGB sowie in entsprechender Anwendung von § 10 MTV Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen, die ihm aufgrund der unwirksamen Versetzung entstanden seien. Dabei seien die Reisekosten mit dem steuerlichen Satz von 0,30 Euro pro km für – unstreitig – insgesamt gefahrene 15.540 km in Ansatz zu bringen. Der Anspruch auf Zahlung von Tagegeld ergebe sich aus § 10 Ziff. 2 MTV in entsprechender Anwendung, jedenfalls aber aufgrund einer von der Beklagten selbst eingeräumten betrieblichen Übung. Die Beklagte habe ihm während der Zeit der unberechtigten Versetzung kein Dienstfahrzeug für die Heimfahrten bewilligt. Erst ab Oktober 2016 habe sie ihm für die Dienstfahrten von M nach G ein Dienstfahrzeug gestellt.
8
Der Kläger hat – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – zuletzt beantragt,
7.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.662,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
8.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.464,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Ansicht vertreten, ein Anspruch auf Reisekostenerstattung stehe dem Kläger nicht zu. Nach § 10 MTV könne er zudem allenfalls einen Betrag als Aufwand ersetzt erhalten, der der Höhe des Tarifs der zweiten Klasse der üblichen öffentlichen Verkehrsmittel entspreche und dies auch nur für eine Heimreise alle zwei Wochen. Sie habe dem Kläger ein Dienstfahrzeug für die Heimfahrten zur Verfügung gestellt, dessen Nutzung dieser jedoch abgelehnt habe. Zahlung von Tagegeld neben der Erstattung des Mietzinses könne der Kläger ebenfalls nicht verlangen. Mit der Anmietung einer Wohnung in G habe er einen eigenen Wohnraum begründet, so dass keine Abwesenheit von seinem Wohnsitz vorgelegen habe. Eine betriebliche Übung, nach der im Fall einer dauerhaften Versetzung Tagegeld nach lohnsteuerrechtlichen Grundsätzen gezahlt werde, bestehe bei ihr nicht; ein solches Tagegeld werde allenfalls bei üblichen Montageeinsätzen gezahlt.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger Reisekosten iHv. 4.662,00 Euro sowie Tagegelder iHv. 1.464,00 Euro zugesprochen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und die Beklagte zur Zahlung von Reisekosten iHv. 1.344,00 Euro sowie zur Zahlung von Tagegeldern iHv. 776,00 Euro verurteilt. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Zahlungsanträge zu 7. und 8. weiter, soweit das Landesarbeitsgericht ihnen nicht entsprochen hat.
Entscheidungsgründe
11
Die zulässige Revision des Klägers hat teilweise Erfolg. Soweit der Kläger für die Monate Juni bis September 2016 die Erstattung weiterer Fahrtkosten iHv. 3.318,00 Euro begehrt, ist die Revision begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Erstattung von Reisekosten iHv. insgesamt 4.662,00 Euro, so dass er über die vom Landesarbeitsgericht bereits zugesprochenen 1.344,00 Euro hinaus weitere 3.318,00 Euro verlangen kann. Soweit der Kläger für die Monate Juni bis September 2016 die Zahlung weiterer Tagegelder iHv. 688,00 Euro fordert, ist seine Revision unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Anspruch auf Zahlung weiterer Tagegelder.
12
I. Soweit der Kläger für die Monate Juni bis September 2016 über die ihm bereits zugesprochenen 1.344,00 Euro hinaus die Erstattung weiterer Fahrtkosten iHv. 3.318,00 Euro begehrt, ist die Revision begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Erstattung von Reisekosten iHv. insgesamt 4.662,00 Euro, weshalb die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger über die diesem vom Landesarbeitsgericht bereits zugesprochenen 1.344,00 Euro hinaus weitere 3.318,00 Euro zu zahlen. Der Anspruch folgt allerdings nicht aus § 10 Ziff. 3 MTV in unmittelbarer oder analoger Anwendung. Ob er sich aus § 670 BGB in entsprechender Anwendung ergibt, kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls folgt der Anspruch des Klägers aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB.
13
1. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat, folgt der geltend gemachte Anspruch nicht aus § 10 Ziff. 3 Abs. 2 iVm. Abs. 4 MTV in unmittelbarer Anwendung. Diese Regelung ist vorliegend nicht einschlägig.
14
a) § 10 Ziff. 3 Abs. 2 iVm. Abs. 4 MTV begründet Ansprüche ausschließlich im Zusammenhang mit Arbeiten „außerhalb des Betriebes“. Gemeint sind damit, wie sich sowohl aus der Überschrift „Montageregelung“ als auch aus der Verwendung der Begriffe „Montagearbeiten“ und „Montagestelle“ im Text von § 10 MTV ergibt, Ansprüche im Zusammenhang mit „Montagearbeiten“. Der Kläger macht keinen Anspruch auf Ersatz der Fahrtkosten geltend, die ihm im Zusammenhang mit auswärtigen Montagearbeiten entstanden sind, sondern fordert vielmehr Ersatz der Aufwendungen für die Fahrten zwischen der Niederlassung der Beklagten in G, in die er versetzt worden war, und seinem Wohnsitz in R. Es geht damit in der Sache um die Kosten der Anreise zu dem Betriebssitz der Beklagten, der aufgrund der Versetzung maßgeblicher Arbeitsort sein sollte.
15
b) § 10 Ziff. 3 MTV kann auch nicht ergänzend dahin ausgelegt werden, dass er die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz der Reisekosten erfasst, die diesem durch die unwirksame Versetzung entstanden sind.
16
aa) Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Eine ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke vorliegt oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist. In einem solchen Fall haben die Gerichte für Arbeitssachen grundsätzlich die Möglichkeit und die Pflicht, eine Tariflücke zu schließen, wenn sich unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben. Allerdings haben die Tarifvertragsparteien in eigener Verantwortung darüber zu befinden, ob sie eine von ihnen geschaffene Ordnung beibehalten oder ändern. Solange sie daran festhalten, hat sich eine ergänzende Auslegung an dem bestehenden System und dessen Konzeption zu orientieren. Eine ergänzende Tarifauslegung scheidet aus, wenn den Tarifvertragsparteien ein Spielraum zur Lückenschließung bleibt und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst zu finden (st. Rspr., vgl. etwa BAG 14. September 2016 – 4 AZR 1006/13 – Rn. 21 mwN; 3. Juli 2014 – 6 AZR 753/12 – Rn. 37, BAGE 148, 323; 23. April 2013 – 3 AZR 23/11 – Rn. 29 mwN; vgl. auch BVerfG 29. März 2010 – 1 BvR 1373/08 – Rn. 29).
17
bb) Daran gemessen kommt eine ergänzende Auslegung von § 10 Ziff. 3 MTV dahin, dass die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz der ihm infolge der unwirksamen Versetzung entstandenen Reisekosten erfasst werden, schon deshalb nicht in Betracht, weil sich keine unbewusste Regelungslücke feststellen lässt. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die vorliegende spezielle Fallgestaltung einer unwirksamen Versetzung aus Sicht der Tarifvertragsparteien einer tariflichen Regelung bedurft hätte. Darüber hinaus bestehen insoweit auch keine ausreichenden Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien. Es ist nichts dafür erkennbar, dass diese den Fall einer vom Arbeitnehmer befolgten Versetzung in gleicher Weise geregelt hätten wie einen Montageeinsatz. Das folgt zum einen daraus, dass ein Montageeinsatz typischerweise vorübergehender Natur ist, während eine Versetzung regelmäßig auf Dauer angelegt ist und zudem einen Wohnortwechsel erforderlich machen kann, und zum anderen daraus, dass der hier geltend gemachte Anspruch auf einer unwirksamen Versetzung und damit einem nicht vertragskonformen Verhalten des Arbeitgebers beruht. § 10 MTV stellt hingegen eine Regelung dar, mit der einerseits die mit der Arbeit auf einer auswärtigen Montagestelle verbundenen Aufwendungen der Arbeitnehmer ausgeglichen werden, mit der andererseits aber auch die hierdurch verursachten Mehrkosten für den Arbeitgeber begrenzt werden sollen. Dabei haben die Tarifvertragsparteien für Tätigkeiten auf auswärtigen Montagestellen einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitsvertragsparteien gefunden. Dieser besondere tarifliche Ausgleich passt aber nicht für Fälle, in denen es um die Erstattung der Kosten für die Fahrt des Arbeitnehmers zur Betriebsstätte geht, insbesondere nicht für den Fall, dass der Arbeitnehmer längerfristig an eine andere Betriebsstätte versetzt wird, und erst recht nicht für den Fall, dass die Versetzung unwirksam ist.
18
2. Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat – auch keinen Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten Reisekosten in analoger Anwendung von § 10 Ziff. 3 MTV. Insoweit fehlt es – wie unter Rn. 17 ausgeführt – bereits an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Darüber hinaus sind mehrere Möglichkeiten zur Regelung der vorliegenden Fallkonstellation denkbar (etwa eine Umzugskostenerstattung) und damit mehrere Möglichkeiten einer Lückenschließung. In einem solchen Fall muss es den Tarifvertragsparteien vorbehalten bleiben, eine bestehende Regelungslücke zu schließen (vgl. etwa BAG 3. Juli 2014 – 6 AZR 753/12 – Rn. 46, BAGE 148, 323).
19
3. Es kann dahinstehen, ob der Kläger einen Anspruch auf Erstattung von Fahrtkosten mit Erfolg auf § 670 BGB in analoger Anwendung stützen könnte. Jedenfalls folgt der Anspruch des Klägers auf Erstattung der in der Zeit von Juni bis September 2016 entstandenen Fahrtkosten iHv. insgesamt 4.662,00 Euro als Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB, weshalb die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger über die diesem vom Landesarbeitsgericht bereits zugesprochenen 1.344,00 Euro hinaus weitere 3.318,00 Euro zu zahlen.
20
a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dem Kläger stehe kein Anspruch auf Erstattung der Fahrtkosten aus § 670 BGB analog zu. Nach dieser Bestimmung ist der Auftraggeber dem Beauftragten zum Ersatz verpflichtet, wenn der Beauftragte zum Zwecke der Ausführung des Auftrags Aufwendungen macht, die er den Umständen nach für erforderlich halten darf. Aus Sicht des Senats ist es sehr zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 670 BGB auf den Fall einer vertragswidrigen Versetzung und damit einer fehlenden wirksamen Beauftragung des Arbeitnehmers vorliegen. Diese Frage kann im vorliegenden Fall jedoch dahingestellt bleiben.
21
b) Der Kläger hat Anspruch auf Erstattung der in der Zeit von Juni bis September 2016 entstandenen Fahrtkosten iHv. insgesamt 4.662,00 Euro aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB. Er kann deshalb von der Beklagten über die ihm vom Landesarbeitsgericht bereits zuerkannten 1.344,00 Euro hinaus weitere 3.318,00 Euro verlangen.
22
aa) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Kläger dem Grunde nach einen Anspruch auf Erstattung von Fahrtkosten aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB hat. Nach dieser Bestimmung kann der Gläubiger, wenn der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt, Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen.
23
(1) Die Beklagte hat – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – schuldhaft gegen ihre arbeitsvertraglichen Verpflichtungen verstoßen, indem sie eine unwirksame Versetzung des Klägers nach G erklärt und hieran bis in den Monat Oktober 2016 hinein festgehalten hat. Die Unwirksamkeit dieser Versetzung steht aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 20. Mai 2016 (- 10 Sa 231/15 -) fest. Die Beklagte wäre daher verpflichtet gewesen, den Kläger auch in dem streitbefangenen Zeitraum von Juni bis September 2016 in M zu beschäftigen.
24
(2) Infolge der Versetzung nach G sind dem Kläger Kosten für die Heimfahrten nach R entstanden. Der Umstand, dass die Versetzung des Klägers – wie aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 20. Mai 2016 (- 10 Sa 231/15 -) feststeht – rechtsunwirksam war, ändert nichts daran, dass die Beklagte den Kläger angewiesen hatte, in G zu arbeiten. Auch nachdem sich der Kläger gegen diese Versetzung gerichtlich zur Wehr gesetzt hatte, hat die Beklagte diese nicht etwa zurückgenommen, sondern weiterhin erwartet, dass der Kläger in G arbeitete. Darüber hinaus hat sie, auch nachdem das Landesarbeitsgericht die Unwirksamkeit der Versetzung festgestellt hatte, für den streitbefangenen Zeitraum an der Versetzung festgehalten.
25
(3) Der Anspruch ist nicht wegen eines ganz überwiegenden Mitverschuldens des Klägers gemäß § 254 Abs. 1 BGB ausgeschlossen.
26
(a) Der Kläger handelte nicht etwa schuldhaft, indem er die unwirksame Versetzung durch die Beklagte befolgte. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts besteht zwar keine – auch keine vorläufige – Bindung des Arbeitnehmers nach § 106 Satz 1 GewO, § 315 BGB an unbillige Weisungen, sofern der Arbeitnehmer diese nicht trotz ihrer Unbilligkeit akzeptiert (BAG 18. Oktober 2017 – 10 AZR 330/16 – Rn. 63, BAGE 160, 296; so auch 28. Juni 2018 – 2 AZR 436/17 – Rn. 18). Insoweit ist die frühere abweichende Rechtsprechung des Fünften Senats (vgl. etwa BAG 22. Februar 2012 – 5 AZR 249/11 – Rn. 24, BAGE 141, 34) überholt. Es war dem Kläger aber im bestehenden Arbeitsverhältnis nicht zumutbar, der Versetzung, deren Wirksamkeit oder Unwirksamkeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig geklärt war, nicht nachzukommen. Der Gefahr einer arbeitsrechtlichen Sanktion durch die Beklagte etwa in Form einer Abmahnung oder sogar Kündigung musste der Kläger sich nicht aussetzen.
27
(b) Der Kläger war auch nicht gehalten, den Schaden dadurch abzuwenden, dass er seinen bisherigen Wohnsitz in R aufgab. Der Kläger hatte seinen Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in R. Daran hat sich auch nichts dadurch geändert, dass die Beklagte ihm eine Wohnung in G gestellt hat bzw. dass sie die Kosten der vom Kläger angemieteten Wohnung zu tragen hatte. Denn für den Kläger bestand aufgrund der Versetzung keine Veranlassung, seinen bisherigen Lebensmittelpunkt aufzugeben. Dies folgt bereits daraus, dass das Hessische Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 20. Mai 2016 (- 10 Sa 231/15 -) – rechtskräftig – festgestellt hat, dass die Versetzung rechtsunwirksam war. Im Übrigen hatte die Beklagte den Kläger nur vorübergehend, nämlich „für mindestens 2 Jahre, ggf. auch länger“ nach G versetzt, weshalb der Kläger selbst im Fall der Wirksamkeit der Versetzung damit hätte rechnen müssen, bereits nach zwei Jahren wieder in M eingesetzt zu werden.
28
(c) Die Beklagte kann gegenüber dem Anspruch des Klägers nicht mit Erfolg einwenden, der Kläger hätte für die Heimfahrten ein Dienstfahrzeug nutzen müssen. Insoweit fehlt es bereits an einem hinreichend substantiierten Vorbringen der Beklagten, wann genau und unter welchen konkreten Voraussetzungen dem Kläger ein Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt bzw. angeboten wurde. Insoweit hat sie lediglich ausgeführt, der Kläger habe die Fahrt mit einem Dienstfahrzeug „ursprünglich“ abgelehnt, da die private Nutzung nicht gestattet gewesen sei und dem Kläger habe jeweils ein Dienstfahrzeug für Heimfahrten zur Verfügung gestanden.
29
bb) Anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat, beläuft sich der Schadensersatzanspruch des Klägers der Höhe nach nicht lediglich auf 1.344,00 Euro. Die Beklagte schuldet dem Kläger nicht lediglich Ersatz der Kosten für 16 Bahnfahrten 2. Klasse von D nach G. Vielmehr stehen dem Kläger gegen die Beklagte für mit seinem privaten PKW insgesamt gefahrene 15.540 km unter Berücksichtigung eines Kilometergeldsatzes von 0,30 Euro insgesamt 4.662,00 Euro zu, weshalb die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger über die diesem vom Landesarbeitsgericht bereits zuerkannten 1.344,00 Euro hinaus weitere 3.318,00 Euro zu zahlen.
30
(1) Nach § 249 BGB hat der Schuldner den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Soweit dies nicht möglich ist, hat der Schuldner den Gläubiger nach § 251 Abs. 1 BGB in Geld zu entschädigen.
31
(2) Allerdings hat der Kläger keine Angaben zur Größe und zum Typ seines Fahrzeugs gemacht, insbesondere hat er keine konkreten Aufwendungen dargetan, sondern seine Aufwendungen nach steuerrechtlichen Gesichtspunkten zusammengestellt, indem er die Anzahl der Fahrten mit 32 mitgeteilt, die Entfernung von seinem Wohnort nach G mit ca. 487 km angegeben und die Anzahl der insgesamt gefahrenen Kilometer mit 15.540 km beziffert hat. Dieses – unstreitige – Zahlenwerk reicht für eine Schadensschätzung nach § 287 ZPO aus.
32
(3) Aufgrund von § 287 Abs. 1 ZPO entscheidet das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung, ob ein Schaden entstanden ist und wie hoch er ist. Allerdings ist die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatsachengerichts. Sie ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob das Tatsachengericht Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat (BAG 26. September 2012 – 10 AZR 370/10 – Rn. 25, BAGE 143, 165; 15. September 2011 – 8 AZR 846/09 – Rn. 48; BGH 17. November 2009 – VI ZR 64/08 – Rn. 20 jeweils mwN). Insoweit ist anerkannt, dass sich der Tatrichter in Ermangelung konkreter Anhaltspunkte für eine abweichende Beurteilung im Rahmen der Schadensschätzung gesetzlich geregelter oder in anerkannten Tabellen enthaltener Erfahrungswerte bedienen kann(vgl. etwa BGH 17. November 2009 – VI ZR 64/08 – Rn. 21 mwN).
33
(4) Das Landesarbeitsgericht hat insoweit angenommen, es sei auf die im öffentlichen Recht geltenden Regelungen als Leitbild abzustellen. Der Gesetzgeber habe mit dem Bundesreisekostengesetz (BRKG) sowie der Verordnung über das Trennungsgeld bei Versetzungen und Abordnungen im Inland (Trennungsgeldverordnung) Regelungen geschaffen, die einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers im Fall einer betrieblich bedingten Begründung eines Zweitwohnsitzes des Arbeitnehmers beinhalteten. Auch sonst entspreche es wohl vielfach der Praxis, dass sich die Beteiligten an dem für den öffentlichen Dienst geltenden Reisekostenrecht orientierten. Die entsprechende Regelung über die Ersatzfähigkeit von Heimfahrten finde sich in § 5 Trennungsgeldverordnung. Danach erscheine es sachgerecht, lediglich die Kosten 2. Klasse für eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln alle zwei Wochen zu erstatten.
34
(5) Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs des Klägers durch das Landesarbeitsgericht hält einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landesarbeitsgericht hat seiner Schadensschätzung einen unzutreffenden Maßstab zugrunde gelegt. Bei der vom Berufungsgericht herangezogenen Trennungsgeldverordnung handelt es sich um eine Regelung für den öffentlichen Dienst, die umfassend verschiedene Ansprüche (Trennungstagegeld, Trennungsreisegeld, Reisebeihilfe für Heimfahrten) aus bestimmten in § 1 Trennungsgeldverordnung genannten Anlässen regelt und dabei zudem davon ausgeht, dass unter bestimmten Voraussetzungen daneben ein Anspruch auf Umzugskostenvergütung besteht. Aus diesem komplexen Regelungssystem lassen sich keine einzelnen Bestimmungen isoliert herausgreifen, weil hierdurch der tatsächlich für den Arbeitnehmer bei einer unwirksamen Versetzung entstehende Mehraufwand nicht abgebildet wird.
35
(6) Fehlt es damit an einer der revisionsrechtlichen Überprüfung standhaltenden Bemessung der Schadenshöhe durch das Tatsachengericht, ist der Senat vor dem Hintergrund, dass die Anzahl der in dem Zeitraum von Juni bis September 2016 vorgenommenen Heimfahrten sowie die insgesamt gefahrenen Kilometer unter den Parteien unstreitig sind, nicht gehindert, auf die für die Schadensschätzung zutreffenden Kriterien zurückzugreifen (vgl. BGH 8. Juli 1992 – XII ZR 127/91 – zu 2 b bb der Gründe).
36
(a) Mangels sonstiger Anhaltspunkte für die Bemessung der Fahrtkosten erscheint es dem Senat angemessen, sich an den Bestimmungen über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen zu orientieren, die auch sonst in der gerichtlichen Praxis zur Schätzung von Fahrtkosten herangezogen werden (BGH 26. April 2016 – VI ZR 50/15 – Rn. 18; 17. November 2009 – VI ZR 64/08 – Rn. 21 mwN). Dabei ist der für die in § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 JVEG aufgeführten Personen (Sachverständige, Dolmetscherinnen, Dolmetscher, Übersetzerinnen und Übersetzer) in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 JVEG festgelegte Kilometersatz von 0,30 Euro für jeden gefahrenen Kilometer zugrunde zu legen. Die von dieser Bestimmung erfassten Personen benutzen ihren PKW, ebenso wie der Kläger im vorliegenden Fall, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit. Daher werden mit dem aufgrund dieser Regelung geltenden Kilometersatz nicht nur die Betriebskosten sowie die Abgeltung der Abnutzung des Kraftfahrzeugs, sondern auch die Anschaffungs- und Unterhaltungskosten und damit alle mit der Haltung, dem Betrieb, der Steuer, der Versicherung und der Wiederbeschaffung eines PKW verbundenen Kosten ausgeglichen. Nicht maßgeblich ist dagegen der für Zeugen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 JVEG geltende geringere Kilometersatz von 0,25 Euro. Ein Zeuge erfüllt mit seiner Anreise zu einem Termin eine staatsbürgerliche Pflicht und benutzt seinen eigenen PKW nicht im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit, weshalb ihm gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 JVEG lediglich die Betriebskosten sowie die Abgeltung der Abnutzung des Kraftfahrzeugs erstattet werden.
37
(b) Danach ergibt sich für insgesamt gefahrene 15.540 km unter Berücksichtigung eines Kilometergeldsatzes von 0,30 Euro ein Betrag iHv. 4.662,00 Euro.
38
(7) Der Anspruch des Klägers ist auch nicht nach § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB wegen eines Verstoßes des Klägers gegen seine Schadensminderungspflicht eingeschränkt. Der Kläger war entgegen der Ansicht der Beklagten nicht gehalten, nur alle zwei Wochen eine Heimfahrt nach R zu unternehmen. Der Kläger hatte seinen Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in R. Aus der Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB lässt sich keine Obliegenheit des Klägers ableiten, jedes zweite Wochenende an seinem Einsatzort in G zu verbringen. Eine solche Obliegenheit folgt auch nicht aus § 10 Ziff. 4 MTV. Diese Regelung betrifft – wie bereits unter Rn. 13 ff. ausgeführt – lediglich Mehraufwendungen bei Montagearbeiten und lässt sich auf die vorliegende Fallkonstellation nicht, auch nicht sinngemäß übertragen.
39
(8) Eine Vorteilsausgleichung durch Abzug der Kosten, die dem Kläger auch ohne die Versetzung für die Fahrt von seinem Hauptwohnsitz zur Arbeitsstätte in M entstanden wären, war im vorliegenden Verfahren nicht veranlasst. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger insoweit Aufwendungen erspart haben könnte, ergeben sich weder aus dem Vorbringen der insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten noch aus dem Vortrag des Klägers.
40
II. Soweit der Kläger für die Monate Juni bis September 2016 die Zahlung weiterer Tagegelder iHv. 688,00 Euro fordert, ist seine Revision unbegründet. Dies folgt allerdings, anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat, bereits daraus, dass der Kläger schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf Zahlung von Tagegeldern hat.
41
1. Ein Anspruch nach § 10 Ziff. 2 MTV scheidet aus, weil diese tarifliche Bestimmung – wie unter Rn. 13 ff. ausgeführt – auf den vorliegenden Fall einer Versetzung weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar ist.
42
2. Der geltend gemachte Tagegeldanspruch ergibt sich ferner nicht aus einer betrieblichen Übung. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte eine betriebliche Übung im Hinblick auf die Zahlung von Tagegeldern lediglich für längere Montageeinsätze eingeräumt. Um einen solchen Montageeinsatz handelt es sich im vorliegenden Fall jedoch nicht. Konkrete Anhaltspunkte für eine weitergehende betriebliche Übung hat der Kläger nicht dargetan.
43
3. Ein Anspruch auf Zahlung von Tagegeldern folgt auch nicht aus § 670 BGB in analoger Anwendung.
44
Unabhängig davon, ob eine analoge Anwendung von § 670 BGB auf Aufwendungen bzw. Schäden des Arbeitnehmers, die durch eine unwirksame Versetzung verursacht wurden, überhaupt in Betracht kommt, was – wie unter Rn. 20 ausgeführt – sehr zweifelhaft ist, hat der Kläger schon nicht dargetan, dass ihm infolge der Versetzung ein Verpflegungsmehraufwand entstanden ist. Mit einem Tagegeld soll typischerweise der mit einem auswärtigen Einsatz verbundene Verpflegungsmehraufwand ausgeglichen werden, der dem Arbeitnehmer dadurch entsteht, dass er sich aus beruflichen Gründen außerhalb der eigenen Wohnung aufhält. Denkbar ist zwar auch der Ausgleich sonstiger Mehraufwendungen wie etwa der Ausgleich von Reise- oder Unterbringungskosten. Im vorliegenden Verfahren macht der Kläger mit seinem auf Zahlung von Tagegeldern gerichteten Antrag jedoch allein einen Anspruch auf Ersatz des Verpflegungsmehraufwands geltend. Die Kosten für die Wohnung des Klägers in G und die Fahrtkosten für die wöchentlichen Heimfahrten sind schon durch die in den Vorinstanzen ebenfalls geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz der Mietkosten für die Wohnung des Klägers in G sowie der Reisekosten erfasst. Grundsätzlich hat der Arbeitnehmer jedoch für die Kosten der Verpflegung selbst aufzukommen. Die steuerrechtliche Behandlung eines möglicherweise bestehenden Verpflegungsmehraufwands nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG begründet keinen arbeitsrechtlichen Anspruch (BAG 24. März 2004 – 5 AZR 303/03 – zu II der Gründe, BAGE 110, 79). Dass der Kläger, der in G über eine eigene Wohnung verfügte, überhaupt einen Verpflegungsmehraufwand hatte, hat er nicht dargetan. Damit ist ein entsprechender Aufwand schon dem Grunde nach nicht dargelegt. Auf die Frage einer etwaigen Pauschalierungsmöglichkeit nach Maßgabe gesetzlicher oder tariflicher Regelungen kommt es demnach nicht an.
45
4. Schließlich folgt ein Anspruch des Klägers auf Zahlung von Tagegeldern für den Zeitraum von Juni bis September 2016 entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts nicht aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB. Zwar hat die Beklagte mit der unwirksamen Versetzung des Klägers nach G – wie unter Rn. 23 ausgeführt – schuldhaft gegen ihre arbeitsvertraglichen Verpflichtungen verstoßen. Es fehlt jedoch an der Darlegung eines Schadens, der über die durch die Reisekosten und die Kosten der Unterkunft verursachten Vermögenseinbußen hinausgeht. Es liegt aus den unter Rn. 44 ausgeführten Gründen schon keine Sachverhaltskonstellation vor, in der typischerweise ein Verpflegungsmehraufwand entsteht.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Volz
C. Gothe |
bag_43-18 | 18.09.2018 | 18.09.2018
43/18 - Mindestlohn - arbeitsvertragliche Ausschlussfrist
Eine vom Arbeitgeber vorformulierte arbeitsvertragliche Verfallklausel, die ohne jede Einschränkung alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und damit auch den ab dem 1. Januar 2015 von § 1 MiLoG garantierten Mindestlohn erfasst, verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und ist jeden-falls dann insgesamt unwirksam, wenn der Arbeitsvertrag nach dem 31. Dezember 2014 geschlossen wurde.
Der Kläger war beim Beklagten als Fußbodenleger beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 1. September 2015 ist ua. geregelt, dass alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind. Nachdem der Beklagte das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte, schlossen die Parteien im Kündigungsrechtsstreit einen Vergleich, dem zufolge das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 15. August 2016 endete und in dem sich der Beklagte ua. verpflichtete, das Arbeitsverhältnis bis zum 15. September 2016 ordnungsgemäß abzurechnen. Die vom Beklagten erstellte und dem Kläger am 6. Oktober 2016 zugegangene Abrechnung für August 2016 wies keine Urlaubsabgeltung aus. In dem vom Kläger am 17. Januar 2017 anhängig gemachten Verfahren hat sich der Beklagte darauf berufen, der Anspruch auf Urlaubsabgeltung sei verfallen, weil der Kläger ihn nicht rechtzeitig innerhalb der Ausschlussfrist geltend gemacht habe.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung des Beklagten abgewiesen.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg und führte zur Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Kläger hat nach § 7 Abs. 4 BUrlG Anspruch auf die Abgeltung von 19 Urlaubstagen mit 1.687,20 Euro brutto. Er musste den Anspruch nicht innerhalb der vertraglichen Ausschlussfrist geltend machen. Die Ausschlussklausel verstößt gegen § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Sie ist nicht klar und verständlich, weil sie entgegen § 3 Satz 1 MiLoG den ab dem 1. Januar 2015 zu zahlenden gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnimmt. Die Klausel kann deshalb auch nicht für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung aufrechterhalten werden (§ 306 BGB). § 3 Satz 1 MiLoG schränkt weder seinem Wortlaut noch seinem Sinn und Zweck nach die Anwendung der §§ 306, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ein.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. September 2018 – 9 AZR 162/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 31. Januar 2018 – 33 Sa 17/17 –
§ 3 Satz 1 MiLoG lautet:
„Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, sind insoweit unwirksam.“
§ 307 Abs. 1 BGB lautet:
„(1) 1Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. 2Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.“
§ 306 Abs. 1 und Abs. 2 BGB lautet:
„(1) Sind Allgemeine Geschäftsbedingungen ganz oder teilweise nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam, so bleibt der Vertrag im Übrigen wirksam.
(2) Soweit die Bestimmungen nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam sind, richtet sich der Inhalt des Vertrags nach den gesetzlichen Vorschriften.“ | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 31. Januar 2018 – 33 Sa 17/17 – aufgehoben.
2. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 31. August 2017 – 29 Ca 39/17 – wird zurückgewiesen.
3. Der Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Leitsatz
1. Eine vom Arbeitgeber vorformulierte arbeitsvertragliche Verfallklausel, die entgegen § 3 Satz 1 MiLoG auch den gesetzlichen Mindestlohn erfasst, verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und ist insgesamt unwirksam, wenn der Arbeitsvertrag nach dem 31. Dezember 2014 geschlossen wurde.
2. § 3 Satz 1 MiLoG schränkt die Anwendung der §§ 306, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht ein.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Abgeltung von Urlaubsansprüchen aus dem Jahr 2016.
2
Der Kläger war beim Beklagten seit dem 2. September 2013 beschäftigt. Er erzielte zuletzt einen Stundenlohn iHv. 11,10 Euro brutto.
3
In einem beim Arbeitsgericht Hamburg geführten Kündigungsrechtsstreit (- 29 Ca 315/16 -) schlossen die Parteien am 15. August 2016 einen Vergleich, der ua. regelt:
„1.
Das Arbeitsverhältnis der Parteien endet aufgrund der fristgemäßen Kündigung des Beklagten vom 24.06.2016 aus betrieblichen Gründen auf Veranlassung des Arbeitgebers mit Ablauf des 15.08.2016. Der Beklagte leitet aus der fristlosen Kündigung vom 17.06.2016 keine Rechte mehr her. Der Kläger nimmt diesen Verzicht hiermit an.
2.
Der Beklagte verpflichtet sich, das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß abzurechnen und sich ergebende Nettobeträge – unter Berücksichtigung etwaiger auf öffentliche Träger kraft Gesetzes übergegangener und gepfändeter Ansprüche – an den Kläger zu zahlen bis zum 15.09.2016.
…
5.
Damit sind alle Ansprüche der Parteien gegeneinander aus dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung sowie dieser Rechtsstreit erledigt.“
4
Der Beklagte übermittelte dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 6. Oktober 2016 eine Abrechnung für August 2016, in der die Vergütung für 88 Stunden ausgewiesen ist, nicht jedoch die Abgeltung von Urlaubsansprüchen.
5
Mit seiner am 17. Januar 2017 eingegangenen, dem Beklagten am 25. Januar 2017 zugestellten Klage hat der Kläger – soweit für die Revision von Bedeutung – die Abgeltung von 19 Urlaubstagen aus dem Jahr 2016 begehrt, die ihm wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden konnten. In der Klagebegründung hat er auf einen „Arbeitsvertrag vom 01.09.2015“ Bezug genommen. Als Anlage zur Klageschrift hat der Kläger jedoch nur den befristeten Arbeitsvertrag vom 3. März 2014 (im Folgenden Arbeitsvertrag 2014) vorgelegt.
6
Im Arbeitsvertrag 2014 heißt es ua.:
„§ 1
Beginn des Arbeitsverhältnisses, Verlängerung um 18 Monate
… Ab 1.3.14 Verlängerung um 18 Monate.
…
§ 11
Verfallfristen
Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht worden sind.“
7
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er könne vom Beklagten für 19 Urlaubstage aus dem Jahr 2016 Urlaubsabgeltung iHv. 1.687,20 Euro brutto verlangen. Der Anspruch sei nicht verfallen. Die vertragliche Ausschlussfrist sei unwirksam. Zudem habe sich der Beklagte mit Ziff. 2 des Vergleichs vom 15. August 2016 zur Urlaubsabgeltung verpflichtet und auf eine schriftliche Geltendmachung des Anspruchs verzichtet.
8
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 1.687,20 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. September 2016 zu zahlen.
9
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Ansicht vertreten, der Abgeltungsanspruch sei gemäß Ziff. 5 des Vergleichs erledigt, jedenfalls aber gemäß § 11 des Arbeitsvertrags verfallen.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage – soweit für die Revision noch von Bedeutung – stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung des Beklagten abgeändert und die Klage mit der Begründung, der Anspruch des Klägers sei nach § 11 Arbeitsvertrag 2014 verfallen, abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
11
Der Kläger hat erstmals mit der Revisionsbegründung den am 1. September 2015 geschlossenen unbefristeten Arbeitsvertrag (im Folgenden Arbeitsvertrag 2015) vorgelegt, der in § 11 eine mit § 11 Arbeitsvertrag 2014 wortgleiche Ausschlussfristenregelung enthält, und vorgetragen, dieser Vertrag sei zuletzt Grundlage des Arbeitsverhältnisses gewesen. Der Beklagte hat dies auf Anfrage des Senats bestätigt. Er hat die Auffassung vertreten, § 11 Arbeitsvertrag 2015 sei nach § 3 Satz 1 MiLoG nur insoweit unwirksam, als der gesetzliche Mindestlohn betroffen sei. Unabhängig davon halte die Verfallklausel einer Transparenzkontrolle stand, weil das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitsvertrag 2015 ohne Änderung der Vertragsbedingungen im Übrigen nur „verlängert“ worden sei. Dies sei kein Neuabschluss des Arbeitsvertrags.
Entscheidungsgründe
12
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts war daher aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen. Die Klage ist zulässig und begründet.
13
A. Der Beklagte ist gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG verpflichtet, an den Kläger für 19 Urlaubstage aus dem Jahr 2016, die ihm wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr gewährt werden können, Urlaubsabgeltung iHv. 1.687,20 Euro brutto zu zahlen. Einwendungen gegen Grund und Höhe des Anspruchs hat der Beklagte zuletzt nicht mehr geltend gemacht.
14
B. Der Anspruch des Klägers ist nicht nach Ziff. 5 des Prozessvergleichs vom 15. August 2016 untergegangen.
15
I. Welche Rechtsqualität und welche Reichweite eine Erledigungsklausel in einem gerichtlichen Vergleich hat, ist durch Auslegung nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln (vgl. BAG 10. Februar 2015 – 9 AZR 455/13 – Rn. 28, BAGE 150, 355). Die Streitfrage, ob die Auslegung des materiell-rechtlichen Inhalts eines Prozessvergleichs durch das Landesarbeitsgericht der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt (so zB BAG 27. Mai 2015 – 5 AZR 137/14 – Rn. 18 mwN, BAGE 151, 382; 22. Mai 2003 – 2 AZR 250/02 – zu II 3 der Gründe; 31. Juli 2002 – 10 AZR 513/01 – zu II 3 a der Gründe, BAGE 102, 103; 9. Oktober 1996 – 5 AZR 246/95 – zu 4 der Gründe) oder sie nur darauf überprüft werden kann, ob das Berufungsgericht Auslegungsregeln verletzt, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen, wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen oder eine gebotene Auslegung unterlassen hat (so zB BAG 23. Juni 2016 – 8 AZR 757/14 – Rn. 14; 21. Januar 2014 – 3 AZR 362/11 – Rn. 55; 15. September 2004 – 4 AZR 9/04 – zu I 1 b bb (1) der Gründe, BAGE 112, 50; offengelassen von BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 43; 9. Dezember 2015 – 7 AZR 117/14 – Rn. 23, BAGE 153, 365; 10. Dezember 2014 – 10 AZR 63/14 – Rn. 17), bedarf vorliegend keiner abschließenden Klärung. Die Auslegung des Landesarbeitsgerichts hält auch einer vollen revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
16
II. Das Landesarbeitsgericht hat den Prozessvergleich zutreffend ausgelegt, indem es angenommen hat, der Urlaubsabgeltungsanspruch des Klägers sei nicht aufgrund Ziff. 5 des Vergleichs erloschen. Einer Auslegung der Klausel als konstitutives negatives Schuldanerkenntnis iSd. § 397 Abs. 2 BGB steht Ziff. 2 des Vergleichs entgegen.
17
1. Die Parteien wollen, wenn in einem gerichtlichen Vergleich eine umfassende, sich auf alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erstreckende Ausgleichsklausel aufgenommen und nicht nur der Rechtsstreit erledigt wird, in der Regel das Arbeitsverhältnis abschließend umfassend bereinigen und alle Ansprüche erledigen (vgl. BAG 27. Mai 2015 – 5 AZR 137/14 – Rn. 21, BAGE 151, 382; 22. Oktober 2008 – 10 AZR 617/07 – Rn. 30; 5. April 1973 – 5 AZR 574/72 -). Von einem Willen, einen umfassenden Anspruchsausschluss zu vereinbaren, kann hingegen nicht ausgegangen werden, wenn die Parteien vereinbart haben, dass neben den im Prozessvergleich ggf. ausdrücklich genannten noch weitere, nicht näher bezeichnete Ansprüche zu erfüllen sind.
18
2. Ziff. 5 des Vergleichs vom 15. August 2016 bezieht sich zwar – für sich betrachtet – auf „alle Ansprüche der Parteien … aus dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung“, zu denen auch der Anspruch auf Urlaubsabgeltung nach § 7 Abs. 4 BUrlG gehört (vgl. BAG 16. Dezember 2014 – 9 AZR 295/13 – Rn. 29, BAGE 150, 207; 13. Dezember 2011 – 9 AZR 399/10 – Rn. 17, BAGE 140, 133). Die Erledigungsklausel nimmt jedoch mit dem Wort „damit“ auf die der Klausel vorangestellten Vereinbarungen der Parteien Bezug. Aus dieser Verknüpfung folgt, dass mit Vergleichsschluss zwar der Kündigungsrechtsstreit erledigt werden sollte, die Vertragsbeziehungen im Übrigen aber erst dann, wenn nicht nur die in Ziff. 3 und Ziff. 4 ausdrücklich festgelegten Verpflichtungen der Parteien erfüllt sind, sondern – ohne Einschränkung – auch die in Ziff. 2 nicht näher konkretisierten, weiteren Zahlungsansprüche des Klägers „aus dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung“.
19
C. Der Abgeltungsanspruch des Klägers ist nicht nach § 11 Arbeitsvertrag 2015 verfallen.
20
I. Grundlage des Arbeitsverhältnisses war zuletzt nicht der Arbeitsvertrag vom 3. März 2014, sondern der am 1. September 2015 geschlossene Arbeitsvertrag. Dies haben die Parteien in der Revisionsinstanz unstreitig gestellt.
21
II. Entgegen der Ansicht des Klägers schließt nicht bereits der Prozessvergleich vom 15. August 2016 einen Verfall des Anspruchs auf Urlaubsabgeltung nach § 11 Arbeitsvertrag 2015 aus.
22
1. Dem Wortlaut des Vergleichs ist ein Verzicht des Beklagten auf die Einhaltung der vertraglichen Ausschlussfrist nicht zu entnehmen.
23
2. Etwas anderes folgt auch nicht aus der dem Beklagten mit Ziff. 2 des Vergleichs bis zum 15. September 2016 gesetzten Abrechnungs- und Zahlungsfrist.
24
a) Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einem gerichtlichen Vergleich, „das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß abzurechnen und sich ergebende Nettobeträge“ an den Arbeitnehmer „zu zahlen“, wird hierdurch im Zweifel nur die ohnehin bestehende Rechtslage bestätigt (vgl. BAG 19. Mai 2004 – 5 AZR 434/03 – zu I der Gründe; vgl. zu einer sonstigen Erklärung im Prozess BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 44). Das Anerkenntnis einer Zahlungspflicht oder ein Verzicht auf die schriftliche Geltendmachung von Ansprüchen ist hierin jedenfalls dann nicht zu sehen, wenn – wie hier – die Ansprüche, auf die sich die Abrechnungs- und Zahlungspflicht beziehen soll, nicht benannt sind.
25
b) Ziff. 2 des Vergleichs bestimmt allein die Fälligkeit der Ansprüche des Klägers. Sie räumte dem Beklagten das Recht ein, „das Arbeitsverhältnis“ insgesamt, dh. auch den Urlaubsabgeltungsanspruch des Klägers, der gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig geworden wäre (vgl. BAG 6. Mai 2014 – 9 AZR 758/12 – Rn. 14; 6. August 2013 – 9 AZR 956/11 – Rn. 22), bis zum 15. September 2016 abzurechnen und die Zahlungsansprüche des Klägers spätestens zu diesem Zeitpunkt zu erfüllen (vgl. zur Zulässigkeit der Einbeziehung des Urlaubsabgeltungsanspruchs in eine allgemeine Abrechnung BAG 8. April 2014 – 9 AZR 550/12 – Rn. 16). Hieraus folgt nicht, dass bei Nichterfüllung der Ansprüche des Klägers innerhalb der im Vergleich vereinbarten Frist – die Wirksamkeit von § 11 Arbeitsvertrag 2015 unterstellt – eine schriftliche Geltendmachung gegenüber dem Beklagten entbehrlich gewesen wäre. Allein der Beginn der Ausschlussfrist hätte sich, weil § 11 Arbeitsvertrag 2015 für deren Lauf auf die Fälligkeit des Anspruchs abstellt, durch die in Ziff. 2 des Vergleichs getroffene Abrede verschoben.
26
c) Anhaltspunkte dafür, dass die Parteien mit dem Vergleich eine von den jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen und Anspruchsbeschränkungen unabhängige Zahlungspflicht hätten schaffen wollen, hat der Kläger nicht dargelegt. Solche sind auch nicht ersichtlich.
27
III. Der Kläger war nicht gehalten, den Anspruch auf Urlaubsabgeltung innerhalb der in § 11 Arbeitsvertrag 2015 gesetzten Frist schriftlich geltend zu machen. Die am 1. September 2015 vereinbarte Klausel ist intransparent und damit nach § 307 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 BGB insgesamt unwirksam, weil sie entgegen § 3 Satz 1 MiLoG auch den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG) erfasst, der nach dem am 16. August 2014 in Kraft getretenen Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (MiLoG) ab dem 1. Januar 2015 zu zahlen ist. Die Klausel kann deshalb auch nicht für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung aufrechterhalten werden. An die Stelle der vertraglichen Ausschlussfrist treten die gesetzlichen Bestimmungen (§ 306 Abs. 1 und Abs. 2 BGB). § 3 Satz 1 MiLoG schränkt die Anwendung der §§ 306, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht ein.
28
1. Der streitgegenständliche Anspruch auf Abgeltung von Urlaub kann als reiner Geldanspruch einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist unterliegen (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 11 mwN).
29
2. § 11 Arbeitsvertrag 2015 bezieht sich auf „alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen“. Dies schließt alle gesetzlichen und vertraglichen Ansprüche ein, die Arbeitsvertragsparteien aufgrund ihrer durch den Arbeitsvertrag begründeten Rechtsstellung gegeneinander haben (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 12; 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 39, BAGE 144, 306). Vom Anwendungsbereich der Klausel erfasst sind demnach auch der Anspruch auf Urlaubsabgeltung gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG (vgl. BAG 13. Dezember 2011 – 9 AZR 399/10 – Rn. 17, BAGE 140, 133) und der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG.
30
3. Die Wirksamkeit der im Arbeitsvertrag 2015 getroffenen Abreden ist – jedenfalls – wie die Allgemeiner Geschäftsbedingungen (§ 305 Abs. 1 BGB) anhand von § 305c Abs. 2, §§ 306, 307 bis 309 BGB zu beurteilen. Der Vertrag weist außer den persönlichen Daten des Klägers keine individuellen Besonderheiten auf. Dies – wie auch das äußere Erscheinungsbild – begründet eine tatsächliche Vermutung dafür, dass es sich bei den Bestimmungen des Arbeitsvertrags 2015 um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 14; 9. Dezember 2015 – 7 AZR 68/14 – Rn. 12; 25. Juni 2015 – 6 AZR 383/14 – Rn. 23, BAGE 152, 82; 19. März 2014 – 5 AZR 299/13 (F) – Rn. 17 mwN). Letztlich kann jedoch offenbleiben, ob es sich um für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen handelt (§ 305 Abs. 1 Satz 1 BGB), denn der Arbeitsvertrag 2015 ist ein Verbrauchervertrag iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB (vgl. BAG 13. Februar 2013 – 5 AZR 2/12 – Rn. 14). Dass der Kläger auf den Inhalt des Arbeitsvertrags Einfluss nehmen konnte (§ 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB), hat der Beklagte nicht behauptet.
31
4. § 11 Arbeitsvertrag 2015 enthält nicht verschiedene Ausschlussfristenregelungen und ist deshalb einer einheitlichen Kontrolle nach § 305c Abs. 2, §§ 306, 307 bis 309 BGB zu unterziehen.
32
a) Bei einer teilbaren Klausel ist diese Kontrolle jeweils getrennt für die verschiedenen, nur formal in einer Allgemeinen Geschäftsbedingung verbundenen Bestimmungen vorzunehmen. Die Regelungen müssen allerdings nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich zu trennen sein (vgl. BAG 27. Januar 2016 – 5 AZR 277/14 – Rn. 23, BAGE 154, 93). Die Teilbarkeit einer Klausel ist durch Streichung des unwirksamen Teils (sog. Blue-Pencil-Test) zu ermitteln. Eine teilbare Formularklausel kann mit ihrem zulässigen Teil aufrechterhalten werden (vgl. BAG 13. November 2013 – 10 AZR 848/12 – Rn. 25, BAGE 146, 284; BGH 5. Mai 2015 – XI ZR 214/14 – Rn. 21, BGHZ 205, 220). Darin liegt keine geltungserhaltende Reduktion, denn die Trennung ist in den vom Verwender gestellten Vertragsbedingungen bereits vorgegeben (vgl. BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 671/15 – Rn. 34 f., BAGE 158, 81).
33
b) § 11 Arbeitsvertrag 2015 ist nicht – im Sinne einer in der Klausel vorgegebenen Trennung – teilbar. Die Verfallklausel erfasst inhaltlich und sprachlich alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, ohne zwischen dem Mindestlohnanspruch und sonstigen Ansprüchen zu differenzieren (vgl. BAG 24. August 2016 – 5 AZR 703/15 – Rn. 24, BAGE 156, 150).
34
5. § 11 Arbeitsvertrag 2015 verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.
35
a) Das Transparenzgebot verpflichtet den Verwender von Einmalbedingungen iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB und von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners klar und verständlich darzustellen (vgl. BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 308/17 – Rn. 34; 24. August 2016 – 8 AZR 378/16 – Rn. 18). Wegen der weitreichenden Folgen von Ausschlussfristen muss aus der Verfallklausel, wenn diese dem Transparenzgebot genügen soll, ersichtlich sein, welche Rechtsfolgen der Vertragspartner des Verwenders zu gewärtigen hat und was er zu tun hat, um deren Eintritt zu verhindern (st. Rspr., zB BAG 19. Juni 2018 – 9 AZR 615/17 – Rn. 55; 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 48, BAGE 144, 306). Eine Klausel, die die Rechtslage unzutreffend oder missverständlich darstellt und auf diese Weise dem Verwender ermöglicht, begründete Ansprüche unter Hinweis auf die in der Klausel getroffene Regelung abzuwehren, und die geeignet ist, dessen Vertragspartner von der Durchsetzung bestehender Rechte abzuhalten, benachteiligt den Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen (st. Rspr., vgl. etwa BAG 21. Januar 2015 – 10 AZR 84/14 – Rn. 33, BAGE 150, 286; 17. August 2011 – 5 AZR 406/10 – Rn. 13, BAGE 139, 44; BGH 25. November 2015 – VIII ZR 360/14 – Rn. 17 mwN, BGHZ 208, 52; 5. Oktober 2005 – VIII ZR 382/04 – Rn. 23).
36
b) § 11 Arbeitsvertrag 2015 wird dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht gerecht, weil die Klausel, indem sie entgegen § 3 Satz 1 MiLoG den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG) aus ihrem Anwendungsbereich nicht ausnimmt, die Rechtslage unzutreffend und deshalb irreführend darstellt.
37
aa) Nach § 3 Satz 1 MiLoG sind Vereinbarungen, die den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, insoweit unwirksam. Ausschlussfristen betreffen den zeitlichen Bestand und die Art und Weise der Geltendmachung eines Rechts (vgl. BAG 23. März 2011 – 5 AZR 7/10 – Rn. 31, BAGE 137, 249; 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu II der Gründe, BAGE 115, 19). § 3 Satz 1 MiLoG entzieht Ausschlussfristen für die Geltendmachung des Mindestlohnanspruchs der Regelungsmacht der Arbeitsvertragsparteien (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 20 f.; vgl. zu § 9 AEntG BAG 24. August 2016 – 5 AZR 703/15 – Rn. 21, BAGE 156, 150).
38
bb) § 11 Arbeitsvertrag 2015 erfasst, obwohl § 3 Satz 1 MiLoG dies verbietet, den gesetzlichen Mindestlohn.
39
(1) Eine Auslegung, der gesetzliche Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG solle nicht in den Anwendungsbereich von § 11 Arbeitsvertrag 2015 fallen, lässt der Wortlaut der Klausel mangels einer entsprechenden Einschränkung nicht zu.
40
(2) Eine an Sinn und Zweck orientierte Auslegung führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Anspruch auf Entgelt für geleistete Arbeit betrifft nicht einen nur selten auftretenden, von den Vertragsparteien nicht für regelungsbedürftig gehaltenen Sonderfall (vgl. hierzu: BAG 20. Juni 2013 – 8 AZR 280/12 – Rn. 21 f. mwN; 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 6 der Gründe, BAGE 115, 19), sondern ist der Hauptanwendungsbereich von Ausschlussfristen (vgl. BAG 24. August 2016 – 5 AZR 703/15 – Rn. 21, BAGE 156, 150; ErfK/Preis 18. Aufl. §§ 194 – 218 BGB Rn. 50a; Nebel/Kloster BB 2014, 2933, 2936; Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 27; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 66 Rn. 45), den die Parteien eines Arbeitsvertrags bei der Vereinbarung einer Ausschlussfrist vor allem im Blick haben (vgl. BAG 20. Juni 2013 – 8 AZR 280/12 – Rn. 22).
41
cc) Das Fehlen der Ausnahme des gesetzlichen Mindestlohns führt zur Intransparenz von § 11 Arbeitsvertrag 2015, weil die Klausel vom Beklagten nach dem 31. Dezember 2014 gestellt wurde. Keiner Entscheidung bedarf es, ob dies gleichermaßen – und ggf. ohne zeitliche Einschränkungen – gölte, wenn die Klausel zwar mit oder nach Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes am 16. August 2014, aber vor Geltung des Mindestlohns ab dem 1. Januar 2015 vereinbart worden wäre.
42
(1) Für die Prüfung der Transparenz einer in einem Verbrauchervertrag iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB gestellten oder als Allgemeine Geschäftsbedingung iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB vereinbarten Ausschlussfrist ist allein auf die Gesetzeslage bei Vertragsschluss abzustellen (vgl. BAG 23. September 2010 – 8 AZR 897/08 – Rn. 22; BGH 25. Juni 2014 – VIII ZR 344/13 – Rn. 38, BGHZ 201, 363; 30. März 2010 – XI ZR 200/09 – Rn. 30, BGHZ 185, 133; 4. Februar 2009 – VIII ZR 66/08 – Rn. 15). Ist eine Klausel bei Vertragsschluss transparent, verliert sie ihre Wirksamkeit nicht, wenn spätere Gesetzesänderungen zu ihrer Intransparenz führen (vgl. Boemke JuS 2015, 385, 392; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3).
43
(2) Die Transparenz einer in einem Verbrauchervertrag iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB gestellten oder als Allgemeine Geschäftsbedingung iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB vereinbarten Ausschlussfrist, die den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnimmt, ist somit nach der Gesetzeslage zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu beurteilen.
44
(a) Das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (MiLoG) ist durch Art. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie vom 11. August 2014 (Tarifautonomiestärkungsgesetz, BGBl. I S. 1348) eingeführt und am 16. August 2014, dem Tag nach seiner Verkündung (Art. 15 Abs. 1 Tarifautonomiestärkungsgesetz), in Kraft getreten. Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn besteht erst seit dem 1. Januar 2015 (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG). Der den Schutz des Mindestlohnanspruchs bezweckende § 3 Satz 1 MiLoG setzt eine zeitliche Parallelität von arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltansprüchen einerseits und dem Mindestlohnanspruch andererseits voraus. Ein zeitliches Nebeneinander dieser Ansprüche war vor Geltung des gesetzlichen Mindestlohns ab dem 1. Januar 2015 ausgeschlossen (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 22).
45
(b) Wurde der Arbeitsvertrag vor Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes geschlossen, kann – allein – die Änderung der Gesetzeslage durch das Mindestlohngesetz nicht nachträglich nach § 307 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 BGB zur (Gesamt-)Unwirksamkeit der Ausschlussfristenregelung wegen Intransparenz führen, wenn sich ihr Anwendungsbereich entgegen § 3 Satz 1 MiLoG ab dem 1. Januar 2015 auch auf den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn erstreckt. Die fehlende Ausnahme des gesetzlichen Mindestlohns hat für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2015 die Teilunwirksamkeit der Ausschlussfristenregelung nach § 3 Satz 1 MiLoG zur Folge; für den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2014 steht § 3 Satz 1 MiLoG der Wirksamkeit der Ausschlussfrist nicht entgegen, denn die Norm setzt das Bestehen eines Mindestlohnanspruchs voraus (vgl. BAG 17. Oktober 2017 – 9 AZR 80/17 – Rn. 21 ff.).
46
(c) Demgegenüber verstößt eine vom Arbeitgeber gestellte arbeitsvertragliche Ausschlussfristenregelung (§ 305 Abs. 1 Satz 1, § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB), die auch den gesetzlichen Mindestlohn erfasst, gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, wenn der Arbeitsvertrag nach dem 31. Dezember 2014 geschlossen wurde. Sie stellt die Rechtslage von Anfang an irreführend dar.
47
(aa) Eine solche Ausschlussfristenregelung suggeriert – ausgehend von dem bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB wie von Einmalbedingungen iSv. § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB anzuwendenden abstrakt-generellen Prüfungsmaßstab (vgl. BAG 24. Mai 2018 – 6 AZR 116/17 – Rn. 15; 28. September 2017 – 8 AZR 67/15 – Rn. 58; 19. August 2015 – 5 AZR 450/14 – Rn. 14; 17. April 2013 – 10 AZR 281/12 – Rn. 12) – dem verständigen Arbeitnehmer, er müsse auch den Anspruch auf den nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG ab dem 1. Januar 2015 zu zahlenden gesetzlichen Mindestlohn innerhalb der vorgesehenen Ausschlussfrist geltend machen (vgl. zu § 2 PflegeArbbV BAG 24. August 2016 – 5 AZR 703/15 – Rn. 30, BAGE 156, 150). Damit besteht die Gefahr, dass der Arbeitnehmer nach Verstreichen der gesetzten Ausschlussfrist den gesetzlichen Mindestlohnanspruch in der Annahme, er sei verfallen, nicht mehr durchsetzt, obwohl sein Verfall nach § 3 Satz 1 MiLoG ausgeschlossen ist.
48
(bb) Um dieser Gefahr vorzubeugen, muss im Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes der Anspruch auf den Mindestlohn in einer arbeitsvertraglichen Verfallklausel klar und deutlich ausgenommen werden (vgl. ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3a; Nebel/Kloster BB 2014, 2933, 2936 f.; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 66 Rn. 45).
49
(cc) Der Verwender von Ausschlussfristen wird hierdurch nicht vor unzumutbare Anforderungen gestellt.
50
(aaa) Die an die Transparenz von Allgemeinen Geschäftsbedingungen gestellten Anforderungen dürfen den Verwender nicht überfordern. Die gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB bestehende Verpflichtung, den Klauselinhalt möglichst klar und verständlich zu formulieren, besteht nur im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren. Welche Anforderungen an die Wahrung des Transparenzgebots konkret zu stellen sind, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Dabei ist insbesondere auch die Komplexität des Sachverhalts unter Berücksichtigung der spezifischen Gegebenheiten des konkreten Regelungsgegenstands maßgeblich (vgl. BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 671/15 – Rn. 23 mwN, BAGE 158, 81; 21. August 2012 – 3 AZR 698/10 – Rn. 18, BAGE 143, 30).
51
(bbb) An den Klauselverwender werden keine unzumutbaren Anforderungen gestellt, wenn man ihm, will er die Intransparenz der Ausschlussfrist wegen fehlender Ausnahme des gesetzlichen Mindestlohns vermeiden, einen Hinweis darauf abverlangt, die vertragliche Ausschlussfrist gelte nicht für Ansprüche des Arbeitnehmers, die kraft Gesetzes der vereinbarten Ausschlussfrist entzogen sind (vgl. zu einem Formulierungsvorschlag Roloff FS Willemsen 2018 S. 416). Eine entsprechende Formulierung würde, auch wenn sie den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausdrücklich benennt, dem Transparenzgebot gerecht, denn der Klauselverwender darf – ohne dass hierin eine mit § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht in Einklang zu bringende Überforderung des Arbeitnehmers zu sehen wäre – Rechtsbegriffe aus der Gesetzessprache ebenso wie unbestimmte und auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe verwenden. Das Transparenzgebot erfordert keine Klauselgestaltung, die eine einzelfallbezogene Subsumtion von vornherein entbehrlich macht. Es kann vom Klauselverwender nicht verlangt werden, die Folgen einer Vertragsbestimmung für alle denkbaren Fallgestaltungen zu erläutern (vgl. BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 671/15 – Rn. 23, BAGE 158, 81; BGH 25. November 2015 – VIII ZR 360/14 – Rn. 17 mwN, BGHZ 208, 52). Durch einen entsprechenden Hinweis würde dem verständigen Arbeitnehmer verdeutlicht, dass der Anwendungsbereich der vertraglichen Ausschlussfrist in Abhängigkeit vom jeweils streitigen Anspruch gesetzlichen Beschränkungen unterliegen kann. Eine Belehrung über alle gesetzlichen Bestimmungen, die Ausschlussfristen der Regelungsmacht der Arbeitsvertragsparteien entziehen, oder über sich möglicherweise durch Auslegung der Verfallklausel ergebende Einschränkungen ihres Anwendungsbereichs (vgl. zum Urlaubsanspruch BAG 19. Juni 2018 – 9 AZR 615/17 – Rn. 37 ff.) verlangt das Transparenzgebot nicht.
52
(3) In Anwendung dieser Grundsätze hält § 11 Arbeitsvertrag 2015 einer Transparenzkontrolle nicht stand, weil die Klausel vom Beklagten nach Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes und Geltung des gesetzlichen Mindestlohns mit dem Arbeitsvertrag vom 1. September 2015 gestellt wurde und sie den gesetzlichen Mindestlohn nicht ausnimmt. Entgegen der Ansicht des Beklagten kann die Transparenz von § 11 Arbeitsvertrag 2015 auch nicht deshalb an dem für „Altverträge“ geltenden Maßstab beurteilt werden, weil mit dem Arbeitsvertrag 2015 das bisher befristete Arbeitsverhältnis unter Beibehaltung der Bedingungen des am 3. März 2014 geschlossenen Arbeitsvertrags – einschließlich der Ausschlussfristenregelung – fortgesetzt wurde.
53
(a) Bei einer nach dem 31. Dezember 2014 vereinbarten Fortführung eines bisher befristeten Arbeitsverhältnisses kommt es für die Beurteilung, ob eine vom Arbeitgeber gestellte Ausschlussfrist einer Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB standhält, darauf an, ob die vertragliche Ausschlussfristenregelung bei Vereinbarung der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den in der Befristungsabrede vorgesehenen Beendigungstermin hinaus erneut Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien war. Allein die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses führt nicht notwendig dazu, dass zugleich stets alle Regelungen des ursprünglichen Arbeitsvertrags erneut vereinbart oder bestätigt würden. Ob eine solche Abrede gewollt ist, ist anhand der konkreten Vertragsänderung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. zur Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel BAG 27. März 2018 – 4 AZR 151/15 – Rn. 29 mwN).
54
(b) Ein deutlicher Ausdruck dafür, dass eine zuvor vereinbarte Verfallklausel erneut Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien war und die Parteien trotz der geänderten Gesetzeslage durch Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes auch nach Geltung des gesetzlichen Mindestlohns an den zuvor getroffenen Abreden festhalten wollten, liegt beispielsweise in der Erklärung, dass „alle anderen Vereinbarungen aus dem Anstellungsvertrag unberührt bleiben“ (vgl. BAG 27. März 2018 – 4 AZR 151/15 – Rn. 29; 30. Juli 2008 – 10 AZR 606/07 – Rn. 49, BAGE 127, 185). Erst recht ist hiervon auszugehen, wenn die Arbeitsvertragsparteien nicht nur allgemein auf die bisherigen Vertragsbedingungen Bezug nehmen, sondern die Ausschlussfristenregelung ausdrücklich in die Vereinbarung über die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses einbeziehen, indem sie diese – wie hier im Arbeitsvertrag 2015 – in die Vertragsurkunde erneut aufnehmen.
55
(4) Offenbleiben kann, ob die fehlende Ausnahme sonstiger Ansprüche, für deren Geltendmachung die Vereinbarung von Ausschlussfristen kraft Gesetzes, wie zB nach § 9 AEntG, § 77 Abs. 4 Satz 4 BetrVG, § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG, der Regelungsmacht der Arbeitsvertragsparteien ganz oder teilweise entzogen ist, ebenfalls zur Intransparenz von § 11 Arbeitsvertrag 2015 führte.
56
6. Die Intransparenz hat die Gesamtunwirksamkeit von § 11 Arbeitsvertrag 2015 zur Folge und führt zu deren ersatzlosem Wegfall unter Aufrechterhaltung des Arbeitsvertrags im Übrigen (§ 306 Abs. 1 und Abs. 2 BGB). Die Klausel kann, weil sie nicht teilbar ist (vgl. oben Rn. 31 ff.), auch nicht für den Anspruch auf Urlaubsabgeltung aufrechterhalten werden. An die Stelle der Ausschlussfristenregelung treten nach § 306 Abs. 2 BGB die gesetzlichen Bestimmungen (vgl. BAG 12. März 2008 – 10 AZR 152/07 – Rn. 27).
57
a) Eine geltungserhaltende Reduktion, mit der eine einheitliche und damit auch einer einheitlichen AGB-Kontrolle unterliegende Klausel durch das Gericht in einen zulässigen und einen unzulässigen Teil getrennt und in ihrem rechtlich nicht zu beanstandenden Teil aufrechterhalten wird (vgl. BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 671/15 – Rn. 34 f., BAGE 158, 81), ist im Rechtsfolgensystem des § 306 BGB nicht vorgesehen (BAG 24. August 2017 – 8 AZR 378/16 – Rn. 32). Unwirksame Klauseln sind grundsätzlich nicht auf einen mit dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu vereinbarenden Regelungsgehalt zurückzuführen. Eine geltungserhaltende Reduktion wäre mit dem Zweck der §§ 305 ff. BGB, den Rechtsverkehr von unwirksamen Klauseln freizuhalten und auf einen angemessenen Inhalt der in der Praxis angewandten Geschäftsbedingungen hinzuwirken, nicht vereinbar. Wer die Möglichkeit nutzen kann, die ihm der Grundsatz der Vertragsfreiheit für die Aufstellung Allgemeiner Geschäftsbedingungen eröffnet, muss auch das vollständige Risiko einer Klauselunwirksamkeit tragen. Anderenfalls liefe das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB weitgehend leer (st. Rspr., zB BAG 16. Dezember 2014 – 9 AZR 295/13 – Rn. 20, BAGE 150, 207; 13. Dezember 2011 – 3 AZR 791/09 – Rn. 30 mwN; vgl. auch BGH 22. September 2015 – II ZR 341/14 – Rn. 20).
58
b) Die Voraussetzungen einer ergänzenden Vertragsauslegung (vgl. hierzu jeweils mwN: BAG 28. September 2017 – 8 AZR 67/15 – Rn. 37 ff.; 16. Dezember 2014 – 9 AZR 295/13 – Rn. 21, BAGE 150, 207) sind nicht gegeben. Dem mit einer Ausschlussfrist verfolgten Zweck, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu erreichen, wird durch die gesetzlichen Verjährungsfristen hinreichend Rechnung getragen. Der Beklagte hat zudem kein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung der Ausschlussfristenregelung mit einem zulässigen Inhalt. Er hatte es als Klauselverwender in der Hand, eine transparente Ausschlussfristenregelung zu formulieren (vgl. BAG 19. Juni 2018 – 9 AZR 615/17 – Rn. 62; 24. August 2016 – 5 AZR 703/15 – Rn. 30, BAGE 156, 150).
59
c) Für die Beurteilung der Wirksamkeit der Ausschlussfristenregelung ist es unerheblich, ob sich das Risiko, der gesetzliche Mindestlohn werde in der Annahme, er sei nach § 11 Arbeitsvertrag 2015 verfallen, nicht geltend gemacht, im Entscheidungsfall realisiert hat. Die gesetzlichen Vorschriften der §§ 305 ff. BGB missbilligen bereits das Stellen inhaltlich unangemessener Formularklauseln (§ 305 Abs. 1 Satz 1, § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB), nicht erst deren unangemessenen Gebrauch im konkreten Einzelfall. Der Rechtsfolge der Unwirksamkeit sind auch solche Klauseln unterworfen, die in ihrem Übermaßteil in zu beanstandender Weise ein Risiko regeln, das sich im Entscheidungsfall nicht realisiert hat (st. Rspr., vgl. etwa BAG 17. März 2016 – 8 AZR 665/14 – Rn. 26; 26. September 2013 – 8 AZR 1013/12 – Rn. 23; 28. Mai 2013 – 3 AZR 103/12 – Rn. 21; 22. Juli 2010 – 6 AZR 847/07 – Rn. 18, BAGE 135, 163).
60
d) Die Unwirksamkeit von § 11 Arbeitsvertrag 2015 hat zur Folge, dass sich allein der Beklagte als Verwender der von ihm gestellten Klausel nicht auf die darin gesetzte Ausschlussfrist berufen kann. Die Inhaltskontrolle schafft lediglich einen Ausgleich für die einseitige Inanspruchnahme der Vertragsfreiheit durch den Verwender der Klausel, sie dient aber nicht dem Schutz des Verwenders vor den von ihm selbst eingeführten Formularbestimmungen (vgl. BAG 19. Juni 2018 – 9 AZR 615/17 – Rn. 42; 28. September 2017 – 8 AZR 67/15 – Rn. 47; 22. September 2016 – 2 AZR 509/15 – Rn. 20; 27. Oktober 2005 – 8 AZR 3/05 – Rn. 16; BGH 5. Mai 2015 – XI ZR 214/14 – Rn. 22, BGHZ 205, 220). Dem Kläger wäre die Berufung auf die unwirksame Ausschlussfristenregelung nicht versagt.
61
7. § 3 Satz 1 MiLoG schränkt die Anwendung und die Rechtsfolgen von § 307 Abs. 1 Satz 2 und § 306 BGB auf eine Ausschlussfristenregelung in einem Formularvertrag (§ 305 Abs. 1 Satz 1, § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB), die auch den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn erfasst, nicht ein.
62
a) Dies ist allerdings umstritten.
63
aa) Von Teilen des Schrifttums wird die Ansicht vertreten, § 3 Satz 1 MiLoG sei bezogen auf Ausschlussfristen in Formularverträgen – die im Übrigen den Anforderungen der §§ 305 ff. BGB genügten – im Verhältnis zu § 307 Abs. 1 Satz 2 und § 306 Abs. 2 BGB lex specialis (so ausdrücklich Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 28); die Norm verdränge in ihrem Anwendungsbereich sowohl das Transparenzgebot als auch das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion (so im Ergebnis mit zum Teil unterschiedlichen Begründungsansätzen: zB Bayreuther DB 2017, 487, 489; Greiner in Thüsing MiLoG/AEntG 2. Aufl. § 3 Rn. 12; Lembke NZA 2016, 1, 8 f.; Lingemann/Otte NZA 2016, 519, 522; Preis/Ulber Ausschlussfristen und Mindestlohngesetz S. 47 ff.; Riechert/Nimmerjahn aaO § 3 Rn. 26 ff.; Sagan RdA 2017, 264, 266; Stenslik DStR 2017, 938, 940 f.). § 3 Satz 1 MiLoG ordne eine nur partielle Unwirksamkeit von Ausschlussfristen an, deren Anwendungsbereich sich auch, aber nicht allein auf den gesetzlichen Mindestlohn erstrecke, und gebe gesetzlich deren „Teilbarkeit“ im Sinne einer geltungserhaltenden Reduktion vor. Der Verstoß gegen § 3 Satz 1 MiLoG führe deshalb unabhängig vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses nur zur Teilunwirksamkeit vom Arbeitgeber gestellter Ausschlussfristen. Nach dem Schutzkonzept des Mindestlohngesetzes und dem Wortlaut von § 3 Satz 1 MiLoG sollten Ausschlussfristen nur insoweit unwirksam sein, als sie sich auf den gesetzlichen Mindestlohn bezögen (vgl. Riechert/Nimmerjahn aaO § 3 Rn. 28).
64
bb) Nach anderer im Schrifttum vertretener Ansicht schränkt § 3 Satz 1 MiLoG den Anwendungsbereich und die Rechtsfolgen von § 307 Abs. 1 Satz 2 und von § 306 BGB nicht ein. Nach Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes in Verbraucherverträgen vereinbarte Ausschlussfristen, die unter Verstoß gegen § 3 Satz 1 MiLoG auch den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn erfassten, seien, weil sie die Rechtslage nicht zutreffend abbildeten, intransparent und deshalb nicht nur teilweise, sondern nach § 307 Abs. 1 Satz 2, § 306 BGB insgesamt unwirksam (so im Ergebnis mit zum Teil unterschiedlichen Begründungsansätzen: ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3a; HK-MiLoG/Trümner 2. Aufl. § 3 Rn. 29; HWK/Roloff 8. Aufl. Anh. §§ 305 – 310 BGB Rn. 14; Kamanabrou ZFA 2018, 92, 102, 108; MHdBArbR/Krause 4. Aufl. Bd. 1 § 71 Rn. 19a; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 3; Nebel/Kloster BB 2014, 2933, 2936 f.; Zwanziger AuR 2017, 333, 336; weiter gehend auch für vor Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes vereinbarte Ausschlussfristen Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 66 Rn. 45).
65
b) § 3 Satz 1 MiLoG und § 307 Abs. 1 Satz 2, § 306 BGB stehen zueinander nicht in einem Rangverhältnis der Spezialität oder Subsidiarität. Die gesetzlichen Bestimmungen sind nebeneinander anwendbar. Die darin angeordneten Rechtsfolgen schließen einander nicht aus. Das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB überlagert die limitierte Rechtsfolge des § 3 Satz 1 MiLoG (vgl. MHdBArbR/Krause 4. Aufl. Bd. 1 § 71 Rn. 19a).
66
aa) Grundsätzlich beanspruchen Rechtsnormen, die – wie die genannten einfachgesetzlichen Regelungen – im gleichen Rangverhältnis zueinander stehen, gleichermaßen Geltung und sind nebeneinander anwendbar. Erfüllt ein konkreter Lebensvorgang die abstrakten Tatbestandsmerkmale mehrerer Rechtsnormen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sämtliche an den einheitlichen Tatbestand geknüpften Rechtsfolgen gleichrangig nebeneinander eintreten (vgl. BGH 12. April 1954 – GSZ 1/54 – zu A III b der Gründe, BGHZ 13, 88; BVerwG 25. Juni 2015 – 5 C 15.14 – Rn. 14, BVerwGE 152, 264), sofern sie sich nicht gegenseitig ausschließen (vgl. Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft 3. Aufl. S. 87). Eine Verdrängung der einen Rechtsnorm durch eine andere besondere Rechtsnorm kann vorliegen, wenn ein Fall von Spezialität (lex specialis derogat legi generali) gegeben ist. Spezialität verlangt, dass die verdrängende Rechtsnorm sämtliche Merkmale der allgemeinen Norm enthält und dieser noch ein besonderes Merkmal zur Bildung seines Tatbestandsbegriffs hinzufügt (vgl. BGH 12. April 1954 – GSZ 1/54 – zu A III a der Gründe, aaO; BVerwG 25. Juni 2015 – 5 C 15.14 – Rn. 14, aaO). Ist ein auf Spezialität beruhendes Rangverhältnis der Rechtsnormen nicht festzustellen, kann das Zurücktreten einer Norm nur aus einem die Annahme einer Gesetzessubsidiarität rechtfertigenden ausdrücklichen oder stillschweigenden Gesetzesbefehl gefolgert werden (vgl. BGH 12. April 1954 – GSZ 1/54 – zu A III b der Gründe, aaO), dessen Vorliegen durch Auslegung der an sich gleichrangigen Normen zu ermitteln ist (vgl. BVerwG 25. Juni 2015 – 5 C 15.14 – Rn. 16, aaO; vgl. zu den Voraussetzungen einer verdrängenden Gesetzeskonkurrenz auch: Larenz/Canaris aaO S. 87 ff.; Kamanabrou ZFA 2018, 92, 102 ff.; Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6. Aufl. S. 268; Reimer Juristische Methodenlehre Rn. 196 ff.; Wank Die Auslegung von Gesetzen 6. Aufl. S. 102 f.; Rüthers/Fischer/Birk Rechtstheorie 9. Aufl. Rn. 771 ff.).
67
bb) Eine Verdrängung von § 307 Abs. 1 Satz 2, § 306 BGB durch § 3 Satz 1 MiLoG kraft Spezialität scheidet aus, weil sich § 3 Satz 1 MiLoG zur Transparenz von Ausschlussfristen und den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot nicht verhält.
68
cc) Auch ein ausdrücklicher oder stillschweigender Gesetzesbefehl, der allein die Annahme der Subsidiarität von § 307 Abs. 1 Satz 2, § 306 Abs. 2 BGB bzw. einer abschließenden Rechtsfolgenanordnung im Sinne eines „nur“ insoweit unwirksam rechtfertigen könnte, ist § 3 Satz 1 MiLoG nicht zu entnehmen. § 3 Satz 1 MiLoG ordnet weder an, dass wegen Einbeziehung des gesetzlichen Mindestlohns intransparente Ausschlussfristen im Übrigen, soweit diese sonstige Ansprüche erfassen, wirksam sind, noch bestimmt die Norm die „Teilbarkeit“ solcher Klauseln. Dies ergibt die Auslegung von § 3 Satz 1 MiLoG (vgl. zu den bei der Auslegung von Gesetzen anzuwendenden Auslegungsgrundsätzen im Einzelnen: BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 ua. – Rn. 74; 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 ua. – Rn. 66, BVerfGE 133, 168; BAG 21. Dezember 2016 – 5 AZR 374/16 – Rn. 20, BAGE 157, 356).
69
(1) Der Wortlaut von § 3 Satz 1 MiLoG schränkt den Anwendungsbereich von § 307 Abs. 1 Satz 2 und § 306 BGB nicht ein. § 3 Satz 1 MiLoG untersagt die Vereinbarung von Ausschlussfristen für den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Aus der Formulierung „insoweit unwirksam“ lässt sich nicht ableiten, die Bestimmung ordne – im Umkehrschluss – zugleich die Wirksamkeit intransparenter Ausschlussfristen oder deren geltungserhaltende Reduktion auf einen rechtlich nicht zu beanstandenden Kern an. § 3 Satz 1 MiLoG stellt mit den Worten „insoweit unwirksam“ allein klar, dass die Zulässigkeit der Vereinbarung von Ausschlussfristen für Ansprüche außerhalb des gesetzlichen Mindestlohns unberührt bleibt. Die Rechtsfolgen von § 3 Satz 1 MiLoG und von § 307 Abs. 1 Satz 2, § 306 BGB schließen sich deshalb nicht aus. Anderenfalls hätte es nicht „insoweit unwirksam“, sondern „nur insoweit unwirksam“ heißen müssen (vgl. Zwanziger AuR 2017, 333, 336).
70
(2) Für eine lediglich klarstellende Bedeutung des Wortes „insoweit“ in § 3 Satz 1 MiLoG spricht auch die Systematik des Mindestlohngesetzes. Der Mindestlohn tritt als gesetzlicher Anspruch eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch. § 3 Satz 1 MiLoG führt bei Unterschreiten des Mindestlohnanspruchs zu einem Differenzanspruch, nicht aber zur Nichtigkeit der Entgeltabrede (vgl. BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 22, BAGE 155, 202). Das Mindestlohngesetz geht damit von einer Anspruchskonkurrenz des Mindestlohnanspruchs zu den aufgrund sonstiger Vereinbarungen bestehenden Vergütungsansprüchen des Arbeitnehmers aus. § 3 Satz 1 MiLoG verbietet Vereinbarungen, die darauf gerichtet sind, den gesetzlichen Mindestlohnanspruch durch Absenkung zum Nachteil des Arbeitnehmers zu gestalten oder seine Geltendmachung zu beschränken. In die Gestaltung der für das Arbeitsverhältnis im Übrigen geltenden Vereinbarungen greift § 3 Satz 1 MiLoG nicht ein. Ausgehend von diesem gesetzlichen Regelungskonzept hätte es für die Annahme, § 3 Satz 1 MiLoG stelle mit der Formulierung „insoweit unwirksam“ zugleich die Wirksamkeit von Ausschlussfristen im Übrigen fest, indem er – als eine § 307 Abs. 1 Satz 2 und § 306 Abs. 2 BGB verdrängende Norm – die geltungserhaltende Reduktion intransparenter Ausschlussfristen auf sonstige (Vergütungs-)Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis anordne, deutlicher Anhaltpunkte im Gesetz bedurft. Daran fehlt es.
71
(3) Entscheidend gegen ein Verständnis, § 3 Satz 1 MiLoG schränke im Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes durch einen Normbefehl – im Sinne eines „nur insoweit unwirksam“ – die Geltung von § 307 Abs. 1 Satz 2 und § 306 Abs. 2 BGB ein, spricht insbesondere Sinn und Zweck der Regelung.
72
(a) § 3 Satz 1 MiLoG soll, wie schon in der Begründung des insoweit unverändert verabschiedeten Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drs. 18/1558 S. 35) ausgeführt, den Mindestlohnanspruch sichern und die Umgehung des Mindestlohngesetzes durch missbräuchliche Konstruktionen verhindern (allgA, vgl. statt aller: ErfK/Franzen 18. Aufl. § 3 MiLoG Rn. 1; Preis/Ulber Ausschlussfristen und Mindestlohngesetz S. 32; Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 3 Rn. 1).
73
(b) Mit diesem Normzweck nicht in Einklang zu bringen ist die Annahme, § 3 Satz 1 MiLoG erhalte im Wege einer gesetzlich vorgegebenen Teilbarkeit oder geltungserhaltenden Reduktion Ausschlussfristen aufrecht, die aufgrund ihres irreführenden Inhalts die Gefahr in sich bergen, der Arbeitnehmer werde den gesetzlichen Mindestlohnanspruch nach Verstreichen der gesetzten Ausschlussfrist im Glauben, er sei verfallen, nicht mehr geltend machen. Ein Verständnis in diesem Sinne hätte die paradoxe Folge, dass der Schutz, den § 3 Satz 1 MiLoG dem Arbeitnehmer vermitteln will, indem er den Mindestlohnanspruch Ausschlussfristen entzieht, zugleich durch eine Beschränkung der Kontrolle überschießender Ausschlussfristen nach Maßgabe der dem Schutz des Arbeitnehmers als Vertragspartner des Verwenders dienenden §§ 305 ff. BGB unterlaufen würde. Es wäre zu befürchten, das in § 3 Satz 1 MiLoG geregelte Verbot von Ausschlussfristen für die Geltendmachung des Mindestlohnanspruchs liefe in vielen Fällen faktisch leer und die Zahlung des Mindestlohns würde auf diese Weise im Ergebnis umgangen. Diese Gefahr würde – den Normzweck von § 3 Satz 1 MiLoG konterkarierend – durch den Erhalt sich (auch) auf den Mindestlohn erstreckender Ausschlussfristen fortgeschrieben.
74
8. Auch die nach § 310 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 1 BGB gebotene angemessene Berücksichtigung der im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten (vgl. hierzu BAG 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 5 der Gründe, BAGE 115, 19) rechtfertigt nicht die Aufrechterhaltung einer sich auch auf den gesetzlichen Mindestlohnanspruch erstreckenden Ausschlussfrist.
75
a) Ausschlussfristen sind als dem Arbeitsverhältnis innewohnende Besonderheiten anerkannt. Sie dienen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit und dem Rechtsfrieden und sollen zu der im Arbeitsleben besonders gebotenen raschen Klärung von Ansprüchen und Bereinigung offener Streitpunkte führen (st. Rspr., zB BAG 23. November 2017 – 6 AZR 33/17 – Rn. 26; 21. April 2016 – 8 AZR 753/14 – Rn. 34; 16. März 2016 – 4 AZR 421/15 – Rn. 37, BAGE 154, 252; 10. Dezember 2013 – 9 AZR 494/12 – Rn. 14; 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu IV 5 der Gründe, BAGE 115, 19).
76
b) Die Aufrechterhaltung von Ausschlussfristen, die unter Verstoß gegen die dem Arbeitnehmerschutz dienende Bestimmung des § 3 Satz 1 MiLoG Ansprüche des Arbeitnehmers auf den gesetzlichen Mindestlohn in ihren Anwendungsbereich mit einbeziehen, mittels geltungserhaltender Reduktion berücksichtigte die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten nicht angemessen, sondern einseitig zugunsten des Verwenders (vgl. Roloff FS Willemsen 2018 S. 414; vgl. zur Aufrechterhaltung einer den Vertragspartner des Verwenders typischerweise begünstigenden Klausel in einem „Altvertrag“ BAG 28. September 2017 – 8 AZR 67/15 – Rn. 66 ff.). Für den Arbeitnehmer führte eine geltungserhaltende Reduktion nicht zu mehr Rechtsklarheit, sondern zu Rechtsunsicherheit und durch die Fortschreibung intransparenter Ausschlussfristenregelungen – faktisch – zur Gefahr von Rechtsverlusten.
77
D. Der Anspruch auf Verzugszinsen ergibt sich aus § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 iVm. Abs. 1 Satz 1 BGB.
78
E. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Brühler
Zimmermann
Weber
Starke
Martin Lücke |
bag_43-19 | 28.11.2019 | 28.11.2019
43/19 - Ersatz eines Personenschadens - Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII
Zugunsten des Arbeitgebers greift gegenüber dem Schadensersatzverlangen eines Beschäftigten, der infolge eines Versicherungsfalls einen Personenschaden erlitten hat, das Haftungsprivileg nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ein, es sei denn, der Arbeitgeber hat den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg (Wegeunfall). Für die Annahme der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls ist ein „doppelter Vorsatz“ erforderlich. Der Vorsatz des Schädigers muss sich nicht nur auf die Verletzungshandlung, sondern auch auf den Verletzungserfolg beziehen.
Die Klägerin ist bei der Beklagten, die ein Seniorenpflegeheim betreibt, langjährig als Pflegefachkraft beschäftigt. Das Gebäude des Seniorenpflegeheims hat zwei Eingänge, einen Haupt- und einen Nebeneingang. An beiden Eingängen befinden sich Arbeitszeiterfassungsgeräte. Der Haupteingang ist beleuchtet, der Nebeneingang nicht. Im Dezember 2016 erlitt die Klägerin kurz vor Arbeitsbeginn um etwa 7:30 Uhr einen Unfall auf einem Weg, der sich auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims befindet und dort zum Nebeneingang führt. Es war noch dunkel, als sie ihr Fahrzeug auf einem Parkplatz außerhalb des Betriebsgeländes abstellte und sich zu Fuß zum Nebeneingang begab. Kurz bevor sie diesen erreichte, rutschte sie auf dem Weg aus. Dabei erlitt sie eine Außenknöchelfraktur. Bei dem Unfall der Klägerin handelte es sich um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII; die Klägerin erhielt Verletztengeld. Die Klägerin hat von der Beklagten Schmerzensgeld und Ersatz materieller Schäden verlangt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte hatte den Versicherungsfall, der kein Wegeunfall war, sondern sich auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims ereignete, nicht vorsätzlich herbeigeführt. Die dahingehende Würdigung des Landesarbeitsgerichts war revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. November 2019 – 8 AZR 35/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 27. November 2018 – 7 Sa 365/18 – | Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 27. November 2018 – 7 Sa 365/18 – wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin zum Ersatz materieller sowie immaterieller Schäden verpflichtet ist.
2
Die Klägerin ist bei der Beklagten, die ein Seniorenpflegeheim betreibt, langjährig als Pflegefachkraft beschäftigt. Das Gebäude des Seniorenpflegeheims hat zwei Eingänge, einen Haupt- und einen Nebeneingang. An beiden Eingängen befinden sich Arbeitszeiterfassungsgeräte. Der Haupteingang ist beleuchtet, der Nebeneingang nicht. Der Weg zum Haupteingang ist geteert, der Weg zum Nebeneingang besteht teilweise aus Kopfsteinpflaster.
3
Am 7. Dezember 2016 erlitt die Klägerin kurz vor Arbeitsbeginn um etwa 07:30 Uhr einen Unfall auf einem Weg, der sich auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims befindet und dort zum Nebeneingang des Gebäudes führt. Es war noch dunkel, als sie ihr Fahrzeug auf einem Parkplatz außerhalb des Betriebsgeländes abstellte und sich zu Fuß zum Nebeneingang begab. Kurz bevor sie diesen erreichte, rutschte sie auf dem Weg auf Kopfsteinpflaster aus. Dabei erlitt sie eine Außenknöchelfraktur, wegen der sie sich wegen einer Operation vom 9. Dezember bis zum 12. Dezember 2016 in stationärer Behandlung befand. In der Folgezeit kam es zu einer Wundheilungsstörung mit einem verzögerten Heilungsverlauf über den Monat Mai 2017 hinaus, verbunden mit einer Beweglichkeitseinschränkung. Bei dem Unfall der Klägerin handelte es sich um einen Arbeitsunfall und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII; die Klägerin erhielt Verletztengeld.
4
Mit ihrer Klage fordert die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von Schmerzensgeld iHv. mindestens 10.000,00 Euro sowie den Ersatz materieller Schäden. Insoweit begehrt sie zum einen den Differenzbetrag zwischen ihrem Arbeitsentgelt und dem von der Krankenkasse für den Zeitraum vom 7. Dezember 2016 bis einschließlich 7. August 2017 gezahlten Verletztengeld, den sie mit insgesamt 5.683,50 Euro beziffert hat. Ferner verlangt sie aus abgetretenem Recht den Ersatz des Verdienstausfalls iHv. insgesamt 21.300,00 Euro, den ihr Ehemann dadurch erlitten habe, dass er an ihrer Stelle den Haushalt geführt, die gemeinsamen Kinder betreut und sie, die Klägerin mit dem PKW zu den Behandlungsterminen gefahren habe. Darüber hinaus fordert die Klägerin von der Beklagten den Ersatz der Kosten der Beförderung zu diesen Behandlungsterminen iHv. insgesamt 750,40 Euro. Zudem begehrt sie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche (weiteren) materiellen Schäden aus dem Unfall vom 7. Dezember 2016 zu ersetzen.
5
Die Klägerin meint, die Beklagte sei ihr zum Ersatz der von ihr geltend gemachten Schäden verpflichtet. Sie könne sich nicht auf das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII berufen. Dieses greife bereits nicht ein, da es sich um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII gehandelt habe. Zudem habe die Beklagte den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt. Sie habe vorsätzlich ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem sie es unterlassen habe, den Weg zum Nebeneingang zum Unfallzeitpunkt mit Salz oder mit Split zu bestreuen. Hierdurch habe sie vorsätzlich ihren Unfall in Kauf genommen. Sie sei infolge von Eisglätte auf dem Weg zum Nebeneingang gestürzt, wobei der Grund für die Eisglätte allerdings im Unklaren bleibe, da es am Unfalltag weder Niederschlag noch Blitzeis gegeben habe. Bei der Beklagten sei es den Beschäftigten überlassen, welchen der beiden Eingänge sie benutzen. Es gebe weder eine Anweisung noch eine Beschilderung für eine bevorzugte Benutzung des Haupteingangs. Im Übrigen bestehe die mündliche Anweisung, die Parkplätze vor dem Haupteingang für den Besucherverkehr freizuhalten. Der Nebeneingang sei von dem von ihr genutzten Parkplatz aus der kürzeste Weg zum Arbeitsplatz. Da der Beklagten bekannt sei, dass der Nebeneingang auch von Beschäftigten – und zwar mitunter weit vor 08:00 Uhr – benutzt werde, hätte sie diesen Eingang auch schon vor Beginn der Lieferungen, also bereits vor 08:00 Uhr sichern müssen. Im Übrigen sei am 7. Dezember 2016 nicht nur der Zugang zum Nebeneingang, sondern auch der zum Haupteingang vor 08:00 Uhr weder geräumt noch gestreut gewesen. Auch die Mitarbeiterin R sei am 7. Dezember 2016 an gleicher Stelle infolge von Glatteis gestürzt.
6
Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens aber 10.000,00 Euro zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8. August 2017 zu zahlen;
2.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche materiellen Schäden aus dem Unfall vom 7. Dezember 2016 (Weg zum Seiteneingang des Hauses II des Seniorenpflegeheims B) zu ersetzen, soweit die Schadensersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind;
3.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.683,50 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. August 2017 zu zahlen;
4.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 21.300,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. September 2017 zu zahlen;
5.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 750,40 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. September 2017 zu zahlen.
7
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, für den Unfall der Klägerin am 7. Dezember 2016 nicht zu haften. Insbesondere habe sie ihre Verkehrssicherungspflichten nicht verletzt, sondern im Gegenteil alles Zumutbare für einen gefahrlosen Zugang zum Pflegeheim unternommen. Der zuständige Mitarbeiter habe – wie üblich – auch am Unfalltag zunächst den Weg zum Haupteingang und die dortigen Parkplätze, und – da der über den Nebeneingang abgewickelte Lieferverkehr erst um 08:00 Uhr einsetze – erst danach den Weg zum Nebeneingang geräumt. Auch habe im Zeitpunkt des Unfalls keine Eisglätte bestanden, es habe insbesondere weder geschneit noch habe sich durch plötzlich einsetzenden Regen Blitzeis auf dem Gehweg zum Nebeneingang gebildet. Eine Eisglätte könne demnach für den Sturz der Klägerin nicht ursächlich gewesen sein. Als Sturzursache komme vielmehr eine Unachtsamkeit der Klägerin in Frage. Die Klägerin wäre, wenn sie den Haupteingang benutzt hätte, gefahrenfrei in das Gebäude gelangt. Dies sei auch der kürzere Weg gewesen. Die langjährig bei ihr beschäftigte Klägerin habe gewusst, dass der Weg zum Nebeneingang nicht beleuchtet und deshalb im Winter in den Morgenstunden zwischen 07:00 und 08:00 Uhr noch dunkel gewesen, sowie, dass er mit Kopfsteinpflaster versehen sei, von dem generell bei Nässe und Glätte eine höhere Rutschgefahr ausgehe. Auch sei ihr bekannt gewesen, dass der Weg zum Nebeneingang erst nachrangig zu 08:00 Uhr geräumt werde. Damit habe die Klägerin durch die Wahl des Wegs zum Nebeneingang selbst ein höheres Sturzrisiko in Kauf genommen und es habe in ihrer Verantwortung gelegen, sich entsprechend vorsichtig zu verhalten, was sie offenbar nicht getan habe.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte weder aus eigenem noch aus abgetretenem Recht einen Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten Schäden. Eine etwaige Ersatzpflicht der Beklagten ist nach § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Die Beklagte hat den Versicherungsfall weder vorsätzlich, noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt.
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A. Die Klage ist zulässig.
11
I. Die nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erforderliche Bestimmtheit der Leistungsanträge liegt vor. Dies gilt auch für den Leistungsantrag zu 4. Die Klägerin hat den mit diesem Antrag insgesamt geforderten Betrag iHv. 21.300,00 Euro in ihren Schriftsätzen so aufgeschlüsselt, dass sich nachvollziehen lässt, wie sich die Gesamtsumme auf die verschiedenen Einzelansprüche verteilt (zu dieser Anforderung vgl. etwa BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 629/14 – Rn. 22 mwN).
12
II. Auch der auf Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden gerichtete Klageantrag zu 2. ist zulässig, insbesondere ist das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse gegeben (vgl. zu den Voraussetzungen BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B I 1 der Gründe; BGH 6. März 2001 – KZR 32/98 – zu II 1 der Gründe). Der Eintritt eines Schadens durch (Spät)Folgen der Außenknöchelfraktur der Klägerin erscheint denkbar und möglich.
13
B. Die Klage ist jedoch unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klägerin gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz hat, weil zugunsten der Beklagten die sozialversicherungsrechtliche Haftungsprivilegierung des § 104 Abs. 1 SGB VII eingreift, was die Gerichte – entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin – auf der Grundlage der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen von sich aus zu prüfen haben („iura novit curia“).
14
I. Zwar können sich Schadensersatzansprüche der Klägerin grundsätzlich aus § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 241 Abs. 2 BGB oder wegen unerlaubter Handlung aus § 823 Abs. 1 BGB ergeben. Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB gilt dies nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat, wobei der Schuldner nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten hat. Nach § 823 Abs. 1 BGB ist dem anderen zum Schadensersatz verpflichtet, wer vorsätzlich oder fahrlässig ua. den Körper oder die Gesundheit eines anderen widerrechtlich verletzt. Dabei kann die Verletzungshandlung auch in einem Unterlassen bestehen, so zB in der Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, die zwar von den vertraglichen Schutzpflichten zu unterscheiden ist, sich mit ihnen jedoch auch decken kann (vgl. etwa BGH 5. Februar 1992 – IV ZR 94/91 – zu 2 a der Gründe mwN).
15
II. Allerdings ist eine etwaige Ersatzpflicht der Beklagten nach § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Die Beklagte hat den Versicherungsfall weder vorsätzlich, noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt.
16
1. Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Unternehmer den Versicherten, die – wie die Klägerin – für ihre Unternehmen tätig sind, sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben. Die Norm bezieht sich auf alle Haftungsgründe des bürgerlichen Rechts (BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 a der Gründe).
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a) Hintergrund dieses Haftungsprivilegs zugunsten des Arbeitgebers gegenüber dem Schadensersatzverlangen eines Beschäftigten ist, dass bei einem Arbeitsunfall die gesetzliche Unfallversicherung eintritt, in die die Unternehmer Beiträge zu zahlen haben und dafür im Gegenzug im Regelfall – außer wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben – von der Haftung befreit sind.
18
aa) Die gesetzliche Unfallversicherung verlagert den Schadensausgleich bei Arbeitsunfällen aus dem individualrechtlichen in den sozialrechtlichen Bereich. Die zivilrechtliche Haftung des Unternehmers für fahrlässiges Verhalten bei Personenschäden gegenüber dem Arbeitnehmer wird nach § 104 SGB VII durch die öffentlich-rechtliche Leistungspflicht der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung abgelöst. Mit dieser Ablösung einher geht nach § 105 SGB VII eine entsprechende Haftungsfreistellung aller Betriebsangehörigen bei Betriebsunfällen (BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 10; vgl. auch BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 1 der Gründe mwN, BAGE 110, 195).
19
bb) Die gesetzliche Regelung dient zum einen dem Schutz des Geschädigten durch Einräumung eines vom Verschulden unabhängigen Anspruchs gegen einen leistungsfähigen Schuldner. Der Geschädigte muss weder ein Verschulden des Schädigers nachweisen noch sich ein eigenes Mitverschulden auf seine Ansprüche anrechnen lassen. Diese werden vielmehr ohne Verzögerung durch langwierige und mit einem Prozessrisiko behaftete Auseinandersetzungen mit dem Schädiger von Amts wegen festgestellt. Zum anderen dienen sowohl die Enthaftung des Unternehmers, der durch seine Beiträge die gesetzliche Unfallversicherung mitträgt und für den dadurch auch das Unfallrisiko kalkulierbar wird, als auch die Enthaftung der Betriebsangehörigen dem Betriebsfrieden. Selbst wenn der Haftungsausschluss, der nicht für Vorsatz und für Sachschäden gilt, nicht schlechthin den Frieden im Betrieb garantieren kann, so ist er doch geeignet, Anlässe zu Konflikten einzuschränken. Dass sich das den §§ 104, 105 SGB VII zugrundeliegende Prinzip einmal zugunsten des Geschädigten, ein anderes Mal zu dessen Nachteil auswirken kann, ist dabei systemimmanent, da die Anspruchsvoraussetzungen und die Leistungen im zivilrechtlichen Schadensersatzrecht und im sozialrechtlichen Unfallversicherungsrecht nicht deckungsgleich sind (BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 10; vgl. zu einigen Aspekten auch BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 1 der Gründe mwN, BAGE 110, 195).
20
cc) § 104 Abs. 1 SGB VII umfasst den Ersatz des Personenschadens insgesamt.
21
(1) Ein Personenschaden ist der Schaden, den der Verletzte in seiner körperlichen oder seelischen Unversehrtheit erleidet und der zu einer zivilrechtlichen Entschädigungspflicht führt; gleichzeitig muss ein Gesundheitsschaden als ein den Versicherungsfall konstituierendes Merkmal eingetreten sein (BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 2 der Gründe mwN, BAGE 110, 195).
22
(2) Ersatzansprüche der in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Art sind alle Ansprüche vertraglicher oder deliktischer Natur, die auf Ersatz des Personenschadens gerichtet sind und auf ein Geschehen gestützt werden, das einen Versicherungsfall darstellen kann (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 14 mwN).
23
(3) Da der Haftungsausschluss bezweckt, den Arbeitgeber (§ 104 SGB VII) – und den Arbeitskollegen (§ 105 SGB VII) – von der Haftung wegen Personenschäden insgesamt freizustellen, fallen unter die Personenschäden nicht nur immaterielle Schäden (Schmerzensgeld), sondern auch Heilbehandlungskosten und Vermögensschäden wegen der Verletzung oder Tötung des Versicherten. Diese Kosten werden durch die Unfallversicherung nach dem Haftungsersetzungsprinzip abgedeckt (BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 2 der Gründe mwN, BAGE 110, 195; vgl. auch 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 c bb (1) der Gründe mwN), unabhängig davon, ob die Leistungen den Personenschaden in jeder Hinsicht kompensieren (vgl. auch BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 12; zum Ausschluss des Schmerzensgelds vgl. BVerfG 7. November 1972 – 1 BvL 4/71, 1 BvL 17/71, 1 BvL 10/72, 1 BvR 355/71 – zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 34, 118; vgl. auch von Koppenfels-Spies in KKW 6. Aufl. SGB VII § 104 Rn. 2 f.; Staudinger/Oetker [2019] § 618 Rn. 358; Kranig in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2018 K § 104 Rn. 15).
24
(4) Bei Fahrtkosten für die Wahrnehmung von Arztterminen handelt es sich nicht um unabhängig von dem Haftungsausschluss nach § 104 Abs. 1 SGB VII bzw. § 105 Abs. 1 SGB VII erstattungsfähige „Sachschäden“. Da diese erst und nur durch die Verletzung des Versicherten verursacht worden sind, gehören sie zum Personenschaden (vgl. BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 2 der Gründe, BAGE 110, 195).
25
b) Die Regelung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG 27. Februar 2009 – 1 BvR 3505/08 – Rn. 11, unter Bezugnahme auf: BVerfG 7. November 1972 – 1 BvL 4/71 ua. – BVerfGE 34, 118, 129 ff.; 8. Februar 1995 – 1 BvR 753/94 -; vgl. auch BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 1 der Gründe mwN, BAGE 110, 195). Soweit bestimmte Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung nicht übernommen bzw. bestimmte Schadenspositionen durch die gesetzliche Unfallversicherung nicht ausgeglichen werden, ändert dies nichts daran, dass der Haftungsausschluss verfassungskonform ist. Eine Deckungsgleichheit der Leistungen ist nicht erforderlich (BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 12).
26
2. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII steht einer etwaigen Ersatzpflicht der Beklagten entgegen. Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Zudem hat die Beklagte den Versicherungsfall weder vorsätzlich noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt.
27
a) Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Dies steht mit Bindungswirkung nach § 108 Abs. 1 SGB VII fest, da der Unfall der Klägerin nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts als Arbeitsunfall anerkannt wurde und die Klägerin Verletztengeld erhalten hat. Darauf, ob die Beklagte gemäß § 12 Abs. 2 SGB X in der gebotenen Weise an dem sozialrechtlichen Verfahren beteiligt wurde, kommt es nicht an.
28
aa) Nach § 108 Abs. 1 SGB VII ist ein Gericht, das über Ersatzansprüche der in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Art zu entscheiden hat, an eine unanfechtbare Entscheidung nach dem SGB VII oder nach dem Sozialgerichtsgesetz in der jeweils geltenden Fassung gebunden, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist. Nach § 108 Abs. 2 SGB VII hat das Gericht sein Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Absatz 1 ergangen ist. Falls ein solches Verfahren noch nicht eingeleitet ist, bestimmt das Gericht dafür eine Frist, nach deren Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist.
29
(1) § 108 SGB VII verfolgt das Ziel, eine einheitliche Bewertung der unfallversicherungsrechtlichen Kriterien zu gewährleisten und divergierende Beurteilungen zu vermeiden. Für den Geschädigten untragbare Konsequenzen, die eintreten könnten, wenn zwischen den Zivil- bzw. Arbeitsgerichten auf der einen Seite und den Unfallversicherungsträgern bzw. den Sozialgerichten auf der anderen Seite unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird, sollen verhindert werden (st. Rspr., ua. BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 11 mwN; vgl. auch BAG 14. Dezember 2006 – 8 AZR 628/05 – Rn. 27).
30
Aus diesem Grund räumt § 108 SGB VII den Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, also den Unfallversicherungsträgern und den Sozialgerichten, hinsichtlich der Beurteilung bestimmter unfallversicherungsrechtlicher Vorfragen den Vorrang vor den Zivil- und Arbeitsgerichten ein (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 11 mwN). Dabei sind bindend für die Frage, ob ein Versicherungsfall nach den §§ 104 ff. SGB VII vorgelegen hat, sowohl die positive als auch die negative Feststellung des Sozialversicherungsträgers bzw. der Sozialgerichte. Dies gilt unabhängig davon, ob die zur Entscheidung über den privatrechtlichen Schadensersatzanspruch berufenen Gerichte diese Entscheidungen für richtig halten (BGH 19. Mai 2009 – VI ZR 56/08 – Rn. 12, BGHZ 181, 160; vgl. BAG 14. Dezember 2006 – 8 AZR 628/05 – Rn. 27), und auch dann, wenn die Entscheidung im sozialrechtlichen Verfahren auf einer unvollständigen Tatsachengrundlage beruht und das Zivil- bzw. Arbeitsgericht selbst abweichende Feststellungen treffen könnte (BAG 14. Dezember 2006 – 8 AZR 628/05 – aaO).
31
Den Vorrang der Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, haben die Zivil- und Arbeitsgerichte von Amts wegen zu berücksichtigen; er setzt der eigenen Sachprüfung – auch des Revisionsgerichts – Grenzen (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 11 mwN).
32
(2) Der den Unfallversicherungsträgern bzw. Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in § 108 SGB VII eingeräumte Vorrang bezieht sich nicht nur auf die Entscheidung, ob ein Unfall als Versicherungsfall (§ 7 Abs. 1 SGB VII) zu qualifizieren ist, sondern erstreckt sich auch auf die Beurteilung der Frage, ob der Geschädigte im Unfallzeitpunkt Versicherter der gesetzlichen Unfallversicherung war; denn die Versicherteneigenschaft ist eine notwendige Voraussetzung für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII und damit als Versicherungsfall iSv. § 7 Abs. 1 SGB VII (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 12 mwN; vgl. auch BAG 30. Oktober 2003 – 8 AZR 548/02 – zu B II 1 b der Gründe, BAGE 108, 206), sowie auf die Frage, welchem Unternehmen der Unfall zuzurechnen ist (vgl. BGH 18. November 2014 – VI ZR 141/13 – Rn. 10 mwN).
33
(3) Fragen, die allein von den Zivil- bzw. Arbeitsgerichten zu entscheiden sind, sind hingegen nicht von der Bindungswirkung des § 108 Abs. 1 SGB VII erfasst.
34
Allein von den Zivil- und Arbeitsgerichten zu entscheiden und damit nicht von der Bindungswirkung erfasst ist ua. nicht nur die Frage, ob ein Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII bzw. § 105 SGB VII aufgrund einer vorsätzlichen Schädigung ausgeschlossen ist, der Versicherungsfall also vorsätzlich herbeigeführt wurde, sondern auch die Frage, ob der Arbeitsunfall und damit der Versicherungsfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg (Wegeunfall) herbeigeführt wurde, da dies für die Beurteilung des Versicherungsfalls irrelevant ist (vgl. auch BAG 30. Oktober 2003 – 8 AZR 548/02 – zu B II 1 b der Gründe, BAGE 108, 206; Landessozialgericht Baden-Württemberg 28. Juli 2017 – L 8 U 4110/16 – Rn. 39 mwN; Thüringer Landessozialgericht 9. Juni 2016 – L 1 U 171/15 – Rn. 24 mwN; ErfK/Rolfs 20. Aufl. SGB VII § 108 Rn. 4 mwN; BeckOK SozR/Stelljes Stand 1. März 2018 SGB VII § 108 Rn. 20; Keller in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2018 K § 8 Rn. 32a; Lemcke R+S 2016, 486, 487 f.; aA Ricke NZV 2017, 559, 560).
35
(a) Gegen eine Bindungswirkung spricht insoweit bereits, dass der Umfang der Bindungswirkung in § 108 Abs. 1 SGB VII ausdrücklich dahin bestimmt ist, dass er die Fragen betrifft, „ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist“, und dass die Frage, ob der Versicherungsfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt wurde, in § 108 Abs. 1 SGB VII nicht aufgeführt ist (so auch Lemcke R+S 2016, 486, 487 f.).
36
(b) Es besteht auch kein Anlass, § 108 Abs. 1 SGB VII über seinen Wortlaut hinaus weit auszulegen und um Elemente anzureichern, die für die von den Unfallversicherungsträgern bzw. Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu treffenden Entscheidungen nicht von Bedeutung sind.
37
(aa) Für Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII oder um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handelt. Welcher spezifischen Art ein Versicherungsfall ist, ist entschädigungsrechtlich bedeutungslos (Landessozialgericht Baden-Württemberg 28. Juli 2017 – L 8 U 4110/16 – Rn. 38). Damit einhergehend nennt der Unfallversicherungsträger bei Anerkennung eines Arbeitsunfalls in der Regel nicht die genaue Rechtsgrundlage, macht also keine Angabe zur Frage, ob es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII oder um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handelt (BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – Rn. 17; Thüringer Landessozialgericht 9. Juni 2016 – L 1 U 171/15 – Rn. 24; Nehls in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2019 K § 108 Rn. 7; Lemcke RuS 2016, 486, 487 mwN; von Koppenfels-Spies in KKW 6. Aufl. SGB VII § 108 Rn. 6 mwN; vgl. auch Ricke NZV 2017, 559, 560).
38
(bb) Da es für Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung – wie unter Rn. 37 ausgeführt – nicht darauf ankommt, ob es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII oder um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handelt, wird das Erreichen des vom Gesetzgeber mit § 108 SGB VII verfolgten Ziels, divergierende Beurteilungen zu vermeiden und eine einheitliche Bewertung der unfallversicherungsrechtlichen Kriterien zu gewährleisten, durch entsprechende Feststellungen der Zivil- oder Arbeitsgerichte auch nicht gefährdet. Die Gefahr, dass zwischen den Zivil- und Arbeitsgerichten auf der einen Seite und den Unfallversicherungsträgern bzw. den Sozialgerichten auf der anderen Seite unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird, besteht insoweit nicht.
39
(cc) Aus dem Umstand, dass beim Beitragsausgleichsverfahren der gewerblichen Berufsgenossenschaften nach § 162 SGB VII Wegeunfälle iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII unberücksichtigt bleiben, während hingegen Versicherungsfälle auf Betriebswegen grundsätzlich berücksichtigt werden, und damit die versicherungsrechtliche Entscheidung, ob als Versicherungsfall im Einzelfall ein Wegeunfall in og. Sinne oder ein Betriebswegeunfall in og. Sinne vorliegt, insoweit von Bedeutung ist (vgl. Brandenburg/K. Palsherm in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB VII 2. Aufl. Stand 17. Juli 2017 § 162 SGB VII Rn. 31), folgt für die Frage nach dem Umfang der Bindungswirkung nach § 108 SGB VII nichts Abweichendes. Auch insoweit besteht keine Gefahr, dass zwischen den Zivil- bzw. Arbeitsgerichten auf der einen und den Unfallversicherungsträgern bzw. den Sozialgerichten auf der anderen Seite unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird. Die beitragsrechtlichen Folgen betreffen vielmehr allein den Unternehmer, sie haben keine Auswirkung auf den Geschädigten.
40
bb) Allerdings ist dem Berufungsurteil nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob der Bescheid über die Anerkennung des Unfalls der Klägerin als Versicherungsfall auch der Beklagten gegenüber bestandskräftig geworden ist. Das Landesarbeitsgericht hat insbesondere keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob die Beklagte gemäß § 12 Abs. 2 SGB X in der gebotenen Weise an dem Verfahren beteiligt wurde. Ob dies der Fall war, kann vorliegend jedoch dahinstehen. Sollte die Beklagte nicht entsprechend den Vorgaben von § 12 Abs. 2 SGB X beteiligt worden sein, so wäre dies im vorliegenden Verfahren ausnahmsweise unschädlich, da die an sich gebotene Aussetzung des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII im Streitfall eine bloße Förmelei und deshalb ausnahmsweise entbehrlich wäre.
41
(1) Die Bestandskraft der Entscheidung iSv. § 108 SGB VII setzt voraus, dass der jeweils beklagte Unternehmer an dem sozialrechtlichen Verfahren in der gebotenen Weise (§ 12 Abs. 2 SGB X) beteiligt worden ist, denn seine Rechte dürfen durch die Bindungswirkung nach § 108 SGB VII nicht verkürzt werden (ua. BGH 19. Mai 2009 – VI ZR 56/08 – Rn. 22, BGHZ 181, 160). Dazu muss der Unternehmer zumindest in Kenntnis des Verfahrens und dessen Auswirkungen auf seine eigene rechtliche Position darüber entschieden haben können, ob er an dem sozialrechtlichen Verfahren teilnehmen will oder nicht (dazu im Einzelnen BGH 20. November 2007 – VI ZR 244/06 – Rn. 10 ff.).
42
(2) Allerdings wird eine Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall unabhängig von der Notwendigkeit, den Unternehmer nach § 12 Abs. 2 SGB X zu dem Verfahren hinzuzuziehen, auch diesem gegenüber unanfechtbar, wenn er hierdurch in seiner Rechtsstellung nicht nachteilig betroffen wird (BGH 17. Juni 2008 – VI ZR 257/06 – Rn. 9, BGHZ 177, 97; von Koppenfels-Spies in KKW 6. Aufl. SGB VII § 108 Rn. 4; aA Nehls in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2019 K § 112 Rn. 5 bezogen auf Einzelfälle wie zB die Feststellung degenerativer Erkrankungen als Unfallfolgen). In einem solchen Fall stellt sich die an sich gebotene Aussetzung des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII als Förmelei dar und ist deshalb entbehrlich (BGH 30. April 2013 – VI ZR 155/12 – Rn. 10 f.).
43
(3) Das ist hier der Fall, da die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers für die Beklagte insofern günstig ist, als durch die Anerkennung des Unfalls der Klägerin als Versicherungsfall eine wesentliche Voraussetzung für die von ihr geltend gemachte Haftungsprivilegierung nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII geschaffen worden ist.
44
b) Wie das Landesarbeitsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen hat, hat die Beklagte den Versicherungsfall weder vorsätzlich noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt.
45
aa) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass die Beklagte den Versicherungsfall nicht vorsätzlich herbeigeführt hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
46
(1) Der Haftungsausschluss nach § 104 Abs. 1 SGB VII entfällt nicht bereits dann, wenn ein bestimmtes Handeln, das für den Unfall ursächlich gewesen ist, gewollt und gebilligt wurde. Für die Annahme der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls ist vielmehr ein „doppelter Vorsatz“ erforderlich. Der Vorsatz des Schädigers muss nicht nur die Verletzungshandlung, sondern auch den Verletzungserfolg umfassen (vgl. nur BAG 20. Juni 2013 – 8 AZR 471/12 – Rn. 23 mwN; 19. Februar 2009 – 8 AZR 188/08 – Rn. 50, 52 mwN; 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 d aa und bb der Gründe; vgl. auch BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 14 mwN; 11. Februar 2003 – VI ZR 34/02 – zu II 1 der Gründe, BGHZ 154, 11). Daran hält der Senat fest.
47
(2) Das Verschulden und die einzelnen Arten des Verschuldens, dh. des Verschuldensgrades, sind Rechtsbegriffe. Die Feststellung ihrer Voraussetzungen liegt im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet, wobei dem Tatrichter ein erheblicher Beurteilungsspielraum zusteht. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob der Tatrichter von den richtigen rechtlichen Beurteilungsmaßstäben ausgegangen ist, die wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt sowie Denkgesetze, Erfahrungssätze und Verfahrensvorschriften nicht verletzt hat. Eine Aufhebung des Berufungsurteils darf nur erfolgen, wenn eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums durch den Tatsachenrichter festzustellen ist. Dagegen genügt es für eine Aufhebung des landesarbeitsgerichtlichen Urteils nicht, dass im Streitfall auch eine andere Beurteilung als die des Landesarbeitsgerichts möglich ist und dass das Revisionsgericht, hätte es die Beurteilung des Verschuldensgrades selbst vorzunehmen, zu dem Ergebnis gekommen wäre, es liege ein anderer Verschuldensgrad als der vom Berufungsgericht angenommene vor (BAG 19. Februar 2009 – 8 AZR 188/08 – Rn. 48 mwN).
48
(3) Danach hat das Landesarbeitsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, die Beklagte habe den Versicherungsfall nicht vorsätzlich herbeigeführt, weil sie keinen Vorsatz im Hinblick auf den Verletzungserfolg gehabt habe.
49
(a) Das Landesarbeitsgericht hat insoweit ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass der gesetzliche Vertreter der Beklagten Vorsatz hinsichtlich des Verletzungserfolgs gehabt habe. Gleiches gelte für ein ggf. der Beklagten zurechenbares Verhalten des mit Räum- und Streuarbeiten beauftragten Mitarbeiters der Beklagten. Unterstelle man das Vorbringen der Klägerin als wahr, könne diesem allenfalls grob fahrlässiges, nicht aber vorsätzliches Herbeiführen des Unfalls vorgeworfen werden. Sein Verhalten wäre dann vergleichbar mit dem Fall einer vorsätzlichen Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, die aber auch nicht die Annahme einer vorsätzlichen Unfallverursachung rechtfertige.
50
(b) Diese Ausführungen begegnen keinen revisionsrechtlichen Bedenken, insbesondere zeigt die Revision der Klägerin keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.
51
(aa) Soweit die Klägerin mit ihrem Hinweis auf ihr Vorbringen im Schriftsatz vom 31. August 2018 zum unterlassenen Räumen und Streuen der Wege zum Gebäude des Seniorenpflegeheims eine Verfahrensrüge erhebt, ist diese zwar zulässig, aber unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das Vorbringen der Klägerin ausdrücklich gewürdigt und in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass sich allein aus einem unterlassenen Räumen und Streuen der Wege kein Vorsatz hinsichtlich des Verletzungserfolgs ergebe. Insoweit wirkt sich aus, dass allein der Verstoß gegen Verkehrssicherungspflichten oder etwa Unfallverhütungsvorschriften keinen Vorsatz im Hinblick auf den Verletzungserfolg indiziert. Selbst derjenige, der vorsätzlich eine zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Schutzvorschrift missachtet, will regelmäßig nicht die Schädigung und den Arbeitsunfall des Arbeitnehmers selbst, sondern hofft, dass diesem kein Unfall widerfahren werde (BAG 19. Februar 2009 – 8 AZR 188/08 – Rn. 50). Von diesen Grundsätzen ist das Landesarbeitsgericht ersichtlich ausgegangen.
52
(bb) Soweit die Klägerin mit ihrem Hinweis auf ihr Vorbringen im Schriftsatz vom 31. August 2018 zu ihrem Gespräch mit der Heimleiterin J eine Verfahrensrüge erhebt, ist diese zwar ebenfalls zulässig, jedoch ebenfalls unbegründet. Das Landesarbeitsgericht musste nicht auf sämtliches Vorbringen ausdrücklich eingehen, es konnte sich in der Begründung auf eine Behandlung der wesentlichen Umstände beschränken. Desungeachtet hätte das Landesarbeitsgericht auch kein entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen. Denn selbst wenn es zutreffen sollte, dass die Heimleiterin J nach dem Unfall auf die Klägerin zugekommen war und ihr gesagt hatte, dass sie dem Hausmeister bereits Bescheid gegeben habe, dass er streuen müsse, würde dieser Umstand keinen Vorsatz der Beklagten im Hinblick auf den Verletzungserfolg indizieren. Es spräche also nichts für die Annahme eines „doppelten Vorsatzes“.
53
(cc) Das Landesarbeitsgericht hat auch im Übrigen kein entscheidungserhebliches Vorbringen der Klägerin übergangen.
54
Soweit die Klägerin geltend macht, dass am 7. Dezember 2016 auch der Zugang zum Haupteingang nicht geräumt und gestreut gewesen sei, würde auch dieser Umstand – wäre er festgestellt – schon deshalb nicht zu einer anderen Bewertung führen, weil er keinen Vorsatz der Beklagten im Hinblick auf den Verletzungserfolg indizieren würde. Gleiches gilt für die Behauptung der Klägerin, dass eine weitere Kollegin am Unfalltag an gleicher Stelle gestürzt sei. Selbst wenn diese Behauptung zutreffen sollte, ergäbe sich daraus kein Hinweis auf einen Vorsatz der Beklagten bezogen auf den Verletzungserfolg.
55
bb) Das Landesarbeitsgericht hat auch in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass die Beklagte den Versicherungsfall nicht auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt hat.
56
(1) Von den Arbeitsunfällen iSv. § 8 Abs. 1 SGB VII sind die sog. Wegeunfälle iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII zu unterscheiden: Insoweit schließen „versicherte Tätigkeiten“ nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit ein. Demgegenüber sind Betriebswege Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, Teil der versicherten Tätigkeit sind und damit der Betriebsarbeit gleichstehen (BSG 27. November 2018 – B 2 U 28/17 R – Rn. 17 mwN; 31. August 2017 – B 2 U 9/16 R – Rn. 10 mwN, BSGE 124, 93). Sie werden im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und unterscheiden sich von Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit iSv § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgehen oder sich ihr anschließen (BSG 27. November 2018 – B 2 U 28/17 R – aaO; 31. August 2017 – B 2 U 9/16 R – aaO). Sie sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch außerhalb der Betriebsstätte anfallen (BSG 27. November 2018 – B 2 U 28/17 R – aaO).
57
(a) Dabei ist der Ort der Tätigkeit nicht lediglich der konkrete Arbeitsplatz, vielmehr gehört dazu in der Regel das gesamte Werksgelände (BSG 22. September 1988 – 2 RU 11/88 – Rn. 15). Der Ort der Tätigkeit ist räumlich durch das Erreichen bzw. Verlassen der Betriebs- oder Ausbildungsstätte oder der Stätte des Arbeitseinsatzes, beispielsweise durch deren Außentür bzw. Werkstor begrenzt. Der Weg zum Ort der Tätigkeit endet daher im Allgemeinen mit dem Durchschreiten eines Werkstors bzw. einer Außentür, während auf den innerhalb des Werksgeländes liegenden „Betriebs“-Wegen grundsätzlich Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 1 SGB VII besteht (vgl. BSG 27. März 1990 – 2 RU 32/89 – Rn. 15; BAG 14. Dezember 2000 – 8 AZR 92/00 – Rn. 16, 19). Ein Werkstor bzw. eine Außentür als maßgebliches Abgrenzungskriterium anzusehen, ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit gerechtfertigt (BSG 22. September 1988 – 2 RU 11/88 – Rn. 16).
58
(b) Der vor Arbeitsbeginn auf dem Betriebsgelände zurückgelegte Weg zum Arbeitsplatz, um dort die Tätigkeit aufzunehmen, ist versicherungsrechtlich geschützter Betriebsweg, weil er untrennbar mit der betrieblichen Tätigkeit verbunden ist und deshalb mit ihr in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang steht (BSG 19. Januar 1995 – 2 RU 3/94 – Rn. 17 mwN). Ein Betriebsweg wird in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt und ist Teil der versicherten Tätigkeit; er steht der Betriebsarbeit gleich (BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 c bb der Gründe).
59
(2) Danach hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Unfall der Klägerin vom 7. Dezember 2016 kein „Wegeunfall“ iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII ist.
60
(a) Wie das Landesarbeitsgericht festgestellt hat, ereignete sich der Unfall am Ort der Tätigkeit, nämlich auf dem Betriebsgelände auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Damit stand der Weg in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit der Arbeitsaufnahme. Der Unfall ereignete sich demnach auf einem Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII.
61
(aa) Nach den nicht mit Verfahrensrügen iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO angegriffenen und somit nach § 559 ZPO für den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Tatbestand des Berufungsurteils ereignete sich der Unfall der Klägerin am 7. Dezember 2016 um etwa 07:30 Uhr „auf dem Weg, der zum Betriebsgelände gehörte“. Dass das Landesarbeitsgericht die Formulierung „nach ihrer Darstellung“ hinzugesetzt hat, beeinträchtigt diese Feststellung nicht. Jedenfalls hat das Landesarbeitsgericht in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils ausdrücklich festgestellt, dass es zwischen den Parteien unstreitig ist, dass der Unfall sich auf dem Betriebsgelände ereignet und die Klägerin selbst angegeben hat, dass der Ort des Unfalls auf dem Betriebsgelände nach Durchschreiten einer Toreinfahrt lag.
62
(bb) Die Bindungswirkung nach § 559 Abs. 2 ZPO entfällt hier auch nicht deshalb, weil die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts unklar, lückenhaft oder widersprüchlich wären. Soweit die Klägerin in der Revisionsbegründung vorbringt, die Beklagte habe laut Tatbestand des Berufungsurteils bestritten, dass „die Klägerin … auf dem Weg zum Lieferanteneingang gestürzt sei“, was die Klägerin sich als für sie günstig zu eigen mache mit der Folge, dass das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 SGB VII für die Beklagte nicht eingreife, kann dahinstehen, was die Klägerin damit konkret zum Ausdruck bringen möchte. Jedenfalls hat sie den Vortrag der Beklagten und seine Darstellung durch das Landesarbeitsgericht auf Seite 4 des Berufungsurteils nicht zutreffend erkannt. Die Beklagte hat nicht den Ort des Sturzes bestritten, sondern von Anfang an die Umstände des Sturzes in Zweifel gezogen und die Möglichkeit einer anderen Sturzursache, zB wegen Unachtsamkeit der Klägerin angesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit nichts anderes zum Ausdruck gebracht.
63
(b) Soweit die Klägerin in der Revisionsbegründung anführt, der Begriff „Werks- bzw. Betriebsgelände“ sei für ein Pflegeheim nicht anwendbar, der „Ort der Tätigkeit“ sei insoweit nicht das Grundstück des Pflegeheims, sondern vielmehr die Pflegestation, auf der die Klägerin als Fachkraft in der Wohnbereichsleitung beschäftigt sei, zudem seien die Zugänge zum Grundstück der Beklagen offen und unkontrolliert, ein Werkstor gebe es nicht, so führt dies nicht zu einer anderen Bewertung.
64
(aa) Bei der Anknüpfung in der Rechtsprechung an ein „Werkstor“ bzw. eine „Außentür“ geht es allein um die Anknüpfung an ein umrissenes Grundstück mit „Zugang“ bzw. „Eingang“ iSv. „Grundstücksbeginn“ oder „Grundstückseintritt“. Aus der Rechtsprechung ergibt sich nicht, dass notwendigerweise ein Tor oder eine geschlossene und kontrollierte Pforte vorhanden sein müsste. Insoweit handelt es sich bei einem Werkstor bzw. einer Pforte nur um einen von mehreren denkbaren Anknüpfungspunkten. Im Übrigen hat die Klägerin selbst ein Durchschreiten einer „Toreinfahrt“ auf dem Gelände behauptet, hierauf hat sich das Landesarbeitsgericht erkennbar bezogen.
65
(bb) Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin ist der „Ort der Tätigkeit“ für die Klägerin – nicht anders als bei einem Betrieb mit „Werkstor“ – das gesamte Grundstück, auf dem das Seniorenpflegeheim sich befindet und nicht nur die „Pflegestation“. Aus dem Vorbringen der Klägerin ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass vorliegend wegen besonderer, spezifischer Umstände das Grundstück nicht zum Betrieb gehören würde. Insbesondere kommt es dabei nicht darauf an, inwieweit und wie oft die zu pflegenden Personen selbst sich im Freien auf dem Grundstück aufhalten.
66
(cc) Soweit die Klägerin in der Revision behauptet, weder Besuchern noch Mitarbeitern sei die Grundstücksgrenze ersichtlich, kann dies als neuer Sachvortrag in der Revision nach § 559 ZPO keine Berücksichtigung finden. Im Übrigen ist dieser Vortrag auch nicht geeignet, eine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Zum einen ist schon fraglich, ob das Wissen um die konkrete Grenzziehung erforderlich ist. Zum anderen hat sich der Unfall in der Nähe des Nebeneingangs ereignet, also – auch ohne Kenntnis der konkreten Grundstücksgrenze zwischen Parkplatz und Pflegeheim – erkennbar auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims.
67
III. Da die Haftung der Beklagten nach § 104 Abs. 1 SGB VII auch für Ansprüche von Angehörigen ausgeschlossen ist und der Ehemann der Klägerin deren Angehöriger iSv. § 104 Abs. 1 SGB VII ist, hat die Klägerin gegen die Beklagte auch aus abgetretenem Recht keinen Anspruch auf Schadensersatz. Davon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend – ersichtlich implizit – ausgegangen.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Volz
C. Gothe |
bag_43-20 | 01.12.2020 | 01.12.2020
43/20 - Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“
Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Crowdsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist.
Die Beklagte kontrolliert im Auftrag ihrer Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen. Die Kontrolltätigkeiten selbst lässt sie durch Crowdworker ausführen. Deren Aufgabe besteht insbesondere darin, Fotos von der Warenpräsentation anzufertigen und Fragen zur Werbung von Produkten zu beantworten. Auf der Grundlage einer „Basis-Vereinbarung“ und allgemeiner Geschäftsbedingungen bietet die Beklagte die „Mikrojobs“ über eine Online-Plattform an. Über einen persönlich eingerichteten Account kann jeder Nutzer der Online-Plattform auf bestimmte Verkaufsstellen bezogene Aufträge annehmen, ohne dazu vertraglich verpflichtet zu sein. Übernimmt der Crowdworker einen Auftrag, muss er diesen regelmäßig binnen zwei Stunden nach detaillierten Vorgaben des Crowdsourcers erledigen. Für erledigte Aufträge werden ihm auf seinem Nutzerkonto Erfahrungspunkte gutgeschrieben. Das System erhöht mit der Anzahl erledigter Aufträge das Level und gestattet die gleichzeitige Annahme mehrerer Aufträge.
Der Kläger führte für die Beklagte zuletzt in einem Zeitraum von elf Monaten 2978 Aufträge aus, bevor sie im Februar 2018 mitteilte, ihm zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten keine weiteren Aufträge mehr anzubieten. Mit seiner Klage hat er zunächst beantragt festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Im Verlauf des Rechtsstreits kündigte die Beklagte am 24. Juni 2019 ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich. Daraufhin hat der Kläger seine Klage, mit der er außerdem ua. Vergütungsansprüche verfolgt, um einen Kündigungsschutzantrag erweitert. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Sie haben das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses der Parteien verneint.
Die Revision des Klägers hatte teilweise Erfolg. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat erkannt, dass der Kläger im Zeitpunkt der vorsorglichen Kündigung vom 24. Juni 2019 in einem Arbeitsverhältnis bei der Beklagten stand.
Die Arbeitnehmereigenschaft hängt nach § 611a BGB davon ab, dass der Beschäftigte weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit leistet. Zeigt die tatsächliche Durchführung eines Vertragsverhältnisses, dass es sich hierbei um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an. Die dazu vom Gesetz verlangte Gesamtwürdigung aller Umstände kann ergeben, dass Crowdworker als Arbeitnehmer anzusehen sind. Für ein Arbeitsverhältnis spricht es, wenn der Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so steuert, dass der Auftragnehmer infolge dessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann. So liegt der entschiedene Fall. Der Kläger leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Zwar war er vertraglich nicht zur Annahme von Angeboten der Beklagten verpflichtet. Die Organisationsstruktur der von der Beklagten betriebenen Online-Plattform war aber darauf ausgerichtet, dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese persönlich zu erledigen. Erst ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im Bewertungssystem ermöglicht es den Nutzern der Online-Plattform, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Durch dieses Anreizsystem wurde der Kläger dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen.
Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Revision des Klägers gleichwohl überwiegend zurückgewiesen, da die vorsorglich erklärte Kündigung das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam beendet hat. Hinsichtlich der vom Kläger geltend gemachten Vergütungsansprüche wurde der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Der Kläger kann nicht ohne weiteres Vergütungszahlung nach Maßgabe seiner bisher als vermeintlich freier Mitarbeiter bezogenen Honorare verlangen. Stellt sich ein vermeintlich freies Dienstverhältnis im Nachhinein als Arbeitsverhältnis dar, kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, die für den freien Mitarbeiter vereinbarte Vergütung sei der Höhe nach auch für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer verabredet. Geschuldet ist die übliche Vergütung iSv. § 612 Abs. 2 BGB, deren Höhe das Landesarbeitsgericht aufzuklären hat.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 4. Dezember 2019 – 8 Sa 146/19 – | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 4. Dezember 2019 – 8 Sa 146/19 – in der Kostenentscheidung insgesamt und in der Sache teilweise aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 20. Februar 2019 – 19 Ca 6915/18 – in der Kostenentscheidung und insoweit abgeändert, als es den Klageantrag zu 2. auf Beschäftigung abgewiesen hat, und festgestellt, dass die Entscheidung über den Beschäftigungsantrag gegenstandslos ist.
Es wird festgestellt, dass das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 4. Dezember 2019 – 8 Sa 146/19 – insoweit gegenstandslos ist, als der Klageantrag auf Gewährung von Urlaub abgewiesen worden ist.
Hinsichtlich des Klageantrags zu 3. auf Zahlung von 4.723,22 Euro brutto nebst Zinsen wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 4. Dezember 2019 – 8 Sa 146/19 – zurückgewiesen.
Leitsatz
Die kontinuierliche Durchführung einer Vielzahl von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit dem Betreiber („Crowdsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann im Rahmen der nach § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB gebotenen Gesamtbetrachtung zur Annahme eines Arbeitsverhältnisses führen, wenn der Crowdworker zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet ist, die geschuldete Tätigkeit ihrer Eigenart nach einfach gelagert und ihre Durchführungen inhaltlich vorgegeben sind sowie die Auftragsvergabe und die konkrete Nutzung der Online-Plattform im Sinne eines Fremdbestimmens durch den Crowdsourcer gelenkt wird.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten ua. über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung und Zahlungsansprüche. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob der Kläger als sog. „Crowdworker“ als Arbeitnehmer anzusehen ist.
2
Die Beklagte ist ein sog. „Crowdsourcing-Unternehmen“, das ua. die Kontrolle der Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen anbietet. Sie betreibt eine Online-Plattform, über die sie die Aufträge ihrer Kunden, in eine Vielzahl einzelner Kleinstaufträge („Mikrojobs“) zergliedert, an sog. „Crowdworker“ vermittelt, die für sie gegen Bezahlung die entsprechenden Kontrollen durchführen.
3
Der Kläger war für die Beklagte seit dem 4. Februar 2017 als Crowdworker tätig. Bei einem durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitsaufwand von ca. 20 Stunden erzielte er eine durchschnittliche monatliche Vergütung in Höhe von 1.749,34 Euro, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob in diesem Betrag Mehrwertsteuer enthalten ist. Die Parteien schlossen am 13. Dezember 2016/6. Februar 2017 eine Basis-Vereinbarung, in der es auszugsweise heißt:
„Vorbemerkung
R ist ein Crowdsourcing Unternehmen und bietet über die R App Auftragnehmern verschiedene Aufträge zur Durchführung an. Nimmt der Auftragnehmer einen Auftrag an und führt diesen korrekt durch wird ihm die im Einzelauftrag vereinbarte Vergütung zzgl. der gesetzlichen MwSt. direkt auf seinem virtuellen R Account gutgeschrieben. Der Auftragnehmer kann sich ein virtuelles Guthaben dann jederzeit per Paypal auszahlen lassen.
…
§ 1 Tätigkeit
…
Der Auftraggeber bietet Aufträge der Crowd zur Durchführung an. Dem Auftragnehmer steht es jederzeit frei einen verfügbaren Auftrag anzunehmen, eine Verpflichtung dazu besteht nicht. Umgekehrt besteht keine Verpflichtung für den Auftraggeber Aufträge anzubieten.
Wenn der Auftragnehmer einen Auftrag annimmt ist dieser entsprechend der Auftragsbeschreibung korrekt durchzuführen. Sollten einzelne Auftragsbestandteile unklar sein obliegt es dem Auftragnehmer weitere Informationen beim Auftraggeber einzuholen. Eine Vergütungspflicht für den Auftraggeber entsteht nur bei vollständiger und korrekter Durchführung des Auftrags gem. der Auftragsbeschreibung.
Darüber hinaus ist der Auftragnehmer an keinerlei Vorgaben zum Arbeitsort oder Arbeitszeit gebunden. Projektbezogene Zeitvorgaben des Auftraggebers sind ebenso einzuhalten wie fachliche Vorgaben, soweit diese zur ordnungsgemäßen Vertragsdurchführung erforderlich sind.
…
§ 5 Leistungserbringung
Der Auftragnehmer ist berechtigt zur Erfüllung des Auftrags eigene Mitarbeiter einzusetzen oder Unteraufträge zu erteilen.
…
§ 8 Vertragsdauer und Kündigung
Diese Vereinbarung tritt mit Unterzeichnung in Kraft und kann von beiden jederzeit gekündigt werden. Die Kündigung muss schriftlich erfolgen.
…
§ 9 Schlussbestimmungen
1.
… Änderungen oder Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Dieses Formerfordernis kann weder mündlich noch stillschweigend aufgehoben oder außer Kraft gesetzt werden.“
4
Die Kontrolltätigkeiten für die Beklagte setzten die Installation und Nutzung der firmeneigenen Anwendersoftware für Smartphones („App“) und die Nutzung der Website des Unternehmens voraus. In den für die Nutzung der App maßgeblichen „Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen (Nutzer)“ heißt es auszugsweise:
„II. Gegenstand des Vertrages
Über die Website und die App können Kunden von R sog. Mikrojobs (der ‚Auftrag‘) ausschreiben. Über die App, die von den Nutzern kostenlos auf deren Smartphone geladen werden kann, kann der Nutzer die Anforderungen des Auftrags erfahren und den Auftrag nach Maßgabe dieser Nutzungsbedingungen annehmen und ausführen. Derartige Aufträge könnten zum Beispiel sein, ein Foto von einem Produkt-Regal zu machen oder ein paar Fragen über ein Reklame-Poster an einer Bushaltestelle zu beantworten.
