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bfh_024-12
11. April 2012
Elektronische Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmeldungen 11. April 2012 - Nummer 024/12 - Urteil vom 14.03.2012 XI R 33/09 Mit Urteil vom 14. März 2012 XI R 33/09 hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, dass die Verpflichtung des Unternehmers, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen dem Finanzamt grundsätzlich durch Datenfernübertragung elektronisch zu übermitteln, verfassungsgemäß ist.Seit dem 1. Januar 2005 müssen Umsatzsteuer-Voranmeldungen dem Finanzamt elektronisch übermittelt werden. Auf Antrag kann das Finanzamt zur Vermeidung unbilliger Härten darauf verzichten; dann muss wie bisher eine Papiererklärung eingereicht werden. Das Finanzamt muss dem Antrag entsprechen, wenn die elektronische Übermittlung für den Unternehmer wirtschaftlich oder persönlich unzumutbar ist, etwa weil die Schaffung der technischen Voraussetzungen nur mit einem nicht unerheblichen finanziellen Aufwand möglich wäre oder wenn der Unternehmer nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, die Möglichkeiten der Datenfernübertragung zu nutzen.Im Streitfall hatte eine GmbH & Co. KG den Antrag gestellt und die Verfassungswidrigkeit der Pflicht zur elektronischen Datenübermittlung gerügt.Dem ist der BFH nicht gefolgt. Die elektronischen Daten können von den Finanzämtern automatisch weiterverarbeitet werden. Dies dient u.a. der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und erleichtert die notwendige Kontrolle. Die Regelung ist auch nicht unverhältnismäßig, denn die Härtefallregelung berücksichtigt die berechtigten Belange der Steuerpflichtigen in ausreichendem Maße.Ob die Klägerin mit Erfolg eine unzumutbare Härte geltend machen kann, blieb vor dem BFH offen. Ohne Erfolg hatte die Klägerin allerdings das hohe Alter und die mangelnde Computererfahrung ihrer Geschäftsführer geltend gemacht. Beides galt zumindest für zwei ihrer insgesamt vier Geschäftsführer nicht. Dass diese nur zum Schein bestellt seien, ließ der BFH nicht gelten. Über den Antrag der Klägerin muss das Finanzamt nun noch einmal entscheiden, weil es sein Ermessen im ersten Durchgang fehlerhaft ausgeübt hatte. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: XI R 33/09
1. Die Verpflichtung eines Unternehmers, seine Umsatzsteuer-Voranmeldungen dem Finanzamt grundsätzlich durch Datenfernübertragung elektronisch zu übermitteln, ist verfassungsgemäß.2. Beantragt der Unternehmer, zur Vermeidung von unbilligen Härten die Umsatzsteuer-Voranmeldungen (weiterhin) nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck in Papierform abgeben zu dürfen, muss das Finanzamt diesem Antrag entsprechen, wenn dem Unternehmer die elektronische Datenübermittlung der Umsatzsteuer-Voranmeldungen wirtschaftlich oder persönlich unzumutbar ist.3. Liegt eine solche wirtschaftliche oder persönliche Unzumutbarkeit nicht vor, verbleibt es bei dem Anspruch des Unternehmers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Finanzamts über diesen Antrag.4. Der Unternehmer darf vom Finanzamt hinsichtlich der zur Erfüllung der Erklärungspflicht auf elektronischem Weg erforderlichen Hard- und Software grundsätzlich nicht auf den Internetzugang anderer "Konzerngesellschaften" verwiesen werden. Tatbestand   I. Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) berechtigt ist, ihre Umsatzsteuer-Voranmeldungen weiterhin in Papierform abzugeben.Die Klägerin ist eine im Jahr 2004 gegründete GmbH & Co. KG. Geschäftsführer der persönlich haftenden Gesellschafterin der Klägerin sind die Eheleute A und B sowie deren Kinder C und D. Einziger Kommanditist der Klägerin ist A.Die Klägerin vermietet Betriebsgrundstücke an verbundene Unternehmen und erwirtschaftete in den Jahren 2005 bis 2008 einen Gewinn in einer Höhe von jeweils mehr als ... EUR. Sie erstellte ihre Buchführung handschriftlich mit einem sog. "amerikanischen Journal".Mit Schreiben des A, eines ..., beantragte die Klägerin unter dem 12. Dezember 2004 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--), ihre Umsatzsteuer-Voranmeldungen weiterhin in Papierform abzugeben und begründete dies wie folgt:"Umsatzsteuervoranmeldung 2005für Steuernummer: ...Sehr geehrte Damen und Herren,ich beantrage hiermit, auch in Zukunft die Meldungen auf amtlichem Formular handschriftlich abgeben zu dürfen, weil ich a) aus technischer Sicht, b) aus persönlichen Gründen nicht in der Lage bin, der Vorschrift zu entsprechen.Die Buchhaltung ist so klein, dass sie zurzeit ohne elektronische Hilfe erledigt werden kann. Außerdem verfügt die Buchhaltung nicht über die erforderliche Hard- und Software. Zusätzlich ist anzumerken, dass die Sachbearbeitung noch nicht in der Lage ist, mit einem PC umzugehen [...]".Den Antrag lehnte das FA mit Schreiben vom 21. Dezember 2004 ab.Der Einspruch vom 25. Dezember 2004, in dem A u.a. auf sein Alter von ... Jahren, auf das Fehlen eines Internetzugangs, auf seine mangelnde Fähigkeit zur Nutzung des Internets, auf den Umstand, dass es sich um ein "neues Unternehmen" handele, welches "noch anlaufen" müsse sowie darauf verwiesen hatte, dass voraussichtlich nur ca. 150 Buchungssätze pro Jahr anfallen würden und dass die Buchführung in Form eines "amerikanischen Journals" erstellt werde, so dass ein technischer Anschluss "völlig überdimensioniert" wäre, blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2005 führt das FA zur Begründung aus:"[...] Zur Vermeidung unbilliger Härten kann das Finanzamt in Ausnahmefällen weiterhin die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldung in herkömmlicher Form (Papier) zulassen. Ein Härtefall kann vorliegen, wenn und solange es dem Unternehmer bzw. Arbeitgeber nicht zumutbar ist, die notwendigen technischen Voraussetzungen für die elektronische Übermittlung zu schaffen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Unternehmer -finanziell nicht in der Lage ist, entsprechende Investitionen zu tätigen oderkurzfristig eine Einstellung seiner betrieblichen Tätigkeit beabsichtigt oderin nächster Zeit eine Umstellung der Software/Hardware beabsichtigt.Keines dieser Merkmale trifft jedoch zu. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Gesellschaft zu einem Konzern gehört. Der Konzern --zu welchem die Efin gehört-- unterhält nach den vorliegenden Wirtschaftsprüfungsberichten eine hauseigene EDV-Anlage, in der sowohl die anfallenden Geschäftsvorfälle als auch die Lohn- und Gehaltsbuchführung erfasst werden. Mehrere der Konzerngesellschaften unterhalten zudem eine Internetpräsenz. Finanzielle Investitionen müssten --wenn überhaupt-- nur in sehr geringem Umfang getätigt werden. Dies ist der Efin finanziell zuzumuten und verstößt gegen keinerlei Übermaßverbot. Die Einwendung, die Übermittlung von Steuerdaten mit der ELSTER-Software sei nicht sicher, ist unberechtigt [...]".Auf die daraufhin erhobene Klage mit dem Antrag, das FA zu verpflichten, ihr zu gestatten, Umsatzsteuer-Voranmeldungen weiterhin in herkömmlicher Form (Papierform) abgeben zu dürfen, verpflichtete das Finanzgericht (FG) das FA, den Antrag der Klägerin vom 12. Dezember 2004 unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG neu zu bescheiden.Die Klägerin habe nach der ab 1. Januar 2009 geltenden und im Streitfall maßgebenden Rechtslage keinen Anspruch, von der Verpflichtung befreit zu werden, Umsatzsteuer-Voranmeldungen in elektronischer Form abzugeben. Die grundsätzliche Verpflichtung zur Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmeldungen in elektronischer Form nach § 18 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) liege innerhalb des verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers. Weder das Fehlen der für eine elektronische Übermittlung erforderlichen Hard- und Software noch das geltend gemachte Alter der Geschäftsführer A und B oder die vorgebrachten generellen Sicherheitsbedenken gegen die Abgabe elektronischer Steueranmeldungen führten zu einem Anspruch auf Befreiung nach § 18 Abs. 1 UStG i.V.m. § 150 Abs. 8 der Abgabenordnung (AO).Das FA sei aber zur Neubescheidung des Antrags der Klägerin vom 12. Dezember 2004 zu verpflichten, weil es von dem ihm durch § 18 Abs. 1 UStG eingeräumten Ermessen nicht i.S. des § 102 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht habe. Es habe die Ermessensentscheidung nicht aufgrund einer erschöpfenden Ermittlung des Sachverhalts getroffen und die Ermessensentscheidung nicht mit einer hinreichenden Begründung (§ 121 Abs. 1 AO) versehen. Das FA habe in seiner Einspruchsentscheidung pauschal auf eine "Konzernstruktur" verwiesen, in die die Klägerin eingebunden gewesen sei, ohne die "Konzerngesellschaften" zu bezeichnen oder in sonstiger Weise darzulegen, welche Verflechtungen seiner Ermessenserwägung zugrunde lagen. Außerdem fehlten jegliche Erwägungen zu Umsätzen und Gewinnen der Klägerin oder anderer mit der Klägerin verbundener Unternehmen. Zwar habe der Beklagte im Klageverfahren Konkretisierungen vorgenommen, allerdings überschreite dieses Nachholen den Rahmen des § 102 Satz 2 FGO, so dass der Ermessensfehler nicht geheilt werden könne.Das Urteil ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2010, 277.Mit ihrer durch das FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das FG gehe unzutreffend von der Verfassungsmäßigkeit des § 18 Abs. 1 UStG, § 150 Abs. 8 AO aus. Der Gesetzgeber könne dem Unternehmer nicht vorschreiben, wie er den notwendigen Schriftwechsel mit den Finanzbehörden zu führen habe. Dies stelle einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und die Grundrechte aus Art. 12 und 14 des Grundgesetzes (GG) dar.Jedenfalls verneine das FG unzutreffend eine Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen einer ggf. durchzuführenden Härtefallprüfung. Im Jahr 2008 habe das von ihr verwendete amerikanische Journal lediglich 30 Buchungen ausgewiesen. Lediglich in vier Fällen habe sich eine Umsatzsteuer ergeben. Aus drei Geschäftsvorfällen habe sich zusammen ein Betrag von ... EUR Vorsteuer ergeben. Im Jahr 2009 seien fünf Umsatzsteuer-Voranmeldungen eingereicht worden, aus denen sich eine Zahllast ergeben habe. Die übrigen sieben Umsatzsteuer-Voranmeldungen hätten "Null-Meldungen" enthalten. Sie verfüge nicht über die technischen Voraussetzungen zur elektronischen Übermittlung und sei auch nicht verpflichtet, diese zu schaffen. Außerdem bestehe die Gefahr von Virenverseuchung und unberechtigten Zugriffen auf ihre Buchhaltung über das Internet.Im Übrigen sei der Zwang zur elektronischen Übermittlung der Umsatzsteuer-Voranmeldungen auch dann unverhältnismäßig und