Mit der Annahme eines Auftrags entsteht ein Vertragsverhältnis zwischen R und dem Nutzer. Ein Vertrag zwischen dem Kunden von R und dem Nutzer kommt nicht zustande. Das Vertragsverhältnis zwischen R und den Nutzern wird durch diese Nutzungsbedingungen in der jeweils gültigen Fassung geregelt.
III. Zustandekommen der Verträge
1. Anmeldung und Accountpflege
Die Annahme von Aufträgen setzt die Anmeldung als Nutzer voraus. Die Anmeldung ist kostenlos. Sie erfolgt durch Eröffnung eines Benutzerkontos (der ‚Account‘). Mit der Anmeldung stimmt der Nutzer diesen Nutzungsbedingungen zu. Ein Anspruch auf Eröffnung eines Accounts besteht nicht. Ein Account ist nicht übertragbar. Das Anlegen mehrerer Accounts für dieselbe Person ist unzulässig. Durch die Annahme der Anmeldung kommt ein Nutzervertrag für die von R angebotenen Dienste auf der Website und für die App von R zustande.
…
Nach der Eröffnung eines Accounts bei R kann der Nutzer die Website, die App und andere Services von R nutzen, jedoch nur mit seinem eigenen Smartphone. Das Teilen eines Accounts und/oder Manipulieren der GPS-Lokalisierung, die durch die App protokolliert wird, wird als Missbrauch oder Betrug eingestuft sowie als Verletzung der Nutzungsbedingungen und der EULA angesehen und kann zu Maßnahmen gegen den Account/Nutzer führen, wie insbesondere, aber nicht abschließend, die Sperrung des Accounts.
…
2. Auftrag, Inhalt und Durchführung
Der Nutzer übernimmt die Verantwortung für sein Handeln während der Durchführung eines Auftrags und verpflichtet sich dazu, sich gut über den jeweiligen Auftrag und wie dieser auszuführen ist, zu informieren und den Auftrag nach bestem Wissen und Gewissen und pünktlich in der App oder auf der Website durchzuführen.
Durch Annahme eines Auftrags innerhalb der App wird vom Nutzer das Angebot zur Erbringung der Leistung innerhalb der im Auftrag genannten Ausführungsfrist, und anhand der im Auftrag angegebenen Leistungsbeschreibung, angenommen.
Der Nutzer wird innerhalb der im Auftrag benannten Frist das Ergebnis an R übersenden. …
3. Vergütung, steuerliche Pflichten und Hinweise
…
Das Vertragsverhältnis zwischen R und dem Nutzer begründet kein Arbeitsverhältnis. Es besteht keine Weisungsgebundenheit.
IV. Beendigung des Vertrages
Jeder Nutzer hat die Möglichkeit, seinen Account und damit den Vertrag für den Zugang zur und die Nutzung der Website und der App von R ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist und ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Die Kündigung von Nutzern erfolgt über die Website oder direkt über die App. Eine Kündigung ist nur wirksam, wenn die Absenderadresse mit der vom Nutzer hinterlegten E-Mail-Adresse identisch ist. Die Kündigung von R erfolgt ebenfalls per E-Mail an die vom Nutzer hinterlegte E-Mail-Adresse bzw. Löschung des Accounts.
…“
5
Der Kläger registrierte sich am 29. Juli 2016 auf der Plattform der Beklagten als sog. „RPro“ und nahm am 4. Februar 2017 den ersten bezahlten Auftrag an. Nach Freischaltung der App wurden ihm offene Aufträge in einem Radius von bis zu 50 km von seinem aktuellen Standort angezeigt. Hierzu griff die App auf die GPS-Daten seines Smartphones zurück. Dem Kläger war es möglich, einen kleineren Radius in der App einzustellen. Zudem konnte er bestimmen, ob ihm ständig Aufträge angezeigt werden oder nur nach Anschalten der App. Die App enthielt eine Funktion, mit der sich ein angenommener Auftrag abbrechen ließ. Die freigeschalteten Auftragsangebote konnten abhängig vom jeweiligen Kundenauftrag regelmäßig in einem Zeitfenster von zwei bis vier Wochen angenommen werden. Mit zunehmender Verweildauer des Angebots erhöhte sich die Vergütung für dessen Durchführung.
6
Der Kläger führte überwiegend sog. „Tool Checks“ durch. Hierbei handelte es sich um Kontrollen, die nach vorheriger Anmeldung vornehmlich in Tankstellen durchgeführt wurden. Dazu verfügte er über Legitimationsschreiben auf dem Briefpapier des jeweiligen Kunden. Zudem führte der Kläger sog. „Mystery Checks“ durch, bei denen er sich nicht als Mitarbeiter der Beklagten zu erkennen gab. Die Auftragsangebote enthielten Vorgaben zu Ort und Zeit der Tätigkeit sowie eine genaue Beschreibung der bei der Auftragsdurchführung vorzunehmenden einzelnen Handlungsschritte. Neben der Angabe des voraussichtlichen Zeitaufwands gab die Auftragsbeschreibung ein Zeitfenster vor, innerhalb dessen der Auftrag durchzuführen war. Dieses betrug regelmäßig zwei Stunden. Wurde der Auftrag nicht innerhalb des zeitlichen Rahmens erledigt, wurde er erneut auf der Plattform angeboten. In einem Zeitraum von elf Monaten erledigte der Kläger 2.978 Aufträge.
7
Die Beklagte nahm die Leistungen der Crowdworker ab und schrieb ihnen neben dem Entgelt Erfahrungspunkte auf ihrem Nutzerkonto gut. Dadurch konnte ein Crowdworker seinen individuellen Nutzerstatus verbessern und eine höhere Anzahl an Aufträgen zu übernehmen. Auf dem zuletzt erreichten Level 15 konnte er 15 Aufträge gleichzeitig annehmen und deren Bearbeitungsreihenfolge selbst bestimmen. Der erreichte Status blieb dem Crowdworker auch dann erhalten, wenn er über längere Zeit keine Auftragsangebote angenommen hatte.
8
Am 10. April 2018 teilte der Geschäftsführer der Beklagten dem Kläger ua. per E-Mail mit:
„… Um also künftige Unstimmigkeiten zu vermeiden, werden wir Ihnen keine weiteren Aufträge mehr anbieten. Wir bitten Sie, sich Ihr in der App befindliches Guthaben auszuzahlen. Danach werden wir Ihren Account deaktivieren und anschließend löschen.“
9
Mit seiner am 6. Juli 2018 eingereichten Klage hat der Kläger geltend gemacht, zwischen den Parteien sei ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen, das durch die E-Mail vom 10. April 2018 nicht beendet worden sei und unverändert fortbestehe. Die Aufträge habe er weisungsgebunden und fremdbestimmt in persönlicher Abhängigkeit durchgeführt. Die detaillierte Auftragsbeschreibung in den Angeboten habe ihm keinen Raum gelassen, seine Tätigkeit im Wesentlichen frei zu gestalten. Das Zeitfenster von zwei Stunden zur Abarbeitung angenommener Aufträge habe ihn zeitlich gebunden. Zwar habe er dabei gemäß § 5 der Basis-Vereinbarung zur Erfüllung des Auftrags theoretisch eigene Arbeitnehmer einsetzen oder Unteraufträge erteilen dürfen. Zur Erlangung und Durchführung der Aufträge sei er jedoch auf die Nutzung der App angewiesen gewesen. Das dafür bestehende Benutzerkonto sei nicht übertragbar gewesen, was ihn letztlich zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet habe. Durch die Pflicht zur Nutzung der App habe er seine Leistungen in einer von der Beklagten bestimmten Arbeitsorganisation erbracht. Sowohl durch das praktizierte GPS-Tracking als auch durch den Umstand, dass sich die Beklagte eine jederzeitige Kündigung vorbehalten habe, sei er mittelbar dazu angehalten worden, regelmäßig Aufträge anzunehmen. Außerdem schaffe die Beklagte durch die Möglichkeit, Erfahrungspunkte zu sammeln, und die dadurch bewirkte Verbesserung des Nutzungsstatus Anreize, ein erhöhtes Auftragsvolumen zu übernehmen, um dadurch einen Zugang zu lukrativeren Aufträgen zu erhalten. Dies habe der Beklagten eine Planungssicherheit wie in einem Arbeitsverhältnis verschafft.
10
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2019 kündigte die Beklagte ein etwaig mit dem Kläger bestehendes Arbeitsverhältnis. Gegen diese in der Berufungsinstanz vorsorglich erklärte ordentliche Kündigung hat sich der Kläger mit einem am 6. November 2019 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz gewandt. Er hat die Vollmacht des Beklagtenvertreters zur Abgabe der Kündigungserklärung bestritten, die Kündigung wegen fehlender Vertretungsmacht zurückgewiesen und geltend gemacht, sein Prozessbevollmächtigter sei nicht zum Empfang der Kündigung bevollmächtigt gewesen. Schließlich hat der Kläger den Standpunkt eingenommen, die Erklärung im Schriftsatz erfülle nicht das Schriftformerfordernis des § 623 BGB.
11
Der Kläger hat zuletzt beantragt
1.
festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht;
hilfsweise für den Fall, dass dem Antrag zu 1. nicht stattgegeben wird festzustellen, dass das zwischen den Parteien aufgrund der Basis-Vereinbarung vom 13. Dezember 2016/6. Februar 2017 bestehende Vertragsverhältnis nicht durch die E-Mail von Herrn Geschäftsführer W an den Kläger vom 10. April 2018 aufgelöst ist;
2.
die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Vertragsbedingungen bei Freischaltung seines Benutzerkontos mit Tätigkeiten gemäß der Beschreibung „General“ und „RPro“ in § 1 der zwischen den Parteien geschlossenen Basis-Vereinbarung vom 13. Dezember 2016/6. Februar 2017 und dem Berechtigungsstatus Level 15 oder höher tatsächlich zu beschäftigen;
hilfsweise für den Fall, dass dem Antrag zu 1. nicht stattgegeben wird, die Beklagte zu verurteilen, ihm zu unveränderten Vertragsbedingungen bei Freischaltung seines Benutzerkontos mit mindestens dem dort genannten Statuslevel 15 Aufträge der Auftragsarten „General“ und „RPro“ im Rahmen von § 1 der zwischen den Parteien geschlossenen Basis-Vereinbarung vom 13. Dezember 2016/6. Februar 2015 zur Durchführung anzubieten;
3.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.723,22 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 1.224,54 Euro brutto seit dem 1. Mai 2018 sowie aus jeweils weiteren 1.749,34 Euro brutto seit dem 1. Juni 2018 und dem 1. Juli 2018 zu zahlen;
hilfsweise für den Fall, dass dem Antrag zu 1. nicht stattgegeben wird, an ihn 4.723,22 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 1.224,54 Euro seit dem 1. Mai 2018 sowie aus jeweils weiteren 1.749,34 Euro seit dem 1. Juni 2018 und dem 1. Juli 2018 zu zahlen;
4.
ihm 22 Werktage bezahlten Erholungsurlaub zu gewähren;
5.
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 24. Juni 2019 beendet worden ist;
hilfsweise für den Fall, dass dem Antrag zu 5. nicht stattgegeben wird, festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Vertragsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 24. Juni 2019 beendet worden ist.
12
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger sei als Crowdworker selbständiger Unternehmer gewesen. Er habe seine Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten können. Vorgaben bei der Vergabe der Aufträge seien ausschließlich den Aufträgen ihrer Kunden geschuldet gewesen. Die zeitliche Reihenfolge der Abwicklung eines Auftrags, zu dessen Annahme der Kläger nicht verpflichtet gewesen sei, habe er selbständig festlegen können. Der Kläger habe sogar das Recht gehabt, einen angenommenen Auftrag ohne Sanktionen und ohne Benennung eines besonderen Grundes jederzeit abzubrechen. Von der in der zur Verfügung gestellten App eingerichteten Abbruchfunktion habe er in 17 Fällen Gebrauch gemacht. Einzige Folge der nicht korrekten oder nicht pünktlichen Durchführung eines Auftrags habe darin bestanden, dass keine Vergütung gezahlt worden sei. Weitere Sanktionen seien damit nicht verbunden gewesen.
13
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
14
Die Revision des Klägers ist teilweise begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht, soweit der Antrag auf Zahlung von Annahmeverzugsvergütung abgewiesen wurde. Im Übrigen war die Revision – soweit die vorinstanzlichen Urteile nicht für gegenstandslos zu erklären waren – als unbegründet zurückzuweisen.
15
A. Das Landesarbeitsgericht hat den als allgemeinen Feststellungsantrag nach § 256 Abs. 1 ZPO auszulegenden Antrag zu 1. zu Unrecht als unbegründet abgewiesen. Der Antrag ist mangels Vorliegens des besonderen Feststellungsinteresses bereits unzulässig.
16
I. Mit dem Antrag zu 1. begehrt der Kläger die Feststellung, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht.
17
1. Das Feststellungsbegehren ist gegenwartsbezogen. Der Kläger möchte geklärt wissen, ob das von ihm angenommene Arbeitsverhältnis über den durch eine Kündigung bestimmten Auflösungstermin hinaus bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung fortbestanden hat. Diese Auslegung des Antrags lag bereits dem Urteil des Landesarbeitsgerichts (unter A. auf Seite 40 der Gründe) zugrunde. Der Senat hat den Parteien in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dem Antrag ebenfalls dieses Verständnis beizumessen. Der Kläger ist dem nicht entgegengetreten.
18
2. Die allgemeine Feststellungsklage wurde neben dem punktuellen Klageantrag zu 5. gestellt. Bei diesem handelt es sich um eine Klage nach § 4 Satz 1 KSchG, die als besondere negative Feststellungsklage voraussetzt, dass die Wirksamkeitsfiktion des § 7 KSchG droht (Niemann NZA 2019, 65, 66 f.). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, weil sich die Beklagte einer schriftlichen, ihr zurechenbaren Kündigung berühmt, die – sollte sie damit Recht haben – von der Wirksamkeitsfiktion des § 7 KSchG erfasst würde (vgl. Niemann NZA 2019, 65, 67; ErfK/Kiel 21. Aufl. KSchG § 4 Rn. 8). Wird – wie hier – eine allgemeine Feststellungsklage neben einer Klage nach § 4 Satz 1 KSchG erhoben, soll sie klären, ob das Arbeitsverhältnis aufgrund von Beendigungstatbeständen aufgelöst worden ist, die vom Streitgegenstand der Kündigungsschutzklage nicht erfasst sind (BAG 18. Dezember 2014 – 2 AZR 163/14 – Rn. 24 mwN, BAGE 150, 234).
19
II. Der Feststellungsantrag zu 1. ist unzulässig, weil das hierfür erforderliche Feststellungsinteresse nicht gegeben ist.
20
1. Auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses kann nach § 256 Abs. 1 ZPO Klage erhoben werden, wenn der Kläger ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt wird. Das besondere Feststellungsinteresse besteht nicht schon deshalb, weil eine bestimmte Kündigung ausgesprochen worden und ihretwegen ein Rechtsstreit anhängig ist. Der klagende Arbeitnehmer muss vielmehr weitere streitige Beendigungstatbestände oder wenigstens deren Möglichkeit in den Prozess einführen und damit dartun, dass er an dem neben der Klage nach § 4 Satz 1 KSchG gestellten weiteren Feststellungsantrag ein rechtliches Interesse hat (vgl. BAG 26. September 2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 32, BAGE 146, 161).
21
2. Daran fehlt es hier. Der Kläger hat keine Beendigungstatbestände dargelegt, die nicht bereits von seiner nach § 4 Abs. 1 KSchG erhobenen Klage erfasst sind.
22
B. Das Landesarbeitsgericht hat den gegen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien durch die Kündigung vom 24. Juni 2019 gerichteten Kündigungsschutzantrag zu 5. zwar mit rechtsfehlerhafter Begründung, im Ergebnis aber zu Recht abgewiesen. Der Antrag ist unbegründet. Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis wurde durch die Kündigung vom 24. Juni 2019 beendet.
23
I. Der Feststellungsantrag zu 5. ist als Kündigungsschutzantrag iSd. § 4 Satz 1 KSchG zulässig. Die Erweiterung der Klage um den Kündigungsschutzantrag im Berufungsverfahren war zulässig.
24
1. Zwar verlangt § 4 Satz 1 KSchG eine fristgerechte Klageerhebung „beim Arbeitsgericht“. Das hindert aber nicht die Erhebung einer Kündigungsschutzklage in einem zwischen den Parteien anhängigen Berufungsverfahren, sofern dies nach den allgemeinen Grundsätzen gemäß § 533 ZPO zulässig ist (vgl. im Einzelnen BAG 14. Dezember 2017 – 2 AZR 86/17 – Rn. 16, BAGE 161, 198).
25
2. Vorliegend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, die Voraussetzungen gemäß § 533 ZPO für die Zulässigkeit der Klageerweiterung im Berufungsverfahren hätten vorgelegen. Dies ist in der Revisionsinstanz in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO nicht mehr zu überprüfen (BAG 14. Dezember 2017 – 2 AZR 86/17 – Rn. 23, BAGE 161, 198).
26
II. Der Kündigungsschutzantrag ist jedoch unbegründet. Zwar bestand zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 24. Juni 2019 zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis; dieses wurde jedoch durch die Kündigung vom 24. Juni 2019 fristgerecht mit Ablauf des 31. Juli 2019 beendet.
27
1. In einem Kündigungsschutzverfahren hat das Gericht inzident zu prüfen, ob das Rechtsverhältnis der Parteien zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Gegenstand einer Kündigungsschutzklage nach § 4 Satz 1 KSchG ist das Begehren festzustellen, dass „das Arbeitsverhältnis“ durch die konkrete, mit der Klage angegriffenen Kündigung zu dem darin vorgesehenen Termin nicht aufgelöst worden ist. Mit der Rechtskraft des der Klage stattgegebenen Urteils steht deshalb regelmäßig zugleich fest, dass jedenfalls bei Zugang der Kündigung ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien bestanden hat, das nicht zuvor durch andere Ereignisse aufgelöst wurde. Einer Kündigungsschutzklage kann deshalb nur stattgegeben werden, wenn das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung nicht bereits durch andere Beendigungstatbestände aufgelöst ist. Besteht kein Arbeitsverhältnis, kann ein der Klage stattgebendes Urteil nicht ergehen; vielmehr ist die Klage schon aus diesem Grund abzuweisen (BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 295/18 – Rn. 10; 21. April 2016 – 2 AZR 609/15 – Rn. 16).
28
2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts war der Kläger zum Zeitpunkt der Kündigung vom 24. Juni 2019 als Arbeitnehmer und nicht als selbständiger Unternehmer für die Beklagte tätig.
29
a) Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend von den rechtlichen Grundsätzen ausgegangen, die bei der Abgrenzung eines Arbeitsverhältnisses von dem Rechtsverhältnis eines selbständigen Unternehmers zugrunde zu legen sind. Diese ergeben sich seit dem 1. April 2017 aus § 611a Abs. 1 BGB, der eine Legaldefinition des Arbeitsvertrags enthält und damit zusammenhängend regelt, wer Arbeitnehmer ist.
30
aa) Nach § 611a Abs. 1 BGB wird ein Arbeitnehmer durch den Arbeitsvertrag im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet (Satz 1). Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen (Satz 2). Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmten kann (Satz 3). Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab (Satz 4). Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen (Satz 5). Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an (Satz 6).
31
bb) Ein Arbeitsverhältnis unterscheidet sich danach von dem Rechtsverhältnis eines selbstständig Tätigen durch den Grad der persönlichen Abhängigkeit des Verpflichteten. Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Die Begriffe der Weisungsgebundenheit und Fremdbestimmung sind eng miteinander verbunden und überschneiden sich teilweise. Eine weisungsgebundene Tätigkeit ist in der Regel zugleich fremdbestimmt. Die Weisungsbindung ist das engere, den Vertragstyp im Kern kennzeichnende Kriterium, das durch § 611a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 BGB näher ausgestaltet ist. Es kann, muss aber nicht gleichermaßen Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Nur wenn jedwede Weisungsgebundenheit fehlt, liegt idR kein Arbeitsverhältnis vor. Das Kriterium der Fremdbestimmung erfasst insbesondere vom Normaltyp des Arbeitsvertrags abweichende Vertragsgestaltungen (ErfK/Preis 21. Aufl. BGB § 611a Rn. 32). Sie zeigt sich insbesondere in der Eingliederung des Arbeitnehmers in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers (vgl. BAG 17. Januar 2006 – 9 AZR 61/05 – Rn. 11; Bayreuther RdA 2020, 241, 246; ErfK/Preis 21. Aufl. BGB § 611a Rn. 41; MHdB ArbR/Schneider 4. Aufl. § 18 Rn. 19 f., 35; Schubert RdA 2020, 248, 251; HWK/Thüsing 9. Aufl. § 611a BGB Rn. 53).
32
(1) Nach § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB ist weisungsgebunden, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.
33
(a) Weisungsgebundenheit kann in verschiedenen Erscheinungsformen bestehen. In der Regel wird eine vertraglich nur rahmenmäßig bestimmte Arbeitspflicht – dh. die dem Umfang nach bereits bestimmte Leistung des Beschäftigten – durch die Ausübung des Weisungsrechts konkretisiert. Nach § 106 Satz 1 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrags oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. § 106 Satz 2 GewO erkennt zusätzlich die Ordnung und das Verhalten des Arbeitnehmers im Betrieb als Gegenstand des Weisungsrechts an. Die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers korrespondiert mit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Durch die Ausübung des Weisungsrechts nach § 106 Satz 2 GewO wird regelmäßig erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Beschäftigte seine Arbeit leisten und das Rechtsverhältnis praktisch durchgeführt werden kann (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 AZR 560/16 – Rn. 35, BAGE 162, 221). Weisungsgebundenheit kann sich aber auch – wie § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB zeigt – aus einer detaillierten und den Freiraum für die Erbringung der geschuldeten Leistung stark einschränkenden rechtlichen Vertragsgestaltung oder tatsächlichen Vertragsdurchführung ergeben (vgl. BAG 19. November 1997 – 5 AZR 653/96 – zu I 1 a der Gründe, BAGE 87, 129).
34
(b) In zeitlicher Hinsicht besteht eine Abhängigkeit von Weisungen, wenn ständige Dienstbereitschaft erwartet wird oder wenn der Mitarbeiter in nicht unerheblichem Umfang auch ohne entsprechende Vereinbarung herangezogen wird, ihm also die Arbeitszeiten letztlich „zugewiesen“ werden. Die ständige Dienstbereitschaft kann sich sowohl aus den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen der Parteien als auch aus der praktischen Durchführung der Vertragsbeziehungen ergeben. Die Einteilung eines Mitarbeiters in Organisations-, Dienst- und Produktionspläne ohne vorherige Absprache stellt ein starkes Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft dar (BAG 14. März 2007 – 5 AZR 499/06 – Rn. 28).
35
(c) Allerdings können Weisungsrechte auch außerhalb eines Arbeitsverhältnisses bestehen. Weisungsgebundenheit iSv. § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB setzt voraus, dass der Beschäftigte in der Gestaltung seiner Tätigkeit nicht „im Wesentlichen frei“ ist. Zeitliche Vorgaben oder die Verpflichtung, bestimmte Termine für die Erledigung der übertragenen Aufgaben einzuhalten, sind für sich allein kein wesentliches Merkmal für ein Arbeitsverhältnis. Auch gegenüber einem freien Mitarbeiter können Termine für die Erledigung der Arbeit bestimmt werden, ohne dass daraus eine arbeitnehmertypische zeitliche Weisungsgebundenheit folgt (BAG 14. März 2007 – 5 AZR 499/06 – Rn. 30; 29. Januar 1992 – 7 ABR 25/91 – zu B II 2 a der Gründe). Zudem steht einem Auftraggeber gegenüber einem freien Mitarbeiter grundsätzlich das Recht zu, Anweisungen hinsichtlich des Arbeitsergebnisses zu erteilen. Die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ist daher gegenüber dem Weisungsrecht für Vertragsverhältnisse mit Selbständigen und Werkunternehmern abzugrenzen. Die Anweisung gegenüber einem Selbständigen ist typischerweise sachbezogen und ergebnisorientiert und damit auf die zu erbringende Dienst- oder Werkleistung ausgerichtet. Im Unterschied dazu ist das arbeitsvertragliche Weisungsrecht personenbezogen, ablauf- und verfahrensorientiert geprägt. Es beinhaltet Anleitungen zur Vorgehensweise und zur Motivation des Mitarbeiters, die nicht Inhalt des werkvertraglichen Anweisungsrechts sind (BAG 27. Juni 2017 – 9 AZR 133/16 – Rn. 28). Für die Bestimmung des Vertragstypus kommt es indiziell darauf an, inwieweit der Arbeitsvorgang durch verbindliche Anweisungen vorstrukturiert ist. Weisungen, die sich ausschließlich auf das vereinbarte Arbeitsergebnis beziehen, können auch gegenüber Selbständigen erteilt werden. Wird die Tätigkeit aber durch den „Auftraggeber“ geplant und organisiert und der Beschäftigte in einen arbeitsteiligen Prozess in einer Weise eingegliedert, die eine eigenverantwortliche Organisation der Erstellung des vereinbarten „Arbeitsergebnisses“ faktisch ausschließt, liegt ein Arbeitsverhältnis nahe. Richten sich die vom Auftragnehmer zu erbringenden Leistungen nach dem jeweiligen Bedarf des Auftraggebers, so kann auch darin ein Indiz gegen eine werk- und für eine arbeitsvertragliche Beziehung liegen, wenn mit der Bestimmung von Leistungen auch über Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit entschieden wird (vgl. zur Abgrenzung von Arbeitsvertrag und Werkvertrag BAG 25. September 2013 – 10 AZR 282/12 – Rn. 17, BAGE 146, 97 und zum Heimarbeitsverhältnis BAG 24. August 2016 – 7 AZR 625/15 – Rn. 16, BAGE 156, 170).
36
(d) Auch tatsächliche Zwänge durch eine vom Auftraggeber geschaffene Organisationsstruktur können geeignet sein, den Beschäftigten zu dem gewünschten Verhalten zu veranlassen, ohne dass dazu konkrete Weisungen ausgesprochen werden müssen (vgl. Schubert RdA 2020, 248, 251). So ist von einem Arbeitsverhältnis auszugehen, wenn der Auftraggeber in der Lage ist, Art und Umfang der Beschäftigung maßgeblich zu steuern und dadurch über eine Planungssicherheit verfügt, wie sie bei einem Einsatz eigener Arbeitnehmer typisch ist. Dafür genügt es allerdings nicht, dass sich zufällig eine feste Personengruppe findet, die immer wieder – frei und selbstbestimmt – angebotene Aufträge annimmt. Eine langfristige und kontinuierliche Zusammenarbeit führt für sich gesehen nicht zu einer persönlichen, sondern allenfalls zu einer wirtschaftlichen Abhängigkeit, die für sich genommen ein Arbeitsverhältnis nicht zu begründen vermag (BAG 20. Januar 2010 – 5 AZR 99/09 – Rn. 22). Der Auftraggeber muss für die Annahme eines Arbeitsverhältnisses vielmehr organisatorische Maßnahmen ergriffen haben, durch die der Beschäftigte – wenn auch nicht unmittelbar angewiesen, aber doch mittelbar gelenkt – angehalten wird, kontinuierlich Arbeitsaufträge anzunehmen und diese in einem bestimmten Zeitrahmen nach präzisen Vorgaben persönlich zu erledigen. Auf diese Weise kann eine persönliche Abhängigkeit iSv. § 611a BGB auch durch das Anreizsystem einer Plattform gegeben sein. Sie besteht zwar nicht schon aufgrund eines Unternehmenskonzepts, das darauf ausgerichtet ist, kontinuierlich auf einen festen Kreis von Crowdworkern zurückzugreifen und die Zusammenarbeit mit diesen – faktisch – zu verstetigen. Eine faktische Planungssicherheit wie bei einem Einsatz eigenen Personals kann sich aber daraus ergeben, dass der Beschäftigte über die von dem Auftraggeber zur Verfügung gestellte App angehalten wird, kontinuierlich ein bestimmtes Auftragskontingent nach detaillierten Maßgaben des Crowdsourcing-Unternehmens anzunehmen.
37
(2) In die Beurteilung, ob der – für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses erforderliche – Grad der persönlichen Abhängigkeit erreicht ist, ist nach § 611a Abs. 1 Satz 4 BGB die Eigenart der jeweiligen Tätigkeit einzubeziehen. Die Art der Dienstleistung und die Zugehörigkeit der Tätigkeit zu einem bestimmten Berufsbild können den zugrundeliegenden Vertragstyp ebenso beeinflussen wie Organisation der zu verrichtenden Arbeiten. Bestimmte Tätigkeiten lassen sich sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch in einem Werk- oder freien Dienstvertrag verrichten, während andere regelmäßig im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ausgeübt werden. Bei untergeordneten, einfachen Arbeiten besteht eher eine persönliche Abhängigkeit als bei gehobenen Tätigkeiten (vgl. BAG 30. September 1998 – 5 AZR 563/97 – zu I der Gründe, BAGE 90, 36; 19. November 1997 – 5 AZR 21/97 – zu B I 1 der Gründe; 20. Juli 1994 – 5 AZR 627/93 – zu B I der Gründe, BAGE 77, 226). Ein Beschäftigter, der sich zur Erbringung einfacher Arbeitsleistungen verpflichtet hat, verfügt von vornherein über nur geringe Gestaltungsmöglichkeiten. Daher können ihn schon wenige organisatorische Vorgaben in der Ausübung der Tätigkeit so festlegen, dass er seine Tätigkeit nicht mehr im Wesentlichen frei gestalten kann. Die Arbeitnehmereigenschaft lässt sich in einem solchen Fall auch nicht dadurch ausschließen, dass der Auftraggeber die wenigen erforderlichen Vorgaben bereits in der vertraglichen Vereinbarung festschreibt (vgl. BAG 16. Juli 1997 – 5 AZR 312/96 – zu I der Gründe, BAGE 86, 170).
38
(3) Nach § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB bedarf es für die Feststellung des Rechtsverhältnisses im konkreten Fall einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls. Anknüpfungspunkt für die Zuordnung des Rechtsverhältnisses zu einem bestimmten Vertragstyp sind insbesondere die in § 611a Abs 1 Satz 1 BGB genannten Abgrenzungskriterien, können aber auch weitere Umstände sein, die teleologisch zur Abgrenzung beitragen können (vgl. ErfK/Preis 21. Aufl. BGB § 611a Rn. 47 ff.; MHdB ArbR/Schneider 4. Aufl. § 18 Rn. 43). Vom Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses kann (erst) dann ausgegangen werden, wenn den Kriterien, die für eine persönliche Abhängigkeit sprechen, im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung hinreichendes Gewicht beizumessen ist oder sie dem Rechtsverhältnis ihr Gepräge geben.
39
(4) Leistet der Beschäftigte abweichend von den getroffenen Vereinbarungen tatsächlich weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit, erklärt § 611a Abs. 1 Satz 6 BGB die Bezeichnung im Vertrag für unbeachtlich. Der Widerspruch zwischen Vertragsbezeichnung und Vertragsdurchführung wird durch gesetzliche Anordnung zugunsten letzterer aufgelöst. Aus ihr ergibt sich der wirkliche Geschäftsinhalt. Für die Bestimmung des Vertragstyps ist dann allein die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses maßgeblich. Damit wird dem zwingenden Charakter des Arbeitsrechts Rechnung getragen. Die zwingenden gesetzlichen Regelungen für Arbeitsverhältnisse können nicht dadurch abbedungen werden, dass die Parteien ihrem Arbeitsverhältnis eine andere Bezeichnung geben (vgl. BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 295/18 – Rn. 13; 21. November 2013 – 6 AZR 23/12 – Rn. 22; 25. September 2013 – 10 AZR 282/12 – Rn. 16, BAGE 146, 97; ähnlich Schwarze RdA 2020, 38, 41 f.; kritisch Riesenhuber RdA 2020, 226, 228 ff.).
40
(5) Das Landesarbeitsgericht hat bei der danach vorzunehmenden Prüfung des Arbeitnehmerstatus einen weiten Beurteilungsspielraum. Seine tatrichterliche Würdigung ist nur daraufhin zu überprüfen, ob sie den Rechtsbegriff des Arbeitnehmers selbst verkannt, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt, bei der Subsumtion den Rechtsbegriff wieder aufgegeben oder wesentliche Umstände außer Betracht gelassen haben (BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 295/18 – Rn. 14; 21. November 2017 – 9 AZR 117/17 – Rn. 26).
41
b) Gemessen an diesen Grundsätzen hält das Urteil des Landesarbeitsgerichts einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
42
aa) Das Landesarbeitsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass die Bestimmungen der zwischen den Parteien geschlossenen Basis-Vereinbarung vom 13. Dezember 2016/6. Februar 2017 nicht die Anforderungen eines Arbeitsvertrags erfüllen. Für die rechtliche Einordnung eines Rahmenvertrags kommt es darauf an, ob er der einen Partei das Recht zubilligt, frei über die Annahme der künftigen Einzelverträge zu entscheiden, oder ob einer Partei ein Weisungsrecht zustehen soll, infolge dessen sie die zu erbringende Leistung einseitig und für die andere Partei verbindlich festzulegen berechtigt ist (BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 295/18 – Rn. 26). Vorliegend begründet die als Rahmenvertrag konzipierte Vereinbarung keine wechselseitigen Rechte und Pflichten. Aus ihr lässt sich weder eine Verpflichtung des Klägers zur Leistung von Diensten für die Beklagte noch zur Annahme eines über die Online-Plattform verfügbaren Auftrags ableiten. Ein Verpflichtungstatbestand folgt auch nicht aus den „Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen“ für die Bereitstellung und Nutzung der App.
43
bb) Rechtsfehlerhaft ist jedoch die Annahme des Landesarbeitsgerichts, auch die tatsächliche Durchführung der durch Angebot und Annahme begründeten einzelnen Auftragsverhältnisse sprächen in ihrer Gesamtheit nicht für ein Arbeitsverhältnis. Die Feststellung, der Kläger habe, ohne mittelbar oder unmittelbar von Anreizen oder drohenden Sanktionen beeinflusst gewesen zu sein, frei darüber entscheiden können, ob und in welchem Umfang er ihm über die Online-Plattform angebotene Aufträge annehme, würdigt wesentliche Umstände der Zusammenarbeit der Parteien nach Annahme eines Auftragsangebots unvollständig. Das Landesarbeitsgericht hat außer Betracht gelassen, dass der Kläger bei der Ausführung der übernommenen Aufträge, dh. im bereits begründeten Rechtsverhältnis, über keine nennenswerten Entscheidungsspielräume mehr verfügte. Die einzelnen Arbeitsschritte der zu verrichtenden Tätigkeiten wurden durch die Auftragsbeschreibungen auf der Online-Plattform von der Beklagten exakt vorgegeben. Der Kläger hatte diese abzuarbeiten, um die ihm in Aussicht gestellte Vergütung zu erhalten. Auch der zeitliche Rahmen für die Auftragserledigung war stark eingegrenzt. Die übertragenen Kontrolltätigkeiten waren regelmäßig binnen zwei Stunden zu verrichten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit bei der Annahme der einzelnen Aufträge und der starken fachlichen, zeitlichen und örtlichen Gebundenheit des Klägers bei der Vertragsdurchführung, mithin beim Vollzug des jeweils angenommenen Auftrags (vgl. dazu allg. Bayreuther RdA 2020, 241, 247) wurde vom Landesarbeitsgericht weder aufgezeigt noch aufgelöst.
44
c) Dem Senat ist es auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen nach § 563 Abs. 3 ZPO möglich, eine abschließende Würdigung sämtlicher Umstände vorzunehmen, um den der Rechtsbeziehung der Parteien zugrundeliegenden Vertragstyp zu bestimmen (vgl. dazu allg. BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 47; 20. Oktober 2016 – 6 AZR 471/15 – Rn. 29, BAGE 157, 84). Danach hat der Kläger die ihm erteilten Aufträge nach den aufgezeigten Voraussetzungen tatsächlich in persönlicher Abhängigkeit (aa) im Rahmen eines einheitlichen Arbeitsverhältnisses (bb) durchgeführt.
45
aa) Die nach § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB vorzunehmende Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass der Kläger im Rahmen der tatsächlichen Vertragsdurchführung in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit leistete. Dafür fällt maßgeblich ins Gewicht, dass der Kläger zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet war (1), die geschuldete Tätigkeit ihrer Eigenart nach einfach gelagert und ihre Durchführung inhaltlich vorgegeben waren (2). Von besonderer Bedeutung ist zudem die konkrete Nutzung der App als Mittel der Fremdbestimmung bei der Auftragsvergabe (3).
46
(1) Der Kläger hatte die Kontrollaufträge persönlich durchzuführen. Beauftragt werden von der Beklagten nur Personen, die sich auf der Grundlage der Basis-Vereinbarung auf ihrer Plattform registriert haben und denen die Anwendersoftware (App) zur Verfügung gestellt wurde. Nach III 1 der Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen ist weder das für die jeweilige Person eingerichtete Benutzerkonto übertragbar noch dürfen mehrere Benutzerkonten für dieselbe Person angelegt werden. Das Teilen des Accounts wird von der Beklagten ausdrücklich als „Missbrauch oder Betrug“ gewertet und als „Verletzung der Nutzungsbedingungen“ angesehen. Da die Aufträge über die App und damit über das individuelle Benutzerkonto abzuwickeln sind, kann der Nutzer entgegen § 5 der Basis-Vereinbarung die übernommenen Aufträge nicht durch Dritte ausführen lassen; er ist vielmehr gehalten, die Kontrollen persönlich vorzunehmen.
47
(2) An die Ausübung der Kleinstaufträge sind nur geringe Qualifikationsanforderungen gestellt. Es handelte sich um eine einfach gelagerte Tätigkeit, die das Rechtsverhältnis schon deshalb in die Nähe eines Arbeitsverhältnisses rücken lässt (vgl. BAG 30. September 1998 – 5 AZR 563/97 – zu I der Gründe, BAGE 90, 36; 19. November 1997 – 5 AZR 21/97 – zu B I 1 der Gründe). Der Kläger konnte aufgrund strikter Vorgaben der Beklagten an die Durchführung der ihm obliegenden einfach gelagerten Kontrollaufgaben seine Tätigkeit nicht im Wesentlichen frei gestalten. Er musste diese über die Online-Plattform mit Hilfe der App abwickeln. Dort war im Einzelnen festgelegt, wie er die Tätigkeiten zu verrichten und welche Arbeitsschritte er vorzunehmen hatte. Entgegen der Auffassung der Beklagten stellten diese Vorgaben nicht lediglich eine Beschreibung des Arbeitsergebnisses dar. Durch sie hat die Beklagte die ohnehin nur geringen Gestaltungsmöglichkeiten bei der Art und Weise der Vertragsdurchführung nahezu vollständig ausgeschlossen. Die Möglichkeit des Klägers, frei darüber zu entscheiden, ob er zuerst die geforderten Fotos anfertigt und dann die Fragen an die Ansprechperson richtet oder andersherum verfährt, und seine Befugnis, auch die Reihenfolge der inhaltlich vorgegebenen Fragen selbst festzulegen, eröffneten ihm allenfalls minimale Gestaltungsspielräume. Sie führen jedoch nicht dazu, dass der Kläger seine Tätigkeit „im Wesentlichen“ frei gestalten konnte.
48
(3) Die über die App einseitig vorgegebenen Beschäftigungsbedingungen sind so gestaltet, dass der jeweilige Nutzer – will er die Kontrolltätigkeiten wirtschaftlich sinnvoll ausüben – über einen längeren Zeitraum regelmäßig Aufträge annehmen und im Einzelnen vorbestimmte Arbeitsvorgänge abarbeiten muss. Lassen sich Crowdworker – wie der Kläger – durch den Abschluss der Basis-Vereinbarung, die Registrierung auf der Plattform und deren Nutzung grundsätzlich auf diese Beschäftigungsform ein, lenkt die Beklagte das Nutzerverhalten durch den Zuschnitt und die Kombination der Aufträge nach ihrem Beschäftigungsbedarf, ohne dass konkrete Anweisungen nötig sind. Daraus ergibt sich die Fremdbestimmung der Tätigkeit.
49
(a) Die Beklagte reicht die ihr übertragenen Kontrollaufgaben nicht unverändert an ihre „Subunternehmer“ weiter. Sie teilt diese in Mikrojobs auf, um anschließend deren Zusammenfassung über die „Crowd“ zu nutzerbezogenen Auftragsbündeln zu ermöglichen. Zunächst wird für die Kontrolle eines bestimmten Produkts bezogen auf jede einzelne Verkaufsstelle ein gesonderter Auftrag ausgeschrieben. Der Annahme und Durchführung eines einzigen Kleinstauftrags kommt – im Gegensatz zu größeren Aufgaben, die ggf. gewisse Fertigkeiten und Kenntnisse voraussetzen, oder zur gebündelten Vergabe mehrerer Mikrojobs – keine nennenswerte wirtschaftliche Bedeutung zu. Erst die Zusammenfassung und tatsächliche Abwicklung mehrerer Kleinstaufträge ermöglichen dem Nutzer eine rentable Beschäftigung. Um eine solche Tätigkeiten verrichten zu dürfen, muss der Nutzer dem Einfluss der App nachgeben. Diese bietet ihm in einem Umkreis von bis zu 50 km um seinen aktuellen Aufenthaltsort Aufträge an. Die Anzahl der gleichzeitig anzunehmenden Aufträge und damit die Möglichkeit, eine Route zur Erfüllung mehrerer Aufträge zusammenzustellen und damit faktisch einen Stundenlohn zu erzielen, der den Aufwand rechtfertigt, in einem Umkreis von bis zu 50 km Ziele anzusteuern, hängt vom erreichten Level im Bewertungssystem ab. Die Funktion der App ist somit nicht auf die Vergabe einzelner Aufträge durch einen selbstständigen Nutzer ausgerichtet, sondern zielt auf eine sich – aus Sicht der Beklagten – selbstvollziehende, automatisierte Disposition der Aufgaben auf dafür bereitstehende eingearbeitete Beschäftigte. Die Attraktivität des für den einzelnen Nutzer jeweils einsehbaren Angebotsportfolio wird durch Inhalt und Zuschnitt der zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgelobten Aufträge und damit von der Beklagten bestimmt. Diese Organisation der Plattformarbeit muss einen im eigenen Interesse wirtschaftlich handelnden Crowdworker dazu veranlassen, die Angebotssituation ständig zu prüfen und sich dienstbereit zu halten, um eine sich für ihn aufgrund seiner Filtereinstellungen (Standort, Level, Zeitfenster) ergebende günstige Angebotssituation nutzen zu können.
50
(b) Die Beklagte setzte die Anreizfunktion dieses Bewertungssystems gezielt ein, um den Nutzer dazu zu veranlassen, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen. Der Geschäftsführer der Beklagten hat das „Level-System“ in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht als „Gamification-Part der App“ bezeichnet. Die Beklagte regte somit durch die Inaussichtstellung von Erfahrungspunkten und den damit verbundenen Vorteilen den „Spieltrieb“ der Nutzer an mit dem Ziel, diese dadurch zu einer regelmäßigen Beschäftigung zu bewegen. Zugleich verzögerte sie den (zu) schnellen Aufstieg in ein höheres Level durch ein regelmäßig auf zwei Stunden begrenztes Zeitfenster, innerhalb dessen die Aufträge ab dem Zeitpunkt ihrer Übernahme zu bearbeiten sind. Denn zeitgleich können immer nur so viele Einzelangebote angenommen werden, wie der jeweilige Nutzer in der Lage ist, innerhalb von zwei Stunden abzuarbeiten. Inwieweit dieser tatsächlich zeitgleich die seinem Level entsprechende Anzahl an Aufträgen annehmen kann, hängt somit insbesondere von der räumlichen Nähe der zu kontrollierenden Tankstellen und Einzelhandelsgeschäfte zueinander ab. Je kürzer die Entfernung zwischen den anzusteuernden Orten, desto mehr Kontrollen lassen sich in der vorgegebenen Zeit erledigen.
51
(c) Die Nutzer dürfen die Zeitvorgaben nicht „umgehen“. Sie sind nicht berechtigt, auf Vorrat die ihrem Level entsprechende Anzahl von Aufträgen zunächst anzunehmen, um einzelne davon durch Nutzung der Abbruchfunktion in der App wieder abzugeben, wenn sie feststellen, diese nicht in der vorgegebenen Zeit erledigen zu können. Weder die Basis-Vereinbarung noch die Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen sehen ein solches Recht vor. Die dort aufgeführten Regelungen verpflichten den Nutzer nach Annahme des Auftrags dazu, „diesen entsprechend der Auftragsbeschreibung korrekt durchzuführen“ bzw. die „Leistung innerhalb der im Auftrag genannten Ausführungsfrist“ zu erledigen. Die technische Möglichkeit, einen Auftrag durch Nutzung der entsprechenden App-Funktion abzubrechen, lässt nicht auf das Recht schließen, sich einseitig von der eingegangenen Verpflichtung zu lösen. Auch bei einem Auftragsverlust infolge von Zeitablauf liegt eine Verletzung der vom Nutzer eingegangenen Pflicht vor, den Auftrag zeitgerecht auszuführen. Ein solches vertragswidriges Verhalten kann somit kein geeignetes Instrument darstellen, die Zeit-Level-Begrenzung zu umgehen und die sich daraus ergebende Lenkungswirkung zu durchbrechen.
52
bb) Die langfristige und kontinuierliche Beschäftigung des Klägers führte zu einer Verklammerung der einzelnen Aufträge zu einem einheitlichen (unbefristeten) Arbeitsverhältnis.
53
(1) Ein einheitliches Vertragsverhältnis kann durch übereinstimmendes schlüssiges Verhalten begründet werden, wenn die Parteien über einen rechtlich erheblichen Zeitraum einvernehmlich Dienstleistung und Vergütung ausgetauscht haben. Darin kann ihr übereinstimmende Wille zum Ausdruck kommen, einander zu den tatsächlich erbrachten Leistungen arbeitsvertraglich verbunden zu sein (BAG 9. April 2014 – 10 AZR 590/13 – Rn. 26; 17. April 2013 – 10 AZR 272/12 – Rn. 13, BAGE 145, 26).
54
(2) Vorliegend haben die Parteien durch die tatsächliche Vertragspraxis übereinstimmend zu erkennen gegeben, dass ihre Rechtsbeziehung nicht auf die Erledigung einzelner Kleinstaufträge, sondern die kontinuierliche Bearbeitung von Auftragsbündeln gerichtet war. Die in der Zergliederung in Mikrojobs und dem Level-System angelegte und für eine wirtschaftliche Vertragsdurchführung notwendige Bündelung einzelner Aufträge schließt es entgegen der Auffassung der Beklagten aus, dass die Parteien jeden einzelnen angenommenen Kleinstauftrag für sich gesehen als befristetes Arbeitsverhältnis angesehen haben, dessen Rechtsunwirksamkeit innerhalb von drei Wochen nach seinem vereinbarten Ende gemäß § 17 Satz 1 TzBfG durch Klage beim Arbeitsgericht geltend gemacht werden muss. Eine rechtlich isolierte Betrachtung eines jeden der allein in einem Zeitraum von elf Monaten vom Kläger erledigten 2.978 Aufträge ließe außer Acht, dass die Beklagten ihr Geschäftsmodell auf eine verstetigte Beschäftigung von Crowdworkern ausgerichtet hat und es auch dem Kläger erkennbar auf eine verstetigte Beschäftigung ankam.
55
3. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts bestand danach zwar bei Zugang der Kündigung am 24. Juni 2019 ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien. Da dieses jedoch durch die Kündigung der Beklagten vom 24. Juni 2019 fristgerecht zum 31. Juli 2019 endete, erweist sich die Abweisung des Kündigungsschutzantrags im Ergebnis als zutreffend.
56
a) Der Senat muss nicht entscheiden, ob die E-Mail der Beklagten vom 10. April 2018 den Bedeutungsgehalt einer Kündigung aufweist. Sie genügt bereits nicht dem Formerfordernis des § 623 BGB. Danach bedarf die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses durch Kündigung der Schriftform; die elektronische Form und damit eine Kündigung per E-Mail ist im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen.
57
b) Die (Schriftsatz-)Kündigung vom 24. Juni 2019 ist dem Kläger wirksam zugegangen. Die Prozessbevollmächtigten der Parteien waren zur Erklärung bzw. Entgegennahme der Kündigung bevollmächtigt.
58
aa) Zwischen den Parteien steht nicht im Streit, dass ihren Prozessvertretern die Prozessvollmacht für die Durchführung des Berufungsverfahrens vor dem Landesarbeitsgericht erteilt worden ist, das ua. das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zum Gegenstand hatte.
59
bb) Eine Prozessvollmacht ermächtigt gemäß § 81 ZPO zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen. Dies sind nach ständiger Rechtsprechung auch materiell-rechtliche Willenserklärungen, die sich auf den Gegenstand des Rechtsstreits beziehen, weil sie zur Rechtsverfolgung innerhalb des Prozessziels oder zur Rechtsverteidigung dienen. Solche Erklärungen sind von der Prozessvollmacht umfasst, auch wenn sie außerhalb des Prozesses abgegeben werden. Im gleichen Umfang, in dem die Vollmacht zur Vornahme von Prozesshandlungen berechtigt, ist der Bevollmächtigte auch befugt, Prozesshandlungen des Gerichts oder des Gegners entgegenzunehmen. Bei der Abgabe einer Kündigungserklärung, die im Fall ihrer Wirksamkeit die gemäß § 256 Abs. 1 ZPO vom Arbeitnehmer erstrebte Feststellung des Fortbestands eines Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen hinderte und deshalb zur Abwehr seines Feststellungsbegehrens durch den Arbeitgeber dient, handelt es sich um eine solche „Prozesshandlung“ (st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 1. Oktober 2020 – 2 AZR 247/20 – Rn. 48 mwN).
60
cc) Der Einwand des Klägers, die Kündigung sei ihm nicht wirksam zugegangen, weil die Prozessvollmacht seines Rechtsanwalts beschränkt gewesen sei und die „Entgegennahme von einseitigen Willenserklärungen (z.B. Kündigungen)“ ausdrücklich ausgeschlossen habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Beschränkung entfaltete keine Außenwirkung gegenüber der Beklagten. Es kann unterstellt werden, dass die Prozessvollmacht im Parteiprozess (§ 11 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) auf die Abgabe von Willenserklärungen beschränkt und deren Empfang ausgeschlossen werden kann (§ 83 Abs. 2 ZPO). Im Prozess mit Vertretungszwang („Anwaltsprozess“) und damit im Berufungsverfahren vor dem Landesarbeitsgericht (§ 11 Abs. 4 Satz 1 ArbGG) kann sie dagegen im Außenverhältnis grundsätzlich nicht beschränkt werden (BAG 27. Oktober 1988 – 2 AZR 160/88 – zu II 1 b der Gründe). Eine Ausnahme enthält § 83 Abs. 1 ZPO. Danach hat eine Beschränkung des gesetzlichen Umfangs der Vollmacht dem Gegner gegenüber nur insoweit rechtliche Wirkung, als sie die Beseitigung des Rechtsstreits durch Vergleich, Verzichtleistung auf den Streitgegenstand oder Anerkennung des von dem Gegner geltend gemachten Anspruchs betrifft. Die Entgegennahme einseitiger Willenserklärungen umfasst die Ausnahmebestimmung nicht.
61
c) Die Beklagte hat durch die Schriftsatzkündigung auch die Schriftform des § 623 BGB gewahrt.
62
aa) Zur Einhaltung der Schriftform des § 623 BGB muss die Kündigung gemäß § 126 Abs. 1 BGB vom Erklärenden eigenhändig unterschrieben und – da es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung handelt – in dieser Form auch dem Erklärungsempfänger gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB zugehen (vgl. BAG 13. Juli 2006 – 8 AZR 382/05 – Rn. 28). Wird eine formbedürftige Willenserklärung von einem Vertreter des Erklärenden mit eigenem Namen unterzeichnet, so muss die Stellvertretung in der Urkunde zum Ausdruck kommen (BAG 13. Juli 2006 – 8 AZR 382/05 – Rn. 28; 21. April 2005 – 2 AZR 162/04 – zu II 2 der Gründe).
63
bb) Der Berufungserwiderungsschriftsatz vom 24. Juni 2019 enthielt einleitend die Erklärung, dass die Beklagte auch in der II. Instanz von ihrem Prozessbevollmächtigten vertreten werde („… vertrete ich die … Berufungsbeklagte“). Zudem sprach der bevollmächtigte Rechtsanwalt die Kündigung ausdrücklich „namens und im Auftrage der Beklagten“ aus, womit er das Vertretungsverhältnis deutlich zum Ausdruck gebracht hat.
64
cc) Mit Zuleitung der durch eigenhändige Unterschrift ihres Prozessbevollmächtigten beglaubigten Abschrift des Berufungserwiderungsschriftsatzes hat die Beklagte dem Schriftformerfordernis des § 623 BGB iVm. § 126 Abs. 1 BGB ausreichend Rechnung getragen. Mit dem Beglaubigungsvermerk wird zwar regelmäßig nur die Übereinstimmung der Abschrift mit der Urschrift bezeugt. Der Prozessbevollmächtigte übernimmt bei einem von ihm selbst unterschriebenen Beglaubigungsvermerk zugleich auch die Verantwortung für den Inhalt der Urkunde. Die Abschrift des Schriftsatzes stellt damit unter diesen Umständen eine eigenhändig unterzeichnete und die Schriftform wahrende Erklärung dar (BAG 13. Juli 2006 – 8 AZR 382/05 – Rn. 28; BGH 4. Juli 1986 – V ZR 41/86 – zu II 3 der Gründe).
65
d) Auf weitere Unwirksamkeitsgründe hat sich der Kläger nicht berufen, sodass das Arbeitsverhältnis unabhängig davon am 31. Juli 2019 endete, ob die Kündigungsfrist vorliegend vier Wochen (§ 622 Abs. 1 BGB) oder einen Monat (§ 622 Abs. 2 Nr. 1 BGB) zum Monatsende betrug.
66
C. Die Revision ist im Hinblick auf die Klageanträge zu 2. und zu 4. begründet. Das Landesarbeitsgericht hätte die Entscheidung des Arbeitsgerichts über den Beschäftigungsantrag für gegenstandslos erklären müssen. Den erstmals in der Berufungsinstanz gestellten Antrag auf Urlaubsgewährung hätte es nicht abweisen dürfen.
67
I. Das Landesarbeitsgericht hat übersehen, dass das Arbeitsgericht mit der Abweisung des auf Beschäftigung gerichteten Klageantrags zu 2. gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO verstoßen hat. Zudem hat es seinerseits unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO in der Sache über den Antrag auf Urlaubsgewährung entschieden. Dies hat der Senat auch ohne eine hierauf gestützte Verfahrensrüge der Parteien von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl. BAG 25. August 2015 – 1 AZR 754/13 – Rn. 18, BAGE 152, 240; 17. März 2015 – 1 ABR 49/13 – Rn. 8).
68
1. Nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist ein Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. Entsprechendes gilt, wenn das Gericht dem Kläger einen Anspruch aberkennt, den dieser nicht zur Entscheidung gestellt hat (st. Rspr., zuletzt BAG 25. August 2015 – 1 AZR 754/13 – Rn. 20, BAGE 152, 240; 15. April 2015 – 4 AZR 796/13 – Rn. 21 mwN, BAGE 151, 235; BGH 28. Mai 1998 – I ZR 275/95 – zu II 2 a der Gründe).
69
2. So liegt der Fall hier. Die Anträge auf Beschäftigung und Urlaubsgewährung sind nicht zur Entscheidung angefallen. Bei ihnen handelt es sich um uneigentliche Hilfsanträge für den Fall des Obsiegens mit einem der Feststellungsanträge. Diese innerprozessuale Bedingung ist nicht eingetreten.
70
II. Auf die Berufung der Klägerin hätte das Landesarbeitsgericht die Entscheidung des Arbeitsgerichts über den Beschäftigungsantrag, um eine sonst eintretende Rechtskraft zu verhindern, für gegenstandslos erklären müssen (vgl. BAG 25. August 2015 – 1 AZR 754/13 – Rn. 23, BAGE 152, 240). Zudem ist seine eigene klageabweisende Entscheidung über den Antrag auf Urlaubsgewährung gegenstandslos. Dies war im Entscheidungsausspruch aus Gründen der Klarstellung festzustellen (vgl. BAG 25. August 2015 – 1 AZR 754/13 – aaO; 7. August 2012 – 9 AZR 189/11 – Rn. 8).
71
D. Die Revision ist hinsichtlich des auf Vergütung wegen Annahmeverzugs von April 2018 bis Juni 2018 gerichteten Zahlungsantrags zu 3. begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte die Berufung des Klägers nicht mit der Begründung zurückweisen, etwaige Ansprüche stünden ihm bereits deshalb nicht zu, weil zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Das Berufungsurteil ist daher insoweit aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Vergütungsklage ist dem Grunde nach begründet. Der Senat kann jedoch auf Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht über die Höhe der Forderung entscheiden. Daher ist die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), das zu prüfen haben wird, in welcher Höhe Ansprüche bestehen.
72
I. Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs nach § 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB für die Zeit von April 2018 bis Juni 2018 wegen unterbliebener Zuweisung von Kontrollaufgaben.
73
1. Die Parteien verband im streitgegenständlichen Zeitraum ein Arbeitsverhältnis. Daraus stand dem Kläger ein Beschäftigungsanspruch in einem Umfang von 20 Wochenstunden zu. Der Umfang der Arbeitszeit lässt sich aus der praktischer Handhabung des Arbeitsverhältnisses ableiten.
74
a) Haben die Parteien einen Arbeitsvertrag ohne ausdrückliche Willenserklärungen zu seinem näheren Inhalt geschlossen, kann in Ermangelung anderer Anknüpfungspunkte für die Bestimmung der regelmäßigen vertraglichen Arbeitszeit auf das gelebte Rechtsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Parteiwillens abgestellt werden, auch wenn dem tatsächlichen Verhalten nicht notwendig ein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukommt (BAG 2. November 2016 – 10 AZR 419/15 – Rn. 11; 17. April 2013 – 10 AZR 272/12 – Rn. 34, BAGE 145, 26; 26. September 2012 – 10 AZR 336/11 – Rn. 14; 25. April 2007 – 5 AZR 504/06 – Rn. 12 ff.). Diese Referenzmethode ist auch dann anzuwenden, wenn erst nach § 611a Abs. 1 Satz 6 BGB aufgrund der tatsächlichen Durchführung des Vertragsverhältnisses festzustellen ist, dass es sich hierbei um ein Arbeitsverhältnis handelt. Der Referenzzeitraum für den zeitlichen Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung ist dabei so zu bemessen, dass zufällige Ergebnisse ausgeschlossen sind und der aktuelle Stand des Vertragsverhältnisses der Parteien wiedergegeben wird (BAG 2. November 2016 – 10 AZR 419/15 – Rn. 12).
75
b) Diesen Anforderungen wird die Berechnung des Klägers gerecht. Er stellt auf die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit während seiner gesamten Beschäftigungsdauer bei der Beklagten von rund 14 Monaten (4. Februar 2017 bis 10. April 2018) ab. Dieser Referenzzeitraum stellt sicher, dass auf Zufälligkeiten beruhende Ausschläge abgefedert werden und für das Arbeitsverhältnis nicht mehr relevante, in weiterer Vergangenheit liegende Faktoren nicht in die Bewertung einfließen. Einwendungen dagegen hat die Beklagte nicht erhoben. Nach den von Landesarbeitsgericht getroffenen und nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen betrug die Arbeitszeit des Klägers in dem Betrachtungszeitraum durchschnittlich 20 Stunden in der Woche. In einem Zeitraum von elf Monaten hat der Kläger 2.978 Aufträge erledigt und in Rechnung gestellt. Bei einer im Berufsleben häufig auftretenden Fünftagewoche entspräche dies etwa 12,5 Aufträgen pro Tag. Die regelmäßige Bearbeitung größerer Auftragspakete entsprach danach einer durchgehenden Vertragspraxis. Die nach den vorstehenden Grundsätzen für das Arbeitsverhältnis der Parteien maßgebliche Arbeitszeit belief sich somit auf 20 Wochenstunden.
76
2. Die Beklagte ist in Annahmeverzug geraten, nachdem sie die weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger mit E-Mail vom 10. April 2018 für beendet erklärt und die Übertragung weiterer Kontrollaufträge abgelehnt hatte (§§ 293, 294 ff. BGB).
77
a) Der Arbeitgeber kommt gemäß § 293 BGB in Verzug, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht annimmt. Im unstreitig bestehenden Arbeitsverhältnis muss der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung grundsätzlich tatsächlich anbieten, § 294 BGB. Ein wörtliches Angebot des Arbeitnehmers (§ 295 BGB) genügt, wenn der Arbeitgeber ihm zuvor erklärt hat, er werde die Leistung nicht annehmen oder er sei nicht verpflichtet, den Arbeitnehmer in einem die tatsächliche Heranziehung übersteigenden Umfang zu beschäftigen (BAG 18. September 2019 – 5 AZR 240/18 – Rn. 19, BAGE 168, 25; 25. Februar 2015 – 1 AZR 642/13 – Rn. 41, BAGE 151, 35). Lediglich für den Fall einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung geht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts davon aus, ein Angebot der Arbeitsleistung sei regelmäßig nach § 296 BGB entbehrlich (BAG 18. September 2019 – 5 AZR 240/18 – aaO; 15. Mai 2013 – 5 AZR 130/12 – Rn. 22). Zudem kann ein Angebot der Arbeitsleistung ausnahmsweise nicht erforderlich sein, wenn offenkundig ist, dass der Gläubiger auf seiner Weigerung, die geschuldete Leistung anzunehmen, beharrt (BAG 18. September 2019 – 5 AZR 240/18 – aaO mwN).
78
b) Ein tatsächliches Angebot iSv. § 294 BGB war im Streitfall gemäß § 295 BGB entbehrlich. Die Beklagte hat in ihrer E-Mail vom 10. April 2018 unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie den Kläger nicht mehr mit Kontrollaufgaben betraut und die Zusammenarbeit mit ihm vollständig einstellen möchte. Sie hat angekündigt, sein Benutzerkonto und damit die Plattform, über die die Kommunikation der Parteien abgewickelt wurde, zu deaktivieren. Der Kläger musste dies als Weigerung verstehen, ihn auch nur irgendwie zu beschäftigen.
79
II. Aufgrund der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen und des Parteivorbringens in den Tatsacheninstanzen lässt sich die Anspruchshöhe nicht bestimmen. Es liegt kein Rechtsgrund für die vom Kläger begehrte Vergütungszahlung nach Maßgabe seiner bisher als vermeintlich freier Mitarbeiter bezogenen Honorare vor. Dieser ergibt sich insbesondere nicht aus den getroffenen vertraglichen Vereinbarungen der Parteien. Ohne das Vorliegen besonderer Anhaltspunkte, an denen es im Streitfall fehlt, kann nicht angenommen werden, das zwischen den Parteien für das vermeintlich freie Dienstverhältnis vereinbarte Stundenhonorar sei auch in dem tatsächlich bestehenden Arbeitsverhältnis der Parteien als Bruttoarbeitsentgelt maßgeblich. Geschuldet ist vielmehr die übliche Vergütung iSv. § 612 Abs. 2 BGB.
80
1. Legen die Parteien ihrer Vergütungsvereinbarung eine unrichtige rechtliche Beurteilung darüber zugrunde, ob die Dienste abhängig oder selbständig erbracht werden, bedarf es der Auslegung, ob die Vergütung unabhängig von der rechtlichen Einordnung des bestehenden Vertrags geschuldet oder gerade an diese geknüpft ist. Maßgebend ist der erklärte Parteiwille, wie er nach den Umständen des konkreten Falls aus der Sicht des Erklärungsempfängers zum Ausdruck kommt (§§ 133, 157 BGB; BAG 26. Juni 2019 – 5 AZR 178/18 – Rn. 24, BAGE 167, 144).
81
2. Fehlt es an im Betrieb geltenden Vergütungsordnungen, kann eine für freie Mitarbeiter ausdrücklich getroffene Vergütungsvereinbarung nicht ohne Weiteres auch im Arbeitsverhältnis als maßgeblich angesehen werden. Andernfalls bliebe außer Acht, dass die Vergütung von Personen, die im Rahmen eines Dienstvertrags selbständige Tätigkeiten erbringen, typischerweise zugleich Risiken abdecken soll, die der freie Mitarbeiter anders als ein Arbeitnehmer selbst trägt. Das betrifft nicht nur Risiken, gegen die Arbeitnehmer durch die gesetzliche Sozialversicherung abgesichert sind. Freie Mitarbeiter müssen zudem in Rechnung stellen, dass sie von Gesetzes wegen gegen den Verlust des Vergütungsanspruchs bei Arbeitsausfällen deutlich weniger geschützt sind als Arbeitnehmer. So haben sie bspw. keinen Anspruch auf bezahlten Mindesturlaub, sofern nicht die Voraussetzungen des § 2 Satz 2 BUrlG vorliegen, Feiertagsvergütung sowie – außerhalb von § 616 BGB – auf Fortzahlung der Vergütung im Krankheitsfall und Vergütung in den Fällen des § 615 Satz 3 BGB. Außerdem finden auf freie Mitarbeiter eine Vielzahl von Arbeitnehmerschutzbestimmungen, etwa das Kündigungsschutzgesetz, keine Anwendung und kommen ihnen die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung mit den damit verbundenen Privilegierungen nicht zugute. Es kommt hinzu, dass bei freien Dienstverträgen die Vergütung meist – wie im Streitfall – als „Honorar“ oder ähnlich bezeichnet wird und der Vertrag häufig Regelungen über die Abführung der Umsatzsteuer enthält (BAG 26. Juni 2019 – 5 AZR 178/18 – Rn. 26 mwN, BAGE 167, 144).
82
3. Vor diesem Hintergrund muss dem Mitarbeiter regelmäßig klar sein, dass er die für ein freies Dienstverhältnis vereinbarte Vergütung nicht als Bruttoarbeitsentgelt beanspruchen kann, falls sich das Rechtsverhältnis in Wahrheit als Arbeitsverhältnis darstellt. Nur in Ausnahmefällen, für deren Eingreifen es besonderer, vom Arbeitnehmer darzulegender Anhaltspunkte bedarf, wird deshalb eine konstitutive, auf die Zahlung eines Honorars gerichtete Vergütungsvereinbarung für freie Mitarbeit dahin auszulegen sein, dass sie unabhängig von der Rechtsnatur des vereinbarten Rechtsverhältnis Gültigkeit haben soll. Fehlt es an solchen Umständen und lässt sich durch ergänzende Vertragsauslegung die Höhe der Vergütung nicht zweifelsfrei bestimmen, führt dies zur Anwendung von § 612 Abs. 2 BGB und damit zu einem Anspruch auf die übliche Vergütung (BAG 26. Juni 2019 – 5 AZR 178/18 – Rn. 27 mwN, BAGE 167, 144).
83
4. Die Darlegungs- und Beweislast für die Üblichkeit der geltend gemachten Vergütung für vergleichbare Tätigkeiten am gleichen Ort trägt der Arbeitnehmer (vgl. BAG 29. Januar 1986 – 4 AZR 465/84 – zu 13 der Gründe, BAGE 51, 59).
84
5. Nachdem weder das Landesarbeitsgericht noch die Parteien bislang diesen Gesichtspunkt in den Blick genommen haben, gebieten der Anspruch auf rechtliches Gehör und der Grundsatz der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (dazu BAG 7. Februar 2019 – 6 AZR 84/18 – Rn. 30; 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 20, BAGE 160, 57), den Parteien und hierbei zunächst dem darlegungs- und beweisbelasteten Kläger im Rahmen des fortgesetzten Berufungsverfahrens Gelegenheit zu geben, zur üblichen Vergütung weiteren Sachvortrag zu halten.
85
E. Sämtliche Hilfsanträge fallen nicht zur Entscheidung an. Sie sind nur für den Fall gestellt, dass das Rechtsverhältnis der Parteien nicht als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist und die maßgeblichen Hauptanträge deshalb abgewiesen
werden. Die Hilfsanträge können nur positiv beschieden werden, wenn der Zusammenarbeit der Parteien ein freies Mitarbeiterverhältnis zugrunde lag, was vorliegend nicht der Fall war.
Kiel
Weber
Zimmermann
Vogg
Stietzel |
bag_44-19 | 10.12.2019 | 10.12.2019
44/19 - Betriebsrentenanpassungsprüfung - Ausschluss bei Pensionskassenrente mit Überschussbeteiligung
Im vorliegenden Verfahren ging es um die Frage, welche Vorgaben nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 Betriebsrentengesetz (BetrAVG)* erfüllt sein müssen, damit der Arbeitgeber von der Verpflichtung zu prüfen, ob Betriebsrenten nach § 16 Abs. 1 BetrAVG zu erhöhen sind, befreit ist.
Die Klägerin stand seit April 1983 in einem Arbeitsverhältnis zur Beklagten. Im November 1983 erteilte die Beklagte eine Versorgungszusage, die über den Bankenversicherungsverein (BVV), eine Pensionskasse, durchgeführt wurde. Die Klägerin bezieht seit Oktober 2011 vom BVV eine Betriebsrente iHv. 920,07 Euro brutto monatlich. Mit ihrer am 12. Februar 2016 eingegangenen Klage hat sie deren Anpassung zum 1. Oktober 2014 begehrt. Die Beklagte hat eine Anpassung unter Hinweis auf § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG wegen der Absicherung über den BVV abgelehnt.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts war teilweise erfolglos, weil die Klägerin ihre Forderung falsch berechnet hatte. Im Übrigen führte die Revision zur Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht.
Das Betriebsrentengesetz sieht in § 16 Abs. 3 Nr. 2 vor, dass die grundsätzliche Pflicht des Arbeitgebers, im Abstand von drei Jahren zu prüfen, ob die Betriebsrente anzupassen ist, entfällt, wenn die Versorgung über eine Pensionskasse durchgeführt wird und ab Rentenbeginn sämtliche auf den Rentenbestand entfallenden Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden. Die in dieser Ausnahmevorschrift genannten Voraussetzungen müssen aufgrund einer unabdingbaren vertraglichen Regelung bei Beginn der Betriebsrentenleistung rechtlich feststehen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, da es sich bei der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Pensionskasse um einen Vertrag zugunsten Dritter handelt, der nicht ohne Zustimmung der Betriebsrentner geändert werden darf.
Des Weiteren muss bei Eintritt des Versorgungsfalls durch die vertraglichen Regelungen sichergestellt sein, dass die Überschussanteile – falls solche anfallen – weder dem Arbeitgeber noch der Pensionskasse zustehen. Ob die Überschussanteile jeweils entsprechend den versicherungsrechtlichen Vorgaben angemessen und auch sonst richtig berechnet sind, betrifft nicht die Anwendung der betriebsrentenrechtlichen Ausnahmebestimmung, sondern das Verhältnis zwischen Betriebsrentner und Pensionskasse. Zudem muss bei Eintritt des Versorgungsfalls sichergestellt sein, dass die für die Überschussbeteiligung notwendige Abgrenzung der Versicherungsbestände verursachungsorientiert im Sinne des Versicherungsrechts erfolgt und auch bleibt. Änderungsklauseln in Versorgungsverträgen stehen den vorgenannten Erfordernissen nicht entgegen, da sie strukturelle Veränderungen nicht decken. Dazu gehören auch Neuabgrenzungen des Versicherungsbestandes, die dem Gesichtspunkt der Verursachungsorientierung nicht hinreichend gerecht werden.
Ferner muss bei Rentenbeginn gewährleistet sein, dass die Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden. Hierfür ist erforderlich, dass dauernde und ggf. vorübergehende Rentenerhöhungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Der Anteil der nur befristeten Erhöhung der Betriebsrente darf nicht unangemessen hoch sein; diese Grenze ist bei einem Anteil von 25 vH eingehalten. Die den Betriebsrentnern aus den Überschussanteilen gewährten Leistungen müssen zudem betriebliche Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes darstellen; Sterbegeld gehört nicht dazu.
Aufgrund der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts steht noch nicht fest, ob die vorgenannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Im Rechtsstreit wurde auch die Vereinbarkeit der zu § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG erlassenen Übergangsregelung in § 30c Abs. 1a BetrAVG** mit Verfassungs- und Unionsrecht problematisiert. Dazu musste der Senat beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens keine Stellung nehmen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Dezember 2019 – 3 AZR 122/18 –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 17. Januar 2018 – 6 Sa 183/17 –
*§ 16 Betriebsrentengesetz lautet auszugsweise:
„§ 16 Anpassungsprüfungspflicht
(1) Der Arbeitgeber hat alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden; dabei sind insbesondere die Belange des Versorgungsempfängers und die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen.
(2) …
(3) Die Verpflichtung nach Absatz 1 entfällt, wenn
1. …
2. die betriebliche Altersversorgung über eine Direktversicherung im Sinne des § 1b Abs. 2 oder über eine Pensionskasse im Sinne des § 1b Abs. 3 durchgeführt wird und ab Rentenbeginn sämtliche auf den Rentenbestand entfallende Überschußanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden oder
3. …
(4) – (6)“
**§ 30c Abs. 1a Betriebsrentengesetz lautet:
„(1a) § 16 Absatz 3 Nummer 2 gilt auch für Anpassungszeiträume, die vor dem 1. Januar 2016 liegen; in diesen Zeiträumen bereits erfolgte Anpassungen oder unterbliebene Anpassungen, gegen die der Versorgungsberechtigte vor dem 1. Januar 2016 Klage erhoben hat, bleiben unberührt.“ | Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 17. Januar 2018 – 6 Sa 183/17 – aufgehoben, soweit die Berufung zurückgewiesen wurde hinsichtlich einer Abweisung einer Klage auf bis November 2016 rückständige Betriebsrente iHv. 570,96 Euro brutto nebst fünf vH Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtskraft der Entscheidung im vorliegenden Verfahren, auf monatliche Zahlung ab dem Monat Dezember 2016 iHv. 21,96 Euro brutto weiterer Betriebsrente über die vom BVV Versicherungsverein des Bankgewerbes a.G. gezahlten 920,07 Euro brutto monatlich hinaus sowie auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, auch zukünftig zu den Anpassungsstichtagen gemäß § 16 BetrAVG alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ausgehend von einer Ausgangsrente iHv. 613,38 Euro brutto zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden. Insoweit wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. Die Voraussetzungen, unter denen nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG die Anpassungsprüfungspflicht des Arbeitgebers für Betriebsrenten entfällt, müssen rechtlich feststehen, wenn der Versorgungsfall eintritt. Rechtliche Basis können eine vertragliche Vereinbarung oder gesetzliche Ansprüche sein.
2. Die vertragliche Vereinbarung kann auch zwischen dem Arbeitgeber und der Pensionskasse geschlossen sein. Derartige Vereinbarungen stellen einen Vertrag zugunsten des Versorgungsberechtigten dar. Er kann nicht ohne Zustimmung des Versorgungsberechtigten geändert werden.
3. Enthalten zwischen dem Arbeitgeber und einer Pensionskasse vereinbarte Versorgungsregelungen Änderungsvorbehalte, so erlauben sie keine strukturelle Veränderung der maßgeblichen Bestimmungen. Dies gilt auch dann, wenn als Voraussetzung für die Änderung vorgesehen ist, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht dieser zugestimmt hat.
4. Betriebsrentner sind berechtigt, die im Versicherungsaufsichtsrecht niedergelegten gesetzlichen Vorgaben für die Überschussberechnung unmittelbar gegenüber der Pensionskasse durchzusetzen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, die Betriebsrente der Klägerin anzupassen. Die Klägerin begehrt eine Betriebsrentenerhöhung zum 1. Oktober 2014 sowie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle drei Jahre zu prüfen, ob die laufenden Betriebsrentenleistungen der Klägerin anzupassen sind.
2
Die Klägerin schloss im Februar 1983 mit der P GmbH einen Arbeitsvertrag, der auszugsweise wie folgt lautet:
„8.
Als Mitglied des Beamtenversicherungsvereins des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes (a. G.) B.V.V. – einer privaten Pensionskasse – sind wir verpflichtet, Sie während der Zugehörigkeit zu unserem Institut dort zu versichern. Wir tragen den Arbeitgeberanteil (zur Zeit zwei Drittel), während der Arbeitnehmeranteil (zur Zeit ein Drittel) zu Ihren Lasten geht. Näheres bitten wir der anliegenden Satzung sowie den Versicherungsbedingungen zu entnehmen und den beigefügten Aufnahmeantrag bei Diensteintritt ausgefüllt mitzubringen.“
3
Die Beklagte, damals firmierend unter P Deutschland GmbH, schloss mit der Klägerin im Dezember 2000 einen Arbeitsvertrag mit auszugsweise folgendem Inhalt:
„4.
Ihre Vordienstzeit bei der P F GmbH seit dem 01.04.1983 wird auf das Anstellungsverhältnis zwischen Ihnen und der P DEUTSCHLAND GmbH angerechnet, so daß für arbeitsrechtliche und pensionsrechtliche Anwartschaften, etc. als Ihr Einstellungsdatum bei der P DEUTSCHLAND GmbH der 01.04.1983 gilt.
…
8.
Wie bei Ihrer früheren Arbeitgeberin, der P F GmbH, werden Sie auch zukünftig bei dem Beamtenversicherungsverein des Deutschen Bank- und Bankiersgewerbes (a.G.) B.V.V. – einer privaten Pensionskasse – während Ihrer Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft versichert. Wir tragen den Arbeitgeberanteil (zur Zeit zwei Drittel), während der Arbeitnehmeranteil (zur Zeit ein Drittel) zu Ihren Lasten geht. Ihre bisher erworbenen Rechte bei der B.V.V. aufgrund Ihrer Tätigkeit bei der P F GmbH bleiben Ihnen erhalten. Die Satzung des B.V.V. sowie die Versicherungsbedingungen die unverändert fortgelten sind Ihnen aus der Vordienstzeit bei der P F GmbH bekannt.“
4
Zum 1. Oktober 2011 trat die Klägerin in den Ruhestand und bezieht seit dem eine Betriebsrente des BVV Versicherungsvereins des Bankgewerbes a.G. (im Folgenden BVV) iHv. insgesamt 920,07 Euro brutto monatlich. Der BVV ist ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit und eine regulierte Pensionskasse iSd. Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) unter der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (im Folgenden BaFin). Seine Satzung (im Folgenden BVV-Satzung) lautet auszugsweise:
„§ 3
1)
Der BVV nimmt von Unternehmen … Anträge auf Versicherung ihrer Angestellten entgegen. Mit dem Abschluss des Versicherungsvertrages erwerben sowohl die vertragsschließenden Unternehmen (nachfolgend ‚Mitgliedsunternehmen‘ genannt) als auch ihre beim BVV versicherten Angestellten (nachfolgend ‚Mitgliedsangestellte‘ genannt) die Mitgliedschaft.
…
§ 19
1)
In der Mitgliederversammlung hat jeder Mitgliedsangestellte eine Stimme, jedes Mitgliedsunternehmen so viele Stimmen, wie es Angestellte beim BVV versichert hat.
…
§ 20
1)
Den Vorsitz in den Mitgliederversammlungen führt der Vorsitzende des Aufsichtsrats, einer seiner Stellvertreter oder ein anderes vom Aufsichtsrat zu bestimmendes Aufsichtsratsmitglied.
…
6)
Folgende Bestimmungen können mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde auch mit Wirkung für die bestehenden Versicherungsverhältnisse geändert werden:
–
§§ 2, 4, 22 bis 25, 27 und 28 der Satzung,
–
§§ 1, 3 bis 5, 8 bis 16, 18, 20 bis 22, 24 bis 30 und 34 der Versicherungsbedingungen der Tarife DA, B, RA, § 36 Tarif DA, § 35 Tarife B, RA,
…
§ 24
1)
Aus dem Überschuss des Geschäftsjahres sind jeweils mindestens 2,5 Prozent der Verlustrücklage zuzuführen, bis sie mindestens 2,5 Prozent der Deckungsrückstellung erreicht.
2)
Der weitere Überschuss ist der Rückstellung für Beitragsrückerstattung zuzuführen und zu Gunsten der Versicherten und Rentner nach Maßgabe der jeweiligen Versicherungsbedingungen und des genehmigten Technischen Geschäftsplans zu verwenden.
3)
Abweichend von Absatz 2 können bei Übernahme von Versorgungszusagen durch einen PF die Überschüsse aus den Rückdeckungsversicherungen auch zur direkten Rückführung an den PF bzw. die VK oder zur Verrechnung mit den Beiträgen des PF bzw. der VK verwendet werden.
4)
Die Versicherten werden an den Bewertungsreserven nach Maßgabe der jeweiligen Versicherungsbedingungen und des genehmigten Technischen Geschäftsplans beteiligt.
§ 24a
1)
Zur Erfüllung der Solvabilitätsvorschriften kann ein verzinslicher Gründungsstock eingerichtet werden. Eine Berechtigung zur Teilnahme an der Vereinsverwaltung ist den Personen, die ihn zur Verfügung stellen, allein aufgrund dieser Funktion nicht erlaubt; die sonstigen satzungsmäßigen Rechte dieser Personen bleiben unberührt.
2)
Die Tilgung erfolgt aus den Überschüssen des Geschäftsjahres in dem Maße, wie die Verlustrücklage angewachsen ist; jedoch maximal in der Höhe, wie nach der Tilgung noch die Solvabilitätsvorschriften erfüllt werden.
§ 25
1)
Zur Deckung eines im Geschäftsjahr entstandenen Fehlbetrages wird die Verlustrücklage verwendet.
2)
Soweit diese nicht zur Deckung ausreicht, kann mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde die Rückstellung für Beitragsrückerstattung in Anspruch genommen werden, soweit sie nicht auf bereits festgelegte Überschussanteile und den Schlussüberschussanteilfonds entfällt.
3)
Soweit die nach Absatz 2 herangezogenen Mittel nicht zur Deckung ausreichen, können mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde der Schlussüberschussanteilfonds in Anspruch genommen und die Leistungen aus dem Schlussüberschuss entsprechend herabgesetzt werden.
4)
Sollten auch die nach Absatz 3 herangezogenen Mittel zur Deckung des Fehlbetrages nicht ausreichen, hat die Mitgliederversammlung eine Erhöhung der Beiträge oder eine Herabsetzung der Leistungen oder eine Verbindung beider Maßnahmen zu beschließen. Die Herabsetzung der Leistungen kann sich auch auf schon bewilligte Leistungen erstrecken, soweit diese nicht vor dem Inkrafttreten der Beschlüsse fällig geworden sind. Nachschüsse der Mitglieder sind ausgeschlossen.“
5
Der BVV hat für die bei ihm vorhandenen Versicherungstarife Abrechnungsverbände gebildet. Die Bildung dieser Abrechnungsverbände ist in dem von der BaFin genehmigten technischen Geschäftsplan des BVV wie folgt geregelt:
„Es werden getrennte Abrechnungsverbände (AV) für den Alttarif, den Neutarif 1998 (Rechnungszins 4 %), den Neutarif 2005 (Rechnungszins 2,75 %), den Neutarif 2007 (Rechnungszins 2,25 %), den Neutarif 2012 (Rechnungszins 1,75 %), die Zusatzversicherungen 2002 (Rechnungszins 3,25 %), die Zusatzversicherungen 2004 (Rechnungszins 2,75 %), die Zusatzversicherungen 2007 (Rechnungszins 2,25 %) und die Zusatzversicherungen 2012 (Rechnungszins 1,75 %) gebildet.“
6
Nach Maßgabe dieses technischen Geschäftsplans gehören zum Abrechnungsverband „Alttarif“:
„AV Alttarif (Tarife DA, B, RA; Rechnungszins 4 %; geschlossen für Neuzugänge ab 01.01.2005, ARLEP/oG-V: Verträge, die vor dem 01.01.2012 aus auszugleichenden Verträgen im Alttarif entstanden sind).“
7
Innerhalb des Abrechnungsverbandes „Alttarif“ erfolgt nach Maßgabe des technischen Geschäftsplans eine weitere Unterteilung in Gewinnverbände wie folgt:
„Innerhalb des Abrechnungsverbandes Alttarif werden getrennte Gewinnverbände ‚Stammrentenbausteine bis 2004‘ (GV AT 2004) und ‚Stammrentenbausteine ab 2005‘ (GV AT 2005) […] gebildet.“
8
Die Klägerin gehörte bis zum 31. Dezember 2001 dem Tarif B (Alttarif) und ab dem 1. Januar 2002 dem Tarif DA (Alttarif) an.
9
In den Versicherungsbedingungen des BVV für den Tarif B ist die Überschussverwendung wie folgt geregelt:
„Überschussverwendung
§ 34
1) Die Versicherungen nach Tarif B gehören zum Abrechnungsverband ‚Alttarife‘. Innerhalb dieses Abrechnungsverbandes können Gewinnverbände gebildet werden.
Der Überschuss wird zu Leistungserhöhungen für Direktgutschriften, in Form eines befristeten Sonderzuschlages – nur für bis zum 31. Dezember 2004 erworbene Stammrentenansprüche -, eines laufenden Anpassungszuschlages sowie eines Schlussüberschussanteils verwendet.
Die Überschusszuteilung erfolgt entsprechend den Festlegungen im genehmigten Technischen Geschäftsplan.
2) Zunächst wird im Wege der Direktgutschrift das im Geschäftsjahr auszuzahlende Sterbegeld für Versicherungszeiten im Tarif RA bzw. DA auf den Betrag aufgestockt, der sich ergeben hätte, wenn auch im Tarif RA bzw. DA ein Sterbegeld wie im ehemaligen Tarif A versichert wäre.
3) Zudem werden im Wege der Direktgutschrift für Versicherungszeiten im Tarif DA Waisenrenten nach Vollendung des 18. bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Kindes auf den Betrag aufgestockt, der bei Nachweis einer Ausbildung nach Tarif DA zu zahlen wäre.
4) Ein für alle bis zum 31. Dezember 2004 erworbenen Anwartschaften und Renten zur Verfügung stehender Überschuss gemäß § 24 der Satzung des BVV wird wie folgt verwendet:
Stufe 1: Zunächst werden alle Anwartschaften und Renten um einen laufenden Anpassungszuschlag (AZ) bis zu einer Höhe von 0,5 Prozent erhöht.
Stufe 2: Ein verbleibender Überschuss wird bis zu einer Höhe, die 0,5 Prozent der Deckungsrückstellung entspricht, für die Zahlung eines befristeten Sonderzuschlags (SZ) verwendet. Der Sonderzuschlag darf insgesamt maximal 25 Prozent der Stammrente betragen.
Stufe 3: Ein darüber hinaus zur Verfügung stehender Überschuss wird zur Erhöhung aller Anwartschaften und Renten in Form eines laufenden Anpassungszuschlages verwendet.
Die Bestimmung über die Stufe 1 tritt am 1. Januar 2010 in Kraft. Für die Geschäftsjahre 2006 bis 2009 gilt anstelle der Stufe 1 folgende Übergangsregelung:
Ein Überschuss, der bis zu 0,5 Prozent der Deckungsrückstellung entspricht, wird wie folgt verwendet:
Geschäftsjahr
Verwendungsjahr
AZ
SZ
2006
2008
vorrangig bis zu 0,1 %
im Übrigen bis zu 20%
2007
2009
vorrangig bis zu 0,2 %
im Übrigen bis zu 15%
2008
2010
vorrangig bis zu 0,3 %
im Übrigen bis zu 10%
2009
2011
vorrangig bis zu 0,4 %
im Übrigen bis zu 5%
5)
Ein für alle ab dem 1. Januar 2005 erworbenen Anwartschaften und daraus entstandenen Renten zur Verfügung stehender Überschuss gemäß § 24 der Satzung des BVV wird zur Erhöhung dieser Anwartschaften und Renten in Form eines laufenden Anpassungszuschlages verwendet.
6)
Der Schlussüberschussanteil dient der Erhöhung der laufenden Überschussbeteiligung (Anpassungszuschlag) im Rentenbezug. Schlussüberschussanteile erhalten alle Versicherten und Rentner.
Der Schlussüberschussanteil wird erstmals zusammen mit dem ersten Anpassungszuschlag in der Rentenphase gezahlt. Er bewirkt nach Übergang in die Rentenphase eine dauerhafte Erhöhung der Renten.
Die weitere Beteiligung der Rentner am Schlussüberschussanteil erfolgt ebenfalls in Form eines Anpassungszuschlages. Diese Leistung kann bei Vorliegen der in § 25 Abs. 3 der Satzung genannten Voraussetzungen gekürzt werden.
7)
Die Versicherten werden an den Bewertungsreserven nach Maßgabe des genehmigten Technischen Geschäftsplans beteiligt. Danach erfolgt eine Beteiligung an den anrechenbaren saldierten Bewertungsreserven, soweit die gesetzlichen Solvabilitätsanforderungen, die aufsichtsrechtlichen Stresstests einschließlich einer ausreichenden Sicherheitsreserve sowie eine absehbare Verstärkung der Deckungsrückstellung erfüllt sind.
Die Beteiligung an den Bewertungsreserven wird zur Leistungserhöhung in Form eines Anpassungszuschlages verwendet.“
10
Die Versicherungsbedingungen für Tarif DA enthalten hinsichtlich der Überschussverwendung folgende Regelung:
„Überschussverwendung
§ 34
1)
Die Versicherungen nach Tarif DA gehören zum Abrechnungsverband ‚Alttarife‘. Innerhalb dieses Abrechnungsverbandes können Gewinnverbände gebildet werden.
Der Überschuss gemäß § 24 der Satzung des BVV wird zu Leistungserhöhungen in Form eines befristeten Sonderzuschlages – nur für bis zum 31. Dezember 2004 erworbene Stammrentenansprüche -, eines laufenden Anpassungszuschlages sowie eines Schlussüberschussanteils verwendet.
Die Überschusszuteilung erfolgt entsprechend den Festlegungen im genehmigten Technischen Geschäftsplan.
2)
Ein für alle bis zum 31. Dezember 2004 erworbenen Anwartschaften und Renten zur Verfügung stehender Überschuss wird wie folgt verwendet:
Stufe 1: Zunächst werden alle Anwartschaften und Renten um einen laufenden Anpassungszuschlag (AZ) bis zu einer Höhe von 0,5 Prozent erhöht.
Stufe 2: Ein verbleibender Überschuss wird bis zu einer Höhe, die 0,5 Prozent der Deckungsrückstellung entspricht, für die Zahlung eines befristeten Sonderzuschlags (SZ) verwendet. Der Sonderzuschlag darf insgesamt maximal 25 Prozent der Stammrente betragen.
Stufe 3: Ein darüber hinaus zur Verfügung stehender Überschuss wird zur Erhöhung aller Anwartschaften und Renten in Form eines laufenden Anpassungszuschlages verwendet.
Die Bestimmung über die Stufe 1 tritt am 1. Januar 2010 in Kraft. Für die Geschäftsjahre 2006 bis 2009 gilt anstelle der Stufe 1 folgende Übergangsregelung:
Ein Überschuss, der bis zu 0,5 Prozent der Deckungsrückstellung entspricht, wird wie folgt verwendet:
Geschäftsjahr
Verwendungsjahr
AZ
SZ
2006
2008
vorrangig bis zu 0,1 %
im Übrigen bis zu 20 %
2007
2009
vorrangig bis zu 0,2 %
im Übrigen bis zu 15 %
2008
2010
vorrangig bis zu 0,3 %
im Übrigen bis zu 10 %
2009
2011
vorrangig bis zu 0,4 %
im Übrigen bis zu 5 %
3)
Ein für alle ab dem 1. Januar 2005 erworbenen Anwartschaften und daraus entstandenen Renten zur Verfügung stehender Überschuss wird zur Erhöhung dieser Anwartschaften und Renten in Form eines laufenden Anpassungszuschlages verwendet.
4)
Der Schlussüberschussanteil dient der Erhöhung der laufenden Überschussbeteiligung (Anpassungszuschlag) im Rentenbezug. Schlussüberschussanteile erhalten alle Versicherten und Rentner.
Der Schlussüberschussanteil wird erstmals zusammen mit dem ersten Anpassungszuschlag in der Rentenphase gezahlt. Er bewirkt nach Übergang in die Rentenphase eine dauerhafte Erhöhung der Renten.
Die weitere Beteiligung der Rentner am Schlussüberschussanteil erfolgt ebenfalls in Form eines Anpassungszuschlages. Diese Leistung kann bei Vorliegen der in § 25 Abs. 3 der Satzung genannten Voraussetzungen gekürzt werden.
5)
Die Versicherten werden an den Bewertungsreserven nach Maßgabe des genehmigten Technischen Geschäftsplans beteiligt. Danach erfolgt eine Beteiligung an den anrechenbaren saldierten Bewertungsreserven, soweit die gesetzlichen Solvabilitätsanforderungen, die aufsichtsrechtlichen Stresstests einschließlich einer ausreichenden Sicherheitsreserve sowie eine absehbare Verstärkung der Deckungsrückstellung erfüllt sind.
Die Beteiligung an den Bewertungsreserven wird zur Leistungserhöhung in Form eines Anpassungszuschlages verwendet.“
11
Der BVV legte in den Jahren 2013, 2014 und 2015 für den Abrechnungsverband Alttarife zum 1. Januar 2015, zum 1. Januar 2016 und zum 1. Januar 2017 jeweils einen Anpassungszuschlag iHv. null sowie für den Gewinnverband Stammrentenbausteine ab 2005 einen Sonderzuschlag iHv. ebenfalls null fest.
12
Eine mit der Klägerin vergleichbare Arbeitnehmerin der Beklagten hätte im Januar 2011 ein monatliches Bruttogehalt iHv. 5.286,00 Euro erhalten. Die monatliche Bruttovergütung der Mitarbeiter der Beklagten wurde – ohne Differenzierung nach Arbeitnehmergruppen – danach zum April 2012 um 1 vH bis zu einer Gehaltsobergrenze von 3.500,00 Euro, maximal 35,00 Euro, zum März 2013 um 1,8 vH bis zu einer Gehaltsobergrenze von 3.500,00 Euro, maximal 63,00 Euro und zum März 2014 um 1 vH, mindestens aber 45,00 Euro, maximal 70,00 Euro, erhöht.
13
Mit ihrer am 12. Februar 2016 eingereichten Klage hat die Klägerin die Anpassung der ihr monatlich gezahlten Betriebsrente iHv. 920,07 Euro brutto geltend gemacht. Dabei hat sie die Entwicklung des Verbraucherpreisindexes vom 1. Oktober 2011 bis zum 1. Oktober 2014 um 4,1 vH zugrunde gelegt und entsprechend eine Erhöhung um 37,72 Euro auf 957,79 Euro brutto verlangt. Sie hat die Ansicht vertreten, diese Verpflichtung der Beklagten beruhe auf § 16 Abs. 1 BetrAVG. Ein Ausschluss der Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sei nicht gegeben. Das scheitere schon daran, dass das insoweit maßgebliche Übergangsrecht in § 30c Abs. 1a BetrAVG gegen höherrangiges Recht verstoße und damit die Bestimmung in ihrer derzeitigen Fassung nicht anwendbar sei. Unabhängig davon fordere die Anwendung der Ausnahmeregelung auch eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Arbeitsvertragsparteien, die den Ausschluss verbindlich festlegt. Zudem gelte die Regelung ohnehin nur, wenn Überschüsse entstünden. Ferner habe der BVV Überschüsse unzulässig verwendet, indem er sie in die Verlustrückstellung eingestellt habe. Die Abgrenzung der Gewinnverbände zum 31. Dezember 2004 sei willkürlich. Die Aufteilung der Überschüsse auf laufende Anteile und den Schlussüberschussanteil führe zu einer unzulässigen Zurückhaltung von Überschussanteilen. Insgesamt verstoße die Überschussverwendung durch den BVV gegen § 194 VAG. Die Klägerin hat weiter behauptet, es hätten unzulässige Direktgutschriften für Heilverfahren aus den Überschussanteilen stattgefunden.
14
Die Klägerin hat beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 980,72 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus je 37,72 Euro seit dem 1. Oktober 2014, 1. November 2014, 1. Dezember 2014, 1. Januar 2015, 1. Februar 2015, 1. März 2015, 1. April 2015, 1. Mai 2015, 1. Juni 2015, 1. Juli 2015, 1. August 2015, 1. September 2015, 1. Oktober 2015, 1. November 2015, 1. Dezember 2015, 1. Januar 2016, 1. Februar 2016, 1. März 2016, 1. April 2016, 1. Mai 2016, 1. Juni 2016, 1. Juli 2016, 1. August 2016, 1. September 2016, 1. Oktober 2016, 1. November 2016 zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem Monat Dezember 2016 eine Betriebsrente iHv. 957,79 Euro brutto unter Berücksichtigung der Zahlung des BVV Versicherungsverein des Bankgewerbes a. G. iHv. von derzeit 920,07 Euro brutto fortlaufend monatlich vorschüssig zu zahlen;
3.
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, auch zukünftig zu den Anpassungsstichtagen gemäß § 16 BetrAVG alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden.
15
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
16
Sie hat die Ansicht vertreten, § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sei in der derzeit geltenden Fassung anzuwenden. Die Übergangsbestimmung in § 30c Abs. 1a BetrAVG verstoße nicht gegen höherrangiges Recht. Die Voraussetzungen von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG lägen vor. Unabhängig davon ergebe sich aus der nettolohnbezogenen Obergrenze in § 16 Abs. 2 Nr. 2 BetrAVG allenfalls eine Steigerung um 3,58 vH.
17
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
18
Die Revision der Klägerin hat nur zum Teil Erfolg und führt insoweit zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.
19
A. Prozessuale Gründe stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen.
20
I. Die Revision ist zulässig.
21
1. Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO gehört zum notwendigen Inhalt der Revisionsbegründung die Angabe der Revisionsgründe (dazu und zum Folgenden BAG 31. Juli 2018 – 3 AZR 386/17 -). Bei einer Sachrüge sind nach § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a ZPO die Umstände zu bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergeben soll. Dabei muss die Revisionsbegründung den Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des revisionsrechtlichen Angriffs erkennbar sind. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der angefochtenen Entscheidung. Dadurch soll sichergestellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte des Revisionsklägers das angefochtene Urteil im Hinblick auf das Rechtsmittel überprüft und mit Blickrichtung auf die Rechtslage genau durchdenkt (BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 550/16 – Rn. 9 mwN). Außerdem soll die Revisionsbegründung durch ihre Kritik des angefochtenen Urteils zur richtigen Rechtsfindung durch das Revisionsgericht beitragen. Dazu hat der Revisionsführer darzulegen, aus welchen Gründen er die Begründung des Berufungsgerichts für unrichtig hält. Die bloße Wiedergabe oder der Verweis auf das bisherige Vorbringen genügen hierfür nicht (BAG 23. Januar 2018 – 1 AZR 550/16 – Rn. 9 mwN). Hat das Berufungsgericht seine Entscheidung auf zwei voneinander unabhängige, selbstständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss die Revisionsbegründung beide Erwägungen angreifen. Andernfalls ist das Rechtsmittel insgesamt unzulässig (BAG 22. Juli 2014 – 9 AZR 449/12 – Rn. 10 mwN). Jedoch kann vom Revisionskläger nicht mehr an Begründung verlangt werden, als vom Gericht in diesem Punkt selbst aufgewendet worden ist (vgl. BAG 28. Mai 2009 – 2 AZR 223/08 – Rn. 18; sowie insbes. 16. März 2004 – 9 AZR 323/03 – zu A II 1 der Gründe, BAGE 110, 45).
22
2. Danach ist die Revision ausreichend begründet.
23
a) Das Landesarbeitsgericht hat die aktuelle Fassung von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG wegen § 30c Abs. 1a BetrAVG, eingefügt durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz vom 17. August 2017 mit Wirkung vom 24. August 2017 (BGBl. I S. 3214, veröffentlicht am 23. August 2017, Art. 1 Nr. 15, Art. 17 Abs. 2), für anwendbar gehalten. Es hat weiter ausgeführt, über die Verwendung der Überschussanteile entsprechend den in § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG genannten Voraussetzungen müsse nicht zwingend zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine arbeitsvertragliche Vereinbarung getroffen werden. Bei Versorgungen über eine Pensionskasse ergebe sich die Zusage aus der Satzung und den Versicherungsbedingungen der Pensionskasse. Eine entsprechende Festlegung dort reiche aus. Es hat dann angenommen, die Voraussetzungen der Regelung seien erfüllt. Die satzungsmäßigen Vorschriften über die Verlustrückstellung entsprächen den gesetzlichen Anforderungen im Versicherungsaufsichtsrecht. Anhaltspunkte dafür, dass ein Gründungsstock zur Einhaltung der Solvabilitätsvorschriften mit Überschussanteilen zurückgeführt oder aus der Rückstellung für Beitragsrückerstattungen ein Fehlbetrag gedeckt worden sei, ergäben sich nicht. Es sei nicht zu beanstanden, wenn Abrechnungsverbände gebildet würden. Im Abrechnungsverband, dem die Klägerin zuzuordnen sei, habe es in den Jahren 2013 bis 2015 keine Überschussanteile gegeben. Der Feststellungsantrag sei unbegründet, da nicht absehbar sei, dass sich künftig etwas an der Überschussverwendung ändere.
24
b) Mit diesen Ausführungen setzt sich die Revisionsbegründung der Klägerin hinreichend auseinander. Die Klägerin wendet sich mit umfassender Begründung dagegen, dass das Landesarbeitsgericht eine Regelung der Überschussverwendung durch Bezugnahme auf die Satzung und die Versicherungsbedingungen hat ausreichen lassen und rügt insbesondere, dass diese Regelung dann auch ohne Zustimmung des Arbeitnehmers ohne Weiteres geändert werden könne. Es fehle daher an einer echten Verpflichtung, eine solche sei nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG jedoch erforderlich. Träfe diese Rüge zu, wäre sie geeignet, die angefochtene Entscheidung insgesamt in Frage zu stellen.
25
II. Die Revision ist nicht bereits deswegen unbegründet, weil die Berufung unzulässig war. Diese ist – entgegen der von der Beklagten im Berufungsverfahren geäußerten Ansicht – ausreichend begründet.
26
1. Die Zulässigkeit der Berufung ist eine auch noch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende Prozessfortsetzungsbedingung (BAG 23. Februar 2016 – 3 AZR 230/14 – Rn. 9; vgl. auch BAG 15. März 2011 – 9 AZR 813/09 – Rn. 9; dazu und zum Folgenden auch BAG 14. März 2017 – 9 AZR 54/16 – Rn. 8 ff.). Fehlt es an einer ordnungsgemäßen Begründung der Berufung iSd. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO oder ist die Berufung aus anderen Gründen unzulässig, hat das Revisionsgericht die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Berufung als unzulässig verworfen wird. Dass das Berufungsgericht das Rechtsmittel für zulässig gehalten hat, ist ohne Bedeutung (vgl. BAG 23. Februar 2016 – 3 AZR 230/14 – Rn. 9; 15. März 2011 – 9 AZR 813/09 – Rn. 9).
27
Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergibt. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die zivilprozessuale Regelung soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird. Deshalb hat der Berufungskläger die Beurteilung des Streitfalls durch den Erstrichter zu überprüfen und darauf hinzuweisen, in welchen Punkten und mit welchem Grund er das angefochtene Urteil für unrichtig hält (st. Rspr., zB BAG 11. Juni 2013 – 9 AZR 855/11 – Rn. 16; 18. Mai 2011 – 4 AZR 552/09 – Rn. 14; vgl. auch BAG 15. März 2011 – 9 AZR 813/09 – Rn. 11). Dabei dürfen im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie zwar keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Die Berufungsbegründung muss aber auf den Streitfall zugeschnitten sein und im Einzelnen erkennen lassen, in welchen Punkten rechtlicher oder tatsächlicher Art und aus welchen Gründen das angefochtene Urteil fehlerhaft sein soll (st. Rspr., zB BAG 18. Mai 2011 – 4 AZR 552/09 – aaO; vgl. auch BAG 15. März 2011 – 9 AZR 813/09 – aaO). Für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder dieses zu wiederholen (st. Rspr., zB BAG 18. Mai 2011 – 4 AZR 552/09 – aaO; 15. März 2011 – 9 AZR 813/09 – aaO). Jedoch kann vom Berufungskläger nicht mehr an Begründung verlangt werden, als vom Gericht in diesem Punkt selbst aufgewendet worden ist (vgl. BAG 28. Mai 2009 – 2 AZR 223/08 – Rn. 18; sowie insbes. 16. März 2004 – 9 AZR 323/03 – zu A II 1 der Gründe, BAGE 110, 45; 14. Dezember 2004 – 1 AZR 504/03 – zu I 2 der Gründe, BAGE 113, 121).
28
2. Danach ist die Berufung ausreichend begründet.
29
a) Das Arbeitsgericht hat angenommen, § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sei auf den Streitfall in seiner Neufassung durch das Gesetz zur Umsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie vom 21. Dezember 2015 (BGBl. I S. 2553, im Folgenden EU-Mobilitäts-Umsetzungsgesetz) anzuwenden. Das am 31. Dezember 2015 in Kraft getretene Gesetz entfalte Rückwirkung. Das Arbeitsgericht hat ferner angenommen, aus § 24 der BVV-Satzung ergebe sich, dass sämtliche auf den Rentenbestand entfallende Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen iSv. § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG verwendet würden. Es reiche aus, wenn dies tatsächlich geschehe, einer rechtlichen Bindung zwischen den Arbeitsvertragsparteien bedürfe es nicht.
30
b) Jedenfalls mit der zweiten Begründung hat sich die Berufungsbegründung hinreichend auseinandergesetzt. Sie hat unter Hinweis auf weitere Satzungsregelungen und unter Darlegung von Gesichtspunkten, die über die Erwägungen im arbeitsgerichtlichen Urteil hinausgehen, im Einzelnen ausgeführt, warum nach Auffassung der Klägerin die Voraussetzungen der streitbefangenen Regelungen nicht vorliegen und nicht alle Überschussanteile iSv. § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG verwendet werden. Dass die Klägerin dabei teilweise auch Argumente aus dem erstinstanzlichen Verfahren wiederholt hat, ist unschädlich.
31
III. Die Klage ist zulässig. Das gilt auch für den Antrag auf Verurteilung zu künftigen Leistungen – Klageantrag zu 2. – und den Feststellungsantrag – Klageantrag zu 3.
32
1. Der Antrag zu 2. ist auf Zahlung wiederkehrender Leistungen iSd. § 258 ZPO gerichtet. Bei wiederkehrenden Leistungen, die – wie Betriebsrentenansprüche – von keiner Gegenleistung abhängen, können gemäß § 258 ZPO grundsätzlich auch künftig fällig werdende Teilbeträge eingeklagt werden. Im Gegensatz zu § 259 ZPO muss nicht die Besorgnis bestehen, dass der Schuldner sich der rechtzeitigen Leistung entziehen wird (BAG 25. September 2018 – 3 AZR 485/17 – Rn. 13 mwN).
33
2. Auch der Feststellungsantrag zu 3. ist zulässig.
34
a) Mit dem Feststellungsantrag möchte die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten festgestellt wissen, auch künftig alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistung der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden. Der Klägerin geht es darum, auch für künftige Anpassungsstichtage nach dem 1. Oktober 2014 sicherzustellen, dass eine Anpassungsprüfung gemäß § 16 Abs. 1 BetrAVG vorgenommen wird. Aus ihrem gesamten Klagevorbringen folgt, dass sie unter den laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung die BVV-Ausgangsrente iHv. 920,07 Euro brutto versteht, zuzüglich künftiger Steigerungen bei der Pensionskassenrente sowie zuzüglich der Anpassungen, die die Beklagte erbringt. Die Klägerin will festgestellt wissen, inwieweit ihre Rechtsposition dieses Begehren deckt.
35
b) Der so verstandene Feststellungsantrag ist als Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO zulässig. Die Anpassungsprüfungspflicht stellt ein Rechtsverhältnis im Sinne der Bestimmung dar. Dieses ist im Laufe des Verfahrens streitig geworden, weil die Beklagte ihre Anpassungsprüfungspflicht verneint. Vom Bestehen der Anpassungsprüfungspflicht ist auch der Zahlungsantrag der Klägerin abhängig.
36
B. In der Sache hat die Revision nur teilweise Erfolg.
37
I. Die Revision ist teilweise unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch nach § 16 Abs. 1 BetrAVG als einzig in Betracht kommender und von ihr herangezogener Anspruchsgrundlage nur zum Teil zu.
38
Die Klägerin kann die Anpassung höchstens auf der Basis einer Ausgangsrente von zwei Dritteln der BVV-Rente verlangen. Denn ihre vom BVV gezahlte Rente stellt, soweit sie iHv. einem Drittel auf Eigenbeiträgen beruht, keine betriebliche Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes dar. Auf diesen Teil findet § 16 Abs. 1 BetrAVG keine Anwendung. Diese Ausgangsrente ist zudem höchstens entsprechend einer nettolohnbezogenen Obergrenze um 3,58 vH anzupassen. Soweit eine Verzinsung aufgrund einer Anpassungspflicht der Beklagten danach überhaupt in Betracht kommt, sind Zinsen erst ab Rechtskraft der Entscheidung im vorliegenden Verfahren zu zahlen. Der Klageantrag zu 1. ist daher unbegründet, soweit die Klägerin mehr als 570,96 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtskraft der Entscheidung im vorliegenden Verfahren verlangt.
39
Der Klageantrag zu 2. ist insoweit unbegründet, als die Klägerin eine Erhöhung ihrer laufenden Rente ab Dezember 2016 über 21,96 Euro brutto hinaus verlangt. Der zu 3. gestellte Antrag auf Feststellung der Anpassungsprüfungspflicht der Beklagten ist unbegründet, soweit die Klägerin ihn bezogen auf eine Ausgangsrente von mehr als 613,38 Euro brutto monatlich geltend macht.
40
1. Die vom BVV gezahlte Rente stellt, soweit sie auf Eigenbeiträgen der Klägerin beruht und damit zu einem Drittel, keine betriebliche Altersversorgung dar. Damit gilt das Betriebsrentengesetz für diesen Rentenanteil nicht mit der Folge, dass keine Anpassungsprüfungspflicht nach seinem § 16 Abs. 1 besteht.
41
a) Leistet der Arbeitnehmer – wie hier die Klägerin – Beiträge aus seinem Arbeitsentgelt zur Finanzierung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung ua. an eine Pensionskasse, liegt nach § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG betriebliche Altersversorgung lediglich dann vor, wenn die Zusage des Arbeitgebers auch die Leistungen aus diesen Beiträgen umfasst. Eine solche Zusage kann sich dabei sowohl aus einer ausdrücklichen Erklärung des Arbeitgebers als auch durch Auslegung seiner Zusagen oder stillschweigend – konkludent – aus den Umständen ergeben. Mangels ausdrücklicher Zusage müssen die Gesamtumstände den Schluss darauf zulassen, dass die Zusage des Arbeitgebers auch die auf den Arbeitnehmerbeiträgen beruhenden Leistungen umfassen soll. Bei Zusagen, die bis zum Inkrafttreten des § 1 Abs. 2 Nr. 4 BetrAVG zum 1. Juli 2002 (Art. 25 des Gesetzes vom 21. Juni 2002, BGBl. I S. 2167) erteilt wurden, sind dabei erhöhte Anforderungen zu stellen, denn rechtsgeschäftliche Erklärungen sind vor dem Hintergrund der gesetzlichen Rechtslage zu verstehen. Vor Inkrafttreten der derzeitigen gesetzlichen Regelung gab es keine gesetzliche Bestimmung, wonach die Zusage auch den arbeitnehmerfinanzierten Teil des Leistungsversprechens umfassen konnte (BAG 21. März 2017 – 3 AZR 464/15 – Rn. 29 f. mwN).
42
b) Diese erhöhten Anforderungen sind hier nicht erfüllt. Zwar stand die reguläre Beteiligung der Klägerin an der Finanzierung des Versorgungsversprechens nicht in ihrem freien Belieben, weshalb der auf ihren regulären Beiträgen beruhende Teil ihrer BVV-Rente als unselbständiger Teil eines einheitlichen Betriebsrentenanspruchs eingeordnet werden könnte (vgl. dazu BAG 10. Februar 2015 – 3 AZR 65/14 – Rn. 47 mwN). Bei Zusagen, die, wie diejenige der Klägerin aus dem Jahr 1983, vor dem 1. Juli 2002 erteilt worden sind, reicht dies jedoch nicht aus (vgl. dazu BAG 15. März 2016 – 3 AZR 827/14 – Rn. 45, BAGE 154, 213). Weitere Anhaltspunkte, auf die die Klägerin sich stützen könnte, liegen nicht vor.
43
2. Soweit eine Erhöhung der vom BVV gezahlten Rente in Betracht kommt, wäre von einem Anpassungssatz von 3,58 vH auszugehen. Das ergibt sich aus § 16 Abs. 1 iVm. § 16 Abs. 2 Nr. 2 BetrAVG.
44
a) Nach § 16 Abs. 1 BetrAVG hat der Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die Belange des Versorgungsempfängers und die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Diese Verpflichtung gilt nach § 16 Abs. 2 BetrAVG als erfüllt, wenn die Anpassung nicht geringer ist als der im Prüfungszeitraum maßgebliche Anstieg des Verbraucherpreisindexes in Deutschland – § 16 Abs. 2 Nr. 1 BetrAVG – oder der Nettolöhne vergleichbarer Arbeitnehmergruppen des Unternehmens – § 16 Abs. 2 Nr. 2 BetrAVG. § 16 Abs. 2 BetrAVG begrenzt daher materiell die aus § 16 Abs. 1 BetrAVG folgende Anpassungsprüfungspflicht und einen sich daraus ergebenden Anpassungsanspruch. Auch nach der Anpassungsprüfung ist ein Arbeitgeber nicht verpflichtet, eine Anpassung vorzunehmen, die höher ist als der Anstieg der Nettolöhne vergleichbarer Arbeitnehmergruppen des Unternehmens im Prüfungszeitraum.
45
b) Entgegen der vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerten Rechtsansicht ist § 16 Abs. 2 Nr. 2 BetrAVG nicht lediglich dann anwendbar, wenn sich der Arbeitgeber tatsächlich entschließt, in Ausübung des ihm nach § 16 Abs. 1 BetrAVG eingeräumten Ermessens die Betriebsrente zu erhöhen. Vielmehr ist der Arbeitgeber auch sonst berechtigt einzuwenden, zur Erfüllung einer aus § 16 Abs. 1 BetrAVG folgenden Verpflichtung sei höchstens eine Erhöhung entsprechend der nettolohnbezogenen Obergrenze erforderlich. Mehr als die Erfüllung der Verpflichtung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG steht dem Betriebsrentner nicht zu. Es ist auch kein Grund dafür ersichtlich, dass ein Arbeitgeber mit hilfsweisem Vorbringen von Einwendungen ausgeschlossen sein soll, weil er sich auf Rechtsgründe berufen will, aus denen ein Anspruch nach § 16 Abs. 1 BetrAVG von vornherein nicht besteht, sei es, dass er seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestreitet oder dass er sich auf eine der die Anpassungsprüfungspflicht unter den dort genannten Voraussetzungen ausschließenden Ausnahmen von § 16 Abs. 3 BetrAVG beruft.
46
c) Eine Erfüllung des Anspruchs nach § 16 Abs. 1 BetrAVG läge hier auf jeden Fall vor, wenn die Beklagte den für eine Anpassung in Betracht kommenden Teil der BVV-Rente um 3,58 vH erhöhte.
47
Aufgrund des für alle Arbeitnehmer bei der Beklagten geltenden Gehaltsgefüges wäre bei einer der Klägerin vergleichbaren Arbeitnehmerin für Oktober 2013 und damit für den Beginn des Anpassungszeitraums nach § 16 Abs. 1 BetrAVG von einem Gehalt iHv. 5.286,00 Euro brutto auszugehen. Dies wäre zum April 2012 um 35,00 Euro, also um 0,66 vH auf 5.321,00 Euro, im März 2013 um weitere 63,00 Euro, also um 1,18 vH auf 5.384,00 Euro und im März 2014 um 54,00 Euro, also um 1 vH auf 5.438,00 Euro gestiegen, gemäß der Handhabung der Beklagten jeweils aufgerundet auf volle Euro. Das ist auch das maßgebliche Gehalt zum Ende des Anpassungsprüfungszeitraums vor dem 1. Oktober 2014.
48
Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, dass bei Zugrundelegung von Steuerklasse III, ohne Kinderfreibetrag sowie Kirchensteuer, Solidaritätszuschlag und AOK-Mitgliedschaft sich daraus ein Anfangsnettoeinkommen im Oktober 2011 von 3.386,80 Euro und ein Endnettoeinkommen von 3.507,89 Euro vor dem 1. Oktober 2014 ergibt. Diese Berechnungsmethode ist geeignet, die typischerweise den aktiven Beschäftigten zum Leben verbleibenden Nettobeträge zu errechnen und entspricht damit den Voraussetzungen von § 16 Abs. 2 Nr. 2 BetrAVG (vgl. zu diesen Voraussetzungen BAG 18. September 2012 – 3 AZN 952/12 – Rn. 9 mwN).
49
Die Steigerung des Nettoeinkommens vergleichbarer Arbeitnehmer im Prüfzeitraum beträgt damit 3,58 vH ([3.507,89 : 3.386,80 x 100] – 100). Der Kaufkraftverlust beträgt 4,39 vH. Maßgeblich ist der Verbraucherpreisindex auf der Basis 2010 iHv. 100. Dieser belief sich im September 2011 auf 102,5 und im September 2014 auf 107,0. Daraus errechnet sich zum Anpassungsstichtag 1. Oktober 2014 eine Steigerung von 4,39 vH ([107,0 : 102,5 x 100] – 100). Der Kaufkraftverlust ist also höher als die nettolohnbezogene Obergrenze.
50
3. Soweit eine Anpassung der Betriebsrente danach überhaupt in Betracht kommt, ist eine Verzinsung nach § 286 Abs. 1, § 288 BGB iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz erst ab Rechtskraft des Urteils geschuldet (dazu ausführlich BAG 19. Juni 2012 – 3 AZR 464/11 – Rn. 49 mwN, BAGE 142, 116).
51
4. Die Klage ist demnach teilweise unbegründet.
52
a) Die Zahlungsanträge sind unbegründet, soweit die Klägerin eine höhere monatliche Rentendifferenz als 21,96 Euro brutto verlangt (3,58 vH von 613,38 Euro brutto). Hinsichtlich der mit dem Klageantrag zu 1. geltend gemachten Rückstände für die Monate Oktober 2014 bis November 2016 ist die Klage deshalb unbegründet, soweit die Klägerin mehr als 570,96 Euro brutto begehrt. Zinsen stehen ihr allenfalls auf den Betrag von 570,96 Euro brutto und erst ab Rechtskraft der Entscheidung im vorliegenden Verfahren zu. Der Klageantrag zu 2. ist unbegründet, soweit die Klägerin ab dem Monat Dezember 2016 mehr als 21,96 Euro brutto monatlich verlangt.
53
b) Auch der Feststellungsantrag ist teilweise unbegründet, nämlich soweit die Klägerin künftig die Anpassung einer Betriebsrente ausgehend von einer höheren Ausgangsrente als 613,38 Euro brutto begehrt.
54
Da es der Klägerin – wie die Auslegung des Feststellungsantrags nach dem oben Gesagten ergibt – auf die Klärung ihrer künftigen Rechtsposition ankommt, ist eine Anpassungsprüfungspflicht auf der Basis einer niedrigeren Ausgangsrente als 920,07 Euro brutto als ein Weniger im Klageantrag enthalten, sodass dieser teilweise abgewiesen werden kann, soweit für einen Teilbetrag feststeht, dass er nicht der Anpassungsprüfungspflicht unterliegt (vgl. BAG 19. Juli 2016 – 3 AZR 134/15 – Rn. 18, BAGE 155, 326).
55
II. Im Übrigen ist die Revision begründet. Ob die Klage hinsichtlich der restlichen Anträge begründet ist, steht aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch nicht fest. Der Rechtsstreit ist insoweit an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO).
56
1. Die Klage ist nicht deshalb abweisungsreif, weil es sich bei dem arbeitgeberfinanzierten Anteil der BVV-Rente iHv. zwei Drittel der Gesamtrente, also 613,38 Euro brutto, nicht um betriebliche Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes handeln würde. Vielmehr liegt insoweit betriebliche Altersversorgung vor, sodass § 16 BetrAVG Anwendung findet. Die Beklagte hat der Klägerin mit der Pflicht zur Versicherung beim BVV keine reine Beitragszusage außerhalb des Betriebsrentengesetzes erteilt, sondern eine betriebsrentenrechtliche Versorgungszusage in Form einer beitragsorientierten Leistungszusage. Diese wurde über eine Pensionskasse iSv. § 1b Abs. 3 BetrAVG durchgeführt (vgl. dazu nur BAG 13. Dezember 2016 – 3 AZR 342/15 – Rn. 29, BAGE 157, 230). Darüber haben die Parteien auch keine unterschiedlichen Ansichten.
57
2. Aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts steht noch nicht fest, ob die Voraussetzungen von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG in der derzeitigen, mit dem EU-Mobilitäts-Umsetzungsgesetz geschaffenen Fassung vorliegen und damit die der Beklagten als ehemaliger Arbeitgeberin obliegende Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG entfällt. Dies setzt nach dieser Regelung voraus, dass die betriebliche Altersversorgung – wie hier – ua. über eine Pensionskasse iSd. § 1b Abs. 3 BetrAVG durchgeführt wird, und dass weiter ab Rentenbeginn sämtliche auf den Rentenbestand entfallende Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden. Das vor der Gesetzesänderung bestehende Tatbestandsmerkmal, dass bei der Berechnung der garantierten Leistung der nach der Deckungsrückstellungsverordnung (DeckRV vom 6. Mai 1996, BGBl. I S. 670) festgesetzte Höchstzinssatz nicht überschritten wird, ist durch die Gesetzesänderung entfallen.
58
a) Das Gesetz setzt voraus, dass die in der Ausnahmevorschrift des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG genannten Voraussetzungen aufgrund einer vertraglichen Regelung bei Beginn der Betriebsrentenleistungen, dem Eintritt des Versorgungsfalls, unabdingbar rechtlich feststehen. Dazu reicht es aus, wenn eine dahingehende Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Pensionskasse besteht. Eine bloß praktische Handhabung, aufgrund derer die Pensionskasse so verfährt, wie es § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG voraussetzt, genügt hingegen nicht (wie hier: Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 16 Rn. 306; Schipp in Schlewing/Henssler/Schipp/Schnitker Arbeitsrecht der betrieblichen Altersversorgung Teil 14 Rn. 959; aA Höfer/Höfer BetrAVG Bd. I Stand März 2019 § 16 Rn. 397).
59
aa) Es ist erforderlich, dass die Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG aufgrund vertraglicher Regelung oder gesetzlicher Ansprüche bei Eintritt des Versorgungsfalls rechtlich feststehen.
60
(1) Dafür sprechen schon systematische Erwägungen. Nach der gesetzlichen Regelung müssen deren Voraussetzungen „ab Rentenbeginn“ erfüllt sein. Zum Zeitpunkt des Rentenbeginns steht aber die tatsächliche Handhabung für die Dauer des Versorgungsverhältnisses noch gar nicht fest. Feststellbar ist nur die Rechtslage zum Zeitpunkt des Rentenbeginns, also des Eintritts des Versorgungsfalls. Allein diese kann daher maßgeblich sein.
61
(2) Auch die Entstehungsgeschichte kann für dieses Ergebnis herangezogen werden. Dem historischen Gesetzgeber kam es darauf an, dass den Rentnern die Überschussanteile „uneingeschränkt und unabdingbar … zur Verfügung“ stehen (BT-Drs. 13/8011 S. 73).
62
(3) Sonstige gesetzliche Regelungen stehen nicht entgegen.
63
(a) Aufgrund der Fassung der Norm und ihrer Entstehungsgeschichte scheidet ein Umkehrschluss aus den Regelungen in § 16 Abs. 3 Nr. 1 bzw. § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BetrAVG, die auf vertragliche Regelungen abstellen, aus.
64
(b) Auch die Regelung über die Bedingungsanpassung in § 164 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) steht nicht entgegen.
65
Danach dürfen Versicherer bei einer Lebensversicherung Bestimmungen in Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die durch höchstrichterliche Entscheidung oder bestandskräftigen Verwaltungsakt für unwirksam erklärt wurden, durch eine neue Regelung ersetzen. Voraussetzung ist, dass dies zur Fortführung des Vertrags notwendig ist oder das Festhalten an dem Vertrag ohne die neue Regelung für eine Vertragspartei auch unter Berücksichtigung der Interessen der anderen Vertragspartei eine unzumutbare Härte darstellen würde (§ 164 Abs. 1 Satz 1 VVG). Die neue Regelung muss jedoch unter Wahrung des Vertragsziels die Belange der Versicherungsnehmer angemessen berücksichtigen (§ 164 Abs. 1 Satz 2 VVG). Damit ist sichergestellt, dass sich die Regelung im höchstmöglichen Umfang an dem bereits Vereinbarten orientiert. Die Änderungsmöglichkeit beeinträchtigt deshalb die von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG vorausgesetzte Rechtssicherheit nicht.
66
bb) Es ist ausreichend, wenn die rechtlichen Voraussetzungen durch Vereinbarungen zwischen dem Arbeitgeber und der Pensionskasse als Versicherer sichergestellt werden (im Ergebnis ebenso LAG Baden-Württemberg 23. Juli 2018 – 1 Sa 17/17 – juris-Rn. 86 f.).
67
(1) Das folgt daraus, dass diese Bedingungen nicht mehr einseitig zulasten des Versorgungsberechtigten abänderbar sind. Bei der Vereinbarung handelt es sich um einen Vertrag zugunsten Dritter iSv. § 328 Abs. 1 BGB. Er kommt zustande zwischen dem Versicherungsnehmer, also dem Arbeitgeber – hier der Beklagten – und der Pensionskasse als Versicherer – hier dem BVV – zugunsten des Versorgungsberechtigten und Versicherten – hier der Klägerin. Aus dem Zweck der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Pensionskasse, nämlich betriebliche Altersversorgung durchzuführen, folgt, dass sie nicht ohne Zustimmung des Versorgungsberechtigten geändert werden können (zu den Auslegungskriterien § 328 Abs. 2 BGB; vgl. auch BAG 16. Februar 2010 – 3 AZR 479/08 – Rn. 35). Das schließt eine einvernehmliche Änderung der Vertragsbedingungen zwischen dem Arbeitgeber und der Versicherung zulasten des Versorgungsberechtigten aus.
68
(2) Allerdings sind bei der Prüfung der rechtlichen Verbindlichkeit Änderungsvorbehalte in den Versorgungsregelungen zwischen Arbeitgeber und Pensionskasse zu berücksichtigen (zur grundsätzlichen Zulässigkeit von Änderungsvorbehalten BGH 16. März 1988 – IVa ZR 154/87 – zu I 2 e der Gründe, BGHZ 103, 370). Denn auch diese sind Teil der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Pensionskasse. Nur, wenn auch unter Berücksichtigung solcher Vorbehalte die Erfüllung der Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG, sei es durch ihre Auslegung oder eine Anwendungskontrolle gesichert ist, entfällt die Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG.
69
cc) Da es auf die Rechtslage zum Zeitpunkt des Eintritts des Versorgungsfalls ankommt, ist es unerheblich, ob sich die Pensionskasse in ihrer tatsächlichen Handhabung an die rechtlichen Vorgaben hält. Entscheidend ist vielmehr, dass der Betriebsrentner als Versicherter und Bezugsberechtigter gemäß § 328 Abs. 1 BGB die Rechte nach den Versicherungsbedingungen gegenüber der Pensionskasse durchsetzen kann. Gleiches gilt, wenn dem Betriebsrentner gesetzliche Ansprüche zur Seite stehen, die er gegenüber der Pensionskasse durchsetzen kann.
70
b) Es steht noch nicht fest, ob diese Voraussetzungen bezogen auf die Zuordnung von Überschussanteilen zum Rentenbestand vorliegen.
71
aa) Nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG entfällt die Anpassungsprüfungspflicht nur, wenn ab Rentenbeginn „sämtliche auf den Rentenbestand entfallenden“ Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden. Es kommt deshalb nicht darauf an, dass überhaupt Überschussanteile in einer bestimmten Weise verwendet werden. Diese Überschussanteile müssen gerade dem Rentenbestand zugeordnet sein. Das erfordert zunächst eine sachgemäße Zusammenfassung der Versicherungsverträge, denen die Überschussanteile zugeordnet sind und innerhalb der Zuordnung eine sachgemäße Zuschreibung von Überschussanteilen auf den einzelnen Vertrag. Es setzt weiter voraus, dass innerhalb dieser Versicherungsverträge die Überschussanteile tatsächlich dem Rentenbestand, also den Betriebsrentnern, und nicht dem Anwärterbestand, also den Arbeitnehmern oder den mit einer unverfallbaren Anwartschaft ausgeschiedenen ehemaligen Arbeitnehmern als Anwärtern, zugeordnet werden.
72
bb) Es bedarf weiterer Feststellungen des Landesarbeitsgerichts dazu, ob der BVV die Versicherung der Klägerin in einer § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG entsprechenden Weise sachgemäß mit anderen Versicherungsverträgen hinsichtlich der Zuordnung von Überschussanteilen zusammengefasst und die Anteile dem einzelnen Vertrag sachgemäß zugeschrieben hat.
73
(1) Es ist dabei zulässig, dass mehrere Versicherungsverträge zu Abrechnungs- oder Gewinnverbänden bzw. Bestandsgruppen zusammengefasst werden, denen jeweils Überschussanteile zugerechnet sind. Das Gesetz verlangt, dass die auf den Rentenbestand entfallenden Überschussanteile dem Betriebsrentner zustehen müssen. Entscheidend ist also nicht, welche Überschussanteile auf die einzelne Versicherung des Betriebsrentners entfallen, sondern welche auf den Bestand entfallen (Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto BetrAVG 7. Aufl. § 16 Rn. 307; Herrmann BetrAV 2017, 671, 672; aA Höfer/Höfer BetrAVG Bd. I Stand März 2019 § 16 Rn. 406 mwN; ErfK/Steinmeyer 20. Aufl. BetrAVG § 16 Rn. 57). Das entspricht auch dem Charakter von Versicherungsverträgen, die gerade darauf beruhen, dass die Versicherung ein Risiko übernimmt und auf mehrere durch die gleiche Gefahr bedrohte Personen verteilt und der Risikoübernahme eine auf dem Gesetz der großen Zahl beruhende Kalkulation zugrunde liegt (BVerwG 29. September 1992 – 1 A 26/91 -).
74
(2) Die Zusammenfassung muss verursachungsorientiert im versicherungsrechtlichen Sinn erfolgen und eine Zuschreibung des Überschussanteils auf den einzelnen Vertrag sichergestellt sein, die dessen rechnerischen Anteil am zusammengefassten Bestand entspricht.
75
Durch die gesetzlich zulässige Zusammenfassung darf nicht der Bezug zum einzelnen Versicherungsvertrag verloren gehen. Das Gesetz stellt auf den Bestand ab, dem die Rente zugehört. Denn es ist sicherzustellen, dass nicht Gelder, die der betrieblichen Altersversorgung gerade des einzelnen Betriebsrentners dienen, ihm hinsichtlich der Überschussbeteiligung entzogen werden, ihm aber gleichwohl der auf seine eigene Versorgungszusage zugeschnittene Anspruch auf Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG entgeht.
76
Feststehen muss deshalb, dass nur solche Versicherungsverträge miteinander verbunden werden, die einen engen Bezug gerade zur Versicherung des jeweiligen Betriebsrentners haben. Dieser Bezug kann nur anhand der Verursachung im versicherungstechnischen Sinne geprüft werden. Allein darin liegt ein sachgemäßes Kriterium zur Zusammenfassung mehrerer Versicherungsverträge. Das erfordert zwar keine verursachungsgerechte Zusammenfassung von Versicherungsverträgen (zur Terminologie Langheid/Wandt/Heiss VVG 2. Aufl. § 153 Rn. 41), wohl aber eine verursachungsorientierte Zusammenfassung iSv. § 153 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VVG. Denn mit anderen Verfahren der Zusammenfassung – seien sie auch vergleichbar und angemessen iSv. § 153 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 VVG – wird der betriebsrentenrechtlich nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG erforderliche Zusammenhang nicht hergestellt.
77
Versicherungsverträge dürfen dabei nach anerkannten versicherungsmathematischen Grundsätzen zu Bestandsgruppen und Gewinnverbänden zusammengefasst werden, soweit sich die Verteilung des Überschusses daran orientiert, in welchem Umfang die Gruppe oder der Gewinnverband zur Entstehung des Überschusses beigetragen hat. Das Verteilungssystem muss die Verträge sachgerecht unter dem Gesichtspunkt der Überschussverteilung zusammenfassen und darauf angelegt sein, den zur Verteilung bestimmten Betrag nach den Kriterien der Überschussverursachung einer Gruppe zuzuordnen sowie dem einzelnen Vertrag dessen rechnerischen Anteil an dem Betrag der Gruppe zuzuschreiben (vgl. BT-Drs. 16/3945 S. 96).
78
Das gilt unabhängig davon, wann die Versorgungszusage erteilt wurde. Unerheblich ist deshalb die Bestimmung von Art. 4 Abs. 1 Satz 2 des Einführungsgesetzes zum VVG (EGVVG). Danach ist – wenn eine Überschussbeteiligung vereinbart ist – die Regelung des § 153 VVG auch auf vor dem 1. Januar 2008 abgeschlossene Versicherungsverträge anzuwenden (missverständlich insoweit BAG 18. November 2008 – 3 AZR 970/06 – Rn. 33). Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EGVVG regelt jedoch lediglich etwas zur weiter gehenden Verbindlichkeit für vor diesem Stichtag vereinbarte Verteilungsgrundsätze, wie sie aufgrund der Einführung des Tarifs DA zum 1. Januar 2002 hier vorliegt. Er bestimmt dagegen nicht, ob die Zusammenfassung von Versicherungen den Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG entspricht.
79
(3) Aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts und des Vortrags der Parteien steht nicht fest, ob die danach erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
80
(a) Die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte hat noch keinen Vortrag gehalten, ob die Zusammenstellung der Abrechnungs- und Gewinnverbände verursachungsorientiert erfolgt ist und die darauf entfallenden Überschussbeträge entsprechend deren rechnerischen Anteil dem einzelnen Vertrag zugeschrieben sind.
81
(b) Ist dies der Fall, sind auch die Voraussetzungen nach § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG insoweit gegeben. Die Änderungsklausel in § 20 Abs. 6 BVV-Satzung steht nicht entgegen, obwohl sie eine Änderung der Regelungen zur Überschussbeteiligung sowohl in der Satzung des BVV als auch in den Versicherungsbedingungen der hier maßgeblichen Tarife B (Alttarif) und DA (Alttarif) mit Zustimmung der BaFin auch nach Rentenbeginn ermöglicht und damit auch die dort geregelte Zusammenfassung von Versicherungsverträgen zum Zwecke der Überschusszuteilung.
82
(aa) Das folgt nicht bereits daraus, dass der Änderungsvorbehalt unwirksam wäre. Das ist nicht der Fall.
83
(aaa) Prüfungsmaßstab ist das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, das in der durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts seit dem 1. Januar 2002 geschaffenen Fassung (vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft zu diesem Zeitpunkt nach Art. 9 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes) seit dem 1. Januar 2003 Anwendung findet, obwohl das Versicherungsverhältnis mit dem BVV bereits vorher begründet wurde (Art. 229 § 5 Satz 2 EGBGB). Die das versicherungsrechtliche Verhältnis regelnden Satzungsbestimmungen eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit unterliegen der Kontrolle nach diesem Recht. Die Anwendungseinschränkung für das Gesellschaftsrecht nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB greift nicht (BAG 18. November 2008 – 3 AZR 970/06 – Rn. 30; BGH 8. Oktober 1997 – IV ZR 220/96 – zu 2 der Gründe, BGHZ 136, 394). Bei der Anwendung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind nicht nur die Interessen der Beklagten als Versicherungsnehmerin, sondern auch die der versicherten Versorgungsberechtigten zu berücksichtigen (vgl. BAG 31. Juli 2007 – 3 AZR 446/05 – Rn. 20; BGH 3. Mai 2006 – IV ZR 134/05 – zu II 3 a der Gründe mwN).
84
(bbb) Danach liegt kein Verstoß gegen das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vor.
85
(aaaa) Das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB steht nicht entgegen. Es ist durch einen in Versicherungsbedingungen enthaltenen Änderungsvorbehalt jedenfalls dann nicht verletzt, wenn klar ist, dass die Bestimmungen geändert werden können und dass der Änderungsvorbehalt nur diese Bestimmungen betrifft (BGH 22. September 1971 – IV ZR 15/70 -; weiter gehend BGH 16. März 1988 – IVa ZR 154/87 – zu I 2 e der Gründe, BGHZ 103, 370).
86
(bbbb) § 20 Abs. 6 BVV-Satzung ist auch nicht nach § 308 Nr. 4 BGB unangemessen. Danach ist in Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern, unangemessen, wenn nicht die Vereinbarung der Änderung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Teil zumutbar ist. Die Zumutbarkeit ergibt sich vorliegend daraus, dass der BVV die genannten Regelungen nicht einseitig ändern kann, sondern hierfür die Zustimmung der BaFin als Aufsichtsbehörde benötigt. Damit scheidet auch eine Unwirksamkeit nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB aus.
87
(bb) Jedoch ist auch bei Zugrundelegung einer wirksamen Satzungsbestimmung die Wahrnehmung der sich aus ihr ergebenden Rechte im Einzelfall rechtlich zu überprüfen. Sie muss sich an § 242 BGB messen lassen (BGH 22. September 1971 – IV ZR 15/70 -). Es entspräche nicht Treu und Glauben iSv. § 242 BGB, wenn der BVV – sei es auch mit Zustimmung der BaFin – Neuabgrenzungen des Versicherungsbestandes, die dem Gesichtspunkt der Verursachungsorientierung nicht hinreichend gerecht werden, vornähme. Er ist also nicht berechtigt, bei der Neuverteilung den Bestand so abgrenzen, dass kein hinreichender inhaltlicher Zusammenhang zu den Kriterien der Erstabgrenzung mehr gegeben ist. Eine solche Neuabgrenzung würde zum Abfluss von Mitteln führen, die der Durchführung der betrieblichen Altersversorgung gerade der Klägerin dienen. Hierin läge eine unzulässige strukturelle Veränderung der maßgeblichen Bestimmungen, die mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Auch eine Zustimmung der BaFin änderte daran nichts.
88
cc) Demgegenüber ist die Abgrenzung zwischen Rentenbestand und Anwartschaftsbestand unproblematisch. Der BVV ist aufgrund allgemeiner rechtlicher Vorgaben, die einen entsprechenden Anspruch der Betriebsrentner begründen, verpflichtet, die Überschussanteile gleichmäßig auf Anwärter und Rentner zu verteilen. Das folgt aus § 138 Abs. 2 VAG. Die sich daraus ergebenden Rechte kann die Klägerin als Versicherte auch gegenüber dem BVV als Pensionskasse und Versicherer durchsetzen.
89
(1) Gemäß § 138 Abs. 2 VAG müssen Lebensversicherungen bei gleichen Voraussetzungen Prämien und Leistungen nach gleichen Grundsätzen bemessen. Diese Bestimmung gilt gemäß § 234 Abs. 1, § 212 Abs. 1 VAG auch für Pensionskassen. Hinsichtlich der Verteilung von Überschüssen und der damit verbundenen Leistungen besteht kein Unterschied zwischen Anwärtern und Rentnern, da beide Personengruppen als Versorgungsberechtigte einen Anteil am Vertragsbestand haben (in diese Richtung bereits BAG 18. November 2008 – 3 AZR 970/06 – Rn. 35, für die insoweit vergleichbare Vorgängerregelung zu § 177 Abs. 1 VAG).
90
(2) Die Klägerin kann als Versicherte ihre Rechte aus § 138 Abs. 2 VAG gerichtlich gegen den BVV als Versicherer durchsetzen.
91
Allerdings handelt es sich bei § 138 Abs. 2 VAG zunächst um eine versicherungsaufsichtsrechtliche Regelung (vgl. BGH 17. Juli 2019 – XII ZB 437/18 – Rn. 14 ff.). Trotzdem können aus ihr auch unmittelbare Ansprüche der Versicherungsnehmer, aber in entsprechender Weise auch der sonstigen Versicherten entstehen, jedenfalls soweit es um die Zuordnung von Überschussanteilen geht. Das folgt aus dem Rechtscharakter von Überschüssen und den damit verbundenen verfassungsrechtlich gesicherten Rechtspositionen.
92
(a) Lebensversicherungen sind langfristig kalkuliert und müssen dies auch sein. Dabei ist es kaufmännisch notwendig und nach dem Versicherungsaufsichtsrecht auch eine Pflicht, die Prämien vorsichtig zu berechnen. Denn die Prämienhöhe muss die Erfüllung der Verpflichtung aus der Versicherung sicherstellen (§ 138 Abs. 1 VAG). Damit sind – grundsätzlich – Überschüsse angelegt, die sich allein aus dieser vorsichtigen Berechnung ergeben (vgl. BT-Drs. 16/3945 S. 51 f.). Trotz Übereignung der Versicherungsprämien an das Versicherungsunternehmen und dessen Recht, seinen Geschäftsbetrieb so zu führen, wie es dies für richtig hält, besteht hinsichtlich der eingebrachten Werte des Versicherungsnehmers, die Grundlage für die Überschusserwirtschaftung sind, verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz (Art. 14 GG) und Schutz vor einer Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Versicherungskunden aus allgemeiner Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich gehalten, im Rahmen seiner Schutzpflicht für eine angemessene Überschussbeteiligung zu sorgen, jedenfalls soweit eine Überschussbeteiligung vertraglich zugesagt ist (vgl. BVerfG 26. Juli 2005 – 1 BvR 80/95 – zu C I 2 b ff. der Gründe, BVerfGE 114, 73).
93
(b) Diese Schutzpflicht erfordert weiter, dass aus dem Gesetz angemessene Maßstäbe abgeleitet werden und der Berechtigte die Möglichkeit hat, die Regelungen zur Sicherung seiner Rechte unmittelbar zivilrechtlich durchzusetzen. Die Versicherungsaufsicht genügt diesen Anforderungen nicht, da sie als bloße Missbrauchsaufsicht nur die „ausreichende“ Wahrung der Belange der Versicherten gewährleistet, also nicht die individuellen Belange der Versicherten berücksichtigt (§ 294 Abs. 2 Satz 2 VAG); sie findet zudem nur im öffentlichen Interesse statt (§ 294 Abs. 8 VAG; BVerfG 17. Februar 2017 – 1 BvR 781/15 – Rn. 40). Der Bundesgerichtshof hat daraus geschlossen, dass nicht nur die rechtlichen Vorgaben nach dem Versicherungsvertragsrecht, sondern auch die versicherungsaufsichtsrechtlichen Regelungen im zivilrechtlichen Wege durchgesetzt werden können (vgl. BGH 27. Juni 2018 – IV ZR 201/17 – Rn. 27 ff., BGHZ 219, 129). Dem schließt sich der Senat an. Die gerichtliche Kontrolle betrifft nicht nur die Frage, ob der Überschuss ordnungsgemäß berechnet ist, sondern auch die Frage, ob er zwischen den Berechtigten ordnungsgemäß verteilt wird. Denn es macht für den Berechtigten keinen Unterschied, ob er einen Überschussanteil deshalb nicht erhält, weil ihn der Versicherer unberechtigt für sich behält oder weil der Versicherer ihn unberechtigt einer anderen Person zuordnet.
94
(c) Eine derartige Klärung kann nicht nur die Beklagte als Arbeitgeberin und Versicherungsnehmerin, sondern auch die Klägerin als Versorgungsberechtigte, Betriebsrentnerin und Versicherte herbeiführen. Aufgrund der Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers wird zu dessen Gunsten im Rahmen der Durchführung der betrieblichen Altersversorgung über eine Pensionskasse Kapital angesammelt, mit dem Überschüsse erwirtschaftet werden. Die Vorschrift des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG setzt voraus, dass sie ihm vertraglich zustehen. Damit erwirbt er eigene Rechte an diesen Überschüssen und hat im Hinblick auf die Überschussverwendung ein eigenes Dispositionsinteresse, das in der Sache hinter dem eines Versicherungsnehmers, der sich selbst versichert, nicht zurücksteht (davon geht offensichtlich auch der BGH in seiner Entscheidung vom 11. Februar 2015 – IV ZR 213/14 – BGHZ 204, 172, aus, in der es um eine Direktversicherung ging und der Versorgungsberechtigte Kläger war).
95
c) Auch im Übrigen sind die Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG hinsichtlich der Berechtigung an den Überschussanteilen erfüllt.
96
aa) § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG verlangt, dass die Überschussanteile im versicherungsrechtlichen Sinn – im Rahmen der Zuordnung zum Rentenbestand – den Betriebsrentnern zum Zeitpunkt des Versorgungsfalls rechtlich zustehen und sie dies auch durchsetzen können.
97
(1) Wenn das Gesetz in § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG Voraussetzungen für die Verwendung von Überschussanteilen regelt, unter denen die Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG entfällt, knüpft es an einen versicherungsrechtlichen Begriff an. Überschussanteile iSv. § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sind deshalb Überschussanteile im Sinne des Versicherungsrechts in der jeweils geltenden Fassung. Sie müssen – im Rahmen des zum Zeitpunkt des Eintritts des Versorgungsfalls versicherungsrechtlich Möglichen – entsprechend der gesetzlichen Vorschriften zugunsten der Betriebsrentner und Versicherten verwendet werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass zu diesem Zeitpunkt rechtlich feststehen muss, dass sie weder dem Arbeitgeber – hier der Beklagten – noch dem Versicherer, hier also dem BVV als Pensionskasse, zustehen.
98
(2) Versicherungsrechtlich steht nach § 153 VVG dem Versicherungsnehmer eine Überschussbeteiligung zu, soweit nichts Gegenteiliges vereinbart ist. Was davon im Innenverhältnis dem Versicherungsnehmer – hier der Beklagten als Arbeitgeberin – oder dem Versicherten – hier der Klägerin als Versorgungsberechtigter – zusteht, kann zwischen diesen vertraglich geklärt werden (vgl. BAG 16. Februar 2010 – 3 AZR 479/08 – Rn. 24 f.). Eine solche Vereinbarung entfaltet dann im Rahmen allgemeiner versicherungsrechtlicher Grundsätze auch Wirkung gegenüber dem Versicherer. Dies folgt schon daraus, dass nach § 171 Satz 1 VVG ua. von § 153 VVG zum Nachteil der versicherten Person nicht abgewichen werden darf.
99
(3) Die Überschussbeteiligung ist nach § 139 Abs. 1 VAG dem Versicherten entweder unmittelbar zuzuteilen oder in der Bilanz in eine Rückstellung zur Beitragsrückerstattung einzustellen. Die dort eingestellten Beträge sind grundsätzlich für die Überschussbeteiligung zu verwenden (§ 140 Abs. 1 VAG). Die Zuführung zur Rückstellung der Beitragsrückerstattung und die Verwendung der Mittel dieser Rückerstattung muss angemessen sein, andernfalls liegt ein die Belange der Versicherten gefährdender Missstand vor (§ 140 Abs. 2 Satz 1 VAG), was ein Eingreifen der BaFin als Aufsichtsbehörde ermöglicht (§ 298 Abs. 1 Satz 1 VAG). Dass eine Überschussbeteiligung nur insoweit in Betracht kommt, als die dauernde Erfüllbarkeit der sich aus den Versicherungsverträgen ergebenden Verpflichtungen des Unternehmens beachtet ist, ergibt sich aus § 141 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 VAG. Danach hat der gemäß § 141 Abs. 1 VAG zu bestellende verantwortliche Aktuar einen Vorschlag für eine angemessene Beteiligung am Überschuss vorzulegen und dabei die Erfüllbarkeit der bestehenden Verpflichtungen zu berücksichtigen.
100
Diese Bestimmungen sind gemäß § 234 Abs. 1 iVm. § 212 Abs. 1 VAG auch auf Pensionskassen anwendbar.
101
Der Senat hat angenommen, dass bei der Berechnung von Überschussanteilen § 315 BGB anwendbar sei (BAG 18. November 2008 – 3 AZR 970/06 – Rn. 28). Demgegenüber ist der Bundesgerichtshof (BGH 11. Februar 2015 – IV ZR 213/14 – Rn. 19 ff., BGHZ 204, 172; für mit der Verfassung vereinbar gehalten bei BVerfG 17. Februar 2017 – 1 BvR 781/15 – Rn. 38) davon ausgegangen, diese Bestimmung könne auf die Berechnung der Überschussanteile nicht angewendet werden. Im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hält der Senat an seiner Rechtsauffassung nicht fest.
102
bb) Unerheblich ist entgegen der von der Klägerin geäußerten Auffassung, ob Überschussanteile überhaupt anfallen.
103
Die Bestimmung der maßgeblichen Überschussanteile und damit auch die Frage, ob versicherungsrechtlich Überschussanteile überhaupt anfallen, hängt nach dem Vorgesagten von der wirtschaftlichen Situation des Versicherers – hier des BVV als Pensionskasse – zum Zeitpunkt der Bestimmung über die Überschussverwendung ab. Dies ist für die Anwendbarkeit von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG unschädlich, da diese Bestimmung lediglich eine zum Zeitpunkt des Versorgungsfalls rechtlich gesicherte Überschussverwendung verlangt, die nicht dazu führt, dass Überschüsse dem Arbeitgeber oder dem Versicherer zustehen.
104
cc) Ebenso ist es unerheblich, ob die Überschussverwendung einschließlich der Zuführung zur Beitragsrückstellung im Zeitpunkt über die Entscheidung der Überschussverwendung ordnungsgemäß erfüllt wird. Ausreichend ist insoweit allein, ob auch den Versorgungsberechtigten und Versicherten Ansprüche auf Durchsetzung rechtskonformer Überschussberechnung und -verwendung zustehen.
105
dd) Diese vom Gesetz geforderten Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.
106
(1) Die Überschussanteile stehen den Betriebsrentnern und damit auch der Klägerin rechtlich zu.
107
Gemäß § 24 Abs. 2 BVV-Satzung sowie jeweils § 34 der Versicherungsbedingungen in den Tarifen B und DA steht der Überschuss des BVV weder den Arbeitgebern noch dem BVV, sondern den Versicherten zu.
108
Unschädlich ist, dass nach § 20 Abs. 6 BVV-Satzung die genannten Regelungen der Satzung und der Versicherungsbedingungen mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde auch mit Wirkung für bestehende Versicherungsverhältnisse geändert werden können und damit eine Änderungsmöglichkeit auch für Zeiten nach Eintritt des Versorgungsfalls, also des Rentenbeginns, besteht. Wie oben ausgeführt wurde, ist diese Bestimmung wirksam. Jedoch sind die aufgrund der Regelung vorgenommenen Maßnahmen an § 242 BGB zu messen. Es entspräche nicht Treu und Glauben iSv. § 242 BGB, wenn entgegen der ursprünglichen Konzeption der genannten Bestimmungen Überschussanteile dem Arbeitgeber, hier der Beklagten, oder dem BVV zugeordnet würden. Darin läge eine unzulässige strukturelle Veränderung der maßgeblichen Bestimmungen, die mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Auch eine Zustimmung der BaFin änderte daran nichts. Im Übrigen sind auch keine wirtschaftlichen Gründe denkbar, die eine derartige Änderung rechtfertigen könnten. Soweit keine Überschüsse anfallen, sind diese ohnehin nicht zu verteilen. Einer Änderung der Satzung bedarf es zur Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen des BVV unter keinen denkbaren Umständen.
109
(2) Die Klägerin als Betriebsrentnerin und Versicherte hat auch die Möglichkeit, die versicherungsrechtlichen Vorgaben selbst gegenüber dem BVV rechtlich durchzusetzen. Das folgt nach dem Vorgesagten aus der grundrechtlichen Position der Versicherten aus Art. 14 und Art. 2 Abs. 1 GG. Es ist auch zivilgerichtlich überprüfbar, ob die versicherungsaufsichtsrechtlichen Vorgaben für die Überschussberechnung eingehalten sind (vgl. BGH 27. Juni 2018 – IV ZR 201/17 – Rn. 27 ff., BGHZ 219, 129). In diesem Rahmen könnte eine mögliche Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen der Satzung oder der Versicherungsbedingungen der Tarife B und DA ebenso geltend gemacht werden wie vermeintliche Verstöße des BVV gegen die zugrunde liegenden Abmachungen.
110
d) Es steht noch nicht fest, inwieweit die Überschussanteile aufgrund der Regelungen jeweils in § 4 des Tarifs B und des Tarifs DA zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden.
111
aa) Unschädlich ist jedoch, dass § 34 Abs. 4 Stufe 2 Tarif B und § 34 Abs. 2 Stufe 2 Tarif DA sowie die in diesen Bestimmungen jeweils enthaltenen Übergangsregelungen für einzelne Jahre nicht nur eine dauernde Erhöhung der Betriebsrente vorsehen, sondern auch einen befristeten Sonderzuschlag.
112
(1) Allerdings entspräche es nicht Sinn und Zweck von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sowie dem systematischen Zusammenhang und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, wollte man allein vorübergehende Erhöhungen der Pensionskassenrente als Voraussetzung für den Ausschluss der Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG ausreichen lassen. Das folgt schon daraus, dass eine Anpassungsprüfung nach § 16 Abs. 1 BetrAVG auf eine dauernde Anpassung gerichtet ist. Das Gleiche gilt für die Regelung in § 16 Abs. 3 Nr. 1 BetrAVG. Danach entfällt die Anpassungsprüfungspflicht auch, wenn der Arbeitgeber sich verpflichtet, die laufenden Leistungen jährlich um wenigstens 1 vH anzupassen. Der Arbeitgeber ist hier ebenfalls zu einer dauernden Anpassung verpflichtet. Der Gesetzgeber wollte mit § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sicherstellen, dass nicht nur Arbeitgeber, die eine Direktzusage erteilt haben, sondern auch Arbeitgeber, die sich ua. des versicherungsförmigen Durchführungsweges einer Pensionskasse bedienen, eine vergleichbare Kalkulationssicherheit haben (BT-Drs. 13/8011 S. 73). Die Wirkungen sollten insoweit vergleichbar sein.
113
(2) Andererseits zeichnen sich die versicherungsförmigen Durchführungswege auch über eine Pensionskasse durch Besonderheiten aus. Die Leistungsfähigkeit und die Möglichkeit, Überschussanteile auszukehren, richten sich nach der wirtschaftlichen Lage und der Planbarkeit. Naturgemäß sind kurze Zeiträume planbarer als längere. Zudem entspricht es dem Interesse der Betriebsrentner, dass feststehende kurzfristige Überschüsse anfallen und nicht wegen der langen Zeiträume durch Unsicherheit lediglich geringe Überschussbeteiligungen stattfinden. Andererseits haben die Betriebsrentner auch ein Interesse an einer dauernden und sicheren Erhöhung ihrer Betriebsrente zur weiteren Planung ihres Lebensabends.
114
(3) Befristete Erhöhungen der Betriebsrente aufgrund der Verteilung von Überschussanteilen sind deshalb nur dann zulässig, wenn nach den Regelungen in den maßgeblichen Versicherungsbedingungen sichergestellt ist, dass dauernde und gegebenenfalls vorübergehende Rentenerhöhungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Zudem darf der Anteil der nur befristeten Erhöhungen der Betriebsrente nicht unangemessen hoch sein.
115
(4) Beide Voraussetzungen sind hier erfüllt. Sowohl § 34 Abs. 4 Tarif B als auch § 34 Abs. 2 Tarif DA sehen vor, dass zunächst in einer ersten Stufe ein laufender Anpassungszuschlag gezahlt wird. In einer zweiten Stufe kommt dann ein befristeter Sonderzuschlag in Betracht und schließlich in einer dritten Stufe wieder ein dauernder Anpassungszuschlag. Die vorgenannten Versicherungsbedingungen der Tarife B und DA sehen somit vorrangig einen laufenden Anpassungszuschlag und nur auf zweiter Stufe einen befristeten Sonderzuschlag vor. Zudem ist bestimmt, dass der befristete Sonderzuschlag insgesamt maximal 25 vH der Stammrente betragen darf. Das ist angemessen.
116
bb) Demgegenüber sind die Voraussetzungen von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG nicht erfüllt, soweit nach § 34 Abs. 2 Tarif B die Möglichkeit besteht, Überschussanteile auch für Sterbegeld zu verwenden.
117
(1) § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sieht vor, dass die laufenden Leistungen zu erhöhen sind. Daraus folgt, dass die Erhöhung denselben Rechtscharakter haben muss wie laufende Leistungen. Es muss sich also um betriebliche Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes handeln. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG liegt betriebliche Altersversorgung vor, wenn dem Arbeitnehmer aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung zugesagt werden. Die Zusage muss einem Versorgungszweck dienen und die Leistungspflicht nach dem Inhalt der Zusage durch ein im Gesetz genanntes biologisches Ereignis, nämlich Alter, Invalidität oder Tod ausgelöst werden. Die Risikoübernahme muss in einer Versorgung bestehen, wobei Versorgung alle Leistungen sind, die den Lebensstandard des Arbeitnehmers oder seiner Hinterbliebenen für den Versorgungsfall verbessern sollen. Der Versorgungszweck muss die Leistungen und deren Regelung prägen. Das Sterbegeld erfüllt diese Voraussetzungen nicht, denn es soll nicht den Wegfall von Arbeitseinkommen nach Eintritt des Versorgungsfalls – hier Tod – kompensieren, sondern dient typischerweise der Deckung eines anlassbezogenen Aufwandes wie zB der Beerdigungskosten (vgl. BAG 20. März 2018 – 3 AZR 519/16 – Rn. 18, 23; im Ergebnis ebenso BAG 10. Februar 2009 – 3 AZR 653/07 – Rn. 19; 19. September 2006 – 1 ABR 58/05 – Rn. 24; 10. August 1993 – 3 AZR 185/93 – zu 2 c der Gründe).
118
(2) Die Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG sind daher nicht erfüllt, soweit die BVV-Rente der Klägerin auf dem Tarif B beruht. Denn dort ist in § 34 Abs. 2 der Versicherungsbedingungen die Verwendung von Überschussanteilen für Sterbegeld vorgesehen. Die Bestimmung ist auch nicht unwirksam. Insbesondere kommt § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG nicht als Unwirksamkeitsgrund in Betracht, da er lediglich die Voraussetzungen für den Ausschluss der Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG regelt, nicht jedoch selber rechtliche Anforderungen an Versicherungsbedingungen bestimmt.
119
(3) Nach den bisherigen Feststellungen ist unklar, inwieweit die BVV-Rente der Klägerin sich nach Tarif B des BVV richtet. Hierzu bedarf es eines weiteren Vortrags der Beklagten. Sollte die BVV-Rente trotz ihrer einheitlichen Zahlung ohne Weiteres anteilig dem Tarif B und dem Tarif DA zugeordnet werden können, entfiele – soweit die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind – nur für den dem Tarif DA zurechenbaren Teil der BVV-Rente die Anpassungsprüfungspflicht der Beklagten nach § 16 Abs. 1 BetrAVG.
120
cc) Der Vortrag der Klägerin, es seien auch die Restgutschriften für Heilverfahren aus den Überschussanteilen geleistet worden, ist unerheblich. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Gutschriften eine Invaliditätsversorgung iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG darstellen. Sie sind jedenfalls in den maßgeblichen vertraglichen Regelungen nicht vorgesehen. Dies ist von der Klägerin gegenüber dem BVV geltend zu machen. Im Verhältnis zur Beklagten kommt es allein auf die vertragliche Situation an.
121
3. Sollte das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis kommen, dass nach der geltenden Fassung von § 16 Satz 3 Nr. 2 BetrAVG die Klage ganz oder teilweise unbegründet ist, weil die Anpassungsprüfungspflicht der Beklagten entfiele – wirtschaftliche Gründe iSd. § 16 Abs. 1 BetrAVG, die einer Anpassung entgegenstehen, hat die Beklagte nicht vorgetragen – hätte das Landesarbeitsgericht sich mit der Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auseinanderzusetzen, ob dieses Ergebnis mit höherrangigem Recht vereinbar ist.
122
a) Die derzeitige Fassung des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG beruht auf dem EU-Mobilitäts-Umsetzungsgesetz. Mit Wirkung ab dem 31. Dezember 2015 wurde das dort vorhandene Tatbestandsmerkmal „und zur Berechnung der garantierten Leistung der nach § 65 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Versicherungsaufsichtsgesetzes festgesetzte Höchstzinssatz zur Berechnung der Deckungsrückstellung nicht überschritten wird“ gestrichen. Dieses Tatbestandsmerkmal bewirkte, dass § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG die Anpassungsprüfungspflicht nach § 16 Abs. 1 BetrAVG nicht für laufende Versorgungsleistungen ausschloss, die – wie im Fall der Klägerin – auf Versorgungszusagen beruhen, die vor Inkrafttreten der Deckungsrückstellungsverordnung am 16. Mai 1996 erteilt wurden (dazu ausführlich BAG 30. September 2014 – 3 AZR 617/12 – Rn. 64 ff., BAGE 149, 212).
123
Aufgrund des EU-Mobilitäts-Umsetzungsgesetzes war die Neuregelung und der damit verbundene Wegfall des genannten Tatbestandsmerkmals nicht auf Anpassungsprüfungsstichtage anwendbar, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes am 31. Dezember 2015 lagen (dazu ausführlich BAG 13. Dezember 2016 – 3 AZR 342/15 – Rn. 57 ff., BAGE 157, 230). Allerdings hat der Gesetzgeber durch Art. 1 Nr. 15 des Betriebsrentenstärkungsgesetzes mit Wirkung vom 24. August 2017 (Art. 17 Abs. 2 des Betriebsrentenstärkungsgesetzes) in § 30c Abs. 1a BetrAVG eine neue Übergangsregelung eingeführt. Danach gilt § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG auch für Anpassungszeiträume, also Anpassungsstichtage, die vor dem 1. Januar 2016 liegen, soweit der Versorgungsberechtigte nicht vor dem 1. Januar 2016 Klage erhoben hat. Dies hat die Klägerin nicht getan, sodass nach der aktuellen gesetzlichen Regelung § 16 Abs. 3 Nr. 2 in der derzeit geltenden Fassung Anwendung findet. Ihr kommt damit nicht mehr zugute, dass ihre Versorgungszusage aus der Zeit vor dem 16. Mai 1996 stammt.
124
b) Die Klägerin hat geltend gemacht, dass die Neuregelung von § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG durch das EU-Mobilitäts-Umsetzungsgesetz erfolgt sei. Dieses habe der Umsetzung der RL 2014/50/EU (ABl. EU L 128 vom 30. April 2014 S. 1) gedient. Da sich die Übergangsvorschrift des § 30c Abs. 1a BetrAVG auf die Neuregelung im EU-Mobilitäts-Umsetzungsgesetz beziehe, liege ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie vor. Danach darf die Umsetzung dieser Richtlinie auf keinen Fall zum Anlass genommen werden, in den Mitgliedstaaten bestehende Rechte auf Erwerb und Wahrung von Zusatzrenten einzuschränken. Träfe die Sichtweise der Klägerin zu, wäre erst Recht die Streichung des für sie günstigen Tatbestandsmerkmals über den Rechnungszins, der den in der Deckungsrückstellungsverordnung vorgesehenen nicht überschreiten darf, ein Verstoß gegen dieses Verschlechterungsverbot. Das beträfe alle Klageanträge.
125
Zudem rügt die Klägerin, dass § 30c Abs. 1a BetrAVG gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstieße. Dies beträfe lediglich die Zahlungsanträge, nicht jedoch den Feststellungsantrag, weil für Anpassungsstichtage ab dem 31. Dezember 2015 die Vorschrift des § 16 Abs. 3 Nr. 2 BetrAVG in seiner Neufassung unabhängig von dieser Übergangsregelung gilt.
126
c) Beim derzeitigen Stand des Verfahrens sieht der Senat von einer Stellungnahme zu den damit aufgeworfenen Fragen ab.
127
C. Das Landesarbeitsgericht wird auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben.
Zwanziger
Wemheuer
Günther-Gräff
Wischnath
Xaver Aschenbrenner
Sonstlt
Berichtigungsbeschluss vom 17.03.2020
Der Tenor des Urteils des Senats vom 10. Dezember 2019 3 AZR 122/18 wird aufgrund offensichtlicher Unrichtigkeit gemäß § 319 Abs. 1 ZPO dahingehend berichtigt, dass es statt „… die vom BVV Versicherungsverein des Bankgewerbes a.G. gezahlten 920,09 Eu-ro…“ wie folgt heißen muss:
„… die vom BVV Versicherungsverein des Bankgewerbes a.G. ge-zahlten 920,07 Euro…“.
Zwanziger Roloff Günther-Gräff |
bag_44-20 | 01.12.2020 | 01.12.2020
44/20 - Ausbildungsvergütung - Kürzung bei Teilzeit
Eine tarifliche Regelung, nach der sich die Ausbildungsvergütung von Auszubildenden in Teilzeit entsprechend der Anzahl wöchentlicher Ausbildungsstunden vergleichbarer Auszubildender in Vollzeit berechnet, verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
Die Klägerin absolviert seit dem 1. September 2017 bei der beklagten Stadt eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten mit einer gegenüber Vollzeitauszubildenden von 39 Stunden auf 30 Stunden verkürzten wöchentlichen Ausbildungszeit. Auf das Ausbildungsverhältnis findet aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes vom 13. September 2005 in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVAöD) Anwendung. Die Beklagte zahlte an die Klägerin entsprechend der verkürzten wöchentlichen Ausbildungszeit in den Monaten November 2017 bis einschließlich Februar 2019 eine im Vergleich zu Auszubildenden in Vollzeit gekürzte monatliche Ausbildungsvergütung, die im ersten Ausbildungsjahr 706,35 Euro brutto betrug. Für drei Monate je Ausbildungsjahr, in denen die Klägerin – ebenso wie Auszubildende in Vollzeit – blockweise im Umfang von wöchentlich 28 Unterrichtsstunden am Berufsschulunterricht teilnahm und von der betrieblichen Ausbildung freigestellt war, zahlte die Beklagte die Ausbildungsvergütung entsprechend ihrer Teilzeit fort.
Mit der Klage begehrt die Klägerin die Differenz zur Vergütung eines Auszubildenden in Vollzeit. Sie hat die Auffassung vertreten, der TVAöD sehe bei Verringerung der wöchentlichen Ausbildungszeit keine Kürzung der Ausbildungsvergütung vor. Die an sie gezahlte Vergütung sei zudem unangemessen niedrig. Durch die Kürzung der Ausbildungsvergütung werde sie gegenüber Vollzeitauszubildenden benachteiligt, die während des Blockunterrichts in der Berufsschule bei gleicher Unterrichtszeit die volle Ausbildungsvergütung erhielten. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung der von der Klägerin verlangten Differenzvergütung verurteilt. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Klägerin stehen die geltend gemachten Zahlungsansprüche nicht zu.
Teilzeitauszubildenden ist nach den Regelungen des TVAöD eine Ausbildungsvergütung nur in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil ihrer Ausbildungszeit an der eines vergleichbaren Auszubildenden in Vollzeit entspricht. Nach § 8 Abs. 1 iVm. § 7 Abs. 1 Satz 1 des Besonderen Teils des TVAöD (TVAöD – BT) ist die Höhe der Ausbildungsvergütung in Abhängigkeit von der Anzahl der wöchentlichen Ausbildungsstunden zu bestimmen. An Auszubildende, deren Berufsausbildung in Teilzeit durchgeführt wird, ist danach eine Ausbildungsvergütung zu zahlen, die dem Anteil ihrer Ausbildungszeit an der eines vergleichbaren Auszubildenden in Vollzeit entspricht. Dies steht im Einklang mit § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF. Bei der Ermittlung der Höhe der Ausbildungsvergütung bleiben Zeiten des Berufsschulunterrichts außer Betracht. Sind Auszubildende von der betrieblichen Ausbildung freigestellt, um ihnen die Teilnahme am Berufsschulunterricht zu ermöglichen, besteht nach § 8 Abs. 4 TVAöD – BT – entsprechend der Regelung in §§ 15, 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG aF – allein ein Anspruch auf Fortzahlung der Ausbildungsvergütung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 104/20 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 13 Sa 269/19 – | Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 19. Dezember 2019 – 13 Sa 269/19 – im Kostenausspruch und insoweit aufgehoben, als es in Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Duisburg vom 19. März 2019 – 2 Ca 1293/18 – der Klage teilweise stattgegeben hat.
2. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Duisburg vom 19. März 2019 – 2 Ca 1293/18 -wird zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
1
Die Klägerin verlangt zuletzt unter Berufung auf den Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD – BBiG), hilfsweise unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung restliches Ausbildungsentgelt für die Monate November 2017 bis einschließlich Februar 2019.
2
Die Klägerin absolviert seit dem 1. September 2017 bei der beklagten Stadt auf Grundlage eines Berufsausbildungsvertrags vom 17. Mai 2017 eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten mit einer gegenüber Vollzeitauszubildenden von 39 Stunden auf 30 Stunden verkürzten wöchentlichen Ausbildungszeit. Die Klägerin wird an vier Wochentagen in der Verwaltung der Beklagten ausgebildet, am fünften Tag im Rahmen eines in einem „Studieninstitut“ stattfindenden betrieblichen Unterrichts.
3
Auf das Ausbildungsverhältnis findet aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der Tarifvertrag für Auszubildende des öffentlichen Dienstes vom 13. September 2005 in der für den Bereich der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVAöD – BBiG) Anwendung.
4
Der Tarifvertrag vom 13. September 2005 für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD) – Allgemeiner Teil – (TVAöD – AT) in der Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 5 vom 29. April 2016 regelt ua.:
„§ 1
Geltungsbereich
(1)
Dieser Tarifvertrag gilt für
a)
Personen, die in Verwaltungen und Betrieben, die unter den Geltungsbereich des TVöD fallen, in einem staatlich anerkannten oder als staatlich anerkannt geltenden Ausbildungsberuf ausgebildet werden,
…
(3)
Soweit in diesem Tarifvertrag nichts anderes geregelt ist, gelten die jeweils einschlägigen gesetzlichen Vorschriften.“
5
Der Tarifvertrag vom 13. September 2005 für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD) – Besonderer Teil BBiG – (TVAöD – BT) idF des Änderungstarifvertrags Nr. 7 vom 29. April 2016 lautet auszugsweise:
„§ 1a
Geltungsbereich des Besonderen Teils
(1)
1 Dieser Tarifvertrag gilt nur für die in § 1 Abs. 1 des Tarifvertrages für Auszubildende des öffentlichen Dienstes (TVAöD) – Allgemeiner Teil unter Buchst. a), c) und d) aufgeführten Auszubildenden. 2 Er bildet im Zusammenhang mit dem Allgemeinen Teil des TVAöD den Tarifvertrag für die Auszubildenden des öffentlichen Dienstes nach BBiG (TVAöD – BBiG).
…
§ 7
Wöchentliche und tägliche Ausbildungszeit
(1)
1Die regelmäßige durchschnittliche wöchentliche Ausbildungszeit und die tägliche Ausbildungszeit der Auszubildenden, die nicht unter das Jugendarbeitsschutzgesetz fallen, richten sich nach den für die Beschäftigten des Ausbildenden maßgebenden Vorschriften über die Arbeitszeit. …
(3)
An Tagen, an denen Auszubildende an einem theoretischen betrieblichen Unterricht von mindestens 270 tatsächlichen Unterrichtsminuten teilnehmen, dürfen sie nicht zur praktischen Ausbildung herangezogen werden.
(4)
1Unterrichtszeiten einschließlich der Pausen gelten als Arbeitszeit. Dies gilt auch für die notwendige Wegezeit zwischen Unterrichtsort und Ausbildungsstätte, sofern die Ausbildung nach dem Unterricht fortgesetzt wird.
…
(6)
1Auszubildende dürfen nicht über die nach Absatz 1 geregelte Ausbildungszeit hinaus zu Mehrarbeit herangezogen und nicht mit Akkordarbeit beschäftigt werden. 2§§ 21, 23 JArbSchG und § 17 Abs. 3 BBiG bleiben unberührt.
…
§ 8
Ausbildungsentgelt
(1)
Das monatliche Ausbildungsentgelt beträgt:
ab
ab
1. März 2016
1. Februar 2017
im ersten Ausbildungsjahr
…
918,26 Euro
…
(2)
Das Ausbildungsentgelt ist zu demselben Zeitpunkt fällig wie das den Beschäftigten des Ausbildenden gezahlte Entgelt.
…
(4)
Ist wegen des Besuchs einer weiterführenden oder einer berufsbildenden Schule oder wegen einer Berufsausbildung in einer sonstigen Einrichtung die Ausbildungszeit verkürzt, gilt für die Höhe des Ausbildungsentgelts der Zeitraum, um den die Ausbildungszeit verkürzt wird, als abgeleistete Ausbildungszeit.“
6
Die Beklagte zahlte an die Klägerin entsprechend der verkürzten wöchentlichen Ausbildungszeit in den Monaten November 2017 bis einschließlich Februar 2019 ein im Vergleich zu Auszubildenden in Vollzeit gekürztes monatliches Ausbildungsentgelt, das im ersten Ausbildungsjahr 706,35 Euro brutto betrug. Für drei Monate je Ausbildungsjahr, in denen die Klägerin – ebenso wie Auszubildende in Vollzeit – blockweise im Umfang von wöchentlich 28 Unterrichtsstunden am Berufsschulunterricht teilnahm und von der betrieblichen Ausbildung freigestellt war, zahlte die Beklagte die Ausbildungsvergütung entsprechend ihrer Teilzeit fort.
7
Mit der Klage begehrt die Klägerin die Differenz zur Vergütung eines Auszubildenden in Vollzeit, berechnet auf Grundlage des in § 8 TVAöD – BT für das erste Ausbildungsjahr angegebenen Ausbildungsentgelts iHv. 918,26 Euro. Sie hat die Auffassung vertreten, der TVAöD sehe bei Verringerung der wöchentlichen Ausbildungszeit keine Kürzung des Ausbildungsentgelts vor. Die an sie gezahlte Vergütung sei zudem unangemessen niedrig. Durch die Kürzung des Ausbildungsentgelts werde sie gegenüber Vollzeitauszubildenden benachteiligt, die während des Blockunterrichts in der Berufsschule bei gleicher Unterrichtszeit das volle Ausbildungsentgelt erhielten.
8
Die Klägerin hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.390,56 Euro brutto zu zahlen zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus den monatlichen Differenzen seit dem Ersten eines jeden Folgemonats, beginnend mit dem 1. Dezember 2017.
9
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
10
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung der Klägerin teilweise abgeändert und die Beklagte zur Zahlung restlichen tariflichen Ausbildungsentgelts in Höhe des von der Klägerin geltend gemachten Differenzbetrags nebst Zinsen verurteilt. Im Übrigen hat es die Berufung rechtskräftig zurückgewiesen, soweit die Klägerin in den Vorinstanzen Zahlung auf vertraglicher Grundlage und die Erteilung von Abrechnungen verlangt hat. Mit der Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der vollumfänglichen Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
11
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat das die Klage insgesamt abweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Unrecht teilweise abgeändert und ihr – soweit für die Revision von Bedeutung – stattgegeben. Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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A. Die Klage ist zulässig.
13
I. § 111 Abs. 2 Satz 5 ArbGG steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Die Verhandlung vor dem Schlichtungsausschuss ist nur dann Prozessvoraussetzung für arbeitsgerichtliche Klagen in Ausbildungsstreitigkeiten (vgl. hierzu BAG 13. März 2007 – 9 AZR 494/06 – Rn. 9), wenn ein Schlichtungsausschuss besteht (BAG 17. September 1987 – 2 AZR 654/86 – zu II 1 der Gründe, BAGE 57, 179). Ein Schlichtungsausschuss ist für den Bereich des öffentlichen Dienstes des Landes Nordrhein-Westfalen nicht gebildet.
14
II. Die Klägerin verfolgt ihr Klagebegehren nicht im Wege einer unzulässigen alternativen Klagehäufung.
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1. Eine alternative Klagehäufung, bei der die Klägerin ein einheitliches Klagebegehren aus mehreren prozessualen Ansprüchen (Streitgegenständen) herleitet und dem Gericht die Auswahl überlässt, auf welchen Klagegrund es die Verurteilung stützt, verstößt grundsätzlich gegen das Gebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, den Klagegrund bestimmt zu bezeichnen. Die Klägerin muss daher eine Rangfolge bilden, um zu vermeiden, dass die Klage als unzulässig abgewiesen wird. Das kann auch konkludent geschehen (BAG 2. August 2018 – 6 AZR 437/17 – Rn. 18 mwN, BAGE 163, 205; BGH 21. November 2017 – II ZR 180/15 – Rn. 8).
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2. Diesen Anforderungen wird die Klage gerecht.
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a) Die Klägerin hat ihr Leistungsbegehren aus mehreren prozessualen Ansprüchen hergeleitet und damit mehrere Streitgegenstände zu Entscheidung gestellt (vgl. hierzu im Einzelnen BAG 2. August 2018 – 6 AZR 437/17 – Rn. 20 ff. mwN, BAGE 163, 205). Sie hat die Klage nicht nur auf die Erfüllung des tarifvertraglichen Anspruchs aus § 8 Abs. 1 TVAöD – BT gestützt, sondern sich darüber hinaus auf eine nicht gerechtfertigte Besserstellung vergleichbarer Vollzeitauszubildender und damit auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz berufen.
18
b) Die Klägerin hat nicht unter Verstoß gegen § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO dem Gericht die Auswahl überlassen, auf welchen der beiden Klagegründe sie die Verurteilung stützt. Sie hat die beiden Streitgegenstände in ein hinreichend bestimmtes Eventualverhältnis gesetzt. Der Klagebegründung ist zu entnehmen, dass sie Differenzvergütung vorrangig auf tariflicher Grundlage und hilfsweise – für den Fall des Unterliegens – unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung verlangt.
19
III. Der Zahlungsantrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Er ist nach dem Vorbringen der Klägerin abschließend auf konkrete Vergütungsdifferenzen für die Monate November 2017 bis einschließlich Februar 2019 gerichtet und nicht nur auf einen Teil hiervon. Die Klage ist dementsprechend als abschließende Gesamtklage zu verstehen (vgl. BAG 12. Dezember 2018 – 5 AZR 588/17 – Rn. 13). Den Darlegungen der Klägerin ist zu entnehmen, aus welchen Einzelforderungen sich die „Gesamtklage“ zusammensetzt (hierzu BAG 19. März 2014 – 7 AZR 480/12 – Rn. 11).
20
B. Die Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Differenzvergütung.
21
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe Anspruch auf die von ihr verlangte Differenzvergütung, weil das in § 8 TVAöD – BT vorgesehene Ausbildungsentgelt im Fall einer Teilzeitausbildung in ungekürzter Höhe zu zahlen sei. Der Tarifvertrag setze keine bestimmte wöchentliche oder monatliche Ausbildungszeit voraus. Dies bestätige § 7 TVAöD – BT, wonach auch Vollzeitauszubildende mit unterschiedlicher Ausbildungszeit dasselbe Ausbildungsentgelt erhielten. Das Schweigen des Tarifvertrags zur Höhe des Ausbildungsentgelts von Auszubildenden in Teilzeit sei beredt, denn dieselben Tarifvertragsparteien hätten in § 24 Abs. 2 TVöD eine Kürzung des Entgelts von Teilzeitbeschäftigten entsprechend dem Anteil ihrer individuell vereinbarten durchschnittlichen Arbeitszeit an der regelmäßigen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter vereinbart. Gegen eine Kürzung des Ausbildungsentgelts spreche zudem, dass Teilzeitauszubildende im gleichen zeitlichen Umfang wie Vollzeitauszubildende zur Teilnahme am Berufsschulunterricht verpflichtet seien und eine rein proportionale Kürzung der Funktion des Ausbildungsentgelts nicht gerecht werde.
22
II. Diese Begründung hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die zutreffende Auslegung von § 8 Abs. 1 TVAöD – BT ergibt, dass die Höhe des Ausbildungsentgelts in Abhängigkeit von der Anzahl der wöchentlichen Ausbildungsstunden zu bestimmen ist. Die entgegenstehende Annahme des Landesarbeitsgerichts berücksichtigt § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT und den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unzureichend.
23
1. Auf das Ausbildungsverhältnis findet nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts der TVAöD – BBiG kraft vertraglicher Bezugnahme Anwendung.
24
2. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. Die Auslegung der Tarifnorm durch das Landesarbeitsgericht ist in der Revisionsinstanz in vollem Umfang nachprüfbar (st. Rspr., vgl. nur BAG 11. November 2020 – 4 AZR 210/20 – Rn. 20 f.).
25
3. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist Teilzeitauszubildenden nach § 8 Abs. 1 TVAöD – BT eine Ausbildungsvergütung in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil ihrer Ausbildungszeit an der eines vergleichbaren Auszubildenden in Vollzeit entspricht. Allein anhand des Wortlauts von § 8 Abs. 1 TVAöD – BT kann zwar nicht eindeutig bestimmt werden, von welcher wöchentlichen Ausbildungszeit die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung des Ausbildungsentgelts ausgegangen sind. § 8 Abs. 1 TVAöD – BT regelt die Höhe des Ausbildungsentgelts und trifft – für sich betrachtet – keine Aussage zu dem Umfang der wöchentlichen Ausbildungszeit, die den Entgeltsätzen zugrunde liegt. Der Inhalt dieser Bestimmung erschließt sich jedoch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang und dem Gebot der gesetzeskonformen Auslegung von Tarifverträgen.
26
a)§ 8 Abs. 1 TVAöD – BT unmittelbar vorangestellt ist die Regelung der wöchentlichen und täglichen Ausbildungszeit in § 7 Abs. 1 TVAöD – BT. Daraus ergibt sich, dass die in § 8 Abs. 1 TVAöD – BT angegebenen Entgeltsätze eine Ausbildung in Vollzeit mit einer regelmäßigen Arbeitszeit voraussetzen, die nach den Reglungen des TVöD der von in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmern des Ausbildenden entspricht.
27
aa) § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT verweist für die regelmäßige wöchentliche Ausbildungszeit und die tägliche Ausbildungszeit der Auszubildenden, die nicht unter das Jugendarbeitsschutzgesetz fallen, auf die für die Beschäftigten des Ausbildenden maßgebenden Vorschriften über die Arbeitszeit. Verwiesen ist damit auf die Arbeitszeit der in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer. Wollte man § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT dahingehend verstehen, dass sowohl auf das Arbeitszeitvolumen von Vollzeitbeschäftigten als auch auf das von Teilzeitbeschäftigten Bezug genommen werde, käme der Verweisung kein Regelungsgehalt zu. Die regelmäßige wöchentliche und die tägliche Ausbildungszeit der Auszubildenden wäre angesichts der Vielzahl möglicher Teilzeitvarianten, die mit den Beschäftigten des Ausbildenden vereinbart werden können, nicht feststellbar. Es fehlte an einer Bezugsgröße.
28
bb) Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts kann anhand der Verweisung auch der Umfang der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten mit Bestimmtheit ermittelt werden. Bei der Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT ist der Anwendungsbereich der Bestimmung zu berücksichtigen. Nach § 1a Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT iVm. § 1 Abs. 1 Buchst. a) TVAöD – AT gilt der TVAöD – BT für Personen, die in Verwaltungen und Betrieben, die unter den Geltungsbereich des TVöD fallen, in einem staatlich anerkannten oder als staatlich anerkannt geltenden Ausbildungsberuf ausgebildet werden. Die Verweisung in § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT bezieht sich danach auf die „Vorschriften über die Arbeitszeit“ im Geltungsbereich des TVöD. Für die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten mit § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT auf vom TVöD abweichende „Vorschriften“ Bezug nehmen wollen, ergeben sich aus dem TVAöD – BBiG keinerlei Anhaltspunkte. Im Streitzeitraum betrug die regelmäßige Arbeitszeit der Beschäftigten der Mitglieder eines Mitgliedverbandes der VKA im Tarifgebiet West – zu denen die Beklagte gehört – nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) TVöD ausschließlich der Pausen durchschnittlich 39 Stunden wöchentlich.
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b) § 8 Abs. 1 TVAöD – BT verlangt, um ein gleichwertiges Ausbildungsentgelt für alle Auszubildenden zu gewährleisten, in Fällen der Teilzeitausbildung eine am Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG orientierte Umrechnung der in § 8 Abs. 1 TVAöD – BT genannten Entgeltbeträge unter Berücksichtigung der vereinbarten Ausbildungszeit. Dies ordnet die Bestimmung zwar nicht ausdrücklich an. Ein entsprechendes Verständnis folgt jedoch aus dem Gebot der gesetzeskonformen Auslegung von Tarifverträgen, dem zufolge Tarifnormen, soweit sie dies zulassen, grundsätzlich so auszulegen sind, dass sie nicht im Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen und damit Bestand haben (st. Rspr., vgl. BAG 20. November 2019 – 5 AZR 39/19 – Rn 27; 20. November 2018 – 9 AZR 349/18 – Rn. 20; 21. März 2018 – 5 AZR 862/16 – Rn. 30, BAGE 162, 144; 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 18). Dementsprechend ist, wenn möglich, eine mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG im Einklang stehende Auslegung vorzunehmen.
30
aa) Der allgemeine Gleichheitssatz, der es gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (BVerfG 3. Juli 2014 – 2 BvL 25/09, 2 BvL 3/11 – Rn. 35 mwN zur st. Rspr.; BAG 6. Januar 2015 – 6 AZB 105/14 – Rn. 15, BAGE 150, 246), bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifregelungen ist die Durchsetzung zu verweigern, wenn sie zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen (vgl. hierzu BAG 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47; 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 23 ff.; 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 18; 21. März 2018 – 5 AZR 862/16 – Rn. 31, BAGE 162, 144).
31
bb) Unter Beachtung von Art. 3 Abs. 1 GG ist als Berechnungsbasis für das nach § 8 Abs. 1 TVAöD – BT zu zahlende Ausbildungsentgelt die Ausbildungszeit von Auszubildenden in Vollzeit zugrunde zu legen und an Auszubildende in Teilzeit ein Ausbildungsentgelt nur in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil ihrer Ausbildungszeit an der eines vergleichbaren Auszubildenden in Vollzeit entspricht. Dieses Normverständnis vermeidet eine Schlechterstellung von Vollzeitauszubildenden gegenüber Teilzeitauszubildenden sowie Verzerrungen und Zufallsergebnisse bei der Bemessung des Ausbildungsentgelts, die mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar wären. Bliebe die vereinbarte wöchentliche Ausbildungszeit unberücksichtigt, führte dies dazu, dass der von Auszubildenden geleistete Beitrag zur betrieblichen Wertschöpfung, den das Ausbildungsentgelt ua. honorieren soll (vgl. zu § 17 Abs. 1 BBiG aF: BAG 16. Mai 2017 – 9 AZR 377/16 – Rn. 13; 29. April 2015 – 9 AZR 108/14 – Rn. 15; 17. März 2015 – 9 AZR 732/13 – Rn. 13 mwN), nicht einheitlich bewertet würde, denn die „Entlohnung“ der Leistungen des Auszubildenden je Zeiteinheit würde umso höher ausfallen, je geringer der Umfang der individuell vereinbarten Ausbildungszeit ist. Dieses Ergebnis wäre unter keinem Gesichtspunkt sachlich zu rechtfertigen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifvertragsparteien bei einem ungleichen Umfang der Ausbildungszeit die gleiche Vergütung vorsehen wollten.
32
c) Auszubildende in Teilzeit werden gegenüber vergleichbaren Auszubildenden in Vollzeit auch nicht dadurch unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG benachteiligt, dass § 8 Abs. 1 TVAöD – BT iVm. § 8 Abs. 4 TVAöD – BT bei der Ermittlung der Höhe der Ausbildungsvergütung außer Betracht lässt, dass Teilzeitauszubildende im gleichen zeitlichen Umfang wie Vollzeitauszubildende zur Teilnahme am Berufsschulunterricht verpflichtet sind. § 8 Abs. 1 TVAöD – BT beachtet die den Tarifvertragsparteien durch Art. 3 Abs. 1 GG gesetzten Grenzen (vgl. hierzu Rn. 30 sowie im Einzelnen BAG 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47). Die aus der Verpflichtung zum Besuch der Berufsschule resultierende faktische Mehrbelastung von Teilzeitauszubildenden beruht nicht auf dem vertraglichen Rechtsverhältnis von Ausbildendem und Auszubildenden. Sie ist deshalb bei der Bemessung des Ausbildungsentgelts nach § 8 Abs. 1 TVAöD – BT nicht vergütungserhöhend zu berücksichtigen.
33
aa) Gemäß § 8 Abs. 4 TVAöD – BT gilt für die Höhe des Ausbildungsentgelts der Zeitraum, um den die Ausbildungszeit wegen des Besuchs einer berufsbildenden Schule verkürzt wird, als abgeleistete Ausbildungszeit. Danach besteht für Auszubildende, wenn sie von der betrieblichen Ausbildung freigestellt sind, um ihnen die Teilnahme am Berufsschulunterricht zu ermöglichen, allein ein Anspruch auf Fortzahlung der Ausbildungsvergütung. Darüberhinausgehende Zeiten des Berufsschulunterrichts bleiben bei der Bemessung der Ausbildungsvergütung außer Betracht. § 8 Abs. 4 TVAöD – BT vollzieht damit die Regelungen des Berufsausbildungsgesetzes in §§ 15, 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG in der am 1. April 2005 in Kraft getretenen, bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung vom 23. März 2005 (BGBl. I S. 931; im Folgenden aF) nach, die vorsehen, dass Auszubildende für die Teilnahme am Berufsschulunterricht und an Prüfungen freizustellen sind und ihnen die Vergütung für die Zeit der Freistellung fortzuzahlen ist.
34
bb) Das Berufsbildungsgesetz geht bei der rechtlichen Ordnung der Berufsausbildung von einem dualen System aus, das durch ein Zusammenwirken von betrieblicher und schulischer Ausbildung gekennzeichnet ist (vgl. BAG 17. März 1982 – 5 AZR 818/79 – zu II 2 der Gründe, BAGE 38, 182). Die Tarifvertragsparteien des TVAöD – BBiG haben sich, wie ua. die Regelungen in § 7 Abs. 3 und Abs. 4 TVAöD – BT sowie § 8 Abs. 4 TVAöD – BT belegen, an der dualen Grundstruktur der Berufsausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz orientiert.
35
cc) Für die Annahme, die Tarifvertragsparteien seien verpflichtet, die Mehrbelastung von Teilzeitauszubildenden durch den Besuch der Berufsschule bei der Bemessung des Ausbildungsentgelts zu berücksichtigen, fehlt es an einer rechtlichen Grundlage. Der Unterricht in den berufsbildenden Schulen vollzieht sich außerhalb des (privatrechtlichen) Ausbildungsverhältnisses. Die schulische und die praktische Berufsausbildung im dualen System sind selbständige Bereiche (vgl. BAG 26. September 2002 – 6 AZR 486/00 – zu 2 b cc der Gründe, BAGE 103, 41). Die schulische Ausbildung erfolgt neben der betrieblichen Ausbildung. Besucht der Auszubildende die Berufsschule, ist der schulische und nicht der betriebliche Bereich der Berufsausbildung betroffen (vgl. BAG 25. Juli 2002 – 6 AZR 381/00 – zu B I 2 c bb der Gründe). Die Ausbildung in den berufsbildenden Schulen regeln die Schulgesetze der Länder und nicht das Berufsbildungsgesetz (vgl. § 3 Abs. 1 BBiG aF). Der Ausbildende hat auf deren Inhalt und Umfang keinen Einfluss. Sie ist von ihm nicht veranlasst (vgl. zu § 10 Abs. 3 TVAöD – BT BAG 22. Dezember 2009 – 3 AZR 936/07 – Rn. 16, 27, BAGE 133, 62).
36
(1) Der Ausbildende hat den Auszubildenden zwar zum Besuch der Berufsschule anzuhalten und ihn für den Unterricht freizustellen (vgl. § 14 Abs. 1 Nr. 4, § 15 Abs. 1 Nr. 1 BBiG aF). Vergütungspflichten, die über die in § 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG aF geregelte Entgeltfortzahlung hinausgehen, treffen ihn in Bezug auf die schulische Ausbildung jedoch nicht. Die gesetzliche Verpflichtung des Ausbilders zur Fortzahlung der Vergütung für Zeiten, in denen die betriebliche Ausbildung wegen Freistellung zur Teilnahme am Berufsschulunterricht ausfällt (§§ 15, 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG aF) soll Auszubildende (allein) davor schützen, dass ihnen durch die Teilnahme am Berufsschulunterricht Entgelteinbußen im Rahmen des (privatrechtlichen) Ausbildungsverhältnisses entstehen.
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(2) § 8 Abs. 4 TVAöD – BT führt auch nicht zu einer gleichheitswidrigen Überkompensation (vgl. hierzu BAG 20. September 2017 – 10 AZR 610/15 – Rn. 20; 3. September 2014 – 5 AZR 6/13 – Rn. 25 mwN, BAGE 149, 69; 13. April 2011 – 10 AZR 88/10 – Rn. 23 mwN, BAGE 137, 339) der Belastungen, die Auszubildenden in Vollzeit durch die schulische Ausbildung entstehen, weil an diese das Ausbildungsentgelt in voller Höhe der in § 8 Abs. 1 TVAöD – BT angegebenen Entgeltbeträge fortgezahlt wird. § 8 Abs. 4 TVAöD – BT beschränkt die Freistellung von der betrieblichen Ausbildung zur Teilnahme am Berufsschulunterricht und die für diesen Zeitraum zu leistende Entgeltfortzahlung – wie die gesetzliche Regelung in §§ 15, 19 Abs. 1 Nr. 1 BBiG aF – auf die Ausfallzeiten, die durch die schulische Ausbildung verursacht sind. Sie umfassen notwendigerweise Zeiträume, in denen der Auszubildende zwar nicht am Berufsschulunterricht teilnehmen muss, aber wegen des Schulbesuchs aus tatsächlichen Gründen gehindert ist, im Ausbildungsbetrieb an der betrieblichen Ausbildung teilzunehmen. Dies betrifft insbesondere die Zeiten des notwendigen Verbleibs an der Berufsschule während der unterrichtsfreien Zeit und die notwendigen Wegezeiten zwischen Berufsschule und Ausbildungsbetrieb (vgl. BAG 26. März 2001 – 5 AZR 413/99 – zu II 3 und 4 der Gründe).
38
d) Das Fehlen einer § 24 Abs. 2 TVöD entsprechenden Reglung im TVAöD – BBiG steht einer am Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG orientierten Auslegung des § 8 Abs. 1 TVAöD – BT nicht entgegen. Nach § 24 Abs. 2 TVöD erhalten Teilzeitbeschäftigte das Tabellenentgelt und alle sonstigen Entgeltbestandteile in dem Umfang, der dem Anteil ihrer individuell vereinbarten durchschnittlichen Arbeitszeit an der regelmäßigen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht. Es kann dahinstehen, ob diese Bestimmung zur Auslegung von § 8 Abs. 1 TVAöD – BT herangezogen werden kann. § 24 Abs. 2 TVöD ordnet lediglich eine Gleichbehandlung von teilzeit- und vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern beim Arbeitsentgelt nach Maßgabe des in § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG gesetzlich normierten sog. Pro-rata-temporis-Grundsatzes an (BAG 24. September 2008 – 10 AZR 638/07 – Rn. 14) und konkretisiert damit insoweit das in § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG geregelte allgemeine Verbot der Diskriminierung von in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmern (BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 32 mwN). Gleichzeitig normiert die Bestimmung den im Arbeitsrecht ohnehin geltenden allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (vgl. ErfK/Preis 21. Aufl. TzBfG § 4 Rn. 8), der als privatrechtliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Schaub ArbR-HdB/Linck 18. Aufl. § 112 Rn. 1) inhaltlich durch Art. 3 Abs. 1 GG bestimmt wird (BAG 19. September 2017 – 9 AZR 36/17 – Rn. 25). § 1 Abs. 3 TVAöD – AT ordnet an, dass die jeweils einschlägigen gesetzlichen Vorschriften gelten, soweit der Tarifvertrag nichts Abweichendes regelt. Zu diesen gesetzlichen Vorschriften gehört auch Art. 3 Abs. 1 GG. Einer ausdrücklichen Umrechnungsanordnung im Tarifvertrag bedurfte es deshalb nicht.
39
e) Die Bemessung der Ausbildungsvergütung gemäß § 8 Abs. 1 TVAöD – BT nach dem Pro-rata-temporis-Grundsatz steht im Einklang mit § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF.
40
aa) Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF haben Auszubildende Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Eine Vereinbarung, die zuungunsten Auszubildender von den Vorschriften des zweiten Teils des Berufsbildungsgesetzes abweicht, ist nach § 25 BBiG aF nichtig. Ausnahmen hiervon sieht das BBiG nicht vor. Abweichungen von § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF zuungunsten des Auszubildenden sind daher auch dann unzulässig, wenn sie in Tarifverträgen vereinbart werden (vgl. Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 18. Aufl. § 174 Rn. 1).
41
bb) § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF verlangt auch unter Berücksichtigung der Gesetzesgeschichte nicht, dass Teilzeitauszubildende eine Ausbildungsvergütung in derselben Höhe erhalten wie Vollzeitauszubildende.
42
(1) Das Berufsbildungsgesetz aF bestimmt – im Gegensatz zu § 17 Abs. 5 BBiG in der am 1. Januar 2020 in Kraft getretenen Neufassung des Gesetzes vom 4. Mai 2020 – weder in § 17 BBiG aF noch an anderer Stelle, wie die angemessene Vergütung von Auszubildenden zu bemessen ist, deren wöchentliche Ausbildungszeit im Vergleich zu Vollzeitauszubildenden verkürzt ist. Für die Beurteilung der Angemessenheit der an Auszubildende in Teilzeit zu zahlenden Ausbildungsvergütung gelten damit die allgemeinen Grundsätze des § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF.
43
(2) Mit § 8 Abs. 1 Satz 2 BBiG aF sah das Berufsausbildungsgesetz erstmals eine Ausbildung in Teilzeit vor. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollte damit Ausbildungswilligen, die sich – zB wegen der Betreuung eines eigenen Kindes oder eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen – in einer besonderen Lebenslage befinden, eine Berufsausbildung ermöglicht werden (vgl. BT – Drs. 15/4752 S. 35; vgl. auch zur Neufassung des BBiG BT – Drs. 19/10815 S. 55). Anhaltspunkte dafür, dass mit § 8 Abs. 1 Satz 2 BBiG aF gleichzeitig die Vergütung von Auszubildenden in Teilzeit dergestalt geregelt werden sollte, dass die von Auszubildenden in Vollzeit nicht unterschritten werden darf, ergeben sich weder aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck noch aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte des Berufsbildungsgesetzes in der Fassung vom 23. März 2005 (aA Hergenröder in Benecke/Hergenröder BBiG 1. Aufl. § 8 Rn. 15; vgl. zum Streitstand auch Malottke ZRP 2019, 142, 144 mwN). Im Gegenteil spricht § 17 Abs. 3 BBiG aF dafür, dass nach der Intention des Gesetzgebers die Höhe der Ausbildungsvergütung von Vollzeitauszubildenden und von Teilzeitauszubildenden – vorbehaltlich zulässiger abweichender vertraglicher oder kollektiver Vereinbarungen – regelmäßig unter Berücksichtigung der Anzahl der wöchentlichen Ausbildungsstunden zu bestimmen ist. Nach § 17 Abs. 3 BBiG aF ist eine über die vereinbarte regelmäßige tägliche Ausbildungszeit hinausgehende Beschäftigung besonders zu vergüten oder durch die Gewährung entsprechender Freizeit auszugleichen. Verlangte das Gesetz, an Vollzeit- und Teilzeitausbildende die gleiche Ausbildungsvergütung zu zahlen, hätte dies zur Folge, dass die Ausbildungsvergütung von Teilzeitauszubildenden, wenn sie über die vertraglich vereinbarte regelmäßige tägliche Ausbildungszeit hinaus, aber in geringem Umfang als Vollzeit (39 Wochenstunden) beschäftigt werden, nicht nur die gleiche Ausbildungsvergütung wie Auszubildende in Vollzeit erhielten, sondern – trotz einer (immer noch) unterhalb von 39 Wochenstunden liegenden Beschäftigungszeit – neben der Ausbildungsvergütung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 BBiG aF eine zusätzliche Vergütung iSv. § 17 Abs. 3 BBiG aF und damit eine höhere (Gesamt)Ausbildungsvergütung als Vollzeitauszubildende. Diese würde zudem umso höher ausfallen, je geringer der Umfang des wöchentlichen Ausbildungsvolumens nach der Teilzeitabrede ist. Von einer derartigen Regelungsabsicht des Gesetzgebers kann nicht ausgegangen werden.
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(3) Einer Bestimmung der Höhe der Ausbildungsvergütung in Abhängigkeit von der Anzahl der wöchentlichen Ausbildungsstunden steht Sinn und Zweck der Ausbildungsvergütung nach § 17 Abs. 1 BBiG aF nicht entgegen. Die Ausbildungsvergütung hat danach regelmäßig drei Funktionen. Sie soll Auszubildende und ihre unterhaltsverpflichteten Eltern bei der Lebenshaltung finanziell unterstützen, die Heranbildung eines ausreichenden Nachwuchses an qualifizierten Fachkräften gewährleisten und die Leistungen Auszubildender in gewissem Umfang „entlohnen“. Bei der Ermittlung der angemessenen Vergütung sind alle drei Funktionen zu berücksichtigen (st. Rspr., zuletzt BAG 16. Mai 2017 – 9 AZR 377/16 – Rn. 13; 29. April 2015 – 9 AZR 108/14 – Rn. 15; 17. März 2015 – 9 AZR 732/13 – Rn. 13 mwN). Von einer den Vorgaben des § 17 Abs. 1 BBiG aF entsprechenden Berücksichtigung des Zwecks der Ausbildungsvergütung ist jedenfalls dann auszugehen, wenn ihre drei Funktionen bei der Bemessung gleichrangig gewichtet werden, und die je Zeiteinheit zu zahlende Ausbildungsvergütung angemessen ist. Diesen Anforderungen genügt die ratierliche Kürzung der in § 8 Abs. 1 TVAöD – BT genannten Entgeltbeträge unter Berücksichtigung der mit Auszubildenden in Teilzeit vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Ausbildungszeit. Sie führt zu einer gleichrangigen Gewichtung der Funktionen der Ausbildungsvergütung. Das bei einer Kürzung nach § 8 Abs. 1 iVm. § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT Teilzeitauszubildenden verbleibende Ausbildungsentgelt ist auch angemessen iSv. § 17 Abs. 1 BBiG aF.
45
(a) § 17 Abs. 1 BBiG aF ist eine Rahmenvorschrift. Die Bestimmung legt den Maßstab für die Angemessenheit der Ausbildungsvergütung nicht selbst fest (BAG 29. April 2015 – 9 AZR 108/14 – Rn. 12; 22. Januar 2008 – 9 AZR 999/06 – Rn. 32, BAGE 125, 285; vgl. auch BT-Drs. V/4260 S. 9). Den Tarifvertragsparteien steht als selbstständigen Grundrechtsträgern bei der Festsetzung des Ausbildungsentgelts aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. hierzu BAG 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47 mwN). Diesen Spielraum haben die Tarifvertragsparteien des TVAöD – BBiG gewahrt. Das Landesarbeitsgericht lässt bei der Bewertung, das proportional zur verkürzten Ausbildungszeit verringerte tarifliche Ausbildungsentgelt von Teilzeitauszubildenden sei unangemessen niedrig, außer Acht, dass Tarifnormen als Ergebnisse kollektiv ausgehandelter Tarifvereinbarungen die Vermutung der Angemessenheit für sich haben. Für die Gesamtheit der Regelungen eines Tarifvertrags ist zu vermuten, dass die divergierenden Interessen angemessen ausgeglichen werden (vgl. BAG 7. Juli 2020 – 9 AZR 323/19 – Rn. 22; 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 15; 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 29, BAGE 148, 139). Eine tarifliche Ausbildungsvergütung gilt deshalb, wenn das Ausbildungsverhältnis, in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fällt und dieser für den Ausbildenden gelten würde, wenn er gemäß § 3 TVG tarifgebunden wäre, stets als angemessen (BAG 29. April 2015 – 9 AZR 108/14 – aaO; 26. März 2013 – 3 AZR 89/11 – Rn. 11 mwN).
46
(b) Unabhängig davon gibt es keinerlei Anhaltspunkte, die gegen die Angemessenheit des an Teilzeitauszubildende nach § 8 Abs. 1 TVAöD – BT zu zahlenden Ausbildungsentgelts iSv. § 17 Abs. 1 BBiG aF sprechen. Das ratierlich gekürzte Ausbildungsentgelt ist – entgegen dem Einwand des Klägers – geeignet Auszubildende und ihre unterhaltsverpflichteten Eltern bei der Lebenshaltung hinreichend finanziell zu unterstützen. Es leistet einen erheblichen Beitrag zum Lebensunterhalt Auszubildender, wenn die Ausbildung in Teilzeit – wie es die nach § 8 Abs. 1 und Abs. 3 BBiG aF erforderliche Zustimmung der zuständigen Stelle zur Verkürzung der Ausbildungszeit voraussetzte – mit einer orientiert am Ausbildungsziel sinnvoll verkürzten wöchentlichen Ausbildungsbildungszeit (vgl. hierzu Hergenröder in Benecke/Hergenröder BBiG 1. Aufl. § 8 Rn. 13; zur Neufassung des BBiG: Hergenröder in Benecke/Hergenröder BBiG 2. Aufl. § 7a Rn. 2) absolviert wird. Im Gegensatz zu den Leistungen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), die sich mit den in §§ 12 ff. BAföG aF festgelegten Sätzen an dem Bedarf des Auszubildenden orientieren und dementsprechend für den Lebensunterhalt und die Ausbildung geleistet werden (§ 11 Abs. 1 BAföG aF), hat die Ausbildungsvergütung nach § 17 Abs. 1 BBiG aF nur eine Unterstützungsfunktion. Sie soll den Bedarf nicht vollständig decken (vgl. BAG 17. März 2015 – 9 AZR 732/13 – Rn. 21). Die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz können deshalb nur in Sonderkonstellationen, in denen ein Rückgriff auf tarifliche Regelungen ausscheidet, zur Beurteilung der Frage, ob die vereinbarte Ausbildungsvergütung, wenn sie deutlich unterhalb des Regelsatzes nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BAföG aF liegt, (noch) einen erheblichen Beitrag zum Lebensunterhalt darstellt, als ergänzende Orientierungshilfe herangezogen werden (vgl. zur Bewertung außertariflicher Abreden in Sonderfällen BAG 17. März 2015 – 9 AZR 732/13 – Rn. 15).
47
f) Soweit das Landesarbeitsgericht auf die Tarifgeschichte abstellt, rechtfertigt auch dies keine andere Auslegung von § 8 Abs. 1 TVAöD – BT. Die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags ist nur ergänzend heranzuziehen, wenn die Auslegung nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Gesamtzusammenhang der Tarifvorschrift nicht zu einem zweifelsfreien Auslegungsergebnis führt (BAG 10. März 2020 – 9 AZR 109/19 – Rn. 18). Wegen der weitreichenden Wirkung von Tarifnormen auf die Rechtsverhältnisse Dritter, die an den Tarifvertragsverhandlungen nicht beteiligt waren, kann der Wille der Tarifvertragsparteien im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nur ausnahmsweise dann berücksichtigt werden, wenn er in den tariflichen Normen unmittelbar seinen Niederschlag gefunden hat (BAG 10. Dezember 2014 – 4 AZR 503/12 – Rn. 22, BAGE 150, 184). Das ist hier nicht der Fall. Der in § 8 Abs. 1 iVm. § 7 Abs. 1 Satz 1 TVAöD – BT zum Ausdruck kommende Wille der Tarifvertragsparteien lässt eine zweifelsfreie Auslegung zu.
48
III. Die angefochtene Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 561 ZPO). Der Senat kann nach § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst abschließend entscheiden, weil die für eine Endentscheidung erforderlichen Feststellungen getroffen sind. Die Klage unterliegt danach insgesamt der Abweisung.
49
1. Die Beklagte hat den Anspruch der Klägerin gemäß § 8 TVAöD – BT auf Zahlung des tariflichen Ausbildungsentgelts, berechnet auf Basis einer von 39 Stunden auf 30 Stunden verkürzten wöchentlichen Ausbildungszeit, für die Monate November 2017 bis Februar 2019 erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB). Dies steht zwischen den Parteien außer Streit.
50
2. Die Klage ist schließlich nicht begründet, soweit die Klägerin die Klageforderung hilfsweise auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützt.
51
a) Der Senat hat über den hilfsweise geltend gemachten Anspruch zu entscheiden. Einer Anschlussrevision der Klägerin bedurfte es nicht. Ein in der Vorinstanz hilfsweise für den Fall des Unterliegens zur Entscheidung gestelltes Klagebegehren, über das nicht entschieden werden musste, fällt in der Revisionsinstanz allein dadurch an, dass der Beklagte Revision einlegt (vgl. BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 507/18 – Rn. 51; 24. Oktober 2019 – 2 AZR 101/18 – Rn. 24). Die Bedingung, unter der über das Hilfsbegehren zu entscheiden ist, ist aufgrund der abschließenden – abweisenden – Entscheidung des Senats über die tariflichen Ansprüche der Klägerin eingetreten.
52
b) Ein Anspruch der Klägerin auf Differenzvergütung folgt bereits deshalb nicht aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, weil dessen Anwendungsbereich nicht eröffnet ist. Dieser ist ein Gebot der Verteilungsgerechtigkeit, das verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart ungleich zu behandeln. Wegen seines Schutzcharakters gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift dieser Grundsatz nur dort ein, wo der Arbeitgeber durch ein gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk bzw. eine eigene Ordnung schafft, nicht hingegen bei bloßem – auch vermeintlichem – Normenvollzug (st. Rspr., vgl. nur BAG 18. November 2020 – 5 AZR 57/20 – Rn. 33; 14. März 2019 – 6 AZR 171/18 – Rn. 45 mwN, BAGE 166, 120). Die Beklagte hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts die Höhe des der Klägerin zustehenden Ausbildungsentgelts nicht auf Basis eines von ihr geschaffenen Regelwerks, sondern allein auf tariflicher Grundlage ermittelt und entsprechende Zahlungen geleistet. Dem ist die Klägerin nicht entgegengetreten.
53
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Kiel
Suckow
Weber
Vogg
Stietzel |
bag_45-19 | 11.12.2019 | 11.12.2019
45/19 - Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - Einheit des Verhinderungsfalls
Der gesetzliche Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist auch dann auf die Dauer von sechs Wochen beschränkt, wenn während bestehender Arbeitsunfähigkeit eine neue, auf einem anderen Grundleiden beruhende Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls). Ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch entsteht nur, wenn die erste krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung bereits zu dem Zeitpunkt beendet war, zu dem die weitere Erkrankung zur Arbeitsunfähigkeit führte.
Die Klägerin war bei der Beklagten bis zum 31. Juli 2017 als Fachkraft in der Altenpflege beschäftigt. Seit dem 7. Februar 2017 war sie infolge eines psychischen Leidens arbeitsunfähig. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis einschließlich 20. März 2017. Im Anschluss bezog die Klägerin auf der Grundlage von Folgebescheinigungen ihrer Hausärzte, die zuletzt am 5. Mai 2017 eine bis einschließlich 18. Mai 2017 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit attestierten, Krankengeld. Am 19. Mai 2017 unterzog sich die Klägerin wegen eines gynäkologischen Leidens einer seit längerem geplanten Operation. Ihre niedergelassene Frauenärztin bescheinigte am 18. Mai 2017 als „Erstbescheinigung“ eine Arbeitsunfähigkeit vom 19. Mai 2017 bis zum 16. Juni 2017 und durch Folgebescheinigung eine fortbestehende Arbeitsverhinderung bis einschließlich 30. Juni 2017. Im Juli 2017 erbrachte die Klägerin im Hinblick auf ihr gewährten Urlaub und Überstundenausgleich keine Arbeitsleistungen mehr und begann eine Psychotherapie bei einem Neurologen.
Die Klägerin erhielt in der Zeit vom 19. Mai bis zum 29. Juni 2017 weder von der Beklagten Entgeltfortzahlung noch von ihrer Krankenkasse Krankengeld. Mit ihrer Klage hat sie für diesen Zeitraum von der Beklagten die Zahlung von 3.364,90 Euro brutto nebst Zinsen verlangt. Sie hat geltend gemacht, sie sei ab dem 19. Mai 2017 wegen eines neuen Leidens arbeitsunfähig gewesen. Die Arbeitsunfähigkeit wegen ihrer psychischen Erkrankung habe am 18. Mai 2017 geendet. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, den Umständen nach sei von einem einheitlichen Verhinderungsfall auszugehen. Die Klägerin habe deshalb nur einmal für die Dauer von sechs Wochen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall beanspruchen können. Diesen Anspruch habe sie erfüllt. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Klage – nach Beweisaufnahme durch Vernehmung von drei Ärzten – abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Ist der Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig und schließt sich daran in engem zeitlichen Zusammenhang eine im Wege der „Erstbescheinigung“ attestierte weitere Arbeitsunfähigkeit an, hat der Arbeitnehmer im Streitfall darzulegen und zu beweisen, dass die vorangegangene Arbeitsunfähigkeit im Zeitpunkt des Eintritts der weiteren Arbeitsverhinderung geendet hatte. Dies ist der Klägerin nicht gelungen. Das Landesarbeitsgericht hat durch Vernehmung der die Klägerin behandelnden Ärzte umfassend Beweis erhoben. Danach konnte nicht festgestellt werden, dass ein einheitlicher Verhinderungsfall nicht vorlag. Das gilt umso mehr als nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine Untersuchung der Klägerin durch den behandelnden Arzt bei der Feststellung der bis einschließlich 18. Mai 2017 attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht erfolgte.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 26. September 2018 – 7 Sa 336/18 – | Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 26. September 2018 – 7 Sa 336/18 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Nach dem Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls ist der Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit auf die Dauer von sechs Wochen begrenzt, wenn während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.
Ein einheitlicher Verhinderungsfall ist regelmäßig hinreichend indiziert, wenn zwischen einer „ersten“ krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und einer dem Arbeitnehmer im Wege der „Erstbescheinigung“ attestierten weiteren Arbeitsunfähigkeit ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. Hiervon ist auszugehen, wenn die bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich entweder unmittelbar aufeinanderfolgen oder zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit vom 19. Mai bis zum 29. Juni 2017.
2
Die 1954 geborene Klägerin war bis einschließlich Juli 2017 bei der Beklagten als Fachkraft in der Altenpflege beschäftigt. Seit August 2017 befindet sie sich im Ruhestand.
3
In der Zeit vom 9. bis zum 25. Januar 2017 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Vom 26. Januar bis zum 6. Februar 2017 befand sie sich im Erholungsurlaub. Seit dem 7. Februar 2017 war sie infolge eines psychischen Leidens erneut arbeitsunfähig. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis einschließlich 20. März 2017. Anschließend bezog die Klägerin auf der Grundlage von Folgebescheinigungen ihrer Hausärzte, die ihr eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich Donnerstag, dem 18. Mai 2017 attestierten, Krankengeld.
4
Am Freitag, dem 19. Mai 2017 unterzog sich die Klägerin wegen einer Gebärmuttersenkung einer seit längerem geplanten Operation. Bereits am Vortag, dem 18. Mai 2017, wurde der Klägerin durch ihre niedergelassene Frauenärztin mit einer „Erstbescheinigung“ Arbeitsunfähigkeit vom 19. Mai bis zunächst 16. Juni 2017 und mit einer „Folgebescheinigung“ bis voraussichtlich 30. Juni 2017 attestiert.
5
Im Juli 2017 erbrachte die Klägerin aufgrund von Urlaub und zum Abbau von Überstunden gewährten Freizeitausgleichs keine Arbeitsleistungen mehr. Im gleichen Zeitraum begann sie eine psychotherapeutische Behandlung bei einem Neurologen. Begleitend wurden ihr – wie bereits seit Beginn ihrer psychischen Erkrankung – Psychopharmaka verordnet.
6
Für die Zeit vom 19. Mai bis zum 29. Juni 2017 leistete weder die Beklagte Entgeltfortzahlung noch wurde der Klägerin seitens ihrer Krankenkasse Krankengeld bewilligt.
7
Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Arbeitsunfähigkeit wegen ihrer psychischen Erkrankung habe am 18. Mai 2017 geendet. Erst die Operation vom 19. Mai 2017 habe erneut zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt. Ab diesem Tag sei deshalb ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch für die Dauer von sechs Wochen entstanden.
8
Die Klägerin hat, soweit für die Revision von Interesse, beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.364,90 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7. September 2017 zu zahlen.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und behauptet, die Klägerin sei wegen ihres gynäkologischen Leidens schon vor dem 19. Mai 2017 arbeitsunfähig gewesen. Ungeachtet dessen sei davon auszugehen, dass die fortbestehende psychische Erkrankung der Klägerin über den 18. Mai 2017 hinaus Arbeitsunfähigkeit verursacht habe. Nach dem Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls habe ihre Entgeltfortzahlungspflicht daher mit dem Ablauf von sechs Wochen am 20. März 2017 geendet.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage – nach Vernehmung der behandelnden Ärzte Dr. R, S und Dr. H – abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
11
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht abgeändert und die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage ist unbegründet.
12
I. Die Klägerin hat für die Zeit vom 19. Mai bis zum 29. Juni 2017 keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus § 3 Abs. 1 EFZG.
13
1. Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, ist der Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG auf die Dauer von sechs Wochen begrenzt. Dies gilt nach dem Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls auch dann, wenn während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. In einem solchen Fall kann der Arbeitnehmer bei entsprechender Dauer der durch beide Erkrankungen verursachten Arbeitsverhinderung die Sechs-Wochen-Frist nur einmal in Anspruch nehmen. Ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch entsteht nur, wenn die erste krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung bereits in dem Zeitpunkt beendet war, in dem die weitere Erkrankung zu einer erneuten Arbeitsverhinderung führt. Das ist anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer zwischen zwei Krankheiten tatsächlich gearbeitet hat oder jedenfalls arbeitsfähig war, sei es auch nur für wenige außerhalb der Arbeitszeit liegende Stunden. Maßgeblich für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit und damit für das Ende des Verhinderungsfalls ist grundsätzlich die Entscheidung des Arztes, der Arbeitsunfähigkeit – ungeachtet der individuellen Arbeitszeit des betreffenden Arbeitnehmers – im Zweifel bis zum Ende eines Kalendertags bescheinigen wird. Das gilt unabhängig davon, ob das Ende der Arbeitsunfähigkeit auf einen Arbeits- oder arbeitsfreien Tag fällt (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 318/15 – Rn. 13 mwN, BAGE 155, 196).
14
2. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, nach diesen Grundsätzen habe die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ab dem 19. Mai 2017 keinen neuen Entgeltfortzahlungsanspruch begründet, ist rechtsfehlerfrei. Die Klägerin hat nicht bewiesen, dass die neue Erkrankung erst zu einem Zeitpunkt Arbeitsunfähigkeit ausgelöst hat, zu dem die vorangegangene krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung bereits beendet war.
15
a) Die Beklagte hat sich im Streitfall auf den Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls berufen und dabei ua. bestritten, dass die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin infolge ihrer psychischen Erkrankung vor Eintritt der Arbeitsverhinderung wegen ihres gynäkologischen Leidens beendet war. Diese Tatsache darzulegen und zu beweisen, war, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, Sache der Klägerin.
16
aa) Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (BAG 13. Juli 2005 – 5 AZR 389/04 – zu I 6 der Gründe, BAGE 115, 206). Ebenso wie er für die Tatsache der Arbeitsunfähigkeit als solcher beweispflichtig ist, trifft ihn auch für deren Beginn und Ende die objektive Beweislast. Meldet sich der Arbeitnehmer in unmittelbarem Anschluss an den ausgeschöpften Sechs-Wochen-Zeitraum des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG erneut mit einer Erstbescheinigung arbeitsunfähig krank und bestreitet der Arbeitgeber unter Berufung auf den Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls, dass Arbeitsunfähigkeit infolge der „neuen“ Krankheit erst jetzt eingetreten sei, hat der Arbeitnehmer als anspruchsbegründende Tatsache darzulegen und im Streitfall zu beweisen, dass die neue Arbeitsunfähigkeit erst zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem die erste krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung bereits beendet war (BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 318/15 – Rn. 19 f., BAGE 155, 196; so auch die hM im Schrifttum, zuletzt bspw. MHdB ArbR/Greiner 4. Aufl. § 80 Rn. 74; Laws FA 2017, 101, 106 f.; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. EFZG § 3 Rn. 78; Staudinger/Oetker (2019) BGB § 616 Rn. 538; ErfK/Reinhard 20. Aufl. EFZG § 3 Rn. 44; BeckOK ArbR/Ricken 1. Dezember 2019 EFZG § 3 Rn. 63). Der Arbeitnehmer ist mit anderen Worten darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass seine bisherige Erkrankung bei Eintritt der mit neuer Erstbescheinigung attestierten Arbeitsverhinderung keine Arbeitsunfähigkeit mehr ausgelöst hat. Das gilt auch dann, wenn sich an den ausgeschöpften Sechs-Wochen-Zeitraum des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ein Krankengeldbezug angeschlossen hat und der Arbeitnehmer in der Folge vom Arbeitgeber unter Vorlage einer neuen Erstbescheinigung Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wegen einer sich unmittelbar an den Krankengeldbezug anschließenden Arbeitsverhinderung verlangt.
17
bb) Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast unterscheidet sich insoweit von der bei Fortsetzungserkrankungen. Deren rechtliche Bewertung in § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG ist eine durch Gesetz zugunsten des Arbeitgebers getroffene Ausnahmeregelung von dem allgemeinen Grundsatz der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Zwar muss der Arbeitnehmer, der innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist, darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung vorliegt und – bestreitet der Arbeitgeber den Eintritt einer neuen, auf einem anderen Grundleiden beruhenden Krankheit – den Arzt von der Schweigepflicht entbinden. Doch hat die Folgen der Nichterweislichkeit einer Fortsetzungserkrankung der Arbeitgeber zu tragen, weil nach der sprachlichen Fassung des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG ihn und nicht den Arbeitnehmer die objektive Beweislast trifft (BAG 10. September 2014 – 10 AZR 651/12 – Rn. 27, BAGE 149, 101; 13. Juli 2005 – 5 AZR 389/04 – zu I 5 und 6 der Gründe, BAGE 115, 206; Schaub ArbR-HdB/Linck 18. Aufl. § 98 Rn. 61; BeckOK ArbR/Ricken 1. Dezember 2019 EFZG § 3 Rn. 73).
18
cc) Entgegen der Auffassung der Revision steht diesem Verständnis das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 5. November 2003 (- 5 AZR 562/02 -) nicht entgegen. Gegenstand dieser Entscheidung sind nicht Ansprüche auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, sondern Ansprüche des Arbeitnehmers aus Annahmeverzug. Tritt der Arbeitgeber einem solchen Anspruch mit der Behauptung entgegen, der vormals arbeitsunfähige Arbeitnehmer sei im maßgeblichen Annahmeverzugszeitraum weiterhin infolge Krankheit an der Arbeitsleistung gehindert, beruft er sich auf ein Unvermögen iSv. § 297 BGB. Nach dieser Bestimmung kommt der Gläubiger nicht in Verzug, wenn der Schuldner zur Zeit des Angebots oder im Fall des § 296 BGB zu der für die Handlung des Gläubigers bestimmten Zeit außerstande ist, die Leistung zu bewirken. Die sprachliche Fassung von § 297 BGB gibt damit vor, dass der Arbeitgeber eine Einwendung erhebt, wenn er gegenüber einem Anspruch aus Annahmeverzug geltend macht, eine vor dem Streitzeitraum bestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers habe nicht vor diesem geendet, sondern fortbestanden. Für die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Einwendung trägt der Arbeitgeber als Gläubiger die Darlegungs- und Beweislast (st. Rspr., jüngst BAG 28. August 2019 – 5 AZN 381/19 – Rn. 7; 22. August 2018 – 5 AZR 592/17 – Rn. 25). Hieraus lassen sich jedoch keine Rückschlüsse auf die Beweislastverteilung bei der Geltendmachung von Entgeltfortzahlungsansprüchen nach § 3 Abs. 1 EFZG ziehen.
19
b) Für die Darlegung und den Nachweis von Beginn und Ende einer auf einer bestimmten Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit kann sich der Arbeitnehmer zunächst auf die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stützen (zu deren Beweiswert sh. BAG 26. Februar 2003 – 5 AZR 112/02 – zu I 1 der Gründe, BAGE 105, 171; zu den ab 1. Januar 2016 eingeführten Vordrucken vgl. Kleinebrink ArbRB 2016, 47 ff., 93 ff.). Ist jedoch unstreitig oder bringt der Arbeitgeber gewichtige Indizien dafür vor, dass sich die Erkrankungen, hinsichtlich derer dem Arbeitnehmer jeweils Arbeitsunfähigkeit attestiert worden ist, überschneiden, so ist der Beweiswert der dem Arbeitnehmer hinsichtlich der „neuen“ Krankheit ausgestellten „Erstbescheinigung“ erschüttert. Der Arbeitnehmer muss nunmehr für den Zeitpunkt der Beendigung seiner Arbeitsunfähigkeit wegen einer „früheren“ Krankheit vor Eintritt der neuerlichen Arbeitsverhinderung vollen Beweis erbringen. Dafür steht ihm das Zeugnis des behandelnden Arztes als Beweismittel zur Verfügung (vgl. BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 318/15 – Rn. 22, BAGE 155, 196).
20
aa) Bei der näheren Bestimmung der Anforderungen an die wechselseitige Darlegungslast der Parteien darf nicht übersehen werden, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und kaum in der Lage ist, belastbare Indiztatsachen für das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls vorzutragen (Vossen DB 2017, 1976). Die für den Arbeitgeber bestehende Möglichkeit eines Auskunftsersuchens an die zuständige Krankenkasse nach § 69 Abs. 4 SGB X bezieht sich auf das Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung und schließt die Übermittlung von Diagnosedaten ausdrücklich aus. Zudem greift die Bestimmung nur bei Arbeitnehmern ein, die in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind. Für privat Versicherte besteht kein entsprechender gesetzlicher Auskunftsanspruch. Unabhängig davon hat der Arbeitgeber keine Möglichkeit, die Mitteilung der Krankenkasse zu überprüfen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten hat das Bundesarbeitsgericht bereits erkannt, dass dem Arbeitgeber, der sich auf eine Fortsetzungserkrankung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG beruft, hinsichtlich der ihn insoweit treffenden Darlegungs- und Beweislast Erleichterungen zuzubilligen sind (vgl. dazu BAG 13. Juli 2005 – 5 AZR 389/04 – zu I 6 der Gründe, BAGE 115, 206). Entsprechendes hat in Bezug auf die vom Arbeitgeber im Rahmen von § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG vorzutragenden Indizien für das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls zu gelten. Auch dabei ist der Unkenntnis des Arbeitgebers von den Krankeitsursachen angemessen Rechnung zu tragen.
21
bb) Hiervon ausgehend besteht ein hinreichend gewichtiges Indiz für das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls regelmäßig dann, wenn sich an eine „erste“ Arbeitsverhinderung in engem zeitlichen Zusammenhang eine dem Arbeitnehmer im Wege der „Erstbescheinigung“ attestierte weitere Arbeitsunfähigkeit dergestalt anschließt, dass die bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich entweder unmittelbar aufeinanderfolgen oder dass zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt. Bei solchen Sachverhalten ist es dem Arbeitgeber angesichts fehlender zwischenzeitlicher Arbeitsverpflichtung des Arbeitnehmers nahezu unmöglich, konkrete Anhaltspunkte zur Erschütterung des Beweiswerts der ärztlichen Bescheinigungen vorzutragen (vgl. Vossen DB 2017, 1976; zu weiteren Indiztatsachen LAG Köln 15. November 2016 – 12 Sa 453/16 -). Es ist deshalb dem Arbeitnehmer auch unter Berücksichtigung seiner Sachnähe zuzumuten, seine Behauptung, es lägen voneinander zu trennende Verhinderungsfälle vor, durch konkreten Vortrag zu den Krankheitsursachen sowie zum Ende bzw. Beginn der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit zu konkretisieren und hierfür ggf. vollen Beweis zu erbringen.
22
c) Im Streitfall ist ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen den der Klägerin bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten gegeben.
23
aa) Durch ihre behandelnden Hausärzte wurde der Klägerin – unter Berücksichtigung der zuletzt ausgestellten „Folgebescheinigung“ – Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 18. Mai 2017 bescheinigt. Daran schloss sich die der Klägerin am 18. Mai 2017 durch ihre Gynäkologin ab dem 19. Mai 2017 im Wege einer Erstbescheinigung attestierte Arbeitsunfähigkeit unmittelbar an. Schon ausgehend hiervon ist im Streitfall das Vorliegen eines einheitlichen Verhinderungsfalls ausreichend indiziert. Unabhängig davon spricht zudem viel für die Annahme des Landesarbeitsgerichts, in dem unstreitigen Fortbestand der psychischen Erkrankung über den 18. Mai 2017 hinaus und der damit zusammenhängenden Behandlung der Klägerin liege ein ausreichendes Indiz für das Bestehen eines einheitlichen Verhinderungsfalls.
24
bb) Es oblag somit der Klägerin, vollen Beweis für den Ausschluss eines einheitlichen Verhinderungsfalls zu erbringen. Das ist ihr nicht gelungen. Das Landesarbeitsgericht hat hierzu auf Antrag der Klägerin drei behandelnde Ärzte als sachverständige Zeugen vernommen. Auf der Grundlage des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist es rechtsfehlerfrei von einem non liquet ausgegangen.
25
(1) Das Revisionsgericht kann die vom Berufungsgericht nach § 286 Abs. 1 ZPO vorgenommene Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nur daraufhin überprüfen, ob die Beweiswürdigung in sich widerspruchsfrei und ohne Verletzung von Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen erfolgt ist, ob sie rechtlich möglich ist und ob das Berufungsgericht alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (st. Rspr., zB BAG 28. Juni 2012 – 6 AZR 682/10 – Rn. 70 mwN, BAGE 142, 225).
26
(2) Danach ist die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts nicht zu beanstanden. Es hat alle fallrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt und das Ergebnis der Beweisaufnahme widerspruchsfrei gewürdigt. Soweit es den Zeugen Dr. R und die Zeugin S auf Antrag der Klägerin zu deren Behauptung vernommen hat, die Arbeitsunfähigkeit wegen ihrer psychischen Erkrankung habe am 18. Mai 2017 geendet, hat es die Aussagen der Ärzte für nicht ergiebig erachtet. Die Beurteilung wird von der Revision nicht angegriffen und ist nachvollziehbar. Das gilt umso mehr als der Zeuge Dr. R die Klägerin nach eigener Aussage letztmalig am 7. April 2017 persönlich gesehen hatte, und hierbei noch von einer Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich zum 21. April 2017 ausgegangen war. Soweit der Zeuge geäußert hat, die von ihm festgestellte Arbeitsunfähigkeit wegen des psychischen Leidens sei am 18. Mai 2017 „abgeschlossen gewesen“, hat er dies nicht auf eigene Befunde, sondern darauf gestützt, dass die Klägerin nach diesem Termin in der Hausarztpraxis nicht mehr vorstellig geworden sei. Dabei handelt es sich aber um nicht mehr als eine Vermutung des Arztes, die das Landesarbeitsgericht zu Recht nicht von der zu beweisenden Tatsache überzeugen konnte. Die Zeugin S hat bekundet, sie habe die von ihr am 21. April 2017 und 5. Mai 2017 gezeichneten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Vertretung ihres Kollegen Dr. R und nach dessen Vorgaben ausgestellt, ohne dabei die Klägerin untersucht oder persönlich gesprochen zu haben. Weshalb die Krankschreibung durch „Folgebescheinigungen“ zuletzt bis Donnerstag, den 18. Mai 2017 erfolgte, konnte die Zeugin nicht erläutern.
27
cc) Hat die Klägerin danach eine Beendigung der Arbeitsunfähigkeit wegen ihrer psychischen Erkrankung vor dem 19. Mai 2017 nicht nachzuweisen vermocht, kam es auf die weitere Streitfrage der Parteien, ob das gynäkologische Leiden der Klägerin nicht erst am Tage ihrer Operation, sondern schon früher, jedenfalls am 18. Mai 2017, zu Arbeitsunfähigkeit geführt hat, nicht mehr entscheidungserheblich an. Es ist deshalb unschädlich, dass sich das Landesarbeitsgericht mit der Aussage der zu dieser Frage vernommenen Zeugin Dr. H nicht näher auseinandergesetzt hat. Allerdings ergibt sich aus dem über die Vernehmung der Zeugin gefertigten Sitzungsprotokoll vom 29. August 2018, dass die Ärztin die Klägerin am 18. Mai 2017 nicht untersucht hat. Auch lässt die Aussage der Ärztin nicht erkennen, dass sie sich am 18. Mai 2017 nach anderweitigen Erkrankungen der Klägerin und einer diesbezüglich ggf. von anderer Seite erfolgten Krankschreibung erkundigt hat. Ob dazu unter den gegebenen Umständen zwingend Anlass bestand, hat der Senat nicht zu bewerten. Der Aussage der Ärztin ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass sie sich am 18. Mai 2017 ein umfassendes Bild von dem seelischen und körperlichen Gesundheitszustand der Klägerin verschafft hat.
28
3. Da es der Klägerin bereits aus den dargestellten Gründen nicht gelungen ist, das Bestehen eines einheitlichen Verhinderungsfalls auszuschließen, kann im Streitfall offenbleiben, ob sich der einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung allgemein zuerkannte hohe Beweiswert überhaupt auf die Tatsache bezieht, dass die Arbeitsverhinderung des Arbeitnehmers am letzten Tag der Bescheinigung endet, und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der nach § 5 Abs. 4 Satz 3 der Richtlinie über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen der stufenweisen Wiedereingliederung (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) idF des Beschlusses vom 20. Oktober 2016 (BAnz AT 23. Dezember 2016 B5) bestehenden Möglichkeit zukommt, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als „Endbescheinigung“ zu kennzeichnen, wenn zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung bereits sicher eingeschätzt werden kann, dass die Arbeitsunfähigkeit mit Ablauf des bescheinigten Zeitraums enden wird (vgl. dazu Kleinebrink ArbRB 2016, 47, 48). Auch kommt es nicht darauf an, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, mit denen der Klägerin Arbeitsunfähigkeit bis zum 18. Mai und ab dem 19. Mai 2017 bescheinigt wurde, jeweils ohne ärztliche Untersuchung ausgestellt wurden. Dass eine solche Untersuchung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erfolgen hat, ist aber einer der Gründe dafür, weshalb nach der Lebenserfahrung der ärztlichen Bescheinigung in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hinsichtlich der Darlegung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung ein hoher Beweiswert zuerkannt wird (vgl. nur BAG 26. Februar 2003 – 5 AZR 112/02 – zu I 1 der Gründe, BAGE 105, 171 sowie grundlegend BAG 11. August 1976 – 5 AZR 422/75 – zu 3 a der Gründe, BAGE 28, 144). Daher wird auch im Schrifttum bezweifelt, ob einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die unter Nutzung neuer telemedizinischer Möglichkeiten zustande gekommen ist, ein Beweiswert für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit bei der Geltendmachung des Entgeltfortzahlungsanspruchs zuerkannt werden kann (zur Problematik vgl. nur Jüngst B+P 2019, 163, 165 ff.; Kleinebrink ArbRB 2019, 147). Dies bedarf im Streitfall indes keiner näheren Erörterung und Beantwortung.
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4. Nach dem Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls konnte die Klägerin somit für die Zeit vom 7. Februar bis zum 30. Juni 2017 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nur einmal für die Dauer von sechs Wochen verlangen. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass die Beklagte diesen Anspruch durch die bis zum 20. März 2017 erbrachten Leistungen erfüllt hat.
30
5. Mangels Hauptforderung besteht auch kein Anspruch der Klägerin auf Zinsen.
31
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Linck
Volk
Berger
S. Teichfuß
Bormann |
bag_45-20 | 08.12.2020 | 08.12.2020
45/20 - Versorgungszusage - Störung der Geschäftsgrundlage
Die Änderung von bilanzrechtlichen Bestimmungen rechtfertigt nicht die Anpassung von Versorgungsregelungen wegen Störung der Geschäftsgrundlage.
Der verstorbene Ehemann der Klägerin war bei der Beklagten in leitender Position beschäftigt. Ihm war im Jahr 1976 eine Ruhegehaltszusage erteilt worden, die auch eine Hinterbliebenenversorgung umfasste. Diese enthielt eine Anpassungsregel, nach der die Versorgungsbezüge entsprechend der Entwicklung der maßgeblichen Tarifgehälter anzupassen sind. Die Beklagte gab die jeweiligen tariflichen Gehaltserhöhungen bis 2016 an die Klägerin als Bezieherin einer Witwenrente vereinbarungsgemäß weiter. Im Juli 2016 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie berufe sich auf die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB und werde die Anpassungsverpflichtung aus der Ruhegehaltszusage künftig nicht mehr wie bisher erfüllen. Erhöhungen der Witwenrente würden nur noch nach § 16 BetrAVG vorgenommen werden. Grund für die Störung der Geschäftsgrundlage seien erheblich erhöhte Rückstellungen, die sie nach Inkrafttreten des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes 2010 (BilMoG) in ihrer Handelsbilanz aufgrund erheblich gestiegener Barwerte der Versorgungszusagen – auch der streitgegenständlichen Zusage – einzustellen habe. Die Klägerin meint, die Beklagte sei weiterhin uneingeschränkt an die Anpassungsregelung in der Ruhegeldzusage gebunden und verlangt von der Beklagten die Zahlung der Differenzbeträge für den Zeitraum Juli 2016 bis März 2017. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Zwar ist es grundsätzlich möglich, die Anpassung von Versorgungsregelungen auf die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) zu stützen. Vorliegend waren die Voraussetzungen hierfür jedoch nicht erfüllt. Geschäftsgrundlage sind die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsschluss aber zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, wenn der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut. Dem steht die Vorstellung einer der Parteien gleich, sofern sie für die andere Partei erkennbar war und nicht von ihr beanstandet wurde. Die Beklagte hat sich nicht auf solche Vorstellungen berufen, sondern die vermeintliche Verteuerung der Witwenrente auf Umstände gestützt, die – unverändert – Inhalt der Versorgungszusage sind. Soweit die Beklagte den Anstieg ihrer bilanziellen Rückstellungen aufgrund angeblich wegen der Änderung des Bilanzrechts gestiegener Barwerte angeführt hat, konnte sie damit ebenfalls nicht durchdringen. Nach der handelsrechtlichen Konzeption handelt es sich bei Rückstellungen im Wesentlichen um ein Instrument der Innenfinanzierung. Dies hat zwar Auswirkungen auf den bilanziellen Gewinn bzw. Verlust eines Unternehmens. Allerdings berechtigt ein schlechterer wirtschaftlicher Verlauf des Geschäftsjahrs nicht zum Widerruf von laufenden Betriebsrenten und somit auch nicht zur Änderung einer Anpassungsregelung. Denn nicht einmal eine wirtschaftliche Notlage kann nach den gesetzlichen Wertungen des Betriebsrentengesetzes einen Widerruf von Versorgungszusagen begründen. In so einem Fall eine Störung der Geschäftsgrundlage anzunehmen, widerspräche der gesetzlichen Risikoverteilung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. Dezember 2020 – 3 AZR 64/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. Mai 2018 – 3 Sa 102/17 –
Hinweis: Der Senat hat in einem weiteren Fall der Parteien, der einen nachfolgenden Zeitraum betraf, der Revision der Klägerin aus den gleichen Gründen ebenfalls stattgegeben. | Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Mai 2018 – 3 Sa 102/17 – aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 26. Januar 2017 – 3 Ca 985/16 – wird zurückgewiesen.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 26. Januar 2017 – 3 Ca 985/16 – wird in Ziffer 1 und Ziffer 2 wie folgt berichtigt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.003,86 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. Januar 2017 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zum Ersten eines jeden Monats ab dem 1. Januar 2017 eine Betriebsrente iHv. 6.142,81 Euro brutto bis zum 31. März 2017 zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin, die Witwe eines ehemaligen Arbeitnehmers der Beklagten, von dieser die Erhöhung ihrer Betriebsrente auf der Basis einer vereinbarten Anpassungsregelung verlangen kann.
2
Dem verstorbenen Ehemann der Klägerin, der in leitender Position bei der Beklagten beschäftigt war, wurde am 22. Dezember 1976 eine – neue – Ruhegehaltszusage erteilt. Diese hat ua. folgenden Wortlaut:
„Betreff: Ruhegehaltszusage
Sehr geehrter Herr J!
In Übereinstimmung mit den Leitlinien für die betriebliche Altersversorgung der Mitarbeiter der oberen Führungsebene wird Ihre Versorgungszusage vom 10.12.62 ergänzt und durch die nachstehende Zusage ersetzt:
Aus der Verbundenheit mit ihren Mitarbeitern hat die Gesellschaft ein Versorgungswerk geschaffen, nach dem allen Betriebsangehörigen ein Anspruch auf einen Beitrag zu ihrer Versorgung im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit und nach ihrem Tod zur Unterstützung der Hinterbliebenen gewährt wird.
In Anerkennung Ihres Einsatzes und Ihrer Leistungen für O an verantwortlicher Stelle gibt die Gesellschaft Ihnen die folgende, über den allgemeinen Rahmen der Versorgungsordnung hinausgehende Versorgungszusage, die in Verbindung mit der Versorgungsordnung integrierender Bestandteil Ihres Anstellungsvertrages ist:
1. Ihr Ruhegehalt beträgt bei Eintritt des Versorgungsfalles 53 % des pensionsfähigen Einkommens.
2. Pensionsfähiges Einkommen ist das Bruttoentgelt einschließlich Tantieme, Gratifikationen und ähnlichen Leistungen.
3. Die bei Eintritt des Versorgungsfalles festgestellten Versorgungsbezüge gelten als Mindestleistung.
Sollten sich nach diesem Zeitpunkt die Tarifgehälter der Angestellten der Pfälzischen Eisen- und Metallindustrie ändern, so ändern sich die Versorgungsbezüge im gleichen Verhältnis wie die höchste Tarifgruppe für kaufmännische Angestellte. Der Anspruch auf die Mindestleistung wird hierdurch nicht berührt.“
3
Die Beklagte gab die jeweiligen tariflichen Gehaltserhöhungen für die Angestellten der Pfälzischen Eisen- und Metallindustrie stets an die Klägerin als Bezieherin einer Witwenrente weiter, dh. erhöhte die monatliche Witwenrente entsprechend. Zum 30. Juni 2016 betrug die Witwenrente der Klägerin 5.975,50 Euro brutto monatlich.
4
Die IG Metall und der Arbeitgeberverband vereinbarten für die Angestellten der Pfälzischen Eisen- und Metallindustrie eine Tariflohnerhöhung für die Tarifgruppe der kaufmännischen Angestellten (E10) für die Zeit ab dem 1. Juli 2016 iHv. 2,8 vH und eine weitere Erhöhung ab dem 1. April 2017 um 2 vH – gemäß Differenzierungstarifvertrag vom 28. März 2017 verschoben auf den 1. Juli 2017. Eine Erhöhung der Witwenrente der Klägerin entsprechend dieser Steigerungen nahm die Beklagte nicht vor.
5
Mit Schreiben vom 28. Juli 2016 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie berufe sich auf die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB und werde die Verpflichtung aus der Ruhegehaltszusage vom 22. Dezember 1976 unter Abs. 4 Ziff. 3 künftig nicht mehr wie bisher erfüllen. Stattdessen werde sie Erhöhungen der Witwenrente nur noch nach § 16 BetrAVG vornehmen.
6
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei weiterhin uneingeschränkt an die Regelungen in der Ruhegehaltszusage vom 22. Dezember 1976 gebunden.
7
Sie begehrt mit ihrer Klage die Zahlung einer erhöhten Witwenrente für den Zeitraum 1. Juli 2016 bis zum 31. März 2017 und hat zuletzt beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.003,86 Euro brutto nebst fünf Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 2. Januar 2017 zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an sie zum 1. eines jeden Monats ab dem „01.02.2017“ eine Betriebsrente iHv. derzeit 6.142,81 Euro brutto unter Berücksichtigung der Erhöhung von 2,8 % der höchsten Tarifgruppe für kaufmännische Angestellte (E 10) bis zum „31.02.2017“ zu zahlen.
8
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und vorgetragen, sie habe die Ruhegeldzusage aus dem Jahr 1976 einseitig ändern dürfen, so dass sie künftig das Ruhegeld der Klägerin nur noch im Rahmen des § 16 BetrAVG anzupassen habe. Sie könne sich auf die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB berufen. Ihre Pensionsrückstellungen hätten sich vom Geschäftsjahr 2011 iHv. 21.479.608,00 Euro auf 30.825.327,00 Euro für das Geschäftsjahr 2015 erhöht. Dies bedeute eine Steigerung um 43,5 vH. Damit sei ihre Opfergrenze überschritten. Grund für die Erhöhung der Rückstellungen sei eine Gesetzesänderung, die 1976 weder vorhersehbar gewesen noch von der Beklagten zu vertreten sei. Aufgrund der Änderungen durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz 2010 (Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts – Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – im Folgenden BilMoG – vom 25. Mai 2009, BGBl. I S. 1102) habe sie ihre Pensionsrückstellungen in der Handelsbilanz erhöhen müssen. Verstärkend trete die Niedrigzinsphase hinzu.
9
Auch der Barwert der dem verstorbenen Ehemann der Klägerin 1976 erteilten Versorgungszusage sei aufgrund der Änderungen durch das BilMoG erheblich gestiegen, nämlich um 107,36 vH auf mehr als das Doppelte (207,35 vH) des Ursprungswerts. Auch das führe zu einer deutlichen Überschreitung der Opfergrenze. Sie sei aufgrund dessen wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage zur Anpassung der Versorgungszusage nach billigem Ermessen berechtigt. Es sei eine ursprünglich nicht kalkulierbare nachträgliche Erhöhung ihrer finanziellen Belastung aus der vereinbarten Versorgungszusage eingetreten. Die Erhöhung des Barwerts der Versorgungszusage um mehr als 100 vH stehe nicht nur auf dem Papier in der Bilanz, sondern bedeute, dass ihre Liquidität und finanzielle Handlungsfähigkeit durch die Notwendigkeit der Bildung und des Nachweises tatsächlicher Rückstellungen effektiv beeinträchtigt werde. Ihre „Ausgaben“ seien entsprechend der Erhöhung des Barwerts gegenüber der ursprünglichen Kalkulation zum Zeitpunkt der Erteilung der Versorgungszusage um mehr als 100 vH gestiegen. Das sei unzumutbar. Billiges Ermessen sei gewahrt. Sie habe sich darauf beschränkt, eine weitere Erhöhung der laufenden Rentenzahlung iHv. fast 6.000,00 Euro brutto monatlich an die Klägerin als Witwe des verstorbenen Zusageempfängers gemäß der Tarifsteigerung zu unterlassen.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Die Klägerin begehrt mit ihrer Revision die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils, die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
11
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung der Beklagten zu Unrecht stattgegeben. Die zulässige Klage ist – soweit noch rechtshängig – begründet.
12
I. Die Klage ist zulässig. Die Anträge bedürfen der Auslegung.
13
1. Die Anträge zu 1. und 2. wurden auf Anregung des Arbeitsgerichts in der Kammerverhandlung vom 12. Januar 2017 geändert – der Antrag zu 1. in eine bezifferte Leistungsklage, nämlich an die Klägerin 1.003,86 Euro (brutto) nebst Zinsen seit dem 2. Januar 2017 zu zahlen. Damit ist der Zeitraum Juli bis Dezember 2016 erfasst, dh. die Erhöhung für sechs Monate. Der Zinsantrag ist so zu verstehen, dass die Klägerin Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz verlangt.
14
2. Mit dem Antrag zu 2. hat die Klägerin zwar ausdrücklich die Zahlung der um 2,8 vH erhöhten Witwenrente ab dem „01.02.2017“ begehrt. Tatsächlich geht es der Klägerin aber um die ununterbrochene Zahlung der erhöhten Witwenrente und somit um die Anpassungen ab Januar 2017. Das folgt aus ihrer Aufforderung gegenüber der Beklagten, die Tariferhöhung von 2,8 vH ab dem 1. Juli 2016 an sie – entsprechend der Versorgungszusage – weiterzugeben. Der Klägerin ging es von Anfang an fortlaufend um die Erhöhung ab dem 1. Juli 2016, ohne den Januar 2017 aussparen zu wollen. Es ist anzunehmen, dass hier lediglich ein Zahlendreher vorliegt.
15
Soweit es im Antrag zu 2. heißt, die erhöhte Witwenrente sei „bis zum 31.02.2017 zu zahlen“, ist dies dahin zu verstehen, dass die Klägerin die um 2,8 vH erhöhte Betriebsrente bis zum 31. März 2017 begehrt. Hier liegt offensichtlich ein Tippfehler vor. Die weitere Tariferhöhung – ursprünglich – zum 1. April 2017 belegt dieses Datum.
16
II. Die Revision der Klägerin ist begründet, da die Klage begründet ist. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Beklagte hat für den Zeitraum 1. Juli 2016 bis zum 31. Dezember 2016 1.003,86 Euro brutto aus der Anpassung der Witwenrente iHv. 2,8 vH (Antrag zu 1.) sowie für die Monate Januar bis März 2017 jeweils zur bislang gezahlten monatlichen Rente den Anpassungsbetrag iHv. 167,31 Euro brutto und somit monatlich insgesamt 6.142,81 Euro brutto (Antrag zu 2.) an die Klägerin zu zahlen. Die Witwenversorgung der Klägerin ist weiterhin gemäß der gegenüber ihrem verstorbenen Ehemann erfolgten Zusage nach den maßgeblichen tariflichen Steigerungen anzupassen. Die Beklagte kann sich nicht auf die Störung der Geschäftsgrundlage berufen.
17
1. Nach Abs. 4 Ziff. 3 der Versorgungszusage des verstorbenen Ehemanns der Klägerin ist das zugesagte Ruhegehalt entsprechend der Änderung der Tarifgehälter der Angestellten der Pfälzischen Eisen- und Metallindustrie im gleichen Verhältnis wie die höchste Tarifgruppe für kaufmännische Angestellte anzupassen, dh. bei entsprechenden Erhöhungen zu steigern. Das gilt iVm. § 328 Abs. 1 BGB auch für die der Klägerin zustehende Witwenversorgung. Die Parteien legen die Versorgungszusage übereinstimmend entsprechend aus. Auch das Landesarbeitsgericht ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise von dieser Auslegung ausgegangen.
18
Für das Jahr 2016 ergibt sich wegen der hier maßgeblichen Tarifsteigerung iHv. 2,8 vH ab dem 1. Juli 2016 ein monatlicher Anpassungsbetrag iHv. 167,31 Euro brutto und somit für den Zeitraum 1. Juli 2016 bis zum 31. Dezember 2016 ein ausstehender Anpassungsbetrag iHv. 1.003,86 Euro brutto (6 x 167,31 Euro brutto) sowie jeweils 6.142,81 Euro (5.975,50 Euro brutto zzgl. 167,31 Euro brutto) für die Monate Januar bis März 2017.
19
2. Die Beklagte kann dieser Anpassungsverpflichtung nicht die Störung der Geschäftsgrundlage entgegenhalten. Zwar kann der Arbeitgeber die Änderung einer Versorgungszusage grundsätzlich hierauf stützen. Vorliegend sind die erforderlichen Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt.
20
a) Das Gesetz erlaubt nach § 313 BGB eine Vertragsanpassung bei Störung der Geschäftsgrundlage.
21
aa) Geschäftsgrundlage sind die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsschluss aber zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien sowie die der einen Vertragspartei erkennbaren und von ihr nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen Partei vom Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut. Es darf sich allerdings nicht um einseitige Erwartungen einer Partei handeln (vgl. BGH 27. Mai 2020 – XII ZB 447/19 – Rn. 46 mwN). Die Geschäftsgrundlage gehört nicht zum Vertragsinhalt. Was nach dem Vertragstext Vertragsinhalt ist, kann nicht Geschäftsgrundlage sein (vgl. BAG 24. Februar 2011 – 6 AZR 626/09 – Rn. 70; BGH 25. November 2009 – XII ZR 8/08 – Rn. 15; 27. September 1991 – V ZR 191/90 – zu 1 der Gründe; Palandt/Grüneberg 79. Aufl. § 313 BGB Rn. 10).
22
bb) Bei einer Störung der Geschäftsgrundlage kann nach § 313 Abs. 1, Abs. 2 BGB eine Anpassung des Vertrags verlangt werden, wenn sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorhergesehen hätten; eine Vertragsanpassung kommt allerdings nur in Betracht, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten an der unveränderten Regelung nicht zugemutet werden kann(BAG 16. Oktober 2018 – 3 AZR 402/16 – Rn. 37, BAGE 163, 341; 10. Februar 2004 – 9 AZR 401/02 – zu A III 1 der Gründe, BAGE 109, 294).
23
cc) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann sich eine Befugnis zur Anpassung eines Versorgungswerks wegen Störung der Geschäftsgrundlage ua. dann ergeben, wenn sich die zugrunde gelegte Rechtslage nach Schaffung des Versorgungswerks wesentlich und unerwartet geändert und dies beim Arbeitgeber zu erheblichen tatsächlichen finanziellen Mehrbelastungen geführt hat (sog. Äquivalenzstörung). So kann durch Änderungen des Steuer- und Sozialversicherungsrechts nach Schaffung des Versorgungswerks der ursprünglich zugrunde gelegte Dotierungsrahmen ganz wesentlich überschritten werden. Dabei braucht es sich nicht um einen einzigen gesetzgeberischen Eingriff zu handeln; die Geschäftsgrundlage kann auch durch eine Vielzahl von in diesem Umfang und mit diesen Konsequenzen nicht vorhersehbaren Verschiebungen gestört werden (BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 23; 19. Februar 2008 – 3 AZR 290/06 – Rn. 18, BAGE 126, 1). Unvorhergesehene wirtschaftliche Belastungen, die erkennbar werden, können aber dann nicht einen Widerruf bzw. eine Änderung einer Versorgungszusage wegen Störung der Geschäftsgrundlage rechtfertigen, wenn sie schon in der ursprünglichen Zusage angelegt waren (vgl. BAG 22. April 1986 – 3 AZR 496/83 – zu III 2 c (1) der Gründe, BAGE 51, 397).
24
Daneben oder im Zusammenhang damit kann es auch dadurch zu einer Störung der Geschäftsgrundlage kommen, dass aufgrund von Gesetzesänderungen der für den Arbeitnehmer bei Erteilung der Versorgungszusage erkennbar verfolgte Versorgungszweck nunmehr verfehlt wird (sog. Zweckverfehlung). Dies nimmt der Senat in ständiger Rechtsprechung an, wenn die unveränderte Anwendung der Versorgungszusage zu einer gegenüber dem ursprünglichen Versorgungsziel planwidrig eintretenden Überversorgung führen würde bzw. geführt hat (vgl. BAG 17. Januar 2012 – 3 AZR 555/09 – Rn. 24; 19. Februar 2008 – 3 AZR 290/06 – Rn. 19, BAGE 126, 1).
25
b) Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend – entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts – keine Störung der Geschäftsgrundlage eingetreten, auch nicht in Form einer Äquivalenzstörung. Die zugrunde gelegte, für die Versorgungszusage maßgebliche Rechtslage hat sich nach der Zusage der Versorgung nicht wesentlich und unerwartet geändert und bei der Beklagten auch nicht zu unvorhersehbaren finanziellen Mehrbelastungen geführt.
26
aa) Soweit sich die Beklagte auf die Erhöhung der erforderlichen handelsbilanziellen Pensionsrückstellungen seit Einführung des BilMoG um 43,5 vH im Zeitraum 2011 bis Ende 2016 bzw. auf einen erheblichen Anstieg des Barwerts der dem verstorbenen Ehemann der Klägerin 1976 erteilten Versorgungszusage beruft und dies als Störung der Geschäftsgrundlage anführt, kann sie nicht durchdringen.
27
(1) Der – behauptete – Anstieg der handelsbilanziellen Rückstellungen bzw. der – behauptete – Anstieg des Barwerts der dem Ehemann der Klägerin erteilten Versorgungszusage nach Inkrafttreten des BilMoG liegt ausweislich des von der Beklagten vorgelegten Gutachtens vor allem darin begründet, dass die Beklagte nunmehr einen Rententrend sowie die Gehaltsdynamik bei Bildung der Rückstellungen bzw. Bewertung des Barwerts der Versorgungszusage berücksichtigt hat.
28
(2) Soweit die Beklagte sich auf die gestiegenen Rückstellungen stützt, mögen zwar nunmehr aufgrund der durch das BilMoG verursachten Änderungen der Regelungen in § 253 HGB bei der Bewertung der handelsbilanziellen Rückstellungen für eine Versorgungszusage ein Rententrend und eine Gehaltsdynamik zu berücksichtigen sein. Auch mag das zu erhöhten Rückstellungen geführt haben. Allerdings sind sowohl der Rententrend als auch die Gehaltsdynamik unveränderter Inhalt der vorliegenden Versorgungszusage und somit nicht deren Geschäftsgrundlage.
29
(a) Es waren Versorgungsleistungen iHv. 53 vH des pensionsfähigen Gehalts zugesagt. Das pensionsfähige Einkommen ist gemäß der Zusage das Bruttoentgelt einschließlich Tantieme, Gratifikationen und ähnlichen Leistungen. Mangels Angabe eines Referenzzeitraums ist insoweit das zuletzt gezahlte Bruttoentgelt maßgeblich. Damit war eine Gehaltsdynamik Teil des Versorgungsversprechens.
30
Darüber hinaus war auch eine Steigerung der Versorgungsleistungen zugesagt, nämlich für den Fall einer Erhöhung der Tarifgehälter der Angestellten der Pfälzischen Eisen- und Metallindustrie im gleichen Verhältnis wie die höchste Tarifgruppe für kaufmännische Angestellte. Damit war auch eine vertraglich geregelte Rentenanpassung Inhalt der Zusage.
31
(b) Sind aber die Faktoren Gehaltsdynamik und Rententrend bzw. -anpassung Inhalt der Versorgungszusage, sind sie nicht deren Geschäftsgrundlage. Außerdem war die hierdurch ggf. bedingte Erhöhung der Rückstellungen für die Witwenzusage der Klägerin bereits in der ursprünglichen Versorgungszusage angelegt und nicht zwingend durch gesetzliche Regelungen verursacht.
32
(c) Im Übrigen gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den handelsbilanziellen Rückstellungen im Wesentlichen nur um ein Instrument der Innenfinanzierung handelt (vgl. BAG 11. Juli 2017 – 3 AZR 691/16 – Rn. 27).
33
(aa) Pensionsrückstellungen erlauben es dem Unternehmen (nur), Gewinne bis zur Fälligkeit der einzelnen Rentenbeträge als Betriebskapital – und zwar in Gestalt von Fremdkapital – zu verwenden. Es wird ein Aufwand verbucht, ohne dass tatsächlich Mittel abfließen. Im Jahr der Rückstellungsbildung wird der Jahresüberschuss reduziert oder ein Jahresfehlbetrag erhöht. Damit steht weniger Gewinn zur Ausschüttung zur Verfügung. Das Eigenkapital des Unternehmens reduziert sich entsprechend. Im Jahr des Rückstellungsverbrauchs kommt es zu einem entsprechend erhöhten Gewinnausweis. Rückstellungen haben daher im Wesentlichen einen Zeiteffekt (vgl. BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 455/15 – Rn. 62, BAGE 158, 165; 8. Dezember 2015 – 3 AZR 348/14 – Rn. 52; 2. September 2014 – 3 AZR 952/12 – Rn. 60). Ändern sich die Bilanzierungsregeln, wird dieser Effekt anders in der Bilanz abgebildet, in der Sache ändert sich jedoch nichts.
34
(bb) Rückstellungen führen allerdings durch die Auswirkungen auf den bilanziellen Gewinn bzw. Verlust zu einem besseren oder schlechteren Verlauf des Geschäftsjahrs, möglicherweise auch mit Auswirkungen auf die Kreditfähigkeit eines Unternehmens. Dies allerdings berechtigt nicht zu einem Widerruf von laufenden Betriebsrenten und auch nicht zur Änderung einer Anpassungsregelung für laufende Betriebsrentenleistungen wegen Störung der Geschäftsgrundlage. Denn nicht einmal eine wirtschaftliche Notlage kann nach den gesetzlichen Wertungen in § 7 Abs. 1 BetrAVG eine Anpassung der laufenden Betriebsrente wegen Störung der Geschäftsgrundlage begründen. Das widerspräche der gesetzlichen Risikoverteilung.
35
(aaa) Dies ergibt sich aus der Rechtsentwicklung (vgl. hierzu ausführlich BAG 17. Juni 2003 – 3 AZR 396/02 – zu B II 3 der Gründe, BAGE 106, 327). Das Bundesarbeitsgericht hatte zunächst – entgegen dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach die fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in aller Regel Ansprüche nicht entfallen lässt – die Möglichkeit des Widerrufs einer Versorgungszusage wegen wirtschaftlicher Notlage anerkannt. Der Gesetzgeber hatte darauf reagiert, indem er in § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG (aF) die Kürzung oder Einstellung von Versorgungsleistungen wegen wirtschaftlicher Notlage dem Versicherungsschutz durch den Träger der Insolvenzsicherung, also durch den Pensions-Sicherungs-Verein, unterstellte. Diese Bestimmung ist durch Art. 91 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2911) aufgehoben worden. Das beruhte auf einem Gesetzentwurf der Bundesregierung. Aus der Begründung dieses Gesetzentwurfes ergibt sich, dass der Gesetzgeber damit auch die Möglichkeit des Widerrufs wegen wirtschaftlicher Notlage beseitigen wollte (BT-Drs. 12/3803 S. 109 f.; BAG 31. Juli 2007 – 3 AZR 373/06 – Rn. 28, BAGE 123, 307).
36
(bbb) Gleiches gilt auch vorliegend in Bezug auf die vertraglich zugesagte Anpassungsregelung. Auch eine solche ist vom Insolvenzschutz umfasst, wenn sich der Arbeitgeber – wie hier – verpflichtet hat, den Versorgungsanspruch nach bestimmten Kriterien unabhängig von § 16 BetrAVG anzupassen und es sich um eine bereits laufende Betriebsrente handelt (vgl. BAG 8. Juni 1999 – 3 AZR 39/98 – zu II der Gründe mwN).
37
(3) Soweit die Beklagte auf den angeblich gestiegenen Barwert der Versorgungszusage abstellt, kann sich zwar – wie ausgeführt – die Störung der Geschäftsgrundlage aus einem erhöhten Dotierungsrahmen ergeben, sofern sich die tatsächlichen finanziellen Belastungen aufgrund unvorhersehbarer Gesetzesänderungen erheblich erhöht haben. Insoweit ist nach der Rechtsprechung des Senats – wie ausgeführt – ein Barwertvergleich vorzunehmen (vgl. hierzu ausführlich BAG 19. Februar 2008 – 3 AZR 290/06 – Rn. 30, BAGE 126, 1). Die tatsächlichen finanziellen Belastungen der Beklagten haben sich allerdings nicht, auch nicht aufgrund unvorhersehbarer Gesetzesänderungen erhöht.
38
Außerdem gilt es auch hier zu berücksichtigen, dass sowohl der Rententrend als auch die Gehaltsdynamik – unveränderter – Inhalt der Versorgungszusage sind. Der Barwert kann sich insofern nicht erhöht haben.
39
(a) Allgemein kann der Barwert als die Summe aller wahrscheinlichen und auf den Bewertungsstichtag abgezinsten Zahlungen beschrieben werden (vgl. MüKoBGB/Scholer 8. Aufl. VersAusglG § 47 Rn. 13; Bader/Hartloff DB 2016, 1437, 1441: „auf den Berechnungsstichtag abgezinster erwarteter zukünftiger Zahlungsstrom“). Einzubeziehen sind – je nach Leistungsplan – unterschiedliche Parameter.
40
(b) Geht es um einen Barwertvergleich zur Ermittlung des Anstiegs der Kosten einer Versorgungszusage wegen geänderter Umstände, so ist der prognostizierte finanzielle Aufwand der Zusage anhand der ursprünglichen Rechtslage und Umstände zu bewerten im Vergleich zu der Rechtslage und den Umständen in dem Zeitpunkt, zu dem der Arbeitgeber in die Zusage eingreift. Einzubeziehen ist ein identischer Personenbestand, nämlich die Gesamtheit der anwartschaftsberechtigten Arbeitnehmer, denen zum Ablösestichtag eine Versorgung nach den Regeln zugesagt war, die verändert werden sollen (vgl. BAG 10. November 2015 – 3 AZR 390/14 – Rn. 39; 19. Februar 2008 – 3 AZR 290/06 – Rn. 30, BAGE 126, 1).
41
(c) Dies zugrunde gelegt zeigt sich, dass sich im Zeitpunkt des Eingriffs der Beklagten in die Anpassungsregelung die für die Ermittlung des Barwerts der Versorgungszusage maßgeblichen Umstände nicht geändert haben. Gehaltstrend und Rentendynamik waren und sind Teil der Zusage. Durch das BilMoG mag sich allenfalls der Abzinsungsfaktor von ehemals 5,5 vH und nunmehr 6 vH (§ 6a Abs. 3 Satz 3 EStG; die Erhöhung des Rechnungszinssatzes erfolgte durch Art. 26 Nr. 1 des 2. Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981, BGBl. I S. 1523, mit Wirkung zum ersten Wirtschaftsjahr, das nach dem 31. Dezember 1981 endet – vgl. Art. 26 Nr. 27 Buchst. b des Gesetzes) auf einen niedrigeren Wert, zu bestimmen nach § 253 Abs. 2 Satz 1 HGB (bzw. bis März 2016 nach § 253 Abs. 2 Satz 2 HGB), verändert haben, den die Beklagte bzw. das Gutachten mit 4,01 vH angesetzt hat. Die von der Beklagten angeführte Erhöhung des Barwerts stützt sich aber vor allem auf die Rechenfaktoren Gehaltstrend und Rentendynamik.
42
bb) Soweit die Beklagte darüber hinaus geltend gemacht hat, auch die anhaltende Niedrigzinsphase habe zur Steigerung der Pensionsrückstellungen geführt, vermag dies an dem gefundenen Ergebnis nichts zu verändern. Die Beklagte beruft sich jedenfalls nicht darauf, allein die Veränderung, nämlich Reduzierung, des Abzinsungsfaktors gemäß § 253 Abs. 2 HGB aufgrund der Niedrigzinsphase habe – nach Inkrafttreten des BilMoG – zu einer erheblichen Steigerung der Rückstellung für die Witwenversorgung und somit zu einer Störung der Geschäftsgrundlage geführt.
43
Das BilMoG hat es lediglich unmöglich gemacht, den pauschalierten hohen steuerlichen Rechnungszins der Handelsbilanz zugrunde zu legen. Mit der realen Zinsentwicklung und möglichen Auswirkungen auf die Beklagte hat dies nichts zu tun. Auf derartige Auswirkungen beruft sich die Beklagte ebenfalls nicht.
44
cc) Soweit die Beklagte eingewendet hat, ihre „Ausgaben“ entsprechend der Erhöhung des Barwerts gegenüber der ursprünglichen Kalkulation zum Zeitpunkt der Erteilung der Versorgungszusage seien um mehr als 100 vH gestiegen, kann dem nicht gefolgt werden. Die Beklagte beruft sich nur auf die Bildung höherer Rückstellungen bzw. auf einen höheren Barwert. Einen – unzumutbaren – Anstieg der tatsächlich ursprünglich prognostizierten Kosten zum Zeitpunkt der Versorgungszusage gegenüber den nunmehr tatsächlich zu tragenden Kosten aufgrund unvorhersehbarer Umstände bzw. einer unvorhersehbaren Änderung der maßgeblichen Rechtslage macht die Beklagte nicht geltend.
45
dd) Der tatsächliche Zahlungsstrom an die Klägerin hat sich schließlich auch nicht erhöht. Die monatlich zu zahlende Witwenrente hat sich durch das BilMoG nicht verändert.
46
III. Der Tenor des arbeitsgerichtlichen Urteils vom 26. Januar 2017 – 3 Ca 985/16 – ist nach § 319 ZPO zu berichtigen.
47
1. § 319 ZPO gibt den Gerichten die Möglichkeit, offensichtliche und sofort erkannte Versehen zu korrigieren. Der Sinn dieser Regelung liegt darin, Verfälschungen des Rechtsspruchs durch technische Fehlleistungen oder banale Irrtümer zu vermeiden. § 319 ZPO schützt die Rechtssuchenden vor den Folgen solcher im Justizalltag unvermeidlichen Fehler und ist damit Ausdruck des das Prozessrecht durchziehenden Prinzips der Rücksichtnahme auf die Rechtssuchenden und ihrer fairen Behandlung (vgl. BAG 22. März 2018 – 8 AZR 779/16 – Rn. 19, BAGE 162, 275; 10. Mai 2005 – 9 AZR 251/04 – zu I 2 c der Gründe mwN, BAGE 114, 313). „Offensichtlich“ ist ein Versehen, wenn es sich aus dem Zusammenhang der Entscheidung selbst oder zumindest aus den Vorgängen bei ihrem Erlass oder ihrer Verkündung nach außen deutlich ergibt und damit auch für Dritte ohne Weiteres erkennbar ist (vgl. BAG 22. März 2018 – 8 AZR 779/16 – Rn. 22, BAGE 162, 275; BGH 16. Januar 2020 – I ZR 80/18 – Rn. 3 mwN).
48
2. Das Arbeitsgericht hat die Beklagte unter Ziff. 2 verurteilt, an die Klägerin ab dem „01.02.2017“ eine Betriebsrente – bis zum 31. März 2017 – iHv. 6.142,81 Euro brutto zu zahlen. Außerdem hat es im Tenor unter Ziff. 1 der Klägerin auf die ausgeurteilten 1.003,86 Euro brutto Zinsen erst ab dem 1. Februar 2017 zugesprochen.
49
3. Vorliegend ist ein offensichtliches Versehen des Arbeitsgerichts bei der Tenorabfassung gegeben. Ausgehend von dem Verständnis der klägerischen Anträge ist davon auszugehen, dass das Arbeitsgericht über den gesamten Streitgegenstand, dh. die erhöhte Witwenrente für den Zeitraum Juli 2016 bis März 2017, zugunsten der Klägerin entsprechend ihren Anträgen entschieden hat und ihm nur bei Abfassung des Tenors Fehler unterlaufen sind.
50
Die Klägerin hat für den vorgenannten Zeitraum die monatlich um 2,8 vH erhöhte Witwenrente und Zinsen für den Betrag von 1.003,86 Euro brutto (rückständige Beträge für den Zeitraum Juli bis Dezember 2016) ab dem 2. Januar 2017 verlangt. Den Entscheidungsgründen des arbeitsgerichtlichen Urteils ist nicht zu entnehmen, dass dem Zinsantrag nicht voll entsprochen werden sollte. Ebenso ist den Gründen – entgegen der Fassung des Tenors, eine Betriebsrente iHv. 6.142,81 Euro brutto erst ab dem „01.02.2017“ an die Klägerin zu zahlen – nicht zu entnehmen, dass der Klägerin für Januar 2017 die erhöhte Witwenrente nicht zugesprochen werden sollte. Insoweit ist von einem Zahlendreher auszugehen („01.02.2017“ statt „02.01.2017“).
51
4. Eine Berichtigung des Tenors des arbeitsgerichtlichen Urteils ist daher nach § 319 Abs. 1 ZPO durch den Senat als dem mit der Sache befassten Rechtsmittelgericht von Amts wegen aufgrund der offensichtlichen Schreibfehler geboten (vgl. zur Berichtigung durch das Rechtsmittelgericht BAG 19. Mai 2015 – 3 AZR 891/13 – Rn. 44 mwN).
52
Insoweit ist das Urteil des Arbeitsgerichts in Ziff. 1 und 2 dahin zu berichtigen, dass Zinsen auf den Betrag iHv. 1.003,86 Euro brutto bereits ab dem 2. Januar 2017 (Ziff. 1) und an die Klägerin die um 2,8 vH erhöhte Witwenrente iHv. 6.142,81 Euro brutto ab dem 2. Januar 2017 (bis zum 31. März 2017) (Ziff. 2) zu zahlen sind.
53
IV. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung und die Kosten der Revision zu tragen.
Zwanziger
Roloff
Günther-Gräff
Metzner
Schüßler |
bag_46-18 | 25.09.2018 | 25.09.2018
46/18 - Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung von Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB* bei Verzug des Arbeitgebers mit der Entgeltzahlung?
Die Parteien streiten in der Revision noch über die Zahlung von Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB.