unzumutbar, wenn der Steuerpflichtige nicht mit dem elektronischen Datenverkehr vertraut sei und nicht über hinreichende Medienkompetenz verfüge. Dies sei bei den Geschäftsführern A und B der Fall. Auf die weiteren Geschäftsführer C und D könne nicht abgestellt werden. Diese seien "lediglich formal als solche bestellt" und nur wegen des Alters von A und B zu Geschäftsführern berufen worden. Tatsächlich nähmen die Kinder C und D --aus unterschiedlichen Gründen-- keine Geschäftsführertätigkeit wahr.Die Klägerin beantragt,das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 21. Dezember 2004 sowie der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2005 unbefristet zu verpflichten, ihrem Antrag, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen in Papierform abgeben zu dürfen, zu entsprechen.Das FA beantragt,die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Es ist der Auffassung, § 18 Abs. 1 UStG und § 150 Abs. 8 AO verstießen nicht gegen das Grundgesetz.Ein Anspruch nach § 150 Abs. 8 AO auf Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen in Papierform scheide aus. Der finanzielle Aufwand für den Erwerb eines Computers sei für die Klägerin unerheblich. Darüber hinaus könne die Klägerin auf die Nutzung des Internets durch den Unternehmensverbund der X-KG zurückgreifen. Die X-KG, an deren Vermögen A zu 50 % beteiligt sei, unterhalte eine hauseigene EDV-Anlage, in der sowohl die angefallenen Geschäftsvorfälle als auch die Lohn- und Gehaltsbuchführung erfasst würden. Mehrere Gesellschaften des von der X-KG beherrschten Unternehmensverbunds hätten eine Internetpräsenz in Form einer Homepage.Alter und Hinweis auf mangelnde Computererfahrung einzelner von mehreren Geschäftsführern der Komplementärin der Klägerin führten ebenfalls nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null. Vielmehr seien dies lediglich Aspekte, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen seien, wobei auch in Betracht gezogen werden könne, dass gemäß § 34 Abs. 1 AO grundsätzlich jeder Geschäftsführer einer GmbH deren steuerrechtliche Pflichten zu erfüllen habe. Gründe   II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 und 4 FGO). Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Klägerin vom FA neu zu bescheiden ist.1. Das FG hat den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch zu Recht unter Zugrundelegung der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (ab dem 1. Januar 2009) geltenden Regelungen des § 18 Abs. 1 UStG und des § 150 Abs. 8 AO beurteilt.a) Die Verpflichtung, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen elektronisch zu übermitteln, war zum 1. Januar 2005 durch § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. eingeführt worden. Nach dieser Vorschrift hatte der Unternehmer bis zum 10. Tag nach Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums eine Umsatzsteuer-Voranmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck auf elektronischem Weg nach Maßgabe der Steuerdaten-Übermittlungsverordnung (StDÜV) zu übermitteln ...; auf Antrag konnte das Finanzamt zur Vermeidung von unbilligen Härten auf eine elektronische Übermittlung verzichten.b) § 18 Abs. 1 UStG wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2009 durch das Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Steuerverfahrens (Steuerbürokratieabbaugesetz) vom 20. Dezember 2008 (BGBl I 2008, 2850) neu gefasst (Art. 8 Nr. 2 Buchst. a, Art. 17 des Steuerbürokratieabbaugesetzes). Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG hat der Unternehmer bis zum 10. Tag nach Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums eine Voranmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung (DFÜ) nach Maßgabe der StDÜV zu übermitteln ... Gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG kann das Finanzamt zur Vermeidung von unbilligen Härten auf Antrag auf eine elektronische Übermittlung verzichten; in diesem Fall hat der Unternehmer eine Voranmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck abzugeben.Hierzu bestimmt der zeitgleich eingeführte § 150 Abs. 8 AO (Art. 10 Nr. 4, Art. 17 des Steuerbürokratieabbaugesetzes): "Ordnen die Steuergesetze an, dass die Finanzbehörde auf Antrag zur Vermeidung unbilliger Härten auf eine Übermittlung der Steuererklärung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung verzichten kann, ist einem solchen Antrag zu entsprechen, wenn eine Erklärungsabgabe nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung für den Steuerpflichtigen wirtschaftlich oder persönlich unzumutbar ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Schaffung der technischen Möglichkeiten für eine Datenfernübertragung des amtlich vorgeschriebenen Datensatzes nur mit einem nicht unerheblichen finanziellen Aufwand möglich wäre oder wenn der Steuerpflichtige nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, die Möglichkeiten der Datenfernübertragung zu nutzen."c) Bei Verpflichtungsklagen auf Erlass eines gebundenen Verwaltungsakts kommt es grundsätzlich auf die im Zeitpunkt der Entscheidung in der Tatsacheninstanz bestehende Sach- und Rechtslage an (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. Juli 1992 VII R 28/91, BFH/NV 1993, 440, unter 2.b; vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184, unter II.2.b aa; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 24. Juni 2004  2 C 45/03, BVerwGE 121, 140, unter 1.a, m.w.N.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 101 FGO Rz 25 f., m.w.N.; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 101 FGO Rz 8; Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., § 113 Rz 102).Dies gilt auch bei Ermessensentscheidungen, wenn --wie hier-- eine Ermessensreduzierung auf Null geltend gemacht wird (vgl. BVerwG-Urteil vom 21. Januar 1992  1 C 49/88, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1992, 1211; Wernsmann in HHSp, § 5 AO Rz 235 ff., 242; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 101 FGO Rz 8, m.w.N.; Wagner, EFG 2010, 280, 281; Wolff in Sodan/ Ziekow, a.a.O., § 113 Rz 113). Eine solche Verpflichtung kann nur ausgesprochen werden, wenn zu dem Zeitpunkt, in dem die gerichtliche Entscheidung ergeht, ein Anspruch auf die erstrebte Verpflichtung des FA besteht (vgl. Lange in HHSp, § 101 FGO Rz 25, m.w.N.; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 5 AO Rz 77, m.w.N.; Wagner, EFG 2010, 280, 281).2. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist die Regelung in § 18 Abs. 1 UStG i.V.m. § 150 Abs. 8 AO verfassungsgemäß (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom 17. März 2009  5 K 303/08, EFG 2009, 1069, rkr.; FG Hamburg, Urteil vom 9. November 2009  2 K 65/08, nicht veröffentlicht --n.v.--, rkr.; Drüen/ Hechtner, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2006, 821, 822; Heß in Weimann/Lang, § 18 UStG Ziff. 2.1.1; Maunz in Hartmann/ Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, § 18 Rz 50; Wagner, EFG 2010, 280, 282; wohl auch Kraeusel in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG § 18 Rz 224; Treiber in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 18 Rz 11; Leonard in Bunjes, UStG, 10. Aufl., § 18 Rz 4; Schmid in Offerhaus/Söhn/Lange, § 18 UStG Rz 24). Die Regelung liegt innerhalb des verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers und wahrt insbesondere die Verhältnismäßigkeit.a) Die Pflicht zur elektronischen Übermittlung der Umsatzsteuer-Voranmeldung nach § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG dient verfassungsrechtlich legitimen Zielen.aa) Die online übermittelte elektronische Steuererklärung bietet der Finanzverwaltung den großen Vorteil, die vom Steuerpflichtigen bzw. von dessen Berater bereits erfassten elektronischen Daten unmittelbar weiterverarbeiten zu können. Neben der Verwaltungsvereinfachung und der administrativen Kostenersparnis verbessert die elektronische Übermittlung offenkundig die Überprüfungsmöglichkeiten von Umsatzsteuer-Voranmeldungen durch die Finanzverwaltung und beschleunigt die Auswertung (vgl. Drüen/Hechtner, DStR 2006, 821, 822; Seer in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 150 AO Rz 36 i.V.m. § 85 AO Rz 33 ff.).bb) Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich sowohl bei der Sicherstellung der von Art. 3 Abs. 1 GG verlangten Gleichmäßigkeit der Besteuerung und des Steuervollzugs (vgl. Urteile des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654; vom 9. März 2004  2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, 115, BStBl II 2005, 56) und auch bei der Gewährleistung einer effektiven, möglichst wirtschaftlichen und einfachen Verwaltung (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) um gewichtige öffentliche Belange handelt (vgl. BFH-Urteile vom 16. November 2011 X R 18/09, BStBl II 2012, 129, unter B.II.1.c cc (3) - Rz 67 -; vom 18. Januar 2012 II R 49/10, BFHE 235, 151, unter II.C.3.c aa - Rz 47 - und II.C.3.c bb ggg - Rz 96 -).Die Automatisierung und maschinelle Bearbeitungsfähigkeit der Steueranmeldungen sind in besonderem Maße geeignet, die Verwirklichung der genannten Belange zu fördern.(1) Hängt die Festsetzung einer Steuer --wie vorliegend-- von der Erklärung des Steuerschuldners ab, werden erhöhte Anforderungen an die Steuerehrlichkeit des Steuerpflichtigen gestellt. Der Gesetzgeber muss die Steuerehrlichkeit deshalb durch hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Im Veranlagungsverfahren bedarf das Deklarationsprinzip der Ergänzung durch das Verifikationsprinzip (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654, unter C.I.2.; in BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, unter C.II.1.).(2) Dabei kommt insbesondere im Bereich der Umsatzsteuer der Bekämpfung des Steuerbetrugs besondere Bedeutung zu (vgl. z.B. Drüen/Hechtner, DStR 2006, 821, 822; Mattes, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2006, 689; Ammann, UR 2009, 372; Kemper, UR 2009, 751; Pahne, UR 2011, 247). So wird beispielsweise in dem Bericht des Bundesrechnungshofs vom 3. September 2003 über Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermeidung davon ausgegangen, dass dem Fiskus zum damaligen Zeitpunkt durch nationale und internationale Betrugsdelikte im Bereich der Umsatzsteuer jährlich zweistellige Milliardenbeträge entgehen (BTDrucks 15/1495, 3). Ebenso ergibt sich aus dem Gemeinsamen Bericht des Bundesrechnungshofs und der Rechnungshöfe von Belgien und den Niederlanden zum innergemeinschaftlichen Umsatzsteuerbetrug vom 12. März 2009 die Notwendigkeit eines schnelleren Datenaustauschs der Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten (www.bundesrechnungshof.de/veroeffentlichungen/sonderberichte).cc) Auch das Unionsrecht sieht die Befugnis der Mitgliedstaaten vor, die Übermittlung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen auf elektronischem Weg vorzuschreiben (vgl. Art. 22 Abs. 4 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern; Art. 250 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem --Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 347, 1--).b) § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil in BStBl II 2012, 129, unter B.II.1.c cc - Rz 62 ff.-).aa) Der Gesetzgeber hat die Frage der Zumutbarkeit gesehen und ihr durch die sog. Härtefallregelung in § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG Rechnung getragen.bb) Zudem haben die Finanzbehörden in den Fällen des § 150 Abs. 8 AO abweichend von § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG keinen Ermessensspielraum. Denn ausweislich der Gesetzesmaterialien wurde durch § 150 Abs. 8 AO "in Ergänzung der einzelgesetzlichen Regelungen" (vgl. BTDrucks 16/10940, 10) der nach den Einzelsteuergesetzen bestehende Ermessensspielraum bei der Entscheidung über einen Härtefallantrag in den in § 150 Abs. 8 AO aufgeführten Fällen (wirtschaftliche oder persönliche Unzumutbarkeit) --zu Gunsten der Steuerpflichtigen-- beseitigt und ein Anspruch auf Befreiung begründet (vgl. BTDrucks 16/10910, 1; BTDrucks 16/10940, 10; Heuermann in HHSp, § 150 Rz 53). § 150 Abs. 8 AO konkretisiert bestimmte Härtefälle und verdichtet in Fällen der wirtschaftlichen oder persönlichen Unzumutbarkeit den nach den Einzelsteuergesetzen bestehenden Anspruch des Steuerpflichtigen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Befreiungsantrag zu einem Anspruch auf Befreiung.(1) § 150 Abs. 8 AO, der in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Steuerbürokratieabbaugesetz vom 2. September 2008 (BTDrucks 16/10188) noch nicht enthalten war, ist aufgrund der Beschlussempfehlung des federführenden Finanzausschusses des Deutschen Bundestags vom 12. November 2008 in den Gesetzentwurf aufgenommen worden (BTDrucks 16/10910).Der Finanzausschuss empfahl darin "insbesondere, den Gesetzentwurf dahingehend zu ändern, dass in bestimmten Härtefällen ein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zur Übermittlung von Daten an die Finanzverwaltung in Papierform besteht" (vgl. BTDrucks 16/10910, 1).(2) Im Bericht des Finanzausschusses vom 13. November 2008 wird das Anliegen des Antrags allgemein vorgestellt (BTDrucks 16/10940, 3):Danach ermögliche es § 150 Abs. 8 AO "denjenigen, die nicht über die technischen Voraussetzungen verfügen, weiterhin Daten auf Papierbasis zu übermitteln." Die Regelung sei so weit gefasst, dass eine ungerechtfertigte Versagung einer Ausnahmegenehmigung ausgeschlossen sei. Gegen die Möglichkeit der tatsächlichen Freiwilligkeit der elektronischen Datenübermittlung habe man sich entschieden, da man zu der Auffassung gekommen sei, dass die Nutzung der von der Steuerbehörde aufgebauten Infrastruktur im wirtschaftlich notwendigen Ausmaß nur durch die verpflichtende Einführung der elektronischen Datenübermittlung sichergestellt sei. Um dennoch jede Form von Unbilligkeit zu vermeiden, habe man sich auf eine großzügige Ausnahmeregelung ohne Notwendigkeit eines förmlichen Antrags geeinigt. Auch Schwierigkeiten mit der Kapazität der Datenleitungen insbesondere im ländlichen Raum führten zur Erzielung einer Ausnahmegenehmigung.(3) Weiter wird § 150 Abs. 8 AO wie folgt im Einzelnen dargestellt (BTDrucks 16/10940, 10):"Die Finanzbehörden können nach den einschlägigen Regelungen der Steuergesetze (z.B. § 25 Abs. 4 Satz 2 EStG, § 31 Abs. 1a Satz 2 KStG, § 14a Satz 2 GewStG oder § 181 Abs. 2a AO) zur Vermeidung unbilliger Härten auf Antrag auf eine Übermittlung der Steuererklärung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung verzichten. § 150 Abs. 8 AO bestimmt in Ergänzung der einzelgesetzlichen Regelungen, dass dem Antrag zu entsprechen ist, wenn die Härte darin besteht, dass dem Steuerpflichtigen die Erklärungsabgabe nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung wirtschaftlich oder persönlich nicht zuzumuten ist. In diesen Fällen haben die Finanzbehörden abweichend von den einzelgesetzlichen Regelungen keinen Ermessensspielraum.Einem Steuerpflichtigen ist die Erklärungsabgabe nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch Datenfernübertragung insbesondere nicht zuzumuten, wenn er nicht über die erforderliche technische Ausstattung verfügt und es für ihn nur mit nicht unerheblichem finanziellen Aufwand möglich wäre, die für eine elektronische Übermittlung der Steuererklärungen nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz mittels Datenfernübertragung erforderlichen technischen Möglichkeiten zu schaffen. Eine unbillige Härte ist darüber hinaus anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, die Möglichkeiten einer Datenfernübertragung zu nutzen. In der Praxis dürften diese Voraussetzungen insbesondere bei Kleinstbetrieben gegeben sein."c) Die in § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG enthaltene Anordnung begegnet unter Berücksichtigung der Regelungen in § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG und in § 150 Abs. 8 AO keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.aa) Der Einwand der Klägerin, die Vorschrift des § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG verpflichte den Unternehmer, Umsatzsteuer-Voranmeldungen "nur" noch auf elektronischem Weg zu übermitteln, greift zu kurz.Denn die Vorschriften des § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG und des § 150 Abs. 8 AO bieten bei sachgerechter, die Vorstellungen des Gesetzgebers berücksichtigender Anwendung hinreichend Gewähr, dass etwaige Härten im Einzelfall vermieden werden.bb) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass nach § 18 Abs. 2 Satz 3 UStG das Finanzamt den Unternehmer von der Verpflichtung zur Abgabe der Voranmeldungen und Entrichtung der Vorauszahlungen befreien kann, wenn die Steuer für das vorangegangene Kalenderjahr nicht mehr als 1.000 EUR beträgt. Wird diese Befreiung erteilt (vgl. dazu Abschn. 18.2. Abs. 2 Satz 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses --UStAE--) entfällt somit auch die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung.Unabhängig von der Regelung des § 18 Abs. 2 Satz 3 UStG kann das Finanzamt den Unternehmer von der Abgabe von Voranmeldungen befreien, z.B. wenn und soweit in bestimmten Voranmeldungszeiträumen regelmäßig keine Umsatzsteuer entsteht (Abschn. 18.6. Abs. 1 Satz 1 UStAE).3. Im Ergebnis zu Recht hat das FG entschieden, dass sich ein Anspruch der Klägerin darauf, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen weiterhin auf amtlich vorgeschriebenem Vordruck (Papierform) abgeben zu dürfen, nicht aus § 150 Abs. 8 AO ergibt.Die dafür erforderliche Voraussetzung, dass der Klägerin die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch DFÜ wirtschaftlich oder persönlich unzumutbar ist (vgl. § 150 Abs. 8 Satz 1 AO), liegt nicht vor.a) Wirtschaftliche Unzumutbarkeit i.S. des § 150 Abs. 8 Satz 1 AO ist gegeben, wenn die Schaffung der technischen Möglichkeiten für eine DFÜ nur mit einem nicht unerheblichen finanziellen Aufwand möglich wäre (vgl. § 150 Abs. 8 Satz 2 Alternative 1 AO).Davon kann im Streitfall schon angesichts der von der Klägerin erwirtschafteten Gewinne (in den Jahren 2005 bis 2008 jeweils mehr als ... EUR) nicht ausgegangen werden. Sie trägt selbst vor, dass für den Zugang zum Internet in der heutigen Zeit nur ein unerheblicher finanzieller Aufwand erforderlich sei. Soweit sie darauf hinweist, bei der Frage des finanziellen Aufwands dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, dass für einen internetfähigen Computer GEZ-Gebühren erhoben würden, wäre dies im Streitfall jedenfalls angesichts der Höhe der Gewinne der Klägerin unbeachtlich.aa) Zwar wurde zu § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. die Ansicht vertreten, die Vorschrift umfasse nicht die Pflicht des Unternehmers, sich zur Erfüllung der Erklärungspflicht auf elektronischem Wege Hard- und Software (erst) anschaffen zu müssen (vgl. FG Hamburg, Beschluss vom 10. März 2005 II 51/05, EFG 2005, 992; Niedersächsisches FG, Urteil in EFG 2009, 1069, rkr.; Drüen/Hechtner, DStR 2006, 821, 824; Seer, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft 31 [2008], 7, 23; Maunz in Hartmann/Metzenmacher, § 18 UStG Rz 53).Diese Ansicht konnte sich auf die Gesetzesbegründung zu § 18 Abs. 1 UStG a.F. stützen, wonach dem Härtefallantrag insbesondere dann stattzugeben sei, wenn der Unternehmer nicht über die technischen Voraussetzungen verfüge, die für die Übermittlung nach der StDÜV eingehalten werden müssten (BTDrucks 15/1798, 13; BTDrucks 15/1945, 14).bb) § 150 Abs. 8 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Alternative 1 AO stellt jedoch für einen Anspruch auf Befreiung nicht auf das Vorhandensein technischer Ausstattung ab, sondern darauf, ob die "Schaffung" der technischen Möglichkeiten für eine DFÜ für den Unternehmer nur mit einem nicht unerheblichen finanziellen Aufwand möglich wäre.Damit hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass im Rahmen des § 150 Abs. 8 AO bei wirtschaftlicher Zumutbarkeit der Anschaffung allein das Fehlen der für eine elektronische Übermittlung der Voranmeldungen erforderlichen Technik keinen Anspruch i.S. des § 150 Abs. 8 Satz 1 AO auf Befreiung von der Abgabe von Voranmeldungen in elektronischer Form begründet (ebenso Wagner, EFG 2010, 280, 282; a.A. Klein/Rätke, AO, 10. Aufl., § 150 Rz 21; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 150 AO Rz 43, jedoch ohne auf den Wortlaut des § 150 Abs. 8 Satz 2 AO näher einzugehen).Dies bedeutet aber nicht, dass die Frage der vorhandenen technischen Ausstattung nicht im Rahmen der Ermessensausübung nach § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG zu berücksichtigen wäre (s. unter II.4.b dd).b) Der Klägerin ist die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen auf elektronischem Weg auch nicht i.S. des § 150 Abs. 8 Satz 1 AO aus persönlichen Gründen unzumutbar.aa) Persönliche Unzumutbarkeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn der Steuerpflichtige nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, die Möglichkeiten der DFÜ zu nutzen (vgl. § 150 Abs. 8 Satz 2 Alternative 2 AO).bb) Diese Voraussetzung ist zwar gegeben, wenn der Steuerpflichtige über keinerlei Medienkompetenz verfügt und z.B. aufgrund seines Alters auch keinen Zugang zur Computertechnik mehr finden kann (vgl. Heuermann in HHSp, § 150 FGO Rz 53; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 150 AO Rz 43; Klein/Rätke, a.a.O., § 150 Rz 21; Pahlke/Koenig/Cöster, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 150 Rz 40). Darauf beruft sich die Klägerin aber ohne Erfolg.