Der Kläger ist langjährig bei der Beklagten beschäftigt. Er hat diese auf Zahlung rückständiger Besitzstandszulagen für die Monate Mai bis September 2016 in Anspruch genommen. Zudem hat er von der Beklagten wegen Verzugs mit der Zahlung der Besitzstandszulage für die Monate Juli bis September 2016 die Zahlung von drei Pauschalen à 40,00 Euro nach § 288 Abs. 5 BGB verlangt. Insoweit hat er die Ansicht vertreten, § 288 Abs. 5 BGB sei auch im Arbeitsrecht anwendbar. Die Beklagte hat demgegenüber im Wesentlichen eingewandt, § 288 Abs. 5 BGB sei im Arbeitsrecht gemäß § 12a ArbGG ausgeschlossen. Zudem lägen die Voraussetzungen des § 288 Abs. 5 BGB nicht vor, da sie sich nicht schuldhaft in Verzug befunden habe.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision der Beklagten, mit der diese sich gegen ihre Verurteilung zur Zahlung der Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB wendet, war vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolgreich. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die geltend gemachten Pauschalen. Zwar findet § 288 Abs. 5 BGB grundsätzlich auch in Fällen Anwendung, in denen sich der Arbeitgeber mit der Zahlung von Arbeitsentgelt in Verzug befindet. Allerdings schließt § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch wegen erstinstanzlich entstandener Beitreibungskosten, sondern auch einen entsprechenden materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch und damit auch den Anspruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB aus.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. September 2018 8 AZR 26/18
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 10. Oktober 2017 8 Sa 284/17
*§ 288 BGB Verzugszinsen und sonstiger Verzugsschaden
…
(5) Der Gläubiger einer Entgeltforderung hat bei Verzug des Schuldners, wenn dieser kein Verbraucher ist, außerdem einen Anspruch auf Zahlung einer Pauschale in Höhe von 40 Euro. Dies gilt auch, wenn es sich bei der Entgeltforderung um eine Abschlagszahlung oder sonstige Ratenzahlung handelt. Die Pauschale nach Satz 1 ist auf einen geschuldeten Schadensersatz anzurechnen, soweit der Schaden in Kosten der Rechtsverfolgung begründet ist.
**§ 12a ArbGG Kostentragungspflicht
(1) In Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs besteht kein Anspruch der obsiegenden Partei auf Entschädigung wegen Zeitversäumnis und auf Erstattung der Kosten für die Zuziehung eines Prozeßbevollmächtigten oder Beistandes. … | Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 10. Oktober 2017 – 8 Sa 284/17 – teilweise aufgehoben und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Auf die Berufung der Beklagten wird – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 9. März 2017 – 4 Ca 1280/16 – teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 641,15 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 384,69 Euro seit dem 13. August 2016 sowie aus 256,46 Euro seit dem 28. Oktober 2016 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz haben der Kläger 16 vH und die Beklagte 84 vH zu tragen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
§ 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG schließt als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch für bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandene Beitreibungskosten und damit insoweit auch einen Anspruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB aus.
Tatbestand
1
In der Revisionsinstanz streiten die Parteien noch über die Zahlung von Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB iHv. insgesamt 120,00 Euro wegen Verzugs der Beklagten mit der Zahlung von Besitzstandszulagen für die Monate Juli, August sowie September 2016.
2
Der Kläger war langjährig bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten als Maschinenführer beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis ging am 1. April 2014 infolge eines Betriebsübergangs auf die Beklagte über. Die Beklagte zahlte zunächst an den Kläger und andere Arbeitnehmer monatlich eine (weitere) Besitzstandszulage iHv. 128,23 Euro brutto. Ab dem 1. Mai 2016 stellte sie diese Zahlungen ein.
3
Mit seiner Klage hat der Kläger von der Beklagten die Zahlung rückständiger Besitzstandszulagen für die Monate Mai bis Juli 2016 iHv. insgesamt 384,69 Euro brutto nebst Zinsen sowie die Zahlung von drei Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB iHv. insgesamt 120,00 Euro verlangt. Mit seiner Klageerweiterung hat er die Beklagte auf Zahlung weiterer rückständiger Besitzstandszulagen für die Monate August und September 2016 iHv. insgesamt 256,46 Euro brutto nebst Zinsen in Anspruch genommen und zugleich klargestellt, dass er die Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB wegen Verzugs der Beklagten mit der Zahlung der Besitzstandszulagen für die Monate Juli, August und September 2016 begehrt.
4
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stünden nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB drei Pauschalen iHv. jeweils 40,00 Euro zu. Die in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB getroffene Neuregelung zähle zum Allgemeinen Teil des Schuldrechts; sie sei mangels einer Bereichsausnahme auch im Arbeitsrecht anwendbar.
5
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn rückständige Besitzstandszulagen iHv. insgesamt 641,15 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 384,69 Euro seit dem 13. August 2016 sowie aus 256,46 Euro seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn drei Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB iHv. insgesamt 120,00 Euro zu zahlen.
6
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, § 288 Abs. 5 BGB sei im Arbeitsrecht nicht anwendbar. Der Anwendung dieser Bestimmung stehe § 12a Abs. 1 ArbGG analog entgegen.
7
Die Vorinstanzen haben der Klage im vollen Umfang stattgegeben. Mit der Revision wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung zur Zahlung der Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB iHv. insgesamt 120,00 Euro. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
8
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Zahlung von Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB verurteilt. Die Klage ist insoweit unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Pauschalen. Zwar ist der Kläger, dem die Beklagte rückständige Besitzstandszulagen (auch) für die Monate Juli bis September 2016 schuldet, Gläubiger von Entgeltforderungen iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB. Dem Anspruch des Klägers aus § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB steht aber § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG entgegen. Diese Bestimmung schließt als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch für bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandene Beitreibungskosten und damit insoweit auch einen Anspruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB aus.
9
I. Der Kläger ist Gläubiger von Entgeltforderungen iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB.
10
1. Nach § 288 Abs. 5 BGB, der am 29. Juli 2014 in Kraft getreten ist, hat der Gläubiger einer Entgeltforderung bei Verzug des Schuldners, wenn dieser kein Verbraucher ist, außerdem einen Anspruch auf Zahlung einer Pauschale iHv. 40,00 Euro. Dies gilt auch, wenn es sich bei der Entgeltforderung um eine Abschlagszahlung oder sonstige Ratenzahlung handelt. Die Pauschale ist auf einen geschuldeten Schadensersatz anzurechnen, soweit der Schaden in Kosten der Rechtsverfolgung begründet ist.
11
2. Bei den vom Kläger gegenüber der Beklagten geltend gemachten Ansprüchen auf Zahlung rückständiger Besitzstandszulagen (auch) für die Monate Juli bis September 2016 iHv. insgesamt 384,69 Euro brutto handelt es sich um Entgeltforderungen iSd. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB.
12
a) Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/1309 S. 19) orientiert sich der Begriff der „Entgeltforderung“ in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB an dem entsprechenden Begriff in § 288 Abs. 2 BGB. Eine Entgeltforderung iSv. § 288 Abs. 2 BGB liegt vor, wenn die Forderung auf die Zahlung eines Entgelts als Gegenleistung für eine vom Gläubiger erbrachte oder zu erbringende Leistung gerichtet ist, die in der Lieferung von Gütern oder der Erbringung von Dienstleistungen besteht, wobei der Begriff „Dienstleistung“ sich allerdings nicht nach § 611 BGB bestimmt, sondern weiter gefasst ist. Zudem bedarf es keiner synallagmatischen Verknüpfung zwischen der Leistung des Gläubigers und der Zahlung durch den Schuldner. Vielmehr reicht eine konditionale Verknüpfung in dem Sinne aus, dass die Leistung des einen Teils Bedingung für die Entstehung der Verpflichtung des anderen Teils ist (vgl. BGH 12. April 2018 – IX ZR 88/17 – Rn. 33; 20. Juli 2017 – III ZR 545/16 – Rn. 31; 6. November 2013 – KZR 58/11 – Rn. 70, BGHZ 199, 1; 16. Juni 2010 – VIII ZR 259/09 – Rn. 12 f.; 21. April 2010 – XII ZR 10/08 – Rn. 21 und 23).
13
b) Danach handelt es sich bei den vom Kläger geltend gemachten Forderungen um Entgeltforderungen iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB. Die (weiteren) Besitzstandszulagen dienten nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts dazu, die Arbeitsvergütung des Klägers nach dem Betriebsübergang der Höhe nach wieder an die von der Rechtsvorgängerin der Beklagten geschuldete und gezahlte Arbeitsvergütung anzupassen, so dass sich die Besitzstandszulagen als Gegenleistung für die Arbeitsleistung des Klägers darstellen.
14
3. Der Kläger ist auch „Gläubiger“ von Entgeltforderungen iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB.
15
a) Aufgrund des Urteils des Landesarbeitsgerichts steht rechtskräftig fest, dass die Beklagte dem Kläger (auch) für die Monate Juli bis September 2016 Besitzstandszulagen iHv. insgesamt 384,69 Euro brutto schuldet.
16
b) Aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber mit § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB den Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (im Folgenden Richtlinie 2011/7/EU) umgesetzt hat (BT-Drs. 18/1309 S. 19), ergeben sich im Hinblick auf die Person des Gläubigers keine weitergehenden Anforderungen.
17
aa) Art. 6 der Richtlinie 2011/7/EU hat den folgenden Wortlaut:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 oder Artikel 4 im Geschäftsverkehr Verzugszinsen zu zahlen sind, der Gläubiger gegenüber dem Schuldner einen Anspruch auf Zahlung eines Pauschalbetrags von mindestens 40 EUR hat.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der in Absatz 1 genannte Pauschalbetrag ohne Mahnung und als Entschädigung für die Beitreibungskosten des Gläubigers zu zahlen ist.
(3) Der Gläubiger hat gegenüber dem Schuldner zusätzlich zu dem in Absatz 1 genannten Pauschalbetrag einen Anspruch auf angemessenen Ersatz aller durch den Zahlungsverzug des Schuldners bedingten Beitreibungskosten, die diesen Pauschalbetrag überschreiten. Zu diesen Kosten können auch Ausgaben zählen, die durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder eines Inkassounternehmens entstehen.“
18
bb) Zwar fällt in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/7/EU ausweislich deren Art. 1 nur der Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, wobei der Ausdruck „Geschäftsverkehr“ nach Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7/EU nur Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen bezeichnet, die zu einer Lieferung von Waren oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen. In Übereinstimmung hiermit heißt es in Erwägungsgrund 8 der Richtlinie 2011/7/EU, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie auf die als Entgelt für Handelsgeschäfte geleisteten Zahlungen beschränkt sein und dass die Richtlinie ua. nicht Geschäfte mit Verbrauchern umfassen sollte.
19
cc) Allerdings hat der Gesetzgeber mit § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB die Richtlinie 2011/7/EU überschießend umgesetzt. Danach verbleibt es zwar dabei, dass Schuldner einer Entgeltforderung iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB nur ein Nichtverbraucher sein kann, Gläubiger iSd. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB kann demgegenüber auch ein Verbraucher sein. Da der Arbeitnehmer Verbraucher iSv. § 13 BGB ist, kann er auch Gläubiger iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB sein (vgl. st. Rspr. zu § 310 Abs. 3 BGB: BAG 13. Februar 2013 – 5 AZR 2/12 – Rn. 14; 25. Mai 2005 – 5 AZR 572/04 – zu V 1 b dd der Gründe, BAGE 115, 19).
20
Dass Gläubiger iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB auch ein Verbraucher sein kann, ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut der Bestimmung, wonach Schuldner der Entgeltforderung nur sein kann, wer nicht Verbraucher ist, während eine entsprechende Einschränkung für den Gläubiger nicht besteht. Dies entspricht zudem dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, wie er in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommen ist. Während der Gesetzgeber das Gesetz zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr in der 17. Legislaturperiode zunächst nur für den unternehmerischen Geschäftsverkehr eingebracht hatte (vgl. BT-Drs. 17/10491), hat er in der 18. Legislaturperiode an dem Gesetzesentwurf eine wesentliche Veränderung vorgenommen: Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/1309 S. 13) kommt der neue Gesetzesentwurf „auch Verbraucherinnen und Verbrauchern zugute“. Auch diese sind nach dem Willen des Gesetzgebers geschützt, wenn sie Gläubiger von Nichtverbrauchern sind. Demgegenüber sind Verbraucher, die Schuldner von Entgeltforderungen sind, von dem Vorschlag nicht betroffen und haben deshalb keine zusätzlichen Belastungen zu erwarten. In der Begründung zu § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB (BT-Drs. 18/1309 S. 19) heißt es zudem: „Schuldner des Anspruchs auf eine Pauschale kann nur eine Person sein, die nicht Verbraucher ist. Anderes gilt für den Gläubiger. Dieser kann nach § 288 Absatz 5 Satz 1 BGB-E – insoweit über den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/7/EU hinausgehend – auch ein Verbraucher sein. Der Erweiterung des Schutzes von Gläubigern, die Verbraucher sind, liegen dieselben Überlegungen zugrunde wie in § 271 Absatz 5 Nummer 2 BGB-E: Durch die vorgeschlagene Formulierung soll vermieden werden, dass Verbraucher, die Gläubiger von Nichtverbrauchern sind, gegenüber Nichtverbrauchern schlechter gestellt werden.“
21
c) Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber Arbeitnehmer aus dem Kreis der Gläubiger iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB bewusst ausnehmen und insoweit bewusst zwischen unterschiedlichen Gruppen von Gläubigern, dh. hier Verbrauchern differenzieren wollte, sind – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht ersichtlich. Sie ergeben sich weder aus der Systematik der Bestimmung noch aus den Gesetzesmaterialien, insbesondere hat eine Bereichsausnahme für Arbeitsverhältnisse keinen Anklang im Wortlaut der Bestimmung gefunden (zu diesen Kriterien vgl.: BVerfG 4. Juli 2018 – 1 BvR 3041/13 -; 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 ua. – Rn. 73, 74).
22
4. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB findet vorliegend auch in zeitlicher Hinsicht Anwendung. Zwar ist § 288 BGB in der seit dem 29. Juli 2014 geltenden Fassung nach der in Art. 229 § 34 Satz 1 EGBGB getroffenen Regelung nur auf ein Schuldverhältnis anzuwenden, das nach dem 28. Juli 2014 entstanden ist. Allerdings folgt aus Art. 229 § 34 Satz 2 EGBGB, dass § 288 BGB in der seit dem 29. Juli 2014 geltenden Fassung auch auf ein vorher entstandenes Dauerschuldverhältnis anzuwenden ist, soweit die Gegenleistung nach dem 30. Juni 2016 erbracht wird. Der Kläger hat seine Gegenleistung für die von der Beklagten für die Monate Juli bis September 2016 geschuldeten Besitzstandszulagen durch Arbeitsleistung nach dem 30. Juni 2016 erbracht.
23
II. Dem Anspruch des Klägers aus § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB steht jedoch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG entgegen. Diese Bestimmung schließt als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Erstattung von bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandenen Beitreibungskosten und damit insoweit auch einen Anspruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 BGB aus.
24
1. Gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG besteht in Urteilsverfahren des ersten Rechtszugs kein Anspruch der obsiegenden Partei auf Entschädigung wegen Zeitversäumnis und auf Erstattung der Kosten für die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten oder Beistands.
25
2. Diese Bestimmung ist – ebenso wie die ihr vorangegangene Regelung in § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG 1953 – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dahin auszulegen, dass sie nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch unabhängig von seiner Anspruchsgrundlage, und damit auch einen Anspruch auf Erstattung vor- bzw. außergerichtlicher Kosten ausschließt (vgl. etwa BAG 11. März 2008 – 3 AZN 1311/07 – Rn. 6; 2. Oktober 2007 – 1 ABR 59/06 – Rn. 22, BAGE 124, 175; 27. Oktober 2005 – 8 AZR 546/03 – zu B II 4 b der Gründe; 27. Juli 1994 – 7 ABR 10/93 – zu B II 2 a aa und bb (2) der Gründe, BAGE 77, 273; 30. Juni 1993 – 7 ABR 45/92 – zu B II 2 der Gründe, BAGE 73, 314; 30. April 1992 – 8 AZR 288/91 – BAGE 70, 191; 16. Mai 1990 – 4 AZR 56/90 – BAGE 65, 139; zur Vorgängerregelung: vgl. BAG 14. Dezember 1977 – 5 AZR 711/76 – zu 1 der Gründe, BAGE 29, 426; 18. Dezember 1972 – 5 AZR 248/72 – BAGE 24, 486; 30. April 1968 – 5 AZR 190/67 – BAGE 21, 1; 23. September 1960 – 5 AZR 258/59 – zu 3 b der Gründe, BAGE 10, 39). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Die vom Bundesarbeitsgericht für die von ihm vorgenommene Auslegung von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG gegebene Begründung überzeugt nach wie vor.
26
a) Bereits der Wortlaut von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG, wonach „kein Anspruch der obsiegenden Partei …“ besteht, spricht für eine Auslegung von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG dahin, dass jeder Erstattungsanspruch – und nicht nur ein prozessualer – ausgeschlossen sein soll. § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG trifft insoweit eine pauschale Anordnung und differenziert nicht nach der Rechtsnatur der zugrunde liegenden Anspruchsgrundlage (so ausdrücklich Schleusener/Kühn NZA 2008, 147, 148).
27
b) Ein solches Verständnis von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG entspricht auch der Entstehungsgeschichte der Norm.
28
§ 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG wurde durch die Arbeitsgerichtsnovelle 1979 in das Gesetz eingefügt und hat den früheren § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG 1953 ohne inhaltliche Änderungen übernommen. Diese Bestimmung wiederum entsprach wortgleich der im Arbeitsgerichtsgesetz 1926 getroffenen Regelung, die ihrerseits auf einen Beschluss des sozialpolitischen Ausschusses des Reichstags zurückging. Die von der Reichsregierung im damaligen Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagene Regelung, wonach der obsiegenden Partei die Versäumnis- und Vertretungskosten insoweit erstattet werden sollten, als dies der Billigkeit entspräche, ist nicht Gesetz geworden. § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG 1926 wurde deshalb von Anfang an so verstanden, dass die der Partei erwachsenen außergerichtlichen Kosten fast niemals erstattet werden würden (vgl. hierzu etwa BAG 30. Juni 1993 – 7 ABR 45/92 – zu B II 2 c der Gründe, BAGE 73, 314; 30. April 1992 – 8 AZR 288/91 – zu III 3 der Gründe, BAGE 70, 191).
29
c) Auch der Zweck von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG – sowie der seiner Vorgängerregelungen – gebietet einen Ausschluss der materiell-rechtlichen Kostenerstattung.
30
aa) Der Zweck von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG – sowie seiner Vorgängerregelungen – besteht zunächst darin, das erstinstanzliche arbeitsgerichtliche Verfahren zum Schutz des in der Regel sozial schwächeren Arbeitnehmers möglichst zu verbilligen und damit das Kostenrisiko überschaubar zu halten. Arbeitnehmer sollen – wegen ihrer typischerweise bestehenden wirtschaftlichen Unterlegenheit – auch dann, wenn sie im Arbeitsgerichtsprozess unterliegen, nicht mit den in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG genannten Kosten belastet werden. Hierdurch soll vermieden werden, dass sie in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten von einer gerichtlichen Verfolgung bestehender Ansprüche absehen. Allerdings gilt § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG aus Gründen der gebotenen Parität auch für den Arbeitgeber oder eine sonstige Partei, die vor dem Arbeitsgericht unterliegt (zur Vorgängerregelung in § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG 1953 vgl. BAG 23. September 1960 – 5 AZR 258/59 – zu 3 b der Gründe, BAGE 10, 39). Danach soll keine Partei damit rechnen können und müssen, dass ihr im Fall des Obsiegens die Kosten der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten sowie die Kosten für Zeitversäumnis erstattet oder dass ihr im umgekehrten Fall des Unterliegens die Kosten des Bevollmächtigten des Gegners sowie die Kosten der Zeitversäumnis des Gegners auferlegt werden.
31
bb) Der Schutz bedürftiger Parteien im Sinne des Prozesskostenhilferechts vor erheblichen Prozesskosten ist demgegenüber nicht Zweck der Norm, da auch die arme obsiegende Partei keinen Kostenerstattungsanspruch gegen die unterlegene, möglicherweise wirtschaftlich deutlich stärkere Partei hat. Der Gedanke der sozialen Billigkeit mag dem Entwurf des Arbeitsgerichtsgesetzes 1926 noch zugrunde gelegen haben, der eine Erstattungspflicht nach Billigkeit vorsah, dieser Entwurf ist später aber nicht Gesetz geworden (BAG 30. April 1992 – 8 AZR 288/91 – zu III 4 der Gründe, BAGE 70, 191).
32
cc) Der Zweck von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG sowie seiner Vorgängerregelungen erfordert nicht nur den Ausschluss prozessualer, sondern auch materiell-rechtlicher Kostenerstattungsansprüche, auch soweit vor- und außergerichtliche Kosten in Rede stehen. Es wäre mit dem Anliegen des § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG, in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten das Kostenrisiko überschaubar zu halten, unvereinbar, der Partei, die eine arbeitsrechtliche Streitigkeit ohne Inanspruchnahme der Arbeitsgerichte beendet, grundsätzlich einen Kostenerstattungsanspruch zuzubilligen, ihr aber in dem Fall, dass es zu einem arbeitsgerichtlichen Verfahren kommt, die entsprechende Erstattung zu versagen. Wie unter Rn. 30 ausgeführt, soll mit der in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG getroffenen Regelung vermieden werden, dass Arbeitnehmer in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten wegen des Kostenrisikos von einer gerichtlichen Durchsetzung bestehender Ansprüche absehen. Zweck von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG ist es aber nicht, die Arbeitnehmer zu einer Inanspruchnahme arbeitsgerichtlichen Rechtsschutzes zu veranlassen. Ein solcher Effekt würde allerdings eintreten, wenn Arbeitnehmer im Fall einer außergerichtlichen vergleichsweisen Streitbeilegung, die häufig vorkommt, ggf. Kostenerstattungsansprüchen der Gegenseite ausgesetzt wären. Im Übrigen zeigt auch die Erfahrung, dass Vergleiche leichter zustande kommen, wenn die Frage der Erstattung der Anwaltskosten nicht erörtert werden muss (so zur Vorgängerfassung des § 12a Abs. 1 ArbGG, BAG 14. Dezember 1977 – 5 AZR 711/76 – BAGE 29, 426).
33
d) Der gesetzliche Ausschluss jedweder Kostenerstattung wegen Zeitversäumnis und wegen der Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten nach § 12a Abs. 1 ArbGG ist auch verfassungsrechtlich unbedenklich.
34
Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorgängerregelung des § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG mit Beschluss vom 20. Juli 1971 (- 1 BvR 231/69 – BVerfGE 31, 306) ausdrücklich als sachlich gerechtfertigte, weil dem Schutz des Arbeitnehmers als dem sozial Schwachen dienende Bestimmung gebilligt. Insoweit hat es darauf hingewiesen, dass das soziale Argument seit dem Erlass des Gesetzes im Jahre 1953 zwar schwächer geworden sein möge, allerdings habe es für die Masse der Arbeitnehmer weiterhin seine Berechtigung. Dass sich die in § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG 1953 getroffene Bestimmung unter Umständen auch zum Nachteil der Arbeitnehmer auswirken könne, sei nicht von Belang, da es nichts daran ändere, dass das Kostenrisiko durch § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG überschaubarer werde, weil jede Partei von vornherein wisse, dass sie an außergerichtlichen Kosten immer und äußerstenfalls nur das zu tragen habe, was sie selbst aufwendet (BVerfG 20. Juli 1971 – 1 BvR 231/69 – zu II 2 c der Gründe, aaO). Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt mit Beschluss vom 31. Januar 2008 (- 1 BvR 1806/02 – Rn. 58, BVerfGK 13, 262), wiederum unter Hinweis auf den durch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG bewirkten Schutz des Arbeitnehmers als des typischerweise sozial schwächeren Prozessbeteiligten bestätigt.
35
e) Entgegen einer in der Literatur vertretenen Rechtsauffassung (vgl. Ostermeier NJW 2008, 551, 554; Witschen/Röleke NJW 2017, 1702, 1704) gebietet auch der Umstand, dass vorprozessuale Anwaltskosten seit dem Inkrafttreten des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) am 1. Juli 2004 keine (potentiellen) Kosten des Rechtsstreits mehr sind, keine Veranlassung, die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Auslegung von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG zu modifizieren oder gar aufzugeben. Durch diesen Umstand wird die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, das Kostenrisiko in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten überschaubar zu halten, nicht in Frage gestellt. Die Frage des Anfalls und der Höhe der einem Rechtsanwalt zustehenden Gebühren hat keinerlei Auswirkung auf die Frage, ob und von wem diese Gebühren zu erstatten sind (BAG 11. März 2008 – 3 AZN 1311/07 – Rn. 8).
36
3. § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG schließt als spezielle arbeitsrechtliche Regelung einen Kostenerstattungsanspruch für bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandene Beitreibungskosten und insoweit auch einen Anspruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB aus (so auch Diller NZA 2015, 1095, 1096; ErfK/Koch 18. Aufl. § 12a ArbGG Rn. 1; Palandt/Grüneberg 77. Aufl. § 288 Rn. 15; Ulrici jurisPR-ArbR 8/2018 Anm. 7; aA MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 611 Rn. 843; GK-ArbGG/Schleusener Stand November 2017 § 12a Rn. 18a; Schwab/Weth/Vollstädt 5. Aufl. ArbGG § 12a Rn. 27b; Weigert NZA-RR 2017, 337, 339).
37
a) Zwei Rechtsnormen, die als einfachgesetzliche Regelungen im gleichen Rangverhältnis zueinander stehen, beanspruchen zwar grundsätzlich gleichermaßen Geltung und können grundsätzlich nebeneinander anwendbar sein. Eine Verdrängung der einen Rechtsnorm durch eine andere besondere Rechtsnorm kann aber vorliegen, wenn ein Fall von Spezialität gegeben ist, also die verdrängende Rechtsnorm sämtliche Merkmale der allgemeinen Norm enthält und dieser noch ein besonderes Merkmal zur Bildung ihres Tatbestands hinzufügt, oder wenn zwar ein auf Spezialität in diesem Sinne beruhendes Rangverhältnis der Rechtsnormen nicht festzustellen ist, das Zurücktreten einer Norm jedoch aus einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Gesetzesbefehl zu folgern ist (vgl. BVerwG 25. Juni 2015 – 5 C 15.14 – Rn. 14 mwN, BVerwGE 152, 264). Letzteres ist der Fall.
38
b) Der Gesetzgeber hat mit § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG, der nicht nur den prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern darüber hinaus auch einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch – unabhängig von seiner Anspruchsgrundlage – ausschließt, die abschließende Grundentscheidung getroffen, das Kostenrisiko in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten dadurch überschaubar zu halten, dass jede Partei von vornherein weiß, dass sie an bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz angefallenen Beitreibungskosten stets und maximal nur das zu tragen hat, was sie selbst aufwendet. Diese gesetzgeberische Grundentscheidung gilt es zu respektieren. Sie darf grundsätzlich nicht durch Zubilligung materiell-rechtlicher Kostenerstattungspflichten unterlaufen werden (vgl. etwa GMP/Germelmann/Künzl 9. Aufl. § 12a Rn. 8 mwN). Ausnahmen sind nur dort geboten, wo Sinn und Zweck von § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG einen Ausschluss der Kostenerstattung nicht rechtfertigen (vgl. GMP/Germelmann/Künzl aaO).
39
c) Im Hinblick auf den in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB geregelten Anspruch auf eine Pauschale ist eine Ausnahme von dem durch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG bewirkten Ausschluss materiell-rechtlicher Kostenerstattungsansprüche indes nicht veranlasst.
40
aa) Nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB kann der Gläubiger einer Entgeltforderung iSv. § 288 Abs. 2 BGB bei Verzug des Schuldners mit der Zahlung des Entgelts grundsätzlich eine Pauschale iHv. 40,00 Euro beanspruchen. Gerade auch den für Arbeitsverhältnisse typischen Fall, dass die Parteien über Entgeltansprüche des Arbeitnehmers streiten, hatte der Gesetzgeber mit dem in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG angeordneten Ausschluss jedweder Kostenerstattung im Auge (vgl. BAG 30. Juni 1993 – 7 ABR 45/92 – zu B II 2 f der Gründe, BAGE 73, 314).
41
bb) Zudem schließt § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG eine Erstattung der im Rahmen arbeitsrechtlicher Streitigkeiten typischerweise entstehenden und wirtschaftlich bedeutsamen externen sowie internen Beitreibungskosten aus. Deshalb kann gegen einen Ausschluss eines auf § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB gestützten Anspruchs nicht mit Erfolg eingewendet werden, dass in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG nicht sämtliche Beitreibungskosten, sondern ausdrücklich nur die Kosten der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten sowie die Kosten für Zeitversäumnis genannt sind (so aber P. Stein AuR 2017, 13, 17; aA Ulrici jurisPR-ArbR 8/2018 Anm. 7). Hierdurch wird die grundlegende Entscheidung des Gesetzgebers, das Kostenrisiko in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten dadurch überschaubar zu halten, dass jede Partei von vornherein weiß, dass sie an Beitreibungskosten, die bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstehen, stets und maximal nur das zu tragen hat, was sie selbst aufwendet, nicht in Frage gestellt.
42
(1) Von den in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG aufgeführten Kosten für die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten werden sowohl die Gebühren des Bevollmächtigten als auch dessen Auslagen sowie Reisekosten erfasst. Die Zeitversäumnis der Partei iSv. § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG umfasst sowohl den Zeitaufwand für die Teilnahme an der Verhandlung selbst einschließlich der Anreise als auch den Zeitaufwand für vorbereitende Handlungen wie zB die Klageerhebung, das Aufsuchen des Bevollmächtigten etc. Ausgeschlossen durch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG ist darüber hinaus die Geltendmachung eines Verdienstausfalls (vgl. etwa GMP/Germelmann/Künzl 9. Aufl. § 12a Rn. 16; Schleusener/Kühn NZA 2008, 147, 148). Damit schließt § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG eine Erstattung der im Rahmen arbeitsrechtlicher Streitigkeiten typischerweise entstehenden und wirtschaftlich bedeutsamen externen sowie internen Beitreibungskosten aus.
43
(2) Dass § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG eine Erstattung von Auslagen der Prozesspartei wie Portokosten, Sachaufwendungen oder Fotokopien sowie der Kosten, die der Partei für die Wahrnehmung des Gerichtstermins tatsächlich entstehen, nicht ausschließt, und dass auch in dem Fall, dass eine Partei nicht selbst erscheint, sondern einen Prozessbevollmächtigten entsendet, die hierdurch entstehenden Kosten im Rahmen hypothetisch berechneter Reisekosten, die der Partei sonst entstanden wären, grundsätzlich erstattungsfähig sind (vgl. hierzu BAG 17. August 2015 – 10 AZB 27/15 – Rn. 14), führt zu keiner anderen Bewertung. Durch diese Ausnahmen wird die grundlegende Entscheidung des Gesetzgebers, das Kostenrisiko in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten – wie unter Rn. 30 ausgeführt – überschaubar zu halten, nicht in Frage gestellt. Deshalb ist es auch unerheblich, ob § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG auch die Erstattung von Auslagen, die der Partei für die außergerichtliche Geltendmachung entstehen, ausschließt, was von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang nicht geklärt wurde (vgl. hierzu auch GK-ArbGG/Schleusener Stand November 2017 § 12a Rn. 19 – 21 mwN; Ulrici jurisPR-ArbR 8/2018 Anm. 7).
44
cc) Dass § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG als spezielle arbeitsrechtliche Regelung einem Anspruch eines Arbeitnehmers auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB entgegensteht, kann auch nicht erfolgreich mit dem Argument angegriffen werden, bei dem Anspruch nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB handele es sich um einen Anspruch „sui generis“, der unabhängig davon bestehe, ob Beitreibungskosten überhaupt entstanden seien und der (deshalb) im Wesentlichen Strafcharakter habe bzw. – wie auch der Kläger meint – zumindest schwerpunktmäßig der Prävention diene (zu den Zwecken von § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB vgl. etwa: Dornis JURA 2015, 887, 890 f.; ders. JZ 2018, 327, 330; Lembke NZA 2016, 1501, 1504; Richter ArbRAktuell 2016, 229, 231; P. Stein AuR 2017, 13, 15 f.; Tonikidis FA 2017, 8, 9; Weller/Harms WM 2012, 2305, 2312). Der Anspruch nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB ist kein Anspruch „sui generis“, der seinerseits als spezialgesetzliche Regelung der in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG getroffenen Regelung vorginge.
45
(1) Bei § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB handelt es sich nicht um eine Bestimmung mit Strafcharakter, insbesondere sieht sie keinen Strafschadensersatz vor. Dies folgt bereits daraus, dass der Gesetzgeber im Rahmen einer Regelung über die zivilrechtliche Haftung des Schuldners an dessen Verzug die Verpflichtung zur Zahlung eines pauschalierten Schadensersatzes knüpft. Unionsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht. Die Richtlinie 2011/7/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, einen Strafschadensersatz zu schaffen, sondern sieht in Art. 6 ausschließlich eine Entschädigung für Beitreibungskosten vor. Zudem heißt es im Erwägungsgrund 19 der Richtlinie 2011/7/EU, dass „eine gerechte Entschädigung der Gläubiger für die aufgrund eines Zahlungsverzugs des Schuldners entstandenen Beitreibungskosten“ erforderlich sei und dass in den Beitreibungskosten „zudem die aufgrund des Zahlungsverzugs entstandenen Verwaltungskosten und die internen Kosten enthalten sein“ sollten.
46
(2) Die in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB geregelte Verpflichtung zur Zahlung von Pauschalen dient auch nicht schwerpunktmäßig der Prävention bzw. Abschreckung. Vielmehr verfolgt der Gesetzgeber mit dieser Verpflichtung mehrere Ziele, von denen keinem aufgrund seiner Bedeutung der Vorrang vor anderen zukommt.
47
(a) Der Gesetzgeber wollte mit § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB zunächst die mit der Beitreibung typischerweise verbundenen Kosten pauschalieren, um dem Gläubiger den nach § 280 Abs. 2 iVm. § 286 BGB andernfalls notwendigen Nachweis, auch der Schadenshöhe, zu ersparen, und hierdurch die Durchsetzung eines Verzugsschadens vereinfachen und erleichtern. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB dient damit zunächst der vereinfachten Schadenskompensation.
48
Dies wird durch die Gesetzesbegründung belegt, in der es ausdrücklich heißt: „… Neu ist der Anspruch auf Zahlung einer Pauschale in Höhe von 40 Euro. Da diese Pauschalierung unabhängig von der tatsächlichen Schadenshöhe ist, geht der Entwurf nicht über den von der Richtlinie 2011/7/EU vorgegebenen Mindestbetrag von 40 Euro hinaus. Der Zahlungsanspruch aus § 288 Absatz 5 Satz 1 BGB-E steht dem Gläubiger bereits in voller Höhe mit Verzugseintritt zu. Er ist unabhängig davon, ob tatsächlich ein entsprechender Schaden entstanden ist“ (BT-Drs. 18/1309 S. 19).
49
Dass es dem Gesetzgeber um Schadenskompensation ging, wird auch durch die Neufassung der Überschrift des § 288 BGB in „Verzugszinsen und sonstiger Verzugsschaden“ bestätigt. Hierdurch „soll berücksichtigt werden, dass der im Entwurf vorgeschlagene § 288 Absatz 5 mit der Pauschale nunmehr eine weitere gesetzliche Form des Verzugsschadens neben den Verzugszinsen kennt“ (BT-Drs. 18/1309 S. 19). Darüber hinaus bestimmt § 288 Abs. 5 Satz 3 BGB, dass die geschuldete Pauschale auf einen geschuldeten Schadensersatz anzurechnen ist, soweit der Schaden in Kosten der Rechtsverfolgung begründet ist. Es kann vorliegend dahinstehen, ob die in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB bestimmte Pauschale auch der Pauschalierung externer Beitreibungskosten dient oder ob § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie 2011/7/EU unionsrechtskonform dahin auszulegen ist, dass er einen Anspruch auf Zahlung des Pauschalbetrages nur für interne Beitreibungskosten vorsieht, und welche Konsequenzen sich ggf. daraus im Hinblick auf die in § 288 Abs. 5 Satz 3 BGB vorgesehene Anrechnung der Pauschale auf externe Beitreibungskosten ergeben (zu dieser Problematik vgl. BGH 18. Januar 2018 – III ZR 174/17 -). Unabhängig von der Frage, ob die in § 288 Abs. 5 Satz 3 BGB getroffene Regelung den Vorgaben der Richtlinie 2011/7/EU gerecht wird, hat der Gesetzgeber auch mit dieser Bestimmung bestätigt, dass es ihm mit der Pauschale in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB um die Kompensation eines Verzugsschadens geht. Insoweit heißt es in der Gesetzesbegründung: „Absatz 5 Satz 3 regelt den Fall, dass der Gläubiger einen weiteren Verzugsschaden geltend macht“ (BT-Drs. 18/1309 S. 19).
50
Dass der Gesetzgeber mit § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB die Durchsetzung eines Verzugsschadens vereinfachen und erleichtern will, § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB mithin insoweit der vereinfachten Schadenskompensation dient, steht in Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben. Nach Art. 6 Abs. 2 iVm. Abs. 1 der Richtlinie 2011/7/EU stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der in Abs. 1 genannte Pauschalbetrag als Entschädigung für Beitreibungskosten des Gläubigers zu zahlen ist. Auch in den Erwägungsgründen 19 und 20 der Richtlinie 2011/7/EU ist jeweils von einer „Entschädigung für … Beitreibungskosten“ bzw. einem „Ersatz der … Beitreibungskosten“ die Rede.
51
(b) Der Gesetzgeber verfolgt mit § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB zudem – in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie – den Zweck, den Schuldner unter dem Druck einer andernfalls folgenden Verpflichtung zur Zahlung einer Pauschale zur fristgerechten Leistung anzuhalten. Insoweit hat § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB präventiven, dh. verhaltenssteuernden Charakter. Die Richtlinie 2011/7/EU bestimmt ihrerseits in ihrem Erwägungsgrund 19, dass eine gerechte Entschädigung der Gläubiger für die aufgrund eines Zahlungsverzugs des Schuldners entstandenen Beitreibungskosten erforderlich sei, um von der Überschreitung der Zahlungsfristen abzuschrecken.
52
(c) Letztlich verfolgt der Gesetzgeber mit der in § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB geregelten Pauschale auch das Ziel, die mit der Beitreibung verbundenen internen Kosten zu begrenzen, und dient insoweit auch der prozessualen Effizienz. Dies entspricht den Vorgaben des Erwägungsgrundes 19 der Richtlinie 2011/7/EU, wonach die Entschädigung in Form eines Pauschalbetrages dazu dienen sollte, die mit der Beitreibung verbundenen Verwaltungskosten und internen Kosten zu beschränken.
53
(d) Anhaltspunkte dafür, dass einem der vorgenannten Zwecke ein Vorrang vor anderen zukommen soll, lassen sich weder der Richtlinie 2011/7/EU noch § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB entnehmen.
54
dd) Dem durch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG bewirkten Ausschluss eines Anspruchs auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG einen Anspruch auf Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 BGB nicht ausschließt und dass § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB dem Gläubiger „außerdem“ einen Anspruch auf die dort geregelte Pauschale einräumt. Zwar sind sowohl der Zinsanspruch nach § 288 Abs. 1 BGB als auch der Anspruch nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB auch darauf gerichtet, den Schuldner zur Vertragstreue anzuhalten (vgl. Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2011/7/EU). Allerdings sind beide Ansprüche nicht untrennbar miteinander verknüpft, sondern bestehen unabhängig voneinander. Sowohl die Richtlinie 2011/7/EU als auch – dieser folgend – der deutsche Gesetzgeber, wie bereits aus der Überschrift von § 288 BGB ersichtlich, unterscheiden genau zwischen Zinsansprüchen und Ansprüchen auf Ersatz der Beitreibungskosten. Insbesondere zeigt die Regelung in § 288 Abs. 4 BGB, wonach die Geltendmachung eines weiteren Schadens nicht ausgeschlossen ist, dass der Zinsanspruch nach § 288 Abs. 1 BGB neben den sonstigen Schadensersatzansprüchen besteht. Dies entspricht auch den Vorgaben der Richtlinie 2011/7/EU. Insoweit heißt es in Erwägungsgrund 19, dass für die Beitreibungskosten ein pauschaler Mindestbetrag vorgesehen werden sollte, „der mit Verzugszinsen kumuliert werden kann“. Allein der Umstand, dass sowohl der Anspruch aus § 288 Abs. 1 BGB als auch der Anspruch aus § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB pauschalierte Schadensersatzansprüche sind, ändert nichts daran, dass es sich um unterschiedliche Ansprüche handelt.
55
ee) Dem durch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG bewirkten Ausschluss auch materiell-rechtlicher Kostenerstattungsansprüche kann letztlich auch nicht erfolgreich mit dem Argument begegnet werden, es fehle seit dem Inkrafttreten von § 288 Abs. 5 BGB insoweit an der für eine Analogie erforderlichen planwidrigen Regelungslücke (so GK-ArbGG/Schleusener Stand November 2017 § 12a Rn. 18a). Wie bereits unter Rn. 25 ausgeführt, ist die Regelung in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG – ebenso wie die Vorgängerregelung in § 61 Abs. 1 Satz 2 ArbGG 1953 – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dahin auszulegen, dass sie nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch unabhängig von seiner Anspruchsgrundlage, und damit auch einen Anspruch auf Erstattung vor- bzw. außergerichtlicher Beitreibungskosten ausschließt. Zudem lässt sich § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG – wie unter Rn. 30 ausgeführt – die gesetzgeberische Grundentscheidung entnehmen, das Kostenrisiko in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten dadurch überschaubar zu halten, dass jede Partei von vornherein weiß, dass sie an bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandenen Beitreibungskosten stets und maximal das zu tragen hat, was sie selbst aufwendet. Vor diesem Hintergrund ergibt sich aus § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG in unmittelbarer Anwendung, dass insoweit für eine Anwendung von § 288 Abs. 5 BGB kein Raum ist, so dass sich die Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen für eine Analogie nicht stellt.
56
d) Da dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 288 Abs. 5 BGB die Regelung in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG sowie die hierzu ergangene ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bekannt waren, wäre es nach alledem Sache des Gesetzgebers gewesen, ausdrücklich klarzustellen, dass § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG durch § 288 Abs. 5 BGB eingeschränkt werden soll. Eine derartige Einschränkung ist hingegen nicht erfolgt.
57
Im Gegenteil spricht nach der Entstehungsgeschichte von § 288 Abs. 5 BGB viel dafür, dass § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG nach dem Willen des Gesetzgebers durch § 288 Abs. 5 BGB gerade keine Einschränkung erfahren sollte. So heißt es in der Gesetzesbegründung: „… Wie schon unter Geltung der Richtlinie 2000/35/EG hat der Gläubiger als Verzugsschaden Anspruch auf Entschädigung für so genannte Beitreibungskosten. Diese umfassen, wie Artikel 6 Absatz 3 Satz 2 der Richtlinie 2011/7/EU klarstellt, unter anderem die Kosten, die durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder eines Inkassounternehmens entstehen. Das entspricht der geltenden Rechtslage in Deutschland zum Ersatz von Rechtsverfolgungskosten …“ (BT-Drs. 18/1309 S. 19). Ferner wird in der Gesetzesbegründung darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf Ersatz dieser durch den Zahlungsverzug des Schuldners hervorgerufenen Beitreibungskosten in Deutschland bereits durch die Regelungen in § 280 Abs. 1 und Abs. 2, § 286 BGB gewährleistet werde, hingegen sei der pauschale Zahlungsanspruch dem deutschen Recht bislang unbekannt (BT-Drs. 18/1309 S. 11). Da dem Gesetzgeber – wie unter Rn. 56 ausgeführt – bei der Schaffung von § 288 Abs. 5 BGB die Regelung in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG und die hierzu ergangene ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bekannt waren, wusste er auch, dass diese Beitreibungskosten, soweit sie bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstehen würden, gerade nicht nach § 280 Abs. 1 und Abs. 2, § 286 BGB erstattungsfähig waren, weshalb sich der Hinweis auf die geltende Rechtslage insoweit nicht auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten über die fristgerechte Zahlung von Entgelt beziehen konnte. Daraus ergibt sich im Übrigen auch, dass die mit der überschießenden Umsetzung der Richtlinie 2011/7/EU bewirkte Erweiterung des Kreises der Gläubiger iSv. § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB um die „Verbraucher“ nicht speziell dem Arbeitnehmerschutz dienen konnte.
58
e) Der durch § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG für Arbeitnehmer bewirkte Ausschluss eines Anspruchs nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Hierdurch werden Arbeitnehmer gegenüber den übrigen Verbrauchern, die ihre Entgeltansprüche vor den ordentlichen Gerichten geltend machen müssen, nicht entgegen den Vorgaben von Art. 3 Abs. 1 GG ohne sachlichen Grund benachteiligt.
59
Den Arbeitnehmern steht mit dem arbeitsgerichtlichen Verfahren ein effizienterer und kostengünstigerer Weg zur Beitreibung ihrer Entgeltansprüche zur Verfügung, so dass sie des in den Erwägungsgründen 12 und 33 der Richtlinie 2011/7/EU geforderten Schutzes vor einem langsamen und nicht wirksamen Beitreibungsverfahren, das dem Arbeitgeber als Schuldner finanzielle Vorteile brächte, nicht in gleichem Maße bedürfen wie die übrigen Verbraucher. So sind ausweislich der einschlägigen Kostenverzeichnisse nicht nur die Gerichtskosten in arbeitsgerichtlichen Verfahren niedriger als im Zivilprozess. Die klagende Partei – und damit typischerweise der Arbeitnehmer – ist zudem nach § 11 GKG von der Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses befreit. Es kommt hinzu, dass der Arbeitnehmer nach § 11 Abs. 1 ArbGG den Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht – unabhängig vom Streitwert – selbst führen kann. Zudem kann er sich ua. nach § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ArbGG kostengünstig von (s)einer Gewerkschaft vertreten lassen. Er kann seine Klage darüber hinaus – auch ohne die Hilfe eines Prozessbevollmächtigten in Anspruch nehmen zu müssen – auf der Rechtsantragstelle des Arbeitsgerichts erheben, § 7 Abs. 1 ArbGG (GMP/Prütting 9. Aufl. § 7 Rn. 22; ausf. Hermann Die Arbeitsgerichtsbarkeit FS zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes 1994 S. 265, 275 f.). Erscheint der Arbeitgeber im Gütetermin nicht und ist die Klage schlüssig, ergeht sehr zeitnah ein Versäumnisurteil, § 54 Abs. 4 ArbGG, das einer verkürzten Einspruchsfrist von einer Woche unterliegt, § 59 Satz 1 ArbGG. Erstreitet der Arbeitnehmer seinen Zahlungstitel im Kammertermin durch streitiges Urteil, ist dieses Urteil kraft Gesetzes – ohne Sicherheitsleistung – für ihn vorläufig vollstreckbar, § 62 Abs. 1 Satz 1 ArbGG.
Schlewing
Vogelsang
Roloff
von Schuckmann
N. Reiners |
bag_46-19 | 11.12.2019 | 11.12.2019
46/19 - Gesetzlicher Übergang eines Arbeitsverhältnisses auf eine Optionskommune - arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel
Geht ein Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes von der Bundesagentur für Arbeit auf eine Optionskommune über, finden nach § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II* ausschließlich die bei dem übernehmenden Rechtsträger geltenden Tarifverträge Anwendung. Diese gesetzliche Geltungsanordnung verdrängt arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf die Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit.
Der Kläger war bei der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis bestimmte sich aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme ua. nach dem Tarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) in der jeweils geltenden Fassung. Der beklagte Landkreis, der Mitglied der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist, wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2012 als kommunaler Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugelassen (sog. Optionskommune). Dieser informierte den Kläger, dass sein Arbeitsverhältnis ab diesem Zeitpunkt auf den Landkreis übergehe und künftig unter anderem der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst für den Bereich Verwaltung in der für den Bereich der VKA geltenden Fassung (TVöD/VKA) auf sein Arbeitsverhältnis anzuwenden sei. Seither wird der Kläger bei dem beklagten Landkreis – wie zuvor – als Teamleiter im Bereich der Leistungsgewährung beschäftigt. Er erhält eine Vergütung nach dem TVöD/VKA, anfänglich zuzüglich einer Ausgleichszahlung. Der Kläger begehrt die Feststellung, dass ua. der TV-BA aufgrund der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel weiterhin auf sein Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Der beklagte Landkreis ist der Auffassung, aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II sei ausschließlich das Tarifwerk für die Kommunen maßgebend.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Die Revision des beklagten Landkreises hatte vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist zum 1. Januar 2012 nach § 6c Abs. 1 SGB II kraft Gesetzes auf den beklagten Landkreis als kommunaler Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende übergegangen. Seit diesem Zeitpunkt fanden nach der gesetzlichen Regelung ausschließlich die beim Landkreis geltenden Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Diese gesetzliche Geltungsanordnung verdrängt die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf den TV-BA.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 4 AZR 310/16 –
Vorinstanz: Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. April 2016 – 3 Sa 45/16 –
Hinweis: In sechs weiteren, dieselbe Rechtsfrage betreffenden Verfahren blieben die auf die Anwendung des TV-BA bzw. die Gewährung entsprechender Arbeitsbedingungen gerichteten Klagen ebenfalls ohne Erfolg.
* § 6c Abs. 3 SGB II lautet auszugsweise:
(3) …2Treten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund des Absatzes 1 oder 2 kraft Gesetzes in den Dienst eines anderen Trägers über, tritt der neue Träger unbeschadet des Satzes 3 in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen ein, die im Zeitpunkt des Übertritts bestehen. 3Vom Zeitpunkt des Übertritts an sind die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge ausschließlich anzuwenden. … | Tenor
1. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 19. April 2016 – 3 Sa 45/16 – aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 18. Dezember 2015 – 12 Ca 2380/15 – wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Leitsatz
§ 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II erstreckt im Fall eines gesetzlichen Übergangs des Arbeitsverhältnisses nach § 6c Abs. 1 Satz 1 SGB II die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse unabhängig von der Tarifgebundenheit dieser Beschäftigten. In deren Arbeitsverträgen enthaltene Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit werden kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung vollständig verdrängt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Anwendbarkeit eines Tarifwerks auf ihr Arbeitsverhältnis.
2
Der Kläger war seit dem 1. Januar 2007 bei der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt. Ab dem 7. Dezember 2009 nahm er die Aufgaben eines „Teamleiters im Bereich SGB II“ bei der Agentur für Arbeit L (Arbeitsgemeinschaft L L) wahr. Nach § 2 des Arbeitsvertrags bestimmt sich sein Arbeitsverhältnis nach dem Tarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung sowie dem Tarifvertrag zur Überleitung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit in den Tarifvertrag der Bundesagentur für Arbeit (TVÜ-BA). Ferner finden nach der arbeitsvertraglichen Regelung die für die Bundesagentur für Arbeit geltenden sonstigen Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung.
3
Der Beklagte, der Mitglied der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ist, wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2012 als kommunaler Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende (auch) für das Gebiet des ehemaligen Landkreises L L zugelassen. Ende des Jahres 2011 wurde der Kläger sowohl von der Agentur für Arbeit L als auch vom Beklagten darüber informiert, sein Arbeitsverhältnis gehe zum 1. Januar 2012 kraft Gesetzes auf den Beklagten über. Ergänzend teilte der Beklagte mit, dass ab dem Übergang der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) vom 13. September 2005 für den Bereich Verwaltung (TVöD-V) sowie die den TVöD ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge in der für den Bereich der VKA jeweils geltenden Fassung (TVöD/VKA) auf das Arbeitsverhältnis Anwendung fänden.
4
Seit dem 1. Januar 2012 wird der Kläger als Teamleiter in der Leistungsgewährung beschäftigt und erhält eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TVöD/VKA, zunächst zuzüglich einer Ausgleichszahlung nach § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II. Mit Schreiben vom 23. Februar 2014 machte er geltend, der TV-BA finde weiterhin auf sein Arbeitsverhältnis Anwendung. Darüber hinaus begehrte er für die Zeit ab dem 1. September 2013 die Zahlung von Entgeltdifferenzen sowie die Abgeltung von Überstunden, die aus einer gegenüber dem TV-BA höheren Wochenarbeitszeit für das „Tarifgebiet Ost“ nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b TVöD/VKA resultierten.
5
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Bezugnahmeklausel in § 2 seines Arbeitsvertrags entfalte auch im Arbeitsverhältnis zu dem Beklagten Wirkung. Es handele sich um eine konstitutive zeitdynamische Verweisung auf die Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit. § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass er einer Anwendung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifverträge nicht entgegenstehe.
6
Der Kläger hat sinngemäß beantragt
festzustellen, dass auf das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis für die Zeit ab dem 1. Januar 2012 der TV-BA und die diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung, der TVÜ-BA sowie die für die Bundesagentur für Arbeit geltenden sonstigen Tarifverträge – jeweils idF für das Tarifgebiet Ost – Anwendung finden.
7
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat gemeint, aufgrund des eindeutigen Wortlauts von § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II sei für die Anwendung der Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit kein Raum. Die Norm sei rechtswirksam.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
9
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Berufung des Klägers zu Unrecht stattgegeben. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
10
I. Die Klage ist als sog. Elementenfeststellungsklage (sh. nur BAG 6. Juli 2011 – 4 AZR 706/09 – Rn. 15, BAGE 138, 269) zulässig. Insbesondere besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche, noch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende (st. Rspr., zB BAG 25. Januar 2017 – 4 AZR 520/15 – Rn. 16) besondere Feststellungsinteresse. Durch die gerichtliche Entscheidung kann der Streit der Parteien darüber, ob der TV-BA und der TVÜ-BA sowie die sonstigen für die Bundesagentur für Arbeit jeweils geltenden Tarifverträge weiterhin auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung finden, oder ob § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II eine solche Anwendung ausschließt, abschließend geklärt werden (vgl. BAG 6. Juli 2011 – 4 AZR 494/09 – Rn. 16, 24; sh. bereits 27. Juli 1956 – 1 AZR 430/54 – BAGE 3, 303).
11
II. Die Klage ist unbegründet. Die Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit finden auf das Arbeitsverhältnis der Parteien keine Anwendung. Sie sind zwar arbeitsvertraglich in Bezug genommen, werden aber aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung durch die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung (TVöD/VKA), an die der Beklagte kraft Verbandsmitgliedschaft gebunden ist (§ 3 Abs. 1 TVG), verdrängt. Das folgt aus § 6c Abs. 3 Satz 3 iVm. Satz 2 SGB II.
12
1. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist mit Wirkung zum 1. Januar 2012 auf den Beklagten übergegangen. Zwischen den Parteien steht nicht im Streit, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des – verfassungskonformen (BAG 31. Januar 2019 – 8 AZR 410/13 – Rn. 50 ff., BAGE 165, 278) – § 6c Abs. 1 Satz 1 SGB II für den gesetzlichen Übergang des Arbeitsverhältnisses zu diesem Zeitpunkt erfüllt waren. Der Kläger war Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit und hatte am Tag vor der Zulassung des Beklagten als weiterem kommunalen Träger seit mindestens 24 Monaten Aufgaben der Bundesagentur als Träger nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II in dem Gebiet des kommunalen Trägers wahrgenommen.
13
2. Mit dem gesetzlichen Übergang ist der Beklagte nach Maßgabe von § 6c Abs. 3 Satz 2 SGB II in alle Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Bundesagentur für Arbeit eingetreten.
14
a) Nach dieser Norm tritt der neue Träger im Falle des Übergangs nach Abs. 1 unbeschadet des Satzes 3 in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen ein, die im Zeitpunkt des Übertritts bestehen. Zu diesen Rechten und Pflichten gehören – neben allen anderen arbeitsvertraglichen Bestimmungen – auch diejenigen, die sich aus einer Bezugnahme auf Tarifverträge ergeben (vgl. zu § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zB BAG 30. August 2017 – 4 AZR 95/14 – Rn. 43, BAGE 160, 87; 23. September 2009 – 4 AZR 331/08 – Rn. 14 ff., BAGE 132, 169).
15
b) Deshalb ist auch die Bezugnahmeklausel in § 2 des Arbeitsvertrags Bestandteil des zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnisses geworden. Diese verweist zeitdynamisch auf den TV-BA, den TVÜ-BA sowie die für die Bundesagentur für Arbeit geltenden sonstigen Tarifverträge, jeweils in der Fassung für das Tarifgebiet Ost. Eine Bezugnahme auf die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, insbesondere auf den TVöD/VKA und den TVÜ-VKA, enthält die Klausel nicht. Bei diesen handelt es sich weder um die Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit ergänzende, ändernde oder ersetzende Tarifverträge noch um für die Bundesagentur für Arbeit jeweils geltende sonstige Tarifverträge (vgl. zu einer vergleichbaren Klausel BAG 16. Mai 2018 – 4 AZR 209/15 – Rn. 17 ff. mwN).
16
3. § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II ordnet darüber hinaus im Wege der gesetzlichen Geltungserstreckung an, dass auf die übergegangenen Arbeitsverhältnisse die Tarifverträge anzuwenden sind, die für den übernehmenden Rechtsträger gelten, ohne dass es auf die Tarifgebundenheit des übergegangenen Arbeitnehmers ankäme (im Ergebnis ebenso BAG 16. April 2015 – 6 AZR 142/14 – Rn. 17 f., BAGE 151, 263; vgl. zu einer weiteren Form der gesetzlichen Geltungserstreckung BAG 20. November 2018 – 10 AZR 121/18 – Rn. 51, BAGE 164, 201). Dies sind hier die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände geltenden Fassung.
17
a) Nach dem Wortlaut der Norm sind die „für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge“ anzuwenden. Maßgeblich für die Anwendung tariflicher Regelungen aufgrund dieser Bestimmung ist also, ob für die anderen – nicht für die übergehenden – Arbeitsverhältnisse des aufnehmenden Rechtsträgers Tarifverträge gelten. Nach § 4 Abs. 1 TVG „gelten“ die Rechtsnormen eines Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen (§ 3 Abs. 1 TVG; vgl. zum Begriff der „Geltung“ auch BAG 16. Oktober 2019 – 4 AZR 66/18 – Rn. 25). Voraussetzung ist damit in jedem Fall eine Tarifgebundenheit des aufnehmenden Rechtsträgers. Liegt eine solche vor, müssen nach § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II die entsprechenden Tarifverträge von ihm auch für alle übergehenden Arbeitsverhältnisse angewendet werden (BT-Drs. 17/1555 S. 20), ohne dass auf die Tarifgebundenheit der übergehenden Arbeitnehmer abgestellt wird. Ist der übernehmende Rechtsträger hingegen nicht tarifgebunden, ist für die Anwendung des § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II schon nach dessen Wortlaut kein Raum. Auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des übernehmenden Rechtsträgers würden in einer solchen Konstellation keine Tarifverträge gelten.
18
b) Im Streitfall findet danach, da der Beklagte Mitglied in der VKA ist, das Tarifwerk des TVöD/VKA auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft gesetzlicher Erstreckung Anwendung. Dies steht zwischen den Parteien nicht im Streit.
19
4. Eine Kollision zwischen den kraft gesetzlicher Erstreckung anwendbaren Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes und den vertraglich in Bezug genommenen Tarifverträgen für die Bundesagentur für Arbeit folgt daraus im Arbeitsverhältnis des Klägers aber nicht. Nach § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II sind vom Zeitpunkt des Übertritts an ausschließlich die für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge anzuwenden. Die arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifverträge werden verdrängt; für die Anwendung des Günstigkeitsprinzips bleibt kein Raum.
20
a) Bei aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbaren Tarifnormen handelt es sich rechtlich um einzelvertragliche Abreden. Normativ geltende und kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel anwendbare Tarifnormen sind grundsätzlich streng voneinander zu unterscheiden (st. Rspr., vgl. zu § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB zB BAG 30. August 2017 – 4 AZR 95/14 – Rn. 43, BAGE 160, 87; 17. Juni 2015 – 4 AZR 95/14 (A) – Rn. 14 ff.; 23. September 2009 – 4 AZR 331/08 – Rn. 14 ff., BAGE 132, 169). Eine Kollision zwischen den kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit für das Arbeitsverhältnis der Parteien normativ geltenden und den aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbaren Tarifvorschriften ist nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) zu lösen (st. Rspr., zB BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 123/18 – Rn. 34, BAGE 164, 345). Dieses – im TVG nur unvollkommen geregelte – Günstigkeitsprinzip ist überdies Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle und auch außerhalb des Tarifvertragsgesetzes Geltung beansprucht (BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – zu C II 3 a der Gründe, BAGE 53, 42; 5. März 2013 – 1 AZR 417/12 – Rn. 55 [zum Verhältnis Betriebsvereinbarung – Arbeitsvertrag]).
21
b) Die arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifnormen für die Bundesagentur für Arbeit finden auf das Arbeitsverhältnis der Parteien gleichwohl keine Anwendung. Sie werden aufgrund der Regelung in § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II, nach der vom Zeitpunkt des Übertritts an die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge ausschließlich anzuwenden sind, kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung von denen des bei dem Beklagten geltenden Tarifwerks des TVöD/VKA vollständig verdrängt (offengelassen in BAG 31. Januar 2019 – 8 AZR 410/13 – Rn. 98, BAGE 165, 278; 16. März 2016 – 4 AZR 461/14 – Rn. 23; hiervon ausgehend wohl 17. März 2016 – 6 AZR 96/15 – Rn. 3, 19; 16. April 2015 – 6 AZR 142/14 – Rn. 17 f., BAGE 151, 263). Das ergibt die Auslegung der Vorschrift.
22
aa) Maßgebend für die Gesetzesauslegung ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Zu dessen Ermittlung sind der Wortlaut der Norm, die Systematik, Sinn und Zweck sowie die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte heranzuziehen. Unter diesen anerkannten Methoden hat keine unbedingten Vorrang. Welche Regelungskonzeption der Gesetzgeber mit dem von ihm gefundenen Wortlaut tatsächlich verfolgt, ergibt sich uU erst aus den anderen Auslegungsgesichtspunkten. Wird daraus der Wille des Gesetzgebers klar erkennbar, ist dieser zu achten (vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 ua. – Rn. 74 f., BVerfGE 149, 126; BAG 16. Oktober 2019 – 5 AZR 241/18 – Rn. 15 mwN).
23
bb) Bereits der Wortlaut des § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II spricht für eine solche verdrängende Wirkung. Danach sind die beim übernehmenden Rechtsträger geltenden Tarifverträge „ausschließlich“ anzuwenden. Der Begriff „ausschließlich“ bedeutet – als Adverb verwendet – „nur, nichts anderes als“ (Wahrig Deutsches Wörterbuch 9. Aufl.). So verstanden finden außer den für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträgen keine weiteren Tarifverträge Anwendung. Dies spricht gegen die Annahme, dass arbeitsvertraglich in Bezug genommene Tarifverträge unberührt blieben. Allerdings lässt der Wortlaut des Satzes 3 für sich betrachtet auch die Deutung zu, dass lediglich mögliche Kollisionen auf tarifvertraglicher Ebene zugunsten der Tarifverträge des aufnehmenden Rechtsträgers gelöst werden sollten.
24
cc) Aus der Systematik der gesetzlichen Regelung wird die verdrängende Wirkung aber deutlich.
25
(1) § 6c Abs. 3 Satz 2 SGB II ordnet den Eintritt des übernehmenden Rechtsträgers in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen „unbeschadet“ des nachfolgenden Satzes an. Das Wort „unbeschadet“ drückt aus, dass neben Satz 2 weitere Rechtsnormen anwendbar sein sollen. Damit wird zwar nicht zum Ausdruck gebracht, dass die Regelung gegenüber einer anderen zurücktritt (vgl. Handbuch der Rechtsförmlichkeit Rn. 87, BAnz. Beilage Nr. 160a vom 22. Oktober 2008; Wolff JZ 2012, 31, 32). Die in § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II angeordnete Rechtsfolge soll aber durch den Eintritt des neuen Trägers in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen nicht beeinträchtigt werden. Anders formuliert reicht der Eintritt des neuen Trägers in die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis nur so weit, wie sich nicht aus § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II etwas anderes ergibt (vgl. zu diesem Verständnis von „unbeschadet“ BVerwG 4. Juli 1986 – 4 C 31.84 – BVerwGE 74, 315).
26
(2) Insoweit unterscheidet sich § 6c Abs. 3 SGB II von der Regelungssystematik des § 613a Abs. 1 BGB. Diese Norm trennt streng zwischen arbeitsvertraglichen Rechten und Pflichten einerseits und kollektivrechtlichen Regelungen andererseits (sh. nur BAG 17. November 2010 – 4 AZR 391/09 – Rn. 23, BAGE 136, 184). Abgesehen davon ist die Regelung auch im Übrigen auf den Fall des gesetzlichen Übergangs eines Arbeitsverhältnisses von der Bundesagentur für Arbeit auf eine Optionskommune weder unmittelbar noch analog anwendbar (BAG 31. Januar 2019 – 8 AZR 410/13 – Rn. 69 ff., BAGE 165, 278).
27
(3) Im Übrigen ist zu beachten, dass das Regelungsmodell des § 6c Abs. 3 SGB II sowohl für den Fall gilt, dass ein kommunaler Rechtsträger nach Abs. 1 Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit übernimmt als auch bei der Beendigung einer solchen kommunalen Trägerschaft nach Abs. 2. In beiden Situationen erfolgt der Übergang des Personals nach denselben Bestimmungen und mit denselben Rechtswirkungen.
28
dd) Sinn und Zweck von § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II stützen dieses Auslegungsergebnis. Die Gesetzesmaterialien enthalten zwar keine ausdrücklichen Erwägungen zum Zweck der Norm. Die Anordnung der ausschließlichen Anwendbarkeit der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge dient jedoch erkennbar der Anpassung der Arbeitsbedingungen an die Organisationsstrukturen bei dem jeweils übernehmenden Rechtsträger.
29
(1) Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass im Wesentlichen alle mit der Bundesagentur für Arbeit geschlossenen Arbeitsverträge eine Bezugnahmeklausel auf deren Haustarifverträge enthalten. Das Tarifwerk der Bundesagentur für Arbeit ist zwar eng an dasjenige des öffentlichen Dienstes angelehnt, trägt jedoch gleichzeitig deren Besonderheiten, vor allem den unterschiedlichen Organisationsstrukturen und den speziellen bei der Bundesagentur auszuübenden Tätigkeiten Rechnung. So ist insbesondere die Eingruppierung im TV-BA grundlegend abweichend von derjenigen im TVöD/VKA geregelt. Nach § 14 Abs. 1 TV-BA werden alle in der Bundesagentur für Arbeit auszuübenden Tätigkeiten von dieser in Fach- und Organisationskonzepten beschrieben und von den Tarifvertragsparteien Tätigkeits- und Kompetenzprofilen (TuK) zugeordnet. Die in den TuK festgelegten Anforderungen sind Grundlage für deren Zuordnung durch die Tarifvertragsparteien zu einer der acht Tätigkeitsebenen. Die Beschäftigten sind in der Tätigkeitsebene eingruppiert, der die ihnen nicht nur vorübergehend übertragene Tätigkeit zugeordnet ist. Die Zuordnung der Tätigkeiten zu TuK und der TuK zu Tätigkeitsebenen ist in den von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Zuordnungstabellen festgelegt. Dieses speziell auf die bei der Bundesagentur für Arbeit auszuübenden Tätigkeiten und von dieser festgelegten Fach- und Organisationskonzepte abgestimmte Vergütungssystem ist nicht ohne praktische Schwierigkeiten auf eine andere Organisationsstruktur übertragbar, zumal die Bundesagentur für Arbeit mangels Organisationshoheit schon für die gemeinsamen Einrichtungen mit den Kommunen keine Fach- und Organisationskonzepte erstellen kann (vgl. im Einzelnen BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 147/17 – Rn. 27 f., BAGE 164, 326). Das kann im Einzelfall zu Regelungslücken führen, deren Schließung nicht oder nur schwierig möglich ist.
30
(2) Das der gesetzlichen Vorschrift zugrunde liegende Anpassungsinteresse wird auch mit Blick auf den in § 6c Abs. 2 SGB II geregelten umgekehrten Fall des Endes der Trägerschaft deutlich. Danach treten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des kommunalen Trägers, die am Tag vor der Beendigung der Trägerschaft Aufgaben anstelle der Bundesagentur als Träger nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB II durchgeführt haben, zum Zeitpunkt der Beendigung der Trägerschaft kraft Gesetzes (wieder) in den Dienst der Bundesagentur über. Die Vorschriften des § 6c Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 SGB II finden auf diesen Fall ebenfalls Anwendung. Auch hier konnte der Gesetzgeber annehmen, dass mit den Optionskommunen geschlossene Arbeitsverträge im Regelfall eine Bezugnahmeklausel auf das Tarifwerk des öffentlichen Dienstes für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände enthalten. Nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers sollen auch in diesem Fall die Tarifverträge des übernehmenden Rechtsträgers – hier also der Bundesagentur für Arbeit – aus Gründen der Anpassung an die besonderen Organisationsstrukturen ausschließlich Anwendung finden.
31
(3) Dass der Gesetzgeber mit der Anordnung einer ausschließlichen Anwendung der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge lediglich den Fall einer Tarifkollision auf der kollektivrechtlichen Ebene regeln wollte, scheidet mangels relevanten Regelungsbedürfnisses aus.
32
(a) Galt in einem Arbeitsverhältnis vor dem gesetzlichen Übergang aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der TV-BA, entfällt dessen unmittelbare und zwingende Wirkung mit dem Übertritt (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG), weil die Optionskommune nicht an diesen gebunden ist. Eine Nachbindung iSv. § 3 Abs. 3 TVG tritt ebenso wenig ein, weil die Dienststellen der Optionskommune nicht in den Geltungsbereich des bei dem vormaligen Arbeitgeber geltenden Haustarifvertrags fallen (vgl. zum Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrags BAG 10. Dezember 1997 – 4 AZR 247/96 – zu 2 a bb der Gründe, BAGE 87, 257; zur Rechtslage bei einem Betriebsübergang vor Einführung von § 613a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 BGB sh. BAG 13. Mai 1981 – 4 AZR 1076/78 – BAGE 35, 239; 26. September 1979 – 4 AZR 819/77 – BAGE 32, 113). Auch eine Nachwirkung vor dem gesetzlichen Übergang des Arbeitsverhältnisses unmittelbar und zwingend geltender Tarifverträge kommt im Regelfall nicht in Betracht. Ist nämlich die Optionskommune – wie in den meisten Fällen – an den TVöD/VKA gebunden, handelt es sich bei diesem, weil er ua. – ebenso wie der TV-BA – mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di abgeschlossen worden ist, um eine andere Abmachung iSv. § 4 Abs. 5 TVG. Zwar entfällt die Nachwirkung des abgelaufenen Tarifvertrags nur insoweit, wie die andere Abmachung denselben Regelungsbereich erfasst, also die andere tarifliche Abmachung die in den nachwirkenden Rechtsnormen behandelten Gegenstände betrifft (BAG 3. Juli 2013 – 4 AZR 138/12 – Rn. 32, 41; 21. Oktober 2009 – 4 AZR 477/08 – Rn. 23). Im Grundsatz ist aber davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien des TVöD/VKA die Tätigkeit eines jeden Beschäftigten des öffentlichen Dienstes erfassen (vgl. zum BAT BAG 18. März 2015 – 4 AZR 702/12 – Rn. 18 mwN) und die betroffenen Arbeitsverhältnisse vollständig und umfassend regeln wollten (vgl. auch BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 445/17 – Rn. 33, BAGE 165, 100). Für nachwirkende Tarifbestimmungen aus dem Tarifwerk für die Bundesagentur für Arbeit bliebe deshalb in dieser Konstellation regelmäßig kein Raum.
33
(b) Nur für den Fall, dass ein Arbeitnehmer vor dem gesetzlichen Übergang seines Arbeitsverhältnisses aus der Gewerkschaft austritt, könnte auf der kollektivrechtlichen Ebene ein Regelungsbedürfnis bestehen (vgl. zum Fall des Herauswachsens aus dem Geltungsbereich des Tarifvertrags bei gleichzeitigem Verbandsaustritt BAG 10. Dezember 1997 – 4 AZR 247/96 – zu 2 a bb der Gründe mwN, BAGE 87, 257). Bei analoger Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG bliebe die Nachwirkung des zuvor unmittelbar und zwingend geltenden Tarifvertrags bestehen, wenn sie nicht durch die Anordnung der ausschließlichen Anwendung der für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge verdrängt würde. Dafür, dass der Gesetzgeber aber gerade diesen Ausnahmefall vor Augen hatte und nur für diesen eine eigene gesetzliche Regelung schaffen wollte, ohne den wesentlich näher liegenden Fall der vertraglichen Bezugnahme auf die Tarifverträge der Bundesagentur für Arbeit zu regeln, bestehen keine Anhaltspunkte.
34
ee) Weder aus der Gesetzeshistorie noch aus anderen Umständen lassen sich Anhaltspunkte für ein abweichendes Verständnis der Norm entnehmen. Die mit diesem Inhalt seit dem 11. August 2010 geltende Norm ist – mit Ausnahme einiger sprachlicher Anpassungen – unverändert geblieben.
35
5. Das dargelegte Normverständnis begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Allerdings greift die gesetzliche Regelung in das Grundrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG, einen Arbeitsvertrag frei zu schließen und daher auch dessen Inhalt aushandeln zu können (vgl. BVerfG 14. November 2018 – 1 BvR 1278/16 – Rn. 6 mwN), hinsichtlich in Bezug genommener Tarifnormen ein, weil sie deren Rechtswirkung verdrängt und es dadurch im Einzelfall auch zu einer Verlängerung der Arbeitszeit oder Verringerung der Vergütung kommen kann. Dieser Eingriff ist jedoch, insbesondere mit Blick auf die für den Regelfall gesetzlich angeordnete Anwendbarkeit eines anderen Tarifwerks des öffentlichen Dienstes und die Besitzstandsregelung in § 6c Abs. 5 SGB II, verfassungsrechtlich gerechtfertigt und verhältnismäßig, dh. geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne (BAG 31. Januar 2019 – 8 AZR 410/13 – Rn. 78 ff., 97 ff., BAGE 165, 278; vgl. auch BVerwG 20. September 2018 – 2 C 12.18 – Rn. 52). Andere arbeitsvertragliche Vereinbarungen als die Bezugnahmeklausel bleiben von § 6c Abs. 3 Satz 3 SGB II unberührt. Soweit der übernehmende Rechtsträger nicht tarifgebunden sein sollte, ist der Anwendungsbereich der Norm nicht eröffnet, so dass es bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeregelung und der Anwendung des in Bezug genommenen Tarifwerks bleibt (Rn. 17). Der Schutz des Arbeitnehmers vor dem Verlust tariflich umfassend ausgestalteter Arbeitsbedingungen – sei es auf normativer oder vertraglicher Ebene – ist damit im Fall des Übergangs des Arbeitsverhältnisses nach § 6c SGB II gewährleistet. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts bedarf es deshalb keiner verfassungskonformen Auslegung der Norm. Eine solche käme im Übrigen im Hinblick auf den klaren Willen des Gesetzgebers auch nicht in Betracht (vgl. BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 ua. – Rn. 73, BVerfGE 149, 126; 25. Januar 2011 – 1 BvR 1741/09 – Rn. 78, BVerfGE 128, 157).
36
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO.
W. Reinfelder
Klug
Rinck
P. Hoffmann
Häseler-Wallwitz |
bag_46-20 | 09.12.2020 | 09.12.2020
46/20 - Verschieden hohe Zuschläge bei regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit
Tarifvertragliche Regelungen, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Ausgleich vorsehen als für regelmäßige Nachtarbeit, werfen Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht auf. Diese Fragen müssen durch ein Vorabentscheidungsersuchen geklärt werden, das der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union richtet.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien ist der Manteltarifvertrag der Erfrischungsgetränke-Industrie* anzuwenden. Der Tarifvertrag regelt, dass der Zuschlag für regelmäßige Nachtarbeit 20 % und für unregelmäßige Nachtarbeit 50 % der Stundenvergütung beträgt. Die Klägerin leistete Nachtarbeit in einem Schichtmodell und erhielt dafür einen Zuschlag von 20 %. Sie ist der Auffassung, die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung bestehe nicht.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben. Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union, Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht zu beantworten. Führen tarifvertragliche Regelungen die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) durch, wenn sie unterschiedlich hohe Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit enthalten? Ist eine tarifvertragliche Regelung gleichbehandlungswidrig nach Art. 20 der Charta, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht, wenn damit neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit der Arbeitszeit ausgeglichen werden sollen?**
Diese Fragen stellen sich auch für eine große Zahl von anderen Tarifverträgen.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 9. Dezember 2020 – 10 AZR 332/20 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Juni 2020 – 8 Sa 2030/19 –
*Die vollständige Bezeichnung lautet: Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Hauptverwaltung vom 24. März 1998
**Der genaue Wortlaut der Fragen kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden.
Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat dem Gerichtshof der Europäischen Union diese Fragen auch in dem Parallelverfahren – 10 AZR 333/20 (A) – vorgelegt. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über die Fragen ersucht:
1. Wird mit einer tarifvertraglichen Regelung die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durchgeführt, wenn die tarifvertragliche Regelung für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Ausgleich vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird:
Ist eine tarifvertragliche Regelung mit Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Ausgleich vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, wenn damit neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden sollen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts fragt den Gerichtshof der Europäischen Union: Kann es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union iVm. Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG verstoßen, wenn ein Tarifvertrag für regelmäßige Nachtarbeit geringere Zuschläge vorsieht als für unregelmäßige Nachtarbeit?
Entscheidungsgründe
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 und 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sowie von Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG.
2
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
3
Die Parteien streiten über die Höhe der tariflichen Zuschläge für Arbeitsstunden, die in Nachtschichten geleistet werden.
4
Die Klägerin leistet Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit bei der Beklagten, einem Unternehmen der Getränkeindustrie. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die Beklagte ist durch mit der Gewerkschaft NGG geschlossenen Unternehmenstarifvertrag an einen Manteltarifvertrag gebunden. Es handelt sich um den Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Hauptverwaltung vom 24. März 1998 (MTV). § 7 Nr. 1 MTV bestimmt, dass für unregelmäßige Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 % je Stunde zu zahlen ist. Für regelmäßige Nachtarbeit ist nach der Tarifnorm ein Zuschlag von 20 % je Stunde geschuldet. Der MTV sieht einen Zuschlag von 25 % je Mehrarbeitsstunde und von 50 % je Mehrarbeitsstunde in der Nacht vor. Er begründet weitere Ansprüche für Schichtarbeitnehmer. Für 20 geleistete Nachtschichten ist ein Tag Schichtfreizeit zu gewähren. Arbeitnehmer im Drei-Schicht-System erhalten eine dreißigminütige bezahlte Essenspause.
5
Die Klägerin verrichtete von Dezember 2018 bis Juni 2019 regelmäßige Nachtarbeit im tarifvertraglichen Sinn. Es handelte sich um 38,73 Stunden im Dezember 2018, 68,53 Stunden im Januar 2019, 38,33 Stunden im Februar 2019, 0,33 Stunden im März 2019, 36,27 Stunden im April 2019, 0,2 Stunden im Mai 2019 und 76,4 Stunden im Juni 2019.
6
Die Beklagte leistete für die Monate Dezember 2018 bis Juni 2019 Nachtarbeitszuschläge in Höhe von 20 % auf die abgerechneten Nachtarbeitsstunden. Die Vergütung der Klägerin belief sich im Dezember 2018 auf 16,55 Euro brutto je Stunde. Mit Wirkung vom 1. Januar 2019 wurde ihr Entgelt aufgrund eines Unternehmenstarifvertrags vom 13. Mai 2019 auf 17,32 Euro brutto je Stunde angehoben.
7
Die Klägerin ist der Auffassung, die gegenüber den Ansprüchen auf Zuschläge von 50 % für unregelmäßige Nachtarbeit sehr viel geringeren Ansprüche auf Zuschläge von 20 % für regelmäßige Nachtarbeit seien gleichheitswidrig. Die Unterscheidung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes (GG) und den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Bei Nachtarbeit könnten andere Umstände als der Gesundheitsschutz höhere Zuschläge nicht rechtfertigen. Das tradierte Bild der „verstellbaren biologischen Uhr“ sei durch die aktuellen und gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnisse überholt. Die regelmäßige Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer seien erheblich höheren Gesundheitsgefährdungen und Störungen ihres sozialen Umfelds ausgesetzt als Arbeitnehmer, die außerhalb von Schichtsystemen und daher seltener nachts arbeiteten. Rechtsfolge der gleichheitswidrigen Behandlung durch § 7 Nr. 1 MTV könne nur eine sog. Anpassung der zu geringen Vergütung nach oben sein.
8
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Differenzen zwischen den höheren Zuschlägen für unregelmäßige Nachtarbeit von 50 % und den geleisteten Zuschlägen für regelmäßige Nachtarbeit von 20 % in der Zeit von Dezember 2018 bis Juni 2019 verlangt.
9
Die Beklagte meint, die Tarifvertragsparteien seien allenfalls mittelbar an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Sie hätten den ihnen nach Art. 9 Abs. 3 GG zukommenden weiten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum eingehalten. Zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit bestehe ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, weil unregelmäßige Nachtarbeit in sehr viel geringerem Umfang anfalle. Der Zuschlag von 50 % für unregelmäßige Nachtarbeit betreffe typischerweise Mehrarbeit und enthalte den Mehrarbeitszuschlag. Die Zuschlagsdifferenz – das „Delta“ – sei schon deshalb geringer als 30 %, weil für je 20 geleistete Nachtschichten ein Tag Schichtfreizeit zu gewähren sei. Die dreißigminütige bezahlte Essenspause, die Arbeitnehmern im Drei-Schicht-System zu gewähren sei, entspreche einem weiteren „Zuschlag“ von 6,58 %. Der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen. Er solle den Arbeitgeber auch davon abhalten, in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer einzugreifen. Bei der unregelmäßigen und spontanen Anordnung von Nachtarbeit sei die Teilhabe am sozialen Leben, etwa die Kinderbetreuung oder die Pflege von Familienangehörigen, wesentlich schwieriger zu organisieren als bei einer im Voraus planbaren Nachtarbeitssituation. Eine sog. Anpassung nach oben erweitere den Kostenrahmen der Beklagten wegen des Ausnahmecharakters der unregelmäßigen Nachtarbeit in unzumutbarem Umfang.
10
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr zum Teil stattgegeben, in vollem Umfang für die Monate Dezember 2018, Januar 2019 und März 2019 sowie teilweise für die Monate April und Juni 2019. Die Ansprüche auf Differenzvergütung für Februar 2019, Mai 2019 sowie Teile der Ansprüche für April und Juni 2019 hat das Landesarbeitsgericht aufgrund der Ausschlussfrist des § 17 Nr. 2 MTV für verfallen gehalten. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision will die Beklagte das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts in vollem Umfang wiederhergestellt wissen.
11
B. Einschlägiges nationales Recht
12
I. Verfassungsrecht
13
1. Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 104a und 143h) vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048) lautet:
„1Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. 2Die Freiheit der Person ist unverletzlich. 3In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
14
2. Art. 3 GG regelt:
„
(1)
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
…
(3)
1Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. 2Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
15
3. Art. 9 GG bestimmt:
„
(1)
Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
…
(3)
1Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. 2Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. 3Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“
16
II. Gesetzliche Vorschriften
17
Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 6. Juni 1994 (BGBl. I S. 1170), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 575), bestimmt in Auszügen:
„§ 1
Zweck des Gesetzes
Zweck des Gesetzes ist es,
1.
die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland und in der ausschließlichen Wirtschaftszone bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten und die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern sowie
2.
den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer zu schützen.
§ 2
Begriffsbestimmungen
(1)
1Arbeitszeit im Sinne dieses Gesetzes ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen; Arbeitszeiten bei mehreren Arbeitgebern sind zusammenzurechnen. …
(2)
Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten.
(3)
Nachtzeit im Sinne dieses Gesetzes ist die Zeit von 23 bis 6 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22 bis 5 Uhr.
(4)
Nachtarbeit im Sinne dieses Gesetzes ist jede Arbeit, die mehr als zwei Stunden der Nachtzeit umfaßt.
(5)
Nachtarbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeitnehmer, die
1.
auf Grund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder
2.
Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten.
…
§ 6
Nacht- und Schichtarbeit
(1)
Die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer ist nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen.
(2)
1Die werktägliche Arbeitszeit der Nachtarbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. 2Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn abweichend von § 3 innerhalb von einem Kalendermonat oder innerhalb von vier Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. 3Für Zeiträume, in denen Nachtarbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 5 Nr. 2 nicht zur Nachtarbeit herangezogen werden, findet § 3 Satz 2 Anwendung.
(3)
1Nachtarbeitnehmer sind berechtigt, sich vor Beginn der Beschäftigung und danach in regelmäßigen Zeitabständen von nicht weniger als drei Jahren arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen. 2Nach Vollendung des 50. Lebensjahres steht Nachtarbeitnehmern dieses Recht in Zeitabständen von einem Jahr zu. 3Die Kosten der Untersuchungen hat der Arbeitgeber zu tragen, sofern er die Untersuchungen den Nachtarbeitnehmern nicht kostenlos durch einen Betriebsarzt oder einen überbetrieblichen Dienst von Betriebsärzten anbietet.
(4)
1Der Arbeitgeber hat den Nachtarbeitnehmer auf dessen Verlangen auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz umzusetzen, wenn
a)
nach arbeitsmedizinischer Feststellung die weitere Verrichtung von Nachtarbeit den Arbeitnehmer in seiner Gesundheit gefährdet oder
b)
im Haushalt des Arbeitnehmers ein Kind unter zwölf Jahren lebt, das nicht von einer anderen im Haushalt lebenden Person betreut werden kann, oder
c)
der Arbeitnehmer einen schwerpflegebedürftigen Angehörigen zu versorgen hat, der nicht von einem anderen im Haushalt lebenden Angehörigen versorgt werden kann,
sofern dem nicht dringende betriebliche Erfordernisse entgegenstehen. 2Stehen der Umsetzung des Nachtarbeitnehmers auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz nach Auffassung des Arbeitgebers dringende betriebliche Erfordernisse entgegen, so ist der Betriebs- oder Personalrat zu hören. 3Der Betriebs- oder Personalrat kann dem Arbeitgeber Vorschläge für eine Umsetzung unterbreiten.
(5)
Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren.
(6)
Es ist sicherzustellen, daß Nachtarbeitnehmer den gleichen Zugang zur betrieblichen Weiterbildung und zu aufstiegsfördernden Maßnahmen haben wie die übrigen Arbeitnehmer.“
18
III. Geltendes Tarifrecht
19
Der Manteltarifvertrag zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Hauptverwaltung vom 24. März 1998 (MTV) bestimmt auszugsweise:
„§ 4
Regelung der Arbeitszeit
…
C. Nacht-, Sonntags- und Schichtarbeit
1.
Nachtarbeit ist die Zeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr.
…
3.
Bei Schichtarbeit kann eine Verschiebung der Zeiträume der Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit entsprechend den Schichtzeiten festgelegt werden.
4.
Schichtarbeit liegt dann vor, wenn der Arbeitstag in verschiedene Abschnitte – Schichten – eingeteilt wird.
5.
Zur Abgeltung der auftretenden Erschwernisse und Belastungen bei ständiger Nachtschicht oder im 3-Schichten-Wechsel wird ein Ausgleich durch Freizeit gewährt.
6.
Arbeitnehmer/innen, die in ständiger Nachtschicht oder im 3-Schichten-Wechsel arbeiten, erhalten für je 20 geleistete Nachtschichten einen Tag Schichtfreizeit.
7.
Die Vergütung dieser Schichtfreizeit erfolgt mit dem entsprechenden Anteil des Monatsentgeltes.
8.
In Betrieben, in denen im 3-Schicht-System gearbeitet wird, muß den Arbeitnehmern/innen, die aus betrieblichen Gründen wegen ununterbrochenen Fortgangs der Arbeit ihren Arbeitsplatz nicht verlassen können, eine bezahlte Essenspause von 30 Minuten innerhalb der Arbeitszeit gewährt werden. Die bezahlte Essenspause ist nicht mit der wöchentlichen bzw. täglichen Arbeitszeit zu verrechnen.
…
…
§ 7
Zuschläge für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1.
Für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit werden folgende Zuschläge gezahlt:
Mehrarbeit ab der 41. Stunde/Woche
25 %
Mehrarbeit in der Nacht ab der 41. Stunde/Woche
50 %
regelmäßige Nachtarbeit ab 1998
17,5 %
regelmäßige Nachtarbeit ab 1999
20 %
unregelmäßige Nachtarbeit ab 1998
40 %
unregelmäßige Nachtarbeit ab 1999
50 %
…
2.
Bei Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere Zuschlag zu zahlen.
3.
Die Zuschläge werden vom tariflichen Gesamtentgelt berechnet.
…
§ 17
Ausschlußfristen
…
2.
Ansprüche auf Bezahlung von Mehrarbeits- und Überstundenvergütungen sowie auf Zahlung von Zuschlägen müssen innerhalb von 2 Monaten nach Fälligkeit und unter Vorlage der Abrechnung geltend gemacht werden, andernfalls sind sie verwirkt.“
20
C. Einschlägiges Unionsrecht
21
I. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember 2007 (ABl. EU C 303 vom 14. Dezember 2007 S. 1) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Juni 2016 (ABl. EU C 202 vom 7. Juni 2016 S. 389)
22
1. Art. 20 der Charta lautet:
„Gleichheit vor dem Gesetz
Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.“
23
2. Art. 21 der Charta bestimmt:
„Nichtdiskriminierung
(1)
Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.
…“
24
3. Art. 28 der Charta regelt:
„Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.“
25
4. Art. 31 der Charta bestimmt:
„Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1)
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
(2)
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“
26
5. Art. 51 der Charta lautet:
„Anwendungsbereich
(1)
1Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. 2Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.
(2)
Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“
27
II. Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. EU L 299 vom 18. November 2003 S. 9; Richtlinie 2003/88/EG, Arbeitszeitrichtlinie)
28
1. Im vierten Erwägungsgrund und in den sechsten bis zehnten Erwägungsgründen der Richtlinie 2003/88/EG heißt es:
„(4)
Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
…
(6)
Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen; dies betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze.
(7)
Untersuchungen zeigen, dass der menschliche Organismus während der Nacht besonders empfindlich auf Umweltstörungen und auf bestimmte belastende Formen der Arbeitsorganisation reagiert und dass lange Nachtarbeitszeiträume für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig sind und ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen können.
(8)
Infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt.
(9)
Nachtarbeiter haben vor Aufnahme der Arbeit – und danach regelmäßig – Anspruch auf eine unentgeltliche Untersuchung ihres Gesundheitszustands und müssen, wenn sie gesundheitliche Schwierigkeiten haben, soweit jeweils möglich auf eine für sie geeignete Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden.
(10)
In Anbetracht der besonderen Lage von Nacht- und Schichtarbeitern müssen deren Sicherheit und Gesundheit in einem Maß geschützt werden, das der Art ihrer Arbeit entspricht, und die Schutz- und Vorsorgeleistungen oder -mittel müssen effizient organisiert und eingesetzt werden.“
29
2. Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG lautet:
„Artikel 2
Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Richtlinie sind:
…
3.
Nachtzeit: jede, in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegte Zeitspanne von mindestens sieben Stunden, welche auf jeden Fall die Zeitspanne zwischen 24 Uhr und 5 Uhr umfasst;
4.
Nachtarbeiter:
a)
einerseits: jeder Arbeitnehmer, der während der Nachtzeit normalerweise mindestens drei Stunden seiner täglichen Arbeitszeit verrichtet;
b)
andererseits: jeder Arbeitnehmer, der während der Nachtzeit gegebenenfalls einen bestimmten Teil seiner jährlichen Arbeitszeit verrichtet, der nach Wahl des jeweiligen Mitgliedstaats festgelegt wird:
i)
nach Anhörung der Sozialpartner in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder
ii)
in Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf nationaler oder regionaler Ebene;
5.
Schichtarbeit: jede Form der Arbeitsgestaltung kontinuierlicher oder nicht kontinuierlicher Art mit Belegschaften, bei der Arbeitnehmer nach einem bestimmten Zeitplan, auch im Rotationsturnus, sukzessive an den gleichen Arbeitsstellen eingesetzt werden, so dass sie ihre Arbeit innerhalb eines Tages oder Wochen umfassenden Zeitraums zu unterschiedlichen Zeiten verrichten müssen;
6.
Schichtarbeiter: jeder in einem Schichtarbeitsplan eingesetzte Arbeitnehmer;
…“
30
3. Art. 8 bis 13 der Richtlinie 2003/88/EG geben vor:
„Artikel 8
Dauer der Nachtarbeit
1Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:
a)
die normale Arbeitszeit für Nachtarbeiter im Durchschnitt acht Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum nicht überschreitet;
b)
Nachtarbeiter, deren Arbeit mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen oder geistigen Anspannung verbunden ist, in einem 24-Stunden-Zeitraum, während dessen sie Nachtarbeit verrichten, nicht mehr als acht Stunden arbeiten.
2Zum Zweck von Buchstabe b) wird im Rahmen von einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten oder von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festgelegt, welche Arbeit unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Nachtarbeit und der ihr eigenen Risiken mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen und geistigen Anspannung verbunden ist.
Artikel 9
Untersuchung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern und Versetzung auf Arbeitsstellen mit Tagarbeit
(1)
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:
a)
der Gesundheitszustand der Nachtarbeiter vor Aufnahme der Arbeit und danach regelmäßig unentgeltlich untersucht wird;
b)
Nachtarbeiter mit gesundheitlichen Schwierigkeiten, die nachweislich damit verbunden sind, dass sie Nachtarbeit leisten, soweit jeweils möglich auf eine Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden, für die sie geeignet sind.
(2)
Die unentgeltliche Untersuchung des Gesundheitszustands gemäß Absatz 1 Buchstabe a) unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.
(3)
Die unentgeltliche Untersuchung des Gesundheitszustands gemäß Absatz 1 Buchstabe a) kann im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens durchgeführt werden.
Artikel 10
Garantien für Arbeit während der Nachtzeit
Die Mitgliedstaaten können die Arbeit bestimmter Gruppen von Nachtarbeitern, die im Zusammenhang mit der Arbeit während der Nachtzeit einem Sicherheits- oder Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind, nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten von bestimmten Garantien abhängig machen.
Artikel 11
Unterrichtung bei regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Arbeitgeber bei regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt.
Artikel 12
Sicherheits- und Gesundheitsschutz
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:
a)
Nacht- und Schichtarbeitern hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit in einem Maß Schutz zuteil wird, das der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt;
b)
die zur Sicherheit und zum Schutz der Gesundheit von Nacht- und Schichtarbeitern gebotenen Schutz- und Vorsorgeleistungen oder -mittel denen für die übrigen Arbeitnehmer entsprechen und jederzeit vorhanden sind.
Artikel 13
Arbeitsrhythmus
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit ein Arbeitgeber, der beabsichtigt, die Arbeit nach einem bestimmten Rhythmus zu gestalten, dem allgemeinen Grundsatz Rechnung trägt, dass die Arbeitsgestaltung dem Menschen angepasst sein muss, insbesondere im Hinblick auf die Verringerung der eintönigen Arbeit und des maschinenbestimmten Arbeitsrhythmus, nach Maßgabe der Art der Tätigkeit und der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes, insbesondere was die Pausen während der Arbeitszeit betrifft.“
31
D. Einschlägiges Völkerrecht: Übereinkommen 171 (1990) der Internationalen Arbeitsorganisation über Nachtarbeit (IAO-Übereinkommen 171, IAO-Nachtarbeitsübereinkommen)
32
I. Art. 3 Abs. 1 IAO-Übereinkommen 171 lautet:
„Es sind besondere, durch die Art der Nachtarbeit gebotene Maßnahmen, die mindestens die in den Artikeln 4 bis 10 erwähnten zu umfassen haben, für Nachtarbeiter zu treffen, um ihre Gesundheit zu schützen, ihnen die Erfüllung ihrer Familien- und Sozialpflichten zu erleichtern, ihnen Möglichkeiten für den beruflichen Aufstieg zu bieten und sie angemessen zu entschädigen. Solche Maßnahmen sind auch im Bereich der Sicherheit und des Mutterschutzes für alle Arbeitnehmer zu treffen, die Nachtarbeit verrichten.“
33
II. Art. 8 IAO-Übereinkommen 171 bestimmt:
„Der Ausgleich für Nachtarbeiter in Form von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen hat der Natur der Nachtarbeit Rechnung zu tragen.“
34
E. Deutsche Rechtsprechung zu Fragen des gesetzlichen Nachtarbeitsrechts, Arbeitswissenschaft und Geschichte des deutschen Arbeitszeitgesetzes
35
I. Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich der Nachtarbeit erkannt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Schutz der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit zu regeln (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191).
36
1. Eine solche Regelung war notwendig, um dem objektiven Gehalt der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes, insbesondere dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, zu genügen.
37
a) Nachtarbeit ist nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen für jeden Menschen schädlich, weil sie negative gesundheitliche Auswirkungen hat (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C I 2 a der Gründe, BVerfGE 85, 191; ebenso BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 70 f.; 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 27 mwN; 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, BAGE 162, 230; 18. Oktober 2017 – 10 AZR 47/17 – Rn. 39, BAGE 160, 325; Schlachter/Heinig/Bayreuther Europäisches Arbeits- und Sozialrecht [EnzEuR Bd. 7] § 11 Rn. 33; EuArbRK/Gallner 3. Aufl. RL 2003/88/EG Art. 8 Rn. 3 mwN). Das gilt im Ausgangspunkt unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb von Schichtsystemen geleistet wird. Die gesundheitliche Belastung durch Nachtarbeit steigt nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Zahl der Nächte im Monat und die Zahl der aufeinanderfolgenden Nächte, in denen Nachtarbeit geleistet wird (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 70; 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – aaO; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17 mwN, BAGE 153, 378; 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – Rn. 19, BAGE 147, 33).
38
b) Durch Arbeit während der Nachtzeit wird die sog. zirkadiane Rhythmik gestört. Zu der sozialen Desynchronisation kommt die physiologische Desynchronisation der Körperfunktionen, die sich typischerweise in Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden und kardiovaskulären Beeinträchtigungen äußert (Beermann Nacht- und Schichtarbeit – ein Problem der Vergangenheit? S. 4 f. = https://d-nb.info/992446481/34; Langhoff/Satzer Gutachten zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen zu Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit S. 26 ff., 37 f.; DGUV Report 1/2012 S. 81 f., 91 ff., 119 ff.). Sekundärstudien deuten darauf hin, dass sich Nachtarbeit auch negativ auf die Psyche auswirkt (vgl. Amlinger-Chatterjee Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt S. 31). Anerkannt ist, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in je größerem Umfang sie geleistet wird (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 71; 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 27 mwN; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17 mwN, BAGE 153, 378; vgl. auch den siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG; Mitteilung der Europäischen Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. EU C 165 vom 24. Mai 2017 S. 42).
39
c) Aufgrund der steigenden gesundheitlichen Belastung durch eine größere Zahl der Nächte im Monat und eine höhere Zahl der aufeinanderfolgenden Nächte, in denen Nachtarbeit geleistet wird, sollten möglichst wenige Nachtschichten aufeinanderfolgen. Dem steht nicht entgegen, dass viele Schichtarbeitnehmer, die in einem Rhythmus von fünf und mehr aufeinanderfolgenden Nachtschichten arbeiten, subjektiv den Eindruck haben, dass sich ihr Körper der Nachtschicht besser anpasst. Das trifft nicht zu (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Leitfaden zur Einführung und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit 9. Aufl. S. 12 f.; Langhoff/Satzer Gutachten zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen zu Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit S. 32). Aufeinanderfolgende Nachtschichten sind besonders schädlich, obwohl sich Arbeitnehmer typabhängig unterschiedlich gut an die Nachtarbeit anpassen (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 72; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, BAGE 153, 378; 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – Rn. 19 f. mwN, BAGE 147, 33; vgl. Langhoff/Satzer aaO S. 36). Bislang ist nicht belegt, dass aufeinanderfolgende Nachtschichten signifikant weniger gesundheitsschädlich sind, wenn Arbeitnehmer nach einem Schichtplan eingesetzt werden, der ihnen im Voraus bekannt ist. Nach Amlinger-Chatterjee zeigen extrahierte statistische Daten lediglich eine tendenziell geringere gesundheitliche Belastung, wenn die Arbeitszeiten vorhersagbar sind (Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt S. 52).
40
2. Für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besteht eine staatliche Schutzpflicht. Dem Gesetzgeber kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsfreiraum zu, um die Schutzpflicht zu erfüllen. Dieser Freiraum lässt es zu, konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Die Maßnahmen, die der Gesetzgeber trifft, dürfen jedoch nicht völlig ungeeignet sein, um den Grundrechtsschutz zu wahren (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191; ebenso BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 44; 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 42).
41
3. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Nachtarbeitsentscheidung hervorgehoben, dass ein besonderer gesetzlicher Schutz nicht deswegen entbehrlich ist, weil Nachtarbeit immer aufgrund freiwillig getroffener Vereinbarungen verrichtet wird. Aus seiner Sicht kann das dem Vertragsrecht zugrunde liegende Prinzip der Privatautonomie hinreichenden Schutz nur gewährleisten, soweit die Bedingungen freier Selbstbestimmung gegeben sind. Wo es kein annäherndes Kräftegleichgewicht der Beteiligten gebe, sei mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Ausgleich der Interessen zu gewährleisten. Das sei bei dem Abschluss von Arbeitsverträgen typischerweise der Fall. In einer solchen Lage seien die objektiven Grundentscheidungen der Verfassung im Grundrechtsabschnitt und im Sozialstaatsgebot durch gesetzliche Vorschriften zu verwirklichen, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirkten (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191).
42
II. Nach der Begründung des Entwurfs des Arbeitszeitgesetzes entspricht der von der Kommission der (damaligen) Europäischen Gemeinschaften (EG) vorgelegte Entwurf einer Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung dem Gesetzentwurf (BT-Drs. 12/5888 S. 19 f.).
43
1. Der Kommissionsentwurf mündete in die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. EG L 307 vom 13. Dezember 1993 S. 18). Die Begründung des Entwurfs des Arbeitszeitgesetzes nimmt an, durch den Richtlinienentwurf sollten bestimmte, die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer am Arbeitspatz gewährleistende Aspekte EG-einheitlich festgelegt werden. Werde Nachtarbeit geleistet, habe jeder Arbeitnehmer der EG Anspruch auf besondere Schutzmaßnahmen (BT-Drs. 12/5888 S. 19 f.). Die Konzeption des Richtlinienentwurfs folgt aus Sicht des deutschen Gesetzgebers der Begründung des Entwurfs des Arbeitszeitgesetzes (BT-Drs. 12/5888 S. 20).
44
2. Der Gesetzgeber des Arbeitszeitgesetzes ging davon aus, dass in einer modernen Industriegesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland nicht generell auf Nachtarbeit verzichtet werden könne (BT-Drs. 12/5888 S. 19, 25). Durch die Schutzvorschriften über die Nachtarbeit solle die unverzichtbare Nachtarbeit zeitlich begrenzt sowie arbeitsmedizinisch und sozialpolitisch flankiert werden (BT-Drs. 12/5888 S. 19).
45
F. Deutsche Rechtsprechung zu tarifvertraglichen Mechanismen des Nachtarbeitsausgleichs und der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien
46
I. § 6 Abs. 5 ArbZG überantwortet Ausgleichsregelungen für geleistete Nachtarbeit wegen ihrer größeren Sachnähe vorrangig den Tarifvertragsparteien und schafft nur subsidiär gesetzliche Ansprüche (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 45; 17. Januar 2012 – 1 ABR 62/10 – Rn. 15). Das gilt sowohl für Regelungen des Freizeitausgleichs als auch für Zuschläge auf das Bruttoarbeitsentgelt.
47
II. Die deutschen Tarifvertragsparteien sind nicht frei von den Bindungen der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn sie Tarifnormen setzen, zB um Belastungen durch Nachtarbeit auszugleichen.
48
1. Die Tarifvertragsparteien sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts allerdings nicht unmittelbar an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden, wenn sie tarifliche Normen setzen (st. Rspr., zB BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 26; 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 21 mwN; 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 21 mwN; siehe auch Dieterich FS Schaub 1998 S. 117, 120 ff.). Diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bezieht sich auf Erkenntnisse des Bundesverfassungsgerichts.
49
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts garantiert Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG den sozialen Schutz der abhängig Beschäftigten im Weg kollektivierter Privatautonomie (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 147, BVerfGE 146, 71; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 26 mwN; abl. Däubler/D. Ulber TVG 4. Aufl. Einleitung Rn. 249 ff.). Die Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Vergütungen und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 146, aaO; 1. Dezember 2010 – 1 BvR 2593/09 – Rn. 23).
50
b) Mit der Normsetzung auf der Grundlage der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie üben die Tarifvertragsparteien daher nach deutschem Recht keine delegierte Staatsgewalt aus. Sie nehmen vielmehr privatautonom ihre Grundrechte wahr (Spelge ZTR 2020, 127, 130 mwN). Diese privatautonome Legitimation reicht teilweise weiter als die Legitimation des staatlichen Gesetzgebers, die den in § 4 Abs. 1 TVG enthaltenen staatlichen Geltungsbefehl tariflicher Rechtsnormen trägt. Mit der privatautonomen Legitimation tariflicher Rechtsnormen ist eine umfassende gerichtliche Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht zu vereinbaren (vgl. BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 26 mwN; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 47).
51
2. Tarifnormen sind im Ausgangspunkt dennoch uneingeschränkt am allgemeinen Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 27; 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 21; 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47; 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 25 mwN, BAGE 169, 163; vgl. auch BVerfG 9. August 2000 – 1 BvR 514/00 – zu II der Gründe; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 49).
52
a) Die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Der Staat hat seine Rechtsordnung so zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen in ihr wirksam werden können (vgl. BVerfG 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 ua. – Rn. 300, BVerfGE 153, 182). Die Grundrechte des Grundgesetzes haben deshalb mittelbare Drittwirkung in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten im Sinn einer Ausstrahlungswirkung. Sie entfalten ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als „Richtlinien“ auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen aus. Diese wertsetzenden „Richtlinien“ sollen gleichberechtigte Freiheit im Fall kollidierender Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zur Geltung bringen (vgl. für die st. Rspr. BVerfG 9. Juli 2020 – 1 BvR 719/19 ua. – Rn. 9; 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 32 mwN, BVerfGE 148, 267). Das Bundesverfassungsgericht hat von den Grundrechten auch als einer „objektiven Wertordnung“ gesprochen (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – aaO).
53
b) Dieser Ausstrahlungswirkung der Grundrechte des Grundgesetzes müssen die Gerichte als staatliche Gewalt im Sinn von Art. 1 Abs. 3 GG bei ihren Entscheidungen genügen (vgl. BVerfG 23. April 1986 – 2 BvR 487/80 – zu B I der Gründe, BVerfGE 73, 261). Die Fachgerichte haben die Grundrechte, vor allem über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 32, BVerfGE 148, 267).
54
c) Aufgabe der Arbeitsgerichte ist es aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts, die im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte der von Tarifnormen erfassten Arbeitnehmer zu schützen, indem sie die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien beschränken, wenn sie mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder mit anderen Rechten der Normunterworfenen mit Verfassungsrang kollidiert. Das gilt auch dann, wenn die Kollision zwischen der Tarifautonomie und den Grundrechten der Normunterworfenen nicht durch einfaches Gesetzesrecht konkretisiert ist (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 29; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 ff. mwN, BAGE 169, 163; 24. Oktober 2019 – 2 AZR 158/18 – Rn. 34, BAGE 168, 238; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Art. 3 Rn. 25; Staudinger/Richardi/Fischinger [2020] § 611a Rn. 763; Tschöpe/Grimm Arbeitsrecht 11. Aufl. Teil 4 C Rn. 123; zweifelnd Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 266; krit. Henssler/Moll/Bepler/Engels 2. Aufl. Teil 1 Rn. 45 f.; aA Wiedemann/Jacobs TVG 8. Aufl. Einleitung Rn. 349; Jacobs/Frieling SR 2019, 108, 110 f.; Spelge [in ZTR 2020, 127, 130] und D. Ulber [in Däubler TVG 4. Aufl. Einleitung Rn. 208 ff., 231 ff., 236 ff.] stellen zu Recht fest, dass es in dieser Kontroverse bislang nicht gelungen ist, einen allseits anerkannten Lösungsweg zu entwickeln).
55
d) Gewerkschaftsmitglieder sind der tarifvertraglichen Normsetzung in zumindest ähnlicher Weise unterworfen wie Bürger der Rechtsetzung durch den Staat (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 30; vgl. auch Bayreuther NZA 2019, 1684, 1686: „fremdverantwortete Rechtsgestaltung“; Däubler/D. Ulber TVG 4. Aufl. Einleitung Rn. 254; Waltermann FS Söllner 2000 S. 1251, 1275 mwN). Grundrechtsträger können ihre Freiheit zwar selbst freiwillig in weiterem Umfang beschränken, als sie staatliche Eingriffe hinnehmen müssten (näher ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 46, 62). Die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaften können sich durch ihren Beitritt jedoch nicht zugleich freiwillig jeder nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung in Tarifnormen unterwerfen (vgl. Bayreuther aaO; Fastrich FS Richardi 2007 S. 127, 130 f.: „funktional gebundene und damit begrenzte Autonomie“; aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 265 f.). Im Gewerkschaftsbeitritt liegt kein wirksamer Grundrechtsverzicht (Fastrich aaO S. 130).
56
e) Das allgemeine Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als grundlegende Gerechtigkeitsnorm in seiner Ausstrahlungswirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidung oder auch „Richtlinie“ eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 31; 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 21; 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47; 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 21; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 25 mwN, BAGE 169, 163; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 49, Art. 3 Rn. 25; Waltermann Anm. AP TVöD § 46 Nr. 5 zu VI 2; krit. Fastrich FS Richardi 2007 S. 127, 132 f., 137 ff.). Diese Grenze ist zu beachten, obwohl Tarifnormen nicht selten Ergebnisse tarifpolitischer Kompromisse sind (krit. zu solchen Grenzen der Tarifautonomie Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 267; Giesen NZA Heft 4/2020 Editorial; Thüsing/Mathy SR 2019, 292, 301 f.). Die Tarifvertragsparteien können durch die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 1 GG darin beschränkt sein, ihre Tarifautonomie als kollektivierte, von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Privatautonomie auszuüben.
57
aa) Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.
58
(1) Das daraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich- und wesentlich Ungleiches ungleichzubehandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Verboten ist auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem die Begünstigung einem Personenkreis gewährt und einem anderen Personenkreis vorenthalten wird. Differenzierungen sind nicht untersagt. Sie müssen jedoch durch Sachgründe gerechtfertigt sein, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 94, BVerfGE 153, 358; vgl. auch BVerfG 7. Mai 2013 – 2 BvR 909/06 ua. – Rn. 76, BVerfGE 133, 377; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 33; zu dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Rahmen des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts BVerfG 11. August 2020 – 1 BvR 2654/17 – Rn. 35; zu der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitskriteriums im Rahmen der Gleichheitsprüfung einfachen Gesetzesrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Britz NJW 2014, 346, 347 ff.; Waltermann [in Anm. AP TVöD § 46 Nr. 5 zu VI 2] stimmt einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auch für differenzierende Tarifnormen zu).
59
(2) Der Gesetzgeber unterliegt hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts an den Sachgrund, der eine Ungleichbehandlung trägt, je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedlichen Grenzen. Sie können von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (BVerfG 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 94 f. mwN, BVerfGE 153, 358; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 34).
60
(a) Die verfassungsrechtlichen Anforderungen verschärfen sich zudem, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfG 17. Juni 2020 – 1 BvR 1134/15 – Rn. 9 mwN; 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 95 mwN, BVerfGE 153, 358). Ob und inwieweit ein Differenzierungsmerkmal verfügbar ist, muss jeweils im konkreten Regelungszusammenhang beurteilt werden (vgl. BVerfG 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12 – Rn. 132, BVerfGE 138, 136; 7. Oktober 1980 – 1 BvL 50/79 ua. – zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 55, 72; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 35).
61
(b) Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung. Dieser innere Zusammenhang muss sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweisen (BVerfG 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12 – Rn. 131, BVerfGE 138, 136; 19. Dezember 2012 – 1 BvL 18/11 – Rn. 44, BVerfGE 133, 1; 18. Dezember 2012 – 1 BvL 8/11 ua. – Rn. 45, BVerfGE 132, 372; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 36).
62
(c) Ob ein Sachgrund die Differenzierung rechtfertigt, ist auch dann zu überprüfen, wenn die ggf. erforderliche Anpassung „nach oben“ mit erheblichen Mehrkosten für die betroffenen Arbeitgeber verbunden ist (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 37; vgl. auch BAG 10. November 2011 – 6 AZR 148/09 – Rn. 35, BAGE 140, 1).
63
bb) Art. 3 Abs. 1 GG hat abweichend von den Freiheitsrechten keinen eigenen Schutzbereich. Der allgemeine Gleichheitssatz soll nicht bestimmte Rechtsgüter oder Sphären vor ungerechtfertigten Eingriffen schützen. Er soll ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen verhindern (Spelge ZTR 2020, 127, 134 mwN). Die den Gleichheitsrechten zukommende Schutzfunktion, die Ausdruck des Gerechtigkeitsgedankens im Grundgesetz ist, kann dennoch auf das Privatrecht ausstrahlen. Ein allgemeiner Grundsatz, wonach private Vertragsbeziehungen jeweils den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterliegen, folgt aus Art. 3 Abs. 1 GG zwar nicht, auch nicht aufgrund mittelbarer Drittwirkung (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 40, BVerfGE 148, 267). Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten aus Art. 3 Abs. 1 GG können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch für spezifische Konstellationen ergeben (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 41, aaO; vgl. auch BVerfG 9. August 2000 – 1 BvR 514/00 – zu II der Gründe; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 38; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 25 mwN, BAGE 169, 163; grundlegend BAG 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – zu B II 3 b der Gründe, BAGE 111, 8; vgl. ferner Dreier/Heun Grundgesetz-Kommentar 3. Aufl. Art. 3 Rn. 67 mwN; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 41; krit. Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 9; abl. Jacobs/Frieling SR 2019, 108, 112 f.; Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1459 f.; Latzel ZFA 2020, 526, 530 f.; Münder jurisPR-ArbR 15/2020 Anm. 2 zu C I). Die Gerichte müssen dafür sorgen, dass der Schutzzweck der Gleichheitsrechte durchgesetzt wird (vgl. BVerfG 16. November 1993 – 1 BvR 258/86 – zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 89, 276; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – aaO; 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – aaO).
64
f) Bei der Überprüfung von Tarifnormen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG haben die Arbeitsgerichte die in Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgte kollektive Koalitionsfreiheit angemessen zur Geltung zu bringen (BAG 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, BAGE 169, 163; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 49; Spelge ZTR 2020, 127, 134). Die kollektive Koalitionsfreiheit ist mit dem Individualgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG angemessen in Ausgleich zu bringen (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 39).
65
aa) Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG, das in erster Linie ein Freiheitsrecht ist, schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, vor allem die Tarifautonomie. Sie steht im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeit, ihre Zwecke zu verfolgen. Die Wahl der aus ihrer Sicht geeigneten Mittel, mit denen die Koalitionen die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke verfolgen, ist ihnen mit Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich selbst überlassen. Der Abschluss und das Aushandeln von Tarifverträgen sind wesentliche Zwecke der Koalitionen. Das schließt den Bestand und die Anwendung geschlossener Tarifverträge ein (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 130 f., BVerfGE 146, 71; BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 40).
66
bb) Als selbständigen Grundrechtsträgern steht den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen weiten Gestaltungsspielraum für die inhaltliche Ausformung ihrer normsetzenden Regelungen, dessen Reichweite im Einzelfall von den Differenzierungsmerkmalen abhängt. Sie sind nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Vielmehr genügt es, wenn es für die jeweils getroffene Regelung einen sachlich vertretbaren Grund gibt (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 41; vgl. auch BAG 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 22; 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, BAGE 169, 163; 24. Oktober 2019 – 2 AZR 158/18 – Rn. 34, BAGE 168, 238; 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 19).
67
cc) Daraus folgt nach deutschem Recht in der Regel eine deutlich zurückgenommene Prüfungsdichte durch die Gerichte (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 42; 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, BAGE 169, 163; abl. hinsichtlich der nur zurückgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung Waltermann Anm. AP TVöD § 46 Nr. 5 zu VI 2 mwN). Ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht ist vor diesem Hintergrund erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen bei der Gruppenbildung generalisieren und typisieren. Allerdings müssen die Differenzierungsmerkmale im Normzweck angelegt sein und dürfen ihm nicht widersprechen (BAG 27. Juni 2018 – 10 AZR 290/17 – Rn. 37 mwN, BAGE 163, 144; krit. Wiedemann/Jacobs TVG 8. Aufl. Einleitung Rn. 406).
68
3. Diese Grundsätze gelten im Ausgangspunkt auch für tarifvertragliche Ausgleichsregelungen im Sinn von § 6 Abs. 5 ArbZG (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 43).
69
a) Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich der Nachtarbeit allerdings erkannt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Schutz der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit zu regeln (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191).
70
b) Der deutsche Gesetzgeber seinerseits hat in § 6 Abs. 5 ArbZG vorrangig den Tarifvertragsparteien den Ausgleich für geleistete Nachtarbeit anvertraut.
71
aa) Die in Tarifverträgen getroffenen Ausgleichsregelungen sind dennoch ausgeübte originäre Tarifautonomie (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 46; aA Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 21; derselbe FS Buschmann 2014 S. 71, 79). Der verfassungsrechtlich gewährleistete Schutz der Koalitionsfreiheit ist nicht auf den Bereich des Unerlässlichen beschränkt. Er geht über den Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG hinaus und erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen (BVerfG 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 ua. – Rn. 115 mwN, BVerfGE 148, 296).
72
bb) Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, wie sie den Ausgleich regeln. Um den gesetzlichen Anspruch aus § 6 Abs. 5 ArbZG zu suspendieren, muss die tarifliche Regelung die mit der Nachtarbeit verbundenen Belastungen jedoch kompensieren (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 47; 17. Januar 2012 – 1 ABR 62/10 – Rn. 15; für einen angemessenen Ausgleich Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 269; Kothe FS Buschmann 2014 S. 71, 81; J. Ulber AuR 2020, 157, 161 f.; aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 26 f.; wohl auch Neumann/Biebl ArbZG 16. Aufl. § 6 Rn. 26).
73
cc) Soweit tarifvertragliche Ausgleichsregelungen für Nachtarbeit einen Anspruch auf bezahlten Freizeitausgleich begründen, tritt eine gesundheitsschützende Wirkung jedenfalls in den Fällen ein, in denen sich die Dauer der Arbeitszeit für den Arbeitnehmer durch den bezahlten Freizeitausgleich insgesamt verringert und er zeitnah gewährt wird (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 48; zu dem gesetzlichen Zuschlag aus § 6 Abs. 5 ArbZG BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 28). Nachtarbeitszuschläge wirken sich dagegen nicht positiv auf die Gesundheit des betroffenen Arbeitnehmers aus. Der individuelle Gesundheitsschaden wird über den Zuschlag kommerzialisiert (D. Ulber Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 14 zu IV). Die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers wird verteuert, um auf diesem Weg allgemein Nachtarbeit einzudämmen (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – aaO; zu § 6 Abs. 5 ArbZG BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – aaO; Polzin SR 2019, 303, 314). Außerdem soll der Nachtarbeitszuschlag den Arbeitnehmer in einem gewissen Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – aaO; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 18 mwN, BAGE 153, 378; krit. D. Ulber aaO; zu der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit als Aspekt von Art. 6 Abs. 2 GG BVerfG 14. Januar 2015 – 1 BvR 931/12 – Rn. 60, BVerfGE 138, 261).
74
4. Auf der Grundlage dieser Obersätze hat der vorlegende Senat angenommen, dass eine andere Tarifnorm gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, die für Nachtarbeit in ständiger Nachtschicht einen nur halb so hohen Zuschlagsanspruch je Stunde begründet wie für gelegentlich außerhalb von Schichtsystemen geleistete sog. ungeplante Nachtarbeit. Der Senat ist davon ausgegangen, die Tarifvertragsparteien hätten ihren Gestaltungsspielraum mit der getroffenen Regelung überschritten. Besonderheit war, dass sich diesem Tarifvertrag nach Wortlaut, Zusammenhang und Zweck kein sachlicher Grund für die Unterscheidung zwischen (planbarer) Nachtschichtarbeit und ungeplanter Nachtarbeit entnehmen ließ (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 49 ff.; 9. Dezember 2020 – 10 AZR 335/20 – Rn. 49 ff.). Der Tarifvertrag ließ neben dem angestrebten finanziellen Ausgleich des Gesundheitsschadens durch die Nachtarbeit keinen legitimen Zweck erkennen, der es gerechtfertigt hätte, die ungeplante Nachtarbeit höher zu vergüten als die Nachtschichtarbeit. Bei der Anordnung von Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes hatte der Arbeitgeber nach diesem Tarifvertrag „auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten weitgehend Rücksicht zu nehmen“. Der einzelne Arbeitnehmer konnte deshalb selbstbestimmt am sozialen und kulturellen Leben teilhaben. Aus Sicht des Senats bestand kein sachlicher Grund dafür, eine nicht erlittene Einbuße an Planbarkeit mit einem höheren Zuschlag auszugleichen (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 78; 9. Dezember 2020 – 10 AZR 335/20 – Rn. 78). Auf der Rechtsfolgeseite hat der Senat den geringeren Zuschlag für Nachtschichtarbeit an das verbleibende Bezugssystem für außerhalb von Schichtsystemen geleistete ungeplante Nachtarbeit „nach oben“ angepasst (näher BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 87 ff. mwN; 9. Dezember 2020 – 10 AZR 335/20 – Rn. 87 ff. mwN).
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G. Frage der Gleichbehandlungsprüfung nach den Vorgaben des Unionsrechts für Nacht- und Schichtarbeit
76
I. Neben die Gleichheitsprüfung auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 GG könnte hier eine Gleichbehandlungskontrolle nach Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union treten. Das Arbeitszeitrecht der Nacht- und Schichtarbeit ist für diese besonderen Formen der Arbeit unionsrechtlich überformt durch die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Nacht- und Schichtarbeiter werden durch die Arbeitszeitrichtlinie als besonders (gesundheits-)schutzbedürftige Arbeitnehmergruppen gekennzeichnet. Das zeigen die sechsten bis zehnten Erwägungsgründe der Richtlinie 2003/88/EG und ihre Art. 8 bis 13.
77
II. Für den vorlegenden Senat stellt sich deshalb zunächst die Frage, ob das Tarifrecht des § 7 Nr. 1 MTV mit Blick auf die regelmäßige und die unregelmäßige Nachtarbeit die entsprechenden Vorgaben der Richtlinie 2003/88/EG durchführt im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta. Sollte diese Frage zu bejahen sein, stellt sich die weitere Frage, ob die unterschiedliche Behandlung der Gruppen von Arbeitnehmern, die regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit leisten, durch einen anderen Tarifzweck als den finanziellen Ausgleich der gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Nachtarbeit gerechtfertigt werden kann. Die Auslegung von § 7 Nr. 1 MTV lässt erkennen, dass die höheren Zuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit geschuldet sind, weil mit ihnen neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit finanziell ausgeglichen werden sollen.
78
H. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erläuterung der Vorlagefragen
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I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
80
1. Die von der Klägerin erhobenen Ansprüche auf höhere Nachtarbeitszuschläge ergeben sich nicht aus den geltenden tariflichen Bestimmungen. § 4 Abschn. C Nr. 1 MTV definiert „Nachtarbeit“ als die Arbeit in der „Zeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr“. Nach dem klaren Wortlaut von § 7 Nr. 1 MTV ist für regelmäßige Nachtarbeit ein Zuschlag von 20 % zu zahlen. Demgegenüber sieht § 7 Nr. 1 MTV für unregelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 50 % vor.
81
2. Die noch streitigen Differenzansprüche sind jedoch gegeben, wenn § 7 Nr. 1 MTV nicht mit Art. 20 der Charta iVm. den Vorgaben der Richtlinie 2003/88/EG vereinbar ist, soweit die Tarifnorm geringere Ansprüche auf Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit vorsieht.
82
a) Eine solche anspruchsbegründende Wirkung ist anzunehmen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Im ersten Schritt müssten mit der zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit differenzierenden Tarifnorm des § 7 Nr. 1 MTV die Nacht- und Schichtarbeitsvorgaben der Richtlinie 2003/88/EG jedenfalls für die Nachtzeit ihres Art. 2 Nr. 3 im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta durchgeführt werden. Im zweiten Schritt müsste die Unterscheidung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 der Charta verstoßen. Das setzt voraus, dass Arbeitnehmer, die regelmäßig in der Nacht arbeiten, mit Arbeitnehmern vergleichbar sind, die unregelmäßig in der Nacht arbeiten, und sie schlechter als die Vergleichsgruppe behandelt werden. Die schlechtere Behandlung dürfte nicht durch ein objektives und angemessenes Kriterium gerechtfertigt sein.
83
b) Der gleichbehandlungswidrige Teil der Regelung in § 7 Nr. 1 MTV wäre in diesem Fall unanwendbar. Die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit beruhte aus Sicht des Senats auf dem Verstoß gegen Art. 20 der Charta iVm. dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens. Darin kommt das besondere Schutzbedürfnis von Nacht- und Schichtarbeitern im Sinn von Art. 2 Nr. 4 und 6 der Arbeitszeitrichtlinie zum Ausdruck. Dieser besondere Schutzzweck geht aus den engen Vorgaben von Art. 8 bis 13 sowie den sechsten bis achten Erwägungsgründen der Arbeitszeitrichtlinie hervor.
84
c) Die ungerechtfertigte schlechtere Behandlung von Arbeitnehmern, die regelmäßig in der Nacht arbeiten, könnte in der Vergangenheit nur durch eine Anpassung der niedrigeren Zuschlagsansprüche bei regelmäßiger Nachtarbeit an das höhere Zuschlagsniveau bei unregelmäßiger Nachtarbeit beseitigt werden. Diese Anpassung „nach oben“ wäre unumgänglich, weil die begünstigende Regelung für unregelmäßige Nachtarbeit das einzig gültige Bezugssystem bliebe (vgl. die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Verstößen gegen unionsrechtliche Diskriminierungsverbote: EuGH 14. März 2018 – C-482/16 – [Stollwitzer] Rn. 30; 28. Januar 2015 – C-417/13 – [Starjakob] Rn. 46 f. mwN; ebenso BAG 11. November 2020 – 10 AZR 185/20 (A) – Rn. 39 mwN, vor dem Gerichtshof anhängig unter – C-660/20 – [Lufthansa CityLine]; Schmidt RdA 2020, 269, 270 mwN; J. Ulber AuR 2020, 157, 165; vgl. auch Soost AuR 2020, 489; zu einer Anpassung „nach oben“ bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG näher BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 87 ff. mwN; 9. Dezember 2020 – 10 AZR 335/20 – Rn. 87 ff. mwN). Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen nach dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
85
II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage
86
Die erste Vorlagefrage betrifft die Auslegung von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta.
87
1. Für die Entscheidung des Senats kommt es zunächst darauf an, ob das primäre Unionsrecht des Art. 20 der Charta anzuwenden ist, weil die tarifliche Unterscheidung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta fällt. Das Prüfungsprogramm des Art. 20 der Charta ist lediglich eröffnet, wenn das nationale Tarifrecht des § 7 Nr. 1 MTV mit Blick auf die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge die entsprechenden Vorgaben der Richtlinie 2003/88/EG durchführt im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta. Nur dann stellt sich die Frage, ob die tarifliche Differenzierung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit mit Art. 20 der Charta vereinbar ist.
88
2. Nach Art. 20 der Charta sind alle Personen vor dem Gesetz gleich. Die Formulierung ähnelt Art. 3 Abs. 1 GG, der bestimmt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Art. 21 Abs. 1 der Charta verbietet Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Nach Art. 21 Abs. 2 der Charta ist unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Für Art. 21 der Charta besteht insofern eine teilweise Parallele im deutschen Verfassungsrecht, als Art. 3 Abs. 3 GG ebenfalls an bestimmte Differenzierungsmerkmale anknüpft, die allerdings nicht vollständig deckungsgleich mit denen des Art. 21 der Charta sind.
89
a) Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der in Art. 20 der Charta niedergelegt ist. Das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 der Charta stellt eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes dar (EuGH 29. Oktober 2020 – C-243/19 – [Veselības ministrija] Rn. 35 mwN).
90
b) Der Gerichtshof betont jedoch, dass nationale Maßnahmen nur anhand von Art. 20 und 21 der Charta zu prüfen sind, wenn sie im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta in ihren Anwendungsbereich fallen, also dazu dienen, Unionsrecht durchzuführen (vgl. EuGH 29. Oktober 2020 – C-243/19 – [Veselības ministrija] Rn. 34).
91
3. Das primäre Unionsrecht kann auch Regelungen in Tarifverträgen entgegenstehen (für die st. Rspr. EuGH 23. April 2020 – C-710/18 – [Land Niedersachsen (Périodes antérieures d’activité pertinente)] Rn. 22 ff.; näher EuGH 7. Februar 1991 – C-184/89 – [Nimz] Rn. 17 mwN; BAG 17. Juni 2020 – 10 AZR 210/19 (A) – Rn. 34, vor dem Gerichtshof anhängig unter – C-514/20 – [Koch Personaldienstleistungen]). Das in Art. 28 der Charta gewährleistete Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen muss im Anwendungsbereich des Unionsrechts im Einklang mit ihm ausgeübt werden. Wenn die nationalen Sozialpartner Maßnahmen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, müssen sie das Unionsrecht beachten (vgl. für die von UNICE, CEEP und EGB geschlossene Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG EuGH 19. September 2018 – C-312/17 – [Bedi] Rn. 69 f.; BAG 11. November 2020 – 10 AZR 185/20 (A) – Rn. 44, vor dem Gerichtshof anhängig unter – C-660/20 – [Lufthansa CityLine]; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 71/19 – Rn. 31 mwN). Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Charta und die Verträge nach Art. 6 Abs. 1 EUV gleichrangig sind (vgl. schon EuGH 19. Januar 2010 – C-555/07 – [Kücükdeveci] Rn. 22).
92
4. Für den Senat ist nicht klar oder geklärt, wie die Frage zu beantworten ist, ob § 7 Nr. 1 MTV die Nacht- und Schichtarbeitsvorgaben der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG durchführt im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta (vgl. zB die Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 20 und 21 der Charta von Povedano Peramato in Anm. ZESAR 2020, 344, 346 mwN).
93
a) In der Sache Åkerberg Fransson hat der Gerichtshof es genügen lassen, dass die Streitigkeit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (EuGH 26. Februar 2013 – C-617/10 – Rn. 19).
94
b) In der Sache Baldonedo Martín hat der Gerichtshof aus Sicht des Senats einen restriktiveren Ansatz gewählt. Um festzustellen, ob eine nationale Maßnahme das Recht der Union im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta durchführt, ist ua. zu prüfen, ob mit der nationalen Regelung bezweckt wird, eine Bestimmung des Unionsrechts durchzuführen, welchen Charakter die Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden. Das gilt selbst dann, wenn die innerstaatliche Regelung das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann. Ferner ist zu prüfen, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann (EuGH 22. Januar 2020 – C-177/18 – [Baldonedo Martín] Rn. 59 mit Bezug auf EuGH 10. Juli 2014 – C-198/13 – [Julián Hernández ua.] Rn. 37). Der Gerichtshof verneint in der Sache Baldonedo Martín, dass die konkrete nationale Bestimmung zum Ziel hat, das Unionsrecht – § 5 der von EGB, UNICE und CEEP geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG – durchzuführen im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta (EuGH 22. Januar 2020 – C-177/18 – [Baldonedo Martín] Rn. 63 f.).
95
c) Der Senat hält es selbst nach dem restriktiveren Ansatz des Gerichtshofs für denkbar, dass mit den tariflichen Zuschlagsbestimmungen für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit bezweckt wird, Bestimmungen des Unionsrechts im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta durchzuführen. Es ist möglich, dass § 7 Nr. 1 MTV mit Blick auf die Nachtarbeit die Nachtarbeitsvorgaben im sechsten und achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens durchführen will. Jedenfalls könnten die gesamten Nacht- und Schichtarbeitsvorgaben der Richtlinie 2003/88/EG für diesen Bereich des deutschen Tarifrechts spezifisch sein oder ihn beeinflussen.
96
aa) Bezugssystem ist für beide Zuschlagsarten – zumindest auch – Nachtarbeit von Nachtarbeitern im Sinn des unionsrechtlichen Sprachgebrauchs und von Nachtarbeitnehmern im Sinn des deutschen Arbeitszeitgesetzes (Art. 2 Nr. 3 und 4 der Richtlinie 2003/88/EG; § 2 Abs. 3, Abs. 4 und Abs. 5 ArbZG).
97
bb) Die Tarifvertragsparteien üben ihre Regelungsmacht für den Ausgleich von Arbeitsstunden, die der Nachtarbeitnehmer während der Nachtzeit leistet, vorrangig und damit anstelle des deutschen Gesetzgebers aus (§ 6 Abs. 5 Halbs. 1 ArbZG). Der nationale Gesetzgeber wollte öffentlich-rechtlichen Arbeitszeit- und Gesundheitsschutz für alle Arbeitnehmer und alle Beschäftigungsbereiche schaffen (BT-Drs. 12/5888 S. 1, 19, 21). Er hatte das Ziel, mit § 6 Abs. 5 ArbZG gesetzliche Ansprüche auf angemessene Zuschläge auf das Bruttoarbeitsentgelt zu begründen. Nachtarbeit soll für Arbeitgeber – ordnungsrechtlich betrachtet – generalpräventiv weniger attraktiv sein.
98
cc) Es liegt deshalb nahe, dass der deutsche Gesetzgeber davon ausging, die Tarifvertragsparteien würden wegen ihres Kräftegleichgewichts richtlinienkonforme Ansprüche auf Nachtarbeitszuschläge schaffen, um die durch Nachtarbeit eintretenden Gesundheitsschäden auszugleichen. Dieses Kräftegleichgewicht wird vor allem durch die Tarifautonomie gewährleistet, die sowohl von Art. 28 der Charta als auch von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird. Der Gesetzgeber der ersten Fassung des Arbeitszeitgesetzes wollte seinerseits der im Gesetzgebungsverfahren zu erwartenden (ersten) Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (93/104/EG) entsprechen (BT-Drs. 12/5888 S. 19 f.).
99
dd) Deshalb besteht ein Bezug von § 6 Abs. 5 ArbZG und dem von seinem ersten Halbsatz eröffneten tariflichen Regelungssystem zu dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG. Danach ist hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen. Das betrifft auch die für die Nachtarbeit geltenden Grundsätze. Nach dem achten Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie ist die Dauer der Nachtarbeit einzuschränken.
100
ee) Der vorlegende Senat hält den sechsten und den achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG wegen ihres „befehlenden“ Charakters materiell-rechtlich für Richtlinienvorgaben.
101
(1) Der Senat hat angenommen, dass Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG keine Vorgaben in absoluten Zahlen oder Prozentangaben für die Höhe des als angemessen anzusehenden Nachtarbeitszuschlags nach § 6 Abs. 5 ArbZG machen (vgl. BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 52). Konkrete Vorgaben zu der Höhe einer Entschädigung in Geld oder eines finanziellen Ausgleichs für Nachtarbeiter ergeben sich aus seiner Sicht auch nicht aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG iVm. Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 53).
102
(2) Nach Art. 12 Buchst. a der Richtlinie 2003/88/EG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit Nacht- und Schichtarbeitern hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit in einem Maß Schutz zuteilwird, das der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt. Die Richtlinie 2003/88/EG benennt damit zwar die Gesundheitsgefährdung durch Nachtarbeit, verpflichtet die Mitgliedstaaten aber – anders als Art. 7 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich der Richtlinie 2002/15/EG im Hinblick auf Nachtarbeit bei Fahrpersonal – nicht ausdrücklich dazu, einen finanziellen Ausgleich in bestimmter Höhe zu schaffen (vgl. BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 52; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 41, BAGE 153, 378). Abweichend von der aus Gründen der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 2003/88/EG erforderlichen Pflicht, die Arbeitszeit zu erfassen, enthalten weder Art. 12 Buchst. a noch die weiteren Regelungen in Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG Vorgaben zu der Höhe eines Zuschlags für Nachtarbeit (vgl. im Unterschied dazu die Zeiterfassungspflicht nicht nur im Rahmen der Richtlinien für den Transportbereich, sondern auch auf der Grundlage der allgemeinen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG: EuGH 14. Mai 2019 – C-55/18 – [CCOO] Rn. 64 f.). Anhaltspunkte dafür, dass das als Gesamtheit zu betrachtende Schutzkonzept des § 6 ArbZG den Anforderungen der Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG und ihren sechsten bis achten Erwägungsgründen nicht gerecht wird, sind nach Auffassung des Senats nicht erkennbar.
103
(3) Der Senat hat aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG den Schluss gezogen, dass hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen ist. Das betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze. Die Bundesrepublik Deutschland hat das IAO-Nachtarbeitsübereinkommen zwar nicht ratifiziert (BT-Drs. 13/2778 S. 5; Buschmann AuR 2019, 498, 502; Preis/Sagan/D. Ulber EuArbR 2. Aufl. Rn. 7.185). Wegen des Verweises im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG ist es dennoch zu berücksichtigen (J. Schubert Arbeitsvölkerrecht S. 193; J. Ulber AuR 2020, 157; vgl. auch Buschmann/J. Ulber Arbeitszeitrecht Anhang – Europäische Union RL 2003/88/EG Fn. 80 zu 1, die eine Auslegungshilfe annehmen). Nach Art. 3 Abs. 1 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens sind ua. Maßnahmen zu treffen, um die Gesundheit von Nachtarbeitern zu schützen, ihnen die Erfüllung ihrer Familien- und Sozialpflichten zu erleichtern und sie angemessen zu entschädigen. Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens sieht vor, dass der Ausgleich für Nachtarbeiter in Form von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen der Natur der Nachtarbeit Rechnung zu tragen hat. Konkrete Vorgaben zu der Höhe einer Entschädigung in Geld oder eines finanziellen Ausgleichs für Nachtarbeiter enthält der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG iVm. Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens nach Ansicht des Senats jedoch nicht (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 53; vgl. auch Polzin SR 2019, 303, 306).
104
(4) Der Senat kann dennoch nicht bei dem Befund stehen bleiben, dass die absolute oder prozentuale Höhe gesetzlicher oder tariflicher Nachtarbeitszuschläge richtlinienrechtlich auch durch die Verweisung auf das IAO-Nachtarbeitsübereinkommen nicht vorgegeben ist. Unionsrecht könnte hier durchgeführt werden, weil § 7 Nr. 1 MTV an ein und dieselbe Nachtarbeitsstunde unterschiedlich hohe Zuschläge knüpft. Wird Unionsrecht durchgeführt, könnte es zu einer anspruchsbegründenden Wirkung über Art. 20 der Charta kommen, weil es ein Bezugssystem gibt, das eine günstigere Regelung für unregelmäßige Nachtarbeit trifft. Dafür könnte auch die Überschrift von Art. 31 der Charta sprechen, die die Rechte aus Art. 31 Abs. 1 und 2 der Charta als (Rechte auf) gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen zusammenfasst.
105
5. Unionsrecht muss nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die Europäische Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV keine Kompetenz für die Regelung des Arbeitsentgelts hat. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Sie bezieht sich auf Maßnahmen, mit denen das Unionsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb der Union eingriffe, wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter. Sie lässt sich jedoch nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehenden Fragen erstrecken. Sonst würden einige in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführte Bereiche eines großen Teils ihrer Substanz beraubt (EuGH 19. Juni 2014 – C-501/12 ua. – [Specht ua.] Rn. 33 mwN). Art. 153 Abs. 5 AEUV steht deswegen einer Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 20 der Charta auf Arbeitnehmer, die regelmäßig Nachtarbeit leisten, nicht entgegen, wenn § 7 Nr. 1 MTV im Hinblick auf Nachtarbeit Unionsrecht im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta durchführt.
106
6. Die Antworten auf die Fragen nach der Durchführung von Unionsrecht durch die unterschiedliche Höhe von Nachtarbeitszuschlägen in § 7 Nr. 1 MTV sind für den Senat weder völlig klar noch geklärt. Er ersucht deshalb den dafür zuständigen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV darum, die Frage zu beantworten, ob die Tarifnorm des § 7 Nr. 1 MTV hinsichtlich der regelmäßigen und unregelmäßigen Nachtarbeit das Nacht- und Schichtarbeitsrecht der Richtlinie 2003/88/EG – insbesondere den sechsten Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens – durchführt im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta.
107
III. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
108
Sollte der Gerichtshof die erste Frage nach der Durchführung von Unionsrecht im Sinn von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta bejahen, betrifft die zweite Vorlagefrage die Auslegung von Art. 20 der Charta. Über den sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens stellt sich für den Senat die Frage, ob die tarifliche Unterscheidung der Höhe der Zuschlagsansprüche bei regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit in § 7 Nr. 1 MTV mit dem in Art. 20 und 21 der Charta verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar ist.
109
1. Dieser allgemeine Grundsatz verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (EuGH 29. Oktober 2020 – C-243/19 – [Veselības ministrija] Rn. 37 mwN; 9. März 2017 – C-406/15 – [Milkova] Rn. 55; 21. Dezember 2016 – C-76/15 – [Vervloet ua.] Rn. 74 mwN; 22. Mai 2014 – C-356/12 – [Glatzel] Rn. 43).
110
a) Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Situationen nicht identisch, sondern nur vergleichbar sein müssen. Die Prüfung der Vergleichbarkeit darf nicht allgemein und abstrakt sein, sondern ist spezifisch und konkret unter Berücksichtigung von Gegenstand und Ziel der nationalen Regelung, mit der die Unterscheidung vorgenommen wird, durchzuführen (EuGH 9. März 2017 – C-406/15 – [Milkova] Rn. 57 mwN).
111
b) Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, dh. wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (EuGH 29. Oktober 2020 – C-243/19 – [Veselības ministrija] Rn. 37; 9. März 2017 – C-406/15 – [Milkova] Rn. 55; 22. Mai 2014 – C-356/12 – [Glatzel] Rn. 43). Die Situationen, die dazu führen, dass eine nationale Maßnahme gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt, sind anhand aller diese Situationen kennzeichnenden Merkmale zu beurteilen (EuGH 9. März 2017 – C-406/15 – [Milkova] Rn. 56 mwN).
112
2. Nach diesen Grundsätzen muss der Senat zunächst prüfen, ob die beiden Arbeitnehmergruppen vergleichbar sind, wenn sie regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit leisten. Danach hat er zu untersuchen, ob § 7 Nr. 1 MTV Arbeitnehmer, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, schlechter behandelt als Arbeitnehmer, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten. Handelt es sich um eine schlechtere Behandlung, hat der Senat zu prüfen, ob die Ungleichbehandlung auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht.
113
a) Der Senat hält die beiden Gruppen von Arbeitnehmern für vergleichbar im Sinn von Art. 20 der Charta.
114
aa) Die jeweiligen Zuschlagstatbestände knüpfen übereinstimmend an die Arbeitsleistung in der tarifvertraglich definierten Nachtzeit an, die sich von der Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 46, BAGE 162, 230; Kleinebrink [in NZA 2019, 1458, 1461] zieht in Erwägung, dass diese Gruppen vergleichbar sind, nimmt aber an, Arbeitnehmer, die Nachtschichtarbeit leisteten, könnten auch mit Arbeitnehmern in Schichtarbeit außerhalb der Nachtzeit verglichen werden). Die Arbeit während der tarifvertraglichen Nachtzeit reicht angesichts der geringen Anforderungen an die Vergleichbarkeit aus, um die Normadressaten auf der ersten Ebene der Prüfung von Art. 20 der Charta miteinander vergleichen zu können (vgl. EuGH 9. März 2017 – C-406/15 – [Milkova] Rn. 57 mwN; vgl. für die Unterscheidung von Nachtarbeit und Arbeit in der Nachtschicht in einem anderen Tarifvertrag, dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Brauereien und deren Niederlassungen in Hamburg und Schleswig-Holstein vom 29. Oktober 2005, auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 GG im Einzelnen BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 51; 9. Dezember 2020 – 10 AZR 335/20 – Rn. 51; siehe auch Dreier/Dreier Grundgesetz-Kommentar 3. Aufl. Vorb. Rn. 151; Jarass/Pieroth GG 16. Aufl. Art. 3 Rn. 11).
115
bb) Dem steht nicht entgegen, dass die Tarifvertragsparteien grundsätzlich die Tatbestandsvoraussetzungen bestimmen können, auf deren Grundlage die Gruppen zu bilden sind (aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 266; ähnlich Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 16 ff.; Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1461). Es ist nur zu klären, ob sich die Ungleichbehandlung dadurch rechtfertigen lässt (vgl. BeckOK GG/Kischel Art. 3 Stand 15. November 2020 Rn. 18). Diese für Art. 3 Abs. 1 GG entwickelten Grundsätze lassen sich aus Sicht des Senats auf Art. 20 der Charta übertragen.
116
cc) Arbeitnehmer, die unregelmäßige Nachtarbeit im tariflichen Sinn leisten, sind mit Arbeitnehmern vergleichbar, die regelmäßige Nachtarbeit verrichten, unabhängig davon, ob es sich um Nachtarbeiter im Sinn von Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2003/88/EG oder um Nachtarbeitnehmer im Sinn von § 2 Abs. 5 ArbZG handelt (ebenso J. Ulber AuR 2020, 157, 162, 164; aA LAG Berlin-Brandenburg 7. August 2020 – 2 Sa 561/20 – zu II 2 b bb der Gründe). Die Gruppen der Nachtarbeiter und der Nachtarbeitnehmer sind nach dem erkennbaren Willen der Richtliniengeber der Arbeitszeitrichtlinie und des Gesetzgebers des Arbeitszeitgesetzes besonders schutzbedürftig.
117
dd) Bei den von § 7 Nr. 1 MTV erfassten Arbeitnehmern, die regelmäßig nachts arbeiten, handelt es sich nicht um eine Gruppe, die so klein ist, dass die Tarifvertragsparteien sie im Rahmen zulässiger Typisierung vernachlässigen konnten. Eine solche geringe Größe hat die Beklagte auch nicht behauptet. Vielmehr wird in den dem MTV unterfallenden Betrieben typischerweise regelmäßige Nachtarbeit (in Schichtsystemen) geleistet. Der jetzige Sachverhalt unterscheidet sich damit grundlegend von dem Sachverhalt, über den der Senat am 11. Dezember 2013 zu befinden hatte (- 10 AZR 736/12 – Rn. 21 ff., BAGE 147, 33).
118
b) Die unterschiedlich hohen Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit in § 7 Nr. 1 MTV führen dazu, dass zwei Gruppen von Arbeitnehmern, die nachts arbeiten, ungleichbehandelt werden.
119
aa) Die „Lücke“ von 30 % zwischen den beiden Zuschlagstatbeständen verringert sich zwar, weil für je 20 geleistete Nachtschichten im Drei-Schichten-Wechsel ein Tag Schichtfreizeit zu leisten ist (§ 4 Abschn. C Nr. 6 MTV). Der zu gewährende Freizeitausgleich entspricht jedoch nur einer um circa 5 % verringerten Arbeitszeit. Es bleibt also ein „Delta“ zwischen den beiden Zuschlagstatbeständen von etwa 25 %. Der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit ist ungefähr doppelt so hoch wie der Zuschlag für regelmäßige Nachtarbeit.
120
bb) Die rechnerische Differenz bei der Zuschlagshöhe für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit verringert sich dagegen nicht weiter um die bezahlte Essenspause von 30 Minuten innerhalb der Arbeitszeit nach § 4 Abschn. C Nr. 8 MTV. Die Pausenregelung begünstigt nicht nur Arbeitnehmer, die regelmäßig nachts arbeiten, sondern auch Arbeitnehmer in Wechselschicht ohne Nachtarbeit.
121
cc) Der Unterschied in der Zuschlagshöhe bei regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit vermindert sich entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht dadurch, dass unregelmäßige Nachtarbeit in der Regel Mehrarbeit ist und der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit einen Mehrarbeitszuschlag umfasst. § 7 Nr. 1 MTV begründet für Mehrarbeit ab der 41. Wochenstunde zwar einen Anspruch auf Zuschläge von 25 %. Nach § 7 Nr. 2 MTV ist nur der höhere Zuschlag zu zahlen, wenn mehrere Zuschläge zusammentreffen. Das könnte im Ausgangspunkt darauf hindeuten, dass der höhere Nachtarbeitszuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit regelmäßig den Mehrarbeitszuschlag umfasst. Dem steht jedoch entgegen, dass Mehrarbeit in der Nacht ab der 41. Wochenstunde mit einem Zuschlag von 50 % zu vergüten ist (§ 7 Nr. 1 MTV). Der Umstand, dass Mehrarbeit in der Nacht gesondert geregelt ist, spricht dafür, dass unregelmäßige Nachtarbeit nach dem Verständnis der Tarifvertragsparteien nicht mit Mehrarbeit in der Nacht gleichzusetzen ist. Sonst wäre eine Zuschlagsregelung für unregelmäßige Nachtarbeit in Höhe von 50 % entbehrlich. Eigenständige Bedeutung hat der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit nur, wenn keine Mehrarbeit geleistet wird. Das zeigt sich besonders deutlich an der tarifvertraglichen Regelung für die Zeit vor 1999. In dieser Zeit belief sich der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit auf lediglich 40 % je Stunde in der tariflich definierten Nachtzeit. Er war damit geringer als der Zuschlag für Mehrarbeit in der Nacht.
122
dd) Der Senat hat deshalb eine schlechtere Behandlung im Sinn von Art. 20 der Charta von regelmäßig in der Nacht arbeitenden Arbeitnehmern gegenüber unregelmäßig in der Nacht arbeitenden Arbeitnehmern hinsichtlich des Entgelts anzunehmen.
123
c) Er muss in der Folge prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung der beiden Arbeitnehmergruppen durch ein objektives und angemessenes Kriterium gerechtfertigt ist. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen. Die Entscheidung hängt davon ab, wie Art. 20 der Charta iVm. dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens auszulegen ist. Es kommt darauf an, ob der mit den tariflichen Bestimmungen verfolgte zusätzliche Zweck, die schlechtere Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit auszugleichen, objektiv geeignet ist, es zu rechtfertigen, dass Arbeitnehmer, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, durch die geringeren Nachtarbeitszuschläge schlechter behandelt werden.
124
aa) Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, in Ausübung ihrer grundrechtlich geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Der Zweck ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder durch Auslegung der Tarifnorm – anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen – zu ermitteln (BAG 11. November 2020 – 10 AZR 185/20 (A) – Rn. 68, vor dem Gerichtshof anhängig unter – C-660/20 – [Lufthansa CityLine]; 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 34 mwN, BAGE 165, 1). Allerdings dürfen die Tarifvertragsparteien den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 der Charta nicht verletzen. Höhere Anforderungen an die Rechtfertigung folgen hier zwar nicht daraus, dass sich die Merkmale, an die die tarifliche Differenzierung anknüpft, denen des Art. 21 der Charta annähern. Bei der Prüfung am Maßstab des Art. 20 der Charta ist jedoch zu berücksichtigen, dass Arbeitnehmer nicht darüber verfügen können, ob sie die Differenzierungsmerkmale verwirklichen, nach denen sich die Zuschlagspflicht für die Arbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr richtet (Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 49; aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 24; zu dem Kriterium der Verfügbarkeit zB BVerfG 17. Juni 2020 – 1 BvR 1134/15 – Rn. 9 mwN). Schon wegen des dem Arbeitgeber nach § 106 Satz 1 GewO zukommenden Weisungsrechts kann ein Arbeitnehmer grundsätzlich nicht der Anordnung von regelmäßiger Nachtarbeit widersprechen und stattdessen verlangen, zu unregelmäßiger Nachtarbeit herangezogen zu werden. Nach dem MTV ist regelmäßige Nachtarbeit ein zulässiges Arbeitszeitmodell.
125
bb) Der Wortlaut des § 7 Nr. 1 MTV bestimmt nicht ausdrücklich, zu welchen Zwecken die höheren Zuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit geleistet werden.
126
cc) Der Tarifvertrag lässt aus Sicht des Senats jedoch einen Zweck der höheren Ausgleichsleistungen für unregelmäßige Nachtarbeit erkennen.
127
(1) Die Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit sollen ersichtlich die durch die Nachtarbeit bereits erlittenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen finanziell ausgleichen. Es ist nach deutschem Verfassungsrecht ein legitimer Zweck, zumindest generalpräventiv die Gesundheit von Arbeitnehmern zu schützen, die nachts arbeiten (vgl. BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191; BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 41 ff.). Ein solcher Schutz ist nach Auffassung des Senats unionsrechtlich durch den sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Nachtarbeitsübereinkommens, den siebten und achten Erwägungsgrund der Arbeitszeitrichtlinie sowie ihre engen Vorgaben in Art. 8 bis 12 geboten. Das rechtfertigt es nicht, die Gruppen der Arbeitnehmer ungleichzubehandeln, die regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit leisten.
128
(2) Als weiterer legitimer Zweck der beiden Zuschlagsregelungen ist ein finanzieller Ausgleich für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben erkennbar, der neben den Zweck des Gesundheitsschutzes tritt. Nachtarbeitszuschläge dienen typischerweise auch einem solchen Ausgleich (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 28; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 18 mwN, BAGE 153, 378; krit. D. Ulber Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 14 zu IV). Nachtarbeit erschwert es für die betroffenen Arbeitnehmer, am sozialen Leben in ihrem familiären Umfeld, im Freundes- und Bekanntenkreis sowie in ihrem erweiterten gesellschaftlichen Umfeld teilzunehmen (vgl. zu der Achtung des Privat- und Familienlebens Art. 7 der Charta; zu der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit als Gesichtspunkt von Art. 6 Abs. 2 GG BVerfG 14. Januar 2015 – 1 BvR 931/12 – Rn. 60, BVerfGE 138, 261; siehe auch Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 270). Eine Rechtfertigung höherer Nachtarbeitszuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit setzt jedoch voraus, dass unregelmäßige Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben stärker beeinträchtigt als regelmäßige Nachtarbeit. Davon ist der Senat zuletzt nicht ausgegangen (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 52, BAGE 162, 230).
129
(3) Für den Senat stellt sich jedoch die Frage, ob der aus der Unterscheidung von regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit in § 7 Nr. 1 MTV hervorgehende zusätzliche Zweck, die schlechtere Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit finanziell auszugleichen, die höheren Zuschläge für diese Arbeitnehmergruppe objektiv rechtfertigen kann. Für ihn ist offen, ob Art. 20 der Charta iVm. den Nachtarbeitsvorgaben der Richtlinie 2003/88/EG einen solchen Rechtfertigungsgrund anerkennt.
130
(a) Höhere Zuschläge für unregelmäßige als für regelmäßige Nachtarbeit wollen aus Sicht der Tarifvertragsparteien gegebene höhere Belastungen durch schlechter planbare Arbeitszeiten ausgleichen. Regelmäßige Nachtarbeit, die in der Regel einem Schichtplan folgt, ist jedenfalls bei typisierender Betrachtung besser vorhersehbar als unregelmäßige Nachtarbeit. Schichtpläne müssen regelmäßig mit zeitlichem Vorlauf aufgestellt werden. Typischerweise folgen sie einem gewissen Rhythmus. Unregelmäßige Nachtarbeit richtet sich dagegen nicht nach festen Regeln, sondern folgt einem weniger vorhersehbaren Bedarf.
131
(b) Einer Rechtfertigung durch den Zweck, die schlechtere Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit auszugleichen, könnte jedoch das höhere gesundheitliche Schutzbedürfnis von Arbeitnehmern entgegenstehen, die regelmäßige Nachtarbeit leisten. Der aufgrund der geleisteten Nachtarbeit nicht mögliche individuelle Gesundheitsschutz und der damit verbundene Gesundheitsschaden werden finanziell kompensiert. Die gesundheitliche Belastung steigt durch eine größere Zahl der Nächte im Monat und eine höhere Zahl der aufeinanderfolgenden Nächte, in denen Nachtarbeit geleistet wird, nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin. Es sollten möglichst wenige Nachtschichten aufeinanderfolgen (BAG 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 – Rn. 70; 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 27; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17 mwN, BAGE 153, 378; 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – Rn. 19, BAGE 147, 33; näher Rn. 36 ff. dieses Beschlusses). Für den Senat stellt sich deshalb die Frage, ob neben den Zweck des finanziellen Ausgleichs der besonderen Gesundheitseinbuße bei regelmäßiger Nachtarbeit die schlechtere Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit als objektiver und angemessener Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung der beiden Gruppen treten kann. Der Zweck der schlechteren Planbarkeit müsste im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel stehen.
132
(4) Die Rechtsfrage der Rechtfertigung durch den zusätzlichen Zweck der schlechteren Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit kann aus Sicht des Senats nicht deshalb als geklärt angesehen werden, weil der Gerichtshof im Antidiskriminierungsrecht angenommen hat, es sei Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob objektive Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigten (vgl. zB im Teilzeitrecht EuGH 1. März 2012 – C-393/10 – [O’Brien] Rn. 67; 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß] Rn. 43; 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg] Rn. 18). Die Ausführungen des Gerichtshofs betrafen jeweils die Beurteilung, ob im konkreten Fall überhaupt ein Rechtfertigungsgrund angeführt wurde und ob ein genannter Grund einer Prüfung am anzulegenden Rechtfertigungsmaßstab standhielte. Die Hinweise bezogen sich nach Auffassung des Senats nicht auf die Frage, ob ein Sachverhalt an sich geeignet ist, eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Der Gerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass ein rechtfertigender „sachlicher Grund“ für eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmergruppen nicht allein daraus folgt, dass die Ungleichbehandlung in einer allgemeinen, abstrakten Regelung des nationalen Rechts wie einem Gesetz oder einem Tarifvertrag vorgesehen ist (vgl. etwa im Befristungsrecht EuGH 9. Februar 2017 – C-443/16 – [Rodrigo Sanz] Rn. 42 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; 21. September 2016 – C-631/15 – [Álvarez Santirso] Rn. 48 mwN).
133
3. Die Entscheidung über die Revision hängt von der Beantwortung der zweiten Vorlagefrage ab.
134
a) Kann der Ausgleich der schlechteren Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit nicht herangezogen werden, um eine schlechtere Behandlung von Arbeitnehmern zu rechtfertigen, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, hätte die Revision der Beklagten teilweise keinen Erfolg. Die Klägerin könnte die noch rechtshängigen Zuschlagsdifferenzen grundsätzlich verlangen. Das Landesarbeitsgericht hätte für Teile der Ansprüche zu Recht erkannt, dass die Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit an das Niveau der Zuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit anzugleichen sind (Anpassung „nach oben“). Das Berufungsgericht müsste für Teile der Ansprüche jedoch noch Tatsachen feststellen, aus denen sich ergibt, ob die Klägerin die Ausschlussfrist des § 17 Nr. 2 MTV eingehalten hat. Insoweit müsste der Senat die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverweisen.
135
b) Läge im Ausgleich der schlechteren Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit dagegen ein Kriterium, das die schlechtere Behandlung von Arbeitnehmern rechtfertigen könnte, die regelmäßige Nachtarbeit leisten, stünde die konkrete unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Ziel (vgl. zu diesem Prüfungsschritt EuGH 29. Oktober 2020 – C-243/19 – [Veselības ministrija] Rn. 37; 9. März 2017 – C-406/15 – [Milkova] Rn. 55; 22. Mai 2014 – C-356/12 – [Glatzel] Rn. 43). Die Revision der Beklagten hätte Erfolg. Das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts wäre in vollem Umfang wiederherzustellen.
136
I. Die Entscheidung über die Aussetzung des Rechtsstreits beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 148 ZPO.
Gallner
Brune
Pulz
Rudolph
Salzburger |
bag_47-19 | 19.12.2019 | 19.12.2019
47/19 - Rechtskraft eines eine Kündigungsschutzklage abweisenden Urteils - Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung
Die Rechtskraft einer Entscheidung, mit der eine Kündigungsschutzklage abgewiesen wurde, schließt grundsätzlich etwaige Ansprüche des Arbeitnehmers auf Ersatz entgangenen Verdienstes sowie entgangener Rentenansprüche aus. Etwas anderes kann ausnahmsweise bei einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung iSv. § 826 BGB durch den Kündigenden in Betracht kommen.
Der katholische Kläger war langjährig bei der beklagten Kirchengemeinde (Beklagte zu 1.) als Organist, Chorleiter und Dekanatskantor beschäftigt. Im Jahr 1994 trennte er sich von seiner Ehefrau und ging eine neue Partnerschaft ein, aus der ein Kind hervorging. Nachdem die Beklagte zu 1. hiervon erfahren hatte, kündigte sie das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. März 1998 mit der Begründung, der Kläger habe gegen den Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe verstoßen und seine Loyalitätsobliegenheiten ihr gegenüber grob verletzt. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. In diesem Verfahren trat das beklagte Bistum (Beklagter zu 2.) auf Seiten der Beklagten zu 1. als Streithelfer bei. Das durch mehrere Instanzen geführte Verfahren endete im Jahr 2000 mit einer Klageabweisung. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Klägers nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an.
Im Jahr 2003 erhob der Kläger beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland. Mit Urteil vom 23. September 2010 stellte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) fest und sprach dem Kläger mit Urteil vom 28. Juni 2012 gemäß Art. 41 EMRK eine Entschädigung iHv. 40.000,00 Euro zu. Eine von diesem im Jahr 2010 erhobene Restitutionsklage gegen die Entscheidung im Kündigungsschutzprozess blieb sowohl vor dem Landesarbeitsgericht als auch vor dem Bundesarbeitsgericht erfolglos. Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde des Klägers nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Eine vom Kläger im Jahr 2013 erhobene Klage auf Wiedereinstellung blieb ebenfalls in allen Instanzen erfolglos.
Im vorliegenden Verfahren begehrt der Kläger von den Beklagten die Zahlung der Vergütung, die ihm aufgrund der Kündigung zum 31. März 1998 entgangen ist, sowie einen Ausgleich entgangener Rentenansprüche als Schadenersatz. Zur Begründung hat er im Wesentlichen geltend gemacht, im Kündigungsschutzprozess sei ein klares Fehlurteil gefällt worden, weil der geltend gemachte Kündigungsgrund von der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse (GrO), die hier allein maßgeblich sei, offensichtlich nicht umfasst sei. Dies sei seit deren Inkrafttreten für jedermann offensichtlich gewesen. Die Beklagten hätten durch ihr Verhalten und Vorbringen im Kündigungsschutzprozess in sittenwidriger Weise bewirkt, dass die Kündigungsschutzklage abgewiesen worden sei.
Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Steht eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtskräftig fest, können Schadensersatzansprüche, die auf den Ersatz entgangenen Entgelts sowie entgangener Rentenansprüche gerichtet sind, allenfalls bei einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung iSv. § 826 BGB durch den Kündigenden in Betracht kommen. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass die Voraussetzungen des § 826 BGB nicht vorliegen, war revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 8 AZR 511/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 12. September 2018 – 12 Sa 757/17 – | Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 12. September 2018 – 12 Sa 757/17 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
Die Rechtskraft eines Urteils, mit dem eine Kündigungsschutzklage abgewiesen wird, schließt grundsätzlich Ansprüche gegen den Arbeitgeber auf Ersatz etwaiger infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetretener Vermögensschäden aus. Allerdings gibt es Fälle, in denen sich die Rechtskraft gegenüber einem Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB nicht durchsetzen kann. Ein solcher Fall ist anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer dadurch einen Vermögensschaden erlitten hat, dass der Arbeitgeber gegen ihn vorsätzlich und sittenwidrig, insbesondere arglistig durch Irreführung des Gerichts ein rechtskräftiges unrichtiges Urteil erwirkt hat.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz aus einem beendeten Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1.
2
Der katholische Kläger war seit dem Jahr 1983 bei der Beklagten zu 1., einer katholischen Kirchengemeinde, als Organist und Chorleiter, zunächst mit einem Beschäftigungsumfang von 80 % und ab dem Jahr 1985 zusätzlich als Dekanatskantor mit einem Beschäftigungsumfang von insgesamt 100 % tätig. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers fand die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ vom 22. September 1993 (im Folgenden GrO) Anwendung, die durch das beklagte Bistum (Beklagter zu 2.) am 1. Januar 1994 in Kraft gesetzt wurde. In der GrO heißt es ua.:
„Artikel 4
Loyalitätsobliegenheiten
(1) Von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Insbesondere im pastoralen, katechetischen und erzieherischen Dienst sowie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio canonica tätig sind, ist das persönliche Lebenszeugnis im Sinne der Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre erforderlich. Dies gilt auch für leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
…
(4) Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kirchenfeindliches Verhalten zu unterlassen. Sie dürfen in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem dienstlichen Verhalten die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, nicht gefährden.
Artikel 5
Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten
(1) …
(2) Für eine Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen sieht die Kirche insbesondere folgende Loyalitätsverstöße als schwerwiegend an:
– Verletzungen der gemäß Art. 3 und 4 von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter zu erfüllenden Obliegenheiten, insbesondere Kirchenaustritt, öffentliches Eintreten gegen tragende Grundsätze der katholischen Kirche (z.B. hinsichtlich der Abtreibung) und schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlungen,
– Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe,
– …
(3) Ein nach Abs. 2 generell als Kündigungsgrund in Betracht kommendes Verhalten schließt die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung aus, wenn es begangen wird von pastoral, katechetisch oder leitend tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio canonica tätig sind. Von einer Kündigung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn schwerwiegende Gründe des Einzelfalles diese als unangemessen erscheinen lassen.
(4) Wird eine Weiterbeschäftigung nicht bereits nach Abs. 3 ausgeschlossen, so hängt im Übrigen die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung von den Einzelfallumständen ab, insbesondere vom Ausmaß einer Gefährdung der Glaubwürdigkeit von Kirche und kirchlicher Einrichtung, von der Belastung der kirchlichen Dienstgemeinschaft, der Art der Einrichtung, dem Charakter der übertragenen Aufgabe, deren Nähe zum kirchlichen Verkündigungsauftrag, von der Stellung der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters in der Einrichtung sowie von der Art und dem Gewicht der Obliegenheitsverletzung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Lehre der Kirche bekämpft oder sie anerkennt, aber im konkreten Fall versagt.
(5) Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, die aus der katholischen Kirche austreten, können nicht weiterbeschäftigt werden.
Im Fall des Abschlusses einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe scheidet eine Weiterbeschäftigung jedenfalls dann aus, wenn sie unter öffentliches Ärgernis erregenden oder die Glaubwürdigkeit der Kirche beeinträchtigenden Umständen geschlossen wird (z. B. nach böswilligem Verlassen von Ehepartner und Kindern).“
3
Im Jahr 1994 trennte sich der Kläger von seiner Ehefrau und teilte dies der Beklagten zu 1. im Januar 1995 mit. Nach der Trennung ging er eine neue Partnerschaft ein, aus der ein Kind hervorging. Nachdem die Beklagte zu 1. erfahren hatte, dass der Kläger wieder Vater werden würde, kündigte sie das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 15. Juli 1997 zum 31. März 1998 und begründete dies damit, der Kläger habe gegen den Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe verstoßen und seine Loyalitätsobliegenheiten ihr gegenüber grob verletzt.
4
Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. In diesem Verfahren trat das beklagte Bistum (im Folgenden Beklagter zu 2.) der Beklagten zu 1. als Streithelfer bei. Mit Urteil vom 9. Dezember 1997 (- 6 Ca 2708/97 -) gab das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage des Klägers statt. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beklagten zu 1. mit Urteil vom 13. August 1998 zurück (- 7 Sa 425/98 -). Nachdem dieses Urteil auf die Revisionen der Beklagten zu 1. sowie des Beklagten zu 2. durch das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 16. September 1999 (- 2 AZR 712/98 -) aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden war, wies das Landesarbeitsgericht die Kündigungsschutzklage des Klägers mit Urteil vom 3. Februar 2000 (- 7 Sa 425/98 -) ab. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wurde vom Bundesarbeitsgericht durch Beschluss vom 29. Mai 2000 als unzulässig verworfen. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde des Klägers mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung an (BVerfG 8. Juli 2002 – 2 BvR 1160/00 -).
5
Am 11. Januar 2003 erhob der Kläger wegen der Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen über die Kündigung vom 15. Juli 1997 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland. Mit Urteil vom 23. September 2010 (- 1620/03 -) stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) fest, weil die deutschen Arbeitsgerichte nicht hinreichend dargelegt hätten, warum die Interessen der Beklagten zu 1. die des Klägers bei Weitem übertroffen hätten, und weil sie die Rechte des Klägers und die der Beklagten zu 1. nicht in einer Weise abgewogen hätten, die in Einklang mit der Konvention stehe. Demnach habe der deutsche Staat dem Kläger nicht den notwendigen Schutz gewährt und so Art. 8 EMRK verletzt. Daran anschließend verlangte der Kläger unter Berufung auf Art. 41 EMRK von der Bundesrepublik Deutschland ua. eine gerechte Entschädigung iHv. 323.741,45 Euro für einen erlittenen materiellen Schaden bis zum 31. Dezember 2008 sowie iHv. 30.000,00 Euro zum Ausgleich eines immateriellen Schadens. Mit Urteil vom 28. Juni 2012 (- 1620/03 -) erkannte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Kläger gemäß Art. 41 EMRK eine Entschädigung iHv. insgesamt 40.000,00 Euro zu.
6
Im Oktober 2010 erhob der Kläger beim zuständigen Landesarbeitsgericht Restitutionsklage mit der Begründung, das Urteil des Berufungsgerichts vom 3. Februar 2000 (- 7 Sa 425/98 -) beruhe auf einer festgestellten Konventionsverletzung, weshalb ein Restitutionsgrund iSv. § 580 Nr. 8 ZPO vorliege. Das Landesarbeitsgericht verwarf die Restitutionsklage mit Urteil vom 4. Mai 2011 (- 7 Sa 1427/10 -) als unzulässig. Die Revision des Klägers gegen diese Entscheidung wurde vom Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 22. November 2012 (- 2 AZR 570/11 – BAGE 144, 59) zurückgewiesen. Die vom Kläger hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 20. April 2016 (- 2 BvR 1488/14 –) nicht zur Entscheidung an.
7
Der Kläger machte gegenüber der Beklagten zu 1. schließlich einen Anspruch auf Wiedereinstellung ab dem 23. September 2010, hilfsweise zu späteren Zeitpunkten geltend. Diese Klage blieb in allen drei Instanzen erfolglos. Über die vom Kläger insoweit eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht bisher nicht entschieden.
8
Die Beklagte zu 1. hatte mit Schreiben vom 22. Dezember 1997 eine weitere Kündigung gegenüber dem Kläger ausgesprochen, und zwar als außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 30. Juni 1998. Sie hatte diese auf denselben Vorwurf wie die erste Kündigung sowie darauf gestützt, dass der Kläger im Kündigungsschutzverfahren betreffend die Kündigung vom 15. Juli 1997 zunächst wahrheitswidrig in Abrede gestellt habe, ein außereheliches Verhältnis eingegangen und Vater des Kindes seiner Lebenspartnerin zu sein. Die gegen diese weitere Kündigung gerichtete Klage blieb vor dem Arbeitsgericht erfolglos. Durch – rechtskräftiges – Urteil vom 27. März 2013 (- 7 Sa 109/13 -) wies das Landesarbeitsgericht die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers mit der Begründung zurück, aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigung vom 15. Juli 1997 stehe bindend fest, dass bereits mit Ablauf des 31. März 1998 zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1. kein Arbeitsverhältnis mehr bestanden habe. Auch in diesem Kündigungsschutzverfahren war der Beklagte zu 2. der Beklagten zu 1. als Nebenintervenient beigetreten. Eine vom Kläger in einem weiteren Verfahren auf Zahlung von Annahmeverzugsvergütung für den Zeitraum nach Ablauf der Kündigungsfrist gerichtete Widerklage wurde durch rechtskräftiges arbeitsgerichtliches Urteil abgewiesen.
9
Der Kläger, der nach wie vor mit seiner neuen Partnerin in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammenlebt, hat seit September 2002 eine Stelle als Teilzeit-C-Kirchenmusiker bei der Evangelischen Kirchengemeinde E. Da die evangelische Kirche von hauptamtlichen Kirchenmusikern die evangelische Kirchenzugehörigkeit erwartete, wurde der Kläger als Katholik dort nur mit einem Beschäftigungsumfang von 49 % eingestellt.
10
Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger die ihm aufgrund der Kündigung vom 15. Juli 1997 entgangene Vergütung unter Anrechnung anderweitigen Verdienstes als Schadensersatz für die Vergangenheit und Zukunft sowie einen Ausgleich entgangener Rentenansprüche.
11
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagten seien ihm aufgrund vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zum Schadensersatz verpflichtet.
12
Mit ihrem sittenwidrigen Verhalten seien die Beklagten in den innersten Kern seines nach Art. 2 iVm. Art. 1, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsrechts eingedrungen. Sie hätten ihn dafür sanktioniert, dass er nach gescheiterter Ehe eine neue Bindung eingegangen und nochmals Vater geworden sei. Lebenslange Enthaltsamkeit für den Fall des Scheiterns seiner Ehe habe er nicht gelobt.
13
Der von den Beklagten angeführte Kündigungsgrund sei von den insoweit abschließenden Regelungen der GrO nicht umfasst, was seit deren Inkrafttreten für jedermann offensichtlich gewesen sei. Dies habe die Beklagte zu 1. schon bei Ausspruch der Kündigung bewusst ignoriert. Es bestünden zudem starke Verdachtsmomente, dass diese während des gesamten Kündigungsschutzverfahrens bewusst eine gebotene Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz nicht eingeholt bzw. deren Einholung durch das Gericht vereitelt hätten, indem sie unzutreffend vorgetragen hätten, dass insoweit die Einschätzung des Bischofs bzw. des Generalvikars maßgeblich sei. Die Deutsche Bischofskonferenz habe später in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – gemeint ist das Verfahren – 2 BvR 661/12 – (BVerfGE 137, 273) – die Rechtsauffassung geäußert, dass nach der Grundordnung nur die Wiederheirat zur Kündigung führen könne. Diese Auffassung hätte die Deutsche Bischofskonferenz der Beklagten zu 1. ebenso mitgeteilt, wenn diese vor Ausspruch der Kündigung vom 15. Juli 1997 eine entsprechende Stellungnahme eingeholt hätte.
14
Er habe zudem – anders als man ihm vorgeworfen habe – nicht „Ehebruch und Bigamie“ im kirchenrechtlichen Sinne begangen. Bei der Würdigung, ob „Ehebruch“ einen Kündigungsgrund iSd. GrO darstellen könne, seien auch die Entwicklungen in der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu beachten. Dieses habe die Gewissensentscheidung jedes Christen noch einmal besonders hervorgehoben. Deshalb seien ua. das kirchenrechtliche crimen des Konkubinats für Laien ebenso wie das crimen des Ehebruchs aufgehoben worden. Nur das Verbot der Wiederheirat sei beibehalten worden, weil die Wiederheirat zum Straftatbestand der Bigamie führe und durch den objektiven Akt der öffentlichen Eheschließung den privaten Bereich verlasse. Diese Wertungen des geänderten Codex Iuris Canonici (CIC) hätten die Beklagten in den Kündigungsschutzprozessen bewusst ignoriert. Außerdem werde in der großen Enzyklika „Familiaris consortio“, die für alle Gläubigen den Ausschluss von den Sakramenten regele, der Ehebruch anders als die Wiederheirat an keiner Stelle erwähnt. In Kenntnis dessen hätten die Beklagten gleichwohl wahrheitswidrig den Ehebruch als kirchenrechtlichen Kündigungsgrund behauptet. Nach der GrO stellten auch nicht etwa Verstöße gegen die zehn Gebote Kündigungsgründe dar. Mit dem Verweis auf die zehn Gebote hätten die Beklagten im Kündigungsschutzprozess weitere Nebelkerzen geworfen, um die Gerichte irrezuführen.
15
Aus dem Text der GrO ergebe sich zudem zweifelsfrei, dass von ihm als Organisten das persönliche Lebenszeugnis nicht gefordert werde. Als Mitarbeiter im liturgischen Dienst tauchten Organisten ebenso wie die Küster in der GrO an keiner Stelle auf. Als Organist müsse er nicht einmal katholisch sein. So ließen sich in der Diaspora nur evangelische Küster oder Organisten finden. Die Beklagten hätten im Kündigungsschutzverfahren wahrheitswidrig mit dem Ziel der bewussten Täuschung des Gerichts mit immer neuen Umschreibungen seine Nähe als Organist zum Verkündigungsauftrag behauptet, ohne auch nur eine einzige arbeitsrechtlich fundierte Verlautbarung der verfassten Kirche nennen zu können. Die Beklagte zu 1. hätte auch Kenntnis darüber haben müssen, dass Organisten als Mitarbeiter des liturgischen Dienstes nicht zu denjenigen gehörten, an die erhöhte Loyalitätsanforderungen zu stellen seien.
16
Nach alledem hätten die Beklagten durch wider besseres Wissen vorgetragene Kündigungsgründe und Aufrechterhaltung des unzutreffenden Vortrags während der Instanzen verwerflich gehandelt. Sie hätten ihn, den Kläger, entgegen den Maßstäben der verfassten Kirche unbedingt kündigen wollen und einen erfundenen Kündigungsgrund mit Vehemenz und unter geschickter Ausnutzung der Amtsautorität von kirchlichen Einrichtungen – von der sich die Arbeitsgerichte letztlich hätten beeindrucken lassen – vorgetragen, um ihn aus dem Amt zu drängen und ihm damit das Gehalt vorzuenthalten. Um zu dem gewünschten Ergebnis zu gelangen, hätten die Beklagten das selbst geschaffene Recht, dh. die GrO bewusst und in dreister Beharrlichkeit gebeugt und ihn für einen erfundenen Kündigungsgrund als „Versuchskaninchen“ missbraucht. Sie hätten sich dabei auf kein einziges Urteil im gesamten deutschsprachigen Raum seit dem 2. Weltkrieg zu ihren Gunsten berufen können. Die Beklagte zu 1. habe außerdem ihre Monopolstellung für die Beschäftigung von katholischen Kirchenmusikern ausgenutzt. Eine von vornherein grundlose Kündigung aus einem angeblichen kirchenspezifischen Grund sei rechtsmissbräuchlich und zumindest auf die Aufrechterhaltung eines Irrtums derjenigen ausgerichtet, die sich auf den Informationsvorsprung eines Bistums verließen, sich selbst im Wertesystem der Katholischen Kirche im Hinblick auf deren Sexualmoral und in der Handhabung ihrer kirchenspezifischen Loyalitätspflichten nicht auskennen würden und deren diffuses Halbwissen darüber von überkommenen Vorstellungen geprägt sei; hierzu gehörten auch die Arbeitsgerichte.
17
Auf nachfolgende Entscheidungen zu seinen Ungunsten, sei es durch das Landesarbeitsgericht, das Bundesarbeitsgericht oder das Bundesverfassungsgericht, dürften die Beklagten sich nicht berufen, weil diese Entscheidungen menschenrechts- und verfassungswidrig seien. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 im Chefarzt-Fall (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) sei endgültig klar, dass das Bundesarbeitsgericht im Jahr 1999 ein Fehlurteil gefällt habe.
18
Gegenüber dem Beklagten zu 2. folge der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB iVm. den Grundsätzen der Expertenhaftung. Der Beklagte zu 2. habe kraft seiner Amtsautorität die Gerichte beeinflusst und in die Irre geführt. Er habe nicht nur selbst den Sachverhalt bewusst falsch bewertet, sondern über Jahre hinweg aktiv und hartnäckig darauf hingewirkt, dass auch die Arbeitsgerichte den Sachverhalt falsch würdigten. Er habe durch leichtfertige Zustimmung zur Kündigung sowie seinen Beitritt als Nebenintervenient verwerflich gehandelt, weil er ihm – dem Kläger – als Katholik und als zu Recht klagende Partei hätte beistehen müssen.
19
Die Kündigung sei für den geltend gemachten Vermögensschaden ursächlich. Für ihn als ausgebildeten katholischen Kirchenmusiker seien katholische Kirchengemeinden die einzig möglichen Arbeitgeber. Wegen der seinerzeitigen Pressemitteilungen sowie in Ermangelung der erforderlichen kirchenaufsichtsrechtlichen Genehmigung sei eine anderweitige Einstellung nicht möglich gewesen.
20
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
1.
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihm für die Zeit von Juli 1998 bis Dezember 2016 einen Schadensersatz iHv. 275.067,00 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab Zustellung der Klage zu zahlen,
2.
festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den in Schadenseinheit entstandenen zukünftigen Schaden ab Januar 2017 bis zum Renteneintritt in Höhe der Differenz zwischen Entgeltgruppe 11 Stufe 6 der Anlage 5a zur kirchlichen Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO NRW) nach einem Beschäftigungsumfang von 39/39 Std./Woche und Tarifgruppe 8, Stufe 6 BAT/MTArb KF nach einem Beschäftigungsumfang von 17,98/39 Std./Woche auszugleichen,
3.
festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ab Erreichen der Regelaltersgrenze den Rentenverlust aus der Gehaltsdifferenz seit dem 1. Juli 1997 auszugleichen.
21
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
22
Die Beklagte zu 1. hat geltend gemacht, dem Kläger sei nicht wegen „Bigamie und Ehebruch“ gekündigt worden. Auch sei ein Kündigungsgrund nicht wider besseres Wissen konstruiert und vorgeschoben worden. Auch wenn die GrO den Kündigungsgrund „Ehebruch“ nicht ausdrücklich enthalte, sei nicht nur die Wiederverheiratung als Kündigungsgrund etabliert gewesen, sondern auch die Auffassung, dass die Aufnahme einer neuen geschlechtlichen Beziehung eine schwerwiegende sittliche Verfehlung im Sinne des Kirchenrechts darstelle. Die Regelungen des Art. 5 Abs. 2 GrO sowie des Art. 4 Abs. 1 GrO seien, wie sich schon aus dem Wort „insbesondere“ ergebe, nicht abschließend. Soweit der Kläger sich auf die Chefarzt-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) beziehe, bestehe keine Vergleichbarkeit mit den von ihm geführten Rechtsstreitigkeiten.
23
Der Vorwurf eines sittenwidrigen Handelns im Zusammenhang mit der Kündigung vom 15. Juli 1997 und dem nachfolgenden Rechtsstreit könne ihr zudem schon deshalb nicht gemacht werden, weil das Bundesarbeitsgericht als höchstes deutsches Arbeitsgericht die Kündigung mit Urteil vom 16. September 1999 (- 2 AZR 712/98 -) als rechtswirksam bestätigt habe. Dem stehe auch nicht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegen, die zum einen nicht gegen sie – die Beklagte zu 1. – und zum anderen erst nach einer Interessenabwägung ergangen sei. Desungeachtet liege selbst in einer falschen rechtlichen Bewertung eines Sachverhalts keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung.
24
Der Beklagte zu 2. hat gleichfalls den Vorwurf einer sittenwidrigen Schädigung des Klägers zurückgewiesen. Die Einholung einer Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz sei entgegen der Auffassung des Klägers nicht erforderlich gewesen. Die jeweilige Rechtssetzungs- und Rechtsprechungsgewalt gehe nicht von der Deutschen Bischofskonferenz, sondern von dem jeweiligen Diözesan des (Erz-)Bischofs aus. Bei Zweifeln werde zwar eine Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz eingeholt, Rechtsträger sei hier der Verband. Entscheidungs- und Regelungsbefugnis für alle Bistümer habe dieser jedoch nicht. Er, der Beklagte zu 2., sei vorliegend auch nicht als externe Auskunftsbehörde, sondern als Streithelfer aufgetreten. Eine „Amtsautorität“ gegenüber den entscheidenden Richtern und Richterinnen habe nicht bestanden und sei auch nicht suggeriert worden.
25
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Das Landesarbeitsgericht hat eine Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe, katholisches Büro in Berlin eingeholt. Diese ging beim Landesarbeitsgericht als Anlage zu einem auf dem Briefbogen des Kommissariats der Deutschen Bischöfe gefertigten Schreiben vom 16. März 2018 ein, das in Vertretung von der Stellvertreterin des Leiters des Kommissariats der Deutschen Bischöfe, Frau J, unterzeichnet war. Die dem Anschreiben beigefügte Stellungnahme war ihrerseits nicht unterzeichnet. Der Kläger hat diese Stellungnahme in formeller und materieller Hinsicht beanstandet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Die Beklagten beantragen die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
26
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Beklagten sind dem Kläger nicht nach der hier allein in Betracht kommenden Bestimmung des § 826 BGB, der Beklagte zu 2. auch nicht nach § 826 BGB iVm. mit den Grundsätzen der Expertenhaftung (vgl. hierzu etwa BGH 19. November 2013 – VI ZR 411/12 – Rn. 10 mwN), zum Schadensersatz verpflichtet. Die Beklagten haben den Kläger im Zusammenhang mit dem über die Wirksamkeit der Kündigung der Beklagten zu 1. vom 15. Juli 1997 geführten Kündigungsschutzprozess nicht sittenwidrig geschädigt.
27
I. Vor dem Hintergrund, dass die Kündigungsschutzklage des Klägers rechtskräftig abgewiesen wurde, kommt im vorliegenden Verfahren als Anspruchsgrundlage – hiervon geht auch der Kläger aus – allein § 826 BGB in Betracht, wonach derjenige dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist, den er dem anderen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich zugefügt hat.
28
1. An sich folgt aus der Rechtskraft eines Urteils, dass die Rechtsfolge, die das Gericht dazu aus dem von ihm zu beurteilenden Sachverhalt hergeleitet hat, zwischen den Parteien unangreifbar feststeht, und zwar auch insoweit, als sie für die in einem neuen Prozess zur Entscheidung gestellte Rechtsfolge vorgreiflich ist (vgl. BGH 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – BGHZ 40, 130).
29
Im vorliegenden Verfahren führt die Rechtskraft des die Kündigungsschutzklage des Klägers abweisenden arbeitsgerichtlichen Urteils dazu, dass der Kläger, da sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1. aufgrund der Kündigung vom 15. Juli 1997 mit Ablauf des 31. März 1998 sein Ende gefunden hat, ab dem 1. April 1998 keine weiteren Vergütungsansprüche und auch keine weiteren Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung erwerben konnte, weshalb er von den Beklagten grundsätzlich auch nicht verlangen kann, die infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetretene Vergütungs- und Versorgungseinbuße im Wege des Schadensersatzes auszugleichen.
30
2. Allerdings ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es Fälle gibt, in denen sich die Rechtskraft gegenüber einem Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB nicht durchsetzen kann (vgl. etwa BAG 3. November 1982 – 7 AZR 62/79 – zu II 1 der Gründe; 15. Februar 1973 – 2 AZR 16/72 – zu III 2 der Gründe, BAGE 25, 43; 27. Januar 1970 – 1 AZR 198/69 – zu 2 a der Gründe; BGH 20. Juni 2018 – XII ZB 84/17 – Rn. 40; 13. September 2005 – VI ZR 137/04 – zu 3 a der Gründe, BGHZ 164, 87; 29. Juni 2005 – VIII ZR 299/04 – zu II B 2 der Gründe; 11. Juli 2002 – IX ZR 326/99 – zu IV 2 a der Gründe, BGHZ 151, 316; 9. Februar 1999 – VI ZR 9/98 – zu II B 1 der Gründe; 15. November 1994 – VI ZR 2/94 – zu II 1 a der Gründe; 24. September 1987 – III ZR 187/86 – zu II 3 der Gründe, BGHZ 101, 380; 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – BGHZ 40, 130). Dabei stellt die auf § 826 BGB gestützte Klage den Bestand der gerichtlichen Entscheidung nicht in Frage. Sie ist vielmehr darauf gerichtet, die hierdurch verursachte Einbuße im Wege des Schadensersatzes auszugleichen, wobei zur Erreichung dieses Zwecks die materielle Rechtskraft zurücktreten muss. Die Klage aus § 826 BGB ist daher kein „außerordentlicher Rechtsbehelf“ gegen eine gerichtliche Entscheidung, sondern die Anwendung materiellen Zivilrechts (vgl. BGH 13. September 2005 – VI ZR 137/04 – aaO).
31
3. Die Durchbrechung der Rechtskraft auf der Grundlage eines Schadensersatzverlangens darf nur in besonders schwerwiegenden, eng begrenzten Ausnahmefällen gewährt werden, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt und die Rechtssicherheit beeinträchtigt würde (vgl. etwa BGH 9. Februar 1999 – VI ZR 9/98 – zu II B 1 der Gründe).
32
a) Danach muss die Rechtskraft eines gerichtlichen Titels zum einen dann zurücktreten, wenn dessen Ausnutzung unter Missachtung der materiellen Rechtslage nach den Umständen des Falls als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung iSd. § 826 BGB anzusehen ist (sittenwidrige Ausnutzung einer rechtskräftigen unrichtigen Entscheidung, vgl. etwa BAG 3. November 1982 – 7 AZR 62/79 – zu II 1 der Gründe; BGH 20. Juni 2018 – XII ZB 84/17 – Rn. 40; 29. Juni 2005 – VIII ZR 299/04 – zu II B 2 der Gründe; 11. Juli 2002 – IX ZR 326/99 – zu IV 2 a der Gründe, BGHZ 151, 316; 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – BGHZ 40, 130). Diese Variante ist im vorliegenden Verfahren allerdings nicht einschlägig.
33
b) Darüber hinaus ist anerkannt, dass sich die Rechtskraft gegenüber dem Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB nicht durchsetzen kann, wenn sie bewusst rechtswidrig zu dem Zweck herbeigeführt wurde, dem, was nicht Recht ist, den Stempel des Rechts zu geben (vgl. etwa BGH 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – BGHZ 40, 130). Deshalb hat derjenige, der dadurch einen Vermögensschaden erlitten hat, dass ein anderer gegen ihn vorsätzlich und sittenwidrig, dh. insbesondere arglistig durch Irreführung des Gerichts ein rechtskräftiges unrichtiges Urteil erwirkt (sittenwidriges Erwirken einer rechtskräftigen unrichtigen Entscheidung), einen Anspruch auf Schadensersatz (vgl. etwa BAG 3. November 1982 – 7 AZR 62/79 – zu II 1 der Gründe; 15. Februar 1973 – 2 AZR 16/72 – zu III 2 der Gründe, BAGE 25, 43; 27. Januar 1970 – 1 AZR 198/69 – zu 2 a der Gründe; BGH 13. September 2005 – VI ZR 137/04 – zu 3 a der Gründe, BGHZ 164, 87; 15. November 1994 – VI ZR 2/94 – zu II 1 a der Gründe; 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – BGHZ 40, 130).
34
aa) Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB wegen eines sittenwidrigen Erwirkens einer rechtskräftigen Entscheidung ist zum einen, dass der erwirkte Titel unrichtig ist und der Schädiger hiervon Kenntnis hatte (vgl. BGH 11. Juli 2002 – IX ZR 326/99 – zu IV 2 a der Gründe, BGHZ 151, 316; 9. Februar 1999 – VI ZR 9/98 – zu II B 1 der Gründe; 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – BGHZ 40, 130). Dabei kann die Unrichtigkeit eines unter dem Gesichtspunkt des sittenwidrigen Erwirkens bekämpften rechtskräftigen Urteils nicht dadurch dargetan werden, dass der den Schadensersatzanspruch Erhebende nochmals dieselben Tatsachen, Beweismittel und Rechtsausführungen vorbringt, die er bereits in dem abgeschlossenen Prozess vorgetragen hat. Ebenso genügt es nicht, dass die unterlegene Partei ihre im Vorprozess aufgestellten Behauptungen ergänzt oder zusätzliche Beweisanträge stellt, mit denen im Grunde das bisherige Vorbringen lediglich untermauert werden soll. Der schwerwiegende Eingriff in die Rechtskraft ist nämlich nur in den äußersten Fällen erträglich und geboten, in denen nicht die offenbare Lüge den Sieg über die gerechte Sache behalten darf (vgl. etwa BAG 15. Februar 1973 – 2 AZR 16/72 – zu III 3 b der Gründe, BAGE 25, 43; 27. Januar 1970 – 1 AZR 198/69 – zu 2 b der Gründe; BGH 19. Juni 1964 – V ZR 37/63 – zu 1 der Gründe; 5. Juni 1963 – IV ZR 136/62 – aaO).
35
bb) Darüber hinaus müssen weitere Umstände hinzukommen, die die Art der Erlangung des Titels betreffen und es geboten erscheinen lassen, dass der Gläubiger die ihm nach dem materiellen Recht unverdient zugefallene Rechtsposition aufgibt (vgl. BGH 11. Juli 2002 – IX ZR 326/99 – zu IV 2 a der Gründe, BGHZ 151, 316), oder anders formuliert: Es müssen weitere Umstände hinzukommen, die die Art und Weise der Titelerlangung betreffen und die das Vorgehen des Gläubigers als sittenwidrig prägen, so dass es Letzterem zugemutet werden muss, die ihm unverdient zugefallene Rechtsposition aufzugeben (vgl. BGH 9. Februar 1999 – VI ZR 9/98 – zu II B 1 der Gründe).
36
cc) Die gerichtliche Entscheidung in dem vorangegangenen Prozess muss zudem auf das vorsätzliche und sittenwidrige Verhalten der Partei im Prozess zurückzuführen sein; zwischen der gerichtlichen Entscheidung und dem Verhalten der Partei muss ein ursächlicher Zusammenhang in dem Sinne bestehen, dass ohne dieses Verhalten der Partei der frühere Rechtsstreit zu einem für den nunmehr Schadensersatz beanspruchenden Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätte (vgl. etwa BAG 3. November 1982 – 7 AZR 62/79 – zu II 2 der Gründe).
37
dd) Danach kann ein Anspruch aus § 826 BGB wegen sittenwidrigen Erwirkens einer unrichtigen Entscheidung nicht nur dann anzunehmen sein, wenn die Partei sich mit bewusst unwahrem Tatsachenvortrag im Prozess durchgesetzt hat, sondern auch dann, wenn sie erfolgreich Beweismittel zu ihren Gunsten manipuliert hat. Demgegenüber dürfte in der Äußerung unzutreffender Rechtsansichten regelmäßig auch dann keine sittenwidrige Einflussnahme auf das Gericht liegen, wenn die Partei mit diesen Rechtsansichten durchdringt. Denn das Gericht ist zur umfassenden rechtlichen Prüfung des Falls unter Auswertung der Rechtsprechung und Literatur verpflichtet, und die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen und die Subsumtion der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen unter diese Normen ist allein Sache des Richters („iura novit curia“). Allerdings sind auch Fälle denkbar, in denen eine klare Trennung von Tatsachenbehauptungen und reinen Rechtsansichten nicht möglich ist, weil das Gericht seine Entscheidung beispielsweise nach von Dritten, zB der Kirche vorgegebenen Maßstäben zu treffen hat und die Parteien über den Inhalt dieser Vorgaben streiten. Dann kann ein auf § 826 BGB gestützter Anspruch wegen sittenwidrigen Erwirkens einer unrichtigen Entscheidung nicht von vornherein mit der Begründung abgelehnt werden, allein in der Äußerung einer unzutreffenden Rechtsansicht liege keine sittenwidrige Einflussnahme auf das Gericht.
38
II. Es kann dahinstehen, ob § 826 BGB – wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat – unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. September 2010 (- 1620/03 -) dahin auszulegen ist, dass die materielle Rechtskraft der die Kündigungsschutzklage des Klägers abweisenden arbeitsgerichtlichen Entscheidung zudem dann zurücktreten müsste, wenn die Beklagten sich die Wirksamkeit dieser Kündigung betreffend auf einen objektiv unvertretbaren Standpunkt gestellt und sich hiermit im Kündigungsschutzprozess durchgesetzt hätten. Selbst wenn dies der Fall wäre, hätte die Klage keinen Erfolg. Die Beklagten haben den Kläger im Zusammenhang mit dem über die Wirksamkeit der Kündigung der Beklagten zu 1. vom 15. Juli 1997 geführten Kündigungsschutzprozess nicht sittenwidrig geschädigt und sind ihm deshalb nicht nach § 826 BGB zum Ausgleich der infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingetretenen Vergütungs- und Versorgungseinbußen verpflichtet. Wie das Landesarbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung nach umfassender Würdigung der Gesamtumstände und des Vorbringens der Parteien zutreffend angenommen hat, haben die Beklagten weder vorsätzlich und sittenwidrig das die Kündigungsschutzklage des Klägers abweisende Urteil erwirkt, noch haben sie sich im Hinblick auf die Wirksamkeit der Kündigung der Beklagten zu 1. vom 15. Juli 1997 auf einen objektiv unvertretbaren Rechtsstandpunkt gestellt und sich hiermit im Kündigungsschutzprozess durchgesetzt.
39
1. Das Landesarbeitsgericht hat – zusammengefasst – angenommen, die Beklagten hätten sich das zu ihren Gunsten ergangene Urteil nicht erschlichen. Sie hätten insbesondere keinen kirchenrechtlichen Kündigungsgrund erfunden und den Arbeitsgerichten vorgetragen, den es nicht gebe. Vielmehr hätten sie im Hinblick auf die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung einen zumindest objektiv vertretbaren Standpunkt eingenommen. Dies gelte sowohl für den Kündigungsgrund an sich als auch für die Frage, ob der Kläger als Kirchenmusiker in seiner Tätigkeit verkündigungsnah gearbeitet habe, und damit für die Frage, ob die Interessenabwägung zu seinen Ungunsten hätte ausfallen dürfen.
40
2. Diese Würdigung begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken. Die vom Kläger hiergegen erhobenen Rügen greifen nicht durch.
41
a) Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Frage, ob der Umstand, dass der katholisch verheiratete Kläger eine neue dauerhafte Partnerschaft eingegangen war, einen Kündigungsgrund iSd. GrO darstellen kann.
42
aa) Wie das Landesarbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, hat das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 16. September 1999 (- 2 AZR 712/98 – ) – das seinerseits vom Landesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 3. Februar 2000 (- 7 Sa 425/98 -) in Bezug genommen wurde – nicht etwa ungeprüft Vorbringen der Beklagten zum Kündigungsgrund übernommen, sondern das Vorliegen eines Kündigungsgrundes iSd. GrO eigenständig unter Berücksichtigung der Vorgaben aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 (- 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – BVerfGE 70, 138) geprüft und ist zu dem nicht unvertretbaren Ergebnis gelangt, der Umstand, dass der katholisch verheiratete Kläger eine neue dauerhafte Partnerschaft eingegangen war, sei als schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlung iSv. Art. 5 Abs. 2 Alt. 1 GrO anzusehen und komme damit als Kündigungsgrund nach der GrO in Betracht.
43
Dabei hatte das Bundesarbeitsgericht seine Annahme, dass der von der Beklagten zu 1. vorgetragene Sachverhalt als eine schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlung iSv. Art. 5 Abs. 2 Alt. 1 GrO angesehen werden könne, damit begründet, dass mit Art. 4 und Art. 5 der GrO entschieden sei, welche kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen seien und welche Schwere dem Loyalitätsverstoß zukomme, und dass die katholische Kirche befugt gewesen sei, den ihr angehörenden katholischen Arbeitnehmern durch Art. 4 Abs. 1 Satz 1 GrO aufzuerlegen, die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre, zu denen auch die herausragende Bedeutung der Ehe als Sakrament gehöre, anzuerkennen und zu beachten (BAG 16. September 1999 – 2 AZR 712/98 – zu II 5 a bb der Gründe). Davon, dass es sich – wie der Kläger meint – bei der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts insoweit um ein krasses Fehlurteil handelte, weil das Gericht – wie zuvor die Beklagten – im Hinblick auf die Frage der Bewertung des Ehebruchs als möglichen Kündigungsgrund nach der GrO einen völlig unvertretbaren Standpunkt eingenommen hätte, kann insbesondere vor dem Hintergrund der Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Juni 1985 (- 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – BVerfGE 70, 138) gemacht hatte, nicht die Rede sein.
44
Im Übrigen hatte sich das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung mit den Argumenten des Klägers, insbesondere mit dessen auch im vorliegenden Verfahren vorgetragener Rechtsansicht auseinandergesetzt, wonach allein die Wiederheirat, also der Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe als schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlung anzusehen sei, und dieser Rechtsauffassung eine Absage erteilt (vgl. BAG 16. September 1999 – 2 AZR 712/98 – zu II 5 b der Gründe). Ebenso hatte es den vom Kläger im vorliegenden Verfahren weiterhin angeführten Aspekt gewürdigt, dass der Ehebruch nach der Neufassung des Codex Iuris Canonici im Jahre 1983 nicht länger als Verbrechen angesehen werde (BAG 16. September 1999 – 2 AZR 712/98 – zu II 5 a bb der Gründe). Dies führt dazu, dass der Kläger mit diesen Argumenten im vorliegenden Verfahren ohnehin nicht mehr gehört werden könnte. Auf den Aspekt der Bigamie hatte das Bundesarbeitsgericht – worauf das Landesarbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung ebenfalls zutreffend hinweist – überhaupt nicht abgestellt.
45
bb) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers war das Bundesarbeitsgericht in dem über die Kündigungsschutzklage des Klägers geführten Revisionsverfahren – 2 AZR 712/98 – nicht gehalten, vor seiner Entscheidung eine Stellungnahme der verfassten Kirche einzuholen. Insbesondere ist nicht im Ansatz erkennbar, dass die Beklagten das Gericht von der Einholung einer entsprechenden Stellungnahme durch unwahres Parteivorbringen – ggf. unter Inanspruchnahme einer gewissen Amtsautorität – abgehalten hätten.
46
Zwar haben die Arbeitsgerichte nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 (- 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – zu B II 2 a der Gründe, BVerfGE 70, 138) die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen, soweit die Verfassung das Recht der Kirchen anerkennt, hierüber selbst zu befinden. Danach bleibt es grundsätzlich den verfassten Kirchen überlassen, verbindlich zu bestimmen, was „die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert“, was „spezifisch kirchliche Aufgaben“ sind, was „Nähe“ zu ihnen bedeutet, welches die „wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre“ sind und was als – gegebenenfalls schwerer – Verstoß gegen diese anzusehen ist. Auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine „Abstufung“ der Loyalitätspflichten eingreifen soll, ist danach grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterliegende Angelegenheit. Ob diese kirchlichen Vorgaben den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen Rechnung tragen, ist von den Arbeitsgerichten allerdings (nur) im Zweifelsfall durch entsprechende gerichtliche Rückfragen bei den zuständigen Kirchenbehörden aufzuklären.
47
Einen solchen Zweifelsfall, der die Einholung einer Stellungnahme der verfassten Kirche erforderlich gemacht hätte, hat das Bundesarbeitsgericht in dem Kündigungsschutzverfahren des Klägers erkennbar nicht angenommen. Es hat vielmehr gemeint, die Frage, ob die kirchlichen Vorgaben den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirche Rechnung tragen, ohne weiteres selbst beantworten zu können. Das Bundesarbeitsgericht hat in der Begründung seines Urteils vom 16. September 1999 (- 2 AZR 712/98 -) mehrfach auf seine Entscheidung vom 24. April 1997 (- 2 AZR 268/96 -) hingewiesen. Bereits in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren hatte es die Einholung einer Stellungnahme der verfassten Kirche nicht für notwendig erachtet, um die Frage beantworten zu können, ob der Ehebruch nach deren Maßstäben einen möglichen Kündigungsgrund darstellen könne. Insoweit hatte es ausgeführt, dass die Vorgaben der damaligen Arbeitgeberin gegenüber dem bei dieser beschäftigten Kläger, dem wegen Ehebruchs gekündigt worden war, hinsichtlich der ehelichen Treue den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirche Rechnung tragen. Die Ehe habe in den verfassten Kirchen eine herausragende Rolle, in der katholischen Kirche habe sie den Rang eines Sakraments. Ihre Wesenseigenschaften seien die Einheit und die Unauflöslichkeit (BAG 24. April 1997 – 2 AZR 268/96 – zu II 1 b bb (2) der Gründe).
48
cc) Der Kläger kann – anders als er meint – auch weder aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) noch aus der in diesem Verfahren vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe abgegebenen Stellungnahme etwas zu seinen Gunsten ableiten.
49
(1) Das Landesarbeitsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung die vom Kläger angezogene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) gewürdigt und ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem Beschluss nichts Abweichendes ergebe.
50
Es ist bereits zweifelhaft, ob sich aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, dass die Eingehung einer neuen nichtehelichen Lebensgemeinschaft eines nach katholischem Recht verheirateten Partners von vornherein kein Kündigungsgrund sein kann, dh. als solcher von vornherein ausgeschlossen ist. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2014 ausdrücklich klargestellt, dass Art. 5 Abs. 2 GrO bestimmte Loyalitätsverstöße benennt, die aus Sicht der Kirche im Regelfall derart schwerwiegend sind, dass sie grundsätzlich geeignet sind, eine Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen zu rechtfertigen. Auch trifft es zu, dass der Ehebruch nicht ausdrücklich in Art. 5 Abs. 2 GrO genannt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in der vom Kläger herangezogenen Entscheidung aber auch ausgeführt, dass durch die Regelbeispiele in Art. 5 Abs. 2 GrO die in Art. 4 GrO auferlegten Loyalitätsobliegenheiten nicht abschließend konkretisiert würden (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 156, aaO). Bereits deshalb mussten die Beklagten entgegen der Ansicht des Klägers nicht davon ausgehen, dass der Ehebruch nach der GrO als Kündigungsgrund von vornherein ausgeschlossen war. Es kommt hinzu, dass die vom Kläger herangezogene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst im Jahr 2014 ergangen ist und eine Kündigung betraf, die im März 2009, mithin mehr als elf Jahre später ausgesprochen worden war. Auch aus diesem Grund kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – aaO) nicht dazu führen, dass die Rechtsauffassung der Beklagten, die diese zum maßgeblichen Zeitpunkt der Kündigung vom 15. Juli 1997 sowie im sich anschließenden Kündigungsschutzverfahren eingenommen und geäußert hatten, nunmehr- rückblickend – als unvertretbar angesehen werden müsste.
51
(2) Der Kläger kann – wie das Landesarbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend angenommen hat – auch aus der vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – 2 BvR 661/12 – abgegebenen Stellungnahme nichts zu seinen Gunsten ableiten.
52
Zum einen ergibt sich aus dieser Stellungnahme nicht, dass der Ehebruch unter keinen Umständen einen Kündigungsgrund darstellen kann. Vielmehr gibt die Stellungnahme lediglich die Auffassung der katholischen Kirche wieder, wonach eine Wiederheirat eines katholischen Mitarbeiters eine andere – schwerwiegendere – Verfehlung darstellt als der bloße Ehebruch. Das Kommissariat der Deutschen Bischöfe hatte insoweit lediglich beanstandet, das Bundesarbeitsgericht habe in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 (- 2 BvR 661/12 – BVerfGE 137, 273) zugrunde liegenden Verfahren das in der GrO zum Ausdruck gebrachte und für die weltlichen Gerichte grundsätzlich bindende Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche missachtet, wonach gerade der Bruch des sakramentalen Bandes durch eine erneute Heirat einen „wesentlichen Grundsatz der Glaubens- und Sittenlehre“ für die römisch-katholische Kirche verletzt und hierin ein besonders schwerwiegender Loyalitätsverstoß zu erblicken sei.
53
Dass das Kommissariat der Deutschen Bischöfe bereits im Jahr 1997 davon überzeugt gewesen wäre, dass der Ehebruch eines katholisch verheirateten Mitarbeiters keine schwerwiegende sittliche Verfehlung darstellt, die im Einzelfall nach Abwägung aller Umstände eine Kündigung rechtfertigen könnte, hat es in seiner im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht abgegebenen Stellungnahme nicht ausdrücklich erklärt. Eine solche Einschätzung lässt sich – entgegen der Rechtsauffassung des Klägers – aus der Stellungnahme auch nicht ableiten.
54
dd) Wie das Landesarbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung ferner zutreffend ausgeführt hat, folgt aus den vom Kläger angezogenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. September 2010 (- 1620/03 -) und vom 28. Juni 2012 (- 1620/03 -) nichts, was einer Würdigung des Verhaltens des Klägers als schwerwiegende sittliche Verfehlung iSv. Art. 5 Abs. 2 der GrO grundsätzlich entgegenstehen würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesen Entscheidungen nicht den Kündigungsvorwurf, dh. nicht den Kündigungsgrund als solchen, sondern vielmehr beanstandet, dass das Landesarbeitsgericht die Nähe des Klägers zum Verkündigungsauftrag der Kirche nicht geprüft und den Standpunkt des kirchlichen Arbeitgebers in dieser Frage ohne weitere Nachforschungen übernommen habe.
55
ee) Soweit der Kläger die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts mit der Begründung als rechtsfehlerhaft rügt, dieses habe verkannt, dass die Beklagten ihm gegenüber gesteigerte Sorgfaltspflichten verletzt hätten, indem sie nicht sorgfältig genug geprüft hätten, ob das ihm vorgeworfene Verhalten ein Kündigungsgrund sei, der von den anerkannten Maßstäben der eigenen Kirche gedeckt sei, verkennt er die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB wegen eines vorsätzlichen und sittenwidrigen Erwirkens einer unrichtigen gerichtlichen Entscheidung. Ein (etwaiger) Verstoß der Beklagten gegen sie (ggf.) treffende Sorgfaltspflichten ist weder in dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 16. September 1999 (- 2 AZR 712/98 -), noch in dem dieser Entscheidung nachgehenden Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 3. Februar 2000 (- 7 Sa 425/98 -) problematisiert worden. Ein solcher Verstoß hätte auch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung geführt, so dass es schon an dem – wie unter Rn. 36 ausgeführt – erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen der gerichtlichen Entscheidung und dem vom Kläger gerügten Verhalten der Beklagten fehlt. Dasselbe gilt demnach, soweit der Kläger geltend macht, das Landesarbeitsgericht habe außer Acht gelassen, dass sich die Beklagte zu 1. als Arbeitgeber aktiv hätte exkulpieren und darlegen müssen, welche Anstrengungen und Überlegungen sie angestellt habe, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass sie ihn kündigen dürfe. Soweit der Kläger darüber hinaus meint, auf die Rechtskraft einer Entscheidung könne sich nur derjenige berufen, der sich redlich und rechtschaffen bemüht habe, die objektive Rechtslage zu ermitteln, übersieht er, dass § 826 BGB nur ein sittenwidriges und damit besonders verwerfliches Verhalten des Schädigers sanktioniert.
56
ff) Ebenso nicht von Belang ist, ob sich die Beklagte zu 1. dadurch sittenwidrig verhalten hat, dass sie – wie der Kläger geltend macht – in seine Privatsphäre eingedrungen ist, um zu ermitteln, ob dieser mit seiner neuen Partnerin zusammenlebt und ob er der Vater des Kindes ist. Hieraus ergibt sich nichts für ein Verhalten, das auf ein Erwirken einer unrichtigen gerichtlichen Entscheidung zu Lasten des Klägers hindeutet.
57
b) Der Kläger kann sich schließlich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, die Beklagten hätten im Kündigungsschutzverfahren wahrheitswidrig mit dem Ziel der bewussten Täuschung des Gerichts mit immer neuen Umschreibungen seine Nähe als Organist zum Verkündigungsauftrag der Kirche behauptet, ohne auch nur eine einzige arbeitsrechtlich fundierte Verlautbarung der verfassten Kirche nennen zu können.
58
aa) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Beklagten hätten sich insoweit kein Urteil erschlichen und mit ihrer Annahme und ihrem Vorbringen, der Kläger sei als eine Person zu betrachten, die dem Verkündigungsauftrag der Kirche nahestehe, auch keinen objektiv unvertretbaren Standpunkt eingenommen, begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken. Vor dem Hintergrund, dass – wie das Landesarbeitsgericht in seiner Entscheidung ausgeführt hat – zur Frage der Verkündigungsnähe des Klägers als Kirchenmusiker im Vorprozess bereits kontrovers vorgetragen worden war, war es nur konsequent, ein Erschleichen eines für sie günstigen Urteils durch die Beklagten zu verneinen. Seine Annahme, die Beklagten hätten im Hinblick auf eine Verkündigungsnähe des Klägers auch keinen objektiv unvertretbaren Standpunkt eingenommen, hat das Landesarbeitsgericht nachvollziehbar und widerspruchsfrei damit begründet, dass die Kirchenmusik nach katholischem Verständnis Teil der Verkündigung als zentraler Bestandteil der kirchlichen Liturgie sei und ein Kirchenmusiker hieran mit einem eigenen Beitrag mitwirke.
59
bb) Aus den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. September 2010 (- 1620/03 -) und vom 28. Juni 2012 (- 1620/03 -) folgt für das vorliegende, auf Zahlung von Schadensersatz aus § 826 BGB gerichtete Verfahren auch insoweit nichts Abweichendes. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet, dass das Landesarbeitsgericht die Nähe des Klägers zum Verkündigungsauftrag der Kirche nicht geprüft und den Standpunkt des kirchlichen Arbeitgebers in dieser Frage ohne weitere Nachforschungen übernommen habe. Es hätte – so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – in Ansehung dieser Umstände eine umfassende und tatsächliche Interessenabwägung vorzunehmen gehabt. Die Frage, ob sich bei einer hinreichenden Interessenabwägung im Kündigungsrechtsstreit ein anderes, für den Kläger günstigeres Ergebnis ergeben hätte, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte indes ausdrücklich offengelassen (EGMR 28. Juni 2012 – 1620/03 – Rn. 23).
60
III. Nach alledem kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die vom Landesarbeitsgericht eingeholte Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe nicht an, so dass die Frage, ob diese Stellungnahme vom Kläger zu Recht in formeller und materieller Hinsicht beanstandet wurde, dahinstehen kann.
Schlewing
Vogelsang
Roloff
Wein
Andreas Henniger |
bag_47-20 | 09.12.2020 | 09.12.2020
47/20 - Halbierter Nachtarbeitszuschlag für Schichtarbeit
Eine Regelung in einem Tarifvertrag, nach der sich der Zuschlag für Nachtarbeit halbiert, wenn sie innerhalb eines Schichtsystems geleistet wird, kann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Die Beklagte betreibt eine Brauerei in Hamburg. Der Kläger leistet dort Schichtarbeit. Nach dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Brauereien und deren Niederlassungen in Hamburg und Schleswig-Holstein ist für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr ein Zuschlag von 25 % zum Stundenentgelt zu zahlen. Für Nachtarbeit, die in demselben Zeitraum außerhalb eines Schichtsystems erbracht wird, sieht der Tarifvertrag einen Zuschlag von 50 % vor. Der Kläger meint, die Halbierung des Zuschlags für Nachtschichtarbeit widerspreche den gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen. Danach gehen von regelmäßiger Nachtschichtarbeit erheblich gravierendere Gesundheitsgefahren aus als von gelegentlich geleisteter Nachtarbeit. Mit seiner Klage will der Kläger festgestellt wissen, dass die Beklagte den Zuschlag von 50 % auch für die Nachtschicht zu zahlen hat. Die Beklagte hält die Tarifnorm für wirksam. Der höhere Zuschlag solle eine besondere Belastung der unvorbereitet zu Nachtarbeit herangezogenen Arbeitnehmer ausgleichen. Sie büßten die Dispositionsmöglichkeit über ihre Freizeit in der entsprechenden Nacht ein.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Nachtarbeitnehmer und Nachtschichtarbeitnehmer sind nach Auffassung des Senats miteinander vergleichbar. Nach dem Manteltarifvertrag ist bei der Durchführung von Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten weitgehend Rücksicht zu nehmen. Der höhere Zuschlag für Nachtarbeitnehmer kann daher nicht den Zweck haben, ihre Freizeit vor Eingriffen durch den Arbeitgeber zu schützen. Andere sachliche Gründe, die die schlechtere Behandlung der Nachtschichtarbeitnehmer rechtfertigen könnten, lassen sich dem Manteltarifvertrag nicht entnehmen. Der Kläger kann den höheren Zuschlag verlangen, um mit den nicht regelmäßig nachts Arbeitenden gleichbehandelt zu werden (sog. Anpassung nach oben).
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 9. Dezember 2020 – 10 AZR 334/20 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 18. Juni 2020 – 1 Sa 6/20 –
Der Zehnte Senat hat der Klage auch in dem Parallelverfahren – 10 AZR 335/20 – stattgegeben. | Tenor
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 18. Juni 2020 – 1 Sa 6/20 – aufgehoben, soweit die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 27. November 2019 – 17 Ca 288/19 – zurückgewiesen wurde.
2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 27. November 2019 – 17 Ca 288/19 – abgeändert, soweit der Klageantrag zu 3. abgewiesen wurde.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger seit dem 1. April 2019 Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Brauereien und deren Niederlassungen in Hamburg und Schleswig-Holstein (MTV), gültig ab dem 1. Januar 2006, für die geleistete Arbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in der „Nachtschicht“ im Sinn von § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV in gleicher Höhe zu zahlen wie für Nachtarbeit im Sinn von § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV (zurzeit 50 % des jeweiligen Bruttoentgelts pro Stunde).
4. Von den Kosten der ersten und zweiten Instanz tragen der Kläger fünf Prozent und die Beklagte 95 Prozent, jeweils bezogen auf einen Streitwert von 8.184,76 Euro. Die Kosten der Revision hat die Beklagte zu tragen.
Leitsatz
Eine Regelung in einem Tarifvertrag, nach der sich der Zuschlag für Nachtarbeit halbiert, wenn sie innerhalb eines Schichtsystems geleistet wird, kann gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe der tariflichen Zuschläge für Arbeitsstunden, die von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Nachtschichten geleistet werden.
2
Der Kläger leistet Schichtarbeit in der Hamburger Brauerei der Beklagten. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, die Beklagte gehört dem Brauereiverband Nord e. V. an. Für das Arbeitsverhältnis gilt der am 1. Januar 2006 in Kraft getretene Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Brauereien und deren Niederlassungen in Hamburg und Schleswig-Holstein vom 29. Oktober 2005 (MTV). Bis zum 31. Dezember 2018 galt der am 1. Januar 2018 in Kraft getretene Entgelttarifvertrag für die Arbeitnehmer in den Brauereien von Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein vom 22. Dezember 2017 (ETV). Seit dem 1. Januar 2019 richtet sich die Vergütung des Klägers nach dem ETV vom 29. April 2019.
3
Der MTV lautet auszugsweise:
„§ 5
Regelung der Arbeitszeit
1.
Die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 37 Stunden.
2.
Für die Ermittlung von für Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie für Zuschläge und Zulagen gilt als Berechnungsgrundlage für jede Arbeitsstunde 1/160,2 des tatsächlichen gezahlten Monatsentgelts.
…
4.
Werden Beschäftigte im Drei-Schicht-System (Früh-, Spät-, Nachtschicht in beliebiger Folge) beschäftigt, so haben sie innerhalb ihrer Schicht Anspruch auf eine bezahlte Pause von 30 Minuten Dauer.
…
8.
… Am Tage vor dem 1. Mai schließen die Betriebe zwei Stunden früher als gewöhnlich unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts. …
Für Beschäftigte in Schichtarbeit endet die Arbeitszeit am Tage vor dem 1. Mai zweieinhalb Stunden früher, ohne dass dadurch ein Entgeltausfall entsteht.
…
§ 7
Zusätzlich bezahlte Freizeit
…
2.
Schichtfreizeit
2.1
Zur Abgeltung der in Nachtschicht oder in Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsel auftretenden Erschwernisse und Belastungen wird ein Ausgleich durch bezahlte Freizeit gegeben.
2.2
Beschäftigte, die im Drei-Schicht-System oder ausschließlich in Nachtschicht arbeiten, erhalten jährlich vier Arbeitstage bezahlte Schichtfreizeit.
2.3
Beschäftigte, die im Zwei-Schicht-System (Früh-/Spät-, Früh-/Nacht- oder Spät-/Nachtschicht) arbeiten, erhalten jährlich drei Arbeitstage bezahlte Schichtfreizeit.
Bei teilweiser Schichtleistung im Jahr erfolgt anteilige Gewährung.
2.4
Urlaub, Krankheit und sonstige bezahlte Fehlzeiten führen dabei nicht zu Kürzungen.
§ 8
Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1.
Mehrarbeit ist jede über die betriebliche durch Schicht- oder Arbeitsplätze geplante tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit. Notwendige Mehrarbeit ist im Einvernehmen mit dem Betriebsrat zu leisten.
2.
Jede angefangene halbe Stunde angeordneter Mehrarbeit wird als halbe Überstunde bezahlt.
Bei Mehrarbeit von mehr als 1½ Stunden ist jedem(r) Beschäftigten nach Beendigung der regulären Arbeitszeit eine bezahlte Pause von 20 Minuten zu gewähren. In dieser Zeit wird zusätzlich ein Imbiss auf Kosten der Brauerei gereicht.
Bei Arbeiten an Sonnabenden, Sonn- und Feiertagen wird nach 5-stündiger Tätigkeit ebenfalls ein Imbiss auf Kosten der Brauerei gereicht.
3.
Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschläge können durch entsprechende Freizeit ausgeglichen werden.
4.
Bei der Durchführung von Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit ist auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten weitgehend Rücksicht zu nehmen.
5.
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr geleistete Arbeit, soweit sie nicht Schichtarbeit ist.
6.
Als Schichtarbeit (Tag- oder Nachtschichten) gilt die regelmäßig geleistete tägliche Arbeitszeit. Als regelmäßig gilt die Arbeitszeit, die mit dem Betriebsrat gemäß Schichtplan vereinbart ist. Die Schichtarbeit soll mindestens fünf Tage dauern; sie ist den betreffenden Beschäftigten drei Tage vorher anzukündigen.
…
§ 9
Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1.
Für Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
a)
Für Mehrarbeit (Montag bis Freitag)
während der ersten zwei Stunden täglich
25 %
ab der dritten Stunde täglich
50 %
für Mehrarbeit an Sonnabenden und für Schichtgänger an arbeitsfreien Werktagen
35 %
b)
für Nachtarbeit
50 %
…
d)
für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr
25 %
…
3.
Für Schmutzarbeiten und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen wird eine Erschwerniszulage von 30 % gezahlt.
Als Schmutzarbeiten und als Arbeiten unter erschwerten Bedingungen gelten die im Anhang aufgeführten Arbeiten.
…
4.
Bei einem Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist, abgesehen von Schichtzuschlägen sowie Schmutz- und Erschwerniszulagen, nur der jeweils höchste, bei gleicher Höhe nur ein Zuschlag zu zahlen.
§ 10
Allgemeine Bestimmungen der Entgeltermittlung und -zahlung
…
6.
Die Entgeltzahlung erfolgt monatlich bargeldlos. …
§ 12
Freitrunk
1.
Als Freitrunk für jede(n) Arbeitstag/Arbeitsschicht erhalten alle Arbeitnehmer über 18 Jahre die örtlich und für die Jahreszeit übliche Menge, jedoch mindestens 2 Liter; Jugendliche erhalten analog obiger Regelung 1 Liter bzw. die gleichen Mengen in alkoholfreien Getränken.
2.
Bei Leistung einer vollen Überstunde und mehr wird zusätzlich ein halber Liter Freitrunk gewährt.
…
§ 21
Verfallklausel
Alle gegenseitigen Ansprüche aus diesem Tarifvertrag und dem Beschäftigungsverhältnis sind, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, spätestens innerhalb von vier Monaten nach ihrer Entstehung geltend zu machen. …“
4
Der Kläger erhält für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV in Höhe von 25 % zu dem Stundenentgelt der für ihn nach § 2 Nr. 2 ETV geltenden Bewertungsgruppe IV.
5
In seiner der Beklagten am 6. August 2019 zugestellten Klageschrift vom 19. Juli 2019 hat der Kläger die Auffassung vertreten, es verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, den Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV zu halbieren, wenn die Arbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr innerhalb eines Schichtsystems geleistet werde. Bei Nachtarbeit könnten andere Umstände als der Gesundheitsschutz unterschiedlich hohe Zuschläge nicht begründen. Das tradierte Bild der „verstellbaren biologischen Uhr“ sei durch die aktuellen und gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnisse überholt. Die regelmäßig Nachtschichten leistenden Arbeitnehmer seien erheblich höheren Gesundheitsgefährdungen und Störungen ihres sozialen Umfelds ausgesetzt als Arbeitnehmer, die außerhalb von Schichtsystemen und daher seltener nachts arbeiteten. Wegen der nur dreitägigen Ankündigungsfrist in § 8 Nr. 6 Satz 3 MTV könnten sich die Nachtschichtarbeitnehmer auch nicht langfristig auf die Nachtarbeit einstellen. Rechtsfolge der gleichheitswidrigen Behandlung durch § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV könne nur eine sog. Anpassung der zu geringen Vergütung nach oben sein.
6
Der Kläger hat, soweit für die Revision erheblich, sinngemäß beantragt
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an ihn seit dem 1. April 2019 Nachtarbeitszuschläge nach dem MTV für die geleistete Arbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in der „Nachtschicht“ im Sinn von § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV in gleicher Höhe zu zahlen wie für Nachtarbeit im Sinn von § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV (zurzeit 50 % des jeweiligen Bruttoentgelts pro Stunde).
7
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die Tarifvertragsparteien seien allenfalls mittelbar an den allgemeinen Gleichheitssatz gebunden. Sie hätten den ihnen nach Art. 9 Abs. 3 GG zukommenden weiten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum eingehalten. Der fünfzigprozentige Zuschlag für Nachtarbeit enthalte den Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. a MTV in Höhe von 25 %, weil es sich dabei regelmäßig zugleich um Mehrarbeit handle. Nachtarbeit Leistende würden dadurch nicht bessergestellt, weil auch Nachtschichtarbeit, die mit Mehrarbeit zusammentreffe, mit Zuschlägen in Höhe von 50 % des Stundenentgelts vergütet werde. In der Nachtschicht Beschäftigte profitierten darüber hinaus von dem zusätzlichen Ausgleich durch die bezahlte Schichtfreizeit nach § 7 Nr. 2 MTV. Nur sie kämen zudem nach § 5 Nr. 4 MTV in den Genuss einer dreißigminütigen bezahlten Pause innerhalb ihrer Schicht. Der hohe Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV sei auch eine Entschädigung dafür, dass der betroffene Arbeitnehmer seine Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit am entsprechenden Abend oder in der Nacht unvorbereitet verliere. Zugleich diene er als Anreiz, eine nicht im Schichtplan vorgesehene Tätigkeit zur tariflichen Nachtzeit ausnahmsweise aufzunehmen. Der Zuschlag verteuere die ungeplante Nachtarbeit gezielt, um sie zu erschweren. § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV regle einen Ausnahmefall. Der Kläger könne deshalb nicht verlangen, dass der Nachtschichtzuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV „nach oben“ angepasst werde.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, sowohl hinsichtlich der ursprünglich beanspruchten Vergütungsdifferenzen für November 2018 und Januar 2019 in Höhe von insgesamt 412,13 Euro (Anträge zu 1. und 2.) als auch mit Blick auf den Feststellungsantrag. Das Arbeitsgericht hat angenommen, diese Vergütungsansprüche seien jedenfalls nach § 21 Satz 1 MTV verfallen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung hinsichtlich der Zahlungsanträge als unzulässig verworfen. Im Hinblick auf den Feststellungsantrag hat es die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision will der Kläger erreichen, dass dem Feststellungsantrag stattgegeben wird.
Entscheidungsgründe
9
Die Revision ist begründet. Die noch rechtshängige Feststellungsklage ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen zulässig und begründet. Der Kläger hat seit dem 1. April 2019 für die in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr geleistete Arbeit Anspruch auf den fünfzigprozentigen Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV.
10
A. Die Klage ist zulässig.
11
I. Der Feststellungsantrag ist vor dem Hintergrund der erst- und zweitinstanzlich verfolgten Zahlungsansprüche und der viermonatigen Ausschlussfrist des § 21 Satz 1 MTV dahin auszulegen, dass er sich auf die Zeit seit dem 1. April 2019 bezieht.
12
1. Die ursprünglichen Klageanträge zu 1. und 2. waren auf die Vergütungsdifferenzen für die Monate November 2018 und Januar 2019 gerichtet. Der Feststellungsantrag zeigt, dass es dem Kläger auch um Zuschläge für spätere Zeiträume ging.
13
2. Die der Beklagten am 6. August 2019 zugestellte Klage wahrte die Ausschlussfrist nur für die weiteren Zuschläge seit April 2019, nicht für die vorangegangenen Monate.
14
a) Die Zuschläge werden von der Verfallklausel in § 21 Satz 1 MTV erfasst. Die viermonatige Ausschlussfrist des § 21 Satz 1 MTV enthält zwar eine nach § 3 Satz 1 MiLoG unwirksame Beschränkung, den Anspruch auf Mindestlohn geltend zu machen (vgl. BAG 20. Juni 2018 – 5 AZR 377/17 – Rn. 20, 22, 25, BAGE 163, 99). § 21 Satz 1 MTV erfasst außerdem – entgegen § 202 Abs. 1 BGB – auch durch vorsätzliches Handeln des Arbeitgebers verursachte Ansprüche des Arbeitnehmers. Diese Verstöße führen jedoch lediglich dazu, dass die Verfallklausel hinsichtlich dieser Ansprüche teilunwirksam ist. Im Übrigen bleibt die Bestimmung wirksam (vgl. BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 541/17 – Rn. 41 mwN).
15
b) Bei Zustellung der Klageschrift an die Beklagte am 6. August 2019 waren die Ansprüche des Klägers auf die Vergütungsdifferenzen bis einschließlich März 2019 verfallen.
16
aa) Nach § 10 Nr. 6 Satz 1 MTV erfolgt die Entgeltzahlung „monatlich“. Eine davon abweichende Regelung für den Anspruch auf die Zuschläge nach § 9 MTV besteht nicht.
17
bb) Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass er die Differenzansprüche bis einschließlich März 2019 geltend gemacht hat, bevor er die Klage erhoben hat. Die Klageschrift ist zwar bereits am 25. Juli 2019 bei Gericht eingegangen. Die sog. Vorwirkung des § 167 ZPO gilt jedoch nicht, wenn eine tarifvertragliche Ausschlussfrist zu wahren ist, die nicht verlangt, den Anspruch gerichtlich geltend zu machen (vgl. BAG 23. Januar 2019 – 4 AZR 541/17 – Rn. 39; 16. März 2016 – 4 AZR 421/15 – Rn. 26 ff., BAGE 154, 252).
18
II. Der so verstandene Klageantrag ist darauf gerichtet, ein zwischen den Parteien bestehendes Rechtsverhältnis im Sinn von § 256 Abs. 1 ZPO festzustellen. Der Kläger hat ein rechtliches Interesse daran, dass dieses Rechtsverhältnis alsbald durch gerichtliche Entscheidung festgestellt wird.
19
1. Die Feststellungsklage muss sich nicht notwendig auf ein Rechtsverhältnis als Ganzes beziehen. Sie kann sich auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 507/18 – Rn. 37 mwN). Das Feststellungsinteresse ist gegeben, wenn der Streit durch die Entscheidung über den Antrag insgesamt beseitigt wird und das Rechtsverhältnis der Parteien abschließend geklärt werden kann. Für einen auf die Vergangenheit bezogenen Antrag besteht dieses besondere rechtliche Interesse, wenn sich aus ihm Rechtsfolgen für die Gegenwart und Zukunft, insbesondere mögliche Ansprüche auf Vergütung, ergeben können (BAG 25. August 2020 – 9 AZR 373/19 – Rn. 14; 15. Juli 2020 – 10 AZR 507/18 – Rn. 40).
20
2. Zwischen den Parteien ist nur streitig, ob der Kläger für die in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr geleisteten Arbeitsstunden einen weiteren Zuschlag verlangen kann. Der Umfang der Leistungspflicht der Beklagten wird durch die erstrebte Feststellung abschließend geklärt. Der Kläger musste daher auch für die bereits vor Klageerhebung entstandenen und fällig gewordenen Ansprüche nicht auf Leistungsanträge übergehen (vgl. BAG 18. September 2019 – 5 AZR 335/18 – Rn. 15; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 13, BAGE 153, 378).
21
B. Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat an den Kläger seit dem 1. April 2019 für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr den fünfzigprozentigen Zuschlag für Nachtarbeit nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV zu zahlen.
22
I. Ein Anspruch auf einen Zuschlag in Höhe von insgesamt 50 % zu der jeweiligen Stundenvergütung für in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr geleistete Arbeit ergibt sich nicht aus den tarifvertraglichen Vorschriften.
23
1. Der MTV gilt für das Arbeitsverhältnis, weil die Parteien den tarifschließenden Verbänden angehören (§ 3 Abs. 1 TVG). Der räumliche, fachliche und persönliche Geltungsbereich ist nach § 1 Satz 1 MTV eröffnet. Durch die Zustellung der Klage an die Beklagte am 6. August 2019 hat der Kläger die Frist des § 21 Satz 1 MTV für die seit dem 1. April 2019 entstandenen Differenzansprüche gewahrt.
24
2. Die Auslegung der tariflichen Bestimmungen ergibt, dass der Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV nicht für Arbeit anfällt, die in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr im Rahmen einer Nachtschicht geleistet wird. Nach dem klaren Wortlaut von § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV ist „für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr“ ein Zuschlag von 25 % zu zahlen. Demgegenüber sieht § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV nur „für Nachtarbeit“ einen Zuschlag von 50 % vor. § 8 Nr. 5 MTV definiert „Nachtarbeit“ als „die in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr geleistete Arbeit, soweit sie nicht Schichtarbeit ist“.
25
II. Der Kläger macht jedoch zu Recht geltend, dass die tarifvertragliche Unterscheidung der Zuschläge einerseits für Nachtarbeit (§ 9 Nr. 1 Buchst. b iVm. § 8 Nr. 5 MTV) und andererseits für Nachtschichtarbeit (§ 9 Nr. 1 Buchst. d MTV) gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Nachtschichtarbeitnehmer werden gegenüber Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisten, gleichheitswidrig schlechtergestellt. Dem allgemeinen Gleichheitsgrundrecht oder auch Gleichheitssatz kann nur dadurch genügt werden, dass der Kläger für die im Rahmen von Nachtschichten geleistete Nachtarbeit ebenso wie ein Nachtarbeitnehmer im Sinn von § 9 Nr. 1 Buchst. b iVm. § 8 Nr. 5 MTV behandelt wird. Er hat ergänzend zu dem Nachtarbeitszuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV von 25 % Anspruch auf einen Zuschlag von weiteren 25 % zu seinem jeweiligen Stundenentgelt.
26
1. Die Tarifvertragsparteien sind nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden, wenn sie tarifliche Normen setzen (st. Rspr., BAG 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 21 mwN; 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 21 mwN; Dieterich FS Schaub 1998 S. 117, 120 ff.). Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert den sozialen Schutz der abhängig Beschäftigten im Weg kollektivierter Privatautonomie (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 147, BVerfGE 146, 71; BAG 31. Januar 2018 – 10 AZR 279/16 – Rn. 36, BAGE 162, 1; abl. Däubler/D. Ulber TVG 4. Aufl. Einleitung Rn. 249 ff.). Die Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Vergütungen und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 146, aaO; 1. Dezember 2010 – 1 BvR 2593/09 – Rn. 23). Mit der Normsetzung auf der Grundlage der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie üben die Tarifvertragsparteien daher nach deutschem Recht keine delegierte Staatsgewalt aus. Sie nehmen vielmehr privatautonom ihre Grundrechte wahr (Spelge ZTR 2020, 127, 130 mwN). Diese privatautonome Legitimation reicht teilweise weiter als die Legitimation des staatlichen Gesetzgebers, die den in § 4 Abs. 1 TVG enthaltenen staatlichen Geltungsbefehl tariflicher Rechtsnormen trägt. Mit der privatautonomen Legitimation tariflicher Rechtsnormen ist eine umfassende gerichtliche Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht zu vereinbaren (vgl. BAG 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 17; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 47).
27
2. Tarifnormen sind im Ausgangspunkt dennoch uneingeschränkt am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen (BAG 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 21; 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47; 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 25 mwN, BAGE 169, 163; vgl. auch BVerfG 9. August 2000 – 1 BvR 514/00 – zu II der Gründe; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 49).
28
a) Die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Der Staat hat seine Rechtsordnung so zu gestalten, dass die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen in ihr wirksam werden können (vgl. BVerfG 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 ua. – Rn. 300, BVerfGE 153, 182; BAG 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 22, BAGE 169, 163; 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 18; 27. Juni 2018 – 10 AZR 290/17 – Rn. 34 mwN, BAGE 163, 144). Die Grundrechte haben mittelbare Drittwirkung in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten im Sinn einer Ausstrahlungswirkung. Sie entfalten ihre Wirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und strahlen als „Richtlinien“ auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen aus. Diese wertsetzenden „Richtlinien“ sollen gleichberechtigte Freiheit im Fall kollidierender Grundrechtspositionen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zur Geltung bringen (vgl. für die st. Rspr. BVerfG 9. Juli 2020 – 1 BvR 719/19 ua. – Rn. 9; 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 32 mwN, BVerfGE 148, 267). Das Bundesverfassungsgericht hat von den Grundrechten auch als einer „objektiven Wertordnung“ gesprochen (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – aaO).
29
b) Dieser Ausstrahlungswirkung der Grundrechte müssen die Gerichte als staatliche Gewalt im Sinn von Art. 1 Abs. 3 GG bei ihren Entscheidungen genügen (vgl. BVerfG 23. April 1986 – 2 BvR 487/80 – zu B I der Gründe, BVerfGE 73, 261). Die Fachgerichte haben die Grundrechte, vor allem über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 32, BVerfGE 148, 267). Aufgabe der Arbeitsgerichte ist es, die Grundrechte der von Tarifnormen erfassten Arbeitnehmer zu schützen, indem sie die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien beschränken, wenn sie mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder mit anderen Rechten der Normunterworfenen mit Verfassungsrang kollidiert. Das gilt auch dann, wenn die Kollision zwischen der Tarifautonomie und den Grundrechten der Normunterworfenen nicht durch einfaches Gesetzesrecht konkretisiert ist (BAG 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 ff. mwN, BAGE 169, 163; 24. Oktober 2019 – 2 AZR 158/18 – Rn. 34, BAGE 168, 238; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Art. 3 Rn. 25; Staudinger/Richardi/Fischinger [2020] § 611a Rn. 763; Tschöpe/Grimm Arbeitsrecht 11. Aufl. Teil 4 C Rn. 123; zweifelnd Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 266; krit. Henssler/Moll/Bepler/Engels 2. Aufl. Teil 1 Rn. 45 f.; aA Wiedemann/Jacobs TVG 8. Aufl. Einleitung Rn. 349; Jacobs/Frieling SR 2019, 108, 110 f.; Spelge [in ZTR 2020, 127, 130] und D. Ulber [in Däubler TVG 4. Aufl. Einleitung Rn. 208 ff., 231 ff., 236 ff.] stellen zu Recht fest, dass es in dieser Kontroverse bislang nicht gelungen ist, einen allseits anerkannten Lösungsweg zu entwickeln).
30
c) Gewerkschaftsmitglieder sind der tarifvertraglichen Normsetzung in zumindest ähnlicher Weise unterworfen wie Bürger der Rechtsetzung durch den Staat (vgl. Bayreuther NZA 2019, 1684, 1686: „fremdverantwortete Rechtsgestaltung“; Däubler/D. Ulber TVG 4. Aufl. Einleitung Rn. 254; Waltermann FS Söllner 2000 S. 1251, 1275 mwN). Grundrechtsträger können ihre Freiheit zwar selbst freiwillig in weiterem Umfang beschränken, als sie staatliche Eingriffe hinnehmen müssten (näher ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 46, 62). Die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaften können sich durch ihren Beitritt jedoch nicht zugleich freiwillig jeder nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung in Tarifnormen unterwerfen (vgl. Bayreuther aaO; Fastrich FS Richardi 2007 S. 127, 130 f.: „funktional gebundene und damit begrenzte Autonomie“; aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 265 f.). Im Gewerkschaftsbeitritt liegt kein wirksamer Grundrechtsverzicht (Fastrich aaO S. 130).
31
3. Das allgemeine Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als grundlegende Gerechtigkeitsnorm in seiner Ausstrahlungswirkung als verfassungsrechtliche Wertentscheidung oder auch „Richtlinie“ eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie (BAG 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 21; 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47; 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 21; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 25 mwN, BAGE 169, 163; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 49, Art. 3 Rn. 25; Waltermann Anm. AP TVöD § 46 Nr. 5 zu VI 2; krit. Fastrich FS Richardi 2007 S. 127, 132 f., 137 ff.). Diese Grenze ist zu beachten, obwohl Tarifnormen nicht selten Ergebnisse tarifpolitischer Kompromisse sind (krit. zu solchen Grenzen der Tarifautonomie Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 267; Giesen NZA Heft 4/2020 Editorial; Thüsing/Mathy SR 2019, 292, 301 f.). Die Tarifvertragsparteien können durch die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 1 GG darin beschränkt sein, ihre Tarifautonomie als kollektivierte, von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Privatautonomie auszuüben.
32
a) Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.
33
aa) Das daraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich- und wesentlich Ungleiches ungleichzubehandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Verboten ist auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem die Begünstigung einem Personenkreis gewährt und einem anderen Personenkreis vorenthalten wird. Differenzierungen sind nicht untersagt. Sie müssen jedoch durch Sachgründe gerechtfertigt sein, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 94, BVerfGE 153, 358; vgl. auch BVerfG 7. Mai 2013 – 2 BvR 909/06 ua. – Rn. 76, BVerfGE 133, 377; zu dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Rahmen des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts BVerfG 11. August 2020 – 1 BvR 2654/17 – Rn. 35; zu der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitskriteriums im Rahmen der Gleichheitsprüfung einfachen Gesetzesrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Britz NJW 2014, 346, 347 ff.; Waltermann [in Anm. AP TVöD § 46 Nr. 5 zu VI 2] stimmt einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auch für differenzierende Tarifnormen zu).
34
bb) Der Gesetzgeber unterliegt hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts an den Sachgrund, der eine Ungleichbehandlung trägt, je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedlichen Grenzen. Sie können von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (BVerfG 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 94 f. mwN, BVerfGE 153, 358).
35
(1) Die verfassungsrechtlichen Anforderungen verschärfen sich zudem, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (BVerfG 17. Juni 2020 – 1 BvR 1134/15 – Rn. 9 mwN; 26. Mai 2020 – 1 BvL 5/18 – Rn. 95 mwN, BVerfGE 153, 358). Ob und inwieweit ein Differenzierungsmerkmal verfügbar ist, muss jeweils im konkreten Regelungszusammenhang beurteilt werden (vgl. BVerfG 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12 – Rn. 132, BVerfGE 138, 136; 7. Oktober 1980 – 1 BvL 50/79 ua. – zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 55, 72).
36
(2) Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung. Dieser innere Zusammenhang muss sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweisen (BVerfG 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12 – Rn. 131, BVerfGE 138, 136; 19. Dezember 2012 – 1 BvL 18/11 – Rn. 44, BVerfGE 133, 1; 18. Dezember 2012 – 1 BvL 8/11 ua. – Rn. 45, BVerfGE 132, 372).
37
(3) Ob ein Sachgrund die Differenzierung rechtfertigt, ist auch dann zu überprüfen, wenn die ggf. erforderliche Anpassung „nach oben“ mit erheblichen Mehrkosten für die betroffenen Arbeitgeber verbunden ist (vgl. BAG 10. November 2011 – 6 AZR 148/09 – Rn. 35, BAGE 140, 1).
38
b) Art. 3 Abs. 1 GG hat abweichend von den Freiheitsrechten keinen eigenen Schutzbereich. Der allgemeine Gleichheitssatz soll nicht bestimmte Rechtsgüter oder Sphären vor ungerechtfertigten Eingriffen schützen. Er soll ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen verhindern (Spelge ZTR 2020, 127, 134 mwN). Die den Gleichheitsrechten zukommende Schutzfunktion, die Ausdruck des Gerechtigkeitsgedankens im Grundgesetz ist, kann dennoch auf das Privatrecht ausstrahlen. Ein allgemeiner Grundsatz, wonach private Vertragsbeziehungen jeweils den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterliegen, folgt aus Art. 3 Abs. 1 GG zwar nicht, auch nicht aufgrund mittelbarer Drittwirkung (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 40, BVerfGE 148, 267). Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten aus Art. 3 Abs. 1 GG können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch für spezifische Konstellationen ergeben (BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 41, aaO; vgl. auch BVerfG 9. August 2000 – 1 BvR 514/00 – zu II der Gründe; BAG 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 25 mwN, BAGE 169, 163; grundlegend BAG 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – zu B II 3 b der Gründe, BAGE 111, 8; vgl. ferner Dreier/Heun Grundgesetz-Kommentar 3. Aufl. Art. 3 Rn. 67 mwN; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 41; krit. Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 9; abl. Jacobs/Frieling SR 2019, 108, 112 f.; Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1459 f.; Latzel ZFA 2020, 526, 530 f.; Münder jurisPR-ArbR 15/2020 Anm. 2 zu C I). Die Gerichte müssen dafür sorgen, dass der Schutzzweck der Gleichheitsrechte durchgesetzt wird (vgl. BVerfG 16. November 1993 – 1 BvR 258/86 – zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 89, 276; BAG 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – aaO).
39
4. Bei der Überprüfung von Tarifnormen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG haben die Arbeitsgerichte die in Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgte kollektive Koalitionsfreiheit angemessen zur Geltung zu bringen (BAG 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, BAGE 169, 163; ErfK/Schmidt 21. Aufl. GG Einl. Rn. 49; Spelge ZTR 2020, 127, 134). Die kollektive Koalitionsfreiheit ist mit dem Individualgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG angemessen in Ausgleich zu bringen.
40
a) Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG, das in erster Linie ein Freiheitsrecht ist, schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, vor allem die Tarifautonomie. Sie steht im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeit, ihre Zwecke zu verfolgen. Die Wahl der aus ihrer Sicht geeigneten Mittel, mit denen die Koalitionen die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke verfolgen, ist ihnen mit Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich selbst überlassen. Der Abschluss und das Aushandeln von Tarifverträgen sind wesentliche Zwecke der Koalitionen. Das schließt den Bestand und die Anwendung geschlossener Tarifverträge ein (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 130 f., BVerfGE 146, 71).
41
b) Als selbständigen Grundrechtsträgern steht den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen weiten Gestaltungsspielraum für die inhaltliche Ausformung ihrer normsetzenden Regelungen, dessen Reichweite im Einzelfall von den Differenzierungsmerkmalen abhängt. Sie sind nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Vielmehr genügt es, wenn es für die jeweils getroffene Regelung einen sachlich vertretbaren Grund gibt (vgl. BAG 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 22; 2. September 2020 – 5 AZR 168/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, BAGE 169, 163; 24. Oktober 2019 – 2 AZR 158/18 – Rn. 34, BAGE 168, 238; 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 19).
42
c) Daraus folgt in der Regel eine deutlich zurückgenommene Prüfungsdichte durch die Gerichte (BAG 19. November 2020 – 6 AZR 449/19 – Rn. 22; 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, BAGE 169, 163; abl. hinsichtlich der nur zurückgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung Waltermann Anm. AP TVöD § 46 Nr. 5 zu VI 2 mwN). Ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht ist vor diesem Hintergrund erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen bei der Gruppenbildung generalisieren und typisieren. Allerdings müssen die Differenzierungsmerkmale im Normzweck angelegt sein und dürfen ihm nicht widersprechen (BAG 27. Juni 2018 – 10 AZR 290/17 – Rn. 37 mwN, BAGE 163, 144; krit. Wiedemann/Jacobs TVG 8. Aufl. Einleitung Rn. 406).
43
d) Diese Grundsätze gelten im Ausgangspunkt auch für tarifvertragliche Ausgleichsregelungen im Sinn von § 6 Abs. 5 ArbZG.
44
aa) Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich der Nachtarbeit allerdings erkannt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, den Schutz der Arbeitnehmer vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit zu regeln. Eine solche Regelung war notwendig, um dem objektiven Gehalt der Grundrechte, insbesondere dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, zu genügen. Für dieses Grundrecht besteht eine staatliche Schutzpflicht. Dem Gesetzgeber kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsfreiraum zu, um die Schutzpflicht zu erfüllen. Dieser Freiraum lässt es zu, konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Die Maßnahmen, die der Gesetzgeber trifft, dürfen jedoch nicht völlig ungeeignet sein, um den Grundrechtsschutz zu wahren (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C III 3 der Gründe, BVerfGE 85, 191; BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 42).
45
bb) § 6 Abs. 5 ArbZG überantwortet Ausgleichsregelungen für geleistete Nachtarbeit wegen ihrer größeren Sachnähe vorrangig den Tarifvertragsparteien und schafft nur subsidiär gesetzliche Ansprüche (BAG 17. Januar 2012 – 1 ABR 62/10 – Rn. 15). Das gilt sowohl für Regelungen des Freizeitausgleichs als auch für Zuschläge auf das Bruttoarbeitsentgelt.
46
(1) Auch bei tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen für Nachtarbeit handelt es sich um ausgeübte originäre Tarifautonomie (aA Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 21; derselbe FS Buschmann 2014 S. 71, 79). Der verfassungsrechtlich gewährleistete Schutz der Koalitionsfreiheit ist nicht auf den Bereich des Unerlässlichen beschränkt. Er geht über den Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG hinaus und erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen (BVerfG 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 ua. – Rn. 115 mwN, BVerfGE 148, 296).
47
(2) Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, wie sie den Ausgleich regeln. Um den gesetzlichen Anspruch aus § 6 Abs. 5 ArbZG zu suspendieren, muss die tarifliche Regelung die mit der Nachtarbeit verbundenen Belastungen jedoch kompensieren (BAG 17. Januar 2012 – 1 ABR 62/10 – Rn. 15; für einen angemessenen Ausgleich Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 269; Kothe FS Buschmann 2014 S. 71, 81; J. Ulber AuR 2020, 157, 161 f.; aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 26 f.; wohl auch Neumann/Biebl ArbZG 16. Aufl. § 6 Rn. 26).
48
(3) Soweit tarifvertragliche Ausgleichsregelungen für Nachtarbeit einen Anspruch auf bezahlten Freizeitausgleich begründen, tritt eine gesundheitsschützende Wirkung jedenfalls in den Fällen ein, in denen sich die Dauer der Arbeitszeit für den Arbeitnehmer durch den bezahlten Freizeitausgleich insgesamt verringert und er zeitnah gewährt wird (zu § 6 Abs. 5 ArbZG BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 28). Nachtarbeitszuschläge wirken sich dagegen nicht positiv auf die Gesundheit des betroffenen Arbeitnehmers aus. Der individuelle Gesundheitsschaden wird über den Zuschlag kommerzialisiert (D. Ulber Anm. AP ArbZG § 6 Nr. 14 zu IV). Die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers wird verteuert, um auf diesem Weg allgemein Nachtarbeit einzudämmen. Nachtarbeit soll für den Arbeitgeber weniger attraktiv sein (zu § 6 Abs. 5 ArbZG BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – aaO; Polzin SR 2019, 303, 314). Außerdem soll der Nachtarbeitszuschlag den Arbeitnehmer in einem gewissen Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – aaO; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 18 mwN, BAGE 153, 378; krit. D. Ulber aaO; zu der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit als Aspekt von Art. 6 Abs. 2 GG BVerfG 14. Januar 2015 – 1 BvR 931/12 – Rn. 60, BVerfGE 138, 261).
49
5. Die im MTV enthaltene Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit in § 9 Nr. 1 Buchst. b iVm. § 8 Nr. 5 MTV und für Nachtschichtarbeit in § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
50
a) Arbeitnehmer, die Nachtarbeit im Sinn des MTV leisten, sind mit Arbeitnehmern vergleichbar, die in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr arbeiten.
51
aa) Die jeweiligen Zuschlagstatbestände knüpfen übereinstimmend an die Arbeitsleistung in der tarifvertraglich definierten Nachtzeit an, die sich von der Arbeit zu anderen Zeiten unterscheidet (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 46, BAGE 162, 230; Kleinebrink [in NZA 2019, 1458, 1461] zieht in Erwägung, dass diese Gruppen vergleichbar sind, nimmt aber an, Arbeitnehmer, die Nachtschichtarbeit leisteten, könnten auch mit Arbeitnehmern in Schichtarbeit außerhalb der Nachtzeit verglichen werden). Die Arbeit während der tarifvertraglichen Nachtzeit reicht angesichts der geringen Anforderungen an die Vergleichbarkeit aus, um die Normadressaten auf der ersten Ebene der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG miteinander vergleichen zu können (vgl. Dreier/Dreier Grundgesetz-Kommentar 3. Aufl. Vorb. Rn. 151; Jarass/Pieroth GG 16. Aufl. Art. 3 Rn. 11).
52
bb) Dem steht nicht entgegen, dass die Tarifvertragsparteien grundsätzlich die Tatbestandsvoraussetzungen bestimmen können, auf deren Grundlage die Gruppen zu bilden sind (aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 266; ähnlich Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 16 ff.; Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1461). Es ist nur zu klären, ob sich die Ungleichbehandlung dadurch rechtfertigen lässt (vgl. BeckOK GG/Kischel Art. 3 Stand 15. November 2020 Rn. 18).
53
cc) Arbeitnehmer, die Nachtarbeit im tariflichen Sinn leisten, sind mit Arbeitnehmern vergleichbar, die in Nachtschichten arbeiten, unabhängig davon, ob es sich um Nachtarbeitnehmer im Sinn von § 2 Abs. 5 ArbZG handelt (ebenso J. Ulber AuR 2020, 157, 162, 164; aA LAG Berlin-Brandenburg 7. August 2020 – 2 Sa 561/20 – zu II 2 b bb der Gründe). Im Übrigen setzt weder der Anspruch aus § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV noch der Anspruch aus § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV voraus, dass der Begünstigte Nachtarbeitnehmer im Sinn von § 2 Abs. 5 ArbZG ist.
54
dd) Bei den von § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV erfassten Arbeitnehmern handelt es sich nicht um eine Gruppe, die so klein ist, dass die Tarifvertragsparteien sie im Rahmen zulässiger Typisierung vernachlässigen konnten. Eine solche geringe Größe hat die Beklagte auch nicht behauptet. Vielmehr wird in den dem MTV unterfallenden Brauereibetrieben typischerweise Nachtarbeit in Schichtsystemen geleistet. Der jetzige Sachverhalt unterscheidet sich damit grundlegend von dem Sachverhalt, über den der Senat am 11. Dezember 2013 zu befinden hatte (- 10 AZR 736/12 – Rn. 21 ff., BAGE 147, 33).
55
b) Die unterschiedlich hohen Zuschläge für Nachtarbeit in § 9 Nr. 1 Buchst. b iVm. § 8 Nr. 5 MTV und für Nachtschichtarbeit in § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV führen dazu, dass zwei Gruppen von Arbeitnehmern, die nachts arbeiten, ungleichbehandelt werden.
56
aa) Der Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV für Nachtarbeit im Sinn von § 8 Nr. 5 MTV ist doppelt so hoch wie der Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV für die in demselben Zeitraum – von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr – in der Nachtschicht geleistete Arbeit.
57
bb) Dieser erhebliche Unterschied wird nicht dadurch relativiert, dass der Zuschlag für Nachtschichtarbeit „deutlich häufiger anfällt und … für den Arbeitnehmer damit im Ergebnis wie eine dauerhafte Entgelterhöhung“ wirkt (so jedoch Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 31). Der Vergleich der monatlichen oder jährlichen Verdienste verbietet sich, weil er gegen den Pro-rata-temporis-Grundsatz verstößt. Die Zuschläge nach § 9 Nr. 1 Buchst. b und Buchst. d MTV beziehen sich auf das Entgelt für die einzelne Arbeitsstunde (§ 5 Nr. 2 MTV).
58
cc) Der Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV enthält nicht den Zuschlag von 25 % des Stundenentgelts für Mehrarbeit nach § 9 Nr. 1 Buchst. a MTV.
59
(1) Nach § 8 Nr. 1 MTV ist Mehrarbeit „jede über die betriebliche durch Schicht- oder Arbeitsplätze geplante tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit“. Danach kann Mehrarbeit „rund um die Uhr“ und sowohl im Rahmen von Schichtarbeit als auch außerhalb von Schichtsystemen anfallen. Die Regelung hat keinen spezifischen Bezug zu außerhalb von Schichtsystemen geleisteter Nachtarbeit.
60
(2) Auch aus den Sonderregelungen zu Mehrarbeit in § 8 Nr. 2 und Nr. 3 MTV sowie in § 12 Nr. 2 MTV ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass Mehrarbeit, wenn sie in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr anfällt, regelmäßig außerhalb von Schichtarbeit geleistet wird. Die maßgeblichen Tarifnormen differenzieren weder nach der zeitlichen Lage der Mehrarbeit noch danach, in welchem Arbeitszeitmodell sie geleistet wird.
61
(3) Die Regelung in § 9 Nr. 1 Buchst. a MTV spricht ebenfalls dagegen, dass der Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV den Zuschlag für Mehrarbeit enthält. Sonst hätte es nahegelegen, die Zuschlagsregelung für „Nachtarbeiter“ zu staffeln, um sie von der Erhöhung des Zuschlags für Mehrarbeit nach § 9 Nr. 1 Buchst. a MTV bereits „ab der 3. Stunde täglich“ auf 50 % und „an Sonnabenden und für Schichtgänger“ auf 35 % profitieren zu lassen.
62
(4) Dem steht nicht entgegen, dass Mehrarbeitszuschläge nach der Rechtsprechung des Senats den zulässigen Zweck verfolgen können, Arbeitgeber von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abzuhalten (vgl. BAG 11. November 2020 – 10 AZR 185/20 (A) – Rn. 34 mwN; 17. Juni 2020 – 10 AZR 210/19 (A) – Rn. 26; 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Rn. 65 ff., BAGE 165, 1). Der Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV knüpft an die Lage der Arbeitszeit und nicht daran an, dass der Arbeitnehmer über das vertraglich vereinbarte Arbeitszeitvolumen hinaus herangezogen wird.
63
dd) Die Differenz zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit (§ 9 Nr. 1 Buchst. b MTV) und für Arbeit in der Nachtschicht (§ 9 Nr. 1 Buchst. d MTV) verringert sich nicht durch andere tarifliche Leistungen, die dem von § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV erfassten Personenkreis vorbehalten sind.
64
(1) Die bezahlte Freizeit nach § 7 Nr. 2 MTV dient dem Ausgleich der spezifischen Belastungen und Erschwernisse, die mit der Arbeit in Wechselschicht oder in ständiger Nachtschicht verbunden sind. Dies folgt bereits daraus, dass die Regelung mit „Schichtfreizeit“ überschrieben ist. Unterstrichen wird diese Zielsetzung dadurch, dass Nachtschichtarbeit im Sinn von § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für diesen Anspruch ist, es sei denn, sie wird ständig geleistet.
65
(2) Der Anspruch auf jährlich vier Arbeitstage bezahlte Schichtfreizeit besteht nach § 7 Nr. 2.2 MTV, wenn die Beschäftigten „ausschließlich in Nachtschicht“ oder „im Drei-Schicht-System“ arbeiten. Da nach dem Wortlaut die Arbeit in einem dreischichtigen „System“ ausreicht, kommt es nicht darauf an, ob die Beschäftigten tatsächlich in allen drei Schichten, also auch in der Nachtschicht, eingesetzt werden.
66
(3) Der Regelung in § 7 Nr. 2.3 MTV kann nicht entnommen werden, dass sie konkret die Erschwernis der Nachtschichtarbeit ausgleichen soll. Für den Anspruch auf drei Arbeitstage bezahlte Schichtfreizeit nach § 7 Nr. 2.3 MTV ist nach dem Klammerzusatz „Früh-/Spät-, Früh-/Nacht- oder Spät-/Nachtschicht“ der tatsächliche Einsatz in der Nachtschicht weder notwendig noch hinreichend. Diese Schichtfreizeit wird vielmehr immer dann gewährt, wenn in einem Zwei-Schicht-System gearbeitet wird.
67
(4) Auch die bezahlte 30-minütige Pause nach § 5 Nr. 4 MTV ist kein spezifischer Nachtschichtzuschlag. Vielmehr soll sie die besonderen Belastungen infolge der Beschäftigung in einem Drei-Schicht-System ausgleichen. Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-System beschäftigt werden, sind nicht anspruchsberechtigt, auch wenn sie nachts arbeiten.
68
c) Die Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit (§ 9 Nr. 1 Buchst. b iVm. § 8 Nr. 5 MTV) und für Arbeit in der Nachtschicht (§ 9 Nr. 1 Buchst. d MTV) ist sachlich nicht gerechtfertigt, selbst wenn ein zurückgenommener Prüfungsmaßstab angelegt wird. Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. Zwischen der Nachtarbeit und der Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr bestehen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, die diese Differenzierung bei der Höhe der Nachtarbeitszuschläge sachlich rechtfertigen könnten. Dem MTV ist kein Anhaltspunkt zu entnehmen, der als Sachgrund für die Verdopplung des Zuschlags für Nachtarbeit gegenüber dem Zuschlag für Nachtschichtarbeit in Betracht käme.
69
aa) Höhere Anforderungen an die Rechtfertigung folgen nicht daraus, dass sich die Merkmale, an die die tarifliche Differenzierung anknüpft, denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern. Bei der Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ist jedoch zu berücksichtigen, dass Arbeitnehmer nicht darüber verfügen können, ob sie die Differenzierungsmerkmale verwirklichen, nach denen sich die Zuschlagspflicht für die Arbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr richtet (Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 49; aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 24; zu dem Kriterium der Verfügbarkeit zB BVerfG 17. Juni 2020 – 1 BvR 1134/15 – Rn. 9 mwN). Schon wegen des dem Arbeitgeber nach § 106 Satz 1 GewO zukommenden Weisungsrechts kann ein Arbeitnehmer regelmäßig nicht der Anordnung von Nachtschichtarbeit widersprechen und stattdessen verlangen, zu Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems eingesetzt zu werden. Nach dem MTV ist Schichtarbeit ein zulässiges Arbeitszeitmodell.
70
bb) Nachtarbeit ist schädlich (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C I 2 a der Gründe, BVerfGE 85, 191; BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 27 mwN; 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, BAGE 162, 230; 18. Oktober 2017 – 10 AZR 47/17 – Rn. 39, BAGE 160, 325; Schlachter/Heinig/Bayreuther Europäisches Arbeits- und Sozialrecht [EnzEuR Bd. 7] § 11 Rn. 33; EuArbRK/Gallner 3. Aufl. RL 2003/88/EG Art. 8 Rn. 3 mwN). Das gilt im Ausgangspunkt unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb von Schichtsystemen geleistet wird. Die gesundheitliche Belastung durch Nachtarbeit steigt nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Zahl der Nächte im Monat und die Zahl der aufeinanderfolgenden Nächte, in denen Nachtarbeit geleistet wird (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – aaO; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17 mwN, BAGE 153, 378; 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – Rn. 19, BAGE 147, 33). Das legt es mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG nahe, die in Schichten und damit regelmäßig in erheblichem Umfang geleistete Nachtarbeit mit höheren Zuschlägen zu vergüten als die – weniger gesundheitsschädliche – gelegentlich außerhalb von Schichtsystemen geleistete Nachtarbeit (aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 31).
71
(1) Nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen ist Nachtarbeit für jeden Menschen schädlich, weil sie negative gesundheitliche Auswirkungen hat (BVerfG 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 ua. – zu C I 2 a der Gründe, BVerfGE 85, 191). Durch Arbeit während der Nachtzeit wird die sog. zirkadiane Rhythmik gestört. Zu der sozialen Desynchronisation kommt die physiologische Desynchronisation der Körperfunktionen, die sich typischerweise in Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden und kardiovaskulären Beeinträchtigungen äußert (Beermann Nacht- und Schichtarbeit – ein Problem der Vergangenheit? S. 4 f. = https://d-nb.info/992446481/34; Langhoff/Satzer Gutachten zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen zu Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit S. 26 ff., 37 f.; DGUV Report 1/2012 S. 81 f., 91 ff., 119 ff.). Sekundärstudien deuten darauf hin, dass sich Nachtarbeit auch negativ auf die Psyche auswirkt (vgl. Amlinger-Chatterjee Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt S. 31). Anerkannt ist, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in je größerem Umfang sie geleistet wird (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 27 mwN; 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17 mwN, BAGE 153, 378; vgl. auch den siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG; Mitteilung der Europäischen Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. EU C 165 vom 24. Mai 2017 S. 42).
72
(2) Aufgrund der steigenden gesundheitlichen Belastung durch eine größere Zahl der Nächte im Monat und eine höhere Zahl der aufeinanderfolgenden Nächte, in denen Nachtarbeit geleistet wird, sollten möglichst wenige Nachtschichten aufeinanderfolgen. Dem steht nicht entgegen, dass viele Schichtarbeitnehmer, die in einem Rhythmus von fünf und mehr aufeinanderfolgenden Nachtschichten arbeiten, subjektiv den Eindruck haben, dass sich ihr Körper der Nachtschicht besser anpasst. Das trifft nicht zu (vgl. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Leitfaden zur Einführung und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit 9. Aufl. S. 12 f.; Langhoff/Satzer Gutachten zu arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen zu Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit S. 32). Aufeinanderfolgende Nachtschichten sind besonders schädlich, obwohl sich Arbeitnehmer typabhängig unterschiedlich gut an die Nachtarbeit anpassen (vgl. BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, BAGE 153, 378; 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – Rn. 19 f. mwN, BAGE 147, 33; vgl. Langhoff/Satzer aaO S. 36). Bislang ist nicht belegt, dass aufeinanderfolgende Nachtschichten signifikant weniger gesundheitsschädlich sind, wenn Arbeitnehmer nach einem Schichtplan eingesetzt werden, der ihnen im Voraus bekannt ist. Nach Amlinger-Chatterjee zeigen extrahierte statistische Daten lediglich eine tendenziell geringere gesundheitliche Belastung, wenn die Arbeitszeiten vorhersagbar sind (Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt S. 52).
73
cc) Aus dem MTV ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit der Verdopplung des Zuschlags für Nachtarbeit gegenüber dem Zuschlag für Nachtschichtarbeit einen auf einem sachlichen Grund beruhenden Zweck verfolgt haben könnten.
74
(1) Der höhere Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV ist nach der Systematik des MTV nicht dadurch zu rechtfertigen, dass die mangelnde Planbarkeit der Nachtarbeit im Sinn von § 8 Nr. 5 MTV ausgeglichen werden soll. Es kann sich nicht um eine Entschädigung der außerhalb von Schichtsystemen zur Nachtarbeit herangezogenen Arbeitnehmer dafür handeln, dass ihre Teilhabe am sozialen Leben durch die kurzfristige Anordnung stärker erschwert wird als bei Nachtarbeit, die aufgrund von Schichtplänen geleistet wird. Der Senat stimmt der entgegengesetzten Ansicht der Beklagten nicht zu.
75
(a) Ein solcher Zweck liegt angesichts der Ausgleichsregelungen für Erschwernisse im MTV nicht nahe. Nach § 7 Nr. 2.1 MTV treten „Erschwernisse und Belastungen“ durch Nachtschicht und durch die Arbeit im Zwei- bzw. Drei-Schicht-System auf. Die Nachtarbeit gehört auch nicht zu den im „Katalog der Schmutzarbeiten gemäß § 9 Ziffer 3“ im Anhang zum MTV bezeichneten „Arbeiten unter erschwerten Bedingungen“, für die § 9 Nr. 3 MTV eine „Erschwerniszulage“ von 30 % vorsieht.
76
(b) Auch § 9 Nr. 4 MTV deutet darauf hin, dass die Tarifvertragsparteien in der Arbeit im Zwei- und Drei-Schicht-System, nicht aber in der außerplanmäßigen Nachtarbeit eine besondere Belastung erkennen. Von allen in § 9 Nr. 1 MTV aufgezählten Zuschlägen sind nur Schichtzuschläge nicht „gedeckelt“ nach § 9 Nr. 4 MTV. § 5 Nr. 8 Abs. 2 MTV, der die Arbeitszeit am Tag vor dem 1. Mai ohne Entgeltausfall zweieinhalb Stunden früher enden lässt, gilt nur für „Beschäftigte in Schichtarbeit“.
77
(c) § 8 Nr. 6 Satz 3 MTV spricht ebenfalls dagegen, dass der Gesichtspunkt der schlechter planbaren Arbeitszeit die Tarifvertragsparteien des MTV veranlasst haben könnte, höhere Zuschläge für außerhalb von Schichtsystemen zu leistende Nachtarbeit vorzusehen. Wenn die Schichtarbeit nach § 8 Nr. 6 Satz 3 MTV drei Tage vorher anzukündigen ist, muss ein in der Nachtschicht Beschäftigter seinem Einsatz entgegenstehende private und kulturelle Wünsche ab dem vierten Tag nach Anordnung der Schichtarbeit zurückstellen. Er ist mit Blick darauf, seinen Arbeitseinsatz vorhersehen zu können, jedenfalls nicht deutlich bessergestellt als ein „Nachtarbeiter“, der seinen Einsatz nicht in einem Schichtplan voraussehen kann(aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 32 für eine Ankündigungsfrist von 24 Stunden).
78
(d) Der Annahme, der höhere Zuschlag wolle für die Einbuße im Hinblick auf die Teilhabe am sozialen Leben entschädigen, steht entscheidend die Regelung in § 8 Nr. 4 MTV entgegen. Danach ist bei der Durchführung von Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes „auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten weitgehend Rücksicht zu nehmen“. Diese tarifvertragliche Beschränkung des Arbeitgebers bei der Ausübung des billigen Ermessens im Rahmen des Weisungsrechts stellt sicher, dass ein Arbeitnehmer Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit grundsätzlich nur dann leisten muss, wenn dadurch seine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben nicht beeinträchtigt wird. Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Grund dafür, eine nicht erlittene Einbuße mit einem höheren Zuschlag auszugleichen. Der Arbeitnehmer kann selbstbestimmt am sozialen und kulturellen Leben teilhaben.
79
(2) Andere legitime Zwecke, die mit dem gegenüber § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV erhöhten Zuschlag des § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV verfolgt werden könnten, sind nicht ersichtlich.
80
(a) Der von der Beklagten angeführte Grund, die außerhalb von Schichtarbeit geleistete Nachtarbeit solle verteuert werden, um ihre Anordnung zu erschweren und letztlich zu verhindern, kann die Verdopplung des Zuschlags nicht rechtfertigen (ebenso Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 45; aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 270; Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 30). Nachtarbeit soll wegen ihrer nachteiligen Auswirkungen auf die Gesundheit der von ihr betroffenen Arbeitnehmer allgemein vermieden werden, unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb von Schichtsystemen geleistet wird. Dieser Zweck kann daher grundsätzlich keine unterschiedlich hohen Zuschläge für innerhalb und außerhalb von Schichten geleistete Nachtarbeit rechtfertigen. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn nur die Schichtarbeit in der Nacht aus überragenden Gründen des Gemeinwohls unvermeidbar wäre (vgl. BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 39 mwN). In dem hier betroffenen Tarifbereich bestehen dafür keine Anhaltspunkte.
81
(b) Soweit sich die Beklagte darauf beruft, der Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV solle die Arbeitnehmer motivieren, Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit zu leisten, kann damit nicht die Verdopplung gegenüber dem Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV gerechtfertigt werden (aA Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1461). Ausgleichsregelungen im Sinn von § 6 Abs. 5 ArbZG sollen die Nachtarbeit verringern und nicht ausdehnen (Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 51).
82
(c) Die Verdopplung des Zuschlags für Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit kann entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht mit dem Hinweis auf den Ausnahmecharakter der Nachtarbeit gerechtfertigt werden. Ein den niedrigeren Zuschlag für Nachtschichtarbeit rechtfertigender Umstand ist schon deswegen nicht erkennbar, weil die Gesundheit von Nachtschichtarbeitnehmern, die regelmäßig Nachtarbeit leisten, nach derzeitigem Kenntnisstand in höherem Maß gefährdet ist als die Gesundheit von Arbeitnehmern, die außerhalb von Schichtsystemen unregelmäßig zur Nachtarbeit herangezogen werden (vgl. BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 27 mwN). Für die Teilhabe am sozialen Leben gilt nichts anderes (LAG Berlin-Brandenburg 14. Juli 2020 – 11 Sa 199/20 – zu B II 4 der Gründe).
83
(3) Es ist nicht erkennbar, dass die Nachtschichtarbeit in Brauereien mit einer geringeren Arbeitsbelastung verbunden sein könnte als außerhalb von Schichtsystemen geleistete Nachtarbeit. Daher kann offenbleiben, ob ein geringerer Zuschlag für Nachtschichtarbeit sachlich gerechtfertigt sein könnte, wenn die mit ihr einhergehende Belastung im Vergleich zur Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems geringer ist, etwa weil es sich um inaktive Teile nächtlichen Bereitschaftsdienstes handelt (BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 33; 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 53 mwN, BAGE 162, 230).
84
6. Eine ergänzende Auslegung des MTV mit dem Ziel, die Regelung in § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV in Einklang mit den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG zu bringen, ist dem Senat nicht möglich (zu den Voraussetzungen BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 450/15 – Rn. 24; 14. September 2016 – 4 AZR 1006/13 – Rn. 21 mwN).
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a) Tarifvertragliche Regelungen sind einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich, wenn damit kein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden ist. Die ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheidet daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht. Voraussetzung für eine ergänzende Auslegung ist, dass entweder eine unbewusste Regelungslücke besteht oder eine Regelung nachträglich lückenhaft geworden ist. In einem solchen Fall haben die Gerichte für Arbeitssachen grundsätzlich die Möglichkeit und die Pflicht, eine Tariflücke zu schließen, wenn sich unter Berücksichtigung von Treu und Glauben ausreichende Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben. Allerdings haben die Tarifvertragsparteien in eigener Verantwortung darüber zu befinden, ob sie eine von ihnen geschaffene Ordnung beibehalten oder ändern. Solange sie daran festhalten, hat sich eine ergänzende Auslegung an dem bestehenden System und dessen Konzeption zu orientieren. Eine ergänzende Tarifauslegung scheidet aus, wenn den Tarifvertragsparteien ein Spielraum dafür bleibt, die Lücke zu schließen, und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst zu finden (BAG 28. November 2019 – 8 AZR 125/18 – Rn. 16 mwN, BAGE 169, 1; 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 56, BAGE 162, 230; vgl. Henssler/Moll/Bepler/Bepler 2. Aufl. Teil 3 Rn. 196).