(1) Die Klägerin ist eine KG (§ 161 des Handelsgesetzbuchs --HGB--). Sie wird durch die Komplementär-GmbH und diese durch ihre vier Geschäftsführer A, B, C und D vertreten. Zu Recht weist das FG darauf hin, dass Alter und mangelnde Computererfahrung lediglich einzelner von mehreren Geschäftsführern grundsätzlich nicht geeignet sind, einen Anspruch auf Befreiung i.S. des § 150 Abs. 8 Satz 1 AO zu begründen.Denn bei einer KG haben die geschäftsführenden persönlich haftenden Gesellschafter (§§ 161, 114, 125, 164, 170 HGB) die Pflichten zu erfüllen, welche dieser Gesellschaft wegen der Besteuerung auferlegt sind (§ 34 Abs. 1 AO). Ist persönlich haftender Gesellschafter eine GmbH, haben deren Geschäftsführer (§ 35 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung --GmbHG--) die steuerlichen Pflichten dieser Gesellschaft (§ 34 Abs. 1 AO) und mit diesen die steuerlichen Pflichten der KG zu erfüllen. Zu diesen Pflichten gehört es auch, Steuererklärungen abzugeben (vgl. Boeker in HHSp, § 34 AO Rz 45; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 34 AO Rz 19).(2) Sind --wie hier-- mehrere gesetzliche Vertreter einer GmbH bestellt, so trifft jeden von ihnen gemäß § 34 Abs. 1 AO, § 35 GmbHG die Pflicht zur Geschäftsführung im Ganzen, d.h. grundsätzlich jeder von ihnen hat auch alle steuerlichen Pflichten zu erfüllen, die der GmbH auferlegt sind (vgl. BFH-Urteile vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776; vom 23. Juni 1998 VII R 4/98, BFHE 186, 132, BStBl II 1998, 761).Als Geschäftsführer der GmbH trifft deshalb auch C und D die Verpflichtung, bis zum 10. Tag nach Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums eine Voranmeldung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch DFÜ nach Maßgabe der StDÜV zu übermitteln (§ 34 Abs. 1 AO, § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG). Unerheblich sind die Einwände der Klägerin, C und D seien lediglich formal bestellt (vgl. Boeker in HHSp, § 34 AO Rz 54, m.w.N.) und private Gründe hinderten C und D an der Ausübung der Geschäftsführertätigkeit. Anhaltspunkte dafür, dass sie nicht über die für eine DFÜ notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, sind weder vorgetragen noch anderweitig zu erkennen.c) Sonstige Gründe, aus denen sich im Streitfall aus § 150 Abs. 8 Satz 1 AO außerhalb der in § 150 Abs. 8 Satz 2 AO formulierten Regelbeispiele ("insbesondere") ein Anspruch der Klägerin auf Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen auf amtlich vorgeschriebenem Vordruck ergeben könnte, sind durch das FG nicht festgestellt worden und auch nicht ersichtlich.Sie können insbesondere nicht aus allgemeinen Bedenken gegen die Sicherheit der von § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG vorgeschriebenen elektronischen Übermittlung von Voranmeldungen nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz durch eine Datenübertragung nach Maßgabe der --aufgrund der Ermächtigung in § 150 Abs. 6 AO erlassenen-- StDÜV i.d.F. der Änderungsverordnung vom 20. Dezember 2006, BGBl I 2006, 3380 (abgedruckt u.a. bei Heuermann in HHSp, § 150 AO Rz 51) hergeleitet werden (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil in EFG 2009, 1069, rkr.; FG Hamburg, Urteil vom 9. November 2009  2 K 65/08, n.v., rkr.; Drüen/Hechtner, DStR 2006, 821, 827 f.; Wagner, EFG 2010, 280, 282; Maunz in Hartmann/Metzenmacher, § 18 UStG Rz 50; Heß in Weimann/Lang, § 18 UStG Ziff. 2.1.1; wohl auch Treiber in Sölch/Ringleb, a.a.O., § 18 Rz 12a; Leonard in Bunjes, a.a.O., § 18 Rz 4; a.A. Stadie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 18 Rz 51 a.E.).Hierzu hat das FG zu Recht im Einzelnen --und insoweit von der Revision nicht angegriffen-- dargelegt, dass die Übermittlung der Daten im --auf der Basis der StDÜV von der Finanzverwaltung zur Verfügung gestellten-- ELSTER-Verfahren (vgl. dazu Drüen/Hechtner, DStR 2006, 821, 824 ff.; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 150 AO Rz 35 ff.) nicht manipulationsanfälliger als die papiergebundene Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen ist.Ein etwaiges trotz Anwendung der zur Verfügung stehenden technischen Sicherungsmöglichkeiten verbleibendes Risiko eines "Hacker-Angriffs" auf die gespeicherten oder übermittelten Daten ist im überwiegenden Interesse des Gemeinwohls hinzunehmen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 235, 151, unter II.C.4.c - Rz 102 -).4. Im Ergebnis zu Recht hat das FG das FA zur Neubescheidung der Klägerin verpflichtet (§ 101 Satz 2 FGO).a) Da nach den tatsächlichen Feststellungen des FG die Voraussetzungen des § 150 Abs. 8 AO für einen Anspruch der Klägerin, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen weiterhin in Papierform abgeben zu dürfen, nicht gegeben sind, verbleibt es bei ihrem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihren Antrag gemäß § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG, auf die elektronische Übermittlung zur Vermeidung unbilliger Härten zu verzichten (vgl. Heuermann in HHSp, § 150 AO Rz 53 f.; Schmid in Offerhaus/ Söhn/Lange, § 18 UStG Rz 24). Davon ist das FG zutreffend ausgegangen.b) Dem ist das FA bislang --wie das FG im Ergebnis zu Recht entschieden hat-- nicht nachgekommen, weil es von dem durch § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG eingeräumten Ermessen nicht --wie nach § 102 Satz 1 FGO erforderlich-- in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.aa) Im Rahmen des § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG sind einerseits die vom Unternehmer für das Vorliegen eines Härtefalls vorgetragenen Gründe in die pflichtgemäße Ermessensausübung und Einzelfallabwägung umfassend einzubeziehen. Andererseits sind diesen Erwägungen die dargelegten Interessen des Fiskus an einer elektronischen Übermittlung der Umsatzsteuer-Voranmeldungen gegenüberzustellen.bb) Das FA hat in seiner Einspruchsentscheidung vom 18. März 2005 im Kern dargelegt, dass ein Härtefall i.S. des § 18 Abs. 1 UStG dann vorliegen könne, wenn ein Unternehmer finanziell nicht zu den für eine elektronische Übermittlung erforderlichen Investitionen in der Lage sei oder kurzfristig eine Einstellung seiner betrieblichen Tätigkeit oder eine Umstellung der Soft- bzw. Hardware beabsichtige. Es hat das Vorliegen dieser Tatbestände verneint und dabei die Zugehörigkeit der Klägerin zu einem "Konzern" berücksichtigt.cc) Dies ist bereits deshalb unzureichend, weil das FA die von der Klägerin mit ihrem Antrag vom 12. Dezember 2004 und mit ihrem Einspruch vom 25. Dezember 2004 vorgetragenen Gründe für eine Befreiung nicht --bzw. nicht vollständig-- gewürdigt hat.Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt aber voraus, dass die Behörde ihre Entscheidung anhand eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts trifft und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil vom 22. Mai 2001 VII R 79/00, BFH/NV 2001, 1369, unter II.1.; BFH-Beschluss vom 25. August 2010 X B 149/09, BFH/NV 2011, 266, unter II.2.b, m.w.N.; Wernsmann in HHSp, § 5 AO Rz 122; Kruse in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 102 FGO Rz 1a, m.w.N.; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 87, 97 ff., m.w.N.).dd) Bei der nach § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG zu treffenden Ermessensentscheidung muss das Finanzamt insbesondere den Einwand eines Unternehmers berücksichtigen, er verfüge nicht über die für eine elektronische Übermittlung der Umsatzsteuer-Voranmeldungen erforderliche Hard- und Software (vgl. Heuermann in HHSp, § 150 AO Rz 54; Leonard in Bunjes, a.a.O., § 18 Rz 4). Das ergibt sich aus der (unter II.1.a und b) dargelegten Entstehungsgeschichte des § 18 Abs. 1 Satz 2 UStG und insbesondere aus den (unter II.2.b bb) wiedergegebenen Vorstellungen des Gesetzgebers.Soweit das FA in seiner Einspruchsentscheidung die Klägerin hinsichtlich der für eine elektronische Übermittlung der Umsatzsteuer-Voranmeldungen erforderlichen technischen Ausstattung auf den Internetzugang anderer "Konzerngesellschaften" verwiesen hat, ist diese --vom FA vor dem FG und in der Revisionserwiderung vertiefte und vom FG grundsätzlich für zutreffend gehaltene-- Erwägung nicht statthaft. Denn bei der Klägerin und den vom FG angesprochenen "Konzerngesellschaften" handelt es sich um selbständige Rechtssubjekte. Folglich kann die technische Ausstattung anderer "Konzerngesellschaften" grundsätzlich nicht der Klägerin zugerechnet werden. Zudem hat das FA bei seiner Argumentation die sich aus dem Steuergeheimnis gemäß § 30 AO ergebenden Grenzen nicht beachtet.Ob im Fall einer Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) etwas anderes gilt, braucht im Streitfall nicht entschieden zu werden. Denn nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt liegen die Voraussetzungen einer Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG (s. dazu z.B. BFH-Urteile vom 1. Dezember 2010 XI R 43/08, BFHE 232, 550, BStBl II 2011, 600; vom 7. Juli 2011 V R 53/10, BFHE 234, 548, BFH/NV 2011, 2195) im Streitfall nicht vor. Davon geht offenbar auch das FA aus.c) Das FA hat den Antrag der Klägerin, ihre Umsatzsteuer-Voranmeldungen weiterhin in Papierform abgeben zu dürfen, bislang in der Einspruchsentscheidung vom 18. März 2005 erst auf der Grundlage der mittlerweile außer Kraft getretenen Regelung des § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. und des im Dezember 2004 von der Klägerin dargestellten --mittlerweile jedenfalls teilweise überholten-- Sachverhalts beurteilen können.Da die Sache mangels einer Ermessensreduzierung auf Null nicht i.S. von § 101 Satz 1 FGO spruchreif ist (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 101 FGO Rz 2; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 102 FGO Rz 10, m.w.N.; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 118) und der Senat nicht befugt ist, sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Finanzbehörde zu setzen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24. August 2011 I R 87/10, BFH/NV 2012, 161, unter II.3.; Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 102 FGO Rz 9, m.w.N.; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 114, m.w.N.) verbleibt es bei der vom FG bereits ausgesprochenen Verpflichtung des FA, die Klägerin --nunmehr unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats-- erneut zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO).