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b) Mit Blick auf ihren Gestaltungsspielraum fehlen Anhaltspunkte dafür, wie die Tarifvertragsparteien eine Lücke hätten schließen wollen, wenn eine unbewusste Regelungslücke oder eine nachträglich lückenhaft gewordene Regelung im MTV unterstellt wird. Dem MTV lässt sich nicht entnehmen, dass die Tarifvertragsparteien mit dem Zuschlag von 25 % nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV eine wertende Grundentscheidung getroffen haben, die zu dem Schluss zwingt, dass sie in Kenntnis der ungerechtfertigten Differenzierung keine Ausgleichsregelung für die von § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV erfasste Arbeitnehmergruppe getroffen hätten (vgl. Kothe Gutachten zu Nachtarbeitszuschlagsregelungen S. 54 mwN; abweichend Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 276 ff.).
87
7. Die nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbarende Ungleichbehandlung des Klägers, der für Schichtarbeit im Zeitraum von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr lediglich den Zuschlag nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV erhält, kann nur durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden, weil die begünstigende Regelung in § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV das einzig gültige Bezugssystem bleibt (vgl. BAG 11. November 2020 – 10 AZR 185/20 (A) – Rn. 39 mwN mit Bezug auf die Rechtsprechung zu Verstößen gegen unionsrechtliche Diskriminierungsverbote: EuGH 14. März 2018 – C-482/16 – [Stollwitzer] Rn. 30; 28. Januar 2015 – C-417/13 – [Starjakob] Rn. 46 f. mwN; Schmidt RdA 2020, 269, 270 mwN; J. Ulber AuR 2020, 157, 165; vgl. auch Soost AuR 2020, 489). Den Angehörigen der benachteiligten Gruppe sind dieselben Vorteile zu gewähren wie den Angehörigen der bevorzugten Gruppe (vgl. BAG 25. August 2020 – 9 AZR 266/19 – Rn. 40 ff.; 28. Juli 2020 – 1 AZR 590/18 – Rn. 32; 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 32, BAGE 154, 118). Um den gleichheitswidrigen Zustand zu beseitigen, muss § 9 Nr. 1 Buchst. d iVm. § 8 Nr. 5 MTV unangewendet bleiben, soweit der Anspruch auf den Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 50 % nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV für Schichtarbeit im Zeitraum von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr ausgeschlossen ist. Das gilt, solange keine geeigneten Maßnahmen getroffen worden sind, um die Gleichbehandlung herzustellen (vgl. BAG 25. August 2020 – 9 AZR 266/19 – Rn. 43; 27. April 2017 – 6 AZR 119/16 – Rn. 46, BAGE 159, 92; 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 35, aaO).
88
a) Kann der Arbeitgeber den Begünstigten die in der Vergangenheit gewährten Leistungen nicht mehr entziehen, kommt regelmäßig nur eine Anpassung „nach oben“ in Betracht, um die Diskriminierung zu beseitigen. Die Anpassung „nach oben“ beruht auf dem ua. durch das nationale Recht vorgegebenen Rechtsbefehl, eine den Gleichbehandlungsgeboten entsprechende Ordnung herzustellen (vgl. Henssler/Moll/Bepler/Bepler 2. Aufl. Teil 3 Rn. 196; MAH ArbR/Hamacher/van Laak 5. Aufl. § 70 Rn. 22; J. Ulber AuR 2020, 157, 165). Sie berücksichtigt damit nicht zuletzt auch, dass ein den rechtlichen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen entsprechender Zustand nicht erreicht werden kann, wenn es sich „nicht lohnt“, auf eine sachwidrige Ungleichbehandlung mit einem Gang vor Gericht zu reagieren (Henssler/Moll/Bepler/Bepler aaO Rn. 194). Die Anpassung „nach oben“ scheidet selbst dann nicht aus, wenn sie zu erheblichen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers führt (BAG 28. Juli 2020 – 1 AZR 590/18 – Rn. 32; 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 32, BAGE 154, 118; 14. Mai 2013 – 1 AZR 44/12 – Rn. 26, BAGE 145, 113; Schirrmacher RdA 2020, 353, 361; Staudinger/Omlor [2016] Vorbemerkungen zu §§ 244 – 248 Rn. B58; Erman/D. Ulber BGB 16. Aufl. § 275 Rn. 11; aA Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 59).
89
aa) Die Beklagte kann den von der Regelung in § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV begünstigten Arbeitnehmern die auf der Grundlage des MTV gewährten Leistungen nicht entziehen. Die Rückforderungsansprüche unterliegen der Verfallklausel in § 21 MTV. Zudem ist das berechtigte Vertrauen dieses Arbeitnehmerkreises auf die Wirksamkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelung zu schützen (vgl. BAG 25. April 2017 – 1 AZR 427/15 – Rn. 33; 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 32, BAGE 154, 118; 10. November 2011 – 6 AZR 148/09 – Rn. 32, BAGE 140, 1).
90
bb) Einer rückwirkenden Änderung des MTV mit dem Ziel, die Zuschläge auf das Niveau des § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV herabzusetzen, steht das grundsätzlich geschützte Vertrauen des Arbeitnehmers entgegen, dass die Tarifvertragsparteien einen einmal entstandenen Tarifanspruch nicht rückwirkend beseitigen (BAG 20. Juni 2018 – 7 AZR 737/16 – Rn. 23; 6. Dezember 2017 – 10 AZR 575/16 – Rn. 36; Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 64). Eine solche Regelungskompetenz steht den Tarifvertragsparteien allenfalls dann zu, wenn die Begünstigten damit rechnen mussten, dass ihre Besserstellung ab einem bestimmten Zeitpunkt wegfällt (vgl. BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 35 mwN, BAGE 154, 118).
91
cc) Eine Anpassung „nach unten“ scheidet aus (krit. Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 56, 60). Die Begünstigung durch die Zuschlagsregelung in § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV entfällt weder rückwirkend noch von selbst für die Zukunft. Die Benachteiligung muss deshalb nicht nur für die Vergangenheit, sondern so lange beseitigt werden, bis eine diskriminierungsfreie Neuregelung in Kraft tritt (vgl. BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 34 mwN, BAGE 154, 118).
92
dd) Der Anpassung „nach oben“ kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, die Nachtarbeit würde durch den finanziellen Mehraufwand für den Arbeitgeber unrentabel und hätte für die Arbeitnehmer einen Verlust der finanziell attraktiven Nachtarbeitszuschläge zur Folge (so aber Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 52). Es ist Sinn und Zweck von tariflichen Zuschlagsregelungen im Sinn von § 6 Abs. 5 ArbZG, die gesundheitsschädliche Nachtarbeit zu verteuern, nicht jedoch, diese Arbeit möglichst attraktiv für Arbeitnehmer zu machen.
93
ee) Es kommt nicht in Betracht, den Rechtsstreit befristet auszusetzen, damit die Tarifvertragsparteien regeln können, auf welche Art und Weise die Diskriminierung für die Zukunft beseitigt werden soll (aA Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1463). Diese Verfahrensweise ließe die durch Art. 3 Abs. 1 GG gebotene Gleichbehandlung „leerlaufen“, weil schon nicht sichergestellt werden kann, dass sich die Tarifvertragsparteien auf eine diskriminierungsfreie Neuregelung verständigen werden (vgl. Henssler/Moll/Bepler/Bepler 2. Aufl. Teil 3 Rn. 196).
94
b) Die Anpassung „nach oben“ hat sich an der Regelung in § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV zu orientieren. Diese Norm enthält das einzig verbleibende gültige Bezugssystem für Nachtarbeit im MTV (vgl. BAG 25. August 2020 – 9 AZR 266/19 – Rn. 44). Mit Inkrafttreten einer diskriminierungsfreien tariflichen Neuregelung endet die Wirkung des zukunftsgerichteten Feststellungsausspruchs (vgl. BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 35 mwN, BAGE 154, 118; Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 283 f.).
95
aa) Nicht die Gesamtheit der beiden Zuschlagsregelungen in § 9 Nr. 1 Buchst. b und Buchst. d MTV ist gleichheitswidrig. Der Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot betrifft allein die Regelung in § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV. Nur sie benachteiligt die Normunterworfenen im Vergleich zu den von § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV betroffenen Arbeitnehmern (vgl. J. Ulber AuR 2020, 157, 164; Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 49; aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 274). Die gegenteilige Auffassung widerspricht dem klar erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien, abweichend von der in § 6 Abs. 5 ArbZG ausgedrückten gesetzgeberischen Zielvorstellung eine großzügige Zuschlagsregelung für Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen zu schaffen.
96
bb) Eine Derogation allein der benachteiligenden Regelung mit der Folge, dass die im MTV entstandene Lücke durch die gesetzliche Regelung in § 6 Abs. 5 ArbZG geschlossen wird, scheidet aus (aA Creutzfeldt/Eylert ZFA 2020, 239, 280; Kleinebrink NZA 2019, 1458, 1463 f.). Die Unwirksamkeit einer tariflichen Ausgleichsregelung für Nachtarbeit hat zwar zur Folge, dass einem Nachtarbeitnehmer im Sinn von § 2 Abs. 5 ArbZG der gesetzliche Anspruch aus § 6 Abs. 5 ArbZG zusteht (vgl. BAG 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 15 ff.; J. Ulber AuR 2020, 157, 164). Im Streitfall könnte der Anspruch aus § 6 Abs. 5 ArbZG jedoch allenfalls dazu führen, dass sich der Zuschlag für die Zeit von 23:00 Uhr bis 06:00 Uhr auf 30 % erhöhte (vgl. BAG 15. Juli 2020 – 10 AZR 123/19 – Rn. 30 ff. mwN). Die Derogation beseitigte die Benachteiligung der von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Schichtsystemen beschäftigten Arbeitnehmer daher nur teilweise, verstetigte sie aber im Übrigen (vgl. Höpfner Die Rechtmäßigkeit der tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für geleistete Nachtarbeit am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG S. 45 f.).
97
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, § 97 Abs. 1 ZPO.
Gallner
Pulz
Brune
Rudolph
Salzburger |
bag_48-19 | 19.12.2019 | 19.12.2019
48/19 - Das Geschlecht der Lehrkraft als zulässige berufliche Anforderung im Sportunterricht?
Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts kann nach § 8 Abs. 1 AGG in unionsrechtskonformer Auslegung nur zulässig sein, wenn es um den Zugang zur Beschäftigung einschließlich der zu diesem Zweck erfolgenden Berufsbildung geht und ein geschlechtsbezogenes Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.
Der Kläger hatte sich im Juni 2017 ohne Erfolg bei dem Beklagten, einer genehmigten Privatschule in Bayern, auf die für eine „Fachlehrerin Sport (w)“ ausgeschriebene Stelle beworben. Mit seiner Klage verlangt er von dem Beklagten eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG* mit der Begründung, der Beklagte habe ihn entgegen den Vorgaben des AGG wegen seines Geschlechts benachteiligt. Der Beklagte meint, die Nichtberücksichtigung des Klägers im Stellenbesetzungs-verfahren sei nach § 8 Abs. 1 AGG** zulässig gewesen. Das Schamgefühl von Schülerinnen könnte beeinträchtigt werden, wenn es bei Hilfestellungen im nach Geschlechtern getrennt durchgeführten Sportunterricht zu Berührungen der Schülerinnen durch männliche Sportlehrkräfte komme bzw. diese die Umkleideräume betreten müssten, um dort für Ordnung zu sorgen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts hat der Beklagte nicht den Vorgaben des AGG und des Unionsrechts entsprechend dargetan, dass für die streitgegenständliche Stelle ein geschlechtsbezogenes Merkmal eine wesentliche und entscheidende sowie angemessene berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG ist. Über die Höhe der Entschädigung konnte der Senat aufgrund der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht selbst entscheiden. Dies führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 8 AZR 2/19 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 20. November 2018 – 7 Sa 95/18 –
*Nach § 15 Abs. 2 AGG kann wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangt werden. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
**Nach § 8 Abs. 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1*** genannten Grundes zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.
***Nach § 1 AGG ist es Ziel des Gesetzes, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. | Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 20. November 2018 – 7 Sa 95/18 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
1. Grundsätzlich kann eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts und dadurch bewirkte Diskriminierung nicht sachlich gerechtfertigt werden. Geht es allerdings um den Zugang zur Beschäftigung, kann nach § 8 Abs. 1 AGG eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes – auch des Geschlechts – zulässig sein. Dies setzt nach dem Wortlaut von § 8 Abs. 1 AGG voraus, dass dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Dabei kann in unionsrechtskonformer und enger Auslegung in Übereinstimmung mit den Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union – hier mit Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG (juris: EGRL 54/2006) – und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht der Grund iSv. § 1 AGG, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern nur ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen.
2. Der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ iSd. Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union und iSv. § 8 Abs. 1 AGG bezieht sich auf eine Anforderung, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Subjektive Erwägungen reichen nicht aus. Es muss vielmehr ein direkter, objektiv durch entsprechende Analysen belegter und überprüfbarer Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit bestehen.
3. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der in § 8 Abs. 1 AGG enthaltenen Voraussetzungen trägt der Arbeitgeber.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des AGG zu zahlen.
2
Der Beklagte ist ein Schulverein. Durch Bescheid des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 4. August 1993 wurde ihm die Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer privaten Waldorfschule mit Wirkung vom 1. August 1993 erteilt. Auszugsweise heißt es in diesem Bescheid:
„3.
Unterrichtsbetrieb
3.1
Die Schule nimmt ihren Betrieb im Schuljahr 1993/94 mit der Jahrgangsstufe 5 auf. In den folgenden Schuljahren erfolgt der Ausbau jährlich um je eine weitere Jahrgangsstufe. Ferner kann eine Realschulabschlußklasse geführt werden, in die Schüler in der Regel nach den Jahrgangsstufen 10 oder 11 aufgenommen werden.
3.2
Der Unterricht erfolgt nach den Lehrplänen der Waldorfschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Schule darf hierbei in ihren Lehrzielen, bezogen auf die jeweilige Jahrgangsstufe, nicht hinter öffentlichen Realschulen und Gymnasien zurückstehen. Das Staatsministerium behält sich vor, Mindestlehrpläne verbindlich vorzuschreiben.
…
5.
Schulleiter und Lehrpersonal
5.1
Schulleiter und Lehrer müssen die nach Art. 72 BayEUG vorgeschriebenen Befähigungen für den Unterricht besitzen. Soweit Lehrer in Fächern verwendet werden, für die sie die Befähigung für das Lehramt an Gymnasien erworben haben, dürfen sie verwendet werden, wenn dies dem Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst unter Vorlage der notwendigen Unterlagen vorher angezeigt worden ist. Im übrigen dürfen Lehrer nur verwendet werden, wenn dies vorher durch das Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst genehmigt worden ist.
…
8.
Sonstiges
Wesentliche Änderungen in den Verhältnissen, die dieser Genehmigung zugrunde liegen, d.h. insbesondere jede Änderung im Lehrpersonal und Änderungen in den räumlichen Verhältnissen, bedürfen einer gesonderten schulaufsichtlichen Genehmigung (Art. 77 Abs. 1 BayEUG); bei der Einstellung von Lehrern, die für die jeweilige Schulart voll ausgebildet sind, genügt die Anzeige. Klassenlehrer für die Jahrgangsstufen 5 mit 8 bedürfen stets einer schulaufsichtlichen Genehmigung.“
3
Im Juni 2017 veröffentlichte der Beklagte eine Stellenausschreibung mit folgendem Inhalt:
„Die Freie Waldorfschule W
ist eine 20 Jahre junge Schule mit den Klassen 1-13, einem angeschlossenem Kindergarten und Hort in einer reizvollen Umgebung vor den Toren N.
Wir suchen:
•
Klassenlehrer/in (m/w)
•
Fachlehrer/in Mathe/Physik (m/w) (volles Deputat und Teildeputat)
•
Fachlehrer/in Englisch (Ober- und Unterstufe) (m/w) (Teildeputat)
•
Fachlehrer/in Biologie/Chemie/Geographie (m/w) (Teildeputat)
•
Fachlehrerin Sport (w)
•
Fachlehrer/in Technologie 11. Kl. (m/w) (4 Stunden)
•
Fachlehrer/in Eurythmie (m/w) (6-9 Stunden)
Auch die Fächer in anderen Kombinationen möglich.
…“
4
Unter den Parteien ist unstreitig, dass der Beklagte mit der Stellenausschreibung eine Sportlehrkraft für die Mädchen der Jahrgangsstufen 5 bis 12 suchte.
5
Der Kläger, ein ausgebildeter Sportlehrer mit mehrjähriger Berufserfahrung, bewarb sich per E-Mail vom 13. Juni 2017 auf die Stellenausschreibung.
6
Der Beklagte beantwortete diese Bewerbung mit E-Mail vom 19. Juni 2017 wie folgt:
„Sehr geehrter Herr C,
leider suchen wir eine weibliche Sportlehrkraft für die Mädchen der Oberstufe.
Mit freundlichem Gruß
W (Personalkreis)“
7
Nachdem der Kläger mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 26. Juni 2017 vom Beklagten die Zahlung einer Entschädigung gefordert hatte, wies dieser den vom Kläger geltend gemachten Anspruch durch Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 30. Juni 2017 zurück. In diesem Schreiben heißt es ua.:
„Unzutreffend ist Ihre Behauptung, unsere Mandantschaft habe gegen das AGG verstoßen.
Der Lehrplan schreibt ausdrücklich vor: ‚Basissportunterricht wird in nach Geschlechtern getrennten Sportklassen unterrichtet. Mädchen werden von weiblichen Sportlehrkräften, Jungen von männlichen Sportlehrkräften unterrichtet‘.
Es handelt sich also um eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen i.S.d. § 8 Abs. 1 AGG. Die Forderung Ihres Mandanten entbehrt somit jeder Grundlage.“
8
Der zum Zeitpunkt des Bewerbungsverfahrens gültige Lehrplan des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus im Fach Sport (im Folgenden Lehrplan PLUS) enthält auszugsweise folgende Regelungen:
„Lehrplan PLUS
Sport
1 Selbstverständnis des Faches Sport und sein Beitrag zur Bildung
Hinweise zum Unterricht
Der Sportunterricht wird in den Jahrgangsstufen 5 mit 10 als Basissportunterricht (BSU) erteilt. Über zwei Wochenstunden BSU hinausgehender Sportunterricht kann als BSU oder Differenzierter Sportunterricht (DSU) erteilt werden. Basissportunterricht wird in nach Geschlechtern getrennten Sportklassen unterrichtet. Mädchen werden von weiblichen Sportlehrkräften, Jungen von männlichen Sportlehrkräften unterrichtet.
Der Differenzierte Sportunterricht trägt zur Vertiefung erworbener Kompetenzen aus dem Basissportunterricht bzw. dem Erwerb neuer sportartspezifischer Kompetenzen bei (s. gesonderter Lehrplan). Er wird je nach Ausstattung der Schule und fachlicher Qualifikation der Lehrkraft in sportartspezifischen Interessengruppen erteilt. In dafür geeigneten Sportarten kann der DSU insbesondere unter Berücksichtigung der besonderen Belange eines nicht geschlechtsspezifisch erteilten Sportunterrichts und der Leistungsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler koedukativ erteilt werden. Die Entscheidung hierüber trifft die Schulleiterin/der Schulleiter.“
9
In dem an die Lehrkräfte für das Fach Sport gerichteten „Kontaktbrief 2010“ des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung vom September 2010 (im Folgenden Kontaktbrief 2010), mit dem ein Überblick über die wichtigsten Regelungen zum koedukativen Sportunterricht an Gymnasien gegeben wurde, heißt es ua.:
„1.1 Geschlechtsspezifische Erteilung des Basissportunterrichts
Der gymnasiale Fachlehrplan Sport schreibt vor, dass der Basissportunterricht (BSU) geschlechtsspezifisch erteilt wird. Das heißt zweierlei: Zum einen müssen die Schülerinnen und Schüler in nach Geschlechtern getrennten Sportklassen unterrichtet werden. Zum anderen werden Mädchensportklassen von weiblichen und Jungensportklassen von männlichen Sportlehrkräften unterrichtet.
1.2 Ausnahmegenehmigungen durch das StMUK auf Antrag der Schule für die Jahrgangsstufen 5 und 6
Sieht sich eine Schule vor die Situation gestellt, die durch den Fachlehrplan Sport gesetzte Prämisse einer geschlechtsspezifischen Erteilung nicht umsetzen zu können, kann das Staatsministerium zeitlich befristete Ausnahmegenehmigungen erteilen, in der Regel für ein Schuljahr. Diese sind auf die Jahrgangsstufen 5 und 6 beschränkt. In den Genehmigungsschreiben für die Erteilung koedukativen Sportunterrichts weist das Staatsministerium insbesondere darauf hin, dass die Belange eines nicht geschlechtsspezifisch erteilten Sportunterrichts, z.B. Aufsichtsführung in den Umkleiden oder Hilfestellung beim Gerätturnen, zu beachten und die Eltern über die koedukative Erteilung des Basissportunterrichts zu informieren sind.
Die Genehmigung, dass männliche Sportlehrkräfte Mädchensportklassen oder weibliche Sportlehrkräfte Jungensportklassen zeitlich befristet unterrichten dürfen, knüpft das Staatsministerium an das Einvernehmen mit den Eltern.
1.3 Jahrgangsstufen 11 und 12
In den Jahrgangsstufen 11 und 12 wird der Unterricht in den sportlichen Handlungsfeldern Basketball, Fußball, Handball, Gerätturnen in der Regel nicht koedukativ erteilt. Der Schulleiter kann in begründeten Fällen Ausnahmegenehmigungen erteilen (vgl. dazu KMBek ‚Durchführung des Sportunterrichts in den Jahrgangsstufen 11 und 12‘).
1.4 Koedukative Erteilung des Differenzierten Sportunterrichts
Der Differenzierte Sportunterricht (DSU) kann mit Ausnahme der Sportarten Basketball, Eishockey, Fußball, Handball und Hockey in der Regel koedukativ durchgeführt werden. Bei Judo, Ringen und Selbstverteidigung ist innerhalb der Interessengruppen nach Geschlechtern zu trennen.
1.5 Verpflichtende 3. Sportstunde im achtjährigen Gymnasium wahlweise als BSU oder DSU
Die in den Stundentafeln des achtjährigen Gymnasiums verpflichtend verankerte 3. Sportstunde kann wahlweise als BSU oder DSU angeboten werden. Der DSU kann dabei wie üblich auch jahrgangsstufenübergreifend eingerichtet werden.
1.6 Formlose Antragstellung der Schule:
Anträge der Schule, den BSU zeitlich befristet nicht geschlechtsspezifisch zu erteilen, sind formlos auf dem Dienstweg zu richten an
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus“
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Im Juli 2018 bewarb sich der Kläger auf eine Stelle als Sportlehrkraft bei einem anderen Betreiber einer privaten Waldorfschule. Nachdem auch diese Schule ihm eine Absage mit der Begründung erteilt hatte, dass eine weibliche Lehrkraft für das Fach Sport gesucht werde, machte der Kläger auch dieser Schule gegenüber einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung – letztlich auch gerichtlich – geltend.
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Mit seiner am 4. Juli 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen und dem Beklagten am 11. Juli 2017 zugestellten Klage hat der Kläger sein Begehren auf Zahlung einer Entschädigung gegenüber dem Beklagten weiterverfolgt.
12
Er hat die Auffassung vertreten, der Beklagte habe ihn im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren entgegen den Vorgaben des AGG wegen seines Geschlechts benachteiligt und sei ihm deshalb zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet. Er sei durch die Absage unmittelbar wegen seines Geschlechts benachteiligt worden; diese unmittelbare Benachteiligung sei nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Für die Tätigkeit als Sportlehrkraft sei die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung. Dies gelte auch für eine männliche Lehrkraft bei der Unterrichtung von Mädchen im Fach Sport. Soweit Hilfestellungen einen Körperkontakt zwischen Lehrkraft und Schülerin erforderten, erfolge dieser allenfalls im Schulter- und Armbereich. Das Betreten einer Umkleidekabine aus Gründen der Aufsichtspflicht sei eine absolute Ausnahme und dann durch Anklopfen so ankündbar, dass Gelegenheit zum Ankleiden bleibe und das Schamgefühl von Schülerinnen und Schülern nicht verletzt werde. Zu berücksichtigen sei zudem, dass auch bei einer Lehrkraft desselben Geschlechts eine Berührung bzw. das Antreffen in nicht vollständiger Bekleidung bei Schülerinnen und Schülern Unbehagen auslösen könne. Auf den Lehrplan PLUS könne der Beklagte sich nicht mit Erfolg berufen. Dieser Lehrplan verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des AGG und beinhalte einen unzulässigen Eingriff in sein Grundrecht auf Berufsfreiheit.
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Bei der Bemessung der Entschädigung sei zu berücksichtigen, dass der Beklagte einem vollzeitbeschäftigten Sportlehrer in Anlehnung an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) eine monatliche Bruttovergütung iHv. ca. 4.500,00 Euro zahle. Der Beklagte habe – wie sich aus der Stellenausschreibung ergebe – eine Lehrkraft für das Fach Sport in Vollzeit gesucht.
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Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn eine angemessene Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber einen Betrag iHv. 13.500,00 Euro nicht unterschreiten sollte, zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, er habe den Kläger nicht entgegen den Vorgaben des AGG wegen seines Geschlechts benachteiligt. Er sei an die Vorgaben des Lehrplans PLUS, der den Maßgaben des AGG vorgehe, gebunden und hätte daher den Kläger nicht als Sportlehrkraft für Mädchensportklassen einstellen dürfen. Er müsse sich den Einsatz jeder Lehrkraft vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus genehmigen lassen. Für einen Einsatz des Klägers im Fach „Sport weiblich“ hätte er keine Genehmigung erhalten, was die abschlägige Antwort des Ministeriums auf seine nachträgliche Anfrage belege. Im Übrigen hätte er mit einer Einstellung des Klägers als Sportlehrkraft für Mädchenklassen den Widerruf der Genehmigung zum Betrieb der Schule bzw. den Wegfall staatlicher Zuschüsse zur Finanzierung der Stelle riskiert. Desungeachtet sei für die zu besetzende Stelle die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG. Das Schamgefühl der Schülerinnen könne beeinträchtigt werden, wenn es zu Berührungen mit einer männlichen Lehrkraft im Rahmen von Hilfestellungen beim Sportunterricht komme oder diese die Umkleideräume aufsuchen müsse, ohne sich vorher ankündigen zu können, was jederzeit erforderlich sein könne. Im Übrigen sei das Entschädigungsverlangen des Klägers dem durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwand ausgesetzt. Der Kläger habe sich bei ihm nicht mit dem Ziel einer Einstellung beworben, vielmehr sei es ihm nur darum gegangen, eine Entschädigung zu erhalten. Das zeige sich an der weiteren Entschädigungsklage, die der Kläger gegen eine andere Waldorfschule erhoben habe.
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Bei der Höhe einer etwa doch zu zahlenden Entschädigung sei zu berücksichtigen, dass es sich bei der ausgeschriebenen Stelle, auf die der Kläger sich beworben habe, nicht um eine Vollzeitstelle gehandelt habe. Nachdem der Beklagte dazu zunächst vorgetragen hatte, es habe sich um eine Teilzeitstelle mit einem – gegenüber einer Vollzeitbeschäftigung mit 24 Wochenstunden – reduzierten Unterrichtsdeputat von 15 Wochenstunden zu einem Bruttomonatsentgelt iHv. 1.719,90 Euro gehandelt, hat er später ausgeführt, dass es eigentlich nur um 8 Stunden für den Sportunterricht zu einem Bruttomonatsentgelt iHv. 917,28 Euro gegangen sei, die weiteren 7 Stunden seien für ein anderes Fach vorgesehen gewesen. In der Stellenausschreibung habe man kein exaktes Stundenkontingent angegeben in der Hoffnung auf die Bewerbung einer Lehrkraft, die neben dem Fach Sport auch ein weiteres in der Stellenausschreibung aufgeführtes Fach unterrichten könne.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte die Berufung des Klägers nicht zurückweisen. Die zulässige Klage ist dem Grunde nach begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Aufgrund der vom Landesarbeitsgericht bislang getroffenen Feststellungen kann der Senat allerdings nicht abschließend beurteilen, in welcher Höhe die Klage begründet ist; den Parteien ist zudem Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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A. Die auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gerichtete Klage ist zulässig, insbesondere ist der Klageantrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger durfte die Höhe der von ihm begehrten Entschädigung in das Ermessen des Gerichts stellen.
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§ 15 Abs. 2 Satz 1 AGG räumt dem Gericht bei der Höhe der Entschädigung einen Beurteilungsspielraum ein, weshalb eine Bezifferung des Zahlungsantrags nicht notwendig ist. Der Kläger hat auch Tatsachen benannt, die das Gericht bei der Bestimmung der Höhe der Entschädigung heranziehen soll und die Größenordnung der geltend gemachten Forderung angegeben (zu den Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags: vgl. etwa BAG 14. November 2013 – 8 AZR 997/12 – Rn. 16; 13. Oktober 2011 – 8 AZR 608/10 – Rn. 16). Insoweit geht er davon aus, dass der von ihm mit 13.500,00 Euro bezifferte Mindestbetrag drei auf der Stelle erzielbaren Bruttomonatsgehältern entspricht.
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B. Die Klage ist dem Grunde nach begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet. Der Kläger hat den Entschädigungsanspruch auch frist- und formgerecht geltend gemacht und eingeklagt. Der Beklagte hat den Kläger unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG wegen seines Geschlechts benachteiligt. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts war diese Benachteiligung nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht der durchgreifende Rechtsmissbrauchseinwand entgegen.
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I. Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet. Für den Kläger ergibt sich dies aus § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Der Kläger ist als Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis Beschäftigter iSd. AGG (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG). Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass er eine Bewerbung eingereicht hat. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG enthält einen formalen Bewerberbegriff. Wie der Senat mehrfach ausgeführt hat, kommt es insoweit auf eine „subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung“ nicht an (vgl. näher ua. BAG 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 62, BAGE 155, 149). Der Beklagte ist Arbeitgeber iSv. § 6 Abs. 2 AGG.
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II. Der Kläger hat den Entschädigungsanspruch auch frist- und formgerecht geltend gemacht und eingeklagt (§ 15 Abs. 4 AGG, § 61b Abs. 1 ArbGG).
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Der Kläger hat nach der „Ablehnung durch den Arbeitgeber“ iSv. § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG (dazu BAG 29. Juni 2017 – 8 AZR 402/15 – Rn. 20, BAGE 159, 334) vom 19. Juni 2017 seinen Entschädigungsanspruch gegenüber dem Beklagten mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 26. Juni 2017 frist- und formgerecht geltend gemacht. Seine am 4. Juli 2017 beim Arbeitsgericht eingegangene und dem Beklagten am 11. Juli 2017 zugestellte Klage wahrt die Frist des § 61b Abs. 1 ArbGG.
25
III. Der Beklagte hat den Kläger unmittelbar wegen seines Geschlechts benachteiligt.
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1. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG ua. sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen des Geschlechts.
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2. Der Beklagte hat den Kläger – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt.
28
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Wie der Begriff „erfahren würde“ verdeutlicht, muss nach dieser Bestimmung die Vergleichsperson nicht eine reale, sondern kann auch eine fiktive bzw. hypothetische sein.
29
b) Vor diesem Hintergrund erfährt ein erfolgloser Bewerber – unabhängig davon, ob er bereits vorab aus dem Bewerbungs-/Stellenbesetzungsverfahren ausgeschieden wurde, ob es andere Bewerber für die Stelle gab und eine andere Bewerbung Erfolg hatte sowie unabhängig davon, ob die Stelle überhaupt besetzt wurde – stets eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, weil er eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Soweit der Senat in einigen seiner Entscheidungen ausgeführt hat, dass der erfolglose Bewerber eine ungünstigere Behandlung erfahren habe als die „letztlich eingestellte(n) Person(en)“ (vgl. ua. BAG 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 15), folgt hieraus nichts Abweichendes. Diese Formulierung war ausschließlich dem Umstand geschuldet, dass es im zu entscheidenden Fall tatsächlich einen oder mehrere Mitbewerber gegeben hatte, deren Bewerbung(en) erfolgreich war(en).
30
c) Nach alledem wurde der Kläger dadurch, dass er von dem Beklagten nicht eingestellt wurde, unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt. Darauf, ob die von dem Beklagten ausgewählte Bewerberin die Stelle angetreten hat, kommt es nicht an.
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3. Der Kläger hat die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG auch wegen seines Geschlechts erfahren.
32
Der Beklagte hatte dem Kläger eine Absage mit der Begründung erteilt, er suche eine weibliche Sportlehrkraft. Vor diesem Hintergrund steht der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund (dazu ua. BAG 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 18; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 50, BAGE 164, 117; 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN) – hier: dem Geschlecht – außer Frage und es kommt nicht mehr darauf an, ob Indizien iSv. § 22 AGG (dazu ua. BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51 ff., aaO; 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 21 ff.) – beispielsweise die Formulierung in der Stellenausschreibung, mit der eine „Fachlehrerin“ Sport gesucht wurde – eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen oder ob der Beklagte eine etwa durch Indizien begründete Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes widerlegt hat (zur Frage einer Widerlegung vgl. etwa: BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 104 ff., aaO; 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 28 mwN; 16. Februar 2012 – 8 AZR 697/10 – Rn. 58; 17. August 2010 – 9 AZR 839/08 – Rn. 45).
33
IV. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts und der Rechtsauffassung des Beklagten war die unmittelbare Benachteiligung, die der Kläger wegen seines Geschlechts erfahren hat, nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig.
34
1. Nach § 8 Abs. 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.
35
a) § 8 Abs. 1 AGG dient der Umsetzung von ua. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG in das nationale Recht. Danach können die Mitgliedstaaten im Hinblick auf den Zugang zur Beschäftigung einschließlich der zu diesem Zweck erfolgenden Berufsbildung vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines geschlechtsbezogenen Merkmals keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.
36
b) Grundsätzlich kann eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts und dadurch bewirkte Diskriminierung nicht sachlich gerechtfertigt werden (vgl. zur st. Rspr. EuGH 7. Februar 2018 – C-142/17 und C-143/17 – [Maturi u.a.] Rn. 38 f.; 12. September 2013 – C-614/11 – [Kuso] Rn. 50 ff. zur Vorgänger-Richtlinie 76/207/EWG; 18. November 2010 – C-356/09 – [Kleist] Rn. 41 ff. zur Vorgänger-Richtlinie 76/207/EWG; EuArbRK/Mohr 3. Aufl. RL 2006/54/EG Art. 2 Rn. 6). Ausnahmen hiervon sind nur in den in bestimmten Rechtsvorschriften festgelegten Fällen unter den dort konkret beschriebenen Voraussetzungen möglich (vgl. etwa EuGH 6. März 2014 – C-595/12 – [Napoli] Rn. 41 mwN). Zu diesen Rechtsvorschriften gehört Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG, der mit § 8 Abs. 1 AGG in das nationale Recht umgesetzt wurde, wobei zu beachten ist, dass die Mitgliedstaaten die wesentliche Gleichheit zwischen Männern und Frauen zu gewährleisten haben, die die Richtlinie 2006/54/EG herbeiführen soll (EuGH 6. März 2014 – C-595/12 – [Napoli] Rn. 38).
37
c) § 8 Abs. 1 AGG ist unionsrechtskonform in Übereinstimmung mit der Richtlinie unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union eng auszulegen (EuGH 6. März 2014 – C-595/12 – [Napoli] Rn. 41 mwN; vgl. 11. Januar 2000 – C-285/98 – [Kreil] Rn. 20 mwN zu der teilweise gleichlautenden Vorgängerbestimmung in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 76/207/EWG; 15. Mai 1986 – 222/84 – [Johnston] Rn. 36; zu § 8 Abs. 1 AGG als Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG vgl. ua. BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 101, BAGE 156, 71).
38
aa) Danach kann nicht der Grund iSv. § 1 AGG, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern nur ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen (vgl. übertragbar zur Richtlinie 2000/78/EG etwa: EuGH 7. November 2019 – C-396/18 – [Cafaro] Rn. 59; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 37; 15. November 2016 – C-258/15 – [Salaberria Sorondo] Rn. 33; 13. November 2014 – C-416/13 – [Vital Pérez] Rn. 36; 13. September 2011 – C-447/09 – [Prigge ua.] Rn. 66; 12. Januar 2010 – C-229/08 – [Wolf] Rn. 35).
39
bb) Ein solches Merkmal – oder sein Fehlen – ist zudem nur dann eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSd. § 8 Abs. 1 AGG, wenn davon die ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit abhängt (vgl. etwa EuGH 13. September 2011 – C-447/09 – [Prigge ua.] Rn. 66; 12. Januar 2010 – C-229/08 – [Wolf] Rn. 35 f.; BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 101, BAGE 156, 71 mwN). Der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ iSd. Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union bezieht sich auf eine Anforderung, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen erstrecken (insoweit übertragbar zu Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG: EuGH 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 40), die nicht durch entsprechende objektive Analysen belegt sind. Es muss ein direkter, objektiv überprüfbarer Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit bestehen (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 63; dazu BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 65, BAGE 164, 117). Dabei ist es nicht entscheidend, wenn einige der Aufgaben nicht das Vorhandensein des betreffenden Merkmals erfordern (vgl. EuGH 13. November 2014 – C-416/13 – [Vital Pérez] Rn. 39).
40
cc) Im Übrigen wirkt sich aus, dass bei der Festlegung der Reichweite einer Ausnahme von einem Grundrecht wie dem auf Gleichbehandlung zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört. Danach dürfen Ausnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist (EuGH 11. Januar 2000 – C-285/98 – [Kreil] Rn. 23). Aus diesem Grund muss die berufliche Anforderung über den Wortlaut von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG hinaus nicht nur angemessen, sondern auch erforderlich sein.
41
d) § 8 Abs. 1 AGG enthält eine für den Arbeitgeber günstige Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der Diskriminierung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, hier des Geschlechts (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 99, BAGE 156, 71; zur Richtlinie 2006/54/EG vgl. etwa EuGH 6. März 2014 – C-595/12 – [Napoli] Rn. 41 mwN; 26. Oktober 1999 – C-273/97 – [Sirdar] Rn. 23), weshalb den Arbeitgeber – hier den Beklagten – bereits nach den allgemeinen Regeln des nationalen Rechts die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen trifft (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – aaO; vgl. auch Art. 19 der Richtlinie 2006/54/EG; vgl. im Zusammenhang verschiedener Antidiskriminierungsrichtlinien: EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 55 mwN; 21. Juli 2011 – C-159/10, C-160/10 – [Fuchs und Köhler] Rn. 78; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32). Er hat im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass sich die geltend gemachte Anforderung tatsächlich als notwendig erweist (vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 67).
42
2. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts und der Rechtsauffassung des Beklagten war die unmittelbare Benachteiligung des Klägers wegen seines Geschlechts nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Der Beklagte hat nicht dargetan, dass für die streitgegenständliche Stelle ein geschlechtsbezogenes Merkmal aufgrund der Art der Sportlehrtätigkeit an seiner Schule oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende sowie angemessene und erforderliche berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG darstellt.
43
a) Wie unter Rn. 38 f. ausgeführt, kann ein „geschlechtsbezogenes Merkmal“, dh. ein mit dem Grund „Geschlecht“ im Zusammenhang stehendes Merkmal, nur dann eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG und § 8 Abs. 1 AGG sein, wenn es die spezifische Art der Tätigkeit bzw. die besonderen Bedingungen ihrer Ausübung betrifft (EuGH 11. Januar 2000 – C-285/98 – [Kreil] Rn. 27; 30. Juni 1988 – 318/86 – [Kommission/Frankreich] Rn. 25). Es muss zudem hinreichend durchschaubar und damit kontrollierbar sein (EuGH 30. Juni 1988 – 318/86 – [Kommission/Frankreich] Rn. 25 ff.).
44
b) Nicht geklärt ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union allerdings bislang, was unter einem „geschlechtsbezogenen Merkmal“ iSv. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG konkret zu verstehen ist. Zwar finden sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs des Europäischen Union zur Richtlinie 2006/54/EG bzw. zur vorhergehenden Richtlinie 76/207/EWG, die mit ihrem Art. 2 Abs. 2 eine im Wesentlichen gleichlautende Bestimmung enthielt, einzelne Beispiele für Tätigkeiten, für die das „Geschlecht“ (in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 76/207/EWG fehlte die heute ausdrücklich vorhandene Unterscheidung zwischen „Grund“ und „Merkmal“) für bestimmte Beschäftigungsverhältnisse als eine „unabdingbare Voraussetzung“ iSd. Bestimmung angesehen wurde (vgl. insbesondere EuGH 26. Oktober 1999 – C-273/97 – [Sirdar] Rn. 23; 30. Juni 1988 – 318/86 – [Kommission/Frankreich]; 15. Mai 1986 – 222/84 – [Johnston). Die Rechtsprechung lässt jedoch bisher nicht erkennen, wie der Begriff „geschlechtsbezogenes Merkmal“ im Zusammenhang mit einer „wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung“ nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG näher zu verstehen ist. Nicht geklärt ist insbesondere, ob dazu nur bestimmte körperliche Merkmale gehören, wie etwa sog. primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale, oder etwa auch bestimmte sog. tertiäre Geschlechtsmerkmale. Ungeklärt ist ferner, wie der Begriff „geschlechtsbezogenes Merkmal“ im Zusammenhang nichtbinärer Geschlechtsidentität zu verstehen ist, und ob auch andere Umstände von Bedeutung sein können, sofern sie in einem direkten Zusammenhang mit dem Geschlecht stehen, so zum Beispiel etwaige objektive Bedürfnisse oder Grundrechtspositionen von Betroffenen, etwa zu betreuender Schülerinnen (zur grundgesetzlichen Gewährleistung der Glaubensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, im Zusammenhang koedukativ erteilten Sportunterrichts vgl. etwa BVerwG 25. August 1993 – 6 C 8/91 – BVerwGE 94, 82).
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c) Gleichwohl bedarf es für die Entscheidung des vorliegenden Falles nicht eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Es kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, wie der Begriff „geschlechtsbezogenes Merkmal“ iSv. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG und damit iSv. § 8 Abs. 1 AGG näher zu verstehen ist. Selbst bei einer – zugunsten des Beklagten unterstellten – weiten Auslegung hat der Beklagte nicht dargetan, dass die unmittelbare Benachteiligung des Klägers wegen des Geschlechts zulässig war.
46
aa) Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, er sei an die Vorgaben des Lehrplans PLUS, der den Bestimmungen des AGG vorgehe, und damit verbunden an die Vorgaben des Kontaktbriefs 2010 gebunden, wonach der Basissportunterricht in nach Geschlechtern getrennten Sportklassen unterrichtet werde, wobei Mädchen von weiblichen Sportlehrkräften und Jungen von männlichen Sportlehrkräften unterrichtet würden. Es kann dahinstehen, ob der von der bayerischen Schulverwaltung erlassene Lehrplan PLUS insoweit den auch für ihn maßgeblichen Vorgaben des AGG gerecht wird, insbesondere, ob die durch ihn bewirkte unmittelbare Benachteiligung der Sportlehrkräfte wegen ihres Geschlechts nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig ist. Der Beklagte, der eine private Schule betreibt, bei der es sich nach dem Bescheid des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 4. August 1993 um eine genehmigte Ersatzschule handelt, ist an diesen Lehrplan nicht gebunden. Dies folgt aus den in Art. 90 BayEUG sowie Art. 92 Abs. 5 Satz 1 BayEUG getroffenen Regelungen, mit denen der bayerische Gesetzgeber die Vorgaben von Art. 7 GG sowie von Art. 134 der Verfassung des Freistaates Bayern in das einfache Gesetzesrecht umgesetzt hat.
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(1) Nach Art. 90 BayEUG dienen private Schulen der Aufgabe, das öffentliche Schulwesen zu vervollständigen und zu bereichern. Sie sind im Rahmen der Gesetze frei in der Entscheidung über eine besondere pädagogische, religiöse oder weltanschauliche Prägung, über Lehr- und Erziehungsmethoden, über Lehrstoff und Formen der Unterrichtsorganisation.
48
Da die Frage, ob bzw. ggf. ab welcher Klasse der Sportunterricht monoedukativ oder koedukativ erteilt werden sollte, dh. ob die Schülerinnen und Schüler nach Geschlechtern getrennt oder gemeinsam unterrichtet werden sollten, beispielsweise um eine gleichberechtigte Entwicklungsförderung von Mädchen und Jungen zu erreichen und Geschlechtergrenzen zu überwinden bzw. um Rücksicht auf die unterschiedliche Entwicklung von Schülerinnen und Schülern in der Adoleszenz zu nehmen, eine Frage der Sportpädagogik ist, die im Übrigen in der Wissenschaft unterschiedlich beantwortet wird (vgl. hierzu etwa BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 32, BVerwGE 145, 333; OVG Berlin-Brandenburg 18. September 2013 – OVG 3 S 52.13 – Rn. 7 f.; VG Berlin 22. Mai 2014 – 3 K 515.13 – Rn. 22), kann der Beklagte nach Art. 90 BayEUG nicht an den für die öffentlichen Schulen geltenden Lehrplan PLUS gebunden werden.
49
Dementsprechend verweist Art. 92 Abs. 5 BayEUG, nach dem für staatlich genehmigte Ersatzschulen einige der für öffentliche Schulen geltenden – enumerativ aufgeführten – Vorschriften Anwendung finden, gerade nicht auf Art. 45 Abs. 1 Satz 1 BayEUG, wonach die Grundlage für Unterricht und Erziehung an öffentlichen Schulen die Lehrpläne, Stundentafeln und sonstige Richtlinien sind. Folgerichtig enthält auch der Genehmigungsbescheid des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 4. August 1993 keine dahin gehende Auflage, sondern bestimmt unter II.3. 3.2, dass der Unterricht nach den Lehrplänen der Waldorfschulen in Deutschland erfolgt.
50
(2) Der bayerische Gesetzgeber hat mit Art. 90 BayEUG und Art. 92 Abs. 5 Satz 1 BayEUG die Vorgaben von Art. 7 GG sowie von Art. 134 der Verfassung des Freistaates Bayern in das Landesrecht umgesetzt.
51
(a) Private Ersatzschulen – wie die vom Beklagten betriebene – unterfallen zwar der staatlichen Schulaufsicht iSv. Art. 7 Abs. 1 GG, allerdings ist die staatliche Schulhoheit aus Art. 7 Abs. 1 GG im Wirkbereich der Privatschulfreiheit nach Art. 7 Abs. 4 GG wenn auch nicht aufgehoben, so doch abgeschwächt (BVerwG 11. April 2018 – 6 B 77/17 – Rn. 15 mwN; BVerfG 14. November 1969 – 1 BvL 24/64 – zu D I 1 der Gründe, BVerfGE 27, 195).
52
(b) Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet unter Absage an ein staatliches Schulmonopol die Freiheit, Privatschulen zu errichten. Kennzeichnend für die Privatschule ist ein Unterricht eigener Prägung, insbesondere im Hinblick auf die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis, die Lehrmethode und die Lehrinhalte. Das Recht zur Errichtung von Privatschulen als Ersatz für öffentliche Schulen ist jedoch gemäß Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG durch den Vorbehalt staatlicher Genehmigung beschränkt (vgl. etwa BVerwG 11. April 2018 – 6 B 77/17 – Rn. 15 mwN). Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen (Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG). Die Genehmigung ist gemäß Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG – sowie nach Art. 134 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern – zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Ferner darf ein Versagungsgrund iSd. in Art. 7 Abs. 4 Satz 4 GG genannten ungenügenden Sicherung der wirtschaftlichen und rechtlichen Stellung der Lehrkräfte nicht bestehen. Die Erfüllung weiterer als der in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG aufgeführten schulbezogenen Genehmigungsvoraussetzungen dürfen dem privaten Schulträger weder durch das Landesrecht noch durch eine bestimmte Ausgestaltung der schulbehördlichen Genehmigungspraxis abverlangt werden (vgl. etwa BVerwG 29. April 2019 – 6 B 141/18 – Rn. 26 mwN).
53
(c) Der in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG genannte Begriff der Lehrziele muss vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks der verfassungsrechtlichen Privatschulfreiheit ausgelegt werden. Danach ist der dem staatlichen Einfluss entzogene Bereich dadurch gekennzeichnet, dass in der Privatschule ein eigenverantwortlich geprägter und gestalteter Unterricht erteilt wird, insbesondere soweit er die Erziehungsziele, die weltanschauliche Basis, die Lehrmethode und die Lehrinhalte betrifft. Das in Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG für Ersatzschulen bestimmte Genehmigungserfordernis hat den Sinn, die Allgemeinheit vor unzureichenden Bildungseinrichtungen zu schützen. Deshalb kommt es darauf an, ob im Kern gleiche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, unbeschadet eines von einer eigenen weltanschaulichen Basis aus eigenverantwortlich geprägten Unterrichts mit darauf abgestellten Lehrmethoden und Lehrinhalten. Insoweit wird keine Gleichartigkeit mit öffentlichen Schulen verlangt, sondern nur eine Gleichwertigkeit. Bezieht sich aber die Gestaltungsfreiheit der privaten Ersatzschule auf Lehrmethoden und Lehrinhalte bei anzustrebender Gleichwertigkeit des Bildungsabschlusses, muss sie auch nach eigenem pädagogischen Ermessen darüber entscheiden dürfen, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln sie zu diesem Gesamtergebnis gelangt; eine strikte Bindung an die von der Schulverwaltung erlassenen Lehrpläne und Stundentafeln verbietet sich vor diesem Hintergrund (vgl. etwa BVerwG 29. April 2019 – 6 B 141/18 – Rn. 27 mwN; 13. Dezember 2000 – 6 C 5/00 – Rn. 21, BVerwGE 112, 263).
54
(aa) Die Freiheit der Methoden- und Formenwahl bildet die Essenz der Privatschulfreiheit. Diese Freiheit muss gerade auch als Freiheit der schulpädagogischen Beurteilung verstanden werden, um der grundrechtlichen Gewährleistung volle Wirksamkeit zu verschaffen. Der private Schulträger darf die Schulgestaltung daher grundsätzlich anhand derjenigen Annahmen über pädagogische Wirkungszusammenhänge vornehmen, die er selbst für fachlich überzeugend hält (BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 27 f., BVerwGE 145, 333). Dabei sind die Träger des Grundrechts der Privatschulfreiheit aus Art. 7 Abs. 4 GG, Art. 134 der Verfassung des Freistaates Bayern berechtigt, sich im Rahmen ihrer schulpädagogischen Beurteilung auch für Methoden und Organisationsformen zu entscheiden, die von den staatlich Verantwortlichen für den Bereich des öffentlichen Schulwesens bewusst verworfen werden (vgl. BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 21, 28, 35, aaO; BayVGH 19. Februar 2013 – 7 B 12.2441 – Rn. 24). Das ist für das Fach Sport und dessen ggf. geschlechtsspezifische Unterrichtung grundsätzlich nicht anders zu beurteilen als für andere Schulfächer.
55
(bb) Allerdings sind solche Methoden und Organisationsformen nicht mehr von der Privatschulfreiheit gedeckt, bei denen aufgrund eines im Wesentlichen gesicherten, in der Fachwelt weitgehend anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisstands davon auszugehen ist, dass ihre Eignung zur Verwirklichung eines rechtlich bindenden Erziehungsziels in unvertretbar hohem Maße geringer ausfällt als diejenige der im öffentlichen Schulwesen gebräuchlichen Methoden und Organisationsformen. Ist ein derartiger Grad an objektivierter Gewissheit darüber erreicht, dass der private Schulträger sich mit seiner fachlichen Einschätzung nicht innerhalb der Bandbreite noch als vertretbar einzustufender Lehrmeinungen bewegt, muss den Belangen der staatlichen Schulhoheit und dem Schutz der Allgemeinheit vor unzureichenden Bildungseinrichtungen der Vorrang vor dem Bestimmungsrecht des privaten Schulträgers eingeräumt werden (BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 29, BVerwGE 145, 333). Diese Grenze ist beispielsweise nicht erreicht, wenn die Privatschule eine monoedukative Ausrichtung wählt, also ausschließlich Mädchen bzw. ausschließlich Jungen aufnimmt (vgl. BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 31, aaO). In solch einem Fall darf eine Schulbehörde die ordnungsgemäß beantragte Genehmigung einer Privatschule als Ersatzschule nicht allein wegen ihrer monoedukativen Ausrichtung versagen (BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 31 ff., aaO).
56
(cc) Die von der Privatschulfreiheit umfasste Freiheit der Methoden- und Formenwahl führt angesichts der in der Wissenschaft kontrovers diskutierten Frage, ob Schul(sport)unterricht bevorzugt koedukativ oder monoedukativ durchgeführt werden sollte (vgl. ua. Heim/Sohnsmeyer Sportunterricht – Ein Überblick über die jüngere empirische Forschung, Sportunterricht 2016, 36, 38; zu weiteren Nachweisen zu dieser Diskussion: vgl. BVerwG 30. Januar 2013 – 6 C 6/12 – Rn. 32, BVerwGE 145, 333; OVG Berlin-Brandenburg 18. September 2013 – OVG 3 S 52.13 – Rn. 6 f., 9; VG Berlin 22. Mai 2014 – 3 K 515.13 – Rn. 22), dazu, dass die privaten Schulen grundsätzlich frei darin sind, den Unterricht im Allgemeinen wie auch den Sportunterricht im Besonderen koedukativ oder monoedukativ auszugestalten. Aus diesem Grund können ihnen auch nicht mittels staatlicher Lehrpläne Vorgaben betreffend das Geschlecht der (Sport)Lehrkraft im Verhältnis zum Geschlecht der Schüler und Schülerinnen gemacht werden. Dass es auch insoweit keinen im Wesentlichen gesicherten, in der Fachwelt weitgehend anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisstand gibt, wonach die eine oder andere Ausgestaltung des Sportunterrichts in wissenschaftlicher Hinsicht eindeutig vorzugswürdig wäre, zeigt sich bereits daran, dass es in den Bundesländern keine einheitlichen Vorgaben gibt. Neben Bundesländern, in denen der Sportunterricht in der Regel koedukativ gestaltet wird – wie beispielsweise in Hessen (vgl. ua. Hessisches Kultusministerium, Lehrplan Sport Gymnasialer Bildungsgang, Gymnasiale Oberstufe, 2010 S. 19) oder Hamburg (Bildungsplan Gymnasium, Sekundarstufe I Sport S. 17) – und wo – damit einhergehend – zum Geschlecht der Sportlehrkraft keine Vorgaben gemacht werden, gibt es jedenfalls ein Bundesland – Bayern – mit Vorgaben zum monoedukativen Sportunterricht verbunden mit Vorgaben zum Geschlecht der jeweiligen Lehrkräfte.
57
(3) Dass für ihn ein den Sportunterricht betreffender Mindestlehrplan iSv. Art. 93 Satz 1 BayEUG iVm. II.3. 3.2 des Genehmigungsbescheids vom 4. August 1993 gilt, nach dem der Sportunterricht geschlechtsspezifisch zu erteilen wäre, hat der Beklagte nicht vorgetragen. Deshalb kann dahinstehen, ob und ggf. inwieweit eine solche Vorgabe mit Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG – und Art. 134 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern – vereinbar wäre.
58
bb) Da der Beklagte als Betreiber einer genehmigten Ersatzschule nicht an die Vorgaben des Lehrplans PLUS gebunden ist, kann – entgegen seinem Vorbringen – der Fortbestand der Genehmigung zum Betrieb der Schule nicht – jedenfalls nicht rechtswirksam – von der Einhaltung des Lehrplans PLUS abhängig gemacht werden, weshalb er bei Nichtbefolgen der Vorgaben aus dem Lehrplan PLUS nicht den Widerruf der Genehmigung befürchten muss. Die Einhaltung des Lehrplans PLUS ist – wie Art. 92 Abs. 5 Satz 1 BayEUG bestätigt – keine Voraussetzung für die Erteilung der Genehmigung zum Betrieb der Ersatzschule.
59
cc) Der Beklagte kann sich zudem nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ihm für einen Einsatz des Klägers auf der ausgeschriebenen Stelle entgegen den Vorgaben des Lehrplans PLUS keine Unterrichtsgenehmigung erteilt worden und die Stelle auch nicht refinanziert worden wäre. Es kann dahinstehen, ob der Beklagte für eine Einstellung des Klägers als Sportlehrer überhaupt einer Unterrichtsgenehmigung nach Art. 94 BayEUG bedurft hätte oder ob die Einstellung nach Art. 99 Abs. 1 Satz 2 BayEUG iVm. II.8. des Genehmigungsbescheids lediglich anzeigepflichtig gewesen wäre, weil der Kläger für die Schulart voll ausgebildet war. Dem Beklagten hätte eine etwaig erforderliche Unterrichtsgenehmigung und Refinanzierung der Stelle nicht mit der Begründung versagt werden dürfen, dass der Kläger nach den Vorgaben des Lehrplans PLUS Mädchensportklassen nicht unterrichten dürfe. Auch im Rahmen eines etwa erforderlichen Anzeigeverfahrens hätte dieser Umstand demnach keine Rolle gespielt. Der Beklagte als genehmigte Ersatzschule ist – wie unter Rn. 50 ff. ausgeführt – aus verfassungsrechtlichen Gründen grundsätzlich nur an seine eigenen Lehrpläne und nicht an den Lehrplan PLUS gebunden. Dies berücksichtigt auch Art. 94 BayEUG, der den Vorgaben von Art. 7 GG sowie von Art. 134 der Verfassung des Freistaates Bayern entsprechend die Erteilung der Unterrichtsgenehmigung nicht davon abhängig macht, dass die Lehrkraft nicht entgegen den Vorgaben eines Lehrplans zum Einsatz kommt.
60
(1) Gemäß Art. 99 Abs. 1 Satz 1 BayEUG bedürfen wesentliche Änderungen in den Voraussetzungen für die Genehmigung der Schule (Art. 92 BayEUG) ihrerseits der Genehmigung. Zu diesen wesentlichen Änderungen im Sinne dieser Bestimmung gehört auch eine Änderung beim Lehrpersonal. Dieser Genehmigungsvorbehalt für die Einstellung von Lehrern an privaten Ersatzschulen ist mit höherrangigem Recht vereinbar (vgl. etwa BayVGH 19. Februar 1997 – 7 B 95.3048 – zu II 2 a der Gründe).
61
(2) Ob nach Art. 99 Abs. 1 Satz 1 BayEUG die Genehmigung für die Einstellung einer Lehrkraft zu erteilen ist, richtet sich nach den Vorgaben des Art. 94 BayEUG. Danach ist zum einen Voraussetzung, dass eine fachliche und pädagogische Ausbildung der Lehrkraft sowie Prüfungen nachgewiesen werden, die der Ausbildung und den Prüfungen der Lehrkräfte an den entsprechenden öffentlichen Schulen gleichartig sind oder ihnen im Wert gleichkommen (Art. 94 Abs. 1 BayEUG), wobei auf einen solchen Nachweis verzichtet werden kann, wenn die Eignung der Lehrkraft durch gleichwertige freie Leistungen nachgewiesen wird (Art. 94 Abs. 2 BayEUG). Zudem werden Anforderungen an die persönliche Eignung der Lehrkraft gestellt. Um Übergriffen einer Privatschullehrkraft gegenüber den ihr anvertrauten Schülerinnen und Schülern vorzubeugen, erstreckt sich die Prüfung von Privatschullehrkräften nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 BayEUG auch auf schwerwiegende, in der Person der Lehrkraft liegende Tatsachen, die einer unterrichtenden oder erzieherischen Tätigkeit (Art. 59 Abs. 1 Satz 1 BayEUG) entgegenstehen. Damit sollen beispielsweise einschlägig vorbestrafte Bewerber (insbesondere wegen Sexualstraftaten oder vorsätzlicher Körperverletzungsdelikten) von einer Lehrtätigkeit ausgeschlossen werden können. Weitere Voraussetzungen für die Erteilung der Unterrichtsgenehmigung enthält Art. 94 BayEUG nicht.
62
dd) Der Beklagte hat auch im Übrigen nicht dargetan, dass die Voraussetzungen von § 8 Abs. 1 AGG vorliegen. Er hat nicht dargetan, dass ein geschlechtsbezogenes Merkmal aufgrund der Art der Sportlehrertätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt und dass es sich dabei um eine – an einem rechtmäßigen Zweck gemessen – angemessene und erforderliche Anforderung handelt.
63
(1) Allein aus dem Umstand, dass der Sportunterricht in der vom Beklagten betriebenen Schule teilweise monoedukativ in dem Sinne erteilt wird, dass die Schülerinnen und Schüler in nach Geschlechtern getrennten Sportklassen unterrichtet werden, wofür es gute Gründe geben kann (vgl. oben unter Rn. 56 die Nachweise zur kontroversen Diskussion), folgt nicht, dass dieser Sportunterricht auch „geschlechtsspezifisch“ bezogen auf die Lehrkräfte durchgeführt werden müsste, dh. dass Mädchen nur von weiblichen Sportlehrkräften und Jungen nur von männlichen Sportlehrkräften unterrichtet werden könnten. Sowohl weibliche als auch männliche Sportlehrkräfte sind dafür ausgebildet, sowohl Mädchen als auch Jungen im Fach Sport zu unterrichten.
64
(2) Auch aus dem Umstand, dass der Sportunterricht mit einer gewissen „Körperlichkeit“ in dem Sinne verbunden ist, dass es bei Hilfestellungen durch die Sportlehrkraft zu Berührungen der Schülerinnen und Schüler kommen kann, ergibt sich – für sich betrachtet – nichts für eine ausnahmsweise Zulässigkeit der unmittelbaren Benachteiligung des Klägers wegen seines Geschlechts. Die Körperlichkeit in diesem Sinne ist der Tätigkeit der Sportlehrkraft immanent. Dies gilt allerdings unterschiedslos für jedes Geschlecht, mithin für das weibliche, das männliche und für ein drittes Geschlecht gleichermaßen. Zudem lernen Sportlehrkräfte während der Lehrerausbildung den richtigen Umgang bei Hilfestellungen. Auch kann der Beklagte als privater Schulbetreiber seine Lehrkräfte entsprechend fortbilden.
65
(3) Der Beklagte dringt schließlich auch nicht mit seinem Argument durch, für die zu besetzende Stelle sei eine männliche Sportlehrkraft nicht in Betracht gekommen, weil nur so verhindert werden könne, dass das Schamgefühl der Mädchen verletzt werde, wenn es zu Berührungen mit einer männlichen Lehrkraft im Rahmen von Hilfestellungen beim Sportunterricht komme oder diese die Umkleideräume aufsuchen müsse, ohne sich vorher ankündigen zu können, was jederzeit erforderlich sein könne.
66
(a) Der Beklagte, den – wie unter Rn. 41 ausgeführt – insoweit die Darlegungs- und Beweislast trifft, hat schon nicht konkret dargetan, dass das Schamgefühl der Schülerinnen bei Hilfestellungen durch eine männliche Sportlehrkraft so beeinträchtigt wird, dass sich die unmittelbare Benachteiligung des Klägers wegen seines Geschlechts als zulässig nach § 8 Abs. 1 AGG erweist. Dies gilt auch dann, wenn zugunsten des Beklagten davon ausgegangen wird, dass – wie auch das Landesarbeitsgericht angenommen hat – Hilfestellungen im Sportunterricht beim Geräteturnen nicht auf den Schulter- und Armbereich beschränkt sind, sondern Berührungen auch am Gesäß erforderlich sein können.
67
(aa) Zwar hält der Senat es nicht für ausgeschlossen, dass es Fallgestaltungen geben kann, in denen besondere pädagogische Gründe oder geschlechtsbezogene (kulturelle) Besonderheiten oder andere objektive geschlechtsbezogene Umstände vorliegen, die es mit sich bringen, dass im monoedukativ erteilten Sportunterricht mit Rücksicht auf das Schamgefühl der Schülergruppen auch „geschlechtsspezifisch“ – wie unter Rn. 63 ausgeführt – unterrichtet wird. Dabei wäre allerdings zu berücksichtigen, dass sich der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ iSv. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG und iSv. § 8 Abs. 1 AGG – wie unter Rn. 39 ausgeführt – auf eine Anforderung bezieht, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist; er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen erstrecken, die nicht durch entsprechende objektive Analysen belegt sind. Es muss vielmehr ein direkter, objektiv überprüfbarer Zusammenhang zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit bestehen.
68
(bb) Der Beklagte hat noch nicht einmal im Ansatz objektive Umstände bzw. Analysen dargetan, aus denen sich ergibt, dass das Schamgefühl der Mädchen bei lege artis durchgeführten Hilfestellungen durch eine männliche Sportlehrkraft überhaupt stärker beeinträchtigt wird, als dies bei Hilfestellungen durch eine weibliche Sportlehrkraft der Fall ist. Insoweit hat der Beklagte sich vielmehr auf bloße Annahmen bzw. Vermutungen beschränkt. Das reicht nicht aus. Daran ändert auch nichts, dass das Landesarbeitsgericht sich diesen Annahmen des Beklagten mit eigenen (bloßen) Annahmen angeschlossen hat.
69
(cc) Der Beklagte hat zudem nicht konkret dargetan, dass auf der streitgegenständlichen Stelle Sportarten unterrichtet werden, in denen relevante Hilfestellungen durch die Sportlehrkraft überhaupt erforderlich werden können. Die bloße Bezugnahme auf die Vorgaben des staatlichen Lehrplans ersetzt den insoweit erforderlichen Sachvortrag nicht.
70
(dd) Aber auch dann, wenn zugunsten des Beklagten davon ausgegangen wird, dass es sich bei der beruflichen Anforderung des Beklagten wegen des Erfordernisses der Hilfestellung um eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2006/54/EG und § 8 Abs. 1 AGG handelt, und demnach der Zweck grundsätzlich als rechtmäßig angesehen werden könnte, führt dies nicht zu einer anderen Bewertung, denn es fehlt an jeglichem Vortrag des Beklagten zur Angemessenheit der Anforderung.
71
Der Beklagte hat weder dargetan, welche Sportlehrkräfte er zur Deckung welchen Bedarfs beschäftigt und dass ihm insoweit eine bedarfsgerechte Einsatzplanung durch eine entsprechende Umorganisation nicht möglich ist, noch hat er dazu vorgetragen, ob und mit welchem Ergebnis er geprüft hat, ob und ggf. welche fachdidaktischen Möglichkeiten nach dem aktuellen Stand der Sportwissenschaft zum respektvollen Umgang – auch bezogen auf etwa bestehende Schamgefühle – bestehen und ob bzw. wie diese im Sportunterricht an der von ihm betriebenen Schule umgesetzt werden können. Der Beklagte hat zudem nicht dargetan, ob und ggf. inwiefern geeignete Schülerinnen und Schüler nach sachgerechter Anleitung zu gleichgeschlechtlichen Hilfestellungen und Sicherheitsmaßnahmen herangezogen werden können (vgl. grundsätzlich zu dieser Möglichkeit ua. Niedersachsen, Erlass „Bestimmungen für den Schulsport“ in Kraft seit dem 1. September 2018, Unterpunkt 2.1.4).
72
(b) Der Beklagte dringt auch nicht mit seinem Vorbringen durch, für die zu besetzende Stelle sei eine männliche Sportlehrkraft nicht in Betracht gekommen, weil nur so verhindert werden könne, dass das Schamgefühl der Mädchen verletzt werde, wenn die Sportlehrkraft die Umkleideräume aufsuchen müsse, ohne sich vorher ankündigen zu können, was jederzeit erforderlich sein könne.
73
Der Beklagte hat schon nicht dargetan, dass es einer männlichen Sportlehrkraft nicht möglich wäre, die Umkleideräume entweder erst dann zu betreten, wenn die Schülerinnen diese bereits verlassen haben oder sich zumindest vor einem aus objektiven Gründen erforderlichen Betreten der Umkleideräume durch entsprechendes Anklopfen anzukündigen, um den Schülerinnen Gelegenheit zum Ankleiden zu geben. Er hat auch nicht dargetan, dass und warum er sich außerstande sieht, den Sportlehrkräften eine entsprechende Anweisung zu erteilen. Dass in akuten Notfällen bei Gefahr für Leib oder Leben das Betreten der Umkleideräume von Schülerinnen durch jede anwesende und zur Hilfeleistung verpflichtete Person, darunter auch eine männliche Sportlehrkraft, unter erleichterten Bedingungen möglich sein und ggf. ein Recht von Schülerinnen, nicht in ihrem Schamgefühl verletzt zu werden, zeitweise zurücktreten muss, versteht sich von selbst. Nichts anderes gilt im Übrigen beim „geschlechtsspezifisch“ erteilten Sportunterricht im Hinblick auf das Schamgefühl von Schülern, sofern weibliche Sportlehrkräfte die Umkleideräume betreten müssen. Im Übrigen hat der Beklagte auch keine objektiven Umstände bzw. Analysen dargetan, aus denen sich anderes ergibt. Aus alledem folgt, dass der Beklagte auch aus dem Urteil des Senats vom 28. Mai 2009 (- 8 AZR 536/08 – BAGE 131, 86), das im Übrigen einen nicht vergleichbaren Sachverhalt betraf, nichts zu seinen Gunsten ableiten kann.
74
Darüber hinaus ist das Vorbringen des Beklagten auch in sich nicht schlüssig. Auf der einen Seite beruft er sich – wie unter Rn. 15 ausgeführt – darauf, die berufliche Anforderung der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht sei deshalb erforderlich, weil die Sportlehrkraft im Rahmen der Ausübung ihrer Aufsichtspflicht, aber auch in Notfällen, die Umkleideräume der Schülerinnen betreten müsse. Auf der anderen Seite sieht sich der Beklagte an die Vorgaben des Lehrplans PLUS und des Kontaktbriefs 2010 gebunden, nach dem allerdings bereits der Differenzierte Sportunterricht in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 mit Ausnahme bestimmter Sportarten in der Regel koedukativ und der Sportunterricht in den Jahrgangsstufen 11 und 12 nur in bestimmten sportlichen Handlungsfeldern nicht koedukativ erteilt werden kann. In all den Fällen des koedukativ durchgeführten Sportunterrichts kann es aber erforderlich werden, dass die Sportlehrkraft unter Umständen die Umkleideräume auch der Schülerinnen und Schüler des anderen Geschlechts betreten muss. Davon, dass bei Einhaltung des insoweit gebotenen Verfahrens das Schamgefühl der Schülerinnen oder Schüler in einer relevanten Weise beeinträchtigt werden könnte, gehen indes weder der Lehrplan PLUS noch der Kontaktbrief 2010 aus.
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V. Dem Entschädigungsverlangen des Klägers steht – entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten – nicht der durchgreifende rechtshindernde Einwand des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) entgegen (zu den strengen Vorgaben vgl. BAG etwa 25. Oktober 2018 – 8 AZR 562/16 – Rn. 46 ff. mwN). Der Beklagte, dem die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen obliegt, die den Einwand des Rechtsmissbrauchs begründen (vgl. BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 562/16 – Rn. 48 mwN), kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, der Kläger habe sich bei ihm nicht mit dem Ziel einer Einstellung beworben, sondern ihm sei es nur darum gegangen, eine Entschädigung zu erhalten. Allein aus dem insoweit vom Beklagten angeführten Umstand, dass der Kläger sich auf eine von einer anderen Schule ausgeschriebene Stelle einer Sportlehrerin beworben und nach einer Absage ein auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gerichtetes Klageverfahren geführt hat, kann nicht bereits auf Rechtsmissbrauch geschlossen werden (vgl. ebenso BAG 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 50, BAGE 155, 149, zu einer Vielzahl erfolgloser Bewerbungen und mehrerer Entschädigungsprozesse).
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C. Aufgrund der vom Landesarbeitsgericht bislang getroffenen Feststellungen kann der Senat nicht abschließend beurteilen, in welcher Höhe die Klage begründet ist; den Parteien ist zudem Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dafür gibt der Senat die folgenden Hinweise:
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I. Bei der Beurteilung der angemessenen Höhe der festzusetzenden Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls wird das Landesarbeitsgericht zu beachten haben, dass die Entschädigung einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz gewährleisten muss. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 63 mwN; BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 161). Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht gerecht (EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 25; BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 111, BAGE 164, 117).
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II. Das Landesarbeitsgericht wird zudem zu berücksichtigen haben, dass es sich bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmten Grenze, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, was von dem Beklagten darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen wäre (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 102), um eine „Kappungsgrenze“ handelt, weshalb vom Tatsachenrichter zunächst die Höhe einer angemessenen und der Höhe nach nicht begrenzten Entschädigung zu ermitteln und diese dann, wenn sie drei Monatsentgelte übersteigen sollte, zu kappen ist (vgl. BAG 19. August 2010 – 8 AZR 530/09 – Rn. 66 mwN). Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 22. April 1997 (- C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 35) im Hinblick auf die Bestimmung einer angemessenen Entschädigung eine Anknüpfung an die auf der ausgeschriebenen Stelle zu erwartende Bruttomonatsvergütung grundsätzlich gebilligt hat.
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1. Insoweit, dh. im Hinblick auf die Bestimmung der angemessenen Entschädigung, wird das Landesarbeitsgericht allerdings noch Feststellungen darüber zu treffen haben, ob es sich bei der ausgeschriebenen Stelle um eine Vollzeitstelle oder eine Teilzeitstelle – mit welchem Stundendeputat im Verhältnis zur Vollzeitstelle – handelte, was unter den Parteien streitig ist. In diesem Zusammenhang wird das Landesarbeitsgericht auch den Text der Ausschreibung zu würdigen haben. Dabei ist es entgegen der Auffassung des Beklagten allerdings nicht von Bedeutung, dass nach der Ausschreibung „die Fächer“ auch „in anderen Kombinationen möglich“ waren, und sich durch die Einstellung einer Lehrkraft auf deren kombinierte Bewerbung hin möglicherweise ergeben hätte, dass Sport nur in Teilzeit mit einem bestimmten Stundendeputat unterrichtet worden wäre. Entscheidend ist insoweit ausschließlich das Stundenkontingent, das sich bei einer Einstellung einer Lehrkraft ergeben hätte, die ausschließlich Sport unterrichtet.
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2. Ebenso wird das Landesarbeitsgericht noch Feststellungen dazu zu treffen haben, welche Bruttomonatsvergütung der Kläger ungefähr verdient hätte, wenn er die ausgeschriebene Stelle als Sportlehrkraft erhalten hätte. Auch hierüber streiten die Parteien. Während der Kläger geltend gemacht hat, der Beklagte vergüte seine Beschäftigten in Anlehnung an den TV-L, weshalb er auf der ausgeschriebenen Stelle ein Bruttomonatsentgelt iHv. ca. 4.500,00 Euro erzielt hätte, hat der Beklagte verschiedene geringere Beträge errechnet, ohne dazu vorzutragen, nach welcher Entgeltordnung er seine Lehrkräfte überhaupt vergütet und was sich daraus grundsätzlich für eine Sportlehrkraft ergibt. Das wird der Beklagte nachzuholen haben, wenn er dem Vorbringen des Klägers substantiiert entgegentreten will.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Wein
Andreas Henniger |
bag_48-20 | 16.12.2020 | 16.12.2020
48/20 - Vergütung von Leiharbeitnehmern
Zur Klärung von Fragen im Zusammenhang mit der Abweichung vom Grundsatz der Gleichstellung von Leiharbeitnehmern und Stammarbeitnehmern durch Tarifvertrag hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.*
Die Klägerin, Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), war von April 2016 bis April 2017 aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags bei der Beklagten, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Sie war einem Unternehmen des Einzelhandels für dessen Auslieferungslager als Kommissioniererin überlassen. Für ihre Tätigkeit erhielt die Klägerin zuletzt einen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto.
Der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.), dessen Mitglied die Beklagte ist, hat mit mehreren Gewerkschaften des DGB – darunter ver.di – Mantel-, Entgeltrahmen- und Entgelttarifverträge geschlossen, die eine Abweichung von dem in § 8 Abs. 1 AÜG verankerten Grundsatz der Gleichstellung vorsehen, insbesondere auch eine geringere Vergütung als diejenige, die Stammarbeitnehmer im Entleihbetrieb erhalten.
Die Klägerin meint, diese Tarifverträge seien mit Unionsrecht (Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG) nicht vereinbar. Mit ihrer Klage hat sie für den Zeitraum Januar bis April 2017 Differenzvergütung unter dem Gesichtspunkt des Equal Pay verlangt und vorgetragen, vergleichbare Stammarbeitnehmer bei der Entleiherin würden nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet und hätten im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto erhalten. Die Beklagte ist dagegen der Auffassung, aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit schulde sie nur die für Leiharbeitnehmer vorgesehene tarifliche Vergütung, Unionsrecht sei nicht verletzt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klage weiter.
Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104/EG sieht vor, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen müssen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären (Grundsatz der Gleichbehandlung). Allerdings gestattet Art. 5 Abs. 3 der genannten Richtlinie den Mitgliedsstaaten, den Sozialpartnern die Möglichkeit einzuräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern beim Arbeitsentgelt und den sonstigen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen. Eine Definition des „Gesamtschutzes“ enthält die Richtlinie nicht, sein Inhalt und die Voraussetzungen für seine „Achtung“ sind im Schrifttum umstritten. Zur Klärung der im Zusammenhang mit der von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG verlangten Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern aufgeworfenen Fragen* hat der Senat entsprechend seiner Verpflichtung aus Art. 267 AEUV den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung ersucht.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16. Dezember 2020 – 5 AZR 143/19 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 7. März 2019 – 5 Sa 230/18 –
* Der genaue Wortlaut der Fragen kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:
1. Wie definiert sich der Begriff des „Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit, umfasst er insbesondere mehr als das, was nationales und Unionsrecht als Schutz für alle Arbeitnehmer zwingend vorgeben?
2. Welche Voraussetzungen und Kriterien müssen erfüllt sein für die Annahme, von dem in Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG festgelegten Grundsatz der Gleichbehandlung abweichende Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern in einem Tarifvertrag seien unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt?
a) Ist die Prüfung der Achtung des Gesamtschutzes – abstrakt – auf die tariflichen Arbeitsbedingungen der unter den Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags fallenden Leiharbeitnehmer bezogen oder ist eine vergleichende, wertende Betrachtung zwischen den tariflichen und den Arbeitsbedingungen geboten, die in dem Unternehmen bestehen, in das die Leiharbeitnehmer überlassen werden (Entleiher)?
b) Verlangt bei einer Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt die in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG vorgegebene Achtung des Gesamtschutzes, dass zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht?
3. Müssen die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern iSd. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG den Sozialpartnern vom nationalen Gesetzgeber vorgegeben werden, wenn er ihnen die Möglichkeit einräumt, Tarifverträge zu schließen, die von dem Gebot der Gleichbehandlung abweichende Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten, und das nationale Tarifsystem Anforderungen vorsieht, die zwischen den Tarifvertragsparteien einen angemessenen Interessenausgleich erwarten lassen (sog. Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen)?
4. Falls die dritte Frage bejaht wird:
a) Ist die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern iSd. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG gewahrt mit gesetzlichen Regelungen, die wie die seit dem 1. April 2017 geltende Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eine Lohnuntergrenze für Leiharbeitnehmer, eine Höchstdauer für die Überlassung an denselben Entleiher, eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt, die Nichtgeltung einer vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden tariflichen Regelung für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern iSd. § 18 Aktiengesetzes bildet, ausgeschieden sind sowie die Verpflichtung des Entleihers, dem Leiharbeitnehmer grundsätzlich unter den gleichen Bedingungen, wie sie für Stammarbeitnehmer gelten, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten (wie insbesondere Kinderbetreuungseinrichtungen, Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmittel), zu gewähren, vorsehen?
b) Falls dies bejaht wird:
Gilt das auch dann, wenn in entsprechenden gesetzlichen Regelungen wie in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt nicht vorgesehen ist und das Erfordernis, dass die Überlassung nur „vorübergehend“ sein darf, zeitlich nicht konkretisiert wird?
5. Falls die dritte Frage verneint wird:
Dürfen die nationalen Gerichte bei vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern durch Tarifverträge gemäß Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG diese Tarifverträge ohne Einschränkung daraufhin überprüfen, ob die Abweichungen unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt sind oder gebieten Art. 28 GRC und/oder der Hinweis auf die „Autonomie der Sozialpartner“ im Erwägungsgrund 19 der Richtlinie 2008/104/EG, den Tarifvertragsparteien in Bezug auf die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum einzuräumen und – wenn ja – wie weit reicht dieser?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
2
Die Parteien streiten über eine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung der Leiharbeitnehmer in Bezug auf das Arbeitsentgelt („equal pay“) für die Monate Januar bis April 2017.
3
In diesem Zeitraum war die Klägerin aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags bei der Beklagten, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Sie war einem Unternehmen des Einzelhandels (iF Entleiher) für dessen Auslieferungslager als Kommissioniererin überlassen und erhielt zuletzt einen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto.
4
Die Klägerin ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Beklagte gehört dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.) an. Dieser hat mit mehreren Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) – darunter ver.di – Mantel-, Entgeltrahmen- und Entgelttarifverträge geschlossen, die eine Abweichung von dem in § 8 Abs. 1 AÜG und § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF verankerten Grundsatz der Gleichstellung vorsehen, insbesondere auch eine geringere Vergütung als diejenige, die vergleichbare Stammarbeitnehmer im Entleiherbetrieb erhalten.
5
Mit der vorliegenden Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von insgesamt 1.296,72 Euro brutto als Differenz zwischen der erhaltenen Vergütung und derjenigen, die vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleihers gezahlt worden sein soll. Die Klägerin ist der Auffassung, die Tariföffnung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz sowie die auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge seien mit Art. 5 RL 2008/104/EG nicht vereinbar. Sie hat vorgetragen, vergleichbare Stammarbeitnehmer der Entleiherin würden nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet und hätten im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto erhalten.
6
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit schulde sie nur die für Leiharbeitnehmer vorgesehene tarifliche Vergütung.
7
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klage weiter, während die Beklagte die Zurückweisung der Revision beantragt.
8
B. Rechtlicher Rahmen
9
I. Das einschlägige nationale Recht
10
§ 9 Nr. 2 und § 10 Abs. 4 AÜG in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung bestimmten Folgendes:
„§ 9 Unwirksamkeit
Unwirksam sind:
…
2.
Vereinbarungen, die für den Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an einen Entleiher schlechtere als die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts vorsehen; ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet; im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren; eine abweichende tarifliche Regelung gilt nicht für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern im Sinne des § 18 Aktiengesetzes bildet, ausgeschieden sind,
…
§ 10 Rechtsfolgen bei Unwirksamkeit, Pflichten des Arbeitgebers zur Gewährung von Arbeitsbedingungen
…
(4)
Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Soweit ein auf das Arbeitsverhältnis anzuwendender Tarifvertrag abweichende Regelungen trifft (§ 3 Absatz 1 Nummer 3, § 9 Nummer 2), hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Soweit ein solcher Tarifvertrag die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt zu gewähren. Im Falle der Unwirksamkeit der Vereinbarung zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach § 9 Nummer 2 hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren.“
11
In dem seit dem 1. April 2017 geltenden § 8 AÜG ist nunmehr geregelt:
„§ 8 Grundsatz der Gleichstellung
(1)
Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren (Gleichstellungsgrundsatz). Erhält der Leiharbeitnehmer das für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers im Entleihbetrieb geschuldete tarifvertragliche Arbeitsentgelt oder in Ermangelung eines solchen ein für vergleichbare Arbeitnehmer in der Einsatzbranche geltendes tarifvertragliches Arbeitsentgelt, wird vermutet, dass der Leiharbeitnehmer hinsichtlich des Arbeitsentgelts im Sinne von Satz 1 gleichgestellt ist. Werden im Betrieb des Entleihers Sachbezüge gewährt, kann ein Wertausgleich in Euro erfolgen.
(2)
Ein Tarifvertrag kann vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet. Soweit ein solcher Tarifvertrag vom Gleichstellungsgrundsatz abweicht, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung des Tarifvertrages vereinbaren. Soweit ein solcher Tarifvertrag die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt zu gewähren.
(3)
Eine abweichende tarifliche Regelung im Sinne von Absatz 2 gilt nicht für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern im Sinne des § 18 des Aktiengesetzes bildet, ausgeschieden sind.
(4)
Ein Tarifvertrag im Sinne des Absatzes 2 kann hinsichtlich des Arbeitsentgelts vom Gleichstellungsgrundsatz für die ersten neun Monate einer Überlassung an einen Entleiher abweichen. Eine längere Abweichung durch Tarifvertrag ist nur zulässig, wenn
1.
nach spätestens 15 Monaten einer Überlassung an einen Entleiher mindestens ein Arbeitsentgelt erreicht wird, das in dem Tarifvertrag als gleichwertig mit dem tarifvertraglichen Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer in der Einsatzbranche festgelegt ist, und
2.
nach einer Einarbeitungszeit von längstens sechs Wochen eine stufenweise Heranführung an dieses Arbeitsentgelt erfolgt.
Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen.
(5)
Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer mindestens das in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 für die Zeit der Überlassung und für Zeiten ohne Überlassung festgesetzte Mindeststundenentgelt zu zahlen.“
12
II. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
13
1. Die Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. Nr. L 327 S. 9) lautet auszugsweise:
„…
in Erwägung nachstehender Gründe:
…
(14)
Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Leiharbeitnehmer sollten mindestens denjenigen entsprechen, die für diese Arbeitnehmer gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt würden.
(15)
Unbefristete Arbeitsverträge sind die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses. Im Falle von Arbeitnehmern, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen geschlossen haben, sollte angesichts des hierdurch gegebenen besonderen Schutzes die Möglichkeit vorgesehen werden, von den im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln abzuweichen.
(16)
Um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, können die Mitgliedsstaaten den Sozialpartnern gestatten, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sofern das Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer gewahrt bleibt.
(17)
Außerdem sollten die Mitgliedsstaaten unter bestimmten, genau festgelegten Umständen auf der Grundlage einer zwischen den Sozialpartnern auf nationaler Ebene geschlossenen Vereinbarung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in beschränktem Maße abweichen dürfen, sofern ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist.
…
(19)
Die vorliegende Richtlinie beeinträchtigt weder die Autonomie der Sozialpartner, noch sollte sie die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern beeinträchtigen, einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Gemeinschaftsrechts auszuhandeln und zu schließen.
…
Kapitel II. Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen
Artikel 5 Grundsatz der Gleichbehandlung
(1)
Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer entsprechen während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
…
(2)
In Bezug auf das Arbeitsentgelt können die Mitgliedsstaaten nach Anhörung der Sozialpartner die Möglichkeit vorsehen, dass vom Grundsatz des Absatzes 1 abgewichen wird, wenn Leiharbeitnehmer, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen haben, auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden.
(3)
Die Mitgliedsstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedsstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können.
…“
14
2. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Dezember 2007 (ABl. Nr. C 303 S. 1):
„…
Artikel 28 Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.“
15
C. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union
16
Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verpflichtet den Verleiher grundsätzlich, dem Leiharbeitnehmer das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Entleiher vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt („equal pay“). Von diesem Gebot der Gleichstellung erlaubt das AÜG ein Abweichen durch Tarifvertrag, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, § 8 Abs. 2 Satz 1 AÜG, § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG aF. Dies hat zur Folge, dass der Verleiher dem Leiharbeitnehmer lediglich das tariflich vorgesehene Arbeitsentgelt gewähren muss, § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG, § 10 Abs. 4 Satz 2 AÜG aF. Nur wenn dieses die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindestentgelte unterschreitet, muss der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt gewähren, § 8 Abs. 2 Satz 4 AÜG, § 10 Abs. 4 Satz 3 AÜG aF.
17
I. Davon ausgehend könnte die Klägerin für die Dauer ihrer Überlassung an den Entleiher keine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt des equal pay beanspruchen. Ihre Klage wäre unbegründet und ihre Revision zurückzuweisen.
18
1. Nach deutschem Tarifrecht sind die Klägerin und die Beklagte kraft ihrer Mitgliedschaft in den tarifschließenden Verbänden an die von diesen für die Leiharbeitsbranche geschlossenen Tarifverträge mit unmittelbarer und zwingender Wirkung gebunden, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Diese vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge sind – zumindest soweit sie auf Arbeitnehmerseite von der Gewerkschaft ver.di geschlossen wurden – wirksam.
19
a) Die Parteien der auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge für die Leiharbeitsbranche – nämlich der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.) und die in den jeweiligen Tarifverträgen namentlich aufgeführten Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), darunter ver.di – sind tariffähig (vgl. – zur Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung – BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 67 mwN, BAGE 136, 302). Das steht zwischen den Parteien auch außer Streit.
20
b) Der iGZ e.V. und die Gewerkschaft ver.di sind für die Leiharbeitsbranche tarifzuständig. Ob alle weiteren an den Tarifabschlüssen beteiligten Gewerkschaften ebenfalls für die Leiharbeitsbranchen tarifzuständig sind bzw. im maßgeblichen Zeitpunkt waren, kann als nicht entscheidungserheblich dahingestellt bleiben. Denn bei den fraglichen Tarifverträgen handelt es sich um sog. mehrgliedrige Tarifverträge im engeren Sinne, bei denen lediglich mehrere – in der Regel gleichlautende – Tarifverträge in einer Urkunde zusammengefasst sind. Im Streitfall ist es deshalb ausreichend, dass die für das Leiharbeitsverhältnis der Parteien einschlägigen Tarifverträge zwischen dem iGZ e.V. und ver.di wirksam sind, weil ver.di jedenfalls seit ihrer Satzungsänderung 2009 für die gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung tarifzuständig ist. Soweit einer anderen am mehrgliedrigen Tarifvertrag im engeren Sinne beteiligten Gewerkschaft die Tarifzuständigkeit fehlen sollte, bedingt dies nur die Unwirksamkeit des von ihr abgeschlossenen Tarifvertrags, hat aber keine Auswirkungen auf die zwischen den anderen Tarifvertragsparteien geschlossenen Tarifverträge.
21
Anders wäre es nur, wenn die auf das Leiharbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findenden Tarifverträge als sog. Einheitstarifverträge einzuordnen wären. Dann müsste jede am Tarifvertrag beteiligte Gewerkschaft für die Leiharbeitsbranche tarifzuständig sein (vgl. – zur Tariffähigkeit – BAG 15. November 2006 – 10 AZR 665/05 – Rn. 24, BAGE 120, 182). Denn es wäre mit dem Wesen der Tarifautonomie nicht vereinbar, wenn eine nicht tarifzuständige Gewerkschaft an Verhandlung und Abschluss eines Tarifvertrags mitwirken und diesen möglicherweise wesentlich (mit-)gestalten könnte (ebenso in Bezug auf das Erfordernis der Tariffähigkeit der Mitglieder einer Spitzenorganisation iSv. § 2 Abs. 2 TVG zum Abschluss von Tarifverträgen BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 74, BAGE 136, 302). Für die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten Einheitstarifverträge schließen wollen, fehlt es jedoch an hinreichend deutlichen Anhaltspunkten. Deshalb verbleibt es bei der Auslegungsregel, dass die auf einer Seite beteiligten Tarifvertragsparteien sich grundsätzlich ihrer jeweils autonomen Tarifmacht nicht begeben, sondern voneinander unabhängige, eigenständige Tarifverträge schließen wollen, von denen sie sich ohne Rücksicht auf die übrigen Beteiligten auch wieder lösen können (vgl. BAG 29. Juni 2004 – 1 AZR 143/03 – zu III 4 b aa der Gründe; 8. November 2006 – 4 AZR 590/05 – Rn. 23, BAGE 120, 84; 7. Mai 2008 – 4 AZR 229/07 – Rn. 20).
22
c) Eine Tarifkollision im Betrieb der Beklagten aufgrund der mehrgliedrigen Tarifverträge im engeren Sinne bestand nicht, weil alle in Betracht kommenden Tarifverträge von Anfang an und jedenfalls bis zum Ende des Streitzeitraums inhaltsgleich waren, § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG.
23
2. Die vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge unterschritten nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte, § 8 Abs. 1 Satz 1 AÜG, § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG aF. Im Streitzeitraum existierten solche nicht. Die am 31. Dezember 2016 außer Kraft getretene Zweite Verordnung über eine Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung sah zuletzt für die „alten“ Bundesländer ein Mindeststundenentgelt von 9,00 Euro brutto vor. Die am 1. Juni 2017 in Kraft getretene Dritte Verordnung über eine Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung legte ab diesem Zeitpunkt in den „alten“ Bundesländern ein Mindeststundenentgelt von 9,23 Euro brutto fest. Beide Grenzen unterschritt der für das Leiharbeitsverhältnis und den Streitzeitraum maßgebliche Entgelttarifvertrag Zeitarbeit in der Fassung vom 30. November 2016 nicht.
24
II. Wäre hingegen die nationale Regelung der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag – wie die Klägerin geltend macht – mit Unionsrecht nicht vereinbar, könnte der Klägerin für die Dauer ihrer Überlassung an den Entleiher – soweit ein möglicher Anspruch für die Monate Januar und Februar 2017 nicht nach einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfristenregelung verfallen ist (vgl. BAG 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 36 ff., BAGE 144, 306, st. Rspr., zuletzt BAG 16. Dezember 2020 – 5 AZR 22/19 – Rn. 11 ff.) – eine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt des equal pay zustehen mit der Folge, dass ihre Klage zumindest teilweise begründet und ihrer Revision insoweit stattzugeben wäre.
25
1. Fehlte es an einer wirksamen Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz, wäre die Beklagte verpflichtet, der Klägerin für die Dauer der Überlassung an den Entleiher das Arbeitsentgelt zu gewähren, das ein vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihers im Streitzeitraum erhielt. Nach nationalem Verständnis ist der Anspruch des Leiharbeitnehmers auf gleiches Arbeitsentgelt ein die vertragliche Vergütungsabrede korrigierender gesetzlicher Entgeltanspruch, der mit jeder Überlassung entsteht und jeweils für die Dauer der Überlassung besteht (st. Rspr. seit BAG 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 – Rn. 42, BAGE 144, 306).
26
2. Zur Höhe des Anspruchs auf gleiches Arbeitsentgelt hat die dafür nach allgemeinen Grundsätzen darlegungs- und beweispflichtige Klägerin (vgl. BAG 13. März 2013 – 5 AZR 146/12 – Rn. 21, seither st. Rspr.; HWK/Höpfner 9. Aufl. § 8 AÜG Rn. 17; Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 82, 86; MüKoBGB/Spinner 8. Aufl. § 611a Rn. 1202; Greiner in Thüsing AÜG 4. Aufl. § 8 Rn. 38) schlüssig und unter Beweisantritt dargelegt, dass vergleichbare Stammarbeitnehmer für dieselbe Tätigkeit im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto erhielten. Dürfte die Beklagte nicht vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, wäre sie nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AÜG, § 10 Abs. 4 Satz 1 und Satz 4 AÜG aF verpflichtet, der Klägerin für die von dieser beim Entleiher geleisteten Arbeitsstunden die entsprechende Differenz nachzuzahlen.
27
3. Die Beklagte hat die von der Klägerin behauptete Höhe der Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer mit Nichtwissen bestritten. Sollte die Beklagte vom Gleichstellungsgrundsatz nicht abweichen dürfen, wären deshalb in einem erneuten Berufungsverfahren die von der Klägerin insoweit angebotenen Beweise zu erheben. Dies betrifft jedoch nur die mögliche Höhe einer weiteren Vergütung. Für den Grund des geltend gemachten Anspruchs kommt es maßgeblich auf nur vom Gerichtshof der Europäischen Union zu klärende Fragen insbesondere zur Auslegung von Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG an. Diese sind somit entscheidungserheblich (vgl. EuGH 14. Oktober 2020 – C- 681/18 – Rn. 33 ff. mwN).
28
D. Erläuterung der Vorlagefragen
29
Zur Frage 1.
30
Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG, von dem der nationale Gesetzgeber bei der innerstaatlichen Regelung der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge Gebrauch gemacht hat (vgl. BT-Drs. 17/4804 S. 9), gestattet den Sozialpartnern Abweichungen von den in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“. Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sind in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2008/104/EG definiert. Unter welchen Voraussetzungen der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen als ausreichend geachtet angesehen werden kann, ist der Richtlinie nicht zu entnehmen. Der Erwägungsgrund 16 verlangt, dass das Gesamtschutzniveau gewahrt bleibt, um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, gibt aber keinerlei Anhaltspunkte für die hieran zu stellenden Anforderungen. Im deutschen Schrifttum werden hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten (vgl. nur ErfK/Wank 21. Aufl. § 8 AÜG Rn. 32 f.; Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 138; Greiner in Thüsing AÜG 4. Aufl. § 8 Rn. 43 ff.; Preis/Sagan/Sansone Europäisches Arbeitsrecht 2. Aufl. § 12 Rn. 12.77 ff.; EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 20 ff., jeweils mwN). Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob der „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ gleichzustellen ist mit dem Schutz, den nationales und Unionsrecht grundsätzlich für alle Arbeitnehmer unabhängig davon, ob sie Stamm- oder Leiharbeitnehmer sind, zwingend vorsehen (zB Kündigungsschutz, Mutterschutz, Mindestlohn, Entgeltfortzahlung in bestimmten Fällen, Arbeitszeitschutz, Besondere Anforderungen an Befristungen, Schwerbehindertenschutz etc.) oder die Richtlinie mit dem „Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer“ (so die Formulierung im Erwägungsgrund Nr. 16 zur Richtlinie) mehr umfasst, etwa auf einen spezifischen Sonderschutz für Leiharbeitnehmer zielt. Inwieweit tarifvertraglich vereinbarte Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, ist Gegenstand der Frage 5.
31
Zur Frage 2.
32
Schließen die Sozialpartner Tarifverträge, die Regelungen enthalten, die in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern vom Grundsatz der Gleichbehandlung iSd. Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG abweichen, bedarf es der Klärung, welche Voraussetzungen und Kriterien erfüllt sein müssen für die Annahme, die Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung seien unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt.
33
a) Dabei stellt sich zum einen die Frage nach dem Maßstab: Ist allein abzustellen auf die durch einen solchen Tarifvertrag geregelten Arbeitsbedingungen der betroffenen Leiharbeitnehmer und zu prüfen, ob diese einen – wie auch immer gearteten – Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer achten? Oder müssen für die Beurteilung, ob die Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung durch Tarifvertrag unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgte, die (wesentlichen) Arbeitsbedingungen, die in dem entleihenden Unternehmen für die Stammarbeitnehmer, also die unmittelbar von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellten Arbeitnehmer, gelten, in einer wertenden Betrachtung mit einbezogen werden?
34
b) In Erwägungsgrund 15 zur Richtlinie 2008/104/EG heißt es, unbefristete Arbeitsverträge seien die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses und gäben einen „besonderen Schutz“. Vor diesem Hintergrund stellt sich zum anderen die Frage, ob die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern iSd. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG auch verlangt, dass – ähnlich wie in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehen – eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt nur möglich ist, wenn zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht (so EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 14), oder eine Abweichung auch in befristeten Arbeitsverhältnissen möglich ist (Preis/Sagan/Sansone Europäisches Arbeitsrecht 2. Aufl. § 12 Rn. 12.76 mwN). Für die letztgenannte Auffassung könnte sprechen, dass in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG, anders als in deren Abs. 2, keine Beschränkung auf unbefristete Arbeitsverhältnisse enthalten und als zusätzliches Regulativ die Achtung des Gesamtschutzes vorgesehen ist.
35
Zur Frage 3.
36
Der deutsche Gesetzgeber hat beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von der von Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG eröffneten Möglichkeit zur Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung Gebrauch gemacht (vgl. BT-Drs. 17/4804 S. 9). Es erschließt sich indes – auch unter Berücksichtigung von Erwägungsgrund 19 zur Richtlinie, nach dem die Autonomie der Sozialpartner nicht beeinträchtigt werden soll – nicht mit ausreichender Klarheit aus der Richtlinie selbst, ob der nationale Gesetzgeber in einem solchen Falle den Sozialpartnern die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern bei der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung vorgeben muss oder es Sache der Sozialpartner ist, bei Abschluss entsprechender Tarifverträge für die Leiharbeitsbranche für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern zu sorgen (hierfür offenbar Preis/Sagan/Sansone Europäisches Arbeitsrecht 2. Aufl. § 12 Rn. 12.80; EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 22).
37
Letzteres würde dem Erwägungsgrund 19 der Richtlinie 2008/104/EG Rechnung tragen, wonach die Richtlinie weder die Autonomie der Sozialpartner noch die Beziehungen zwischen ihnen beeinträchtigen soll, und zwar einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Gemeinschaftsrechts auszuhandeln und abzuschließen. Dieses Recht ist zudem durch Art. 28 GRC geschützt. Ein solches Verständnis entspräche überdies deutschem Verfassungs- und Tarifrecht. Danach steht Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben außerdem eine Einschätzungsprärogative, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Darüber hinaus verfügen sie über einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung (st. Rspr., vgl. zB BAG 3. Juli 2019 – 10 AZR 300/18 – Rn. 19 mwN). Tarifverträgen kommt nach deutschem Arbeitsrecht grundsätzlich eine Richtigkeitsgewähr zu (so auch ausdrücklich die Regierungsbegründung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung, BT-Drs. 17/4804 S. 9).
38
Zudem stellt das Bundesarbeitsgericht hohe Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung und hat insbesondere mit dem CGZP-Beschluss (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – BAGE 136, 302) einem möglichen Missbrauch der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag mit Hilfe arbeitgebernaher „Arbeitnehmervereinigungen“ “einen Riegel vorgeschoben“. Faktisch kommen damit derzeit im Wesentlichen nur die im Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten, seit Jahrzehnten als tariffähig anerkannten Gewerkschaften als Tarifpartner der Zeitarbeitsbranche in Betracht. Deren Durchsetzungsfähigkeit leidet auch nicht an dem geringen Organisationsgrad der Leiharbeitnehmer, vielmehr sind die Verleiher für Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz geradezu auf sie angewiesen (zutr. Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 138).
39
Zur Frage 4.
40
Bejaht der Gerichtshof die dritte Frage, stellt sich daran anschließend die weitere Frage, ob der deutsche Gesetzgeber mit den im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in der seit dem 1. April 2017 geltenden Fassung getroffenen Regelungen zur Begrenzung der Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung bzw. – in der nationalen Terminologie – Gleichstellungstellungsgrundsatz durch Tarifverträge ausreichend für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern gesorgt hat. In der aktuellen Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sehen § 1 Abs. 1b (Höchstdauer von 18 Monaten für die Überlassung an denselben Entleiher), § 8 Abs. 2 Satz 1 (Lohnuntergrenze aufgrund einer Rechtsverordnung über Mindeststundenentgelte), § 8 Abs. 3 (sog. Drehtürklausel), § 8 Abs. 4 (zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Gebot der Gleichstellung in Bezug auf das Arbeitsentgelt) und § 13b (Zugang des Leiharbeitnehmers zu Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten des Entleihers) die in Frage 4. a) beschriebenen gesetzlichen Beschränkungen der Ungleichbehandlung von Leih- und Stammarbeitnehmern vor. Damit sei – so wird im Schrifttum vielfach angenommen (etwa Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 138; Greiner in Thüsing AÜG 4. Aufl. § 8 Rn. 45; EuArbRK/Rebhahn/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 23, jeweils mwN) – der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern ausreichend gewahrt, zumal sie nach § 1 Abs. 1 und Abs. 3 Mindestlohngesetz (MiLoG) Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben, wenn dieser höher ist als die nach dem AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte.
41
Die Frage 4. b) trägt der – im Ausgangsrechtstreit für einen Teil des Streitzeitraums noch maßgeblichen – bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetztes Rechnung, die eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt sowie eine zeitliche Konkretisierung des Erfordernisses der „vorübergehenden“ Überlassung nicht vorsah.
42
Zur Frage 5.
43
Falls der Gerichtshof die dritte Frage verneint und es (allein) den Sozialpartnern obliegt, bei Abschluss von Tarifverträgen, die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern iSd. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG zu achten, bedarf der Klärung, in welcher Intensität die nationalen Gerichte überprüfen dürfen, ob derartige Tarifverträge den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern ausreichend achten. Aufgrund der sog. Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen räumt das nationale Recht den Tarifvertragsparteien einen weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung einer Regelung ein (vgl. oben Rn. 28), der gerichtlich nur beschränkt überprüfbar ist. Insbesondere sind die Tarifvertragsparteien nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen (st. Rspr., vgl. nur BAG 29. September 2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 47 mwN).
44
Unionsrechtlich könnten der Hinweis auf die „Autonomie der Sozialpartner“ im Erwägungsgrund 19 zur Richtlinie 2008/104/EG und die in Art. 28 GRC geschützte Tarifautonomie für einen erheblichen Beurteilungsspielraum der nationalen Sozialpartner sprechen, zumal deren Recht, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern festzulegen, nach Erwägungsgrund 16 zur Richtlinie 2008/104/EG dazu dient, der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden. Mit Blick auf die Erwägungsgründe 16 und 19 zur Richtlinie 2008/104/EG und auf Art. 28 GRC wird im deutschen Schrifttum mit guten Gründen eine allenfalls sehr eingeschränkte gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit auch solcher Tarifregelungen, die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen, befürwortet (vgl. dazu Hamann/Klengel EuZA 2017, 485, 499 f.; Rieble/Vielmeier EuZA 2011, 474, 498 ff.; Waas ZESAR 2009, 207, 211; Sansone Gleichstellung von Leiharbeitnehmern nach deutschem und Unionsrecht 2011 S. 540 ff.; EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 20 f. mwN). Wie weit ein solcher Beurteilungsspielraum reichen würde, ob er auch in Bezug auf die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern besteht und – wenn ja – wie weit er im Einzelnen der gerichtlichen Kontrolle entzogen ist, erschließt sich aus der Richtlinie 2008/104/EG nicht mit hinreichender Deutlichkeit und ist nicht geklärt.
45
E. Das Revisionsverfahren wird gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Linck
Berger
Biebl
Eberhard
E. Bürger |
bag_5-18 | 31.01.2018 | 31.01.2018
5/18 - Karenzentschädigung - Rücktritt vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot
Bei einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot nach §§ 74 ff. HGB handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag iSd. §§ 320 ff. BGB. Die Karenzentschädigung ist Gegenleistung für die Unterlassung von Konkurrenztätigkeit. Erbringt eine Vertragspartei ihre Leistung nicht, kann die andere Vertragspartei vom Wettbewerbsverbot zurücktreten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (§§ 323 ff. BGB). Ein solcher Rücktritt entfaltet Rechtswirkungen erst für die Zeit nach dem Zugang der Erklärung (ex nunc).
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 1. Februar 2014 als „Beauftragter technische Leitung“ zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt 6.747,20 Euro beschäftigt. Im Arbeitsvertrag der Parteien war für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein dreimonatiges Wettbewerbsverbot vereinbart worden. Hierfür sollte der Kläger eine Karenzentschädigung iHv. 50 % der monatlich zuletzt bezogenen durchschnittlichen Bezüge erhalten. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund der Eigenkündigung des Klägers zum 31. Januar 2016. Mit E-Mail vom 1. März 2016 forderte der Kläger die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 4. März 2016 vergeblich zur Zahlung der Karenzentschädigung für den Monat Februar 2016 auf. Am 8. März 2016 übermittelte der Kläger an die Beklagte eine weitere E-Mail. Hierin heißt es ua.:
„Bezugnehmend auf Ihre E-Mail vom 1. März 2016 sowie das Telefonat mit Herrn B. möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich mich ab sofort nicht mehr an das Wettbewerbsverbot gebunden fühle.“
Mit seiner Klage macht der Kläger die Zahlung einer Karenzentschädigung iHv. 10.120,80 Euro brutto nebst Zinsen für drei Monate geltend. Er vertritt die Auffassung, sich nicht einseitig vom Wettbewerbsverbot losgesagt zu haben. Die Erklärung in der E-Mail vom 8. März 2016 sei lediglich eine Trotzreaktion gewesen. Die Beklagte meint, durch die E-Mail vom 8. März 2016 habe der Kläger wirksam seinen Rücktritt erklärt. Das Arbeitsgericht hat der Klage vollständig stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil teilweise abgeändert und einen Anspruch auf Karenzentschädigung nur für die Zeit vom 1. Februar bis zum 8. März 2016 zugesprochen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Die Revision des Klägers hatte vor dem Zehnten Senat keinen Erfolg. Da es sich beim nachvertraglichen Wettbewerbsverbot um einen gegenseitigen Vertrag handelt, finden die allgemeinen Bestimmungen über den Rücktritt (§§ 323 ff. BGB) Anwendung. Die Karenzentschädigung ist Gegenleistung für die Unterlassung von Konkurrenztätigkeit. Erbringt eine Vertragspartei ihre Leistung nicht, kann die andere Vertragspartei vom Wettbewerbsverbot zurücktreten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Ein Rücktritt wirkt dabei ex nunc, dh. für die Zeit nach dem Zugang der Erklärung entfallen die wechselseitigen Pflichten. Die Beklagte hat die vereinbarte Karenzentschädigung nicht gezahlt, der Kläger war deshalb zum Rücktritt berechtigt. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe mit seiner E-Mail vom 8. März 2016 wirksam den Rücktritt vom Wettbewerbsverbot erklärt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Damit steht ihm für die Zeit ab dem 9. März 2016 keine Karenzentschädigung zu.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 31. Januar 2018 – 10 AZR 392/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Nürnberg
Urteil vom 24. Mai 2017 – 4 Sa 564/16 – | Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 24. Mai 2017 – 4 Sa 564/16 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Die Bestimmungen über das gesetzliche Rücktrittsrecht der §§ 323 ff. BGB finden nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf die in § 110 GewO, §§ 74 ff. HGB geregelten nachvertraglichen Wettbewerbsverbote Anwendung. § 314 BGB steht dem nicht entgegen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Zahlung einer Karenzentschädigung.
2
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 1. Februar 2014 als „Beauftragter technische Leitung“ zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt 6.747,20 Euro beschäftigt.
3
Der Arbeitsvertrag der Parteien vom 12. Dezember 2013 lautet auszugsweise:
„IX.
Wettbewerbsverbot
Geltungsbereich
(a)
Der Arbeitnehmer verpflichtet sich, für die Dauer von 3 Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses in selbständiger, unselbständiger oder sonstiger Weise für kein Unternehmen tätig zu werden, das mit den Firmen der G-Gruppe in direktem oder indirektem Wettbewerb steht oder mit einem Wettbewerbsunternehmen verbunden ist. In gleicher Weise ist es dem Arbeitnehmer untersagt, während der Dauer dieses Verbotes ein solches Unternehmen zu errichten, zu erwerben oder sich hieran zu beteiligen. Das Wettbewerbsverbot gilt auch zu Gunsten der mit dem Arbeitgeber verbundenen Unternehmen.
…
Karenzentschädigung
(a)
Für die Dauer des Wettbewerbsverbots verpflichtet sich die Firma, dem Arbeitnehmer monatlich für diese Zeit eine Entschädigung in der Höhe von 50 % der monatlich zuletzt bezogenen durchschnittlichen Bezüge zu zahlen.
(b)
Die Karenzentschädigung ist am Schluss des jeweiligen Monats fällig.
(c)
Auf die fällige Entschädigung wird alles angerechnet, was der Arbeitnehmer während der Dauer des Wettbewerbsverbots durch anderweitige Verwertung seiner Arbeitskraft erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt, soweit dieser Verdienst und die Entschädigung zusammengerechnet die bisherigen Bezüge um 10 % übersteigen. Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer zwischenzeitlich Arbeitslosenunterstützung erhält.“
4
Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund ordentlicher Kündigung des Klägers zum 31. Januar 2016. Der Kläger bezog ab dem 1. Februar 2016 Arbeitslosengeld in Höhe von 82,74 Euro kalendertäglich.
5
Die Beklagte zahlte an den Kläger trotz Wettbewerbsenthaltung keine Karenzentschädigung. Mit E-Mail vom 1. März 2016 forderte der Kläger die Beklagte zur Auszahlung der Karenzentschädigung für den Monat Februar auf. In der E-Mail heißt es in Auszügen (Schreibweise im Original):
„Ich bitte Sie höflichste dies aussehende Karenzentschädigung laut Vertrag bis zum spätestens 04. März 2016 auf dass Ihnen bekannte sowie unten nochmals genante Konto zu überweisen.“
6
Unter dem 8. März 2016 schrieb der Kläger an die Beklagte per E-Mail auszugsweise (wörtliche Schreibweise):
„Guten Abend Herr M,
bezugnehmend auf Ihre E-Mail vom 01.03.16 sowie das Telefonat mit Herrn B möchte ich Ihnen mitteilen, dass Ich mich ab sofort nicht mehr an da Wettbewerbsverbot gebunden fülle.
Der abgeschlossene Arbeitsvertrag vom 12.12.2013 zwischen der G AG und meiner Person ist Bestandteil meiner E-mail vom 01.03.2015 und der damit nicht eingehaltenen Karenzentschädigung.“
7
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe eine Karenzentschädigung für drei Monate zu, weil er sich an die Bestimmungen des nachvertraglichen Wettbewerbsverbots gehalten und im maßgeblichen Zeitraum nur Arbeitslosengeld bezogen habe. Bei seiner E-Mail vom 8. März 2016 habe es sich lediglich um eine „Trotzreaktion“ ohne Rechtsbindungswillen gehandelt, die die Beklagte dazu habe bewegen sollen, endlich die Karenzentschädigung auszuzahlen. Er habe nie die Absicht gehabt, vom Wettbewerbsverbot zurückzutreten, und auch in der Folgezeit keinen Wettbewerb ausgeübt. Im Übrigen verstoße die Beklagte gegen die Grundsätze von Treu und Glauben, wenn sie sich einerseits weigere, die Karenzentschädigung zu zahlen, und sich andererseits auf einen angeblichen Rücktritt berufe.
8
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 10.120,80 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz in gestaffelter Höhe zu zahlen.
9
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger sei wirksam vom vereinbarten Wettbewerbsverbot zurückgetreten. Damit entfalle sein Anspruch auf eine Karenzentschädigung.
10
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und die Klage für den Zeitraum vom 9. März bis zum 30. April 2016 abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht nur für den Kläger zugelassenen Revision begehrt dieser die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
11
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
12
I. Die Klage ist, soweit sie in die Revision gelangt ist, unbegründet. Der Kläger hat für den Zeitraum vom 9. März bis zum 30. April 2016 keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer Karenzentschädigung aus Ziff. IX seines Arbeitsvertrags iVm. § 110 Satz 2 GewO, § 74b Abs. 1 HGB. Er ist durch Erklärung vom 8. März 2016 wirksam nach § 323 Abs. 1, § 349 BGB vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot zurückgetreten. Hiervon geht das Landesarbeitsgericht ohne Rechtsfehler aus.
13
1. Die Parteien haben gemäß § 110 GewO, §§ 74 ff. HGB durch Ziff. IX des Arbeitsvertrags eine Vereinbarung über ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot getroffen. Diese ist jedenfalls nicht nichtig (vgl. dazu BAG 22. März 2017 – 10 AZR 448/15 – Rn. 22 f., BAGE 158, 329), weil das gesetzliche Schriftformerfordernis eingehalten wurde (§ 74 Abs. 1 HGB) und die Zahlung einer Karenzentschädigung nach § 74 Abs. 2 HGB vorgesehen ist. Der Senat braucht nicht darüber zu befinden, ob das Wettbewerbsverbot anfänglich verbindlich war. Das ist zweifelhaft. Die in Ziff. IX Abschnitt Karenzentschädigung Buchst. c Satz 2 des Arbeitsvertrags vorgesehene Anrechnung von Arbeitslosengeld verstößt möglicherweise gegen § 74c Abs. 1 Satz 1 HGB. Die Karenzentschädigung könnte unter bestimmten Umständen nicht die gesetzlich vorgesehene Höhe erreichen. Der Senat hat diese Frage bisher offengelassen (BAG 14. September 2011 – 10 AZR 198/10 – Rn. 14 ff.). Sie muss auch hier nicht beantwortet werden. Der Kläger hat sich dazu entschieden, das Wettbewerbsverbot einzuhalten. Es ist jedenfalls dadurch verbindlich geworden (st. Rspr., zuletzt BAG 22. März 2017 – 10 AZR 448/15 – Rn. 24 mwN, aaO).
14
2. Der Kläger ist jedoch durch Erklärung vom 8. März 2016 nach § 323 Abs. 1 iVm. Abs. 2, § 349 BGB wirksam vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot zurückgetreten.
15
a) Voraussetzungen für einen Rücktritt nach § 323 Abs. 1 BGB sind, dass der Schuldner bei einem gegenseitigen Vertrag eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß erbringt und der Gläubiger dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat. Die Fristsetzung ist nach § 323 Abs. 2 BGB unter bestimmten Voraussetzungen entbehrlich.
16
b) Die Bestimmungen über gesetzliche Rücktrittsrechte der §§ 323 ff. BGB sind nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf verbindliche nachvertragliche Wettbewerbsverbote anwendbar.
17
aa) Bei einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot nach § 110 GewO, §§ 74 ff. HGB handelt es sich um einen gegenseitigen Vertrag iSd. §§ 320 ff. BGB. Im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen die vom Arbeitnehmer geschuldete Unterlassung des Wettbewerbs und die vom Arbeitgeber geschuldete Zahlung der Karenzentschädigung zum Ausgleich des Nachteils, der dem Arbeitnehmer durch die Einschränkung seines Erwerbslebens entsteht (st. Rspr., zuletzt BAG 22. März 2017 – 10 AZR 448/15 – Rn. 17, BAGE 158, 329; 7. Juli 2015 – 10 AZR 260/14 – Rn. 29, BAGE 152, 99). Dies gilt unabhängig davon, ob die Vereinbarung über das Wettbewerbsverbot unmittelbar Bestandteil des Arbeitsvertrags ist oder in einer gesonderten Vereinbarung getroffen wird; das Pflichtengefüge ändert sich dadurch nicht.
18
bb) Die Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen über den Rücktritt ist nicht durch speziellere Vorschriften des HGB ausgeschlossen. Die von §§ 75, 75a HGB vorgesehenen einseitigen Lösungsmöglichkeiten vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot betreffen keine Fallgestaltungen, in denen eine Partei nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Pflichten aus einem verbindlichen Wettbewerbsverbot verletzt (vgl. zu § 75 HGB zB BAG 15. Januar 2014 – 10 AZR 243/13 – Rn. 27 f., BAGE 147, 128).
19
cc) Bereits zur Rechtslage vor der Schuldrechtsreform ist die Rechtsprechung davon ausgegangen, dass der Arbeitnehmer (BAG 5. Oktober 1982 – 3 AZR 451/80 – zu II 2 b der Gründe; 2. August 1968 – 3 AZR 128/67 – zu IV 3 der Gründe) oder der Arbeitgeber (BAG 10. September 1985 – 3 AZR 490/83 – zu II 3 b der Gründe) von einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot nach den damaligen gesetzlichen Bestimmungen zurücktreten konnte, wenn die andere Vertragspartei ihre Pflicht zur Zahlung der Karenzentschädigung bzw. zur Wettbewerbsenthaltung verletzt hatte. Von einem solchen Rücktrittsrecht geht das Schrifttum übereinstimmend auch für die Rechtslage nach der Schuldrechtsreform aus (vgl. zB Bauer/Diller NJW 2002, 1609, 1612; ErfK/Oetker 18. Aufl. § 74 HGB Rn. 21, 23; Heuschmid in Kittner/Zwanziger/Deinert/Heuschmid 9. Aufl. § 91 Rn. 41, 75; MüKoHGB/von Hoyningen-Huene 4. Aufl. § 74 Rn. 61, 67; Oetker/Kotzian-Marggraf HGB 5. Aufl. § 74 Rn. 31 f.; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 55 Rn. 31 f.). Dem schließt sich der Senat an.
20
dd) § 314 BGB steht der Anwendung der gesetzlichen Vorschriften über den Rücktritt nicht entgegen.
21
(1) Nach § 314 Abs. 1 BGB kann jeder Vertragsteil bei Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund kündigen. Dieser Bestimmung kommt insbesondere wegen der Schwierigkeiten einer Rückabwicklung bei in Vollzug gesetzten Dauerschuldverhältnissen regelmäßig – aber nicht ausnahmslos – ein Anwendungsvorrang gegenüber den Rücktrittsregeln zu (Erman/Böttcher BGB 15. Aufl. § 314 Rn. 18; MüKoBGB/Gaier 7. Aufl. § 314 Rn. 3). So scheidet ein Rücktritt vom Arbeitsverhältnis generell aus (zB KR/Fischermeier 11. Aufl. § 626 BGB Rn. 41 mwN; vgl. auch BAG 11. Dezember 2003 – 2 AZR 667/02 – zu B III 2 c, d der Gründe, BAGE 109, 87 zur alten Rechtslage).
22
(2) Auch wenn es sich beim nachvertraglichen Wettbewerbsverbot um ein Dauerschuldverhältnis handelt (Erman/Böttcher BGB § 314 Rn. 3b; MAH ArbR/Reinfeld 4. Aufl. § 32 Rn. 166), ist hierfür kein solcher Vorrang anzunehmen. Eine ausdrückliche gesetzliche Konkurrenzregelung fehlt (MüKoBGB/Ernst § 323 Rn. 35 f.). Im Hinblick auf das enge, durch die §§ 74 ff. HGB vorgegebene Pflichtengefüge (vgl. Palandt/Grüneberg 77. Aufl. § 314 Rn. 4), die zeitliche Begrenztheit der Wirkung des Wettbewerbsverbots, die Bedeutung für die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers einerseits (vgl. BAG 22. März 2017 – 10 AZR 448/15 – Rn. 19, BAGE 158, 329) und die ggf. weitreichende wirtschaftliche Bedeutung für den Arbeitgeber andererseits gibt es keinen Grund dafür, das Lösungsrecht einer Partei bei einer Pflichtverletzung der anderen Vertragspartei davon abhängig zu machen, dass ein wichtiger Grund besteht (im Ergebnis ebenso zB Bauer/Diller NJW 2002, 1609, 1610 ff.; Boecken in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn 3. Aufl. HGB § 74 Rn. 58, 60; Heuschmid in Kittner/Zwanziger/Deinert/Heuschmid § 91 Rn. 41, 75; MüKoHGB/von Hoyningen-Huene § 74 Rn. 61, 67; Oetker/Kotzian-Marggraf HGB § 74 Rn. 31 f.; ErfK/Oetker § 74 HGB Rn. 21, 23; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang § 55 Rn. 31 f.; aA zur früheren Rechtslage Grunsky Freundesgabe für Söllner S. 41, 44: Vorrang der Kündigung; offengelassen von Wagner in Röhricht/Graf v. Westphalen/Haas HGB 4. Aufl. § 74b Rn. 7). §§ 74 ff. HGB enthalten ein in sich geschlossenes Regelungssystem für nachvertragliche Wettbewerbsverbote, das § 314 BGB grundsätzlich vorgeht.
23
(3) Der Senat braucht hier nicht darüber zu entscheiden, ob die außerordentliche Kündigung des nachvertraglichen Wettbewerbsverbots und der Rücktritt nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses gleichrangig in Betracht kommen, wenn die Voraussetzungen des § 314 BGB erfüllt sind (so zB Bauer/Diller Wettbewerbsverbote 7. Aufl. Rn. 920; Erman/Böttcher BGB § 314 Rn. 15; MAH/Reinfeld § 32 Rn. 166; Preis/Stoffels Der Arbeitsvertrag 5. Aufl. II W 10 Rn. 97).
24
ee) Es liegt nahe, die Vereinbarung über das nachvertragliche Wettbewerbsverbot auch dann als eigenständigen gegenseitigen Vertrag iSd. gesetzlichen Vorschriften über den Rücktritt anzusehen, wenn diese unmittelbar im Arbeitsvertrag in einer Vertragsurkunde enthalten ist (Bauer/Diller Wettbewerbsverbote Rn. 51: „Vertrag im Vertrag“). Zwar besteht ein enger Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis; ohne dieses ist das nachvertragliche Wettbewerbsverbot ohne Bedeutung. Auch beruhen etwaige Ansprüche aus dem Wettbewerbsverbot auf dem Arbeitsverhältnis (BAG 24. Juni 2009 – 10 AZR 707/08 (F) – Rn. 26; 22. Juni 2005 – 10 AZR 459/04 – zu II 1 d der Gründe). Die für die Anwendbarkeit der §§ 320 ff. BGB maßgeblichen gegenseitigen Pflichten entstehen aber erst mit dessen Beendigung (Grunsky Freundesgabe für Söllner S. 41, 43). Während des laufenden Arbeitsverhältnisses gibt es hingegen noch vertragliche oder gesetzliche Möglichkeiten, sich hiervon zu lösen und damit das Wettbewerbsverbot nicht entstehen zu lassen (Bauer/Diller NJW 2002, 1609). Handelte es sich um einen eigenständigen gegenseitigen Vertrag, läge bezogen auf diesen ein vollständiger Rücktritt vor, der die übrigen (nachvertraglichen) Pflichten aus dem Arbeitsvertrag von vornherein unberührt ließe.
25
Wäre das nachvertragliche Wettbewerbsverbot in den Fällen der Vereinbarung in einer Vertragsurkunde lediglich als ein Teil des arbeitsvertraglichen Pflichtengefüges zu verstehen, führte dies zu keinem anderen Ergebnis. Es ist anerkannt, dass ein Teilrücktritt von einem Vertrag in Betracht kommt, wenn sowohl Leistung als auch Gegenleistung teilbar sind (BAG 24. September 2015 – 2 AZR 716/14 – Rn. 39, BAGE 153, 20; BGH 16. Oktober 2009 – V ZR 203/08 – Rn. 17; MüKoBGB/Ernst § 323 Rn. 201 ff.). Eine solche Situation ist im Verhältnis zwischen den Pflichten aus dem Arbeitsvertrag einerseits und dem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot andererseits gegeben. Diese bilden keine unauflösliche Einheit. Während des Bestands des Arbeitsverhältnisses hat das nachvertragliche Wettbewerbsverbot keine Bedeutung. Es lebt erst auf, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist; auch ab diesem Zeitpunkt steht es aber neben anderen fortbestehenden oder nachvertraglichen Pflichten aus dem Arbeitsvertrag. Die jeweiligen Leistungen sind nicht an andere Leistungen aus dem Arbeitsvertrag gebunden. Deshalb kann die Beantwortung der Frage offenbleiben, ob es sich beim Rücktritt vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot unter bestimmten Umständen nur um einen Teilrücktritt handelt.
26
ff) Der Rücktritt vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot entfaltet Wirkung für die Zeit nach Zugang der Rücktrittserklärung (ex nunc), ab diesem Zeitpunkt entfallen die wechselseitigen Rechte und Pflichten. Die Rechtsfolge des ausgeübten Rücktrittsrechts ergibt sich aus §§ 346 ff. BGB. Grundsätzlich ist das Vertragsverhältnis nach § 346 Abs. 1 BGB rückabzuwickeln, beim Teilrücktritt hinsichtlich des vom Rücktritt erfassten Teils. Da ein Rücktritt nach den oben genannten Grundsätzen erst in Betracht kommt, wenn das Wettbewerbsverbot bereits in Vollzug gesetzt wurde und die Unterlassung von Wettbewerb durch den Arbeitnehmer nicht rückabgewickelt werden kann, wirkt der Rücktritt ausnahmsweise nur ex nunc (vgl. zB Bauer/Diller NJW 2002, 1609, 1611 f.; MüKoHGB/von Hoyningen-Huene § 74 Rn. 67; Oetker/Kotzian-Marggraf HGB § 74 Rn. 31 f.; ErfK/Oetker § 74 HGB Rn. 23; Schaub ArbR-HdB/Vogelsang § 55 Rn. 31; aA wohl Christoph Weber in Großkomm. HGB 5. Aufl. § 74 Rn. 62, 66; vgl. zur früheren Rechtslage BAG 5. Oktober 1982 – 3 AZR 451/80 – zu III 2 b der Gründe).
27
c) Das Landesarbeitsgericht ist nach diesen Grundsätzen in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für einen Rücktritt vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot nach § 323 Abs. 1 iVm. Abs. 2 Nr. 1 BGB vorlagen und der Kläger mit seiner E-Mail vom 8. März 2016 den Rücktritt erklärt hat (§ 349 BGB).
28
aa) Der Kläger hat sich nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäß seiner aus Ziff. IX des Arbeitsvertrags resultierenden Pflicht des Wettbewerbs enthalten. Weitere Erklärungen musste er dazu gegenüber der Beklagten nicht abgeben. Dies gilt auch, wenn davon ausgegangen wird, dass das Wettbewerbsverbot zunächst unverbindlich war und erst durch die Entscheidung des Klägers dafür, es einzuhalten, verbindlich wurde (BAG 14. Juli 2010 – 10 AZR 291/09 – Rn. 22, BAGE 135, 116). Die Beklagte schuldete dem Kläger dementsprechend nach Ziff. IX des Arbeitsvertrags eine Karenzentschädigung für den Monat Februar 2016 in Höhe von 3.373,60 Euro, die zum Ende dieses Monats fällig war (§ 74b Abs. 1 HGB). Diese Karenzentschädigung hat die Beklagte zum Fälligkeitszeitpunkt nicht gezahlt.
29
bb) Der Kläger hat der Beklagten mit E-Mail vom 1. März 2016 nach Fälligkeit der Karenzentschädigung (vgl. zu dieser Voraussetzung BGH 14. Juni 2012 – VII ZR 148/10 – Rn. 16, BGHZ 193, 315) eine Zahlungsfrist bis zum 4. März 2016 gesetzt. Für die Beklagte ist damit deutlich geworden, welche Leistung der Kläger von ihr bis zu welchem Zeitpunkt erwartete. Da sich die Höhe des Anspruchs aus Ziff. IX Abschnitt Karenzentschädigung Buchst. a des Arbeitsvertrags iVm. der der Beklagten bekannten Vergütungshöhe des Klägers ergab, bedurfte es keiner Bezifferung der Forderung. Gegen die Annahme des Landesarbeitsgerichts, diese (kurze) Frist sei angemessen iSv. § 323 Abs. 1 BGB gewesen (vgl. zu den Folgen einer gesetzten zu kurzen Frist BGH 13. Juli 2016 – VIII ZR 49/15 – Rn. 31), wendet sich die Revision nicht. Unabhängig hiervon trifft jedenfalls die Annahme des Landesarbeitsgerichts zu, dass eine Fristsetzung entbehrlich iSv. § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB gewesen sei. Die Beklagte verweigerte die Leistung gegenüber dem Kläger ernsthaft und endgültig (vgl. zu den Anforderungen BGH 21. Dezember 2005 – VIII ZR 49/05 – Rn. 25). Die Parteien haben vor dem Landesarbeitsgericht übereinstimmend vorgetragen, der Vertreter der Beklagten habe in einem am 1. März 2016 nach der E-Mail des Klägers vom selben Tag geführten Telefonat erklärt, die Beklagte werde keine Karenzentschädigung leisten.
30
cc) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe mit E-Mail vom 8. März 2016 den Rücktritt vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot erklärt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
31
(1) Ob eine rechtsgeschäftliche Erklärung den Sinngehalt einer Rücktrittserklärung nach § 349 BGB hat, ist nach allgemeinen Kriterien aufgrund einer entsprechenden Auslegung zu entscheiden. Der Rücktritt muss nicht ausdrücklich erklärt werden. Für eine wirksame Rücktrittserklärung ist insbesondere nicht erforderlich, dass der Rücktrittsberechtigte die Wörter „Rücktritt“ oder „ich trete zurück“ verwendet. Notwendig, aber auch ausreichend für die Annahme einer Rücktrittserklärung ist, wenn dieser Erklärung des Rücktrittsberechtigten gemäß §§ 133, 157 BGB entnommen werden kann, er wolle die beiderseitigen Leistungspflichten aus dem Vertrag beenden und die bereits ausgetauschten Leistungen wieder rückgängig machen (OLG Düsseldorf 30. Juli 2014 – I-21 U 43/14 – zu B I 4 a aa der Gründe mwN). Eine konkludente Rücktrittserklärung kann in einer Kündigungserklärung (BAG 5. Oktober 1982 – 3 AZR 451/80 – zu III 2 b der Gründe) oder der Erklärung liegen, aufgrund bestimmter Umstände nicht mehr an den Vertrag gebunden zu sein (Brandenburgisches OLG 28. August 2008 – 5 U 111/06 – zu II 2 b bb (1) (c) der Gründe).
32
(2) Bei der E-Mail vom 8. März 2016 handelt es sich um eine nichttypische, individuelle Willenserklärung. Die Auslegung solcher Erklärungen durch die Tatsachengerichte ist in der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüfbar, ob das Berufungsgericht Auslegungsregeln verletzt, gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat (st. Rspr., zB BAG 2. November 2016 – 10 AZR 419/15 – Rn. 16). Einer solchen Überprüfung hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stand. Die Revision wendet sich im Kern lediglich gegen das Auslegungsergebnis, ohne Rechtsfehler aufzuzeigen.
33
(a) Das Landesarbeitsgericht hat die Aussage des Klägers, sich nicht mehr an das Wettbewerbsverbot „gebunden zu fühlen“, dahin gehend verstanden, dass der Kläger die eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr als für ihn verbindlich betrachtet habe. Er habe rechtlich ungebunden selbst bestimmen wollen, ob er Wettbewerb ausübe oder nicht. Da der Kläger auf die zuvor erklärte verbindliche Leistungsverweigerung der Beklagten reagiert habe, könne seine Erklärung weder als eine unverbindliche „Trotzreaktion“ verstanden werden, noch sei sie darauf gerichtet gewesen, den Willensentschluss der Beklagten zu korrigieren.
34
(b) Damit hat das Landesarbeitsgericht bei der Auslegung der nichttypischen Erklärung den Sachverhalt vollständig verwertet und ist zu einem vertretbaren Ergebnis gekommen. Entgegen der Auffassung der Revision ist das Auslegungsergebnis auch nicht widersprüchlich. Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe rechtlich ungebunden selbst bestimmen wollen, ob er Wettbewerb ausübe oder nicht, spricht nicht gegen die Annahme eines Rücktritts. Nach einem Rücktritt steht es dem Arbeitnehmer frei, über seine Arbeitskraft zu verfügen und eine Wettbewerbstätigkeit auszuüben.
35
(3) Die Rücktrittserklärung konnte formfrei durch E-Mail erfolgen; der Rücktrittsgrund brauchte nicht angegeben zu werden (MüKoBGB/Gaier § 349 Rn. 2, 5).
36
(4) Ob es sich bei der Erklärung des Klägers um einen vollständigen Rücktritt vom nachvertraglichen Wettbewerbsverbot oder um einen Teilrücktritt von diesem Teil des Arbeitsvertrags handelte, kann aus den genannten Gründen dahinstehen.
37
d) Der Beklagten ist es entgegen der Auffassung der Revision nicht unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf den Rücktritt des Klägers zu berufen (§ 242 BGB; vgl. dazu zB BAG 26. Oktober 2016 – 7 AZR 535/14 – Rn. 31). Tatbestandsvoraussetzung für den Rücktritt nach § 323 BGB ist, dass der Schuldner seine Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß erbringt und sich damit nicht vertragstreu verhält. Ohne eine solche Pflichtverletzung hätte das Rücktrittsrecht des Klägers nicht bestanden. Ein solches vertragswidriges Verhalten kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, darüber hinaus zu Schadensersatzansprüchen führen (§ 325 BGB). Die Entscheidung, das Rücktrittsrecht tatsächlich auszuüben, lag beim Kläger, nicht bei der Beklagten. Er hatte grundsätzlich selbst für die Wahrnehmung seiner Interessen Sorge zu tragen (BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 578/15 – Rn. 16 zur Einhaltung einer Ausschlussfrist). Allein der Umstand, dass es den Kläger reut, sein Rücktrittsrecht ausgeübt zu haben, und er sich möglicherweise über die rechtlichen Folgen seiner Erklärung nicht vollständig im Klaren war, macht es nicht treuwidrig, wenn sich die Beklagte auf den vom Kläger geschaffenen Rechtszustand beruft. Nicht jedes rechts- oder pflichtwidrige Verhalten führt stets oder auch nur regelmäßig zur Unzulässigkeit der Ausübung der hierdurch erlangten Rechtsstellung (BGH 28. Oktober 2009 – IV ZR 140/08 – Rn. 21).
38
3. Das Landesarbeitsgericht hat – ohne dass dies für die Revision noch von Bedeutung wäre – zutreffend angenommen, dass der Rücktritt erst ab dem Tag nach Zugang der Erklärung Wirkung entfaltet, und dem Kläger dementsprechend einen Zahlungsanspruch bis zum 8. März 2016 zugebilligt. Gegen die Berechnung der Höhe der Karenzentschädigung für die Zeit bis zum 8. März 2016 wendet sich der Kläger nicht; Rechtsfehler sind nicht erkennbar. Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene taggenaue Berechnung trägt dem Umstand Rechnung, dass die Karenzentschädigung und der Verzicht auf Wettbewerb im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und die beiderseitigen Pflichten ab dem 9. März 2016 entfallen waren.
39
II. Soweit der Kläger seine Forderung in der Revision erstmals auch auf einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte stützt, handelt es sich um einen neuen Streitgegenstand, der im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht eingeführt werden kann (st. Rspr., vgl. zB BAG 18. November 2014 – 1 AZR 257/13 – Rn. 46, BAGE 150, 50). Feststellungen hierzu hat das Landesarbeitsgericht nicht getroffen.