bundesfinanzhof
bfh_084-11
19. Oktober 2011
Verkauf von Popcorn und Nachos in Kinos unterliegt dem ermäßigten Umsatzsteuersatz 19. Oktober 2011 - Nummer 084/11 - Urteil vom 30.06.2011 V R 3/07 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 30. Juni 2011 V R 3/07 entschieden, dass der Verkauf von erwärmten Popcorn und Nachos in Kinos durch den Kinobetreiber dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 % unterliegt. Das FA hatte bei seiner gegenteiligen Entscheidung zu Unrecht berücksichtigt, dass im Kino-Foyer Verzehrtresen, Tische und Stühle vorhanden waren, die auch zum Verzehr der Speisen benutzt werden konnten, aber allen Kinobesuchern zur Verfügung standen.Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage, ob es sich bei der Abgabe von zubereiteten Speisen um eine Lieferung handelt oder ob damit verbundene Dienstleistungselemente - wie die Zubereitung der Speisen, die Überlassung von Besteck und das Bereithalten von Verzehrvorrichtungen (Verzehrtheken, Tische und Stühle) - den Umsatz insgesamt als Dienstleistung qualifizieren, war Gegenstand des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 10. März 2011 zum Umsatzsteuersatz bei der Abgabe von Speisen zum sofortigen Verzehr durch Imbissstände (Az. C-497/09 und C-501/09), durch einen Partyservice (Az. C-502/09) und zu dem diesem Urteil des BFH vom 30. Juni 2011 zugrunde liegenden Fall beim Verkauf von Popcorn und Nachos durch einen Kinobetreiber (Az. C-499/09). Die Abgrenzung von Dienstleistungen und Lieferungen ist dabei insofern entscheidend, als die Begünstigung von im Umsatzsteuergesetz (UStG) näher umschriebenen Lebensmittelzubereitungen durch Besteuerung mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG deren Lieferung voraussetzt und Dienstleistungen daher nicht begünstigt sind.Der EuGH hatte hierzu entschieden, dass die Zubereitung des warmen Endproduktes allein dem Umsatz nicht den Charakter einer Dienstleistung verleiht, wenn sie sich auf einfache, standardisierte Handlungen beschränkt, die nicht auf Bestellung eines bestimmten Kunden, sondern entsprechend der allgemein vorhersehbaren Nachfrage vorgenommen werden. Treten - wie in der Regel bei Imbissständen und in Kinos – in diesen Fällen keine für Restaurationsumsätze charakteristischen Dienstleistungsbestandteile hinzu (wie z.B. Kellnerservice, Beratung oder die Bereitstellung von Mobiliar, wenn dieses nur der Einnahme der Speisen dient), handelt es sich um eine Lieferung, die bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen dem ermäßigten Steuersatz unterliegt. Handelt es sich demgegenüber nicht um Standardspeisen, sondern erfordert deren Zubereitung mehr Arbeit, Sachverstand und Kreativität, werden dem Kunden Menuefolgen angeboten oder erfolgt die Abgabe zu einem festgelegten Zeitpunkt, wie dies regelmäßig bei einem Partyservice der Fall ist, ist die Dienstleistung der dominierende Bestandteil des Umsatzes.Der BFH hat dem folgend im vorliegenden Urteil vom 30. Juni 2011 entschieden, dass die Umsätze dem ermäßigten Steuersatz unterliegen; es handele sich beim Verkauf von Popcorn und Nachos um die Abgabe von Standardspeisen. Im dem zu entscheidenden Fall hätten - entgegen der Auffassung des FA - keine prägenden Restaurationsleistungen zum Angebot gehört. Denn als Dienstleistungselement darf bereitgestelltes Mobiliar des Leistenden nicht berücksichtigt werden, wenn es - wie im entschiedenen Fall die Tische und Stühle im Kino-Foyer - nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, den Verzehr von Lebensmitteln zu erleichtern. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: V R 3/07
1. Die Umsätze aus dem Verkauf von Nachos und Popcorn an Verkaufstheken im Eingangsbereich zu Kinosälen unterliegen als Lieferungen dem ermäßigten Steuersatz.2. Als Dienstleistungselement ist bereitgestelltes Mobiliar des Leistenden nicht zu berücksichtigen, wenn es nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, den Verzehr von Lebensmitteln zu erleichtern (Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 10. März 2011 C-497/09, C-499/09, C-501/09, C-502/09, Bog u.a. in UR 2011, 272). Tatbestand I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt an mehreren Standorten in Deutschland Kinos.Neben diversen Süßwaren und Getränken können Kinobesucher in den Foyers auch Popcorn und Tortilla-Chips (Nachos) in verschiedenen Größen erwerben. An den Verkaufsständen selbst sind keine Verzehrtheken angebracht. In den Foyers der Kinos befinden sich jedoch in unterschiedlicher Anzahl jeweils Stehtische, Barhocker, zum Teil Sitzbänke, Stühle, Sitztische und teilweise sog. Stehboards bzw. Wandtresen. Es sind jedoch nicht in allen Kinos sämtliche der genannten Einrichtungsgegenstände vorhanden. In einzelnen Kinosälen sind Getränkehalter an den Kinosesseln angebracht. Sonstige Ablageflächen sind in den Kinosälen nicht vorhanden.Das Popcorn wird in einer Popcornmaschine hergestellt und in einem Tresenwärmer warmgehalten, der bei Bedarf wieder nachgefüllt wird. Die Nachos bezieht die Klägerin in kleineren Packungen von anderen Unternehmern, erwärmt sie im Tresenwärmer und bietet als Ergänzung hierzu Saucen in kleinen Portionen an, die sie in größeren Mengen von anderen Unternehmern bezieht und zum Teil erwärmt.In der Umsatzsteuervoranmeldung für Juni 2005 erklärte die Klägerin die Umsätze aus dem Verkauf des Popcorns und der Nachos mit dem ermäßigten Steuersatz. Abweichend davon setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) im Vorauszahlungsbescheid für den Monat Juni 2005 vom 5. September 2005 die Umsatzsteuer mit dem Regelsteuersatz fest.Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Zur Begründung seines in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 2007, 1044 veröffentlichten Urteils führte das Finanzgericht (FG) im Wesentlichen aus, das FA habe zu Recht die streitigen Umsätze als sonstige Leistung erfasst und mit dem Regelsteuersatz besteuert. Zwar würden die Waren von der laufenden Nr. 31 der Anlage 2 erfasst, da sie dem Kapitel 19 des Zolltarifs (ZT) zuzuordnen seien. Es lägen aber nicht, wie nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes 2005 (UStG) i.V.m. der Anlage 2 erforderlich, Lieferungen, sondern sonstige Leistungen i.S. von § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG vor, weil die Klägerin keine "Nahrungsmittel zum Mitnehmen", sondern Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben habe.Mit der Revision macht die Klägerin Verletzung materiellen Rechts geltend. Bei Berücksichtigung der Grundsätze des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Abgrenzung von Lieferungen und Dienstleistungen liege eine Dienstleistung nur vor, wenn im Zusammenhang mit der Abgabe von Speisen ein Dienstleistungsanteil mit überwiegender Bedeutung erbracht werde. Auf das Warmhalten des Popcorns und der Nachos komme es nicht an, weil es sich dabei lediglich um eine lebensmittelgerechte Lagerung bzw. die Gewährleistung einer für den Verkauf optimalen Temperatur gehandelt habe. Auch die Reinigung der Kinosäle dürfe nicht zu ihren Lasten berücksichtigt werden. Die Stehtische, Barhocker usw. seien nicht zum Verzehr des Popcorns und der Nachos bestimmt gewesen, weil die Kinobesucher diese Lebensmittel ganz überwiegend nicht im Foyer, sondern im Kinosaal verzehrt hätten. Dienstleistungen im Darreichungsbereich, wie Bedienung am Platz, erbringe sie nicht.Die Klägerin beantragt,das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung vom 9. Januar 2006 aufzuheben und die im Umsatzsteuerbescheid für 2005 vom 19. April 2007 festgesetzte Umsatzsteuer um 142.912,16 EUR auf ./. 404.318,55 EUR herabzusetzen.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen.Der Senat hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:"1. Handelt es sich um eine Lieferung i.S. von Art. 5 der Richtlinie 77/388/EWG, wenn zum sofortigen Verzehr zubereitete Speisen oder Mahlzeiten abgegeben werden?2. Kommt es für die Beantwortung der Frage 1 darauf an, ob zusätzliche Dienstleistungselemente erbracht werden (Nutzungsüberlassung von Tischen, Stühlen, sonstigen Verzehrvorrichtungen, Präsentation eines Kinoerlebnisses)?3. Falls die Frage zu 1 bejaht wird: Ist der Begriff 'Nahrungsmittel' im Anhang H Kategorie 1 der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, dass darunter nur Nahrungsmittel 'zum Mitnehmen' fallen, wie sie typischerweise im Lebensmittelhandel verkauft werden, oder fallen darunter auch Speisen oder Mahlzeiten, die --durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise-- zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind?"Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10. März 2011 C-497/09, C-499/09, C-501/09, C-502/09, Bog u.a. (Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2011, 272) die Fragen wie folgt beantwortet:"1. Die Art. 5 und 6 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 92/111/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass- die Abgabe frisch zubereiteter Speisen oder Nahrungsmittel zum sofortigen Verzehr an Imbissständen oder -wagen oder in Kino-Foyers eine Lieferung von Gegenständen im Sinne des genannten Art. 5 ist, wenn eine qualitative Prüfung des gesamten Umsatzes ergibt, dass die Dienstleistungselemente, die der Lieferung der Nahrungsmittel voraus- und mit ihr einhergehen, nicht überwiegen;...2. Bei Lieferung von Gegenständen ist der Begriff 'Nahrungsmittel' in Anhang H Kategorie 1 der durch die Richtlinie 92/111 geänderten Sechsten Richtlinie 77/388 dahin auszulegen, dass er auch Speisen oder Mahlzeiten umfasst, die durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind."Das FA vertritt hierzu die Auffassung, der EuGH gehe zu Unrecht davon aus, dass --ebenso wie in den Verfahren C-497/09 und C-501/09-- auch im vorliegenden Verfahren nur behelfsmäßige Verzehrvorrichtungen vorgehalten würden. Es handele sich vielmehr um in ausreichender Anzahl vorhandene Tische, Stühle, Barhocker, Sessel und Bänke, die in der Regel allen Kinobesuchern den Verzehr von Popcorn und Nachos erlaubten. Das Urteil des EuGH führe außerdem zu unbefriedigenden Ergebnissen, wenn darin auf eine standardisierte Zubereitung abgestellt werde. Auch in sog. Fast-Food-Restaurants würden standardisiert zubereitete Speisen verkauft, ohne dass hierbei von steuerbegünstigten Lieferungen auszugehen sei. Das Ergebnis des EuGH, dass das Bereitstellen einer organisatorischen Gesamtheit bestehend aus klimatisierten Räumen, einer ausreichenden Anzahl von für den Verzehr geeigneten Sitzgelegenheiten sowie von Toiletten als in einem Fall wie dem vorliegenden als untergeordnete Nebenleistung