40
III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Gallner
Brune
W. Reinfelder
Fieback
Merkel |
bag_5-19 | 30.01.2019 | 30.01.2019
5/19 - Anspruch auf Mindestlohn bei einem Praktikum - Unterbrechung des Praktikums
Praktikanten haben keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn, wenn sie das Praktikum zur Orientierung für eine Berufsausbildung oder für die Aufnahme eines Studiums leisten und es eine Dauer von drei Monaten nicht übersteigt. Das Praktikum kann jedenfalls aus Gründen in der Person des Praktikanten/der Praktikantin rechtlich oder tatsächlich unterbrochen und um die Dauer der Unterbrechungszeit verlängert werden, wenn zwischen den einzelnen Abschnitten ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht und die Höchstdauer von drei Monaten insgesamt nicht überschritten wird.
Die Klägerin vereinbarte mit der Beklagten, die eine Reitanlage betreibt, ein dreimonatiges Praktikum zur Orientierung für eine Berufsausbildung zur Pferdewirtin. Das Praktikum begann am 6. Oktober 2015. Die Klägerin putzte und sattelte die Pferde, stellte sie auf ein Laufband, brachte sie zur Weide und holte sie wieder ab, fütterte sie und half bei der Stallarbeit. In der Zeit vom 3. bis 6. November 2015 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. Ab dem 20. Dezember 2015 trat sie in Absprache mit der Beklagten über die Weihnachtsfeiertage einen Familienurlaub an. Während des Urlaubs verständigten sich die Parteien darauf, dass die Klägerin erst am 12. Januar 2016 in das Praktikum bei der Beklagten zurückkehrt, um in der Zwischenzeit auf anderen Pferdehöfen „Schnuppertage“ verbringen zu können. Das Praktikum bei der Beklagten endete am 25. Januar 2016. Die Beklagte zahlte der Klägerin während des Praktikums keine Vergütung.
Die Klägerin hat von der Beklagten für die Zeit ihres Praktikums Vergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in einer Gesamthöhe von 5.491,00 Euro brutto gefordert. Sie hat vorgetragen, die gesetzlich festgelegte Höchstdauer eines Orientierungspraktikums von drei Monaten sei überschritten. Daher sei ihre Tätigkeit mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zu vergüten.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Ein Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn besteht nicht, weil das Praktikum zur Orientierung für eine Berufsausbildung die Höchstdauer von drei Monaten nicht überschritten hat. Unterbrechungen des Praktikums innerhalb dieses Rahmens sind möglich, wenn der Praktikant/die Praktikantin hierfür persönliche Gründe hat und die einzelnen Abschnitte sachlich und zeitlich zusammenhängen. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Das Praktikum wurde wegen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit sowie auf eigenen Wunsch der Klägerin für nur wenige Tage unterbrochen und im Anschluss an die Unterbrechungen jeweils unverändert fortgesetzt. Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf angemessene Vergütung nach dem Berufsbildungsgesetz hatte aus prozessualen Gründen keinen Erfolg.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 30. Januar 2019 – 5 AZR 556/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 7 Sa 995/16 – | Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 25. Oktober 2017 – 7 Sa 995/16 – wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Leitsatz
Wird ein Orientierungspraktikum iSd. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MiLoG aus Gründen in der Person des Praktikanten rechtlich oder tatsächlich unterbrochen, kann es um die Zeit der Unterbrechung verlängert werden, wenn zwischen den einzelnen Praktikumsabschnitten ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht und die tatsächliche Tätigkeit die Höchstdauer von insgesamt drei Monaten nicht überschreitet.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Vergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns für die Zeit eines Praktikums.
2
Die Klägerin vereinbarte mit der Beklagten, die eine Reitanlage betreibt, ein dreimonatiges Praktikum zur Orientierung für eine Berufsausbildung zur Pferdewirtin. Das Praktikum begann am 6. Oktober 2015. Die Klägerin putzte und sattelte Pferde, stellte sie auf ein Laufband, brachte sie zur Weide und holte sie wieder ab, fütterte sie und half bei der Stallpflege. In der Zeit vom 3. bis zum 6. November 2015 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Ab dem 20. Dezember 2015 trat sie in Absprache mit der Beklagten einen Familienurlaub an. Während dieser Zeit verständigten sich die Parteien darauf, dass die Klägerin erst am 12. Januar 2016 in das Praktikum bei der Beklagten zurückkehren solle, um in der Zwischenzeit auf anderen Reiterhöfen „Schnuppertage“ verbringen zu können. Das Praktikum bei der Beklagten endete mit Ablauf des 25. Januar 2016. Die Beklagte zahlte keine Vergütung an die Klägerin.
3
Die Klägerin hat von der Beklagten für die Zeit des Praktikums Vergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns von zuletzt 5.491,00 Euro brutto verlangt. Die gesetzlich festgelegte Höchstdauer eines Orientierungspraktikums von drei Monaten sei überschritten. Daher sei ihre Tätigkeit mit 8,50 Euro pro Stunde zu vergüten. Hilfsweise stehe ihr eine Aufwandsentschädigung als vollwertig eingesetzte Arbeitskraft zu.
4
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.491,00 Euro brutto zu zahlen.
5
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Das Mindestlohngesetz finde keine Anwendung. Durch die Zeiten der Krankheit und Abwesenheit der Klägerin sei das Praktikum unterbrochen worden, es habe die Höchstdauer von drei Monaten nicht überschritten.
6
Das Arbeitsgericht hat der Klage – soweit für die Revision von Bedeutung – stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
7
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten zu Recht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, weil die gesetzlich festgelegte Höchstdauer eines Orientierungspraktikums von drei Monaten nicht überschritten wurde. Die Klage ist auch in Bezug auf die hilfsweise geforderte Aufwandsentschädigung unbegründet. Es fehlt an Vortrag zu einer geeigneten Schätzgrundlage.
8
I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MiLoG. Sie unterfällt nicht dem persönlichen Anwendungsbereich des Mindestlohngesetzes, weil ihr Praktikum zur Orientierung für eine Berufsausbildung die Dauer von drei Monaten nicht überschritten hat.
9
1. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG erstreckt sich der persönliche Anwendungsbereich des Gesetzes auf „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“. Erweitert wird der persönliche Anwendungsbereich durch § 22 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 MiLoG, indem Praktikantinnen und Praktikanten iSd. § 26 BBiG im Wege einer gesetzlichen Fiktion den Arbeitnehmern gleichgestellt werden (vgl. Picker/Sausmikat NZA 2014, 942, 943). Damit will der Gesetzgeber der Schwierigkeit einer Unterscheidung von echtem Praktikum und missbräuchlichem Scheinpraktikum begegnen (vgl. Greiner NZA 2016, 594, 595).
10
2. Die Klägerin hat bei der Beklagten ein Praktikum zur Orientierung für eine Berufsausbildung iSd. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MiLoG iVm. § 26 BBiG absolviert. An die dieser rechtlichen Würdigung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist der Senat unter Berücksichtigung der erfolgten Tatbestandsberichtigungen gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die rechtliche Bewertung der Vertragsbeziehung der Parteien als sog. Orientierungspraktikum lässt keinen Rechtsfehler erkennen und wird von der Revision auch nicht in Frage gestellt.
11
3. Das Praktikum der Klägerin hat aufgrund der Unterbrechungen die in § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MiLoG geregelte Höchstdauer von drei Monaten nicht überschritten. Wird das Orientierungspraktikum aus Gründen in der Person des Praktikanten rechtlich oder tatsächlich unterbrochen, kann es um die Zeit der Unterbrechung verlängert werden, wenn zwischen den einzelnen Abschnitten ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht und die tatsächliche Tätigkeit die Höchstdauer von insgesamt drei Monaten nicht überschreitet.
12
a) Der Wortlaut des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MiLoG fordert nicht zwingend einen ununterbrochenen Zeitraum des Orientierungspraktikums. Ein Praktikum von „bis zu drei Monaten“ kann auch in mehreren Praktikumsabschnitten geleistet werden (so auch HWK/Sittard 8. Aufl. § 22 MiLoG Rn. 16; Schaub ArbR-Hdb/Vogelsang 17. Aufl. § 66 Rn. 16; Bayreuther NZA 2014, 865, 872; aA Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 22 Rn. 90).
13
b) In systematischer Hinsicht spricht die unterschiedliche Gestaltung der Ausnahmeregelungen beim Orientierungspraktikum nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MiLoG und beim freiwilligen ausbildungsbegleitenden Praktikum nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 MiLoG für ein solches Verständnis. Für Letzteres enthält das Gesetz eine Rückausnahme von der Ausnahmeregelung mit der Folge der Mindestlohnpflicht, wenn zuvor schon „ein solches Praktikumsverhältnis“ mit demselben Ausbildenden bestanden hat. Das Fehlen einer solchen Regelung beim Orientierungspraktikum deutet darauf hin, dass dort die Aufteilung in mehrere Praktikumsabschnitte der Mindestlohnfreiheit nicht entgegensteht (vgl. HK-MiLoG/Schubert/Jerchel 2. Aufl. § 22 Rn. 37). Zwingend ist dies indessen nicht, weil weder Wortlaut noch Gesetzessystematik hinreichend klaren Aufschluss dazu geben, ob im Fall einer Aufteilung des Praktikums noch von „einem“ Praktikum gesprochen werden kann.
14
c) Die Zulässigkeit einer Unterbrechung des Orientierungspraktikums ergibt sich jedoch hinreichend deutlich aus dem Zweck der gesetzlichen Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MiLoG. Diese soll einerseits den Praktikanten die Möglichkeit eröffnen, sich ein Bild von der angestrebten beruflichen Tätigkeit oder vom angestrebten Studium zu verschaffen. Zugleich soll durch die im Gesetz angeordnete Herausnahme von Ansprüchen auf den gesetzlichen Mindestlohn bei einer Praktikumsdauer von bis zu drei Monaten das sinnvolle Instrument des Praktikums einer missbräuchlichen Anwendung entzogen werden (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 42). Dieser Zweck der Norm erfordert es nicht, Unterbrechungen rechtlicher oder tatsächlicher Art bei der Berechnung der Dauer des Praktikumsverhältnisses unberücksichtigt zu lassen, wenn zwischen den einzelnen Abschnitten ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht. Unter Zugrundelegung dieses Normverständnisses stellt die gesetzliche Regelung sicher, dass der Praktikant drei Monate Gelegenheit hat, den angestrebten Beruf oder das in den Blick genommene Studium tatsächlich kennenzulernen, um sodann auf dieser Grundlage entscheiden zu können, ob dies für ihn geeignet ist. Durch das Erfordernis des zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs der einzelnen Praktikumsabschnitte wird unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls die Einheit des Praktikums sichergestellt. Zugleich wird ein Missbrauch des Praktikumsverhältnisses verhindert, weil der Unternehmer, der einen Praktikanten beschäftigt, nur zeitlich begrenzt von der Pflicht zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns befreit ist. Schließlich darf insoweit nicht außer Acht bleiben, dass der Unternehmer während der Dauer der Unterbrechung keine Leistungen des Praktikanten entgegennimmt und der Praktikant während dieser Zeit somit nicht unlauter ausgenutzt wird. Unter Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte kommt es auch nicht darauf an, ob die Unterbrechung von vornherein geplant war oder im Laufe des Praktikums zwischen den Parteien vereinbart wurde (aA BeckOK ArbR/Greiner Stand 1. Dezember 2018 MiLoG § 22 Rn. 31, der aber andererseits [Rn. 36] spätere Verlängerungen des Praktikums, die in der Summe zu keinem Überschreiten der dreimonatigen Höchstdauer führen, für wirksam erachtet).
15
4. Hiernach ist die Revision der Klägerin in Bezug auf den erhobenen Mindestlohnanspruch unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage insoweit zu Recht abgewiesen.
16
a) Das Praktikumsverhältnis der Parteien wurde um die Tage der Unterbrechung wegen Krankheit der Klägerin, Teilnahme an einem Familienurlaub und wegen der „Schnuppertage“ auf anderen Reiterhöfen wirksam verlängert. Die jeweiligen Unterbrechungen haben nur wenige Tage angedauert und das Praktikum wurde jeweils im Anschluss daran – sachlich unverändert – fortgesetzt.
17
b) Bei einer Aufteilung in einzelne Abschnitte ist eine pauschalierende Berechnungsweise auf der Grundlage von 30 Tagen monatlich zugrunde zu legen. Dies berücksichtigt die in § 191 BGB niedergelegte gesetzliche Wertung, wonach ein Monatszeitraum zu 30 Tagen gerechnet wird (vgl. Popella Praktikanten zwischen Mindestlohngesetz und Berufsbildungsgesetz S. 292; vgl. zur Berechnungsweise im Rahmen der Entgeltfortzahlung BAG 16. Mai 2012 – 5 AZR 251/11 – Rn. 24, BAGE 141, 340). Eine vergleichbare gesetzliche Wertung findet sich in § 18 Abs. 1 Satz 2 BBiG, die vom Verweis des § 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG auf § 26 BBiG umfasst ist. Danach finden die §§ 10 bis 23 und § 25 BBiG Anwendung. Ausgehend davon hat das Praktikum der Klägerin bei der Beklagten aufgrund der Unterbrechungen die Dauer von drei Monaten nicht überschritten.
18
II. Die Revision ist auch unbegründet, soweit die Klägerin hilfsweise eine Aufwandsentschädigung als vollwertig eingesetzte Arbeitskraft verlangt. Die Klägerin beruft sich zur Ermittlung der Höhe der Entschädigung auf die Vergütung von Berufseinsteigern in der Pferdepflege. Diese Vergütung stellt jedoch keine geeignete Schätzgrundlage dar, weil das Landesarbeitsgericht festgestellt hat, dass zwischen den Parteien ein Praktikumsverhältnis, nicht ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Die Klägerin hat gegen diese Feststellung keinen begründeten Revisionsangriff geführt. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts ist auch aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Hiervon ausgehend hätte die Klägerin darlegen müssen, welche Vergütung für Praktikanten in der Pferdepflege angemessen ist. Hieran fehlt es indes.
19
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Linck
Berger
Volk
Schad
Dohna-Jaeger |
bag_5-20 | 23.01.2020 | 23.01.2020
5/20 - Benachteiligung schwerbehinderter Bewerber
Geht dem öffentlichen Arbeitgeber die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zu, muss er diese nach § 82 Satz 2 SGB IX aF* zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Unterlässt er dies, ist er dem/der erfolglosen Bewerber/in allerdings nicht bereits aus diesem Grund zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet. Das Unterlassen einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch ist lediglich ein Indiz iSv. § 22 AGG**, das die Vermutung begründet, dass der/die Bewerber/in wegen seiner/ihrer Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung nicht eingestellt wurde. Diese Vermutung kann der Arbeitgeber nach § 22 AGG widerlegen.
Der Kläger bewarb sich Anfang August 2015 mit einer E-Mail auf eine für den Oberlandesgerichtsbezirk Köln ausgeschriebene Stelle als Quereinsteiger für den Gerichtsvollzieherdienst. Die Bewerbung war mit dem deutlichen Hinweis auf seinen Grad der Behinderung von 30 und seine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen versehen. Der Kläger wurde, obwohl er fachlich für die Stelle nicht offensichtlich ungeeignet war, nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Der Kläger hat mit seiner Klage vom beklagten Land eine Entschädigung iHv. 7.434,39 Euro verlangt. Das beklagte Land hat demgegenüber geltend gemacht, die Bewerbung des Klägers sei aufgrund eines schnell überlaufenden Outlook-Postfachs und wegen ungenauer Absprachen unter den befassten Mitarbeitern nicht in den Geschäftsgang gelangt. Schon aus diesem Grund sei der Kläger nicht wegen der (Schwer)Behinderung bzw. Gleichstellung benachteiligt worden. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr teilweise stattgegeben und dem Kläger eine Entschädigung iHv. 3.717,30 Euro zugesprochen.
Die Revision des beklagten Landes blieb im Ergebnis erfolglos. Der Kläger hat Anspruch auf eine Entschädigung aus § 15 Abs. 2 AGG in der zugesprochenen Höhe. Das beklagte Land hätte den Kläger, dessen Bewerbung ihm zugegangen war, nach § 82 Satz 2 SGB IX aF zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen. Die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch begründete die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner Gleichstellung mit einer schwerbehinderten Person benachteiligt wurde. Das beklagte Land hat diese Vermutung nicht widerlegt. Insoweit konnte das beklagte Land sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Bewerbung sei nicht in den Geschäftsgang gelangt. Dass ihm trotz Zugangs der Bewerbung ausnahmsweise eine tatsächliche Kenntnisnahme nicht möglich war, hat das beklagte Land nicht vorgetragen. Auch die Höhe der Entschädigung war im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 23. August 2018 – 6 Sa 147/18
*§ 82 SGB IX aF Besondere Pflichten der öffentlichen Arbeitgeber
1Die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber melden den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze (§ 73). 2Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. 3Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. …
**§ 22 AGG Beweislast
Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. | Tenor
Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 23. August 2018 – 6 Sa 147/18 – wird zurückgewiesen.
Das beklagte Land hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Leitsatz
1. Bewerber iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG ist, wer eine Bewerbung beim Arbeitgeber eingereicht hat. Eingereicht ist eine Bewerbung dann, wenn sie dem Arbeitgeber zugegangen ist iSv. § 130 BGB.
2. Verstößt der öffentliche Arbeitgeber gegen seine Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF), einen schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, kann dies lediglich die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose Bewerber die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren hat.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, dem Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen.
2
Das beklagte Land schrieb Anfang August 2015 Stellen für „Quereinsteiger (m/w) für den Gerichtsvollzieherdienst“ in seinen Oberlandesgerichtsbezirken aus. In der Ausschreibung heißt es ua.:
„Wir bieten Ihnen:
•
…
•
eine spezifische Ausbildung über 26 Monate, während der Sie ein monatliches Entgelt in Höhe von rd. 2.400 € brutto erhalten; die Probezeit beträgt sechs Monate
•
nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung die Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe und die Ernennung zum Gerichtsvollzieher (Besoldungsgruppe A 8)
•
…
Ist Ihr Interesse geweckt?
Bewerben Sie sich bis zum 15. August 2015 um Zulassung zur Gerichtsvollzieherausbildung, die am 01.01.2016 startet, bei folgenden Gerichten:
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für den Oberlandesgerichtsbezirk K
mit den Landgerichtsbezirken A, B und K
Präsident des Oberlandesgerichts
Postfach
K
Ansprechpartnerin:
B
Telefon:
E-Mail: ausbildung@olg-k
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Die Bewerbung von Menschen mit Schwerbehinderung und Menschen mit Migrationshintergrund ist ausdrücklich erwünscht.“
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Der Kläger bewarb sich mit einer an die in der Ausschreibung genannte E-Mail-Adresse der Ausbildungsabteilung des Oberlandesgerichts K adressierten E-Mail vom 3. August 2015 auf eine der für den Oberlandesgerichtsbezirk Kn ausgeschriebenen Stellen. Seine der E-Mail im Anhang beigefügten Bewerbungsunterlagen waren mit einem deutlichen Hinweis darauf versehen, dass er – was unstreitig ist – mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sei. Die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle fehlte dem Kläger nicht offensichtlich.
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Noch am 3. August 2015 erhielt der Kläger vom Oberlandesgericht K die folgende E-Mail:
„Von:
R.P@olg-k
An:
p@arcor.de
Gesendet:
Montag, 3. August 2015 09:36
Betreff:
Gelesen: Bewerbung als Gerichtsvollzieher / Quereinstieg
Stellenausschreibung
Ihre Nachricht wurde gelesen am Montag, 3. August 2015 07:35:53 UTC.“
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Bei P handelt es sich um den Sachgebietsleiter in der Verwaltung des Oberlandesgerichts K, der damit befasst war, in einem späteren Stadium des Bewerbungsverfahrens zu prüfen, ob ein(e) Bewerber(in) zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen war. Er hatte Zugang zu dem elektronischen Postfach der Ausbildungsabteilung.
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Der Kläger wurde nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Er erhielt auch keine Absage. Unter dem 14. Dezember 2015 forderte er das beklagte Land auf, ihm wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot wegen der (Schwer)Behinderung eine Entschädigung iHv. 7.434,39 Euro zu zahlen. Dieser Betrag entspricht der dreifachen Monatsbesoldung nach der Besoldungsgruppe A8.
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Nachdem der Präsident des Oberlandesgerichts K das Entschädigungsverlangen des Klägers mit Schreiben vom 22. Dezember 2015 zurückgewiesen hatte, hat der Kläger mit der am 11. März 2016 beim Verwaltungsgericht A eingegangenen und dem beklagten Land am 15. März 2016 zugestellten Klage sein Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiterverfolgt. Das Verwaltungsgericht A hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. Januar 2017 an das Arbeitsgericht K verwiesen.
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Der Kläger hatte sich auch auf eine für den Oberlandesgerichtsbezirk D für den Quereinstieg in den Gerichtsvollzieherdienst ausgeschriebene Stelle beworben und, nachdem ihm eine Absage erteilt worden war, das beklagte Land ebenso gerichtlich auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 7.434,39 Euro in Anspruch genommen. Dieses, beim Arbeitsgericht D geführte Verfahren wurde vergleichsweise durch Zahlung einer Entschädigung durch das beklagte Land iHv. 3.975,00 Euro beendet.
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Der Kläger hat die Auffassung vertreten, das beklagte Land sei ihm nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, da es ihn wegen seiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen und damit wegen der (Schwer)Behinderung benachteiligt habe. Das beklagte Land habe ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden SGB IX aF) nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Aus den Darlegungen des beklagten Landes ergebe sich nicht, dass er im Stellenbesetzungsverfahren nur „aus Versehen“ nicht berücksichtigt worden sei. Er habe eine Lesebestätigung seiner E-Mail erhalten und daher davon ausgehen können, alles gehe seinen geordneten Gang.
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Der Kläger hat beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 7.434,39 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5. Januar 2016 zu zahlen.
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Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat die Auffassung vertreten, dem Kläger keine Entschädigung zu schulden. Man habe von der Bewerbung des Klägers keine Kenntnis nehmen können, deshalb nichts von seiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gewusst und ihn aus diesem Grund auch nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligen können. Durch ein schnell überlaufendes E-Mail-Postfach und durch ungenaue Absprachen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Bearbeitung der Bewerbungen befasst gewesen seien, sei die Bewerbung des Klägers nicht – wie eigentlich vorgesehen – ausgedruckt worden; es sei auch kein Vorgang angelegt und in den Geschäftsgang gegeben worden. Es stehe zu vermuten, dass die E-Mail mit der Bewerbung des Klägers unter den E-Mails gewesen sei, die Oberregierungsrat P geöffnet habe, um sich einen Einblick in das Bewerberfeld zu verschaffen. Da geöffnete E-Mails automatisch als „gelesen“ markiert worden seien, sei die zuständige Mitarbeiterin G wohl davon ausgegangen, die Bewerbung des Klägers sei ausgedruckt, erfasst und in den Geschäftsgang gegeben worden. Sie habe die Bewerbungs-E-Mail des Klägers dann – weisungsgemäß – in den dafür vorgesehenen Ablage-Ordner verschoben. Im Übrigen treffe den Kläger ein Mitverschulden, da er sich nicht zeitnah nach dem Absenden seiner Bewerbung nach dem Stand der Bearbeitung erkundigt, sondern vier Monate zugewartet habe, um dann eine Entschädigung zu verlangen.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger eine Entschädigung iHv. 3.717,20 Euro nebst Zinsen zugesprochen. Hiergegen wendet sich das beklagte Land mit der Revision. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision des beklagten Landes ist unbegründet. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, der Berufung des Klägers teilweise stattzugeben und diesem eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 3.717,20 Euro nebst Zinsen zuzusprechen, hält im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Die Bemessung der Höhe der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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A. Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat – einen Anspruch gegen das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das beklagte Land hat den Kläger entgegen den Vorgaben des AGG sowie des § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF iVm. § 68 Abs. 1 SG IX aF wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt.
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I. Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet.
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1. Für den Kläger ergibt sich dies aus § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Diese Bestimmung enthält einen formalen Bewerberbegriff, wonach derjenige Bewerber ist, der eine Bewerbung eingereicht hat (zum formalen Bewerberbegriff vgl. etwa: BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 32, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 62, BAGE 155, 149).
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a) Danach ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Bewerbung dem Arbeitgeber entsprechend § 130 BGB zugegangen ist.
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aa) Zugegangen iSv. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ist eine Willenserklärung, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den „gewöhnlichen Verhältnissen“ und den „Gepflogenheiten des Verkehrs“ zu beurteilen. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten. Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Ihn trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der Zugang durch solche – allein in seiner Person liegenden – Gründe nicht ausgeschlossen (st. Rspr., vgl. BAG 22. August 2019 – 2 AZR 111/19 – Rn. 12 mwN).
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bb) Um den Bewerberbegriff des § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG zu erfüllen, ist es hingegen nicht notwendig, dass der Arbeitgeber bzw. die bei diesem über die Bewerbung entscheidenden Personen tatsächlich Kenntnis von einer zugegangenen Bewerbung nehmen. Eine solche Voraussetzung ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Bestimmung, dem durch ihn vermittelten Wortsinn noch aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung oder ihrem Sinn und Zweck. Vielmehr liefe eine solche Anforderung dem Zweck ua. der Richtlinie 2000/78/EG und dem des AGG, Diskriminierungen nicht nur im laufenden Arbeitsverhältnis, sondern ua. auch im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren zu verhindern, zuwider. Ein effektiver Schutz vor Diskriminierungen von Bewerbern würde nicht erreicht, wenn der Arbeitgeber sich nach Zugang einer Bewerbung darauf berufen könnte, er bzw. die im Einzelfall mit der Personalauswahl betrauten Mitarbeiter hätten eine zugegangene Bewerbung nicht zur Kenntnis genommen (zum Gebot der vollen und praktischen Wirksamkeit, das dem Unionsrecht innewohnt vgl. etwa EuGH 24. Oktober 2018 – C-234/17 – [XC ua.] Rn. 36 bis 44).
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b) Die Bewerbung des Klägers ist dem beklagten Land zugegangen.
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Der Kläger hatte sich mit E-Mail vom 3. August 2015 unter Verwendung der vom beklagten Land angegebenen E-Mail-Adresse der Ausbildungsabteilung beim Oberlandesgericht K beworben. Diese E-Mail ist dem beklagten Land am 3. August 2015 zugegangen. Hierüber streiten die Parteien auch nicht. Im Übrigen belegt der Umstand, dass dem Kläger am selben Tag per E-Mail eine „Lesebestätigung“ erteilt wurde, dass seine Bewerbungs-E-Mail am 3. August 2015 jedenfalls in dem vom beklagten Land dafür vorgesehenen Postfach abrufbar gespeichert war, sie mithin am 3. August 2015 so in den Machtbereich des beklagten Landes gelangt war, dass dieses unter gewöhnlichen Verhältnissen davon Kenntnis nehmen konnte.
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c) Darauf, ob die Bewerbung des Klägers – wie das beklagte Land vorgetragen hat – durch ein schnell überlaufendes E-Mail-Postfach und durch ungenaue Absprachen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Bearbeitung der Bewerbungen befasst waren, entgegen den bestehenden Weisungen weder ausgedruckt noch erfasst und demnach auch nicht in den Geschäftsgang gegeben wurde, kommt es nach alledem für die Frage, ob der Kläger Bewerber iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG ist, nicht an.
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Davon zu unterscheiden ist allerdings die Frage, ob das beklagte Land eine ggf. nach § 22 AGG durch Indizien begründete Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung im Einzelfall mit der Begründung widerlegen könnte, es sei aus nicht in seiner Person liegenden Gründen gehindert gewesen, die zugegangene Bewerbung tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen.
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2. Für das beklagte Land ist der persönliche Anwendungsbereich des AGG durch § 6 Abs. 2 Satz 1 AGG eröffnet.
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II. Der Kläger hat seinen Entschädigungsanspruch den Vorgaben von § 15 Abs. 4 AGG sowie § 61b Abs. 1 ArbGG entsprechend geltend gemacht und eingeklagt.
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1. Der Kläger hat den Entschädigungsanspruch mit Schreiben vom 14. Dezember 2015 formgerecht geltend gemacht. Die in § 15 Abs. 4 AGG bestimmte Frist zur Geltendmachung von zwei Monaten hatte im Fall des Klägers nicht zu laufen begonnen. Das beklagte Land hatte dem Kläger auf seine Bewerbung hin keine Absage erteilt. Ein Schweigen oder Untätigbleiben des Arbeitgebers reicht aber grundsätzlich nicht aus, um die Frist des § 15 Abs. 4 AGG in Lauf zu setzen (vgl. BAG 29. Juni 2017 – 8 AZR 402/15 – Rn. 20, BAGE 159, 334). Besondere Umstände, weshalb die Ablehnung im vorliegenden Fall ausnahmsweise entbehrlich gewesen wäre, sind nicht ersichtlich. Entgegen der Rechtsauffassung des beklagten Landes traf den Kläger auch keine Verpflichtung, sich vor der Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs beim beklagten Land nach dem Stand der Bearbeitung seiner Bewerbung zu erkundigen. Eine solche Pflicht kennt § 15 Abs. 4 AGG nicht.
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2. Mit der am 11. März 2016 beim Verwaltungsgericht eingegangenen und dem beklagten Land am 15. März 2016 zugestellten Klage hat der Kläger auch die dreimonatige Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt.
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Nach § 61b Abs. 1 ArbGG muss eine Klage auf Entschädigung innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden. Das Geltendmachungsschreiben des Klägers datiert vom 14. Dezember 2015. Dass dieses vor dem 15. Dezember 2015 beim beklagten Land eingegangen war, haben weder das beklagte Land noch der Kläger behauptet. Im Übrigen folgt aus § 167 ZPO, dass, sofern durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden soll, diese Wirkung bereits mit Eingang des Antrags eintritt, wenn – wie hier – die Zustellung demnächst erfolgt. Damit ist die Frist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt. Der Umstand, dass die Entschädigungsklage beim Verwaltungsgericht und nicht beim Arbeitsgericht eingereicht und durch das Verwaltungsgericht erst mit Beschluss vom 19. Januar 2017 an das zuständige Arbeitsgericht verwiesen wurde, steht der Wahrung der Klagefrist nach § 61b Abs. 1 ArbGG nicht entgegen. Dies folgt aus § 17b Abs. 1 Satz 2 GVG, wonach bei einer Verweisung die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben. § 17b GVG findet nach der in § 48 Abs. 1 ArbGG getroffenen Regelung auch auf die Klage wegen Benachteiligung nach § 61b ArbGG Anwendung.
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III. Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat – einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das beklagte Land hat den Kläger entgegen den Vorgaben des § 7 AGG sowie des § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt. Die Benachteiligung war auch nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig.
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1. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus und ist verschuldensunabhängig. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Diese Bestimmung findet – ebenso wie alle anderen Bestimmungen des Teils 2 des SGB IX aF – nach § 68 Abs. 1 SGB IX aF auch auf gleichgestellte behinderte Menschen Anwendung. Im Einzelnen gelten im Hinblick auf das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF die Regelungen des AGG (vgl. BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 16 – 18, BAGE 156, 107).
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2. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts folgt ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG allerdings nicht unmittelbar aus dem Umstand, dass das beklagte Land den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat. Zwar hätte das beklagte Land als öffentlicher Arbeitgeber den Kläger, der einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt war und dem die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle nicht offensichtlich fehlte (§ 82 Satz 3 SGB IX aF), nach § 82 Satz 2 SGB IX aF zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen. Allein in dem Verstoß des beklagten Landes gegen die in § 82 Satz 2 SGB IX aF getroffene Regelung liegt allerdings keine einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösende Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung iSv. § 7 AGG und iSv. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF. Vielmehr stellt die in § 82 Satz 2 SGB IX aF normierte Verpflichtung, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, eine Verfahrenspflicht öffentlicher Arbeitgeber zugunsten schwerbehinderter Menschen dar, die lediglich eine – von diesen widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung begründen kann.
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a) Das Benachteiligungsverbot nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF erfasst – ebenso wie das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG – nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines speziellen Grundes. Zwischen der Benachteiligung und dem Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
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aa) Soweit es um eine – hier allein in Betracht kommende – unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an den Grund anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN).
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bb) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51, BAGE 164, 117).
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(1) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 52 mwN, BAGE 164, 117).
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(2) Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist (vgl. EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaƫia Accept] Rn. 55 mwN; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32; BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 24 mwN, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 54 mwN, BAGE 155, 149). Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN).
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen aufstellen, grundsätzlich „nur“ die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose schwerbehinderte Bewerber die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG – nur eine solche kommt in derartigen Fällen in Betracht – wegen der (Schwer)Behinderung erfahren hat (st. Rspr., vgl. etwa BAG 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 22; 28. September 2017 – 8 AZR 492/16 – Rn. 26 mwN). Dies gilt beispielsweise nicht nur in dem Fall, dass der Arbeitgeber es entgegen § 81 Abs. 1, § 95 Abs. 2 SGB IX aF unterlässt, die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen (vgl. etwa BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 40 mwN), sondern auch dann, wenn der Arbeitgeber – wie hier – seiner Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht nachkommt, den schwerbehinderten oder diesem gleichgestellten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 25 mwN, BAGE 156, 107). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
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aa) Dass allein ein Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 82 Satz 2 SGB IX aF normierte Verpflichtung keine einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösende Benachteiligung iSv. § 7 AGG und § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF darstellt, sondern lediglich eine – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung begründen kann, entspricht dem gesetzgeberischen Willen, wie er insbesondere in der Entstehungsgeschichte des § 82 Satz 2 SGB IX aF zum Ausdruck gekommen ist.
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(1) Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wurde zum 1. Oktober 2000 als weitere Pflicht für Bundesbehörden in § 14a SchwbG (BGBl. I S. 1394) eingeführt. Einen Entschädigungsanspruch kannte das SchwbG nicht. In der Gesetzesbegründung heißt es lediglich, dass die öffentlichen Arbeitgeber des Bundes in Erweiterung der allgemeinen Arbeitgeberpflichten in § 13 und § 14 SchwbG den Arbeitsämtern frühzeitig freiwerdende oder neue Arbeitsplätze zu melden hätten; darüber hinaus seien die schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn sie nicht offensichtlich für die zu besetzende Stelle fachlich ungeeignet seien (BT-Drs. 14/3372 S. 18).
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(2) Bei der Schaffung des SGB IX (im Folgenden SGB IX 2001) hat der Gesetzgeber zwar in § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX 2001 das Verbot der Benachteiligung wegen der Behinderung, in § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX 2001 eine „Beweislastregel“ und in § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB IX 2001 eine Entschädigungspflicht geregelt. Allerdings besteht die Pflicht zur Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB IX 2001 nur bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot des § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX 2001. Demgegenüber hat der Gesetzgeber Verfahrens- bzw. Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen nicht im Rahmen der Bestimmung über das Benachteiligungsverbot in § 81 Abs. 2 SGB IX 2001, sondern in eigenständigen Bestimmungen geregelt. So finden sich bestimmte Pflichten beispielsweise in § 81 Abs. 1 SGB IX 2001. Die zuvor in § 14a SchwbG enthaltene Pflicht der öffentlichen Arbeitgeber des Bundes, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wurde – nunmehr auf alle öffentlichen Arbeitgeber erweitert – in § 82 Satz 2 SGB IX 2001 normiert. Dies lässt nur den Schluss zu, dass der Gesetzgeber in dem Verstoß des Arbeitgebers gegen zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehende Verfahrens- und/oder Förderpflichten – für sich betrachtet – keine entschädigungspflichtige Benachteiligung gesehen hat. Dass derartige Verstöße schon damals grundsätzlich „nur“ die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX 2001 begründen konnten, dass der erfolglose schwerbehinderte Bewerber die Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung erfahren hatte, legt auch die Entstehungsgeschichte von § 81 SGB IX 2001 nahe. So ist in der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 81 SGB IX 2001 ausgeführt, dass die Regelung inhaltsgleich den bisherigen § 14 SchwbG übertrage. Ergänzend hierzu enthalte Abs. 2 die notwendigen Regelungen, um die Benachteiligung schwerbehinderter Menschen im Arbeitsverhältnis zu verhindern, sowie – entsprechend § 611a BGB – ggf. eine Entschädigung bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot zu erhalten (BT-Drs. 14/5074 S. 113). Zu § 611a BGB war indes stets anerkannt, dass eine geschlechtsdiskriminierende Stellenausschreibung für sich betrachtet keinen Entschädigungsanspruch auslösen, sondern nur die Vermutung begründen konnte, dass der erfolglose Bewerber die Benachteiligung wegen seines Geschlechts erfahren hatte (vgl. zur alten Rechtslage: etwa BAG 14. März 1989 – 8 AZR 351/86 – zu A I 1 und 2 der Gründe, BAGE 61, 219; 14. März 1989 – 8 AZR 447/87 – zu A I 1 und 2 der Gründe, BAGE 61, 209; BVerfG 16. November 1993 – 1 BvR 258/86 – zu C I 2 b der Gründe, BVerfGE 89, 276; ErfK/Schlachter 4. Aufl. § 611b BGB Rn. 4).
41
(3) Der Gesetzgeber hat schließlich mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2016 in Kenntnis der unter Rn. 37 dargestellten ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die zuvor in § 82 Satz 2 SGB IX aF enthaltene Verpflichtung öffentlicher Arbeitgeber, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, ohne jede Änderung in § 165 Satz 3 SGB IX überführt. Auch dies belegt, dass der Gesetzgeber allein in einem Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Pflicht aus § 165 Satz 3 SGB IX nach wie vor keine entschädigungspflichtige Benachteiligung sieht.
42
bb) Dafür, dass ein Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nur die – von diesem widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen kann, dass der schwerbehinderte Bewerber wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde, spricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber an einen Verstoß gegen § 11 AGG, mit dem ein diskriminierungsfreies Bewerbungsverfahren sichergestellt werden soll, nicht die Zahlung einer Entschädigung geknüpft hat.
43
Nach § 11 AGG darf ein Arbeitsplatz nicht unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG ausgeschrieben werden. Hierdurch soll einer ungerechtfertigten Benachteiligung bestimmter Arbeitnehmergruppen vorgebeugt bzw. entgegengewirkt werden (vgl. etwa BAG 24. April 2008 – 8 AZR 257/07 – Rn. 33 f.). Allerdings schuldet der Arbeitgeber einem abgelehnten Bewerber eine Entschädigung nicht bereits deshalb, weil die Stelle unter Verstoß gegen § 11 AGG ausgeschrieben wurde. Das Gesetz knüpft an einen Verstoß gegen § 11 AGG keine unmittelbaren Rechtsfolgen (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 30; 19. Mai 2016 – 8 AZR 477/14 – Rn. 41; 19. Mai 2016 – 8 AZR 583/14 – Rn. 38). Schreibt der Arbeitgeber eine Stelle unter Verstoß gegen § 11 AGG aus, so kann dies nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose Bewerber im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 61; 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 64, BAGE 156, 71; 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 31).
44
cc) § 15 Abs. 2 AGG iVm. § 7 AGG sowie iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF ist auch nicht mit Blick auf Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie Art. 5 Abs. 3 UN-BRK und Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) UN-BRK unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF für sich betrachtet eine Entschädigungspflicht auslöst.
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(1) Nach Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG haben die Mitgliedstaaten angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, was nach Art. 5 Satz 2 der Richtlinie 2000/78/EG bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um Menschen mit Behinderung ua. den Zugang zur Beschäftigung zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten (dazu, dass Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG im AGG keine wortgleiche Umsetzung erfahren hat: vgl. EuGH 17. Juli 2008 – C-303/06 – [Coleman] Rn. 39; BAG 22. Mai 2014 – 8 AZR 662/13 – Rn. 42, BAGE 148, 158).
46
Art. 5 Abs. 3 UN-BRK bestimmt, dass die Vertragsstaaten zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierungen alle geeigneten Schritte unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) UN-BRK sichern und fördern die Vertragsstaaten die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um ua. „Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten“. Zudem bestimmt Art. 2 Unterabs. 3 UN-BRK, dass von der „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ alle Formen der Diskriminierung erfasst sind, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen, wobei nach der Legaldefinition in Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK „angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen sind, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Die Bestimmungen der UN-BRK sind Bestandteil der Unionsrechtsordnung (vgl. EuGH 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 ff.) und damit zugleich Bestandteil des – unionsrechtskonform auszulegenden – deutschen Rechts (BAG 4. November 2015 – 7 ABR 62/13 – Rn. 27, BAGE 153, 187; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 53, BAGE 147, 60). Der Umstand, dass die UN-BRK seit ihrem Inkrafttreten integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, führt darüber hinaus dazu, dass auch die Richtlinie 2000/78/EG ihrerseits nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen ist (vgl. EuGH 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 bis 32).
47
(2) Danach ist eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 15 Abs. 2 AGG iVm. § 7 AGG sowie iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF dahin, dass bereits der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF für sich betrachtet eine entschädigungspflichtige Diskriminierung darstellt, nicht geboten.
48
Der Gesetzgeber ist seiner Verpflichtung, Diskriminierungen aufgrund der Behinderung beim Zugang zur Beschäftigung zu verbieten, mit der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG zum Anwendungsbereich getroffenen Regelung iVm. dem in § 7 AGG bestimmten Verbot der Diskriminierung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG, darunter die Behinderung sowie iVm. dem Verbot der Diskriminierung wegen der (Schwer)Behinderung in § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF nachgekommen. Er hat zudem ua. mit der Regelung in § 82 Satz 2 SGB IX aF, wonach der öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen hat, eine Bestimmung getroffen, die den schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Menschen eine besondere Chance einräumt, Zugang zu einer Beschäftigung zu finden. Dabei muss ein schwerbehinderter Bewerber diese Chance schon dann bekommen, wenn seine fachliche Eignung zwar zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Der schwerbehinderte Bewerber soll den öffentlichen Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen können (vgl. etwa BAG 21. Juli 2009 – 9 AZR 431/08 – Rn. 22 mwN, BAGE 131, 232). Insoweit ist der schwerbehinderte bzw. diesem gleichgestellte Bewerber im Bewerbungsverfahren besser gestellt als nicht schwerbehinderte Konkurrenten (vgl. etwa BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 32).
49
Der Verstoß des Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF bleibt auch nicht sanktionslos. Lädt der öffentliche Arbeitgeber den schwerbehinderten Bewerber entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein, so begründet dies – wie unter Rn. 37 dargelegt – die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass der erfolglose Bewerber wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde. Kann der Arbeitgeber diese Vermutung nicht widerlegen, und ist die Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung auch nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig, kann der erfolglose Bewerber vom Arbeitgeber die Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangen.
50
Diese Sanktion ist auch ausreichend, insbesondere ist es zur Förderung des Zugangs schwerbehinderter Menschen zur Beschäftigung nicht erforderlich, die Entschädigungspflicht bereits unmittelbar an den Verstoß des Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF zu knüpfen. Hierdurch würde dieser Verstoß vielmehr unangemessen sanktioniert. Es würde nicht berücksichtigt, dass die mit einer Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch verbundene Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Bewerbers in der Regel in der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts aufgeht, die der erfolglose Bewerber durch die Ablehnung bzw. Nichtberücksichtigung seiner Bewerbung erfährt. Im letzteren Fall hätte der Arbeitgeber allerdings nach § 22 AGG die Möglichkeit, eine durch Indizien begründete Vermutung einer Benachteiligung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG – darunter auch die Behinderung – und damit auch eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Bewerbers zu widerlegen.
51
dd) Aus vorangegangenen Entscheidungen des erkennenden Senats sowie des Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts folgt ebenfalls nichts Abweichendes.
52
(1) Zwar hat der erkennende Senat beispielsweise in seinem Urteil vom 20. Januar 2016 (- 8 AZR 194/14 – Rn. 23 mwN) ausgeführt, dass eine Benachteiligung im Rahmen einer Auswahlentscheidung, insbesondere bei einer Einstellung oder Beförderung, bereits dann vorliege, wenn der Beschäftigte nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgeschieden werde. Insoweit liege die Benachteiligung in der Versagung einer Chance. Bewerber hätten Anspruch auf ein diskriminierungsfreies Bewerbungs-/Stellenbesetzungsverfahren. Seien bereits die Chancen eines Bewerbers durch ein diskriminierendes Verfahren beeinträchtigt worden, komme es regelmäßig nicht mehr darauf an, ob eine nach § 1 AGG verbotene Anknüpfung bei der sich an das Auswahlverfahren anschließenden Einstellungsentscheidung noch eine nachweisbare Rolle gespielt habe.
53
(2) Auch hat der erkennende Senat beispielsweise in seiner Entscheidung vom 16. Februar 2012 (- 8 AZR 697/10 – Rn. 48) darauf hingewiesen, dass ein schwerbehinderter Bewerber nach der Regelung in § 82 Satz 2 SGB IX aF bei einem öffentlichen Arbeitgeber die Chance eines Vorstellungsgesprächs bekommen müsse, wenn seine fachliche Eignung zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen sei. Der schwerbehinderte Bewerber solle den öffentlichen Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen können. Werde ihm diese Möglichkeit genommen, liege darin eine weniger günstige Behandlung als sie das Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen gegenüber anderen Bewerbern für erforderlich halte.
54
(3) Es kann dahinstehen, ob an dieser Rechtsprechung überhaupt festzuhalten ist. Insoweit spricht aus Sicht des Senats einiges dafür, die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG des erfolglosen schwerbehinderten Bewerbers, der entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde – ebenso wie die unmittelbare Benachteiligung eines nicht schwerbehinderten erfolglosen Bewerbers – ausschließlich in dem Umstand zu sehen, dass dieser nicht eingestellt wurde. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung nämlich vor, wenn eine Person (wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes) eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Wie der Begriff „erfahren würde“ verdeutlicht, muss nach dieser Bestimmung die Vergleichsperson nicht eine reale, sondern kann auch eine fiktive bzw. hypothetische sein. Allein aus diesem Grund kommt es weder darauf an, ob der letztlich erfolglose Bewerber bereits vorab aus dem Stellenbesetzungs-/Auswahlverfahren ausgeschieden wurde, noch, ob es andere Bewerber für die Stelle gab und eine andere Bewerbung Erfolg hatte, und ob die ausgeschriebene Stelle überhaupt besetzt wurde.
55
(4) Zwar mag der Senat in vorangegangenen Entscheidungen angenommen haben, dass der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen seine Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, eine unmittelbare Benachteiligung des Bewerbers iSv. § 3 Abs. 1 AGG bewirkt; allerdings hat er in keiner seiner früheren Entscheidungen angenommen, dass allein dieser Verstoß eine entschädigungspflichtige Benachteiligung iSv. § 15 Abs. 2 AGG iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF bzw. iVm. § 7 AGG darstellen könne. Vielmehr war dieser Verstoß stets nur ein Indiz, das die Vermutung begründen konnte, dass der erfolglose Bewerber wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt worden war.
56
So hat der erkennende Senat etwa in seinem Urteil vom 16. Februar 2012 (- 8 AZR 697/10 – Rn. 45 f.) ausdrücklich betont, das Landesarbeitsgericht habe rechtsfehlerfrei angenommen, dass sich die unterlassene Einladung zum Vorstellungsgespräch als ein Indiz für einen Kausalzusammenhang darstelle. Unterlasse es der öffentliche Arbeitgeber entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, so sei dies eine geeignete Hilfstatsache nach § 22 AGG. Und in seinem Urteil vom 20. Januar 2016 (- 8 AZR 194/14 – Rn. 34 mwN) heißt es unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 26. Juni 2014 (- 8 AZR 547/13 – Rn. 45 mwN): „Die Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderten Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet grundsätzlich die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Diese Pflichtverletzung ist nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein“.
57
(5) Auch der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ist sowohl in seinem Urteil vom 21. Juli 2009 (- 9 AZR 431/08 – Rn. 21, BAGE 131, 232), als auch beispielsweise in seiner Entscheidung vom 12. September 2006 (- 9 AZR 807/05 – Rn. 27 f., BAGE 119, 262) davon ausgegangen, dass eine Verletzung der Pflichten eines öffentlichen Arbeitgebers nach § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX aF und § 82 SGB IX aF lediglich die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung begründen könne, der Arbeitgeber benachteilige schwerbehinderte Beschäftigte wegen ihrer Behinderung iSv. § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX 2001.
58
ee) Auch aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2011 (- 5 C 16.10 – BVerwGE 139, 135) ergibt sich nicht, dass bereits allein der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslöst.
59
(1) Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung angenommen, dass eine unmittelbare Benachteiligung durch Unterlassen insbesondere dann gegeben sei, wenn ein (künftiger) Arbeitgeber einer gesetzlich auferlegten Handlungspflicht nicht nachkomme, durch die iSv. § 5 AGG eine bisher in Beschäftigung und Beruf benachteiligte Gruppe gezielt gefördert werden solle. Die Benachteiligung liege dabei in der Vorenthaltung eines gesetzlich eingeräumten Vorteils, dessen Ziel es sei, bestehende Nachteile zu beseitigen oder zu verhindern. Die betreffende Person werde weniger günstig behandelt, als es das Gesetz zur Herstellung gleicher Chancen für erforderlich halte. Eine positive Maßnahme iSv. § 5 AGG sei angesichts ihres drittschützenden Charakters nicht neutral, so dass die in den Schutzbereich der betreffenden Vorschrift fallenden Personen im Falle ihres Unterlassens unmittelbar benachteiligt würden (BVerwG 3. März 2011 – 5 C 16.10 – Rn. 17 f., BVerwGE 139, 135).
60
(2) Allerdings heißt es an anderer Stelle der Entscheidung, dass die Vorenthaltung des gesetzlich eingeräumten Chancenvorteils eine doppelte Bedeutung habe. In ihr liege einerseits die weniger günstige Behandlung (iSv. § 3 Abs. 1 AGG), andererseits sei sie Vermutungstatsache für die Kausalität. Dabei ergebe sich die Indizwirkung daraus, dass der in Bezug auf das Bewerbungsverfahren gesetzlich eingeräumte Chancenvorteil seine entscheidende Rechtfertigung in der Schwerbehinderung oder einer ihr gleichgestellten Behinderung finde. Werde der oder dem Beschäftigten die gerade wegen einer Behinderung zu gewährende verfahrensrechtliche Besserstellung pflichtwidrig vorenthalten, spreche zumindest der erste Anschein dafür, dass dieses Verhalten des öffentlichen Arbeitgebers gleichfalls seinen Grund in der Behinderung habe. Andernfalls würde der durch besondere verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu gewährende Schutz vor einer Benachteiligung weitgehend leerlaufen.
61
(3) Damit hat aber auch das Bundesverwaltungsgericht einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG nicht unmittelbar an den Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF geknüpft.
62
3. Das Landesarbeitsgericht hat allerdings im Ergebnis zutreffend angenommen, dass der Kläger gegen das beklagte Land einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat, weil er im Stellenbesetzungsverfahren wegen seiner (Schwer)Behinderung nicht berücksichtigt wurde und die Benachteiligung nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig war.
63
a) Der Kläger hat dadurch, dass er nicht eingestellt wurde, eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Wie unter Rn. 54 ausgeführt, erfährt der erfolglose Bewerber stets eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, wobei unerheblich ist, ob er bereits vorab aus dem Stellenbesetzungs-/Auswahlverfahren ausgeschieden wurde, ob es andere Bewerber für die Stelle gab und eine andere Bewerbung Erfolg hatte. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob die ausgeschriebene Stelle überhaupt besetzt wurde. Die Vergleichsperson nach § 3 Abs. 1 AGG muss – wie der Begriff „erfahren würde“ verdeutlicht – nicht eine reale, sondern kann auch eine fiktive bzw. hypothetische sein.
64
b) Der Kläger hat die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG auch wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Der Umstand, dass das beklagte Land ihn entgegen den Vorgaben des § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat, begründet die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass der Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde. Dies gilt unabhängig davon, ob die für das beklagte Land handelnden Personen – wie dieses geltend macht – von der zugegangenen Bewerbung des Klägers tatsächlich keine Kenntnis nehmen konnten. Ein fehlendes Bewusstsein, den Kläger wegen seiner Behinderung zu benachteiligen, stünde nach der Konzeption des § 22 AGG unter Beachtung der Vorgaben der Richtlinien, wonach der Bewerber lediglich den „Anschein einer Diskriminierung“ beweisen muss (vgl. etwa Erwägungsgrund 21 der Richtlinie 2000/43/EG, Erwägungsgrund 31 der Richtlinie 2000/78/EG und Erwägungsgrund 30 der Richtlinie 2006/54/EG) der Annahme des erforderlichen Kausalzusammenhangs zwischen der Benachteiligung und dem Grund nicht entgegen.
65
c) Das beklagte Land hat – wie das Landesarbeitsgericht zwar nicht in der Begründung, aber im Ergebnis zutreffend angenommen hat – diese Vermutung nicht widerlegt.
66
aa) Das Landesarbeitsgericht hat seine Annahme wie folgt begründet: Zur Auslegung von § 22 AGG seien insoweit die Formulierungen der Vorgängernormen, mithin von § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB aF sowie von § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX 2001 heranzuziehen. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei mit der Neufassung des Wortlauts in § 22 AGG lediglich eine Klarstellung, nicht aber eine inhaltliche Änderung beabsichtigt gewesen. Danach hätte das beklagte Land beweisen müssen, dass bei der Nichtberücksichtigung des Klägers ausschließlich nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe vorgelegen hätten. Dies sei dem beklagten Land nicht gelungen. Das Übersehen oder Verlieren einer Bewerbungsmappe oder einer Bewerbungs-E-Mail sei kein sachlicher Grund. Ein sachlicher Grund könne nur bewerber- und verfahrensbezogen sein, andernfalls habe er nicht mit „der Sache“ zu tun. Der sachliche Grund müsse einen Bezug zum Abwägungsvorgang bei der Auswahlentscheidung haben. Das alles treffe auf das versehentliche oder gar völlig schuldlose Nichtbeachten einer Bewerbung nicht zu. Hinsichtlich der Behandlung der Bewerbung des Klägers habe es gar kein „Motivbündel“ und damit auch keinen Teil desselben gegeben, der diskriminierend oder nicht diskriminierend hätte sein können.
67
(1) Zwar ist nicht nur die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen Tatsachen eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten lassen, sondern auch die Würdigung, ob die von dem Arbeitgeber vorgebrachten Tatsachen den Schluss darauf zulassen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligungen vorgelegen hat, nur eingeschränkt revisibel. In beiden Fällen beschränkt sich die revisionsgerichtliche Kontrolle darauf, ob die Würdigung der Tatsachengerichte möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. zu den Überprüfungsgrundsätzen BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 48 mwN, BAGE 156, 107).
68
(2) Die Würdigung des Berufungsgerichts hält indes selbst einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle nicht stand. Zum einen legt das Landesarbeitsgericht seiner Würdigung die falschen rechtlichen Vorgaben zugrunde, zum anderen ist seine Würdigung auch nach seiner eigenen Argumentationslinie nicht in sich widerspruchsfrei.
69
(a) Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts muss das beklagte Land nach § 22 AGG zur Widerlegung der Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung nicht beweisen, dass bei dessen Nichtberücksichtigung ausschließlich nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe vorgelegen haben, sondern es muss – wie unter Rn. 36 ausgeführt – Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe – hier – die (Schwer)Behinderung – zu einer ungünstigeren Behandlung des Klägers geführt haben (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN). Darüber hinaus dürfen diese Gründe nicht die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren. Diese zusätzliche Anforderung folgt aus der in § 82 Satz 3 SGB IX aF getroffenen Bestimmung, wonach eine Einladung des schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch nur dann entbehrlich ist, wenn diesem die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. § 82 Satz 3 SGB IX aF enthält insoweit eine abschließende Regelung, die bewirkt, dass sich der (potentielle) Arbeitgeber zur Widerlegung der infolge der Verletzung des § 82 Satz 2 SGB IX aF vermuteten Kausalität nicht auf Umstände berufen kann, die die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren. Die Widerlegung dieser Vermutung setzt daher den Nachweis voraus, dass die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund von Umständen unterblieben ist, die weder einen Bezug zur Behinderung aufweisen noch die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 50 mwN, BAGE 156,107).
70
§ 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF verweist ausdrücklich auf das AGG und damit auch auf § 22 AGG. Für die Auslegung dieser Bestimmung sind – anders als das Landesarbeitsgericht meint – allerdings nicht die Formulierungen der „Vorgängernormen“, dh. von § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB aF sowie insbesondere von § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX 2001 heranzuziehen, wonach der Arbeitgeber die Beweislast dafür trägt, dass nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen oder eine bestimmte körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für diese Tätigkeit ist. Dies folgt bereits daraus, dass § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX (in seinen bis zum 17. August 2006 geltenden Fassungen) die Unterscheidung zwischen der Widerlegung der Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung und der Rechtfertigung bzw. ausnahmsweisen Zulässigkeit einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung, wie sie nunmehr für die mittelbare Benachteiligung in § 3 Abs. 2 AGG und für die unmittelbare Benachteiligung in § 8 Abs. 1 AGG geregelt sind, nicht kannte (vgl. hierzu etwa BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 50 mwN). Im Übrigen geht der Hinweis des Berufungsgerichts auf die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses zu § 22 AGG (vgl. BT-Drs. 16/2022 S. 13) fehl, da dieser sich insoweit allein zum Begriff der Vermutung iSv. § 22 AGG in der Entwurfsfassung bzw. zur Glaubhaftmachung – auch iSd. Richtlinie 2000/78/EG – verhält, nicht aber zum Verhältnis von § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX 2001 zur später Gesetz gewordenen Fassung des § 22 AGG.
71
(b) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, das beklagte Land habe die Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner Behinderung nicht widerlegt, ist auch – nach seiner eigenen Argumentationslinie – nicht in sich widerspruchsfrei. Hat der öffentliche Arbeitgeber die – ihm entsprechend § 130 BGB zugegangene – Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen nicht tatsächlich zur Kenntnis nehmen können, kann es – wie das Landesarbeitsgericht selbst ausführt – bei der Behandlung der Bewerbung gar kein „Motivbündel“ und damit auch keinen Teil desselben gegeben haben, der diskriminierend oder nicht diskriminierend hätte sein können. Dann ist es aber widersprüchlich, wenn das Landesarbeitsgericht auf der anderen Seite annimmt, dem beklagten Land sei es nicht gelungen, die Vermutung zu widerlegen, dass der Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde.
72
bb) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das beklagte Land habe die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt worden sei, nicht widerlegt, erweist sich jedoch im Ergebnis als zutreffend. Das beklagte Land, das – wie unter Rn. 36 ausgeführt – insoweit die Darlegungs- und Beweislast traf, hat schon keine Tatsachen vorgetragen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere Gründe als solche iSv. § 1 AGG sowie iSv. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF zu einer ungünstigeren Behandlung des Klägers geführt haben.
73
(1) Das beklagte Land kann sich zur Widerlegung der Vermutung iSv. § 22 AGG, dass es den Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt hat, nicht mit Erfolg darauf berufen, die bei ihm über die Bewerbung entscheidenden Personen hätten keine Kenntnis von der Bewerbung des Klägers nehmen können, da diese nicht ausgedruckt und kein Vorgang angelegt worden sei, weshalb diese Bewerbung nicht in den Geschäftsgang gelangt sei.
74
(a) Zwar kann der Arbeitgeber die Vermutung, er habe die klagende Partei wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt, dadurch widerlegen, dass er substantiiert vorträgt und im Bestreitensfall beweist, dass er – bzw. die bei ihm über die Einstellung entscheidenden Personen – aufgrund besonderer, ihm nicht zurechenbarer Umstände des Einzelfalls nicht die Möglichkeit hatte(n), eine entsprechend § 130 BGB zugegangene Bewerbung tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen. In einem solchen Fall ist es nämlich ausgeschlossen, dass ein Grund iSv. § 1 AGG und damit auch die Behinderung iSv. § 81 Abs. 2 SGB IX aF in einem Motivbündel des Arbeitgebers – positiv oder negativ – eine Rolle gespielt haben.
75
(b) Allerdings hat das beklagte Land einen solchen Vortrag nicht geleistet.
76
Zum einen war es nach dem eigenen Vorbringen des beklagten Landes nicht ausgeschlossen, dass sich die Bewerbung des Klägers unter den Bewerbungen befand, die Oberregierungsrat P geöffnet hatte, um sich einen Überblick über die Bewerberlage zu verschaffen. Damit hatte für Oberregierungsrat P, der den Zugriff auf das elektronische Postfach der Ausbildungsabteilung hatte, die Möglichkeit bestanden, von der Bewerbung Kenntnis zu nehmen. Dass er die Bewerbung des Klägers ggf. nur überflogen hat und ihm deshalb dessen Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen ggf. nicht aufgefallen ist, ändert daran nichts. Mit dem Argument, die Bewerbung nicht vollständig zur Kenntnis genommen zu haben, kann der Arbeitgeber die Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen der Behinderung iSv. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF nicht widerlegen. Zum anderen wurden nach dem Vorbringen des beklagten Landes die als „gelesen“ markierten Bewerbungs-E-Mails – und damit auch die Bewerbungs-E-Mail des Klägers – von der zuständigen Mitarbeiterin weisungsgemäß in den dafür vorgesehenen Ablage-Ordner verschoben. Dort konnten sie jederzeit aufgefunden und zur Kenntnis genommen werden. Dass die Bewerbung des Klägers nicht ausgedruckt wurde und demzufolge nicht als Vorgang in den üblichen Geschäftsgang gelangt ist, ist deshalb unerheblich. Im Übrigen hätte das beklagte Land es unschwer in der Hand gehabt, durch eine bessere Organisation des Bewerbungsverfahrens auch die Bewerbung des Klägers in den Geschäftsgang zu bringen. Den Verantwortlichen des beklagten Landes war bewusst, dass es bei der Bearbeitung der in großer Zahl im E-Mail-Postfach der Ausbildungsabteilung eingegangenen Bewerbungs-E-Mails zu Problemen gekommen war. Vor diesem Hintergrund hätte das beklagte Land, um etwaige Diskrepanzen zu ermitteln, einen Abgleich der ausgedruckten und in den regulären Geschäftsgang gelangten Bewerbungen und der im Ablage-Ordner befindlichen Bewerbungs-E-Mails veranlassen müssen.
77
(2) Weitere Umstände, mit denen es die Vermutung der Benachteiligung des Klägers wegen seiner Behinderung hätte widerlegen können, hat das beklagte Land nicht dargetan. Insbesondere hat es weder vorgetragen, dass das Auswahlverfahren aus sachlichen und nachvollziehbaren Gründen abgebrochen wurde, bevor die Bewerbung des Klägers bei ihm eingegangen ist (zu dieser Möglichkeit der Widerlegung der Kausalitätsvermutung und ihren Voraussetzungen im Einzelnen vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 89, BAGE 156, 71), noch hat es sich darauf berufen, das Auswahlverfahren sei bereits abgeschlossen gewesen, bevor die Bewerbung des Klägers bei ihm eingegangen ist (zu dieser Möglichkeit der Widerlegung der Kausalitätsvermutung und ihren Voraussetzungen im Einzelnen vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 90, aaO). Ebenso wenig hat es dargelegt, dass es bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, hier der (Schwer)Behinderung ausschließt (zu dieser Möglichkeit der Widerlegung der Kausalitätsvermutung und ihren Voraussetzungen im Einzelnen vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 92, aaO).
78
d) Die Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung war auch nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Dies macht das beklagte Land, das insoweit die Darlegungs- und Beweislast trifft, auch nicht geltend.
79
B. Der Kläger kann vom beklagten Land die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in der vom Berufungsgericht ausgeurteilten Höhe von 3.717,20 Euro nebst Zinsen verlangen. Die Bemessung der Höhe der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
80
I. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG kann der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
81
II. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG muss einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz gewährleisten. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (vgl. etwa EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 63 mwN; BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 161). Sie muss auf jeden Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht gerecht (EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 25; 10. April 1984 – 14/83 – [von Colson und Kamann] Rn. 23 f.; BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 111, BAGE 164, 117).
82
III. Geeigneter Anknüpfungspunkt für die Bemessung der Entschädigung ist der Bruttomonatsverdienst, den der erfolglose Bewerber – ungefähr – erzielt hätte, wenn er die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Dies folgt aus § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, was vom Arbeitgeber darzulegen und ggf. zu beweisen wäre (vgl. zur Darlegungs- und Beweislast BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 102).
83
1. Bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmten Grenze von drei Bruttomonatsverdiensten handelt es sich allerdings nicht um eine Obergrenze in dem Sinne, dass sich die geschuldete Entschädigung – sofern der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre – von vornherein nur innerhalb eines Rahmens von „null“ und „drei“ auf der ausgeschriebenen Stelle ungefähr erzielbaren Bruttomonatsverdiensten bewegen dürfte. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor, vielmehr handelt es sich bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG um eine Kappungsgrenze (vgl. BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 110, BAGE 164, 117; 19. August 2010 – 8 AZR 530/09 – Rn. 66 mwN). Das bedeutet, dass zunächst – ohne Rücksicht auf irgendeine Begrenzung – die Höhe der angemessenen Entschädigung zu ermitteln und diese sodann, wenn sie drei Bruttomonatsverdienste übersteigen sollte, zu kappen ist.
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2. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die auf der ausgeschriebenen Stelle ungefähr erzielbare Bruttomonatsvergütung Einfluss auf die Höhe des immateriellen Schadens hat, den der erfolglose Bewerber durch die verbotene Benachteiligung erleidet. Soweit es um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich nicht nur eine Sanktion dafür, dass der Beschäftigte insoweit in seinem Persönlichkeitsrecht betroffen wird, als er an der Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit durch Beschäftigung gehindert wird, sondern auch dafür, dass er insoweit in seinem Persönlichkeitsrecht betroffen wird, als er seine wirtschaftliche Existenzgrundlage nicht durch Arbeitseinkommen sicherstellen kann. Die Anknüpfung an die auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbare Bruttomonatsvergütung steht auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 22. April 1997 (- C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 35) diese Anknüpfung grundsätzlich gebilligt.
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IV. Bei der Bemessung der angemessenen Entschädigung iSv. § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten ein Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falles zu berücksichtigen haben. § 15 Abs. 2 AGG entspricht insoweit der Regelung zur billigen Entschädigung in § 253 BGB. Hängt die Höhe des Entschädigungsanspruchs von einem Beurteilungsspielraum ab, dann ist die Bemessung des Anspruchs grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung unterliegt deshalb nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht. Das Berufungsurteil muss das Bemühen um eine angemessene Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände erkennen lassen und darf nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen haben (vgl. etwa BAG 16. Februar 2012 – 8 AZR 697/10 – Rn. 69; 18. März 2010 – 8 AZR 1044/08 – Rn. 39).
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V. Die Bemessung der Höhe der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht ist jedenfalls im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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1. Das Berufungsgericht ist bei der Bemessung der Entschädigung allerdings rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass es sich bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG genannten Grenze um einen Höchstbetrag handelt, und hat deshalb rechtsfehlerhaft angenommen, dass es eine Entschädigung von vornherein nur in einem Rahmen von bis zu drei Monatsgehältern festsetzen dürfe. Es hat verkannt, dass es sich bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG um eine Kappungsgrenze handelt, weshalb – wie unter Rn. 83 ausgeführt – zunächst die Höhe der angemessenen Entschädigung zu ermitteln und diese erst dann, wenn sie drei Bruttomonatsverdienste übersteigen sollte, zu kappen wäre. Es könnte zudem einiges dafür sprechen, dass das Landesarbeitsgericht darüber hinaus verkannt hat, dass der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für das Eingreifen der Kappungsgrenze hat.
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2. Zudem hat das Landesarbeitsgericht zu Unrecht zulasten des beklagten Landes berücksichtigt, dass der Kläger bei diesem auch mit einer Bewerbung auf eine Stelle für „Quereinsteiger (w/m) für den Gerichtsvollzieherdienst“ für den Bezirk des Oberlandesgerichts D gescheitert war. Insoweit lässt das Urteil des Landesarbeitsgerichts zum einen schon nicht erkennen, ob der Kläger durch diese ablehnende Entscheidung überhaupt wegen seiner Behinderung bzw. eines anderen Grundes iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde. Zum anderen hat das Berufungsgericht nicht beachtet, dass das vor dem Arbeitsgericht D über eine Entschädigung geführte Verfahren vergleichsweise durch Zahlung eines Betrages iHv. 3.975,00 Euro durch das beklagte Land beendet worden war, der Kläger mithin insoweit Genugtuung erfahren hatte. Schließlich ist die vom Berufungsgericht bemühte „Vorbildfunktion“ des öffentlichen Arbeitgebers kein die Entschädigungshöhe beeinflussender Umstand. Nur den öffentlichen Arbeitgeber trifft die Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, einen schwerbehinderten Bewerber, der nicht offensichtlich fachlich ungeeignet ist, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Verstößt der öffentliche Arbeitgeber gegen diese Pflicht, begründet dies die Vermutung für dessen Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung. Gelingt es dem öffentlichen Arbeitgeber nicht, diese Vermutung zu widerlegen, und ist die unmittelbare Benachteiligung nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig, so löst dies eine Entschädigungspflicht aus. Dafür, dass diese Entschädigung wegen einer Vorbildfunktion des öffentlichen Arbeitgebers von vornherein höher zu bemessen wäre, bietet das Gesetz – auch unter Berücksichtigung der Vorgaben der UN-BRK (vgl. Ausführungen unter Rn. 46) – keinerlei Anhaltspunkt.
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3. Der Senat hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Entschädigung iHv. 3.717,20 Euro – wie vom Landesarbeitsgericht zugesprochen – für angemessen. Mit diesem Betrag wird der Kläger angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung wegen der Behinderung erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zugleich erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen.
90
4. Der Entschädigungsanspruch ist – anders als das beklagte Land meint – auch nicht durch ein Mitverschulden des Klägers nach § 254 Abs. 1 BGB gemindert. Dies folgt – unabhängig von der Frage, ob ein Mitverschulden bei der Festsetzung der Entschädigung überhaupt berücksichtigt werden dürfte, was zweifelhaft ist – bereits daraus, dass den Kläger kein Mitverschulden trifft, denn er war, schon weil er am 3. August 2015 eine Lesebestätigung erhalten hatte, nicht gehalten, sich nach dem Stand der Bearbeitung seiner Bewerbung zu erkundigen.
Schlewing
Vogelsang
Roloff
R. Kandler
F. Avenarius |
bag_50-18 | 16.10.2018 | 16.10.2018
50/18 - Haftung des Betriebserwerbers in der Insolvenz
Der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in zwei Verfahren um eine Vorabentscheidung zur Auslegung von Art. 3 Abs. 4 und Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/23/EG* sowie zur Auslegung und unmittelbaren Geltung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG** ersucht.
Den beiden Klägern sind Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zugesagt worden. Nach der Versorgungsordnung berechnet sich ihre Betriebsrente nach der Anzahl der Dienstjahre und dem – zu einem bestimmten Stichtag vor dem Ausscheiden – erzielten Gehalt. Über das Vermögen ihrer Arbeitgeberin wurde am 1. März 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Im April 2009 ging der Betrieb aufgrund eines Betriebsübergangs auf die Beklagte über.
Ein Kläger erhält seit August 2015 von der Beklagten eine Betriebsrente iHv. ca. 145,00 Euro und vom Pensions-Sicherungs-Verein (PSV) – dem gesetzlich bestimmten Träger der Insolvenzsicherung – eine Altersrente iHv. ca. 817,00 Euro. Bei deren Berechnung legte der PSV – wie im Betriebsrentengesetz vorgesehen – das zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens maßgebliche Gehalt des Klägers zugrunde. Der Kläger hält die Beklagte für verpflichtet, ihm eine höhere Betriebsrente zu gewähren; diese müsse sich nach den Bestimmungen der Versorgungsordnung auf der Basis des zum Stichtag vor dem Versorgungsfall bezogenen Gehalts unter bloßem Abzug des Betrags errechnen, den er vom PSV erhalte. Der andere Kläger verfügte bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht über eine gesetzlich unverfallbare Anwartschaft. Daher steht ihm bei Eintritt eines Versorgungsfalls nach dem Betriebsrentengesetz kein Anspruch gegen den PSV zu. Er hält die Beklagte für verpflichtet, ihm künftig eine Betriebsrente in voller Höhe zu gewähren.
Nach der derzeitigen – im Hinblick auf die besonderen Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts einschränkenden – Auslegung von § 613a Abs. 1 BGB durch die deutschen Arbeitsgerichte würden die Kläger mit ihren Klagebegehren nicht durchdringen. Der Senat möchte wissen, ob eine solche einschränkende Geltung von § 613a Abs. 1 BGB im Fall eines Betriebsübergangs im Insolvenzverfahren mit Art. 3 Abs. 4, Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/23/EG im Einklang steht und ob ggf. Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG vorliegend unmittelbare Geltung entfaltet und sich der Arbeitnehmer deshalb auch gegenüber dem PSV auf diesen berufen kann.***
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 3 AZR 139/17 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 20. Januar 2017 – 6 Sa 582/16 –
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 3 AZR 878/16 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 4. November 2016 – 1 Sa 120/16 –
Hinweis: Der Senat hat am selben Tag mehrere gleichgelagerte Verfahren im Hinblick auf die zu erwartenden Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
*Art. 3 Abs. 4 Buchst. a und Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2001/23/EG haben folgenden Wortlaut:
Art. 3 Abs. 4 Buchst. a: „Sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, gelten die Absätze 1 und 3 nicht für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter, Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungs-einrichtungen außerhalb der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten.
Art. 5 Abs. 2: „Wenn die Artikel 3 und 4 für einen Übergang während eines Insolvenzverfahrens gegen den Veräußerer (unabhängig davon, ob dieses Verfahren zur Auflösung seines Vermögens eingeleitet wurde) gelten und dieses Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein nach dem innerstaatlichen Recht bestimmter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) steht, kann ein Mitgliedstaat vorsehen, dass
a) ungeachtet des Artikels 3 Absatz 1 die vor dem Übergang bzw. vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fälligen Verbindlichkeiten des Veräußerers aufgrund von Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen nicht auf den Erwerber übergehen, sofern dieses Verfahren nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats einen Schutz gewährt, der dem von der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vorgesehenen Schutz zumindest gleichwertig ist, …“
**Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG hat folgenden Wortlaut:
„Die Mitgliedstaaten vergewissern sich, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus dessen Unternehmen oder Betrieb bereits ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer erworbenen Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit getroffen werden.“
***Der genaue Wortlaut der Fragen kann unter www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden. | Tenor
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:
1. Erlaubt Art. 3 Absatz 4 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers im nationalen Recht, welches grundsätzlich die Anwendung von Art. 3 Absatz 1 und Absatz 3 der Richtlinie 2001/23/EG auch für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter, Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen bei einem Betriebsübergang anordnet, eine Einschränkung dahingehend, dass der Erwerber nicht für Anwartschaften haftet, die auf Beschäftigungszeiten vor der Insolvenzeröffnung beruhen?
2. Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird:
Richten sich die nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2001/23/EG notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers nach dem von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers geforderten Schutzniveau?
3. Falls die zweite Vorlagefrage verneint wird:
Ist Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2001/23/EG dahin auszulegen, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen getroffen sind, wenn das nationale Recht vorsieht, dass
– die Verpflichtung, dem vom Betriebsübergang in der Insolvenz erfassten Arbeitnehmer aus der betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtung künftig eine Leistung bei Alter zu gewähren, grundsätzlich auf den Betriebserwerber übergeht,
– der Betriebserwerber für Versorgungsanwartschaften, deren Höhe sich unter anderem nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit und des Arbeitsentgelts bei Eintritt des Versorgungsfalls bestimmt, in dem Umfang haftet, in dem diese auf die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbrachten Zeiten der Betriebszugehörigkeit beruhen,
– der nach nationalem Recht bestimmte Träger der Insolvenzsicherung in diesem Fall für den vor der Insolvenzeröffnung erworbenen Teil der Versorgungsanwartschaft insoweit einzutreten hat, als dessen Höhe sich nach dem zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung vom Arbeitnehmer bezogenen Arbeitsentgelt errechnet, und
– weder der Erwerber noch der Träger der Insolvenzsicherung für die Steigerungen der Versorgungsanwartschaft haften, die durch zwar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattfindende Erhöhungen des Arbeitsentgelts, aber für vor diesem Zeitpunkt erbrachte Zeiten der Betriebszugehörigkeit erfolgen,
– der Arbeitnehmer diese wertmäßige Differenz seiner Anwartschaft aber im Insolvenzverfahren des Veräußerers geltend machen kann?
4. Ist, wenn das nationale Recht die Anwendung von Art. 3 und Art. 4 der Richtlinie 2001/23/EG im Fall eines Betriebsübergangs auch während eines Insolvenzverfahrens anordnet, Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2001/23/EG auf Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen anwendbar, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zwar bereits entstanden sind, jedoch erst bei Eintritt des Versorgungsfalls und damit erst zu einem späteren Zeitpunkt zu Leistungsansprüchen der Arbeitnehmer führen?
5. Falls die zweite oder die vierte Vorlagefrage bejaht werden:
Erfasst das nach Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers von den Mitgliedstaaten zu gewährende Mindestschutzniveau auch den Teil der zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung erworbenen Versorgungsanwartschaft, der nur deshalb entsteht, weil das Arbeitsverhältnis nicht im Zusammenhang mit der Insolvenz beendet wird?
6. Falls die fünfte Vorlagefrage bejaht wird:
Unter welchen Umständen können die durch die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlittenen Verluste des ehemaligen Arbeitnehmers bei den Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen werden und damit die Mitgliedstaaten verpflichten, hiergegen einen Mindestschutz nach Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG zu gewährleisten, obwohl der ehemalige Arbeitnehmer mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben?
7. Falls die fünfte Vorlagefrage bejaht wird:
Wird ein nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2001/23/EG oder Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2001/23/EG erforderlicher – Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG gleichwertiger – Schutz für Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer auch dann gewährt, wenn sich dieser nicht aus dem nationalen Recht, sondern nur aus einer unmittelbaren Anwendung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG ergibt?
8. Falls die siebte Vorlagefrage bejaht wird:
Entfaltet Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG auch dann unmittelbare Wirkung, sodass er von einem einzelnen Arbeitgeber vor dem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann, wenn dieser zwar mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben, seine durch die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlittenen Verluste aber dennoch als unverhältnismäßig anzusehen sind?
9. Falls die achte Vorlagefrage bejaht wird:
Ist eine privatrechtlich organisierte Einrichtung, die von dem Mitgliedstaat – für die Arbeitgeber verpflichtend – als Träger der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung bestimmt ist, der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegt sowie die für die Insolvenzsicherung erforderlichen Beiträge kraft öffentlichen Rechts von den Arbeitgebern erhebt und wie eine Behörde die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung durch Verwaltungsakt herstellen kann, eine öffentliche Stelle des Mitgliedstaates?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:
1. Erlaubt Art. 3 Absatz 4 der Richtlinie 2001/23/EG (juris: EGRL 23/2001) des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers im nationalen Recht, welches grundsätzlich die Anwendung von Art. 3 Absatz 1 und Absatz 3 der Richtlinie 2001/23/EG auch für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter, Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen bei einem Betriebsübergang anordnet, eine Einschränkung dahingehend, dass der Erwerber nicht für Anwartschaften haftet, die auf Beschäftigungszeiten vor der Insolvenzeröffnung beruhen?
2. Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird:
Richten sich die nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2001/23/EG notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers nach dem von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG (juris: EGRL 94/2008) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers geforderten Schutzniveau?
3. Falls die zweite Vorlagefrage verneint wird:
Ist Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2001/23/EG dahin auszulegen, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen getroffen sind, wenn das nationale Recht vorsieht, dass
–
die Verpflichtung, dem vom Betriebsübergang in der Insolvenz erfassten Arbeitnehmer aus der betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtung künftig eine Leistung bei Alter zu gewähren, grundsätzlich auf den Betriebserwerber übergeht,
–
der Betriebserwerber für Versorgungsanwartschaften, deren Höhe sich unter anderem nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit und des Arbeitsentgelts bei Eintritt des Versorgungsfalls bestimmt, in dem Umfang haftet, in dem diese auf die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbrachten Zeiten der Betriebszugehörigkeit beruhen,
–
der nach nationalem Recht bestimmte Träger der Insolvenzsicherung in diesem Fall für den vor der Insolvenzeröffnung erworbenen Teil der Versorgungsanwartschaft insoweit einzutreten hat, als dessen Höhe sich nach dem zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung vom Arbeitnehmer bezogenen Arbeitsentgelt errechnet, und
–
weder der Erwerber noch der Träger der Insolvenzsicherung für die Steigerungen der Versorgungsanwartschaft haften, die durch zwar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattfindende Erhöhungen des Arbeitsentgelts, aber für vor diesem Zeitpunkt erbrachte Zeiten der Betriebszugehörigkeit erfolgen,
–
der Arbeitnehmer diese wertmäßige Differenz seiner Anwartschaft aber im Insolvenzverfahren des Veräußerers geltend machen kann?
4. Ist, wenn das nationale Recht die Anwendung von Art. 3 und Art. 4 der Richtlinie 2001/23/EG im Fall eines Betriebsübergangs auch während eines Insolvenzverfahrens anordnet, Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2001/23/EG auf Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen anwendbar, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zwar bereits entstanden sind, jedoch erst bei Eintritt des Versorgungsfalls und damit erst zu einem späteren Zeitpunkt zu Leistungsansprüchen der Arbeitnehmer führen?
5. Falls die zweite oder die vierte Vorlagefrage bejaht werden:
Erfasst das nach Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers von den Mitgliedstaaten zu gewährende Mindestschutzniveau auch den Teil der zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung erworbenen Versorgungsanwartschaft, der nur deshalb entsteht, weil das Arbeitsverhältnis nicht im Zusammenhang mit der Insolvenz beendet wird?
6. Falls die fünfte Vorlagefrage bejaht wird:
Unter welchen Umständen können die durch die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlittenen Verluste des ehemaligen Arbeitnehmers bei den Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen werden und damit die Mitgliedstaaten verpflichten, hiergegen einen Mindestschutz nach Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG zu gewährleisten, obwohl der ehemalige Arbeitnehmer mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben?
7. Falls die fünfte Vorlagefrage bejaht wird:
Wird ein nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2001/23/EG oder Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2001/23/EG erforderlicher – Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG gleichwertiger – Schutz für Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer auch dann gewährt, wenn sich dieser nicht aus dem nationalen Recht, sondern nur aus einer unmittelbaren Anwendung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG ergibt?
8. Falls die siebte Vorlagefrage bejaht wird:
Entfaltet Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG auch dann unmittelbare Wirkung, sodass er von einem einzelnen Arbeitnehmer vor dem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann, wenn dieser zwar mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben, seine durch die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlittenen Verluste aber dennoch als unverhältnismäßig anzusehen sind?
9. Falls die achte Vorlagefrage bejaht wird:
Ist eine privatrechtlich organisierte Einrichtung, die von dem Mitgliedstaat – für die Arbeitgeber verpflichtend – als Träger der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung bestimmt ist, der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegt sowie die für die Insolvenzsicherung erforderlichen Beiträge kraft öffentlichen Rechts von den Arbeitgebern erhebt und wie eine Behörde die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung durch Verwaltungsakt herstellen kann, eine öffentliche Stelle des Mitgliedstaates?
Entscheidungsgründe
1
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
2
Die Parteien streiten darüber, in welchem Umfang die Beklagte dem Kläger nach einem Betriebsübergang in der Insolvenz eine betriebliche Altersrente zu gewähren hat.
3
Der im März 1950 geborene Kläger war seit 1. Oktober 1968 bei der T GmbH beschäftigt. Bei dieser galt eine Gesamtbetriebsvereinbarung, in der den Arbeitnehmern unter anderem eine betriebliche Altersrente zugesagt wurde (im Folgenden Versorgungsordnung). Nach der Versorgungsordnung beträgt die Höhe der Altersrente für jedes anrechnungsfähige Dienstjahr 0,5 vom Hundert der vom Arbeitnehmer zu einem bestimmten Stichtag vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis erzielten monatlichen Bruttovergütung, höchstens jedoch – nach 45 Dienstjahren – 22,5 vom Hundert.
4
Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging in der Folgezeit auf die spätere T F GmbH über. Über deren Vermögen wurde am 1. März 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Im April 2009 ging der – auch nach Insolvenzeröffnung weiter fortgeführte – Betrieb der T F GmbH aufgrund einer Veräußerung durch den gerichtlich bestellten Insolvenzverwalter auf die Beklagte über.
5
Der Kläger erhält seit dem 1. August 2015 von der Beklagten eine betriebliche Altersrente auf der Grundlage der Versorgungsordnung in Höhe von 145,03 Euro monatlich sowie vom Pensions-Sicherungs-Verein (im Folgenden PSV) – dem gesetzlich bestimmten Träger der Insolvenzsicherung für die betriebliche Altersversorgung – eine Altersrente in Höhe von 816,99 Euro monatlich. Bei deren Berechnung legte der PSV entsprechend der Vorgaben im nationalen Recht die zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. März 2009 nach der Versorgungsordnung maßgebliche monatliche Bruttovergütung des Klägers zugrunde.
6
Der Kläger hat im Ausgangsverfahren geltend gemacht, die Beklagte müsse ihm eine höhere Betriebsrente zahlen. Auf der Grundlage der für ihn geltenden Versorgungsordnung ergebe sich nach 45 anrechnungsfähigen Dienstjahren bei der Beklagten beziehungsweise ihren Rechtsvorgängerinnen und einer vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis maßgebenden monatlichen Bruttovergütung in Höhe von 4.940,00 Euro eine betriebliche Altersrente in Höhe von 1.111,50 Euro monatlich. Hiervon dürfe die Beklagte nur die vom PSV erbrachte Leistung in Höhe von 816,99 Euro in Abzug bringen. Daher schulde sie ihm eine um 149,48 Euro monatlich höhere Rente. Die Beklagte hat vorgebracht, bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers hafte der Erwerber nur für den Teil der betrieblichen Altersrente, der auf den nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegenden Zeiten der Betriebszugehörigkeit beruhe.
7
B. Rechtlicher Rahmen
8
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Anwendbarkeit und die Auslegung von Art. 3 Absatz 4 und Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (Amtsblatt EG L 82 vom 22. März 2001 Seite 16), zuletzt geändert durch Richtlinie (EU) 2015/1794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2015 zur Änderung der Richtlinien 2008/94/EG, 2009/38/EG und 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 98/59/EG und 2001/23/EG des Rates in Bezug auf Seeleute (Amtsblatt EU L 263 vom 8. Oktober 2015 Seite 1) sowie von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (Amtsblatt EU L 283 vom 28. Oktober 2008 Seite 36), geändert durch Art. 1 ÄndRL (EU) 2015/1794 vom 6. Oktober 2015 (Amtsblatt EU L 263 vom 8. Oktober 2015 Seite 1).
9
I. Das einschlägige nationale Recht
10
Die Rechte und Pflichten im Fall eines Betriebsübergangs regelt in der Bundesrepublik Deutschland § 613a Bürgerliches Gesetzbuch (in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002, Bundesgesetzblatt Teil I Seite 42, berichtigt Seite 2909 und Bundesgesetzblatt Teil I 2003 Seite 738). Die Vorschrift lautet auszugweise:
„§ 613a Rechte und Pflichten bei Betriebsübergang
(1) 1Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. 2Sind diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer …
…
(4) 1Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch den bisherigen Arbeitgeber oder durch den neuen Inhaber wegen des Übergangs eines Betriebs oder eines Betriebsteils ist unwirksam. 2Das Recht zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen bleibt unberührt.“
11
Das Insolvenzrecht ist in der Insolvenzordnung (vom 5. Oktober 1994, Bundesgesetzblatt Teil I Seite 2866; zuletzt geändert durch Art. 24 Absatz 3 des Gesetzes vom 23. Juni 2017, Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1693) geregelt. Das Gesetz lautet auszugsweise:
„§ 1 Ziele des Insolvenzverfahrens
1Das Insolvenzverfahren dient dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung insbesondere zum Erhalt des Unternehmens getroffen wird. …
…
§ 27 Eröffnungsbeschluß
(1) 1Wird das Insolvenzverfahren eröffnet, so ernennt das Insolvenzgericht einen Insolvenzverwalter. …
…
§ 38 Begriff der Insolvenzgläubiger
Die Insolvenzmasse dient zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (Insolvenzgläubiger).
…
§ 45 Umrechnung von Forderungen
1Forderungen, die nicht auf Geld gerichtet sind oder deren Geldbetrag unbestimmt ist, sind mit dem Wert geltend zu machen, der für die Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschätzt werden kann. …
…
§ 108 Fortbestehen bestimmter Schuldverhältnisse
(1) 1… Dienstverhältnisse des Schuldners bestehen mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort. …
…
(3) Ansprüche für die Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann der andere Teil nur als Insolvenzgläubiger geltend machen.
…
§ 174 Anmeldung der Forderungen
(1) 1Die Insolvenzgläubiger haben ihre Forderungen schriftlich beim Insolvenzverwalter anzumelden. …
…
§ 175 Tabelle
(1) 1Der Insolvenzverwalter hat jede angemeldete Forderung … in eine Tabelle einzutragen. …
…
§ 191 Berücksichtigung aufschiebend bedingter Forderungen
(1) 1Eine aufschiebend bedingte Forderung wird bei einer Abschlagsverteilung mit ihrem vollen Betrag berücksichtigt. 2Der auf die Forderung entfallende Anteil wird bei der Verteilung zurückbehalten.
…
§ 198 Hinterlegung zurückbehaltener Beträge
Beträge, die bei der Schlußverteilung zurückzubehalten sind, hat der Insolvenzverwalter für Rechnung der Beteiligten bei einer geeigneten Stelle zu hinterlegen.“
12
Das Recht der betrieblichen Altersversorgung einschließlich des gesetzlichen Insolvenzschutzes ist im Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz) vom 19. Dezember 1974 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 3610), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 3214), geregelt. Für den Insolvenzschutz ist die aktuelle Fassung des Gesetzes auch anzuwenden, wenn das Insolvenzverfahren vor dem 1. Januar 2018 eröffnet wurde (BAG 20. Februar 2018 – 3 AZR 239/17 – Randnummer 13). Das Gesetz lautet auszugsweise:
„§ 1b Unverfallbarkeit und Durchführung der betrieblichen Altersversorgung
(1) 1Einem Arbeitnehmer, dem Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung zugesagt worden sind, bleibt die Anwartschaft erhalten, wenn das Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalls, jedoch nach Vollendung des 21. Lebensjahres endet und die Versorgungszusage zu diesem Zeitpunkt mindestens drei Jahre bestanden hat (unverfallbare Anwartschaft). …
…
§ 2 Höhe der unverfallbaren Anwartschaft
(1) 1Bei Eintritt des Versorgungsfalles wegen Erreichens der Altersgrenze, … haben ein vorher ausgeschiedener Arbeitnehmer, dessen Anwartschaft nach § 1b fortbesteht, und seine Hinterbliebenen einen Anspruch mindestens in Höhe des Teiles der ohne das vorherige Ausscheiden zustehenden Leistung, der dem Verhältnis der Dauer der Betriebszugehörigkeit zu der Zeit vom Beginn der Betriebszugehörigkeit bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht; an die Stelle des Erreichens der Regelaltersgrenze tritt ein früherer Zeitpunkt, wenn dieser in der Versorgungsregelung als feste Altersgrenze vorgesehen ist, spätestens der Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres, falls der Arbeitnehmer ausscheidet und gleichzeitig eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung für besonders langjährig Versicherte in Anspruch nimmt. …
…
§ 7 Umfang des Versicherungsschutzes
…
(2) 1Personen, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens … (Sicherungsfall) eine nach § 1b unverfallbare Versorgungsanwartschaft haben, und ihre Hinterbliebenen haben bei Eintritt des Versorgungsfalls einen Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung, wenn die Anwartschaft beruht
1.
auf einer unmittelbaren Versorgungszusage des Arbeitgebers …
…
… 3Die Höhe des Anspruchs richtet sich nach der Höhe der Leistungen nach § 2 Absatz 1 … 4Für die Berechnung der Höhe des Anspruchs nach Satz 3 wird die Betriebszugehörigkeit bis zum Eintritt des Sicherungsfalles berücksichtigt. … 6Bei der Berechnung der Höhe des Anspruchs sind Veränderungen der Versorgungsregelung und der Bemessungsgrundlagen, die nach dem Eintritt des Sicherungsfalles eintreten, nicht zu berücksichtigen; …
…
§ 9 Mitteilungspflicht, Forderungs- und Vermögensübergang
…
(2) 1Ansprüche oder Anwartschaften des Berechtigten gegen den Arbeitgeber auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, die den Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung begründen, gehen im Falle eines Insolvenzverfahrens mit dessen Eröffnung … auf den Träger der Insolvenzsicherung über, … 3Die mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens übergegangenen Anwartschaften werden im Insolvenzverfahren als unbedingte Forderungen nach § 45 der Insolvenzordnung geltend gemacht.
…
§ 30f
(1) 1Wenn Leistungen der betrieblichen Altersversorgung vor dem 1. Januar 2001 zugesagt worden sind, ist § 1b Absatz 1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Anwartschaft erhalten bleibt, wenn das Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalles, jedoch nach Vollendung des 35. Lebensjahres endet und die Versorgungszusage zu diesem Zeitpunkt
1.
mindestens zehn Jahre …
…
bestanden hat; in diesen Fällen bleibt die Anwartschaft auch erhalten, wenn die Zusage ab dem 1. Januar 2001 fünf Jahre bestanden hat und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses das 30. Lebensjahr vollendet ist. …“
13
II. Das einschlägige Unionsrecht
„RICHTLINIE 2001/23/EG DES RATES vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen
Artikel 1
1.
a) Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar.
…
…
Artikel 3
1. Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.
…
3. Nach dem Übergang erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw: bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. …
4.
a) Sofern die Mitgliedstaaten nicht anderes vorsehen, gelten die Absätze 1 und 3 nicht für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter, Invalidität oder für Hinterbliebene aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten.
b) Die Mitgliedstaaten treffen auch dann, wenn sie gemäß Buchstabe a) nicht vorsehen, dass die Absätze 1 und 3 für die unter Buchstabe a) genannten Rechte gelten, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Übergangs bereits aus dem Betrieb des Veräußerers ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus den unter Buchstabe a) genannten Zusatzversorgungseinrichtungen.
…
Artikel 5
1. Sofern die Mitgliedstaaten nichts anderes vorsehen, gelten die Artikel 3 und 4 nicht für Übergänge von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen, bei denen gegen den Veräußerer unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein von einer zuständigen Behörde ermächtigter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) ein Konkursverfahren oder ein entsprechendes Verfahren mit dem Ziel der Auflösung des Vermögens des Veräußerers eröffnet wurde.
2. Wenn die Artikel 3 und 4 für einen Übergang während eines Insolvenzverfahrens gegen den Veräußerer (unabhängig davon, ob dieses Verfahren zur Auflösung seines Vermögens eingeleitet wurde) gelten und dieses Verfahren unter der Aufsicht einer zuständigen öffentlichen Stelle (worunter auch ein nach dem innerstaatlichen Recht bestimmter Insolvenzverwalter verstanden werden kann) steht, kann ein Mitgliedstaat vorsehen, dass
a) ungeachtet des Artikels 3 Absatz 1 die vor dem Übergang bzw. vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fälligen Verbindlichkeiten des Veräußerers aufgrund von Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen nicht auf den Erwerber übergehen, sofern dieses Verfahren nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats einen Schutz gewährt, der dem von der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vorgesehenen Schutz zumindest gleichwertig ist, …“
„RICHTLINIE 2008/94/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers
Artikel 1
(1) Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.
…
Artikel 2
(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde
a) die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat; …
…
…
Artikel 8
Die Mitgliedstaaten vergewissern sich, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus dessen Unternehmen oder Betrieb bereits ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer erworbenen Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit getroffen werden.
…
Artikel 16
Die Richtlinie 80/987/EWG … wird … aufgehoben.
Verweisungen auf die aufgehobene Richtlinie gelten als Verweisungen auf die vorliegende Richtlinie und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle in Anhang II zu lesen.
…
ANHANG II
Entsprechungstabelle
Richtlinie 80/987/EWG
Vorliegende Richtlinie
…
Artikel 8
Artikel 8“
14
C. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörterung der Vorlagefragen
15
I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
16
Die Entscheidung über die Klage hängt davon ab, ob die im nationalen Recht nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geltende Einschränkung des § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch für die Haftung des Betriebserwerbers bei einem Betriebsübergang während eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Veräußerers hinsichtlich der vor der Insolvenzeröffnung entstandenen Anwartschaften der Arbeitnehmer auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung mit Art. 3 Absatz 4 beziehungsweise Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG und gegebenenfalls mit Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG vereinbar ist.
17
Nach der derzeitigen Auslegung des nationalen Rechts wäre die Beklagte nicht verpflichtet, dem Kläger eine Betriebsrente zu gewähren, deren Höhe sich nach den Bestimmungen der Versorgungsordnung unter bloßem Abzug des Betrags errechnet, den der Kläger aufgrund der Insolvenz seiner früheren Arbeitgeberin vom PSV erhält.
18
1. Zwar tritt auch bei einem Betriebsübergang aufgrund einer Betriebsveräußerung durch den gerichtlich bestellten Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Veräußerers der Erwerber nach § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Die durch Betriebsvereinbarung begründeten Versorgungsversprechen der übernommenen Arbeitnehmer gehen damit auf den Erwerber über. Er wird Schuldner der sich hieraus ergebenden Verpflichtung auf Gewährung einer künftigen betrieblichen Altersrente. Bei deren Berechnung sind daher auch die beim Betriebsveräußerer beziehungsweise seiner Rechtsvorgänger bereits erbrachten Betriebszugehörigkeitszeiten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Allerdings gilt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei einer solchen Betriebsveräußerung § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch für die Haftung des Erwerbers nur eingeschränkt (so bereits zur früher geltenden Konkursordnung BAG 17. Januar 1980 – 3 AZR 160/79 – zu II 3 c der Gründe, BAGE 32, 326): Soweit die besonderen Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts für bereits entstandene Ansprüche oder Anwartschaften der Arbeitnehmer eingreifen, gehen diese § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch vor.
19
Maßgebend für diese Einschränkung ist, dass nach dem Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung – „par conditio creditorum“ – alle vermögenswerten Rechte, die bei Insolvenzeröffnung vorhanden sind, allein nach den Bestimmungen der Insolvenzordnung zu befriedigen sind (§ 1 Insolvenzordnung). Erhielte die bei der Veräußerung eines Betriebs übernommene Belegschaft einen neuen zahlungskräftigen Haftungsschuldner für bereits entstandene Ansprüche, wäre sie im Vergleich zu anderen Gläubigern und vor allem auch gegenüber den ausgeschiedenen Arbeitnehmern unangemessen bevorzugt. Denn dieser Vorteil müsste von den übrigen Gläubigern insoweit finanziert werden, als vom Betriebserwerber mit Rücksicht auf die übernommene Haftung nur ein geringerer Kaufpreis zu erzielen wäre.
20
Aus diesem Grund haftet der Erwerber eines Betriebs nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers nicht nach § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch für solche Ansprüche und Versorgunganwartschaften, für die die erforderliche Arbeitsleistung oder Betriebszugehörigkeit bereits vor der Insolvenzeröffnung vom Arbeitnehmer erbracht wurde (vergleiche § 108 Absatz 3 Insolvenzordnung). Die Haftung des Betriebserwerbers beschränkt sich – bezogen auf die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung – vielmehr nur auf den Anteil, der in der Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Arbeitnehmer durch seine Betriebszugehörigkeit erdient wurde.
21
Für die Berechnung des Umfangs der dem Arbeitnehmer beim Eintritt eines Versorgungsfalls vom Betriebserwerber zu zahlenden Betriebsrente ist diese deshalb zunächst auf der Grundlage der Vorgaben in der Versorgungsordnung unter Zugrundelegung der gesamten im Arbeitsverhältnis erbrachten anrechnungsfähigen Beschäftigungszeit des Arbeitnehmers und gegebenenfalls – wie im Ausgangsverfahren – der vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis maßgebenden Bruttovergütung des Arbeitnehmers zu ermitteln. In einem zweiten Schritt ist der sich danach ergebende Betrag anteilig aufzuteilen auf die im Rahmen des Arbeitsverhältnisses vor und nach der Insolvenzeröffnung erbrachten Zeiten der Betriebszugehörigkeit.
22
Für den Kläger ergibt sich damit unter Berücksichtigung seiner nach der Versorgungsordnung maßgebenden monatlichen Bruttovergütung vor dem Zeitpunkt seines Ausscheidens eine Betriebsrente in Höhe von 1.111,50 Euro, von der die Beklagte einen monatlichen Anteil in Höhe von 152,29 Euro zu zahlen hätte.
23
2. Für den Teil der betrieblichen Altersversorgung, den die von der Beklagten übernommenen Arbeitnehmer in der Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch ihre Betriebszugehörigkeit erdient haben, ist der PSV nach Maßgabe von § 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz eintrittspflichtig, wenn die Arbeitnehmer – wie der Kläger – bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits über eine gesetzlich unverfallbare Anwartschaft (§ 1b Absatz 1 in Verbindung mit § 30f Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Betriebsrentengesetz) verfügten. Allerdings hat der PSV nach § 7 Absatz 2 Satz 6 Betriebsrentengesetz bei der Berechnung der zu gewährenden Leistungen Veränderungen der für die Betriebsrente maßgebenden Bemessungsgrundlagen, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eintreten, nicht zu berücksichtigen (sogenannter Festschreibeeffekt). Daher muss er zur Ermittlung der Höhe seiner Leistung im Fall einer endgehaltsbezogenen Versorgungszusage – wie im Streitfall – die bei Insolvenzeröffnung maßgebende Bruttomonatsvergütung der Arbeitnehmer zugrunde legen. Die in der Zeit danach noch erfolgenden Steigerungen der Vergütung hat der PSV außer Betracht zu lassen. In dem Umfang, in dem der PSV für die Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer eintrittspflichtig ist, gehen diese nach § 9 Absatz 2 Satz 1 Betriebsrentengesetz auf ihn über.
24
Die insolvenzgesicherte Anwartschaft des Klägers beläuft sich danach auf 816,99 Euro monatlich.
25
3. Wegen des Festschreibeeffekts kann bei endgehaltbezogenen Versorgungsordnungen – wie vorliegend – eine Differenz zwischen der Leistungspflicht des PSV und der Haftung des Betriebserwerbers für die Betriebsrente einerseits und dem sich nach der Versorgungsordnung ergebenden Gesamtrentenanspruch des Arbeitnehmers andererseits entstehen. Im Fall des Klägers beläuft sich diese Differenz auf 142,22 Euro. Die Arbeitnehmer können diesen Teil der Anwartschaft nach § 174 Absatz 1 Satz 1, § 175 Absatz 1 Satz 1 Insolvenzordnung zur Insolvenztabelle anmelden. Er ist damit bei der Verteilung der zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger zur Verfügung stehenden Insolvenzmasse mit zu berücksichtigen. Das führt in der Praxis zu einer anteiligen Befriedigung. Die Anmeldung dieses Teils der Anwartschaft hat dabei nicht als fällige Forderung, sondern – da der Versorgungsfall bei Insolvenzeröffnung noch nicht eingetreten ist – als aufschiebend bedingte Forderung zu erfolgen. § 9 Absatz 2 Satz 3 Betriebsrentengesetz, nach dem Anwartschaften im Insolvenzverfahren als unbedingte Forderungen geltend zu machen sind, gilt nur für den auf den PSV übergegangenen Teil der Anwartschaft, nicht aber für den beim Arbeitnehmer verbliebenen (anders früher: BAG 16. März 1972 – 3 AZR 191/71 – zu I 5 der Gründe, BAGE 24, 204; 8. Dezember 1997 – 3 AZR 324/76 – zu 1 c der Gründe).
26
Der auf die aufschiebend bedingte Forderung entfallende Anteil an der Insolvenzmasse ist vom Insolvenzverwalter nach § 191 Absatz 1, § 198 Insolvenzordnung zu hinterlegen; seine Auszahlung an die Arbeitnehmer ist mit Eintritt des Versorgungsfalls vorzunehmen. Soweit – wie im Streitfall – die Versorgungszusage endgehaltsbezogen ist und damit bei Insolvenzeröffnung weder das für die Berechnung der Betriebsrente maßgebende Endgehalt noch die für die Höhe der späteren Betriebsrente maßgebende künftige Dauer der Betriebszugehörigkeit sowie die Dauer der Rentengewährung feststehen, ist nach § 45 Insolvenzordnung eine Schätzung vorzunehmen.
27
II. Erörterung der Vorlagefragen
28
1. Erste Vorlagefrage
29
Das deutsche Recht sieht in § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch grundsätzlich vor, dass die Rechte der bei einem Betriebsübergang auf den Erwerber übergehenden Arbeitnehmer auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung erhalten bleiben. Lediglich bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Betriebsveräußerers gelangt die Regelung des § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch wegen der – nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – vorrangigen Bestimmungen der Insolvenzordnung insoweit nicht zur Anwendung, als der Betriebserwerber nicht für den Teil der künftigen Betriebsrente haftet, der auf der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbrachten Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers beruht.
30
Mit der ersten Vorlagefrage möchte der Senat wissen, ob eine solche eingeschränkte Geltung von Art. 3 Absatz 1 und Absatz 3 Richtlinie 2001/23/EG im Fall eines Betriebsübergangs während eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Veräußerers nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG zulässig ist, obwohl das nationale Recht grundsätzlich die Anwendung dieser Unionsbestimmungen für die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung bei einem Betriebsübergang anordnet. Diese Rechtsfrage ist – soweit ersichtlich – vom Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) weder beantwortet worden noch ist ihre Antwort eindeutig.
31
Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts dürfte sich – trotz der Regelung in Art. 5 Absatz 2 Richtlinie 2001/23/EG – die Zulässigkeit einer im nationalen Recht vorhandenen, insolvenzrechtlich bedingten Einschränkung der Haftung des Betriebserwerbers für vor der Insolvenzeröffnung entstandene Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zumindest auch nach Art. 3 Absatz 4 Richtlinie 2001/23/EG richten. Angesichts der den Mitgliedstaaten in Art. 3 Absatz 4 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG eingeräumten Befugnis, „anderes“ vorzusehen, geht der Senat zudem davon aus, dass das nationale Recht die Rechte der Arbeitnehmer auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung bei einem Betriebsübergang nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens teilweise von einer Anwendung des Art. 3 Absatz 1 und Absatz 3 Richtlinie 2001/23/EG ausnehmen kann, sofern insoweit die nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen worden sind.
32
2. Zweite Vorlagefrage
33
Sollte der Gerichtshof die erste Frage bejahen, wäre zweifelhaft, ob das nationale Recht bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz insoweit die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung vorsieht.
34
Der Gerichtshof hat sich mit der Frage, welche Anforderungen an die nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG von den Mitgliedstaaten zu treffenden Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen zu stellen sind, bislang noch nicht beschäftigt. Ihre Beantwortung ist auch nicht offenkundig. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts scheint es – trotz des von Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG abweichenden Wortlauts – möglich, dass die erforderlichen Maßnahmen bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz den Anforderungen von Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG genügen müssen.
35
3. Dritte Vorlagefrage
36
Sollte der Gerichtshof diese Auffassung nicht teilen, wäre fraglich, ob bei einer insolvenzrechtlich bedingten Einschränkung der Haftung des Betriebserwerbers nach § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch für vor der Insolvenzeröffnung entstandene Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung im nationalen Recht die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG getroffen wurden.
37
Nach dem nationalen Recht haftet der Betriebserwerber – wie ausgeführt – für den Teil der Anwartschaftsrechte, der auf der nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbrachten Betriebszugehörigkeit beruht. Für den Teil der betrieblichen Altersversorgung, der durch die vorher erbrachte Betriebszugehörigkeit erdient wurde, hat nach Maßgabe von § 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz der PSV einzutreten, wenn die Anwartschaft des Arbeitnehmers bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits gesetzlich unverfallbar war. Soweit – wie bei endgehaltsbezogenen Versorgungszusagen – der für die Berechnung der Leistungen des PSV maßgebende Festschreibeeffekt dazu führt, dass insoweit nicht der gesamte Betriebsrentenanspruch vom PSV und vom Betriebserwerber erfüllt wird, können die Arbeitnehmer – wie auch die übrigen Insolvenzgläubiger – ihre Forderungen als aufschiebend bedingte zur Insolvenztabelle anmelden. Der Senat ist der Ansicht, dass das nationale Recht damit einen ausreichenden Schutz bietet.
38
Dem steht nicht entgegen, dass die Arbeitnehmer, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über eine gesetzlich unverfallbare Versorgungsanwartschaft verfügen, bei endgehaltsbezogenen Versorgungszusagen – wie vorliegend – gegen den PSV nur einen auf der Grundlage der von ihnen zu diesem Zeitpunkt erzielten Vergütung zu berechnenden Anspruch haben. Dies rechtfertigt sich aus der Funktionsweise und der Finanzierung des PSV. Als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung für die betriebliche Altersversorgung muss er die auf ihn zukommenden möglichen Ansprüche zum Zwecke ihrer Finanzierung bereits zeitnah zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens planungssicher kalkulieren können. Dem trägt § 7 Absatz 2 Satz 6 Betriebsrentengesetz Rechnung.
39
Das Haftungssystem berücksichtigt auch die Interessen der Arbeitnehmer. Im – typischen – Fall einer im Rahmen der Insolvenz erfolgenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses sichert § 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz den Arbeitnehmern die bis zu diesem Zeitpunkt erdiente Versorgungsanwartschaft. Eine nicht vom PSV gesicherte Differenz entsteht nur dann, wenn – wie im Ausgangsfall – eine endgehaltsbezogene Versorgungszusage nach einem Betriebsübergang im übernommenen Arbeitsverhältnis weitergeführt wird. Die Chance hierzu steigt mit der Haftungsbeschränkung des Erwerbers. Da in der Insolvenz nicht nur der Grundsatz der gleichmäßigen, sondern auch der der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung gilt (vergleiche BGH 22. Juni 2017 – IX ZB 82/16 – Randnummer 12), ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, für die Insolvenzmasse möglichst hohe Erträge zu erzielen. Bei einer uneingeschränkten Haftung des Erwerbers verringert sich der zu erzielende Kaufpreis für den übertragenen Betrieb. Daher kann der Insolvenzverwalter verpflichtet sein, den Betrieb nicht zu veräußern, sondern das Schuldnervermögen anderweitig zu verwerten. Die Haftungseinschränkung steigert damit die Chance, dass Betriebe nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zerschlagen, sondern von einem Erwerber fortgeführt werden und damit zumindest ein Teil der Arbeitsplätze erhalten werden kann.
40
Allerdings vermag der Senat – mangels Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG – nicht mit der für ein letztinstanzliches Gericht gebotenen Sicherheit zu beurteilen, ob die im deutschen Recht bestehende Rechtslage den unionsrechtlichen Anforderungen gerecht wird.
41
4. Vierte Vorlagefrage
42
Nach Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG kann das nationale Recht, wenn es vorsieht, dass die Art. 3 und Art. 4 für den Übergang während eines Insolvenzverfahrens grundsätzlich gelten, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fälligen Verbindlichkeiten aufgrund von Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen von einem Übergang auf den Erwerber nach Art. 3 Absatz 1 ausnehmen, sofern das Insolvenzverfahren einen der Richtlinie 80/987/EWG entsprechenden – gleichwertigen – Schutz gewährt.
43
Es ist für den Senat zweifelhaft, ob diese Bestimmung des Unionsrechts bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz auch auf Versorgungsanwartschaften und künftige Ansprüche der Arbeitnehmer auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung – wie im Ausgangsfall – anwendbar ist. Hiergegen könnte Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG sprechen. Es ist denkbar, dass diese Regelung für die dort genannten Rechte der Arbeitnehmer eine abschließende Regelung für alle Betriebsübergänge – auch solche nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens – enthält.
44
Sollte der Gerichtshof der Ansicht sein, bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz komme eine Anwendung von Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG auch in Bezug auf die Versorgungsanwartschaften und künftigen Ansprüche der Arbeitnehmer auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung in Betracht, wäre fraglich, ob die Bestimmung – trotz ihres Wortlauts – dahin ausgelegt werden kann, dass sie es nicht nur erlaubt, vor der Eröffnung des Insolvenzverfahren bereits „fällige“ Verbindlichkeiten von einem Übergang auf den Betriebserwerber auszunehmen, sondern auch die bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Betriebszugehörigkeit schon erdienten Versorgungsanwartschaften, die erst beim Eintritt des Versorgungsfalls und damit erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einem fälligen Leistungsanspruch des versorgungsberechtigten Arbeitnehmers führen können. Hierfür könnte der Zweck der Regelung – den Erwerber nicht für wirtschaftlich dem Zeitraum vor der Insolvenzeröffnung zuzurechnende Verbindlichkeiten haften zu lassen – sowie die Bezugnahme auf die Richtlinie 80/987/EWG und damit auch Art. 8 der nachfolgenden Richtlinie 2008/94/EG sprechen, der auch Anwartschaftsrechte erfasst.
45
5. Fünfte Vorlagefrage
46
Sollte der Gerichtshof die zweite oder die vierte Vorlagefrage bejahen, wäre – sowohl im Rahmen von Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b als auch im Rahmen von Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG – unklar, worauf sich das nach Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG von den Mitgliedstaaten zu gewährende Mindestschutzniveau bezieht.
47
Die Bestimmung verlangt einen Schutz hinsichtlich der „erworbenen“ Rechte oder Anwartschaften. Ob eine Anwartschaft bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers bereits „erworben“ ist, dürfte sich nach nationalem Recht richten. Danach wäre im Ausgangsfall davon auszugehen, dass die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch erfolgenden Gehaltssteigerungen des Klägers zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bereits im Umfang der bis dahin geleisteten Betriebszugehörigkeit von ihm anteilig erdient waren. Für diese wertmäßige Steigerung der Anwartschaften muss der PSV wegen des Festschreibeeffekts in § 7 Absatz 2 Satz 6 Betriebsrentengesetz jedoch nicht eintreten.
48
Andererseits könnte bei der Auslegung von Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG zu berücksichtigen sein, dass der Teil der Versorgungsanwartschaft, der vom Insolvenzschutz nicht erfasst ist, nur deshalb entsteht, weil das Arbeitsverhältnis nicht in Zusammenhang mit der Insolvenz beendet, sondern nach diesem Zeitpunkt noch fortgesetzt wird. Für den Fall eines Ausscheidens des Arbeitnehmers im Rahmen des Insolvenzverfahrens sichert Art. 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz dagegen in der Regel trotz des Festschreibeeffekts die von den Arbeitnehmern bereits aufgrund ihrer Betriebszugehörigkeit erdienten Anwartschaften.
49
6. Sechste Vorlagefrage
50
Sollte die fünfte Vorlagefrage bejaht werden, stellt sich für das vorlegende Gericht auch im Ausgangsverfahren die dem Gerichtshof schon durch Beschluss des Senats vom 20. Februar 2018 (- 3 AZR 142/16 (A) – Randnummer 23 f.; beim Gerichtshof anhängig unter – C-168/18 -) unterbreitete Frage, ob der nach Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG vorgesehene Mindestschutz gewährt wird.
51
Zur Begründung dieser Vorlagefrage wird, um Wiederholungen zu vermeiden, ausdrücklich auf die Ausführungen im Vorlagebeschluss vom 20. Februar 2018 (- 3 AZR 142/16 (A) – Randnummer 23) Bezug genommen. Auch in der Rechtssache Hampshire (EuGH 6. September 2018 – C-17/17 – Randnummer 50) hat der Gerichtshof angenommen, es sei nicht ausgeschlossen, dass die unter anderen Umständen erlittenen Verluste, auch dann wenn ihr Prozentsatz geringer ist, im Lichte der in Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG aufgestellten Pflicht zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen werden können. Im Ausgangsverfahren erleidet der Kläger aufgrund der Eintrittspflicht des PSV nach § 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz und der eingeschränkten Haftung der Beklagten als Betriebserwerberin nach § 613a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch zwar keine Verluste, die die Hälfte seines nach der Versorgungsordnung erworbenen Betriebsrentenanspruchs übersteigen. Allerdings kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob die vom Kläger erlittenen Verluste in Höhe von 142,22 Euro aufgrund anderer Umstände nicht als offensichtlich unverhältnismäßig anzusehen sind.
52
7. Siebte Vorlagefrage
53
Sollte die fünfte Vorlagefrage bejaht werden, wäre nach Ansicht des Senats darüber hinaus zweifelhaft, ob ein nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG oder gegebenenfalls Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG erforderlicher – Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG gleichwertiger – Schutz für Versorgungsanwartschaften der Arbeitnehmer auch dann anzunehmen ist, wenn sich dieser Schutz nicht aus dem nationalen Recht selbst, sondern aus einer unmittelbaren Anwendung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG ergäbe.
54
Das nationale Recht sieht einen Eintritt des PSV im Fall der Insolvenz des Betriebsveräußerers nur nach Maßgabe von § 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz vor. Sollte Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG einen Insolvenzschutz auch für den Teil der bei Insolvenzeröffnung erdienten Versorgungsanwartschaft des Klägers erfordern, der darauf beruht, dass seine Vergütung in der Folgezeit noch angestiegen ist, wäre das vorlegende Gericht gehindert, dieses Ergebnis durch eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung des Betriebsrentengesetzes zu erreichen. Eine solche Auslegung von § 7 Absatz 2 Satz 6 Betriebsrentengesetz wäre mit der gesetzlichen Konzeption nicht zu vereinbaren und daher „contra legem“ (vergleiche zu den Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Randnummer 25 mit weiteren Nachweisen). Ansprüche des Klägers gegen den PSV könnten allenfalls auf eine unmittelbare Geltung von Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG gestützt werden. Allerdings ist unklar, ob eine solche unmittelbare Geltung dieser Regelung zur Gewährung des Schutzniveaus nach Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG oder Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG ausreichend ist. Beide Bestimmungen stellen darauf ab, dass entweder die Mitgliedstaaten die notwendigen Schutzmaßnahmen treffen oder das Recht des betreffenden Mitgliedstaats den Schutz gewährt.
55
8. Achte und Neunte Vorlagefrage
56
Sollte der Gerichtshof die siebte Vorlagefrage bejahen, stellen sich auch vorliegend die dem Gerichtshof bereits durch Beschluss des Senats vom 20. Februar 2018 (- 3 AZR 142/16 (A) – Randnummer 23, 29 ff.) unterbreiteten Fragen, ob Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG die vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen (vergleiche etwa EuGH 1. Juli 2010 – C-194/08 – [Gassmayr] Randnummer 45 mit weiteren Nachweisen) an eine unmittelbar wirkende und damit inhaltlich unbedingt und hinreichend genaue Richtlinienbestimmung erfüllt und – bejahendenfalls – ob dem PSV angesichts seiner besonderen Befugnisse die unmittelbare Anwendung dieser Unionsbestimmung entgegengehalten werden könnte. Die Frage nach der unmittelbaren Geltung von Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG hat der Gerichtshof bislang eindeutig lediglich für den Fall bejaht, dass der Arbeitnehmer nicht mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben (EuGH 6. September 2018 – C-17/17 – [Hampshire] Randnummer 58 ff.).
57
Für die Einzelheiten der Begründung dieser Vorlagefragen bezieht sich der Senat – zur Vermeidung von Wiederholungen – ergänzend ausdrücklich auf die Ausführungen in seinem Vorlagebeschluss vom 20. Februar 2018 (- 3 AZR 142/16 (A) – Randnummer 29 ff.). Die dortigen Fragen wären nach Ansicht des Senats auch vorliegend entscheidungserheblich. Im Fall ihrer Bejahung könnte die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur – eingeschränkten – Haftung des Betriebserwerbers in der Insolvenz lediglich für den Teil des künftigen Betriebsrentenanspruchs, der auf der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Arbeitnehmer erbrachten Betriebszugehörigkeit beruht, aufrechterhalten werden. Der von Art. 3 Absatz 4 Buchstabe b Richtlinie 2001/23/EG beziehungsweise Art. 5 Absatz 2 Buchstabe a Richtlinie 2001/23/EG geforderte Schutz der Arbeitnehmer wäre dann gewährt, da der PSV nicht nur nach § 7 Absatz 2 Betriebsrentengesetz für die Anwartschaft des Klägers eintreten müsste, sondern darüber hinaus auf der Grundlage von Art. 8 Richtlinie 2008/94/EG auch für den Teil des Betriebsrentenanspruchs des Klägers, der darauf beruht, dass seine Vergütung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zu seinem Ausscheiden noch angestiegen ist.
Zwanziger
Spinner
Ahrendt
Knüttel
Möller |
bag_51-18 | 17.10.2018 | 17.10.2018
51/18 - Vergütung von Reisezeiten bei Auslandsentsendung
Entsendet der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vorübergehend zur Arbeit ins Ausland, sind die für Hin- und Rückreise erforderlichen Zeiten wie Arbeit zu vergüten.
Der Kläger ist bei dem beklagten Bauunternehmen als technischer Mitarbeiter beschäftigt und arbeitsvertraglich verpflichtet, auf wechselnden Baustellen im In- und Ausland zu arbeiten. Vom 10. August bis zum 30. Oktober 2015 war der Kläger auf eine Baustelle nach China entsandt. Auf seinen Wunsch buchte die Beklagte für die Hin- und Rückreise statt eines Direktflugs in der Economy-Class einen Flug in der Business-Class mit Zwischenstopp in Dubai. Für die vier Reisetage zahlte die Beklagte dem Kläger die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung für jeweils acht Stunden, insgesamt 1.149,44 Euro brutto. Mit seiner Klage verlangt der Kläger Vergütung für weitere 37 Stunden mit der Begründung, die gesamte Reisezeit von seiner Wohnung bis zur auswärtigen Arbeitsstelle und zurück sei wie Arbeit zu vergüten.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers der Klage stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Entsendet der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer vorübergehend ins Ausland, erfolgen die Reisen zur auswärtigen Arbeitsstelle und von dort zurück ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers und sind deshalb in der Regel wie Arbeit zu vergüten. Erforderlich ist dabei grundsätzlich die Reisezeit, die bei einem Flug in der Economy-Class anfällt. Mangels ausreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zum Umfang der tatsächlich erforderlichen Reisezeiten des Klägers konnte der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden und hat sie deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. Juli 2017 – 2 Sa 468/16 – | Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Juli 2017 – 2 Sa 468/16 – aufgehoben, soweit es der Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen am Rhein vom 7. Juli 2016 – 1 Ca 4/16 – stattgegeben hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Leitsatz
Entsendet der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vorübergehend zur Arbeit ins Ausland, sind die für Hin- und Rückreise erforderlichen Zeiten wie Arbeit zu vergüten.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Vergütung von Reisezeiten.
2
Der Kläger ist seit 1988 bei der Beklagten, einem Bauunternehmen, als technischer Mitarbeiter mit Dienstsitz in L beschäftigt und arbeitsvertraglich verpflichtet, auf wechselnden Baustellen im In- und Ausland zu arbeiten. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Rahmentarifvertrag für die Angestellten und Poliere des Baugewerbes (iF RTV-Bau) Anwendung. Dieser regelt idF vom 5. Juni 2014 ua.:
„§ 7
Fahrtkostenabgeltung,
Verpflegungszuschuss und Auslösung
…
4.
Arbeitsstellen ohne tägliche Heimfahrt
…
4.3
An- und Abreise
Der Arbeitgeber hat den Angestellten kostenlos zur Arbeitsstelle zu befördern oder ihm die Fahrtkosten in Höhe von 0,20 € je gefahrenem Kilometer ohne Begrenzung zu erstatten. Das gilt auch für den unmittelbaren Wechsel zu einer anderen Arbeitsstelle und für die Rückfahrt zu seiner Wohnung nach Beendigung der Tätigkeit auf der Arbeitsstelle. Im Übrigen gilt Nr. 3.1.
In diesen Fällen hat der Angestellte für die erforderliche Zeit Anspruch auf Fortzahlung seines Gehalts ohne jeden Zuschlag.
…
§ 13
Ausschlussfristen
1.
Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden; …
2.
Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird. …“
3
Für die Zeit vom 10. August bis zum 30. Oktober 2015 wurde der Kläger von der Beklagten auf eine Baustelle nach Bengbu, China, entsandt. Der aus diesem Anlass ergänzend zum Arbeitsvertrag geschlossene Entsendevertrag vom 7. August 2015 enthält Regelungen ua. zur Vergütung während der Dauer des Einsatzes, zu Verpflegungsmehraufwand, Unterkunfts- und Reisekosten, jedoch nicht zur Vergütung von Reisezeiten. Auf Wunsch des Klägers buchte die Beklagte für die Hin- und Rückreise statt eines Direktflugs in der Economy-Class einen Flug in der Business-Class mit Zwischenstopp in Dubai. Die Differenzflugkosten sollte – vorbehaltlich einer gerichtlichen Klärung – der Kläger tragen.
4
Nachdem der Kläger am 10. August 2015 noch gearbeitet hatte, flog er abends von Frankfurt am Main mit Zwischenstopp in Dubai nach Shanghai. Nach restlicher Arbeit auf der Baustelle trat er am Nachmittag des 29. Oktober 2015 die Rückreise an. Für vier Reisetage zahlte die Beklagte dem Kläger die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung für jeweils acht Stunden, insgesamt 1.149,44 Euro brutto.
5
Nach erfolgloser Geltendmachung mit Schreiben vom 10. November und 10. Dezember 2015 hat der Kläger mit seiner am 4. Januar 2016 anhängig gemachten und am 8. Februar 2016 erweiterten Klage Vergütung für weitere 37 Stunden Reisezeit verlangt und gemeint, die gesamte Reisezeit von seiner Wohnung bis zur auswärtigen Arbeitsstelle und zurück sei wie Arbeit zu vergüten.
6
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.661,30 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 673,50 Euro seit dem 16. September 2015 und aus weiteren 987,80 Euro seit dem 16. November 2015 zu zahlen.
7
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat gemeint, die tariflichen Bestimmungen zur Vergütung von An- und Abreise bei Arbeitsstellen ohne tägliche Heimfahrt seien nicht auf Auslandsentsendungen anwendbar. Jedenfalls sei die Verlängerung der Reisezeiten durch die Zwischenlandungen in Dubai nicht erforderlich gewesen.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte zur Zahlung von 1.329,04 Euro brutto nebst Zinsen als Vergütung für weitere 37 Reisestunden verurteilt und die Berufung im Übrigen hinsichtlich vom Kläger verlangter Überstundenzuschläge rechtskräftig zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht nur für die Beklagte zugelassenen Revision verfolgt diese ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
9
Die Revision der Beklagten ist teilweise begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Der Kläger hat Anspruch auf Vergütung der für die vorübergehende Entsendung ins Ausland erforderlichen Reisezeiten als Arbeit. In welcher Höhe die Klage begründet ist, kann der Senat jedoch aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden.
10
I. Die Klage ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger begehrt Vergütung für Reisezeiten im Umfang von weiteren insgesamt 37 Stunden für den 10./11. August und den 29./30. Oktober 2015 iHv. jeweils 35,92 Euro brutto. Damit ist der Antrag für den streitbefangenen Zeitraum als abschließende Gesamtklage zu verstehen (vgl. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 245/17 – Rn. 39).
11
II. Der Kläger hat Anspruch auf Vergütung der für Hin- und Rückreise zur auswärtigen Arbeitsstelle erforderlichen Zeiten als Arbeit, § 611 Abs. 1 BGB (seit 1. April 2017: § 611a Abs. 2 BGB).
12
1. Die gesetzliche Vergütungspflicht des Arbeitgebers knüpft nach § 611 Abs. 1 BGB an die Leistung der versprochenen Dienste an.
13
a) Zu den „versprochenen Diensten“ iSd. § 611 Abs. 1 BGB zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Synallagma verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. „Arbeit“ als Leistung der versprochenen Dienste iSd. § 611 Abs. 1 BGB ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient (st. Rspr., vgl. nur BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 17 mwN).
14
b) Grundsätzlich erbringt der Arbeitnehmer mit dem – eigennützigen – Zurücklegen des Wegs von der Wohnung zur Arbeitsstelle und zurück keine Arbeit für den Arbeitgeber. Anders ist es jedoch, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Betriebs zu erbringen hat. In diesem Falle gehört das Fahren zur auswärtigen Arbeitsstelle zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten, weil das wirtschaftliche Ziel der Gesamttätigkeit darauf gerichtet ist, Kunden aufzusuchen – sei es, um dort Dienstleistungen zu erbringen, sei es, um Geschäfte für den Arbeitgeber zu vermitteln oder abzuschließen. Dazu gehört zwingend die jeweilige An- und Abreise, unabhängig davon, ob Fahrtantritt und -ende vom Betrieb des Arbeitgebers oder von der Wohnung des Arbeitnehmers aus erfolgen (BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 18 mwN; im Ergebnis ebenso ErfK/Preis 18. Aufl. § 611a BGB Rn. 516a ff.; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 60 Rn. 19; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 45 Rn. 55; Baeck/Deutsch ArbZG 3. Aufl. § 2 Rn. 83).
15
c) Dasselbe gilt für Reisen, die wegen einer vorübergehenden Entsendung zur Arbeit ins Ausland erforderlich sind. Diese sind fremdnützig und damit jedenfalls dann Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinn, wenn sie – wie im Streitfall – ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgen und in untrennbarem Zusammenhang mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung stehen. In diesem Fall gehören – wie die Fahrt des Arbeitnehmers zu und von einer (inländischen) auswärtigen Arbeitsstelle – Hin- und Rückreise bei der vorübergehenden Entsendung ins Ausland zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten.
16
2. Unerheblich für die Vergütungspflicht von Reisezeiten ist deren arbeitszeitrechtliche Einordnung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 ArbZG (vgl. dazu etwa ErfK/Wank 18. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 17 u. ErfK/Preis § 611a BGB Rn. 516g f.; Baeck/Deutsch ArbZG 3. Aufl. § 2 Rn. 72 ff.; Schliemann ArbZG 3. Aufl. § 2 Rn. 41 ff., jeweils mwN). Denn die Qualifikation einer bestimmten Zeitspanne als Arbeitszeit im Sinne des gesetzlichen Arbeitszeitschutzrechts führt nicht zwingend zu einer Vergütungspflicht, wie umgekehrt die Herausnahme bestimmter Zeiten aus der Arbeitszeit nicht die Vergütungspflicht ausschließen muss (BAG 12. Dezember 2012 – 5 AZR 355/12 – Rn. 16 mwN; 21. Dezember 2016 – 5 AZR 362/16 – Rn. 30, BAGE 157, 347). Auch der Gerichtshof der Europäischen Union nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 Abs. 1 geregelten besonderen Falls des bezahlten Jahresurlaubs keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet (EuGH 21. Februar 2018 – C-518/15 – [Matzak] Rn. 49 ff. mwN).
17
3. Erforderliche Reisezeiten sind mit der für die eigentliche Tätigkeit vereinbarten Vergütung zu bezahlen, sofern nicht durch Arbeits- oder Tarifvertrag eine gesonderte Vergütungsregelung hierfür eingreift. Das ist vorliegend nicht der Fall.
18
a) Mit der Einordnung des Reisens als Arbeit und damit Teil der iSv. § 611 Abs. 1 BGB „versprochenen Dienste“ ist noch nicht geklärt, wie die dafür vom Arbeitnehmer aufgewendete Zeit zu vergüten ist. Durch Arbeits- oder Tarifvertrag kann eine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit und damit auch für Reisezeiten getroffen werden (zu Fahrten zur auswärtigen Arbeitsstelle sh. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 19 mwN; zu Umkleidezeiten BAG 25. April 2018 – 5 AZR 245/17 – Rn. 31 mwN). Dabei kann eine Vergütung für Reisezeiten auch ganz ausgeschlossen werden, sofern mit der getroffenen Vereinbarung nicht der jedem Arbeitnehmer für tatsächlich geleistete vergütungspflichtige Arbeit nach § 1 Abs. 1 MiLoG zustehende Anspruch auf den Mindestlohn unterschritten wird (vgl. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 30 ff.).
19
b) Eine ausdrückliche Vergütungsvereinbarung für Reisezeiten enthalten weder der Arbeits- noch der Entsendevertrag. Das bloße Schweigen der individualrechtlichen Vereinbarungen der Parteien hierzu vermag die gesetzliche Vergütungspflicht der erforderlichen Reisezeiten nicht auszuschließen.
20
c) Auch § 7 Nr. 4.3 Abs. 2 RTV-Bau enthält keine von der gesetzlichen Vergütungspflicht für Reisezeiten abweichende Regelung. Nach der Tarifnorm haben Angestellte für die erforderliche Zeit der An- und Abreise zur und von der auswärtigen Arbeitsstelle Anspruch auf Fortzahlung ihres individuellen Gehalts ohne Zuschlag. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob § 7 Nr. 4.3 Abs. 2 RTV-Bau auch für Reisen bei der vorübergehenden Entsendung zur Arbeit ins Ausland Anwendung findet oder er sich – wie die Beklagte meint – auf Fahrten zu inländischen Arbeitsstellen beschränkt.
21
III. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die vom Kläger angegebenen Reisezeiten seien durchgängig erforderlich gewesen, ist nicht frei von Rechtsfehlern. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht endentscheiden. Daher ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
22
1. Für die Erforderlichkeit von Reisezeiten gelten folgende Grundsätze:
23
a) Gibt der Arbeitgeber Reisemittel und -verlauf vor, ist diejenige Reisezeit erforderlich, die der Arbeitnehmer benötigt, um entsprechend dieser Vorgaben des Arbeitgebers das Reiseziel zu erreichen.
24
b) Überlässt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Wahl von Reisemittel und/oder Reiseverlauf, ist der Arbeitnehmer aufgrund seiner Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Vertragsteils (§ 241 Abs. 2 BGB) im Rahmen des ihm Zumutbaren verpflichtet, das kostengünstigste Verkehrsmittel bzw. den kostengünstigsten Reiseverlauf zu wählen. Bei einer Flugreise ist deshalb grundsätzlich die Reisezeit erforderlich, die bei einem Direktflug in der Economy-Class anfällt, es sei denn, ein solcher wäre wegen besonderer Umstände dem Arbeitnehmer nicht zumutbar.
25
c) Im Streitfall hat die Beklagte die Wahl des Reiseverlaufs hinsichtlich des Flugs dem Kläger überlassen. Aus den bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ergeben sich indes keine Anhaltspunkte für die Annahme, dem Kläger wäre ein Direktflug nach China in der Economy-Class nicht zumutbar gewesen. Der zusätzliche Zeitaufwand des Umwegs über Dubai samt Zwischenlandung war auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht erforderlich und deshalb nicht vergütungspflichtig.
26
d) Der Umstand, dass die Beklagte die Flüge selbst gebucht hat, macht die zusätzliche Reisezeit entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht erforderlich. Die Flugverbindungen wurden dem Wunsch des Klägers entsprechend gewählt. Mit der Buchung hat die Beklagte kein schützenswertes Vertrauen geschaffen, sie werde die hierdurch anfallenden zusätzlichen Reisezeiten vergüten, zumal der Kläger nach dem Entsendevertrag – vorbehaltlich einer gerichtlichen Klärung – die Mehrkosten für das Flugticket tragen sollte.
27
2. Neben den eigentlichen Beförderungszeiten gehört zur erforderlichen Reisezeit auch der mit der Beförderung zwingend einhergehende weitere Zeitaufwand. Bei Flugreisen sind das etwa die Wegezeiten zum und vom Flughafen sowie die Zeiten für Einchecken und Gepäckausgabe. Ob und inwieweit im Einzelfall auf solche Wegezeiten die Zeiten anzurechnen sind, die der Kläger erspart hat, weil er ohne die Reise nicht vergütungspflichtige Wege von der Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück hätte zurücklegen müssen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hat.
28
3. Nicht zur erforderlichen Reisezeit zählt hingegen rein eigennütziger Zeitaufwand des Arbeitnehmers im Zusammenhang mit der Reise. Dazu gehört zB das vom Kläger in seine Berechnung einbezogene Kofferpacken und Duschen.
29
4. Die Darlegungs- und Beweislast für die Erforderlichkeit von Reisezeiten als Voraussetzung des Vergütungsanspruchs trägt der Arbeitnehmer (vgl. – allgemein zur Darlegungs- und Beweislast im Vergütungsprozess – BAG 18. April 2012 – 5 AZR 248/11 – Rn. 12 ff., BAGE 141, 144).
30
a) Gibt der Arbeitgeber Reisemittel und -verlauf vor, genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast, indem er vorträgt, welcher Zeitaufwand ihm im Einzelnen durch die Vorgaben entstanden ist. Es ist sodann Sache des Arbeitgebers, die Tatsachen vorzubringen, aus denen sich ergeben soll, dass der vom Arbeitnehmer behauptete Zeitaufwand zur Einhaltung der Vorgaben nicht erforderlich war. Soweit der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer hinsichtlich Reisemittel und/oder Reiseverlauf Wahlmöglichkeiten lässt, muss der Arbeitnehmer die Umstände darlegen, aus denen sich ergeben soll, dass er sich für den kostengünstigsten Reiseverlauf entschieden hat oder aufgrund welcher persönlichen Umstände dieser nicht zumutbar war.
31
b) Davon ausgehend wird das Landesarbeitsgericht im fortgesetzten Berufungsverfahren – ggf. nach weiterem Sachvortrag der Parteien – insbesondere der streitig gebliebenen Frage nachgehen müssen, ob der Kläger zu den vorgegebenen Reisetagen einen kostengünstigeren Direktflug hätte nutzen können und – wenn ja – ob in der Person des Klägers Umstände vorgelegen haben, die ihm einen solchen unzumutbar machten. Außerdem sind die Dauer des vom Kläger in seine Berechnung einbezogenen Duschens und Kofferpackens festzustellen und unberücksichtigt zu lassen. Darüber hinaus erschließt sich aus dem bisherigen Vortrag des Klägers nicht, aus welchen Gründen ein Umweg mit dem Mietwagen zum Ausladen des Fahrzeugs erforderlich war.
32
IV. Soweit der Kläger danach Anspruch auf Vergütung von Reisezeiten hat, ist dieser nicht nach § 13 RTV-Bau verfallen. Davon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen. Nach seinen nicht angegriffenen Feststellungen ist die Vergütung für Reisezeiten jeweils am 15. des Folgemonats zur Zahlung fällig. Mit den beiden Geltendmachungsschreiben (zu den Anforderungen vgl. BAG 16. Januar 2013 – 10 AZR 863/11 – Rn. 24, BAGE 144, 210) hat der Kläger die erste Stufe, mit Klage und Klageerweiterung die zweite Stufe der Ausschlussfristenregelung des § 13 RTV-Bau gewahrt. Insoweit hat die Revision auch keine Angriffe erhoben.
Biebl
Berger
Volk
Menssen
Rahmstorf |
bag_52-18 | 18.10.2018 | 18.10.2018
52/18 - Stufenzuordnung gemäß § 16 TV-L - Zulässigkeit der Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung trotz Auslandsbezugs iSd. Art. 45 AEUV?
Die Parteien streiten über die Berücksichtigung von Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus einem vorherigen Arbeitsverhältnis in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bei der Stufenzuordnung im Entgeltsystem des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L).
Die Klägerin war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich als Lehrerin tätig. Weniger als sechs Monate nach dem Ende dieser Tätigkeit trat sie als Lehrerin in den Schuldienst des beklagten Landes ein. Dieses zahlte der Klägerin in Anwendung des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L Entgelt nach der Stufe 3 der Entgeltgruppe 11 TV-L ab dem Tag der Einstellung, da die Klägerin über in Frankreich erworbene mindestens dreijährige einschlägige Berufserfahrung verfügte. Die Klägerin beanspruchte demgegenüber die vollständige Berück-sichtigung ihrer einschlägigen Berufserfahrung und daher Entgelt nach Stufe 5 der Entgelttabelle. Dies lehnte das beklagte Land ab. Es gestand aber zu, dass die Berufserfahrungszeiten der Klägerin, hätte sie sie beim beklagten Land zurückgelegt, nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L die begehrte Stufenzuordnung zur Folge gehabt hätte.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TV-L verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG und die unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeitsbestimmungen. Das beklagte Land hat demgegenüber gemeint, die Privilegierung bezwecke, den Besitzstand insbesondere zuvor beim selben Arbeitgeber befristet Beschäftigter zu wahren. Die auf der Staatsangehörigkeit beruhende mittelbare Diskriminierung sei deswegen gerechtfertigt. Das Arbeitsgericht hat der Feststellungsklage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen.
Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat mit Beschluss vom heutigen Tag den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 AEUV um die Beantwortung einer Frage zur Auslegung von Art. 45 Abs. 2 AEUV sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union ersucht.* Für den Senat ist entscheidungserheblich, ob die § 16 Abs. 2 TV-L innewohnende Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch den mit der Privilegierung der bei demselben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrungszeiten nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L bezweckten Schutz befristet beschäftigter Arbeitnehmer gerechtfertigt ist. Dieser Schutz ist wegen Paragraph 4 Nr. 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist, unionsrechtlich geboten. Die Klärung der Frage, wie die Kollision zweier auf unterschiedliche Schutzziele gerichteter Normanwendungsbefehle des Unionsrechts aufzulösen ist, fällt in die Zuständigkeit des EuGH.
*Der genaue Wortlaut der Frage kann unter www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden.
Bundesarbeitsgericht Beschluss vom 18. Oktober 2018 – 6 AZR 232/17 (A) –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen Urteil vom 9. März 2017 – 4 Sa 86/16 E – | Tenor
1. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht:
Sind Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union dahingehend auszulegen, dass sie einer Regelung wie der in § 16 Abs. 2 TV-L getroffenen entgegenstehen, wonach die bei dem bisherigen Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung bei der Zuordnung zu den Stufen eines tariflichen Entgeltsystems nach der Wiedereinstellung privilegiert wird, indem diese Berufserfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L uneingeschränkt anerkannt wird, während die bei anderen Arbeitgebern erworbene einschlägige Berufserfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L nur mit höchstens drei Jahren berücksichtigt wird, wenn diese Privilegierung durch Paragraph 4 Nr. 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist, unionsrechtlich geboten ist?
2. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Leitsatz
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht:
Sind Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union dahingehend auszulegen, dass sie einer Regelung wie der in § 16 Abs. 2 TV-L getroffenen entgegenstehen, wonach die bei dem bisherigen Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung bei der Zuordnung zu den Stufen eines tariflichen Entgeltsystems nach der Wiedereinstellung privilegiert wird, indem diese Berufserfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L uneingeschränkt anerkannt wird, während die bei anderen Arbeitgebern erworbene einschlägige Berufserfahrung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L nur mit höchstens drei Jahren berücksichtigt wird, wenn diese Privilegierung durch Paragraph 4 Nr. 4 der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist, unionsrechtlich geboten ist?
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien des Ausgangsverfahrens streiten über die Berücksichtigung von Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus einem vorherigen Arbeitsverhältnis in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bei der Stufenzuordnung im Entgeltsystem des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) vom 12. Oktober 2006. Dieser Tarifvertrag regelt die Arbeitsbedingungen der bei einem deutschen Bundesland beschäftigten Arbeitnehmer.
2
A. Rechtlicher Rahmen
3
I. Das maßgebliche Tarifrecht
4
Die bei der Einstellung der Klägerin vorzunehmende Stufenzuordnung richtet sich nach dem TV-L in der zum Zeitpunkt der Einstellung am 8. September 2014 geltenden Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 7 vom 9. März 2013. Die maßgeblichen Regelungen lauten auszugsweise wie folgt (Hervorhebungen durch den vorlegenden Senat):
„§ 12 Eingruppierung
(1) … 2Die/Der Beschäftigte erhält Entgelt nach der Entgeltgruppe, in der sie/er eingruppiert ist. …
§ 16 Stufen der Entgelttabelle
(1) 1Die Entgeltgruppen 9 bis 15 umfassen fünf Stufen …
(2) 1Bei der Einstellung werden die Beschäftigten der Stufe 1 zugeordnet, sofern keine einschlägige Berufserfahrung vorliegt. 2Verfügen Beschäftigte über eine einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr aus einem vorherigen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber, erfolgt die Stufenzuordnung unter Anrechnung der Zeiten der einschlägigen Berufserfahrung aus diesem vorherigen Arbeitsverhältnis. 3Ist die einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr in einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber erworben worden, erfolgt die Einstellung in die Stufe 2, beziehungsweise – bei Einstellung nach dem 31. Januar 2010 und Vorliegen einer einschlägigen Berufserfahrung von mindestens drei Jahren – in Stufe 3. 4Unabhängig davon kann der Arbeitgeber bei Neueinstellungen zur Deckung des Personalbedarfs Zeiten einer vorherigen beruflichen Tätigkeit ganz oder teilweise für die Stufenzuordnung berücksichtigen, wenn diese Tätigkeit für die vorgesehene Tätigkeit förderlich ist.
Protokollerklärungen zu § 16 Absatz 2:
1.
Einschlägige Berufserfahrung ist eine berufliche Erfahrung in der übertragenen oder einer auf die Aufgabe bezogen entsprechenden Tätigkeit.
2.
…
3.
Ein vorheriges Arbeitsverhältnis im Sinne des Satzes 2 besteht, wenn zwischen dem Ende des vorherigen und dem Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses ein Zeitraum von längstens sechs Monaten liegt; …
(2a) …
(3) 1Die Beschäftigten erreichen die jeweils nächste Stufe – von Stufe 3 an in Abhängigkeit von ihrer Leistung gemäß § 17 Absatz 2 – nach folgenden Zeiten einer ununterbrochenen Tätigkeit innerhalb derselben Entgeltgruppe bei ihrem Arbeitgeber (Stufenlaufzeit):
– Stufe 2 nach einem Jahr in Stufe 1,
– Stufe 3 nach zwei Jahren in Stufe 2,
– Stufe 4 nach drei Jahren in Stufe 3,
– Stufe 5 nach vier Jahren in Stufe 4 …
§ 17 Allgemeine Regelungen zu den Stufen
(1) …
(2) 1Bei Leistungen der Beschäftigten, die erheblich über dem Durchschnitt liegen, kann die erforderliche Zeit für das Erreichen der Stufen 4 bis 6 jeweils verkürzt werden. 2Bei Leistungen, die erheblich unter dem Durchschnitt liegen, kann die erforderliche Zeit für das Erreichen der Stufen 4 bis 6 jeweils verlängert werden. …
§ 44 Sonderregelungen für Beschäftigte als Lehrkräfte
…
Nr. 2a. Zu § 16 – Stufen der Entgelttabelle –
1. Bei Anwendung des § 16 Absatz 2 Satz 2 gilt:
1Für ab 1. April 2011 neu zu begründende Arbeitsverhältnisse von Lehrkräften werden im Rahmen des § 16 Absatz 2 Satz 2 Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus mehreren Arbeitsverhältnissen zum selben Arbeitgeber, zuzüglich einer einmaligen Berücksichtigung der nach Ziffer 2 angerechneten Zeit des Referendariats oder Vorbereitungsdienstes, zusammengerechnet. 2Die Nr. 3 der Protokollerklärungen zu § 16 Absatz 2 bleibt unberührt.
2. Bei Anwendung des § 16 Absatz 3 Satz 1 gilt:
Für ab 1. März 2009 neu zu begründende Arbeitsverhältnisse von Lehrkräften wird die zur Vorbereitung auf den Lehrerberuf abgeleistete Zeit des Referendariats oder des Vorbereitungsdienstes im Umfang von sechs Monaten auf die Stufenlaufzeit der Stufe 1 angerechnet.
Niederschriftserklärung zu § 44 Nr. 2a Ziffern 1 und 2:
Zur Erläuterung von § 44 Nr. 2a Ziffern 1 und 2 sind sich die Tarifvertragsparteien über folgende Beispiele einig:
Beispiel 1:
Eine Lehrkraft war im Anschluss an den festgesetzten Vorbereitungsdienst in folgenden befristeten Arbeitsverhältnissen beim selben Arbeitgeber beschäftigt:
…
Beispiel 2:
Eine Lehrkraft war im Anschluss an den festgesetzten Vorbereitungsdienst in folgenden befristeten Arbeitsverhältnissen beim selben Arbeitgeber beschäftigt:
…“
5
II. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz
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Das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG) vom 21. Dezember 2000 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1966), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 2854), dient der Umsetzung der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (Rahmenvereinbarung), die im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge enthalten ist. Das Gesetz lautet auszugsweise:
„§ 4 Verbot der Diskriminierung
(1) …
(2) 1Ein befristet beschäftigter Arbeitnehmer darf wegen der Befristung des Arbeitsvertrages nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer unbefristet beschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. … 3Sind bestimmte Beschäftigungsbedingungen von der Dauer des Bestehens des Arbeitsverhältnisses in demselben Betrieb oder Unternehmen abhängig, so sind für befristet beschäftigte Arbeitnehmer dieselben Zeiten zu berücksichtigen wie für unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer, es sei denn, dass eine unterschiedliche Berücksichtigung aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist.“
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B. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
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Die Klägerin war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich an verschiedenen Collèges-Lycée in den Klassen sechs bis zwölf als Lehrerin tätig. Weniger als sechs Monate nach dem Ende dieser Tätigkeit trat die Klägerin zum 8. September 2014 als Lehrerin in den Schuldienst des beklagten Landes ein. Im Arbeitsvertrag ist vereinbart, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der TV-L in seiner jeweils aktuellen Fassung anzuwenden ist. Das beklagte Land erkannte die in Frankreich erworbene Berufserfahrung als einschlägig an. Die Klägerin erhielt darum ab dem Tag ihrer Einstellung Entgelt nach der Stufe 3 der Entgeltgruppe 11 TV-L und stieg im September 2017 regulär in die Stufe 4 dieser Entgeltgruppe auf. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2014 bat sie um Überprüfung ihrer Stufenzuordnung und beanspruchte Entgelt nach der Stufe 5 der Entgelttabelle bereits ab dem Tag ihrer Einstellung. Dies lehnte das beklagte Land ab.
9
Die Klägerin hat im Ausgangsverfahren geltend gemacht, die Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TV-L verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes und die unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeitsbestimmungen in Art. 45 AEUV sowie Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (im Folgenden VO (EU) Nr. 492/2011). Daher will die Klägerin die Verpflichtung des beklagten Landes festgestellt wissen, ihr rückwirkend ab dem Tag ihrer Einstellung Entgelt nach Stufe 5 der Entgeltgruppe 11 TV-L nebst Zinsen zu gewähren.
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Das beklagte Land hat die Ansicht vertreten, die in § 16 Abs. 2 TV-L enthaltene, auf der Staatsangehörigkeit beruhende mittelbare Diskriminierung sei gerechtfertigt. Die Regelung bezwecke in zulässiger Weise, den Besitzstand insbesondere zuvor beim selben Arbeitgeber befristet Beschäftigter zu wahren.
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Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des beklagten Landes hat das Landesarbeitsgericht das arbeitsgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
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C. Prinzipien der Stufenzuordnung nach dem TV-L
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I. Nach den Bestimmungen des TV-L erhalten die Beschäftigten monatlich ein Tabellenentgelt. Dessen Höhe bestimmt sich nach der Entgeltgruppe, in die sie eingruppiert sind, und nach der für sie geltenden Stufe ihrer Entgeltgruppe (§ 12 Abs. 1 Satz 2, § 16 Abs. 1 TV-L). Nach den in § 16 Abs. 3 Satz 1 TV-L aufgeführten Zeiten steigen die Beschäftigten regulär in die nächste Stufe auf. Damit soll die gewonnene Berufserfahrung honoriert werden. Die Tarifvertragsparteien sind im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH 3. Oktober 2006 – C-17/05 – [Cadman] Rn. 34 f.) davon ausgegangen, dass die Beschäftigten durch die Ausübung der ihnen übertragenen Tätigkeit laufend Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die die Arbeitsqualität und -quantität verbessern (BAG 27. Januar 2011 – 6 AZR 526/09 – Rn. 35, BAGE 137, 80). Dementsprechend wird nach dem in § 16 Abs. 3 Satz 1 TV-L festgelegten Grundgedanken nur die Zeit der ununterbrochenen Tätigkeit in ein und derselben Entgeltgruppe bei ein und demselben Arbeitgeber – ausgehend von der Stufe 1 – berücksichtigt.
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II. Sonderregelungen für die Stufenzuordnung bei der Einstellung trifft § 16 Abs. 2 TV-L. Entsprechend dem Grundgedanken der Stufenzuordnung werden neu eingestellte Beschäftigte, zu denen auch Arbeitnehmer gehören, die nach dem Ende ihrer Tätigkeit für ein Bundesland von diesem wieder eingestellt werden, gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 TV-L in der Regel der Stufe 1 zugeordnet. Dieser Grundgedanke wird durchbrochen, wenn Beschäftigte bei ihrer Einstellung bereits eine für die neue Tätigkeit einschlägige Berufserfahrung besitzen. Das ist nach der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 16 Abs. 2 TV-L der Fall, wenn sie eine berufliche Erfahrung in der übertragenen Tätigkeit oder in einer der neuen Aufgabe entsprechenden Tätigkeit besitzen. Die Tarifvertragsparteien gehen davon aus, dass sich solche Beschäftigten schneller einarbeiten und ein höheres Leistungsvermögen aufweisen. Das honorieren sie mit einer Zuordnung zu einer höheren Stufe als der Stufe 1 (vergleiche BAG 27. März 2014 – 6 AZR 571/12 – Rn. 24, BAGE 148, 1).
15
III. Innerhalb der Gruppe der neu eingestellten Beschäftigten differenzieren die Tarifvertragsparteien zwischen solchen Beschäftigten, die schon zuvor bei demselben Bundesland beschäftigt waren, und Beschäftigten, die von einem anderen Arbeitgeber zu einem Bundesland wechseln. Dabei werden die schon vorher bei demselben Land Beschäftigten bei einer Wiedereinstellung privilegiert. Zu dieser Differenzierung sind die Tarifvertragsparteien nach dem im nationalen Recht geltenden Grundsatz der Tarifautonomie, der durch Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes als der nationalen Verfassung garantiert ist, befugt (hierzu nachfolgend Rn. 25).
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1. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L sieht eine Stufenzuordnung unter vollständiger Anrechnung der Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus einem vorherigen befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber, dh. zum selben Bundesland, vor. Ist diese ausreichend lange, kann darum sofort bei der Einstellung eine Zuordnung zu den Stufen 4 oder 5 erfolgen. Ein vorheriges Arbeitsverhältnis im Sinne des § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L besteht allerdings nur, wenn zwischen dessen Ende und dem Beginn des neuen Arbeitsverhältnisses ein Zeitraum von nicht mehr als sechs Monaten liegt (Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L). Bei einer längeren Unterbrechung gehen die Tarifvertragsparteien von einer „schädlichen Unterbrechung“ aus. Der Beschäftigte wird dann ungeachtet der erworbenen Berufserfahrung der Stufe 1 seiner Entgeltgruppe zugeordnet. Das steht im Einklang mit innerstaatlichem Recht (vergleiche BAG 27. April 2017 – 6 AZR 459/16 – Rn. 30). Bei Lehrkräften an allgemein bildenden Schulen und Berufsschulen werden für ab 1. April 2011 neu zu begründende Arbeitsverhältnisse Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus mehreren Arbeitsverhältnissen zum selben Arbeitgeber zuzüglich der Zeiten des Referendariats oder Vorbereitungsdienstes zusammengerechnet, wobei die Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L unberührt bleibt (§ 44 Nr. 2a TV-L). Diese Vorschrift hat für das Ausgangsverfahren keine Bedeutung. Die Parteien streiten nicht über die Berücksichtigung der Zeiten eines Referendariats.
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2. Ist die einschlägige Berufserfahrung von mindestens einem Jahr in einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber erworben worden, erfolgt die Einstellung in Stufe 2, beziehungsweise – bei Einstellung nach dem 31. Januar 2010 und Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung von mindestens drei Jahren – in Stufe 3 (§ 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L). Eine Zuordnung zu einer höheren Stufe ist auch dann nicht möglich, wenn eine Arbeitnehmerin wie die Klägerin deutlich mehr als drei Jahre einschlägige Berufserfahrung aufweist. Satz 3 findet nach der Rechtsprechung des vorlegenden Senats dabei nur Anwendung, wenn bis zur Einstellung nur Unterbrechungen von jeweils nicht mehr als sechs Monaten eingetreten sind. Der tariflich ungeregelte Fall einer schädlichen Unterbrechung im Rahmen des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L verlangt nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge wie der in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L tariflich geregelte Fall. Darum ist die Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L auch auf Einstellungen nach § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L anzuwenden (BAG 23. Februar 2017 – 6 AZR 244/16 – Rn. 24; 3. Juli 2014 – 6 AZR 1088/12 – Rn. 24).
18
Auch bei Beschäftigten, die von einem anderen Arbeitgeber zu einem Bundesland wechseln, eröffnet § 16 Abs. 2 Satz 4 TV-L dem Land eine tarifkonforme Möglichkeit, bei der Einstellung eine Stufenzuordnung zu einer höheren Stufe als der Stufe 3 vorzunehmen, wenn die Einstellung zur Personaldeckung erfolgt und die vorhandene Erfahrung zumindest förderlich für die neue Tätigkeit ist. Insoweit kommt dem Arbeitgeber ein Ermessen zu. Von dieser Möglichkeit hat das beklagte Land im Fall der Klägerin keinen Gebrauch gemacht.
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D. Entscheidungserheblichkeit und Erläuterung der Vorlagefrage
20
I. In Anwendung der dargestellten tariflichen Regelungen war die Klägerin mit Beginn ihres Arbeitsverhältnisses zum beklagten Land am 8. September 2014 der Stufe 3 der Entgelttabelle zuzuordnen. Das hat das beklagte Land getan.
21
1. Die Stufenzuordnung der Klägerin zum Zeitpunkt ihrer Einstellung erfolgt nicht nach § 16 Abs. 2 Satz 2, § 44 Nr. 2a Ziffer 1 TV-L in die Entgeltstufe 5.
22
a) Zwar hat die Klägerin Berufserfahrung im Umfang von mehr als zehn Jahren aufgrund ihrer Tätigkeit in Arbeitsverhältnissen als Lehrerin an verschiedenen Collèges-Lycée in Frankreich von 1997 bis 2014 erworben. Dabei handelt es sich um einschlägige Berufserfahrung im Sinne der Protokollerklärung Nr. 1 zu § 16 Abs. 2 TV-L. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig und so vom Landesarbeitsgericht für den Senat bindend festgestellt (§ 559 der Zivilprozessordnung).
23
b) Die Klägerin hat die Zeiten einschlägiger Berufserfahrung jedoch nicht in einem oder mehreren vorherigen Arbeitsverhältnissen zum beklagten Land als demselben Arbeitgeber erworben. Sie ist am 8. September 2014 erstmals in dessen Dienste getreten.
24
2. Die Stufenzuordnung der Klägerin zum 8. September 2014 erfolgt darum nach § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L unter nur eingeschränkter Berücksichtigung ihrer bei einem anderen Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung. Danach ist die Klägerin der Stufe 3 der Entgelttabelle zuzuordnen. Sie hat einschlägige Berufserfahrung (hierzu vorstehend Rn. 22) von mindestens drei Jahren aus einem Arbeitsverhältnis zu einem anderen Arbeitgeber vorzuweisen. Die Voraussetzungen der auch bei 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L anzuwendenden Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L sind erfüllt. Die Klägerin war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich als Lehrerin tätig. Nach einer Unterbrechung von nicht mehr als sechs Monaten trat sie am 8. September 2014 in die Dienste des beklagten Landes ein.
25
II. § 16 Abs. 2 TV-L verstößt nach der Rechtsprechung des vorlegenden Senats nicht gegen innerstaatliches Recht. Die Differenzierung in den Sätzen 2 und 3 dieser Tarifnorm zwischen Arbeitnehmern, die ein neues Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber nach einer gemäß der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L unschädlichen Unterbrechung begründen, und den Arbeitnehmern, die wie die Klägerin ohne schädliche Unterbrechung von einem anderen Arbeitgeber in ein Arbeitsverhältnis zum beklagten Land gewechselt sind, ist nach der Rechtsprechung des Senats mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar, unter anderem deshalb, weil so dem Verbot der Diskriminierung befristet Beschäftigter Rechnung getragen wird (vergleiche BAG 25. Januar 2018 – 6 AZR 791/16 – Rn. 25 ff.; 23. September 2010 – 6 AZR 180/09 – Rn. 13 ff., BAGE 135, 313).
26
III. Die Klägerin könnte nach Auffassung des vorlegenden Senats gleichwohl einen Anspruch auf Zuordnung zur Stufe 5 der Entgelttabelle ab 8. September 2014 gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L haben, wenn die dadurch beschränkte Anrechnung einschlägiger Berufserfahrungszeiten Unionsrecht verletzte. Das wäre der Fall, wenn die dargestellte Differenzierung in § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L gegen Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 verstieße, weil sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Klägerin ungerechtfertigt beschränkte. Ein solcher Verstoß hätte nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Folge, dass die in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen einschlägigen Berufserfahrungszeiten aus vorherigen Arbeitsverhältnissen in gleichem Maße wie einschlägige Berufserfahrungszeiten aus vorherigen Arbeitsverhältnissen beim selben Arbeitgeber nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L und damit uneingeschränkt zu berücksichtigen wären (EuGH 15. Januar 1998 – C-15/96 – [Schöning-Kougebetopoulou] Rn. 31 ff.; ebenso im Fall einer Altersdiskriminierung EuGH 28. Januar 2015 – C-417/13 – [Starjakob] Rn. 46 f.).
27
1. Die Regelungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind auf die Klägerin persönlich anwendbar.
28
a) Sie ist Arbeitnehmerin im Sinne des autonom zu bestimmenden und nicht eng auszulegenden Arbeitnehmerbegriffs in Art. 45 AEUV. Als angestellte Lehrerin erbringt sie während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vergleiche zum Beispiel EuGH 10. September 2014 – C-270/13 – [Haralambidis] Rn. 27 f.; 28. Februar 2013 – C-544/11 – [Petersen] Rn. 30; BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 430/15 – Rn. 54).
29
b) Die Klägerin ist nicht in der öffentlichen Verwaltung im Sinne der eng auszulegenden Ausnahmeregelung des Art. 45 Abs. 4 AEUV beschäftigt. Diese Regelung erfasst nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 45 Abs. 4 AEUV beziehungsweise seiner Vorgängerregelungen in Art. 48 Abs. 4 und Art. 39 Abs. 4 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) Lehrkräfte nicht (vergleiche EuGH 27. November 1991 – C-4/91 – [Bleis] Rn. 7; 30. November 2000 – C-195/98 – [Österreichischer Gewerkschaftsbund] Rn. 36; 10. März 2005 – C-178/04 – [Marhold] Rn. 22). Ohnehin kann Art. 45 Abs. 4 AEUV nicht mehr herangezogen werden, um eine unterschiedliche Behandlung bei der Entlohnung zu rechtfertigen, wenn ein Mitgliedstaat wie im Fall der Klägerin Arbeitnehmer, die sich auf das Gebot der Freizügigkeit berufen können, für seine öffentliche Verwaltung eingestellt hat (vergleiche EuGH 30. November 2000 – C-195/98 – [Österreichischer Gewerkschaftsbund] Rn. 37). Dem steht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 2018 (- 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 -) nicht entgegen. Diese betrifft nur die Einordnung beamteter Lehrerinnen und Lehrer als Angehörige der Staatsverwaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BVerfG 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 – Rn. 184 ff.).
30
2. Der sachliche Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 2 AEUV und des ihn ausformenden Art. 7 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 ist eröffnet.
31
a) Die Zuordnung des Beschäftigten zu einer Stufe der Entgelttabelle unter Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung, die in vorherigen Arbeitsverhältnissen zu einem anderen Arbeitgeber erworben worden ist, fällt als ein das Arbeitsentgelt des Beschäftigten berührender Umstand in den sachlichen Geltungsbereich dieser Normen. Der Anwendung von Art. 45 AEUV steht nicht entgegen, dass es sich bei § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L um eine Tarifnorm handelt. Art. 45 AEUV erstreckt sich nicht nur auf behördliche Maßnahmen, sondern auch auf Vorschriften anderer Art, die dazu dienen, unselbstständige Arbeit kollektiv zu regeln (vergleiche EuGH 10. März 2011 – C-379/09 – [Casteels] Rn. 19; 16. März 2010 – C-325/08 – [Olympique Lyonnais] Rn. 30).
32
b) Der erforderliche Unionsbezug ist gegeben (vergleiche hierzu EuGH 18. Juli 2017 – C-566/15 – [Erzberger] Rn. 28; 22. Juni 2017 – C-20/16 – [Bechtel] Rn. 32; 6. Oktober 2015 – C-298/14 – [Brouillard] Rn. 26; 15. November 2011 – C-256/11 – [Dereci u.a.] Rn. 60). Die Klägerin, die deutsche Staatsangehörige ist, hat Berufserfahrung in einem anderen Mitgliedstaat erworben. Sie hat mehrere Jahre in Frankreich als Lehrerin gearbeitet.
33
3. § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L benachteiligt nach Auffassung des vorlegenden Senats die Klägerin wegen ihrer Staatsangehörigkeit mittelbar.
34
a) Art. 45 Abs. 2 AEUV verbietet jede unmittelbare und mittelbare, auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen (vergleiche EuGH 5. Dezember 2013 – C-514/12 – [SALK] Rn. 25). Art. 7 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 stellt eine besondere Ausprägung des in Art. 45 Abs. 2 AEUV enthaltenen Diskriminierungsverbots auf dem speziellen Gebiet der Beschäftigungsbedingungen und der Arbeit dar. Die Verordnungsnorm ist ebenso auszulegen wie Art. 45 Abs. 2 AEUV (vergleiche EuGH 15. Dezember 2016 – C-401/15 – [Depesme und Kerrou] Rn. 35; BAG 25. Januar 2018 – 6 AZR 791/16 – Rn. 19). Auch wenn eine Vorschrift des nationalen Rechts ungeachtet der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, ist sie als mittelbar diskriminierend anzusehen, falls sie im Wesentlichen oder ganz überwiegend Wanderarbeitnehmer betrifft oder von inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfüllen ist als von Wanderarbeitnehmern (EuGH 23. Mai 1996 – C-237/94 – [O’Flynn] Rn. 18). Schließlich ist eine mittelbare Diskriminierung in Voraussetzungen zu sehen, die sich ihrem Wesen nach stärker auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken und folglich die Gefahr begründen, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligen (vergleiche EuGH 18. Dezember 2014 – C-523/13 – [Larcher] Rn. 32; 5. Dezember 2013 – C-514/12 – [SALK] Rn. 26). Dabei braucht nicht festgestellt zu werden, dass die in Rede stehende Vorschrift in der Praxis einen wesentlich größeren Anteil der Wanderarbeitnehmer betrifft. Es genügt die Feststellung, dass die betreffende Vorschrift geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen (EuGH 18. Dezember 2014 – C-523/13 – [Larcher] Rn. 33; 23. Mai 1996 – C-237/94 – [O’Flynn] Rn. 21).
35
b) Die Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L, die unter anderem eine frühere Beschäftigung bei demselben Bundesland ohne schädliche Unterbrechung verlangen, können inländische Arbeitnehmer mit deutscher Staatsangehörigkeit leichter erfüllen als Arbeitnehmer deutscher oder anderer Staatsangehörigkeit, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt waren. Nicht erforderlich ist hierbei, dass alle Inländer begünstigt werden oder nur Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten benachteiligt werden (EuGH 5. Dezember 2013 – C-514/12 – [SALK] Rn. 27, 31; anderer Ansicht wegen des Ausschlusses auch aller Inländer, die zuvor zwar bei demselben Bundesland beschäftigt waren, aber nach einer schädlichen Unterbrechung eingestellt werden LAG Baden-Württemberg 18. Januar 2016 – 1 Sa 17/15 – Rn. 60 ff.).
36
4. Ob auch eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit als eigenständige Gewährleistung dieser Grundfreiheit dadurch vorliegt, dass § 16 Abs. 2 TV-L Arbeitnehmer davon abhalten kann, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen (in diesem Sinn EuGH 5. Dezember 2013 – C-514/12 – [SALK] Rn. 29 f.), kann hier dahinstehen (dazu nachfolgend Rn. 48).
37
5. Eine Rechtfertigung der Privilegierung, die § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L bewirkt, wegen der bloßen Belohnung der Betriebstreue scheidet aus. Dies ist nach Auffassung des vorlegenden Senats durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend sicher geklärt (EuGH 5. Dezember 2013 – C-514/12 – [SALK] Rn. 38 ff.; 10. März 2005 – C-178/04 – [Marhold] Rn. 33 ff.).
38
6. Dagegen kann der vorlegende Senat die Frage, ob die § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L innewohnende Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch den Schutz befristet beschäftigter Arbeitnehmer gerechtfertigt ist, der wegen Paragraph 4 Nr. 4 der Rahmenvereinbarung unionsrechtlich geboten und mit der Privilegierung der bei demselben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrungszeiten nach § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L bezweckt ist, nicht selbst beantworten. Die Auflösung dieser Kollision zweier unionsrechtlich geschützter Rechtsgüter ist dem Gerichtshof vorbehalten.
39
a) Eine Maßnahme, die geeignet ist, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen, ist nur dann zulässig, wenn mit ihr eines der im Vertrag genannten legitimen Ziele verfolgt wird oder wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Darüber hinaus muss in einem derartigen Fall ihre Anwendung geeignet sein, die Verwirklichung des in Rede stehenden Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vergleiche EuGH 5. Dezember 2013 – C-514/12 – [SALK] Rn. 36). Die Sozialpartner auf nationaler Ebene verfügen, in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten, nicht nur bei der Entscheidung darüber, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung über ein weites Ermessen (vergleiche zu Fragen der Altersdiskriminierung: EuGH 14. März 2018 – C-482/16 – [Stollwitzer] Rn. 45; 11. November 2014 – C-530/13 – [Schmitzer] Rn. 38; 8. September 2011 – C-297/10 und C-298/10 – [Hennigs und Mai] Rn. 65; 12. Oktober 2010 – C-45/09 – [Rosenbladt] Rn. 41; 16. Oktober 2007 – C-411/05 – [Palacios de la Villa] Rn. 68). Soweit das in Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamierte Recht auf Kollektivverhandlungen Bestandteil des Unionsrechts ist, muss es jedoch im Rahmen der Anwendung des Unionsrechts im Einklang mit diesem ausgeübt werden (EuGH 8. September 2011 – C-297/10 und C-298/10 – [Hennigs und Mai] Rn. 67).
40
b) § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L ist auf den Fall der Wiedereinstellung von zuvor befristet Beschäftigten zugeschnitten. Das ergibt sich aus der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L, die die Anrechnung einschlägiger Berufserfahrung nur zulässt, wenn zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit einem Bundesland und der Wiedereinstellung durch dieses Land höchstens sechs Monate liegen. Derart kurze Zeiträume zwischen zwei Arbeitsverhältnissen mit demselben Arbeitgeber treten typischerweise nur bei befristeten Arbeitsverhältnissen auf. Diesen Normzweck belegen auch die von den Tarifvertragsparteien in die Niederschriftserklärung zu § 44 Nr. 2a Ziffer 1 und Ziffer 2 TV-L zur Erläuterung aufgenommenen Beispielsfälle, die sich ausschließlich auf befristet beschäftigte Arbeitnehmer beziehen. Die Privilegierung der in einem Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung, wie sie im Regelungskonzept des § 16 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 TV-L zum Ausdruck kommt, bezweckt, Arbeitnehmern bei wiederholten Befristungen, wie sie im öffentlichen Dienst verbreitet üblich sind, überhaupt die Chance zum Stufenaufstieg zu ermöglichen (BAG 3. Juli 2014 – 6 AZR 1088/12 – Rn. 22; 23. September 2010 – 6 AZR 180/09 – Rn. 14 ff., BAGE 135, 313). Wegen § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG sind für zuvor befristet Beschäftigte sowohl bei der Stufenzuordnung als auch bei dem Stufenaufstieg dieselben Zeiten zu berücksichtigen wie für unbefristet beschäftigte Arbeitnehmer (Dauerbeschäftigte). Befristet Beschäftigte dürfen bei der Berücksichtigung der in früheren befristeten Arbeitsverhältnissen mit demselben Bundesland erworbenen einschlägigen Berufserfahrung nicht gegenüber unbefristet Beschäftigten benachteiligt werden (BAG 17. Dezember 2015 – 6 AZR 432/14 – Rn. 23; 24. Oktober 2013 – 6 AZR 964/11 – Rn. 27; 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 20 ff., BAGE 144, 263). Verrichten Arbeitnehmer in mehreren befristeten Arbeitsverhältnissen identische Aufgaben wie Dauerbeschäftigte, erwerben sie dieselbe Berufserfahrung (vergleiche BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 30, BAGE 144, 263). Werden zuvor befristet Beschäftigte von einem Bundesland für dieselbe oder eine gleichwertige Tätigkeit wieder eingestellt (sogenannte „horizontale Wiedereinstellung“, vergleiche BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 28, BAGE 144, 263), gebietet nach der Rechtsprechung des vorlegenden Senats § 4 Abs. 2 Satz 3 TzBfG bei der deswegen erforderlichen Stufenzuordnung die uneingeschränkte Berücksichtigung der erworbenen einschlägigen Berufserfahrung. Diese Bestimmung konkretisiert den Grundsatz der Nichtdiskriminierung in § 4 Abs. 2 Satz 1 TzBfG und stellt klar, dass unter anderem bei Entgeltansprüchen, die von zurückzulegenden Beschäftigungszeiten abhängen, für befristet Beschäftigte dieselben Zeiten wie für unbefristet Beschäftigte zu berücksichtigen sind (Deutscher Bundestag Drucksache 14/4374 Seite 16). Mit ihr wird Paragraph 4 Nr. 4 der Rahmenvereinbarung umgesetzt (BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 24, BAGE 144, 263). Diesem Gebot mussten und wollten die Tarifvertragsparteien in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L ausweislich seines Wortlauts bei der Stufenzuordnung Rechnung tragen (vergleiche BAG 17. Dezember 2015 – 6 AZR 432/14 – Rn. 24; 24. Oktober 2013 – 6 AZR 964/11 – Rn. 28). Dieses Gebot ist bei gesetzeskonformer Auslegung des § 16 Abs. 3 Satz 1 TV-L auch bei dem Zeitpunkt des Stufenaufstiegs berücksichtigt (vergleiche BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 35, BAGE 144, 263). Die Stufenlaufzeit beginnt darum mit der Zuordnung des Beschäftigten zu einer Stufe seiner Entgeltgruppe nach seiner Einstellung nicht neu zu laufen, wenn er zuvor bereits befristet bei demselben Arbeitgeber beschäftigt war und keine schädliche Unterbrechung im Sinne der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L vorliegt. Vielmehr ist die Restlaufzeit auf die Stufenlaufzeit anzurechnen (grundlegend BAG 21. Februar 2013 – 6 AZR 524/11 – Rn. 18, BAGE 144, 263).
41
c) Ob dieser mit der Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung verfolgte Zweck des Schutzes befristet Beschäftigter, der seine Grundlage im Sekundärrecht der Union hat, die dargestellte Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertigen kann, ist nach Auffassung des vorlegenden Senats unionsrechtlich nicht geklärt. Mit dem Ziel des Schutzes befristet Beschäftigter hat sich der Gerichtshof im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit bisher nicht beschäftigt. Nur im Bereich der Niederlassungsfreiheit hat er die Wahrung des Besitzstands einer Personengruppe als zwingenden Grund des Allgemeininteresses anerkannt (vergleiche in diesem Sinn EuGH 6. Dezember 2007 – C-456/05 – [Kommission/Deutschland] Rn. 63, 65), wobei dieser Zweck – anders als der Bestandsschutz befristet Beschäftigter – nicht unionsrechtlich vorgegeben war. Es liegt auch kein „acte éclairé“ (vergleiche Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs) vor. Der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache SALK (EuGH 5. Dezember 2013 – C-514/12 -) und den dieser vorausgehenden Entscheidungen (EuGH 10. März 2005 – C-178/04 – [Marhold]; 30. September 2003 – C-224/01 – [Köbler]; 30. November 2000 – C-195/98 – [Österreichischer Gewerkschaftsbund]; 15. Januar 1998 – C-15/96 – [Schöning-Kougebetopoulou]) lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, ob die unterbleibende Anrechnung von Berufserfahrungszeiten von Wanderarbeitnehmern durch den Schutz befristet Beschäftigter gerechtfertigt sein könnte.
42
d) Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist auch noch nicht hinreichend geklärt, welchen Einfluss eine Verschränkung von primärrechtlich geregelten Grundfreiheiten und sekundärrechtlichen Geboten wie dem durch die Rahmenvereinbarung gebotenen Schutz befristet Beschäftigter, wie sie im vorliegenden Fall gegeben ist, auf die Rechtfertigung eines Eingriffs in eine Grundfreiheit wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat.
43
aa) Der Gerichtshof hat allerdings angenommen, dass es keine durch Art. 30 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) untersagte Beschränkung des innergemeinschaftlichen Handels darstellt, wenn eine nationale Regelung einen Importeur verpflichtet, für ein Arzneimittel im Sinne des Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten eine Verkehrsgenehmigung einzuholen, wie es Art. 3 dieser Richtlinie gebietet (EuGH 29. April 2004 – C-387/99 – [Kommission/Deutschland] Rn. 50). Des Weiteren hat er entschieden, dass Bestimmungen des nationalen Rechts, die im Einklang mit der Elften Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, stehen, nicht als Behinderung der Niederlassungsfreiheit angesehen werden können (EuGH 30. September 2003 – C-167/01 – [Inspire Art] Rn. 58). Außerdem hat der Gerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass Betroffene den Umfang der ihnen durch das Unionsrecht auferlegten Verpflichtungen eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können müssen. Darum hat er angenommen, dass Vorschriften des nationalen Rechts, die sich auf eine Erlaubnis stützen können, die im Sekundärrecht vorgesehen ist, wirksam sind und dem Mitgliedstaat nicht vorgeworfen werden kann, durch solche Vorschriften gegen Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag zu verstoßen (EuGH 15. Juli 2010 – C-582/08 – [Kommission/Vereinigtes Königreich] Rn. 47 f.; 5. Oktober 2004 – C-475/01 – [Kommission/Griechenland] Rn. 24).
44
bb) Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass eine Maßnahme einer Bestimmung des abgeleiteten Rechts entspreche, habe nicht zur Folge, dass sie nicht an den Bestimmungen des EG-Vertrags zu messen sei. Im konkreten Fall hat er dann angenommen, dass das Unionsrecht einer bestimmten Maßnahme des nationalen Rechts nicht entgegenstehe (EuGH 28. April 1998 – C-158/96 – [Kohll] Rn. 25, 27).
45
cc) Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den bisher vom Gerichtshof entschiedenen Fällen. Nach Einschätzung des vorlegenden Senats kommt allein aufgrund der Verpflichtungen, die aus dem Sekundärrecht erwachsen und denen die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L Rechnung getragen haben, eine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die in § 16 Abs. 2 TV-L getroffenen Bestimmungen in Betracht.
46
(1) Nach Auffassung des vorlegenden Senats läge keine Verletzung des Art. 45 Abs. 2 AEUV vor, wenn die Tarifvertragsparteien die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L nicht getroffen hätten. Dann würde § 16 Abs. 2 TV-L nur regeln, dass Beschäftigte nach ihrer Einstellung grundsätzlich der Stufe 1 ihrer Entgeltgruppe zugeordnet werden und bei Vorliegen einschlägiger Berufserfahrung maximal drei Jahre dieser Erfahrung anerkannt werden.
47
(a) In diesem Fall käme keine mittelbare Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern in Betracht. Es gäbe keine inländischen Arbeitnehmer, die bei einer Einstellung leichter in eine höhere Stufe eingeordnet würden als Wanderarbeitnehmer. Bei allen neu eingestellten Arbeitnehmern würde einschlägige Berufserfahrung bis zu einer Höchstdauer von drei Jahren uneingeschränkt berücksichtigt, eine mehr als drei Jahre betragende Berufserfahrung bliebe dagegen stets unberücksichtigt. Das würde auch dann gelten, wenn neu eingestellte Arbeitnehmer bereits früher bei diesem Bundesland beschäftigt waren. Dafür, dass Wanderarbeitnehmer häufiger ihren Arbeitsplatz wechseln, also häufiger neu eingestellt werden, als inländische Arbeitnehmer, gibt es keine Anhaltspunkte. Deshalb ließe sich nicht feststellen, dass § 16 Abs. 2 TV-L vor allem Wanderarbeitnehmer zu benachteiligen droht, wenn es die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L nicht gäbe (vergleiche EuGH 27. Januar 2000 – C-190/98 – [Graf] Rn. 16).
48
(b) In diesem Fall schiede nach Ansicht des vorlegenden Senats aber auch eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus. Zwar ist auch ohne eine Regelung wie die in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L getroffene nicht auszuschließen, dass einzelne Beschäftigte eines Bundeslandes davon abgehalten werden, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, weil ihre in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Berufserfahrung bei einer erneuten Einstellung durch dasselbe Bundesland selbst dann nicht uneingeschränkt anerkannt wird, wenn sie „einschlägig“, also in der Tätigkeit für das Bundesland verwertbar ist. Es gibt bereits keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es eine übliche oder auch nur häufig erfolgende Praxis ist, dass Beschäftigte eines Bundeslandes, die aus dem Arbeitsverhältnis mit diesem ausgeschieden sind, um in einem anderen Mitgliedstaat berufstätig zu sein, nach einiger Zeit wieder ein Arbeitsverhältnis mit demselben Land begründen. Selbst wenn das der Fall wäre, würde diesen Beschäftigten die in einem anderen Mitgliedstaat erworbene einschlägige Berufserfahrung nicht vollständig abgeschnitten, sondern bis zu drei Jahre dieser Erfahrung würden vollständig anerkannt. Andere Arbeitnehmer, bei denen bei einer Neueinstellung mehr als drei Jahre einschlägiger Berufserfahrung anerkannt würden, gäbe es nicht. Dafür, dass Beschäftigte eines Bundeslandes gleichwohl von der Ausübung ihrer Freizügigkeit abgehalten werden könnten, spräche nichts. Darin liegt der Unterschied zu der vom Gerichtshof entschiedenen Fallgestaltung bei einer Dienstalterszulage für Professoren an österreichischen Universitäten (EuGH 30. September 2003 – C-224/01 – [Köbler] Rn. 71, 74). Auch die Klägerin war nicht zuvor bei dem beklagten Land beschäftigt, sondern ausschließlich in Frankreich berufstätig. Gäbe es die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L nicht, wäre daher die Regelung zur Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TV-L nach Einschätzung des vorlegenden Senats so ungewiss und wirkte so indirekt, dass sie die Freizügigkeit nicht beeinträchtigen könnte (vergleiche EuGH 27. Januar 2000 – C-190/98 – [Graf] Rn. 25).
49
(2) Zu einer möglichen Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit führt § 16 Abs. 2 TV-L nach Ansicht des Senats erst durch die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L. Damit haben die Tarifvertragsparteien eine Arbeitnehmergruppe privilegiert, indem sie bei dieser Gruppe die einschlägige Berufserfahrung uneingeschränkt auch bei einer Neueinstellung anerkennen. Bei dieser Arbeitnehmergruppe der befristet Beschäftigten handelt es sich jedoch um einen nach dem Sekundärrecht besonders zu schützenden Personenkreis. Dem aus Paragraph 4 Nr. 4 der Rahmenvereinbarung erwachsenden Schutzgebot haben die Tarifvertragsparteien mit § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L Rechnung getragen. Dieses Schutzgebot verfolgt eine gänzlich andere Zielrichtung als das Freizügigkeitsgebot. Der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich nicht entnehmen, ob bei Arbeitnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben und vorher nie oder nur nach langer Unterbrechung für dasselbe Bundesland tätig waren, ungeachtet dieser unterschiedlichen Schutzziele bei der Stufenzuordnung nach ihrer (Wieder-)Einstellung durch ein Bundesland einschlägige Berufserfahrung, die sie in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben, bei der Stufenzuordnung ebenso uneingeschränkt anerkannt werden muss, wie die einschlägige Berufserfahrung von befristet Beschäftigten, die zuvor ohne schädliche Unterbrechung für dasselbe Bundesland tätig waren. Es ist ungeklärt, ob die Privilegierung der schon zuvor bei demselben Bundesland beschäftigten Arbeitnehmer durch die Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-L deshalb gerechtfertigt ist, weil der dadurch bezweckte besondere Schutz von Arbeitnehmern, die zuvor bei diesem Bundesland befristet beschäftigt waren, durch die Rahmenvereinbarung geboten ist. Der Gerichtshof wird daher um Klärung der Frage ersucht, wie die Kollision zweier auf unterschiedliche Schutzziele gerichteter Normanwendungsbefehle des Unionsrechts aufzulösen ist.
Spelge
Krumbiegel
Heinkel
Wollensak
Lorenz |
bag_53-18 | 25.10.2018 | 25.10.2018
53/18 - Benachteiligung wegen der Religion - Entschädigung
Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung wegen einer Benachteiligung wegen der Religion. Der Beklagte ist ein Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er schrieb am 25. November 2012 eine auf zwei Jahre befristete Stelle eines Referenten/einer Referentin (60 %) aus. Gegenstand der Tätigkeit sollten schwerpunktmäßig die Erarbeitung des Parallelberichts zum deutschen Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention durch Deutschland sowie Stellungnahmen und Fachbeiträge und die projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschrechtsorganisationen sowie die Mitarbeit in Gremien sein. Der Parallelbericht sollte in Beratung mit Menschenrechtsorganisationen und weiteren Interessenträgern erstellt werden. In der Stellenausschreibung heißt es ferner: „Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie Ihre Konfession im Lebenslauf an.“ Die konfessionslose Klägerin bewarb sich mit Schreiben vom 29. November 2012 auf die Stelle. Sie wurde nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Der Beklagte besetzte die Stelle mit einem evangelischen Bewerber. Die Klägerin hat mit ihrer Klage die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. mindestens 9.788,65 Euro verlangt. Sie ist der Ansicht, der Beklagte habe sie entgegen den Vorgaben des AGG wegen der Religion benachteiligt. Sie habe die Stelle wegen ihrer Konfessionslosigkeit nicht erhalten. Der Beklagte hat eine Benachteiligung der Klägerin wegen der Religion in Abrede gestellt; jedenfalls sei die Benachteiligung nach § 9 Abs. 1 AGG* gerechtfertigt. Das Arbeitsgericht hat der Klägerin eine Entschädigung iHv. 1.957,73 Euro zugesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Der Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin eine Entschädigung iHv. 3.915,46 Euro zu zahlen.
Der Beklagte hat die Klägerin wegen der Religion benachteiligt. Diese Benachteiligung war nicht nach § 9 Abs. 1 AGG ausnahmsweise gerechtfertigt. Eine Rechtfertigung der Benachteiligung nach § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG scheidet aus. § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ist einer unionsrechtskonformen Auslegung im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG** nicht zugänglich und muss deshalb unangewendet bleiben. Die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG liegen nicht vor. Nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG – in unionsrechtskonformer Auslegung – ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion nur zulässig, wenn die Religion nach der Art der Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Religionsgemeinschaft bzw. Einrichtung darstellt. Vorliegend bestehen erhebliche Zweifel an der Wesentlichkeit der beruflichen Anforderung. Jedenfalls ist die berufliche Anforderung nicht gerechtfertigt, weil im konkreten Fall keine wahrscheinliche und erhebliche Gefahr bestand, dass das Ethos des Beklagten beeinträchtigt würde. Dies folgt im Wesentlichen aus dem Umstand, dass der jeweilige Stelleninhaber/die jeweilige Stelleninhaberin – wie auch aus der Stellenausschreibung ersichtlich – in einen internen Meinungsbildungs-prozess beim Beklagten eingebunden war und deshalb in Fragen, die das Ethos des Beklagten betrafen, nicht unabhängig handeln konnte. Der Höhe nach war die Entschädigung auf zwei Bruttomonatsverdienste festzusetzen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 –
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Mai 2014 – 4 Sa 157/14, 4 Sa 238/14 –
*§ 9 Abs. 1 AGG lautet:
„Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.“
**Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78/EG lautet:
„Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.“ | Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Mai 2014 – 4 Sa 157/14, 4 Sa 238/14 – teilweise aufgehoben.
Auf die Berufung der Klägerin wird – unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin im Übrigen und unter Zurückweisung der Berufung des Beklagten – das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 18. Dezember 2013 – 54 Ca 6322/13 – teilweise abgeändert und aus Gründen der Klarstellung wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung iHv. 3.915,46 Euro zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 60 % und der Beklagte 40 % zu tragen.
Leitsatz
1. § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG, wonach ungeachtet des § 8 AGG eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, zulässig ist, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, ist mit den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG nicht vereinbar und muss unangewendet bleiben.
2. § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG ist unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, zulässig ist, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung nach der Art der Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des AGG zu zahlen.
2
Der Beklagte ist ein im Oktober 2012 in der Rechtsform eines Vereins gegründetes Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (im Folgenden EKD). Er entstand durch den Zusammenschluss des Diakonischen Werkes der EKD mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst eV. Seine Tätigkeit gliedert sich im Wesentlichen in zwei Bereiche: „Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband“ und „Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst“.
3
Grundlage der Tätigkeit des Beklagten ist – für den hier maßgeblichen Zeitraum – dessen Satzung vom 14. Juni 2012, deren Präambel lautet:
„In Jesus Christus hat Gott seine Liebe zur Welt erwiesen. Die Kirche hat den Auftrag, diese Liebe allen Menschen durch Wort und Tat zu bezeugen. Im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung nimmt sie diesen Auftrag wahr und bekräftigt die Zusammengehörigkeit des Entwicklungsdienstes mit der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche …
Diakonie und Entwicklungsdienst wurzeln in dem Glauben, der die Welt als Gottes Schöpfung bezeugt, in der Liebe, mit der Gott uns an jeden Menschen als Nächsten weist, und in der Hoffnung, die in der Gewissheit der kommenden Gottesherrschaft handelt. Sie sind getragen von der Überzeugung, dass nach dem biblischen Auftrag die Verkündigung des Evangeliums und der Dienst in der Gesellschaft, missionarisches Zeugnis und Wahrnehmung von Weltverantwortung im Handeln der Kirche zusammengehören.
Der Dienst im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung ist den Zielen verpflichtet,
– unterschiedslos allen Menschen beizustehen, die in leiblicher Not, seelischer Bedrängnis, Armut und ungerechten Verhältnissen leben;
– die Ursachen dieser Nöte aufzudecken und zu benennen und zu ihrer Beseitigung beizutragen;
– den kirchlichen Beitrag zur Überwindung der Armut, des Hungers und der Not in der Welt und ihrer Ursachen in ökumenischer Partnerschaft zu gestalten;
– gemeinsam mit den ihn tragenden Kirchen und diakonischen Verbänden in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft für eine gerechte Gesellschaft und eine nachhaltige Entwicklung einzutreten;
– Zeugnis einer gelebten Hoffnung auf das Heil zu geben, das in Jesus Christus allen Menschen verheißen ist.“
4
In der Satzung des Beklagten heißt es ferner:
„§ 5
Aufgaben und Befugnisse des Vereins
(1)
Der Verein wird von der Evangelischen Kirche in Deutschland, den Gliedkirchen der EKD, den Freikirchen sowie den anderen Kirchen, die Mitglieder des Vereins sind, gemeinsam in Anerkennung ihres jeweiligen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts getragen.
(2)
Der Verein erfüllt seine Aufgaben durch seine Werke ‚Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband‘ und ‚Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst‘.
(3)
Als Werk der evangelischen Kirche nimmt der Verein im Sinne der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland diakonische und volksmissionarische Aufgaben sowie Aufgaben des Entwicklungsdienstes und der humanitären Hilfe wahr.
§ 6
Aufgaben des Werkes
‚Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband‘
(1)
Das Werk ‚Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband‘ nimmt die Aufgaben des Vereins als anerkannter ‚Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege‘ wahr. …
(2)
…
(3)
Im Verhältnis zu den Landesverbänden, Fachverbänden und mittelbaren Mitgliedern erfüllt das Werk ‚Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband‘ die Aufgaben, die einer einheitlichen Wahrnehmung und Vertretung bedürfen, wie die der Grundsatzfragen der Sozialpolitik, der Mitwirkung bei der nationalen und europäischen Normsetzung, der für die Gesamtarbeit des Werkes erforderlichen Grundlagenforschung und der zentralen Fort- und Weiterbildung der Mitarbeitenden.
…“
5
In der Dienstvertragsordnung der EKD (im Folgenden DVO.EKD) vom 25. August 2008 (ABl. EKD S. 341), welche die allgemeinen Arbeitsbedingungen der privatrechtlich beschäftigten Mitarbeiter auch des Beklagten regelt, heißt es auszugsweise:
„§ 2
Kirchlich-diakonischer Auftrag
Kirchlicher Dienst ist durch den Auftrag bestimmt, das Evangelium Jesu Christi in Wort und Tat zu verkündigen. Der diakonische Dienst ist Lebens- und Wesensäußerung der evangelischen Kirche.
…
§ 4
Allgemeine Pflichten
(Ergänzung zu § 3 TVöD)
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen nach ihren Gaben, Aufgaben und Verantwortungsbereichen zur Erfüllung ihres kirchlichen und diakonischen Auftrages bei. Ihr gesamtes Verhalten im Dienst und außerhalb des Dienstes muss der Verantwortung entsprechen, die sie als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter im Dienst der Kirche übernommen haben.
§ 5
Verpflichtung
Die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter ist bei Dienstantritt über Rechte und Pflichten zu informieren und auf den Inhalt der §§ 2 und 4 zu verpflichten. Über die Verpflichtung ist ein Protokoll aufzunehmen, das die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter mit unterzeichnet.“
6
Die Richtlinie des Rates der EKD nach Art. 9 Buchst. b Grundordnung über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes vom 1. Juli 2005 (im Folgenden Richtlinie des Rates der EKD) bestimmt auszugsweise:
„§ 2
Grundlagen des kirchlichen Dienstes
1.
Der Dienst der Kirche ist durch den Auftrag bestimmt, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Alle Frauen und Männer, die in Anstellungsverhältnissen in Kirche und Diakonie tätig sind, tragen in unterschiedlicher Weise dazu bei, dass dieser Auftrag erfüllt werden kann. Dieser Auftrag ist die Grundlage der Rechte und Pflichten von Anstellungsträgern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
2.
Es ist Aufgabe der kirchlichen und diakonischen Anstellungsträger, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den christlichen Grundsätzen ihrer Arbeit vertraut zu machen. Sie fördern die Fort- und Weiterbildung zu Themen des Glaubens und des christlichen Menschenbildes.
§ 3
Berufliche Anforderung bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses
1.
Die berufliche Mitarbeit in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie setzt grundsätzlich die Zugehörigkeit zu einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland oder eine Kirche voraus, mit der die Evangelische Kirche in Deutschland in Kirchengemeinschaft verbunden ist.
2.
Für Aufgaben, die nicht der Verkündigung, Seelsorge, Unterweisung oder Leitung zuzuordnen sind, kann von Absatz 1 abgewichen werden, wenn andere geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu gewinnen sind. In diesem Fall können auch Personen eingestellt werden, die einer anderen Mitgliedskirche der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland oder der Vereinigung Evangelischer Freikirchen angehören sollen. Die Einstellung von Personen, die die Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, muss im Einzelfall unter Beachtung der Größe der Dienststelle oder Einrichtung und ihrer sonstigen Mitarbeiterschaft sowie der wahrzunehmenden Aufgaben und des jeweiligen Umfeldes geprüft werden. § 2 Absatz 1 Satz 2 bleibt unberührt.“
7
Am 23. November 2012 schrieb der Beklagte intern und extern die folgende Stelle aus:
„Wir suchen zum 01.01.2013 im Projekt ‚Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention‘ im Zentrum ‚Migration und Soziales‘ des EWDE in Berlin eine/n
Referenten/in (60%)
befristet auf 2 Jahre
Es soll ein unabhängiger Bericht zur Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention durch Deutschland erstellt werden, der den Vereinten Nationen als zusätzliche Grundlage für ihre Abschließenden Bemerkungen zum deutschen Staatenbericht dienen kann. Der Bericht wird in Beratung mit Menschenrechtsorganisationen und weiteren Interessenträgern erstellt und soll Politik, Verwaltung und Organisationen menschenrechtlich begründete Handlungsoptionen aufzeigen.
Das Aufgabengebiet umfasst:
•
Begleitung des Prozesses zur Staatenberichterstattung 2012 – 2014
•
Erarbeitung des Parallelberichts zum deutschen Staatenbericht sowie von Stellungnahmen und Fachbeiträgen
•
Projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschrechtsorganisationen sowie Mitarbeit in Gremien
•
Information und Koordination des Meinungsbildungsprozesses im Verbandsbereich
•
Organisation, Verwaltung und Sachberichterstattung zum Arbeitsbereich
Sie erfüllen folgende Voraussetzungen:
•
abgeschlossenes Hochschulstudium der Rechtswissenschaften oder vergleichbare Qualifikation
•
fundierte Kenntnisse im Völkerrecht und der Antirassismusarbeit
•
gute Kenntnisse und Erfahrungen in der Bewirtschaftung von Projektmitteln
•
sehr gute Englischkenntnisse
•
Analysefähigkeit, Lernbereitschaft, Initiative, Belastbarkeit
•
Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung
•
Kommunikations- und Teamfähigkeit
•
Bereitschaft zu häufigen Dienstreisen
Wir freuen uns über Bewerbungen von Menschen ungeachtet ihrer Herkunft oder Hautfarbe, des Geschlechts, einer Behinderung, des Alters oder ihrer sexuellen Identität.
Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie Ihre Konfession im Lebenslauf an.
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Ihre schriftliche Bewerbung richten Sie bitte bis zum 07. Dezember 2012 an: Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. – Geschäftsbereich Personal/-entwicklung, … Berlin“
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Bei der ACK handelt es sich um die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, die insgesamt 17 Mitglieder hat, darunter Katholiken, Orthodoxe, Altkatholiken, Anglikaner, Altorientale und evangelische Freikirchen.
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Die konfessionslose Klägerin bewarb sich mit Schreiben vom 29. November 2012 auf die ausgeschriebene Stelle. Die Klägerin verfügt nicht über einen universitären Hochschulabschluss, sie hat vielmehr ein Fachhochschulstudium der Sozialpädagogik erfolgreich abgeschlossen. Weder das Bewerbungsschreiben der Klägerin noch der beigefügte Lebenslauf enthalten einen Hinweis auf eine Konfession der Klägerin bzw. auf eine Konfessionslosigkeit. Neben der Klägerin bewarben sich weitere Personen auf die ausgeschriebene Stelle, von denen vier zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurden. Alle zum Vorstellungsgespräch eingeladenen Personen hatten ein wissenschaftliches Hochschulstudium absolviert. Die Klägerin wurde nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
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Der Beklagte besetzte die Stelle mit einem Bewerber deutsch-ghanaischer Herkunft, der ein politikwissenschaftliches Universitätsstudium mit einer englischsprachigen Diplomarbeit und sehr guten Noten abgeschlossen hatte und seit Februar 2008 an einer Promotion mit internationalem Bezug arbeitete. Dieser Bewerber hatte sich in seiner Bewerbung als „in der Berliner Landeskirche sozialisierter evangelischer Christ“ bezeichnet.
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Nachdem die Klägerin am 23. Januar 2013 erfahren hatte, dass sie für die ausgeschriebene Stelle nicht berücksichtigt worden war, machte sie mit Schreiben vom 25. Februar 2013 gegenüber dem Beklagten Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche nach § 15 AGG mit der Begründung geltend, sie sei wegen ihrer Konfessionslosigkeit und damit entgegen den Vorgaben des AGG wegen der Religion benachteiligt worden. Der Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 26. März 2013 die Gründe mit, die zur Auswahl des letztlich eingestellten Bewerbers geführt hatten. Dabei wies er auch darauf hin, dass dieser Bewerber über ein weitaus höheres Maß an wissenschaftlicher Qualifikation und Erfahrung verfüge.
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Mit ihrer am 30. April 2013 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage begehrt die Klägerin von dem Beklagten die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.
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Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Stellenausschreibung begründe die Vermutung, dass sie die Stelle wegen ihrer Konfessionslosigkeit und damit wegen der Religion nicht erhalten habe. Bis auf die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche erfülle sie das Anforderungsprofil der ausgeschriebenen Stelle, weshalb sie sich mit den anderen Bewerbern in einer vergleichbaren Situation iSv. § 3 Abs. 1 AGG befunden habe. Die Benachteiligung wegen der Religion sei auch nicht ausnahmsweise nach § 9 Abs. 1 AGG zulässig. Diese Bestimmung sei unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass eine Rechtfertigung nur im verkündigungsnahen Bereich, der hier nicht betroffen sei, in Betracht komme. Die evangelische Kirche und der Beklagte unterschieden selbst zwischen verkündigungsnahen und verkündigungsfernen Tätigkeiten und sähen für letztere die Mitgliedschaft in einer Kirche nur als Sollvorschrift vor. Im Übrigen gewährleiste die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche auch nicht, dass eine Person tatsächlich den christlichen Glauben teile, die christlichen Werte achte sowie stütze und sie bei seiner täglichen Arbeit berücksichtige. Aus Gründen der Prävention sei die Entschädigung auf mindestens fünf Bruttomonatsverdienste der Entgeltgruppe 13 TVöD bei einer Arbeitszeit von 60 % festzusetzen. Es handele sich um einen schweren Verstoß gegen das AGG, zudem bestehe Wiederholungsgefahr. Auch bei zukünftigen Bewerbungen müsse sie damit rechnen, wegen ihrer Konfessionslosigkeit keine Stelle zu erhalten. Der Beklagte habe die Voraussetzungen für eine Begrenzung der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG nicht dargetan. Für den Fall, dass die Entschädigung auf drei Bruttomonatsgehälter begrenzt sein sollte, sei für deren Bemessung von dem auf der Stelle erzielbaren Vollzeitgehalt auszugehen. Andernfalls komme es zu einer Schlechterstellung von Teilzeitkräften und damit zu einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts.
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Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie eine angemessene Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, einen Betrag iHv. 9.788,65 Euro jedoch nicht unterschreiten sollte.
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Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat die Auffassung vertreten, ein Entschädigungsanspruch der Klägerin scheitere schon daran, dass diese sich mangels eines universitären Hochschulabschlusses nicht in einer vergleichbaren Situation iSv. § 3 Abs. 1 AGG mit den zum Vorstellungsgespräch eingeladenen Mitbewerbern und dem letztlich eingestellten Bewerber befunden habe. Aus der Stellenausschreibung sei erkennbar gewesen, dass ein erfolgreich abgeschlossenes universitäres Hochschulstudium eine wesentliche qualifikationsbezogene Anforderung gewesen sei, weshalb der Abschluss eines Fachhochschulstudiums nicht ausreiche.
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Im Übrigen sei die Klägerin nicht entgegen den Vorgaben des AGG wegen der Religion benachteiligt worden. Eine etwaige Benachteiligung wegen der Religion sei vielmehr nach § 9 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Danach sei die Frage, ob eine wesentliche berufliche Anforderung gegeben sei, unter Beachtung des Selbstverständnisses und damit des subjektiven Verständnisses der kirchlichen Einrichtung zu beantworten. Nach dem Selbstverständnis des kirchlichen Arbeitgebers leiste jeder, der in den Dienst einer kirchlichen Einrichtung trete, zugleich einen Beitrag zur Erfüllung des der Kirche gestellten Sendungsauftrags. Respektiere man dieses Selbstverständnis, führe dies zwangsläufig zur Anerkennung eines Rechts der Kirchen sowie ihrer Einrichtungen, selbst darüber zu entscheiden, welche Voraussetzungen von den Beschäftigten erfüllt sein müssten, um als Teil der christlichen Dienstgemeinschaft am Auftrag der Kirche teilzunehmen. Die Annahme, eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion sei nur bei Positionen im verkündigungsnahen Bereich zulässig, ignoriere demgegenüber den erklärten Willen des nationalen Gesetzgebers und die verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV, wonach die kirchlichen Arbeitgeber aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auch dann, wenn sie ihn auf der Grundlage von Arbeitsverträgen regeln, das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft zugrunde legen könnten. Darüber hinaus missachte sie die primärrechtlichen Grundlagen, auf denen die dem AGG zugrunde liegende Richtlinie 2000/78/EG basiere. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG gebiete insoweit keine abweichende Auslegung des § 9 Abs. 1 AGG. Vielmehr folge aus Art. 17 AEUV, dass der nationale Status der Kirchen geachtet und nicht beeinträchtigt werden solle.
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Die Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche sei jedenfalls – ebenfalls unter Beachtung des Selbstverständnisses des Beklagten – nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung. Als Referent werde der Stelleninhaber unmittelbar nach außen tätig und vertrete die Meinung des Beklagten und die seiner nachgeordneten Einrichtungen in Literatur, Öffentlichkeit und Politik. Dies gelte insbesondere für die Erarbeitung des Parallelberichts und die begleitenden Publikationen und Fachbeiträge, die den Schwerpunkt der Tätigkeit des Stelleninhabers ausmachten. Zudem wirke sich aus, dass der Stelleninhaber in der Zentrale angesiedelt sei und damit intensive Einblicke in die innere Struktur des Beklagten erhalte. All dies führe dazu, dass der Stelleninhaber im inneren Einklang mit seinen, des Beklagten, Werten und Überzeugungen agieren müsse. Insoweit sei das Erfordernis der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche nicht nur ein geeignetes, sondern das verlässlichste Kriterium, um zu gewährleisten, dass sich der Mitarbeiter mit dem Auftrag des Beklagten identifiziere. Dies gelte auch dann, wenn man annehmen sollte, die Ziele der Tätigkeit des Stelleninhabers seien mit „allgemeinen humanistischen Zielen“ deckungsgleich, weil insoweit entscheidend sei, dass der Weg zur Erreichung dieser Ziele vom christlichen Selbstverständnis geprägt und damit zwangsläufig ein anderer sei.
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Letztlich sei zu berücksichtigen, dass er die Klägerin schon deshalb nicht wegen der Religion habe benachteiligen können, weil er von deren Konfessionslosigkeit nicht gewusst habe. Die Klägerin habe – entgegen den Vorgaben der Stellenausschreibung – zu einer Kirchenmitgliedschaft keine Angaben gemacht, was unstreitig ist.
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Das Arbeitsgericht hat der Klägerin eine Entschädigung iHv. 1.957,73 Euro zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landesarbeitsgericht – unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin – das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision. Der Senat hat mit Beschluss vom 17. März 2016 (- 8 AZR 501/14 (A) – BAGE 154, 285) dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV ua. Fragen zur Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG vorgelegt, die dieser mit Urteil vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger]) beantwortet hat.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Klägerin ist teilweise begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Vielmehr hat die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, die sich der Höhe nach auf 3.915,46 Euro beläuft.
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A. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden.
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I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, da der Beklagte die Klägerin nicht entgegen den Vorgaben des AGG wegen der Religion benachteiligt habe. Zur Begründung hat es ausgeführt:
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Die Klage sei auch dann, wenn das Vorliegen einer vergleichbaren Situation iSv. § 3 Abs. 1 AGG unterstellt werde, unbegründet. Zwar habe die Klägerin in einem solchen Fall eine ungünstigere Behandlung wegen der Religion erfahren. Der Umstand, dass in der Stellenausschreibung die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche vorausgesetzt werde, begründe die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass die konfessionslose Klägerin die Absage wegen der Religion erhalten habe. Die unterschiedliche Behandlung der Klägerin sei allerdings nach § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG gerechtfertigt. Nach § 9 Abs. 1 AGG sei eine Differenzierung nach der Religion auch dann zulässig, wenn die Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Einrichtung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle. Diese Voraussetzung sei erfüllt. Der Umstand, dass der Beklagte für die in Rede stehende Stelle eines Referenten/einer Referentin eine Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche vorausgesetzt habe, halte unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Beklagten einer Missbrauchskontrolle stand. Im Übrigen sei aber auch dann, wenn man zudem eine Plausibilitätskontrolle hinsichtlich des Bedürfnisses nach einer Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche für erforderlich halten sollte, das entsprechende Begehren des Beklagten für die konkret ausgeschriebene Stelle nicht zu beanstanden. Mit der Tätigkeit auf der ausgeschriebenen Stelle trete der jeweilige Stelleninhaber für den Beklagten unmittelbar nach außen auf und vertrete dessen Standpunkt, auch im Rahmen der Erstellung des Parallelberichts zu dem Staatenbericht. Dass es für den Beklagten insoweit bedeutsam sei, dass der Stelleninhaber im Einklang mit seinen Werten und Überzeugungen agiere, sei plausibel.
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II. Mit dieser Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden. Eine Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion nach § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG scheidet aus. § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ist dahin auszulegen, dass es in dem Fall, dass eine Religionsgemeinschaft, kirchliche Einrichtung oder Vereinigung ihr Selbstbestimmungsrecht ausgeübt und die Zugehörigkeit zu einer Kirche als berufliche Anforderung bestimmt hat, für die Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion weder auf die Art der Tätigkeit noch die Umstände ihrer Ausübung ankommt. In dieser Auslegung ist die Bestimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG nicht vereinbar. Da § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG einer unionsrechtskonformen Auslegung im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG nicht zugänglich ist, muss die Bestimmung unangewendet bleiben (zu dieser Folge: vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 71 ff.; 11. September 2018 – C-68/17 – [IR] Rn. 63 ff.).
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1. Nach § 9 Abs. 1 AGG ist – ungeachtet des § 8 AGG – eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
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2. § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ist dahin auszulegen, dass es in dem Fall, dass eine Religionsgemeinschaft, kirchliche Einrichtung oder Vereinigung ihr Selbstbestimmungsrecht ausgeübt und die Zugehörigkeit zu einer Kirche als berufliche Anforderung bestimmt hat, für die Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion weder auf die Art der Tätigkeit noch die Umstände ihrer Ausübung ankommt.
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a) Dies folgt bereits aus dem Wortlaut von § 9 Abs. 1 AGG unter Berücksichtigung seiner inneren Systematik. Danach regelt § 9 Abs. 1 AGG zwei Rechtfertigungsmöglichkeiten, wobei die erste Alternative keine Anknüpfung an die Tätigkeit, weder an deren Art noch an die Umstände ihrer Ausübung, enthält, sondern ausschließlich an das kirchliche Selbstbestimmungsrecht anknüpft, während die zweite Alternative die Rechtfertigung von der Art der Tätigkeit abhängig macht. Durch die Verwendung des Begriffs „oder“ hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die beiden dort aufgeführten Voraussetzungen für eine Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion oder Weltanschauung „im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht“ und „nach der Art der Tätigkeit“ alternativ und damit unabhängig voneinander bestehen.
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b) Auch aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass der Gesetzgeber den in § 9 Abs. 1 AGG aufgeführten Religionsgemeinschaften, diesen zugeordneten Einrichtungen sowie Vereinigungen mit der ersten Alternative eine eigenständige, von der Tätigkeit unabhängige Möglichkeit der Rechtfertigung der Religionszugehörigkeit als beruflicher Anforderung eröffnen wollte. Insoweit hat der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere unter Verweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 (- 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 – BVerfGE 70, 138) ausgeführt, dass nicht nur den Kirchen und sonstigen Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften hinsichtlich ihrer körperschaftlichen Organisation und ihrer Ämter, sondern auch den der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform nach deutschem Verfassungsrecht (Art. 140 GG iVm. Art. 136 ff. WRV) das Recht zustehe, über Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten selbständig zu entscheiden und dass dieses Recht grundsätzlich auch die Berechtigung umfasse, die Religion oder Weltanschauung als berufliche Anforderung für die bei ihnen Beschäftigten zu bestimmen (BT-Drs. 16/1780 S. 35).
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Im Übrigen hat der nationale Gesetzgeber darauf hingewiesen, dass auch der europäische Gesetzgeber insoweit im Erwägungsgrund 24 der Richtlinie 2000/78/EG ausdrücklich klargestellt habe, dass die Europäische Union „den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt und dass dies in gleicher Weise für den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften gilt“. Dieser Erwägungsgrund lasse es deshalb zu, dass die Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehielten oder vorsähen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein könnten. Dementsprechend erlaube § 9 Abs. 1 AGG es Religionsgemeinschaften und den übrigen dort genannten Vereinigungen, bei der Beschäftigung wegen der Religion oder der Weltanschauung zu differenzieren, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle (BT-Drs. 16/1780 S. 35). Auch und gerade dies belegt, dass der Gesetzgeber den Religionsgemeinschaften und den ihnen zugeordneten Einrichtungen mit § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG allein wegen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts eine eigenständige und von der konkreten Tätigkeit unabhängige Rechtfertigungsmöglichkeit zur Verfügung stellen wollte (vgl. KR/Treber 11. Aufl. § 9 AGG Rn. 11).
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c) Schließlich spricht für ein solches Verständnis von § 9 Abs. 1 AGG auch die Entstehungsgeschichte der Norm. Der in der 15. Wahlperiode eingebrachte Entwurf des späteren § 9 Abs. 1 AGG enthielt noch keine ausdrückliche Anknüpfung an das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Vielmehr war danach eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung ungeachtet des § 8 AGG auch dann zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung angesichts des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung nach der Art der bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt (vgl. BT-Drs. 15/4538 S. 6). Dabei stellte der Gesetzestext nach der Gesetzesbegründung in Übereinstimmung mit der Richtlinie klar, dass es sich um eine in Bezug auf die Tätigkeit gerechtfertigte Anforderung handeln musste (BT-Drs. 15/4538 S. 33). Auch in dem Entwurf des späteren § 9 Abs. 1 AGG in der Fassung des Beschlusses des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss), wonach eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig war, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt (BT-Drs. 15/5717 S. 8), wird das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Wortlaut der Bestimmung nicht ausdrücklich erwähnt. Erst der Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 16/1780 S. 8) sah § 9 Abs. 1 AGG in der später Gesetz gewordenen Fassung vor. Dabei hat der Gesetzgeber – wie unter Rn. 28 dargestellt – in der Gesetzesbegründung – auch unter Hinweis auf den Erwägungsgrund 24 der Richtlinie 2000/78/EG – ausdrücklich ausgeführt, dass § 9 Abs. 1 AGG es den Religionsgemeinschaften, den diesen zugeordneten Einrichtungen und den übrigen dort genannten Vereinigungen erlaube, bei der Beschäftigung wegen der Religion oder der Weltanschauung zu differenzieren, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt (BT-Drs. 16/1780 S. 35).
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d) § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ist nach alledem unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts und der inneren Systematik von § 9 Abs. 1 AGG, als auch der Entstehungsgeschichte der Bestimmung und des Willens des Gesetzgebers, wie er in der Gesetzesbegründung seinen Niederschlag gefunden hat, dahin auszulegen, dass es in dem Fall, dass eine Religionsgemeinschaft, kirchliche Einrichtung oder Vereinigung ihr Selbstbestimmungsrecht ausgeübt und die Zugehörigkeit zu einer Kirche als berufliche Anforderung bestimmt hat, für die Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion weder auf die Art der Tätigkeit noch die Umstände ihrer Ausübung ankommt.
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3. In dieser Auslegung ist § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG mit den unionsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar.
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a) Nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG können die Mitgliedstaaten in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.
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b) Nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 45 ff.; vgl. auch EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – [IR] Rn. 50 ff.) zur Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG sind die Mitgliedstaaten aufgrund dieser Bestimmung berechtigt, in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, nur solche Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beizubehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften vorzusehen, nach denen eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.
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Insoweit hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausgeführt, Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG bezwecke die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits dem Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, und andererseits dem Recht der Arbeitnehmer, insbesondere bei der Einstellung nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, falls diese Rechte im Widerstreit stehen sollten (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 51). Im Hinblick darauf nenne Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG die Kriterien, die im Rahmen der zur Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den möglicherweise widerstreitenden Rechten vorzunehmenden Abwägung zu berücksichtigen seien (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 52). Danach sei zu prüfen, ob die von der betreffenden Kirche oder Organisation aufgestellte berufliche Anforderung im Hinblick auf deren Ethos aufgrund der Art der fraglichen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt sei (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 61). Komme es zu einem Rechtsstreit, müsse eine solche Abwägung von einer unabhängigen Stelle und letztlich von einem innerstaatlichen Gericht überprüft werden können (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 53).
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Der Umstand, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG auf die zum Zeitpunkt ihrer Annahme geltenden nationalen Rechtsvorschriften sowie auf die zu diesem Zeitpunkt bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten Bezug nehme, dürfe nicht dahin verstanden werden, dass er den Mitgliedstaaten gestatte, die Einhaltung der in dieser Bestimmung genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu entziehen (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 54). Eine Einschränkung bestehe grundsätzlich nur insoweit, als es um die Legitimität des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation als solchen gehe. Insoweit müssten die Mitgliedstaaten und ihre Behörden, insbesondere ihre Gerichte im Rahmen der nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG erforderlichen Abwägung, abgesehen von ganz außergewöhnlichen Fällen, von einer Beurteilung Abstand nehmen (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 61).
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c) Danach sieht Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG die Möglichkeit der Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen der Religion oder Weltanschauung allein durch Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche oder Organisation ohne Bezug zur konkreten Tätigkeit nicht vor, sondern verlangt eine Abwägung, in deren Rahmen von den Gerichten im Streitfall zu überprüfen ist, ob die Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.
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4. § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ist einer unionsrechtskonformen Auslegung im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG unter Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zugänglich und muss deshalb unangewendet bleiben (so auch Junker NJW 2018, 1850, 1852).
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a) § 9 Abs. 1 AGG dient der Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht (vgl. hierzu auch BT-Drs. 16/1780 S. 35) und ist deshalb grundsätzlich unionsrechtskonform im Einklang mit dieser Bestimmung der Richtlinie 2000/78/EG auszulegen und anzuwenden. Dabei verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie 2000/78/EG zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. etwa EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 27; BVerfG 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – Rn. 77, BVerfGE 140, 317). Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung schließt im deutschen Recht – wo dies nötig und möglich ist – das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ein. Eine solche Rechtsfortbildung kann insbesondere in Betracht kommen, wenn der Gesetzgeber mit der von ihm geschaffenen Regelung eine Richtlinie umsetzen wollte, hierbei aber deren Inhalt missverstanden hat (vgl. etwa BAG 28. Juli 2016 – 2 AZR 746/14 (A) – Rn. 35, BAGE 156, 23). Allerdings unterliegt der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. etwa EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 32).
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Danach muss der Senat vorliegend unter Berücksichtigung sämtlicher nationaler Rechtsnormen und der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden entscheiden, ob und inwieweit § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG ausgelegt werden kann, ohne dass die Bestimmung contra legem ausgelegt wird (vgl. EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 71). Dabei kommt für die Beantwortung dieser Frage neben dem Wortlaut von § 9 Abs. 1 AGG und der Systematik den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. In Betracht zu ziehen sind insoweit die Begründung eines Gesetzesentwurfs, der unverändert verabschiedet worden ist, die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG) und Bundesregierung (Art. 76 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse. In solchen Materialien finden sich regelmäßig die im Verfahren als wesentlich erachteten Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen (BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 ua. – Rn. 74). Ein eindeutiger Wortlaut und ein bewusster gesetzgeberischer Wille schließen regelmäßig eine unionsrechtskonforme Auslegung aus (vgl. BVerfG 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09 – Rn. 72, 73, BVerfGE 129, 78). Der Gehalt einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen Regelung kann nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung in sein Gegenteil verkehrt werden (BAG 23. Mai 2018 – 5 AZR 263/17 – Rn. 33).
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b) Nach diesen Grundsätzen scheidet eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG aus. Wie sowohl der Gesetzeswortlaut als auch die innere Systematik von § 9 Abs. 1 AGG, die Entstehungsgeschichte der Bestimmung sowie die vom Gesetzgeber gegebenen Begründungen – wie unter Rn. 26 ff. ausgeführt – belegen, ist der Gesetzgeber bei der Fassung von § 9 Abs. 1 AGG erkennbar bewusst davon ausgegangen, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht könne ohne jeglichen Bezug zur auszuübenden Tätigkeit eine berufliche Anforderung grundsätzlich rechtfertigen. Zwar wollte der Gesetzgeber mit § 9 Abs. 1 AGG die Richtlinie 2000/78/EG umsetzen, auch hat er hierbei deren Inhalt missverstanden, indem er ihr aufgrund ihres Erwägungsgrundes 24 eine andere Bedeutung beigemessen hat, als dies unionsrechtlich zulässig gewesen wäre. Allerdings kann § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG aufgrund des klaren und bewussten gesetzgeberischen Willens, der sich auch im Wortlaut von § 9 Abs. 1 AGG und der inneren Systematik der Bestimmung wiederspiegelt, nicht dahin ausgelegt bzw. fortgebildet werden, dass es sich bei der beruflichen Anforderung um eine nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung gerechtfertigte Anforderung handeln muss.
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5. Dies hat zur Folge, dass § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG unangewendet bleiben muss.
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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seiner Entscheidung vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 82) die ihm vom Senat im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens vom 17. März 2016 (- 8 AZR 501/14 (A) – BAGE 154, 285) unterbreitete zweite Frage dahin beantwortet, dass das nationale Gericht, sofern es diesem nicht möglich sein sollte, das einschlägige nationale Recht, hier § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG, im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG auszulegen, verpflichtet sei, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus den Art. 21 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden Charta) erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG kann – wie unter Rn. 41 ausgeführt – nicht unionsrechtskonform dahin ausgelegt werden, dass es sich um eine nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung gerechtfertigte Anforderung handeln muss. Um den dem Einzelnen aus den Art. 21 und Art. 47 der Charta erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, muss § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG unangewendet bleiben.
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B. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Vielmehr hat die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, die sich der Höhe nach auf 3.915,46 Euro beläuft.
45
I. Die Klägerin hat den Anspruch auf Entschädigung frist- und formgerecht geltend gemacht (§ 15 Abs. 4 AGG) und die Entschädigung fristgerecht eingeklagt (§ 61b Abs. 1 ArbGG).
46
II. Die Klägerin wurde dadurch, dass sie vom Beklagten nicht eingestellt wurde, auch unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, denn sie hat eine ungünstigere Behandlung erfahren als die letztlich eingestellte Person.
47
Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob der Klägerin – wie der Beklagte meint – die „objektive Eignung“ für die ausgeschriebene Stelle fehlte, weil sie zwar über einen Fachhochschulabschluss, jedoch nicht über einen universitären Hochschulabschluss verfügt. Die „objektive Eignung“ ist nicht Voraussetzung für die Annahme einer vergleichbaren Situation iSv. § 3 Abs. 1 AGG und deshalb keine Voraussetzung für einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG (st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 13 bis 15 mwN).
48
III. Die Klägerin wurde vom Beklagten entgegen den Vorgaben des AGG wegen der Religion benachteiligt.
49
1. Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
50
a) Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv. § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund iSv. § 1 AGG anknüpft (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20).
51
b) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 21).
52
aa) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 22 mwN).
53
bb) Schreibt der Arbeitgeber eine Stelle entgegen § 11 AGG unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG aus, kann dies die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der/die erfolglose Bewerber/in im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde. Zwar verweist § 11 AGG nach seinem Wortlaut nur auf § 7 Abs. 1 AGG, allerdings muss die Bestimmung so ausgelegt werden, dass ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG und damit ein Verstoß gegen § 11 AGG nicht vorliegt, wenn eine mögliche mittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 Halbs. 1 AGG nach § 3 Abs. 2 Halbs. 2 AGG gerechtfertigt oder eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG nach §§ 8, 9 oder § 10 AGG zulässig ist (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 23).
54
2. Vorliegend begründet die Stellenausschreibung des Beklagten vom 23. November 2012 die Vermutung, dass die Klägerin wegen der Religion benachteiligt wurde.
55
a) Die Stellenausschreibung des Beklagten bewirkt nicht nur eine unmittelbare Benachteiligung von Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften, sondern auch von konfessionslosen Personen – wie der Klägerin – wegen der Religion.
56
aa) Nach der Stellenausschreibung setzt der Beklagte „die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche“ voraus. Damit hat er zum Ausdruck gebracht, dass er die Stelle ausschließlich mit Bewerbern/Bewerberinnen besetzen wird, die auch diese berufliche Anforderung erfüllen, mithin, dass eine Bewerbung von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hat, wenn der Bewerber/die Bewerberin diese berufliche Anforderung nicht erfüllt. Damit schließt der Beklagte allerdings nicht nur Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft aus dem Kreis der erwünschten und damit möglicherweise erfolgreichen Bewerber/innen aus und benachteiligt diese wegen ihrer Religion. Er benachteiligt auch Konfessionslose – wie die Klägerin – wegen der Religion, indem er Menschen aus dem Kreis der in die Auswahl einzubeziehenden und damit potentiell erfolgreichen Bewerber/innen ausschließt, die von ihrer negativen Religionsfreiheit Gebrauch gemacht haben. Vom Begriff „Religion“ iSv. § 1 AGG und der Richtlinie 2000/78/EG wird auch der Glaube an keine Religion als Ausübung der negativen Religionsfreiheit geschützt (BeckOGK/Block Stand 15. Juni 2018 AGG § 1 Rn. 118).
57
bb) § 1 AGG nimmt mit dem Begriff „Religion“ den entsprechenden Begriff der Richtlinie 2000/78/EG auf. Zwar wird der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG verwendete Begriff der Religion in dieser Richtlinie nicht definiert. Der Unionsgesetzgeber hat allerdings im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG auf die Grundrechte Bezug genommen, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden EMRK) gewährleistet sind. Damit hat er auch Art. 9 EMRK in Bezug genommen, der bestimmt, dass jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, wobei dieses Recht ua. die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Der Unionsgesetzgeber hat im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78/EG zudem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Bezug genommen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta bekräftigt wurden, gehört das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. Wie sich aus den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, entspricht das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem durch Art. 9 EMRK garantierten; es hat nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [Achbita/G4S Secure Solutions] Rn. 25 – 28; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 27 – 30).
58
cc) Art. 9 EMRK verbürgt auch negative Rechte, zum Beispiel die Freiheit, keine religiöse Überzeugung zu haben und keine Religion zu praktizieren. Dieses allgemeine Recht schützt jeden davor, gegen seinen Willen zur Beteiligung an religiösen Betätigungen gezwungen zu werden (EGMR 6. April 2017 – Nr. 10138/11, 16687/11, 25359/11, 28919/11 – [Klein ua./Deutschland] Rn. 78 mwN; 15. Juni 2010 – 7710/02 – Rn. 85). Da die EMRK und in der Folge die Charta dem Begriff der Religion eine weite Bedeutung beilegen und darunter auch die Freiheit der Personen fassen, ihre Religion zu bekennen oder keine religiöse Überzeugung zu haben und keine Religion zu praktizieren, ist davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2000/78/EG den gleichen Ansatz verfolgen wollte (vgl. EuGH 14. März 2017 – C-157/15 – [Achbita/G4S Secure Solutions] Rn. 28; 14. März 2017 – C-188/15 – [Bougnaoui und ADDH] Rn. 30).
59
b) Die mit der in der Stellenausschreibung enthaltenen beruflichen Anforderung der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche bewirkte unterschiedliche Behandlung wegen der Religion ist nicht ausnahmsweise zulässig, insbesondere ist sie nicht nach § 9 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Da § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG – wie unter Rn. 42 ausgeführt – nicht zur Anwendung kommt, kommt ausschließlich eine Rechtfertigung nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG in Betracht. Die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung wegen der Religion nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG liegen jedoch nicht vor. Zwar handelt es sich bei dem Beklagten um eine einer Religionsgemeinschaft, nämlich der EKD zugeordnete Einrichtung iSd. § 9 Abs. 1 AGG und im Sinne des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG (zu den Anforderungen an die Annahme einer solchen Einrichtung: vgl. EuGH 11. September 2018 – C-68/17 – [IR] Rn. 39 bis 41; BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 146 f., BVerfGE 137, 273; BAG 25. April 2013 – 2 AZR 579/12 – Rn. 22 f.; 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 – Rn. 94 f., BAGE 143, 354). Die Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung wegen der Religion scheitert jedoch am Nichtvorliegen der weiteren Voraussetzungen nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG.
60
aa) Der Senat hatte vorliegend nicht zu prüfen, ob die berufliche Anforderung der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche insoweit nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt ist, als mit ihr Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft aus dem Kreis der potentiell erfolgreichen Bewerber/innen ausgeschlossen wurden. Die Stellenausschreibung des Beklagten kann die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass Konfessionslose – wie die Klägerin – im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen der Religion iSv. § 1 AGG benachteiligt wurden, nämlich nur begründen, soweit durch sie Konfessionslose unzulässig wegen der Religion benachteiligt wurden (zur Differenzierung vgl. Ausführungen unter Rn. 56 ff.). Nach § 15 Abs. 2 AGG haben Anspruch auf Entschädigung nur Beschäftigte, die selbst entgegen den Vorgaben des § 7 Abs. 1 AGG wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG, ua. der Religion benachteiligt wurden, es sei denn, die Benachteiligung wäre nach den §§ 8 bis 10 AGG ausnahmsweise zulässig. Deshalb könnte auf der einen Seite die Klägerin nichts zu ihren Gunsten daraus ableiten, wenn sich die berufliche Anforderung, soweit mit ihr Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft aus dem Kreis der potentiell erfolgreichen Bewerber/innen ausgeschlossen wurden, als nicht gerechtfertigt erweisen sollte. Auf der anderen Seite könnte der Beklagte in seinem Verhältnis zur Klägerin nichts zu seinen Gunsten daraus ableiten, wenn sich die berufliche Anforderung, soweit durch sie Mitglieder einer anderen Religionsgemeinschaft wegen der Religion benachteiligt wurden, als gerechtfertigt erweist. Aus diesem Grund war vom Senat ausschließlich zu prüfen, ob die mit der in der Stellenausschreibung enthaltenen beruflichen Anforderung der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche bewirkte unterschiedliche Behandlung wegen der Religion, soweit mit ihr Konfessionslose aus dem Kreis der potentiell erfolgreichen Bewerber/innen ausgeschlossen wurden, nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG gerechtfertigt ist.
61
bb) Nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG ist ungeachtet des – hier nicht einschlägigen – § 8 AGG eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
62
cc) § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG ist unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig ist, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
63
Der Gesetzgeber wollte mit § 9 AGG den Art. 4 der Richtlinie 2000/78/EG in das nationale Recht umsetzen (BT-Drs. 16/1780 S. 35). Dass § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG nur von der „nach der Art der Tätigkeit gerechtfertigten“ beruflichen Anforderung spricht, steht einer Auslegung der Bestimmung dahin, dass es sich um eine „nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte“ berufliche Anforderung handeln muss, nicht entgegen. Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1780 S. 35) wollte der Gesetzgeber mit § 9 AGG von der durch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch machen, bereits geltende Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten beizubehalten, wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung angesichts des Ethos der Organisation eine wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt (so auch Sagan Anm. EuZW 2018, 381, 387). Zudem hat der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung unter Bezugnahme auf den Erwägungsgrund 24 der Richtlinie 2000/78/EG ausgeführt, dass dieser Erwägungsgrund es zulasse, dass die Mitgliedstaaten „… spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehalten oder vorsehen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können“ (BT-Drs. 16/1780 S. 35). Damit ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber in der 2. Alternative des § 9 Abs. 1 AGG auch nur in irgendeinem Punkt von den Vorgaben des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG abweichen wollte.
64
dd) Die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung der durch die berufliche Anforderung der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche bewirkten Benachteiligung Konfessionsloser wegen der Religion nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG in unionsrechtskonformer Auslegung unter Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger]) liegen nicht vor.
65
(1) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 62 f.) zur Auslegung des Begriffs „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ zunächst ausgeführt, dass aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG ausdrücklich hervorgehe, dass es von der „Art“ der fraglichen Tätigkeiten oder den „Umständen ihrer Ausübung“ abhänge, ob die Religion oder Weltanschauung eine solche berufliche Anforderung darstellen könne. Damit hänge die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit ab, wobei sich ein solcher Zusammenhang entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben könne, zB wenn sie mit der Mitwirkung an der Bestimmung des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation oder einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden sei, oder aus den Umständen ihrer Ausübung, zB der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen.
66
Aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 64) ergibt sich ferner, dass die berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Kirche oder Organisation „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sein muss. Auch wenn es den staatlichen Gerichten im Regelfall nicht zusteht, über das der angeführten beruflichen Anforderung zugrunde liegende Ethos als solches zu befinden, obliegt es ihnen jedoch festzustellen, ob diese drei Kriterien in Anbetracht des betreffenden Ethos im Einzelfall erfüllt sind.
67
Hinsichtlich dieser drei Kriterien hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Entscheidung vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 65) erstens festgestellt, dass die Verwendung des Adjektivs „wesentlich“ bedeutet, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation beruht, aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie notwendig erscheinen muss.
68
Zweitens, so hat der Gerichtshof der Europäischen Union in der genannten Entscheidung ausgeführt, zeige die Verwendung des Ausdrucks „rechtmäßig“, dass der Unionsgesetzgeber sicherstellen wollte, dass die die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation beruht, betreffende Anforderung nicht zur Verfolgung eines sachfremden Ziels ohne Bezug zu diesem Ethos oder zur Ausübung des Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie dient (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 66).
69
Drittens – so der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 67) – impliziere der Ausdruck „gerechtfertigt“ nicht nur, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Kriterien durch ein innerstaatliches Gericht überprüfbar sein müsse, sondern auch, dass es der Kirche oder Organisation, die diese Anforderung aufgestellt hat, obliege, im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich ist, so dass sich eine solche Anforderung tatsächlich als notwendig erweist.
70
Letztlich müsse die Anforderung, um die es in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG geht, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. Auch wenn Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG im Gegensatz zu der in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG getroffenen Regelung nicht ausdrücklich vorsehe, dass die Anforderung „angemessen“ sein müsse, so bestimme sie jedoch, dass jede Ungleichbehandlung ua. die „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehöre, beachten müsse. Deshalb müssten die nationalen Gerichte prüfen, ob die fragliche Anforderung angemessen ist und nicht über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgeht (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 68).
71
(2) Bei der vom Beklagten in der Stellenausschreibung vom 23. November 2012 geforderten Mitgliedschaft der Bewerber/innen in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche handelt es sich – soweit mit ihr Konfessionslose aus dem Kreis der potentiell erfolgreichen Bewerber/innen ausgeschlossen werden – nicht um eine nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung iSd. § 9 Abs. 1 AGG und des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG. Zwar besteht zwischen dieser beruflichen Anforderung und der ausgeschriebenen Tätigkeit eines Referenten/einer Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ im Zentrum „Migration und Soziales“ des Beklagten ein direkter Zusammenhang. Es bestehen allerdings erhebliche Zweifel, ob die vom Beklagten geforderte berufliche Anforderung der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche „wesentlich“ iSv. § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG ist. Jedenfalls ist die berufliche Anforderung nicht gerechtfertigt iSv. § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG.
72
(a) Zwischen der beruflichen Anforderung der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche und der ausgeschriebenen Tätigkeit eines Referenten/einer Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ im Zentrum „Migration und Soziales“ des Beklagten in Berlin besteht ein direkter Zusammenhang. Dabei ergibt sich dieser direkte Zusammenhang zwar nicht aus der Art der Tätigkeit. Es ist nichts dafür vorgetragen oder sonst – insbesondere aus der Stellenausschreibung – ersichtlich, dass die Tätigkeit als Referent/in beim Beklagten mit der Mitwirkung an der Bestimmung des Ethos der Evangelischen Kirche bzw. des Beklagten oder mit einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden wäre. Der direkte Zusammenhang zwischen der beruflichen Anforderung der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche und der ausgeschriebenen Tätigkeit ergibt sich jedoch aus den Umständen ihrer Ausübung, da der Stelleninhaber/die Stelleninhaberin für eine glaubwürdige Vertretung des Beklagten nach außen zu sorgen hatte.
73
(aa) Der Referent/die Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ hatte den Beklagten nach außen, nämlich gegenüber den Vereinten Nationen, der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen zu vertreten (vgl. Thüsing/Mathy RIW 2018, 559, 563).
74
Die Aufgabe des Stelleninhabers/der Stelleninhaberin bestand schwerpunktmäßig in der Erarbeitung des Parallelberichts zum deutschen Staatenbericht sowie von Stellungnahmen und Fachbeiträgen, und in der projektbezogenen Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen.
75
Bei dem in der Stellenausschreibung genannten Parallelbericht zum deutschen Staatenbericht handelte es sich um einen Bericht, in dem eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (im Folgenden NGO) neben dem Beklagten über den Umsetzungsprozess des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966 (im Folgenden UN-Antirassismuskonvention) in der Bundesrepublik Deutschland aus ihrer Sicht berichteten. Wie auch aus der Stellenausschreibung hervorgeht, ging es um einen unabhängigen Bericht, der den Vereinten Nationen als zusätzliche Grundlage für ihre abschließenden Bemerkungen zum deutschen Staatenbericht dienen sollte. Der Bericht war in Beratung mit den Menschenrechtsorganisationen und weiteren Interessenträgern zu erstellen und sollte Politik, Verwaltung und Organisationen menschenrechtlich begründete Handlungsoptionen aufzeigen.
76
Danach oblag dem Referenten/der Referentin zum einen die Aufgabe aufzuzeigen, wo aus Sicht des Beklagten Defizite in der Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland bestanden und mit welchen Instrumentarien aus Sicht des Beklagten den festgestellten Defiziten begegnet werden sollte. Diese Positionen des Beklagten hatten der Stelleninhaber bzw. die Stelleninhaberin gegenüber den anderen an der Berichterstattung beteiligten Organisationen zu kommunizieren. Zum anderen hatten der Referent bzw. die Referentin die Aufgabe, die unterschiedlichen Beiträge der beteiligten Menschenrechtsorganisationen, weiteren Interessenträger und auch des Beklagten in einem gemeinsamen Bericht zusammenzuführen und dabei allen Beteiligten Gehör zu verschaffen. Dies sollte in der Weise geschehen, dass – wie auch aus den „Terms of Reference für die Erstellung eines Parallelberichts zum 19. – 22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an die UN-Antirassismuskommission“ (im Folgenden Terms of Reference) ersichtlich – auf der einen Seite Berichtsinhalte, auf die sich die Mitglieder des sog. Expert Panels, darunter der Beklagte und das Forum Menschenrechte, im Wege des Konsensverfahrens verständigt hatten, in den Bericht aufzunehmen waren, dass aber auf der anderen Seite, auch wenn nicht jede im Bericht geäußerte Beurteilung und Empfehlung von allen beteiligten NGO mitzutragen war, unterschiedliche Perspektiven durch Offenlegung unterschiedlicher Sichtweisen in der Berichtsarbeit abzubilden waren.
77
(bb) Der Referent/die Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ hatte insoweit auch für eine glaubwürdige Vertretung des Beklagten nach außen zu sorgen.
78
Insoweit wirkt sich aus, dass sich das christliche Verständnis der Menschenrechte – wie der Beklagte unwidersprochen vorgetragen hat – in vielerlei Hinsicht von dem entsprechenden säkularen Ansatz, den viele der anderen an der Berichterstattung beteiligten NGO vertreten, unterscheidet, was maßgeblichen Einfluss auf die Positionen der Kirche und des Beklagten zu Antirassismusfragen hat. So ist für das Christentum Antirassismus bereits aufgrund der Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Imago dei – Gen 1,27 f.) konstitutiv. Das Christentum ist von Anbeginn an – im Wirken und in der Verkündigung von Jesus Christus sowie seiner Nachfolgegemeinschaft – universalistisch, soziale Schranken überwindend, grenzüberschreitend, soziativ – also Gemeinschaft eröffnend bzw. stiftend -, individualistisch in Wertschätzung der je einzelnen Person und inkludierend – insbesondere im Hinblick auf marginalisierte Personengruppen wie Kinder, Frauen, Kranke, Menschen mit Behinderung, Arme, Fremde, Randgruppen etc. – ausgerichtet. Der christliche Glaube lässt demnach von seinen Ursprüngen her keinen Rassismus zu. Es kommt hinzu, dass Menschenrechte nach christlichem Selbstverständnis ihre Gültigkeit unabhängig von einer bestimmten Tradition, Kultur, Religion, Weltanschauung oder von einem bestimmten Wertesystem haben und behalten. Zudem versteht sich der Beklagte – wie auch aus der Präambel und § 5 seiner Satzung ersichtlich – als unmittelbare Lebens- und Wesensäußerung der christlichen Kirche, zu deren Sendungsauftrag auch die tätige Nächstenliebe als eine der Formen des Wirksamwerdens des christlichen Bekenntnisses im Leben und der Gesellschaft gehören.
79
Die Aufgabe des Stelleninhabers bzw. der Stelleninhaberin war es danach, ausgehend von der UN-Antirassismuskonvention aus dieser spezifisch christlichen Sicht bestehende Umsetzungsdefizite und gebotene Handlungsoptionen aufzuzeigen, diese zu kommunizieren und in den Bericht einfließen zu lassen. Dass diese Aufgabe authentisch wahrzunehmen und die jeweiligen Positionen des Beklagten demnach glaubwürdig zu vertreten waren, liegt auf der Hand.
80
(b) Es bestehen allerdings erhebliche Zweifel, ob die vom Beklagten geforderte berufliche Anforderung der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche im Hinblick auf Konfessionslose „wesentlich“ iSv. § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG ist.
81
(aa) Nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger] Rn. 65) wäre die berufliche Anforderung der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche nur dann „wesentlich“, wenn sie aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung des Ethos der Kirche bzw. des Beklagten oder die Ausübung deren Rechts auf Autonomie notwendig erschiene.
82
(bb) Die Tätigkeit des Referenten bzw. der Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ erscheint für die Ausübung des Rechts der evangelischen Kirche bzw. des Beklagten auf Autonomie, mithin für die Ausübung deren Selbstbestimmungsrechts nicht notwendig.
83
Wie unter Rn. 76 ff. ausgeführt, hatten der Stelleninhaber bzw. die Stelleninhaberin ausgehend von den Vorgaben der UN-Antirassismuskonvention aus spezifisch christlicher Sicht bestehende Umsetzungsdefizite und gebotene Handlungsoptionen aufzuzeigen sowie diese zu kommunizieren. Zudem hatten der Referent bzw. die Referentin – wie unter Rn. 76 dargestellt – die Aufgabe, die unterschiedlichen Beiträge der beteiligten Menschenrechtsorganisationen, weiteren Interessenträger und des Beklagten in einem gemeinsamen Bericht in der Weise zusammenzuführen, dass allen Beteiligten Gehör verschafft wurde. Damit gehörte es nicht zu den Aufgaben des Referenten bzw. der Referentin im Rahmen des Projekts „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“, für die evangelische Kirche bzw. den Beklagten das Selbstbestimmungsrecht auszuüben.
84
(cc) Ob die Tätigkeit des Referenten bzw. der Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ für die Bekundung des Ethos der evangelischen Kirche bzw. des Beklagten eine solche Bedeutung hatte, dass die geforderte berufliche Anforderung der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche notwendig erschien, unterliegt erheblichen Zweifeln.
85
(aaa) Der Parallelbericht zum deutschen Staatenbericht gab nicht ausschließlich die spezifische Sicht des Beklagten zur Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland wieder; vielmehr handelte es sich hierbei um einen Bericht, in dem eine Vielzahl von NGO neben dem Beklagten zu diesem Thema nach einem vorgegebenen Verfahren aus ihrer Sicht Stellung nahmen. Auch wenn der Beklagte grundsätzlich ein Interesse hatte, seine, vom christlichen Selbstverständnis getragene, spezifische Position zur Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention zur Geltung zu bringen, bestand die Aufgabe des Referenten bzw. der Referentin – wie auch die sogenannten Terms of Reference verdeutlichen – nicht darin, durch Bekundung des christlichen Selbstverständnisses von der Gottesebenbildlichkeit und der christlichen Nächstenliebe auf die anderen Organisationen einzuwirken, sondern nur darin, eine gegebenenfalls aufgrund spezifisch christlicher Grundüberzeugung abweichende Position zum Thema Antirassismus zu kommunizieren und im späteren Bericht niederzulegen.
86
Wie die sogenannten Terms of Reference verdeutlichen, haben die an der Erstellung des Berichts Beteiligten – und damit auch der Beklagte – die Möglichkeit von Meinungsverschiedenheiten gesehen und hierfür – wie bereits unter Rn. 76 ausgeführt – vereinbart, dass auf der einen Seite Berichtsinhalte, auf die sich die Mitglieder des sog. Expert Panels, darunter der Beklagte und das Forum Menschenrechte, im Wege des Konsensverfahrens verständigt hatten, in den Bericht aufzunehmen waren, dass aber auf der anderen Seite, auch wenn nicht jede im Bericht geäußerte Beurteilung und Empfehlung von allen beteiligten NGO mitzutragen war, unterschiedliche Perspektiven durch Offenlegung unterschiedlicher Sichtweisen in der Berichtsarbeit abzubilden waren.
87
Damit erschien eine ausdrückliche Bekundung des spezifisch christlichen Selbstverständnisses von der Gottesebenbildlichkeit und der christlichen Nächstenliebe von vornherein nur eingeschränkt, nämlich nur dort überhaupt notwendig, wo sich unter den an der Erstellung des Parallelberichts Beteiligten aufgrund ihres unterschiedlichen Verständnisses der Menschenrechte und damit von Antirassismus Antagonismen, dh. Unterschiede in der Beurteilung der Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland ergeben würden.
88
Ein derartiger Antagonismus war zwar im Hinblick auf die Frage zu erwarten, ob die Bundesrepublik Deutschland mit § 9 AGG die Vorgaben von Artikel 5 Buchst. e) i) der UN-Antirassismuskonvention hinreichend umgesetzt hatte. Nach Artikel 5 Buchst. e) i) der UN-Antirassismuskonvention haben die Vertragsstaaten – im Einklang mit den in Artikel 2 niedergelegten Verpflichtungen – die Rassendiskriminierung in jeder Form zu verbieten und zu beseitigen und das Recht jedes Einzelnen, ohne Unterschied der Rasse, der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums, auf Gleichheit vor dem Gesetz zu gewährleisten, wobei dies insbesondere auch für das Recht auf Teilhabe am Berufs- und Wirtschaftsleben, nämlich das Recht auf Arbeit und auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes gilt. Insoweit war damit zu rechnen, dass von den anderen an der Erstellung des Parallelberichts beteiligten Organisationen – wie auch später im Parallelbericht zum 19. – 22. Bericht der Bundesrepublik Deutschland (vgl. insoweit S. 41 f.) geschehen – vor dem Hintergrund, dass nach ihrer Auffassung eine Differenzierung nach der Religion gleichzeitig eine mittelbare Benachteiligung etlicher Personen wegen der ethnischen Herkunft darstellt, „rassistische Effekte kirchlicher Einstellungspolitik“ aufgezeigt und der Ruf nach einer Verbesserung des als Schutzlücke empfundenen § 9 AGG laut werden würden.
89
Insoweit hatten der Stelleninhaber bzw. die Stelleinhaberin zwar die Aufgabe, diesem Vorwurf zu begegnen und die Sichtweise der evangelischen Kirche bzw. des Beklagten aufzuzeigen, wobei in diesem Rahmen nicht nur den tatsächlichen Ausführungen der anderen an der Erstellung des Berichts Beteiligten zur kirchlichen Einstellungspraxis, sondern auch deren rechtlichen Bewertungen, insbesondere zu § 9 AGG entgegenzutreten war. Es spricht allerdings alles dafür, dass diese Aufgabe auch von einer entsprechend über die insoweit maßgeblichen Fakten sowie verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Grundlagen kirchlicher Einstellungspraxis unterrichteten Person wahrgenommen werden konnte, ohne dass diese Mitglied einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche sein musste. Dafür, dass insoweit das christliche Selbstverständnis von der Gottesebenbildlichkeit und der christlichen Nächstenliebe in einem Maße authentisch und damit glaubwürdig zu bekunden gewesen wäre, dass die berufliche Anforderung notwendig erscheinen musste, ist nichts ersichtlich. Dies findet seine Bestätigung auch in der Stellungnahme, die der vom Beklagten letztlich eingestellte Bewerber im Parallelbericht zum 19. – 22. Bericht der Bundesrepublik Deutschland abgegeben hat. Wie aus der Fußnote 156 dieses Berichts hervorgeht, hatte auch der spätere Stelleninhaber für den Beklagten lediglich den tatsächlichen Ausführungen zur Diakonie unter Hinweis darauf widersprochen, diese vermittelten kein zutreffendes Bild der tatsächlichen Verhältnisse. Zudem war er den rechtlichen Wertungen der anderen Beteiligten entgegengetreten und hatte einen eventuell enthaltenen Diskriminierungsvorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zurückgewiesen. Darüber hinaus hatte er für den Beklagten den Wertungen der anderen Beteiligten zu § 9 AGG widersprochen und dabei geltend gemacht, § 9 AGG sei Ausdruck einer sachlich begründeten Unterscheidung kirchlich-diakonischer Anstellungspraxis zu nichtkirchlichen Arbeitgebern und zugleich Ausdruck des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Übereinstimmung mit deutschem Verfassungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, insbesondere mit menschenrechtlichen Normen.
90
(bbb) Aus dem Umstand, dass der Beklagte sich selbst – wie auch aus § 2 der Richtlinie des Rates der EKD ersichtlich – als „Christliche Dienstgemeinschaft“ versteht, folgt im vorliegenden Verfahren nichts Abweichendes. Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, der Referent bzw. die Referentin hätten im Rahmen seiner bzw. ihrer Tätigkeit auch das Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft glaubwürdig vertreten müssen, was nur bei einer Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche gewährleistet gewesen sei, weshalb selbst die Einstellung einer konfessionslosen Person – wie der Klägerin – nicht in Betracht gekommen sei. Auch mit seiner Argumentation, aus seinem Selbstverständnis als christliche Dienstgemeinschaft folge zwangsläufig, dass es alleiniges Recht der Kirchen sei, darüber zu entscheiden, welche Voraussetzungen von den Beschäftigten erfüllt sein müssten, um als Teil dieser christlichen Dienstgemeinschaft an dem Auftrag der Kirche in der Welt teilzunehmen, dringt der Beklagte nicht durch.
91
Zwar liegt nach dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen der Gesamtheit des kirchlichen Dienstes das Leitbild der christlichen Dienstgemeinschaft zugrunde. Es beschreibt die kirchenspezifische Besonderheit dieses Dienstes, die sich auf ein Gemeinschaftsverhältnis zwischen kirchlichem Arbeitgeber und kirchlichem Arbeitnehmer bezieht und auf die religiöse Bindung des Auftrags kirchlicher Einrichtungen gerichtet ist. Grundgedanke der Dienstgemeinschaft ist die gemeinsam getragene Verantwortung aller im kirchlichen Dienst Tätigen – sei es als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, leitend oder untergeordnet, verkündigungsnah oder unterstützend – für den Auftrag der Kirche. Nach dem Selbstverständnis der Kirchen erfordert der Dienst am Herrn die Verkündigung des Evangeliums (Zeugnis), den Gottesdienst (Feier) und den aus dem Glauben erwachsenden Dienst am Mitmenschen (Nächstenliebe). Wer in Einrichtungen tätig wird, die der Erfüllung eines oder mehrerer dieser christlichen Grunddienste zu dienen bestimmt sind, trägt demnach dazu bei, dass diese Einrichtungen ihren Teil am Heilswerk Jesu Christi leisten und damit den Sendungsauftrag seiner Kirche erfüllen können (BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 4 – 5 mwN, BVerfGE 137, 273).
92
Auch gehört es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgesellschaften und ihrer Einrichtungen, die diese aufgrund ihres verfassungsrechtlich durch Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts selbst regeln dürfen, dass diese der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auch dann, wenn sie ihn auf der Grundlage von Arbeitsverträgen regeln, das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft ihrer Mitarbeiter zugrunde legen können. Dazu gehört auch die Befugnis der Kirche, den ihr angehörenden Arbeitnehmern die Beachtung jedenfalls der tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre aufzuerlegen und zu verlangen, dass sie nicht gegen die fundamentalen Verpflichtungen verstoßen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben und die jedem Kirchenmitglied obliegen (BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83 – zu B II 1 d der Gründe, BVerfGE 70, 138; BAG 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 – Rn. 98, BAGE 143, 354). Auch bleibt es grundsätzlich den verfassten Kirchen überlassen, verbindlich darüber zu bestimmen, was die „Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert“ (BVerfG 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83 – zu B II 2 a der Gründe, aaO).
93
Allerdings war die Tätigkeit des Referenten/der Referentin im Projekt „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“ für die Bekundung des Selbstverständnisses des Beklagten als christliche Dienstgemeinschaft nicht von einer solchen Bedeutung, dass die Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche notwendig erschien. Der Stelleninhaber bzw. die Stelleninhaberin hatten die Aufgabe, ausgehend von den Vorgaben der UN-Antirassismuskonvention aus spezifisch christlicher Sicht bestehende Umsetzungsdefizite und gebotene Handlungsoptionen aufzuzeigen, diese zu kommunizieren und in den Bericht einfließen zu lassen. Dabei waren die unterschiedlichen Beiträge der beteiligten Menschenrechtsorganisationen, weiteren Interessenträger und des Beklagten zur Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention in dem gemeinsamen Bericht in der Weise zusammenzuführen, dass allen Beteiligten Gehör verschafft wurde. Insoweit war das Selbstverständnis des Beklagten als christliche Dienstgemeinschaft zunächst überhaupt nicht betroffen. Eine andere Bewertung ist nicht deshalb veranlasst, weil zu erwarten war, dass im Rahmen der Parallelberichterstattung von den anderen an der Erstellung des Berichts Beteiligten – wie unter Rn. 88 f. ausgeführt – „rassistische Effekte kirchlicher Einstellungspolitik“ aufgezeigt werden würden, denen durch den Referenten bzw. die Referentin entgegenzutreten war. In diesem Zusammenhang war nicht das Selbstverständnis der christlichen Kirchen als christliche Dienstgemeinschaft als solches in die Kritik geraten, sondern ausschließlich der Umstand, dass diese aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts nicht nur für sich in Anspruch nahmen, der Gestaltung des kirchlichen Dienstes auf der Grundlage von Arbeitsverträgen das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft aller Mitarbeiter zugrunde legen zu dürfen, sondern sich auch für berechtigt hielten, entsprechende berufliche Anforderungen zu formulieren. Um dieser Kritik glaubwürdig entgegentreten zu können, bedurfte es indes nicht der Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche. Ausreichend war insoweit vielmehr, dass der Stelleninhaber/die Stelleninhaberin über fundierte Kenntnisse des kirchlichen Arbeitsrechts verfügte.
94
Soweit der Beklagte sich auf das aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen folgende Recht beruft, autonom darüber zu entscheiden, welche Voraussetzungen von den Beschäftigten erfüllt sein müssten, um als Teil der christlichen Dienstgemeinschaft an dem Auftrag der Kirche in der Welt teilzunehmen, führt auch dies zu keiner anderen Bewertung. Das Selbstbestimmungsrecht für sich allein betrachtet kann – wie unter Rn. 37 ausgeführt – eine Benachteiligung nach § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG nicht rechtfertigen.
95
(c) Die in der Stellenausschreibung formulierte berufliche Anforderung der Zugehörigkeit zu einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche war, soweit mit ihr Konfessionslose aus dem Kreis der potentiell erfolgreichen Bewerber/innen ausgeschlossen wurden, jedenfalls nicht gerechtfertigt.
96
(aa) Gerechtfertigt wäre die berufliche Anforderung vorliegend nur dann gewesen, wenn der Beklagte im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls dargetan hätte, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung seines Ethos oder seines Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich war, so dass sich die Anforderung tatsächlich als notwendig erwiesen hätte (EuGH 17. April 2018 – C-414/16 – [Egenberger] Rn. 67; 11. September 2018 – C-68/17 – [IR] Rn. 51, 53). Daran fehlt es.
97
(bb) Das Recht des Beklagten auf Autonomie ist – wie unter Rn. 82 f. ausgeführt – schon nicht betroffen. Der Stelleninhaber bzw. die Stelleninhaberin hatte ausgehend von den Vorgaben der UN-Antirassismuskonvention aus spezifisch christlicher Sicht bestehende Umsetzungsdefizite und gebotene Handlungsoptionen aufzuzeigen, diese zu kommunizieren und in den Bericht einfließen zu lassen, wobei die unterschiedlichen Beiträge der beteiligten Menschenrechtsorganisationen, weiteren Interessenträger und des Beklagten in dem gemeinsamen Bericht in der Weise zusammenzuführen waren, dass allen Beteiligten Gehör verschafft wurde. Damit gehörte es nicht zu den Aufgaben des Referenten bzw. der Referentin im Rahmen des Projekts „Parallelberichterstattung zur UN-Antirassismuskonvention“, für die evangelische Kirche bzw. den Beklagten das Selbstbestimmungsrecht auszuüben.
98
(cc) Der Beklagte hat aber auch nicht dargetan, dass bei Einstellung eines/einer konfessionslosen Bewerbers/Bewerberin die wahrscheinliche und erhebliche Gefahr bestand, dass sein Ethos beeinträchtigt würde.
99
Wie unter Rn. 87 ausgeführt, war eine ausdrückliche Bekundung des spezifisch christlichen Selbstverständnisses von der Gottesebenbildlichkeit und der christlichen Nächstenliebe durch den Stelleninhaber/die Stelleninhaberin von vornherein nur eingeschränkt, nämlich nur dort überhaupt notwendig, wo sich unter den an der Erstellung des Parallelberichts Beteiligten aufgrund ihres unterschiedlichen Verständnisses der Menschenrechte und damit von Antirassismus Antagonismen, dh. Unterschiede in der Beurteilung der Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland ergeben würden. Ein derartiger Antagonismus war nach dem Vorbringen des Beklagten allerdings ausschließlich insoweit zu erwarten, als – wie unter Rn. 88 ausgeführt – von den anderen an der Erstellung des Parallelberichts Beteiligten vor dem Hintergrund, dass nach ihrer Auffassung eine Differenzierung nach der Religion gleichzeitig eine mittelbare Benachteiligung etlicher Personen wegen der ethnischen Herkunft darstellt, „rassistische Effekte kirchlicher Einstellungspolitik“ aufgezeigt und der Ruf nach einer Verbesserung des als Schutzlücke empfundenen § 9 AGG laut werden würden. Insoweit hatten der Stelleninhaber bzw. die Stelleninhaberin zwar die Aufgabe, diesem Vorwurf zu begegnen und die Sichtweise der evangelischen Kirche bzw. des Beklagten aufzuzeigen. Dass diese Aufgabe nicht auch von einer entsprechend über die insoweit maßgeblichen Fakten sowie verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Grundlagen kirchlicher Einstellungspraxis unterrichteten konfessionslosen Person wahrgenommen werden konnte, hat der Beklagte nicht dargetan. Abweichendes folgt auch nicht aus der Stellenausschreibung. Vielmehr ergab sich hieraus das Erfordernis eines abgeschlossenen Rechtswissenschaftlichen Hochschulstudiums oder vergleichbaren Qualifikation sowie fundierter Kenntnisse im Völkerrecht, was stark den rechtlichen und weniger den konfessionellen Bezug der Referententätigkeit unterstreicht.
100
Der Beklagte hat auch nicht dargetan, dass bei Einstellung eines/einer konfessionslosen Bewerbers/Bewerberin die wahrscheinliche und erhebliche Gefahr bestand, dass sein Selbstverständnis als christliche Dienstgemeinschaft beeinträchtigt würde. Wie unter Rn. 93 ausgeführt, erscheint es insoweit schon nicht notwendig, dass der Stelleninhaber/die Stelleninhaberin dieses Selbstverständnis nach außen bekundete.
101
(dd) Im Übrigen wirkt sich entscheidend aus, dass der jeweilige Stelleninhaber/die jeweilige Stelleninhaberin – wie auch aus der Stellenausschreibung ersichtlich – fortwährend in einen internen Meinungsbildungsprozess beim Beklagten eingebunden war und deshalb in Fragen, die das Ethos des Beklagten betrafen, nicht unabhängig handeln konnte, dh. ohne sein Vorgehen mit dem Beklagten abzustimmen. Vor diesem Hintergrund bestand keine wahrscheinliche oder erhebliche Gefahr, dass das Ethos des Beklagten durch ungeschützte oder unabgestimmte Positionierungen des Referenten bzw. der Referentin beeinträchtigt würde.
102
Die Stelle des Referenten bzw. der Referentin war auf einen Zeitraum von zwei Jahren befristet. Während dieser Zeit sollten der Parallelbericht in interner Beratung mit anderen Menschenrechtsorganisationen und weiteren Interessenträgern erstellt sowie Stellungnahmen und Fachbeiträge abgegeben werden. Zudem sollten der Stelleninhaber/die Stelleninhaberin während dieser Zeit die Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen projektbezogen vertreten. Während der gesamten Zeit der Tätigkeit waren der Stelleninhaber bzw. die Stelleninhaberin – wie auch aus der Stellenausschreibung ersichtlich – im Zentrum „Migration und Soziales“ des Beklagten fortwährend in einen internen Meinungsbildungsprozess beim Beklagten eingebunden. Ihm/ihr oblag die Information und Koordination des Meinungsbildungsprozesses im Verbandsbereich und die Sachberichterstattung zum Arbeitsbereich. Der Stelleninhaber/die Stelleninhaberin konnte deshalb in Fragen, die das Ethos des Beklagten betrafen, nur nach vorheriger Abstimmung mit dem Beklagten agieren. Ungeschützte oder unabgestimmte Positionierungen des Referenten bzw. der Referentin waren danach ausgeschlossen. Dass und ggf. wo dem Referenten bzw. der Referentin dennoch eigenständige Positionierungen nach außen möglich gewesen wären, hat der Beklagte nicht dargetan.
103
IV. Der Beklagte hat die durch die Stellenausschreibung begründete Vermutung, dass die Klägerin wegen ihrer Konfessionslosigkeit und damit wegen der Religion benachteiligt wurde, nicht widerlegt.
104
1. Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt nach § 22 AGG die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss demnach Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 28 mwN; 16. Februar 2012 – 8 AZR 697/10 – Rn. 58; 17. August 2010 – 9 AZR 839/08 – Rn. 45).
105
2. Der Beklagte hat allerdings schon keine Tatsachen vorgetragen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere Gründe als die Konfessionslosigkeit der Klägerin zu deren ungünstigerer Behandlung geführt haben.
106
a) Der Beklagte kann insoweit nicht mit Erfolg einwenden, er habe die Klägerin schon deshalb nicht wegen ihrer Konfessionslosigkeit und damit wegen der Religion benachteiligen können, weil er hiervon keine Kenntnis gehabt habe. Zwar trifft es zu, dass weder das Bewerbungsschreiben der Klägerin noch der beigefügte Lebenslauf einen Hinweis auf eine Konfession der Klägerin bzw. eine Konfessionslosigkeit enthalten. Der Beklagte hatte die Bewerber/innen in der Stellenausschreibung allerdings nur darum gebeten, ihre Konfession im Lebenslauf anzugeben, so dass aufgrund des Fehlens von Angaben zu einer Konfession in den Unterlagen der Klägerin der Schluss nahelag, dass diese konfessionslos war.
107
b) Der Beklagte kann insoweit auch nicht mit Erfolg geltend machen, die Klägerin nur deshalb aus dem weiteren Auswahlverfahren ausgeschieden zu haben, weil diese kein wissenschaftliches Hochschulstudium, sondern lediglich ein Fachhochschulstudium abgeschlossen hatte. Es kann vorliegend dahinstehen, ob das Anforderungsmerkmal der Stellenausschreibung „abgeschlossenes Hochschulstudium der Rechtswissenschaften oder vergleichbare Qualifikation“ – wie der Beklagte meint – nur durch einen universitären Abschluss erfüllt werden konnte. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ließe sich nicht feststellen, dass ausschließlich andere Gründe als die Konfessionslosigkeit der Klägerin zu deren ungünstigerer Behandlung geführt haben.
108
aa) Zwar kann der Arbeitgeber eine Vermutung nach § 22 AGG widerlegen, indem er darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass die klagende Partei eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit an sich ist. In einem solchen Fall kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass die Bewerbung ausschließlich aus diesem Grund ohne Erfolg blieb; in einem solchen Fall besteht demzufolge in der Regel kein Kausalzusammenhang zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem in § 1 AGG genannten Grund (BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 91, BAGE 156, 71). Ebenso kann der Arbeitgeber die Vermutung der Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes dadurch widerlegen, dass er substantiiert dazu vorträgt und im Bestreitensfall beweist, dass er bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes ausschließt. Dies kann zum Beispiel anzunehmen sein, wenn der Arbeitgeber ausnahmslos alle Bewerbungen in einem ersten Schritt darauf hin sichtet, ob die Bewerber eine zulässigerweise gestellte Anforderung erfüllen und er all die Bewerbungen von vornherein aus dem weiteren Auswahlverfahren ausscheidet, bei denen dies nicht der Fall ist (BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 93, aaO).
109
bb) Auch danach hat der Beklagte die Vermutung, dass die Klägerin wegen ihrer Konfessionslosigkeit und damit wegen der Religion benachteiligt wurde, nicht widerlegt. Insoweit hat der Beklagte selbst vorgetragen, die Abteilungsleiterin Z habe sämtliche Bewerbungsunterlagen gesichtet und die Qualifikationen der Bewerber und Bewerberinnen verglichen. Sodann sei mit der entsprechenden Fachabteilung – basierend auf den Bewerbungsunterlagen – ein Ranking der Bewerber erstellt worden. Dieses Ranking umfasse regelmäßig bis zu 10 Bewerbungen und habe im konkreten Fall auch noch die Klägerin erfasst. Aus dieser Ranking-Liste seien sodann durch die Fachabteilung in Abstimmung mit der Personalabteilung die Interessenten ausgewählt worden, die zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden sollten. Im Ergebnis seien vier Bewerber in die engere Auswahl genommen und zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden, die Klägerin sei nicht hierunter gewesen. Nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten war die Bewerbung der Klägerin damit nicht bereits in einer Vorauswahl ausgeschieden worden, sondern nach einer ersten Sichtung in Absprache mit der Fachabteilung in die Auswahl der letzten zehn Bewerber gelangt. Der fehlende universitäre Abschluss hat mithin nicht dazu geführt, dass die Klägerin vom Beklagten als von vornherein formal unqualifiziert angesehen oder nach einem bestimmten Verfahren bereits ausgeschieden wurde. Vor diesem Hintergrund ist es nicht auszuschließen, dass die Konfessionslosigkeit der Klägerin bei der Auswahlentscheidung eine Rolle gespielt hatte.
110
V. Der Anspruch der Klägerin auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG beläuft sich der Höhe nach auf 3.915,46 Euro. Dieser Betrag entspricht zwei auf der ausgeschriebenen Teilzeitstelle erzielbaren Bruttomonatsvergütungen, so dass es auf die Frage, ob die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG drei Monatsgehälter nicht übersteigen durfte, weil die Klägerin auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, nicht ankommt (zur Begrenzung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG als „Kappungsgrenze“ vgl. BAG 19. August 2010 – 8 AZR 530/09 – Rn. 66).
111
1. Bei der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden Beurteilung der angemessenen Höhe der festzusetzenden Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG ist zu beachten, dass die Entschädigung einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz gewährleisten muss. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia ACCEPT] Rn. 63 mwN; BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 161). Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht gerecht (EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 25).
112
2. Der Senat hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Entschädigung iHv. zwei auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttomonatsvergütungen, mithin eine Entschädigung iHv. 3.915,46 Euro für angemessen. Mit diesem Betrag wird die Klägerin angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung wegen der Religion erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zugleich auch erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen.
113
a) Hiergegen könnte nicht mit Erfolg eingewendet werden, für die Bemessung der Entschädigung sei von dem auf der Stelle erzielbaren Vollzeitgehalt auszugehen, da es andernfalls zu einer Schlechterstellung von Teilzeitkräften und damit zu einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts komme. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 22. April 1997 (- C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 33) eine Anknüpfung an die nach der Stellenausschreibung zu erwartenden Monatsgehälter für die Höhe der Entschädigung grundsätzlich gebilligt.
114
b) Auf der anderen Seite kann der Beklagte nicht mit Erfolg geltend machen, die Entschädigung müsse niedriger ausfallen. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass er sich mit seiner Ausschreibungs- und Einstellungspraxis im vorliegenden Verfahren an einer langjährigen, höchstrichterlich gebilligten Rechtsprechung orientiert habe, an der weder die Richtlinie 2000/78/EG noch das AGG etwas habe ändern wollen, weshalb ihm Vertrauensschutz zu gewähren sei.
115
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 40 f. mwN) wird durch die Auslegung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erforderlichenfalls erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass – von ganz außergewöhnlichen Umständen abgesehen – der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden hat, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieses Rechts betreffenden Streit erfüllt sind. Zudem kann der Vertrauensschutz jedenfalls nicht geltend gemacht werden, um demjenigen, der das Verfahren eingeleitet hat, das den Gerichtshof veranlasst, das Unionsrecht dahin auszulegen, dass es der fraglichen nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, den Vorteil zu versagen, der ihm aus dieser Auslegung entsteht.
116
bb) Da der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger]) die zeitlichen Wirkungen seiner Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG nicht begrenzt hat, kommt die Gewährung von Vertrauensschutz in eine langjährige, ggf. auch höchstrichterlich gebilligte, dem Unionsrecht aber entgegenstehende Rechtsprechung von vornherein nicht in Betracht.
117
C. Der Senat hat keine Veranlassung gesehen, das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG analog auszusetzen, um dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit zur Prüfung zu geben, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG in seiner Auslegung, die er durch die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger]) sowie vom 11. September 2018 (- C-68/17 – [IR]) erfahren hat, einer Ultra-vires- und/oder einer Identitätskontrolle standhält und ggf. das Unionsrecht für unanwendbar zu erklären.
118
I. Hoheitsakte der Europäischen Union und – soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden – Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts grundsätzlich nicht am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte zu messen. Der Anwendungsvorrang findet seine Grenze jedoch in dem im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen niedergelegten Integrationsprogramm (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) und in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm. Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Art. 1 und Art. 20 GG. Das gilt namentlich für das in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG verankerte Demokratieprinzip. Dieses Prinzip verbietet nicht nur eine substantielle Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages, es gewährleistet in seiner Konkretisierung im Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) auch, dass auch das in Deutschland zur Anwendung gelangende Unionsrecht über ein hinreichendes Maß an demokratischer Legitimation verfügt. Es schützt insoweit vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union (vgl. etwa BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13, 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13 – Rn. 115, BVerfGE 142, 123).
119
Ob Maßnahmen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG iVm. Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG berühren, prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Identitätskontrolle, ob sie die Grenzen des demokratisch legitimierten Integrationsprogramms nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG offensichtlich und in strukturell bedeutsamer Weise überschreiten und dadurch gegen den Grundsatz der Volkssouveränität verstoßen, im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle (vgl. etwa BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13, 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13 – Rn. 121, 138, BVerfGE 142, 123; 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – Rn. 43, BVerfGE 140, 317; 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 – Rn. 60, BVerfGE 126, 286). Bezogen auf den Gerichtshof der Europäischen Union wäre dies erst der Fall, wenn eine Entscheidung die Willkürgrenze bei der Auslegung der Verträge überschritte (vgl. BVerfG 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13, 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13 – Rn. 147, 149 f., aaO).
120
II. Danach besteht im vorliegenden Verfahren weder ein Anlass für eine Ultra-vires- noch für eine Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Der Senat hat keine Zweifel, dass die Richtlinie 2000/78/EG in ihrer Auslegung durch die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. April 2018 (- C-414/16 – [Egenberger]) sowie vom 11. September 2018 (- C-68/17 – [IR]) einer Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle standhalten würde.
121
Die Richtlinie 2000/78/EG zielt zwar auf den Schutz der Grundrechte der Arbeitnehmer aus Art. 47 und Art. 21 der Charta ab, nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden und insoweit wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können. Durch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG wird aber auch dem in Art. 17 AEUV und in Art. 10 der Charta, der seinerseits Art. 9 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten EMRK entspricht, anerkannten Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen Organisationen hinreichend Rechnung getragen. Nach Art. 17 Abs. 1 AEUV achtet die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
122
Insoweit wirkt sich zunächst aus, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG für Kirchen und die anderen dort genannten Organisationen eine über die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG vorgesehene hinausgehende Möglichkeit der Rechtfertigung einer Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung vorsieht, und dass die Legitimität des Ethos der Kirche oder Organisation als solches – von ganz außergewöhnlichen Fällen abgesehen – keiner Kontrolle durch die Mitgliedstaaten und ihre Behörden, insbesondere durch ihre Gerichte unterliegt.
123
Im Übrigen sind nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG das Recht auf Autonomie der Kirchen und der anderen dort genannten Organisationen und das Recht der Arbeitnehmer, insbesondere bei der Einstellung nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, nach Maßgabe der in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG vorgegebenen und vom Gerichtshof der Europäischen Union kohärent konkretisierten Kriterien gegeneinander abzuwägen. Danach können die Kirchen und anderen Organisationen im Einzelfall die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche als berufliche Anforderung bestimmen, sie müssen allerdings begründen, warum diese im jeweiligen Fall eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung ist. Soweit die berufliche Anforderung, um die es in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG geht, darüber hinaus mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen muss, folgt dies aus dem Umstand, dass dieser Grundsatz zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört.
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Der Umstand, dass Art. 17 AEUV erst zu einem Zeitpunkt in Kraft getreten ist, als die Richtlinie 2000/78/EG bereits galt, gebietet keine andere Beurteilung. Zum einen entspricht der Wortlaut von Art. 17 AEUV im Kern dem der der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam beigefügten Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, auf die die Richtlinie 2000/78/EG in ihrem 24. Erwägungsgrund selbst Bezug nimmt. Dies erhellt, dass der Unionsgesetzgeber diese Erklärung beim Erlass seiner Richtlinie, insbesondere bei der Fassung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie berücksichtigt haben muss. Zum anderen kann Art. 17 AEUV nicht bewirken, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Kriterien nicht eingehalten werden müssen oder dass deren Einhaltung einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle entzogen wird. Andernfalls würde der Diskriminierungsschutz nach der Richtlinie 2000/78/EG leerlaufen.
Schlewing
Vogelsang
Roloff
F. Rojahn
Dr. Felderhoff |