anzusehen sei, müsse in Zweifel gezogen werden.Während des Revisionsverfahrens hat das FA am 19. April 2007 den Umsatzsteuerjahresbescheid für 2005 erlassen. Gründe   II. Die Revision der Klägerin ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur antragsgemäßen Änderung des Umsatzsteuerbescheides 2005 (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Auffassung des FG handelt es sich bei den streitigen Umsätzen um Lieferungen, die nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 dem ermäßigten Steuersatz unterliegen.1. Das Urteil des FG ist nicht deshalb gemäß § 127 FGO aufzuheben und an das FG zurückzuverweisen, weil das FA nach Ergehen des finanzgerichtlichen Urteils einen Umsatzsteuerjahresbescheid für 2005 erlassen hat.Wird der angefochtene Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung geändert oder ersetzt, so wird nach § 68 Satz 1 FGO der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Nach ständiger Rechtsprechung verlieren Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide durch den Umsatzsteuerjahresbescheid ihre Wirksamkeit, wobei der Jahresbescheid die Vorauszahlungsbescheide in seinen Regelungsgehalt aufnimmt (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. Mai 2005 V R 31/03, BFHE 210, 167, BStBl II 2005, 671; BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2009 V B 23/08, BFH/NV 2010, 1866, m.w.N.). Wird daher während des Verfahrens der angefochtene Vorauszahlungsbescheid ersetzt, wird dieser in entsprechender Anwendung des § 68 FGO Gegenstand des Verfahrens, mit der Folge, dass dem FG-Urteil ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt und deshalb das Urteil keinen Bestand mehr haben kann (z.B. BFH-Urteil vom 12. Februar 2009 V R 61/06, BFHE 224, 467, BStBl II 2009, 828).Einer Zurückverweisung an das FG nach § 127 FGO bedarf es nicht, weil sich durch den Änderungsbescheid der bisherige Streitstoff nicht verändert hat. Der erkennende Senat entscheidet deshalb gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO in der Sache selbst.2. Die Leistungen der Klägerin unterliegen entgegen der Auffassung des FG dem ermäßigten Steuersatz.a) Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG ermäßigt sich die Steuer auf 7 v.H. für die Lieferung der in der Anlage 2 bezeichneten Gegenstände. Dazu gehören u.a. "Zubereitungen aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch; Backwaren" (Nr. 31) sowie "verschiedene Lebensmittelzubereitungen" (Nr. 33). Damit hat der nationale Gesetzgeber von dem ihm in Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3, Anhang H Nr. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) eingeräumten Ermessen hinsichtlich der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes Gebrauch gemacht. Nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG können die Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden. Diese ermäßigten Steuersätze "... sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar". In Anhang H Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG sind genannt:"Nahrungs- und Futtermittel (einschließlich Getränke, alkoholische Getränke jedoch ausgenommen), lebende Tiere, Saatgut, Pflanzen und üblicherweise für die Zubereitung von Nahrungs- und Futtermitteln verwendete Zutaten, üblicherweise als Zusatz oder Ersatz für Nahrungs- und Futtermittel verwendete Erzeugnisse."b) Lieferungen sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die der Unternehmer den Abnehmer befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Nicht begünstigt sind sonstige Leistungen. Eine sonstige Leistung ist nach § 3 Abs. 9 Satz 4 UStG die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle. Speisen und Getränke werden zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben, wenn sie nach den Umständen der Abgabe dazu bestimmt sind, an einem Ort verzehrt zu werden, der mit dem Abgabeort in einem räumlichen Zusammenhang steht, und besondere Vorrichtungen für den Verzehr an Ort und Stelle bereitgehalten werden (§ 3 Abs. 9 Satz 5 UStG).c) Die Abgabe von verzehrfertig erwärmtem Popcorn und zusammen mit Saucen abgegebenen erwärmten Nachos in einem Kino ist auch dann eine Lieferung, die gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Nr. 31 und 33 der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz unterliegt, wenn zusätzlich behelfsmäßige Verzehrvorrichtungen bereitgehalten werden.aa) Bei der Abgrenzung zwischen Lieferung und Dienstleistung ist auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Maßgebend ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, unter denen der Umsatz erfolgt. Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung ist "die qualitative und nicht nur quantitative Bedeutung der Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Gegenständen zu bestimmen" (EuGH-Urteil Bog u.a. in UR 2011, 272 Rdnr. 62; BFH-Urteile vom 18. Februar 2009 V R 90/07, BFHE 225, 210, BFH/NV 2009, 1551; vom 26. Oktober 2006 V R 59/04, BFHE 215, 360, BStBl II 2007, 487, m.w.N., und vom 10. August 2006 V R 55/04, BFHE 214, 474, BStBl II 2007, 480, m.w.N.).bb) Zu der Frage, ob die einheitliche Leistung beim Verkauf von Popcorn und Tortilla-Chips (Nachos) in einem Kino als Lieferung oder als Dienstleistung einzustufen ist, hat der EuGH in dem das vorliegende Verfahren (C-499/09) betreffenden Urteil Bog u.a. in UR 2011, 272 ausgeführt:"...72   Wie aus der Sachverhaltsschilderung des vorlegenden Gerichts hervorgeht, sind die Zubereitung von Popcorn, die mit dessen Herstellung zusammenfällt, sowie die Abgabe von Popcorn und "Tortilla"-Chips in Verpackungen Bestandteil des Verkaufs dieser Waren und stellen somit keine vom Verkauf unabhängigen Umsätze dar. Zudem erfolgen sowohl die Zubereitung der Nahrungsmittel als auch ihre Warmhaltung gleichmäßig und nicht auf Bestellung eines bestimmten Kunden.73   Überdies wird das Mobiliar (Stehtische, Hocker, Stühle und Bänke), das es außerdem nicht in allen Kinos gibt, in der Regel unabhängig vom Verkauf von Popcorn und "Tortilla"-Chips zur Verfügung gestellt, und die mit ihm ausgestatteten Bereiche dienen ebenso als Warteraum wie als Treffpunkt. Der Verzehr erfolgt in der Praxis zudem im Kinosaal. Dazu sind manche Kinosäle mit Getränkehaltern ausgestattet, die zugleich dazu dienen, die Säle sauber zu halten. Das bloße Vorhandensein dieses Mobiliars, das nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, den Verzehr solcher Lebensmittel möglicherweise zu erleichtern, kann nicht als Dienstleistungselement angesehen werden, das geeignet wäre, dem Umsatz insgesamt die Eigenschaft einer Dienstleistung zu verleihen.74   Folglich ist bei den Tätigkeiten wie den in den Ausgangsverfahren in den Rechtssachen C-497/09, C-499/09 und C-501/09 fraglichen das überwiegende Element der betreffenden Umsätze bei einer Gesamtbetrachtung die Lieferung von Speisen oder Mahlzeiten zum sofortigen Verzehr, wobei die diesen wesenseigene einfache, standardisierte Zubereitung und die Bereitstellung behelfsmäßiger Vorrichtungen, die einer beschränkten Zahl von Kunden den Verzehr an Ort und Stelle erlaubt, eine rein untergeordnete Nebenleistung ist. Ob die Kunden die genannten behelfsmäßigen Vorrichtungen benutzen, ist ohne Bedeutung, da der sofortige Verzehr an Ort und Stelle, der kein wesentliches Merkmal des betreffenden Umsatzes darstellt, nicht für dessen Natur bestimmend sein kann."cc) Der Anwendung dieser Grundsätze im Streitfall steht die Regelung in § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung hat das innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 19. November 2009 C-314/08, Filipiak, Slg. 2009, I-11049, BFH/NV 2010, 136 Rdnrn. 81, 82, m.w.N.; BFH-Urteile vom 17. Juli 2008 X R 62/04, BFHE 222, 428, BStBl II 2008, 976, unter II.2.a; vom 22. Juli 2008 VIII R 101/02, BFHE 222, 453, BStBl II 2010, 265, unter IV.1.). Für die Anwendung des § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG bedeutet dies, dass, soweit die Vorschrift nicht richtlinienkonform ist, die unionsrechtlichen Grundsätze zur Abgrenzung Lieferung und sonstige Leistung maßgebend sind (BFH-Urteil vom 18. Dezember 2008 V R 55/06, BFHE 223, 539, BFH/NV 2009, 673, unter II.4.a, m.w.N.) und dabei die vorstehende EuGH-Rechtsprechung zu beachten ist, dessen Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen grundsätzlich verbindlich ist. Dies übersieht das FA, wenn es eine andere Auslegung des Begriffs der Lieferung unter Berücksichtigung des § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG beansprucht.3. Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze handelt es sich bei der Abgabe von Popcorn und Nachos durch die Klägerin in ihren Kinos um Lieferungen, die dem ermäßigten Steuersatz unterliegen.a) Die mit dem Verkauf im Zusammenhang stehenden Dienstleistungselemente reichen nicht aus, den Umsatz insgesamt als Dienstleistung zu beurteilen. Die Zubereitung hat sich auf die gleichmäßige einfache Herstellung von Popcorn und dessen Warmhaltung sowie der von Nachos beschränkt, und war weiter nicht auf Bestellung eines bestimmten Kunden erfolgt; sie hatte somit standardisierten Charakter.b) Entgegen dem Urteil des FG kann die Bereitstellung von Mobiliar im Streitfall nicht als Dienstleistungselement berücksichtigt werden, weil es nicht ausschließlich dazu bestimmt war, den Verzehr von Lebensmitteln zu erleichtern, sondern die derart ausgestatteten Bereiche zugleich auch als Warteraum und Treffpunkt für Kinobesucher dienten. Dasselbe gilt für das Zurverfügungstellen von Toiletten, weil auch diese in erster Linie den Kinobesuchern, unabhängig vom Verzehr von Speisen, dienten. Soweit sich hinsichtlich der Bedeutung von Verzehrvorrichtungen aus den BFH-Urteilen in BFHE 215, 360, BStBl II 2007, 487 und vom 10. August 2006 V R 38/05 (BFHE 214, 480, BStBl II 2007, 482), auf die das FG seine Entscheidung gestützt hatte, etwas Anderes ergibt, hält der Senat hieran nicht fest.c) Die streitigen Umsätze der Klägerin unterliegen gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz, weil die von ihr gelieferten Lebensmittel in der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG bezeichnet sind (Zubereitungen aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch sowie Backwaren --Nr. 31--, Zubereitungen von Gemüse, Früchten usw. --Nr. 32-- oder verschiedene Lebensmittelzubereitungen --Nr. 33--). Aus der Antwort zu Leitsatz Nr. 2 des EuGH im Urteil Bog u.a in UR 2011, 272 ergibt sich, dass dies im Einklang mit Anhang H der Richtlinie 77/388/EWG steht, weil Anhang H auch Speisen oder Mahlzeiten umfasst, die durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind.
bundesfinanzhof
bfh_068-14
15. Oktober 2014
Kein Werbungskostenabzug für nachträgliche Schuldzinsen bei Kapitaleinkünften nach Systemwechsel zur Abgeltungsteuer 15. Oktober 2014 - Nummer 068/14 - Urteil vom 01.07.2014 VIII R 53/12 Nach Auffassung des VIII. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) können Schuldzinsen für die Anschaffung einer im Privatvermögen gehaltenen wesentlichen Beteiligung i.S. des § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG), die auf Zeiträume nach der Veräußerung der Beteiligung entfallen, ab dem Jahr 2009 nicht als nachträgliche Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen abgezogen werden.Der Kläger hatte eine größere GmbH-Beteiligung im September 2001 mit Verlust veräußert und in diesem Zusammenhang auf die Rückzahlung eines kreditfinanzierten Gesellschafterdarlehens verzichten müssen. Nachdem er für die Jahre 2005 bis 2008 die Finanzierungskosten (Schuldzinsen) als nachträgliche Werbungskosten bei Ermittlung seiner Einkünfte aus Kapitalvermögen abgezogen hatte, versagte das Finanzamt (FA) den Werbungskostenabzug für das Jahr 2009.Der BFH hat die Rechtsauffassung des FA bestätigt. Mit Einführung der Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge hat der Gesetzgeber in § 20 Abs. 9 EStG ab dem Jahr 2009 den Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten ausgeschlossen. Das Gesetz gestattet nur noch den Abzug des Sparer-Pauschbetrags von 801 €. Verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet dies nach Auffassung des VIII. Senats des BFH nicht. Mit der Gewährung des Sparer-Pauschbetrags in Höhe von 801 € habe der Gesetzgeber eine verfassungsrechtlich grundsätzlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern niedriger Kapitaleinkünfte sowie mit der Senkung des Steuertarifs von bis zu 45 % auf nunmehr 25 % zugleich eine verfassungsrechtlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern höherer Kapitaleinkünfte vorgenommen. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VIII R 53/12
1. Schuldzinsen für die Anschaffung einer im Privatvermögen gehaltenen wesentlichen Beteiligung, die auf Zeiträume nach der Veräußerung der Beteiligung entfallen, können ab dem Veranlagungszeitraum 2009 nicht als nachträgliche Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen abgezogen werden. Der Werbungskostenabzug ist gemäß § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 ausgeschlossen.2. § 52a Abs. 10 Satz 10 EStG 2009 steht dem nicht entgegen. Tatbestand I. Die Beteiligten streiten um den Abzug von Schuldzinsen als nachträgliche Werbungskosten bei Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen.Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden im Streitjahr 2009 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger hielt ab 1999 am Stammkapital der T-GmbH (insgesamt 100.000 DM) einen Anteil von 15.000 DM. Im September 2001 veräußerten der Kläger und sein Mitgesellschafter ihre Geschäftsanteile zu einem Kaufpreis von je 1 DM. Zudem verzichtete der Kläger u.a. auf die Rückzahlung eines Gesellschafterdarlehens zum Nennwert von 200.000 DM, welches er bei einer Bank refinanziert hatte.Aufgrund des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 16. März 2010 VIII R 36/07 (BFH/NV 2010, 1795) erkannte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die auf die Finanzierung des Gesellschafterdarlehens entfallenden Schuldzinsen zwar für die Veranlagungszeiträume 2005 bis 2008 als nachträgliche Werbungskosten bei der Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen an. Für das Streitjahr 2009 versagte das FA indes den in Höhe von 1.248 EUR geltend gemachten Werbungskostenabzug bei den Einkünften aus Kapitalvermögen.Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 926 veröffentlichten Urteil vom 14. November 2012  2 K 3893/11 E statt. Zur Begründung verwies das FG darauf, § 20 Abs. 9 Satz 1  2. Halbsatz des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 (UntStRefG 2008) vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007, 630) --EStG--, wonach der Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ausgeschlossen sei, komme aufgrund der Regelung in § 52a Abs. 10 Satz 10 EStG 2009 nicht zur Anwendung. Danach sei § 20 Abs. 9 EStG erstmals auf nach dem 31. Dezember 2008 zufließende Kapitalerträge anzuwenden, d.h. entscheidend sei allein, in welchem Jahr Kapitaleinnahmen zufließen bzw. zufließen könnten; auf das Jahr des Abflusses von damit zusammenhängenden Aufwendungen komme es nicht an. Im Streitfall habe der Kläger seine Beteiligung bereits 2001 veräußert, die von ihm geltend gemachten Schuldzinsen ständen daher nicht im Zusammenhang mit Kapitalerträgen, die nach dem 31. Dezember 2008 zufließen.Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 20 Abs. 9 EStG und § 52a Abs. 10 Satz 10 EStG 2009.Das FA beantragt,das angefochtene Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Kläger beantragen,die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Gründe II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Auffassung des FG, die vom Kläger geltend gemachten Schuldzinsen seien im Streitjahr als nachträgliche Werbungskosten bei den Einkünften der Kläger aus Kapitalvermögen abzuziehen, hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.1. Allerdings hat der BFH seine bisherige Rechtsprechung zum Abzug von Schuldzinsen im Zusammenhang mit der Anschaffung einer im Privatvermögen gehaltenen Kapitalanlage --darunter fallen auch Beteiligungen i.S. des § 17 Abs. 1 EStG-- mit Urteilen vom 16. März 2010 VIII R 20/08 (BFHE 229, 151, BStBl II 2010, 787), in BFH/NV 2010, 1795 sowie vom 29. Oktober 2013 VIII R 13/11 (BFHE 243, 346, BStBl II 2014, 251) geändert. Schuldzinsen für die Anschaffung einer im Privatvermögen gehaltenen wesentlichen Beteiligung, die auf Zeiträume nach der Veräußerung der Beteiligung oder Auflösung der Gesellschaft entfallen, können danach wie nachträgliche Betriebsausgaben als Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG geltend gemacht werden. So lag die Situation im Streitfall. Der Kläger war ab 1999 mit 15 % an der T-GmbH beteiligt. Damit ist die für die Anwendung des § 17 EStG erforderliche Voraussetzung einer Mindestbeteiligung von 10 % erfüllt. Die nach Veräußerung der Beteiligung im Herbst 2001 in späteren Jahren anfallenden Schuldzinsen stehen nach wie vor in wirtschaftlichem Zusammenhang mit der Beteiligung und sind demgemäß vom FA zutreffend für die Jahre 2005 bis 2008 als nachträgliche Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen berücksichtigt worden.2. Gleichwohl können die Kläger im Streitjahr 2009 die ihnen tatsächlich entstandenen Schuldzinsen nicht mehr als Werbungskosten im Rahmen des § 20 EStG geltend machen. Denn mit der Einführung einer Abgeltungsteuer für private Kapitalerträge hat der Gesetzgeber ein umfassendes Abzugsverbot für Werbungskosten angeordnet: Nach § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG können Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen ab dem Veranlagungszeitraum 2009 grundsätzlich nicht mehr abgezogen werden. Abziehbar ist lediglich ein Sparer-Pauschbetrag in Höhe von 801 EUR, der bei Ehegatten, die zusammen veranlagt werden, auf 1.602 EUR verdoppelt wird (Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 33. Aufl., § 20 Rz 206; von Beckerath in Kirchhof, EStG, 13. Aufl., § 20 Rz 186; Hamacher/Dahm in Korn, § 20 EStG Rz 457 f.; Moritz/Strohm in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 20 n.F. Rz 43 f.).a) An der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung hat der Senat keine Zweifel. Zwar könnte das Abzugsverbot für Werbungskosten i.S. des § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG unter Umständen einen Verstoß gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beinhalten. Mit der Gewährung des Sparer-Pauschbetrags in Höhe von 801 EUR hat der Gesetzgeber jedoch eine verfassungsrechtlich grundsätzlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern niedriger Kapitaleinkünfte sowie mit der Senkung des Steuertarifs von bisher bis zu 45 % auf nunmehr 25 % zugleich eine verfassungsrechtlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern höherer Kapitaleinkünfte vorgenommen (vgl. dazu Moritz/Strohm in Frotscher, a.a.O., § 20 n.F. Rz 44 f., m.w.N.; ebenso Schmidt/Weber-Grellet, a.a.O., § 20 Rz 206).aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, ohne wegen der damit im Einzelfall verbundenen Härten gegen die Belastungsgleichheit zu verstoßen (BVerfG-Beschlüsse vom 8. Oktober 1991  1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348; vom 11. November 1998  2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280, BStBl II 1999, 502; vom 21. Juni 2006  2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164, BFH/NV 2006, Beilage 4, 481). Zusätzliche Typisierungsspielräume können sich aus der Verfolgung verfassungsrechtlich anzuerkennender und von der gesetzgeberischen Entscheidung umfasster wirtschaftspolitischer Förderungs- und Lenkungsziele ergeben (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 116, 164, BFH/NV 2006, Beilage 4, 481). Dabei ist auch zu gewichten, dass das BVerfG bereits in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung gerade die Möglichkeit der Typisierung der Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen durch die Einräumung eines Freibetrags und die Senkung des Steuertarifs anerkannt hat (BVerfG-Urteil vom 27. Juni 1991  2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654; mittelbar bestätigt durch BVerfG-Urteil vom 9. März 2004  2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, BFH/NV 2004, Beilage 3, 293).bb) Bei Anwendung dieser Maßstäbe hält der Ausschluss des Werbungskostenabzugs bei den Einkünften aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG verfassungsrechtlichen Anforderungen stand. Zum einen ist eine hinreichend realitätsgerechte Regelung zu bejahen, da bei der überwiegenden Zahl der Kleinanleger i.d.R. nicht mehr als 801 EUR an Werbungskosten im Kalenderjahr anfallen (so auch Weber-Grellet, a.a.O., § 20 Rz 206; Wernsmann in Brandt, Deutscher Finanzgerichtstag 2008, 107, 108; Philipowski, Deutsches Steuerrecht --DStR- 2009, 353, 356; Eckhoff, Finanz-Rundschau --FR-- 2007, 989, 997 f.; Musil, FR 2010, 149, 154; a.A. Englisch, Steuer und Wirtschaft --StuW-- 2007, 221, 239; Wenzel, DStR 2009, 1182, 1183 f.); zum andern dürften bei der kleinen Gruppe der Spitzeninvestoren die Auswirkungen des Abzugsverbots für Werbungskosten durch die Senkung des Steuertarifs von bisher bis zu 45 % auf nunmehr 25 % hinreichend ausgeglichen sein (ebenso Moritz/ Strohm in Frotscher, a.a.O., § 20 n.F. Rz 45; Schmidt/ Weber-Grellet, a.a.O., § 20 Rz 206; Wernsmann in Brandt, Deutscher Finanzgerichtstag 2008, 107, 108; Philipowski, DStR 2009, 353, 356; Axer, Die Steuerberatung --Stbg-- 2007, 201, 202; Strunk, Stbg 2007, 101, 103; a.A. Eckhoff, FR 2007, 989, 998; Roser/Will/Mendel, FR 2008, 953, 956 f.). Nicht außer Acht zu lassen ist ferner, dass insbesondere die Fremdfinanzierung von Kapitalanlagen (im Streitfall: Beteiligung des Klägers i.S. des § 17 EStG und damit in Zusammenhang stehende Darlehen), welche zu erheblichen Werbungskosten führen kann, weder im unteren noch im oberen Einkommensbereich mit einer derartigen Häufigkeit vorkommt, dass sie als geradezu typischer Fall betrachtet werden müsste, der bei einer Typisierung der Werbungskosten stets in Rechnung zu stellen wäre (so auch Eckhoff, FR 2007, 989, 998; Englisch, StuW 2007, 221, 227 f.; Musil, FR 2010, 149, 154; Moritz/Strohm in Frotscher, a.a.O., § 20 n.F. Rz 45).Insgesamt betrachtet ist das Abzugsverbot für Werbungskosten i.S. des § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG bei den Einkünften aus Kapitalvermögen danach verfassungsgemäß (gl.A. von Beckerath in Kirchhof, a.a.O., § 20 Rz 14; Wernsmann in Brandt, Deutscher Finanzgerichtstag 2008, 107, 108 ff.; Eckhoff, FR 2007, 989, 997 f.; Musil, FR 2010, 149, 152 ff.; Weber-Grellet, Neue Juristische Wochenschrift 2008, 545, 548 f.; s. auch BVerfG-Urteil in BVerfGE 84, 239, BStBl II 1991, 654; mittelbar bestätigt durch BVerfG-Urteil in BVerfGE 110, 94, BStBl II 2005, 56, BFH/NV 2004, Beilage 3, 293; a.A. Englisch, StuW 2007, 221, 238 f.; Jochum, Deutsche Steuer-Zeitung 2010, 309, 312 ff.).b) Damit sind Schuldzinsen, die nach der Veräußerung oder der Aufgabe einer wesentlichen Beteiligung i.S. des § 17 Abs. 1 EStG anfallen, ab dem Veranlagungszeitraum 2009 grundsätzlich nicht mehr als Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen abziehbar.3. Dem Ausschluss des Abzugs der tatsächlich entstandenen Werbungskosten gemäß § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG steht § 52a Abs. 10 Satz 10 EStG 2009 nicht entgegen. Danach ist § 20 Abs. 9 EStG erstmals auf nach dem 31. Dezember 2008 zufließende Kapitalerträge anwendbar (vgl. FG München, Urteil vom 23. September 2013  7 K 3206/12, EFG 2013, 1915; Jochum, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 20 Rz K 38 und K 77; Niedersächsisches FG, Urteil vom 12. September 2012  4 K 316/10, juris). Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass in Fällen fremdfinanzierter Kapitalanlagen bzw. Beteiligungen oder damit in Zusammenhang stehender Aufwendungen, die ebenfalls kreditfinanziert sind, die damit zusammenhängenden Schuldzinsen unabhängig von der Regelung des § 20 Abs. 9 EStG stets vollständig als Werbungskosten abziehbar sind, sofern aus der Kapitalanlage --jedenfalls nach 2009-- keine Erträge fließen. Eine solche einschränkende Betrachtung auf den Zufluss von Kapitalerträgen erst nach dem 31. Dezember 2008 würde weder dem Wortlaut der Regelung noch den Besonderheiten der Abgeltungsteuer gerecht.a) Nach dem Wortlaut des § 52a Abs. 10 Satz 10 EStG 2009 ist § 20 Abs. 9 EStG erstmals auf nach dem 31. Dezember 2008 zufließende Kapitalerträge anzuwenden. Zu Fallkonstellationen, in denen nach dem 31. Dezember 2008 --wie auch im Streitfall-- keine Kapitalerträge zufließen, trifft die Regelung indes keine Aussage. Für diese Konstellationen gilt folglich die gesetzliche Grundregelung des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG. Danach stellt bei den Überschusseinkünften --wie z.B. bei den Einkünften aus Kapitalvermögen-- der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten die Einkünfte dar. Für Kapitaleinkünfte wird der Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten mit § 2 Abs. 2 Satz 2 EStG indes ausgeschlossen, wenn es dort heißt: "Bei Einkünften aus Kapitalvermögen tritt § 20 Absatz 9 vorbehaltlich der Regelung in § 32d Absatz 2 an die Stelle der §§ 9 und 9a." Diese Regelung, welche gemäß § 52a Abs. 2 EStG 2009 erstmals ab dem Veranlagungszeitraum 2009 anzuwenden ist, schließt damit für das Jahr 2009 (Streitjahr) den Werbungskostenabzug für die vom Kläger geltend gemachten nachträglichen Schuldzinsen aus.Im Übrigen geht mit dem Ausschluss des Abzugs der tatsächlich entstandenen Werbungskosten nicht nur das Verbot einher, Verluste aus Kapitalvermögen mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten auszugleichen (vgl. § 20 Abs. 6 EStG) bzw. nach § 10d EStG abzuziehen. Vielmehr hat der Gesetzgeber in § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG für die Einkünfte aus Kapitalvermögen auch einen gesonderten Steuertarif von nur 25 % angeordnet, während die Einkünfte aus anderen Einkunftsarten wie bisher dem allgemeinen progressiven Tarif in Höhe von bis zu 45 % unterliegen (vgl. § 32a EStG). Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs zum UntStRefG 2008 wollte der Gesetzgeber mit dem relativ niedrigen Proportionalsteuersatz von 25 % die Werbungskosten in den oberen Einkommensgruppen mit abgelten und gleichzeitig für die unteren Einkommensgruppen eine Typisierung der Höhe der Werbungskosten vornehmen (vgl. BTDrucks 16/4841, S. 57). Diese Überlegungen machen nicht nur deutlich, dass der Gesetzgeber mit Einführung der Abgeltungsteuer die Einkünfte aus Kapitalvermögen insgesamt neu beurteilen wollte. Vielmehr verfolgte er mit § 20 Abs. 9 EStG vor allem auch das Ziel, den Abzug von in Zusammenhang mit Kapitaleinnahmen stehenden und im jeweiligen Veranlagungszeitraum abgeflossenen Aufwendungen --anders als bisher bei den Überschusseinkünften üblich-- neu zu regeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass § 20 Abs. 9 EStG sich nicht auf zufließende Kapitalerträge bezieht, sondern bestimmt, dass angefallene, d.h. abgeflossene Werbungskosten --abgesehen vom Sparer-Pauschbetrag-- bei Ermittlung der Kapitaleinkünfte nicht abgezogen werden dürfen.b) Mit der vorstehenden Beurteilung ist die Auffassung des FG, im Hinblick auf den Wortlaut des § 52a Abs. 10 Satz 10 EStG 2009 seien Werbungskosten, die nicht in Zusammenhang mit Einnahmen stehen, die nach dem 31. Dezember 2008 zufließen, auch bei einem Abfluss nach dem 31. Dezember 2008 weiterhin in tatsächlich angefallener Höhe steuermindernd zu berücksichtigen, nicht vereinbar.c) Außerdem führte eine solche Auffassung zu Ungleichbehandlungen und Systembrüchen. Steuerpflichtige z.B., welche vor Einführung der Abgeltungsteuer eine fremdfinanzierte Kapitalanlage erworben und behalten haben, müssen nach Einführung der Abgeltungsteuer die Erträge in vollem Umfang versteuern und sind gemäß § 20 Abs. 9 EStG vom Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten ausgeschlossen. Steuerpflichtige, welche die nämliche Kapitalanlage vor Einführung der Abgeltungsteuer mit Verlust veräußert haben und bei denen der Veräußerungserlös nicht ausgereicht hat, die Finanzierungskosten abzulösen, könnten indes nach dem 31. Dezember 2008 weiterhin den vollen Werbungskostenabzug beanspruchen; nämliches würde für den Anfang 2009 erfolgten Verkauf einer fremdfinanzierten Kapitalanlage gelten, sofern diese für 2009 keine Erträge mehr abgeworfen hätte. Derartige Verkomplizierungen wären mit der mit Einführung der Abgeltungsteuer bezweckten Vereinfachung indes unvereinbar (vgl. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 9. Oktober 2012 IV C 1 - S 2252/10/10013, BStBl I 2012, 953, Rz 322; Jochum, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, a.a.O., § 20 Rz K 38 und K 77; ähnlich Niedersächsisches FG, Urteil vom 12. September 2012  4 K 316/10, juris; offengelassen FG München, Urteil in EFG 2013, 1915; a.A. FG Köln, Urteil vom 17. April 2013  7 K 244/12, EFG 2013, 1328).d) Im Übrigen würde ein solches Ergebnis § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG widerstreiten. Danach gilt der gesonderte Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen von lediglich 25 % auf Antrag für Kapitalerträge i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG aus einer Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft nicht, wenn der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum, für den der Antrag erstmals gestellt wird, unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 25 % an der Kapitalgesellschaft beteiligt ist oder zu mindestens 1 % an der Kapitalgesellschaft beteiligt und beruflich für diese tätig ist. Gemäß Satz 2 der Vorschrift finden § 20 Abs. 6 und Abs. 9 EStG keine Anwendung. Für sog. unternehmerische Beteiligungen eröffnet der Gesetzgeber Steuerpflichtigen damit die Möglichkeit, zwischen dem gesonderten Steuertarif mit pauschalem Werbungskostenabzug (Steuer 25 %, abzugsfähig nur der Sparer-Pauschbetrag) und der Anwendung des Teileinkünfteverfahrens (progressiver Tarif verbunden mit der Möglichkeit, Finanzierungsaufwendungen in voller Höhe auch oberhalb des Sparer-Pauschbetrags geltend zu machen) zu wählen (vgl. dazu Moritz/Strohm, Betriebs-Berater --BB-- 2012, 3107, m.w.N.). Diese Regelung gilt gemäß § 52a Abs. 15 EStG 2009 erstmals für den Veranlagungszeitraum 2009. Mit ihr wollte der Gesetzgeber die Gefahr abwenden, dass das Werbungskostenabzugsverbot i.R. der Abgeltungsteuer bei aus unternehmerischen Motiven erworbenen Anteilen an einer Kapitalgesellschaft zu einer Übermaßbesteuerung führt (Storg in Frotscher, a.a.O., § 32d Rz 37, m.w.N.). Dass der Gesetzgeber diese Regelung an das Vorhandensein einer Beteiligung knüpft, macht indes deutlich, dass er bei nicht mehr existenter Beteiligung und nachlaufenden Schuldzinsen keine Option zur Anwendung des progressiven Tarifs bewilligen will, sondern an den allgemeinen Regeln der Abgeltungsteuer und damit auch am Ausschluss des Abzugs der tatsächlich entstandenen Werbungskosten festzuhalten gedenkt (vgl. Moritz/Strohm, BB 2012, 3107). Sofern eine Beteiligung i.S. des § 17 EStG fünf Jahre nach Antragstellung gemäß § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG nicht mehr vorhanden ist, kann demnach ein erneuter Antrag auf Option zur progressiven Besteuerung gemäß § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG nicht mehr gestellt werden, sodass ein Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten ausscheidet (Moritz/Strohm, BB 2012, 3107).Nach alledem kommt im Streitfall ein Abzug der vom Kläger geltend gemachten tatsächlich entstandenen Werbungskosten nicht in Betracht. Da durch den Sparer-Pauschbetrag gemäß § 20 Abs. 9 EStG keine negativen Einkünfte entstehen dürfen (vgl. von Beckerath in Kirchhof, a.a.O., § 20 Rz 188), steht den Klägern über den ihnen bereits bewilligten Teil hinaus kein weiterer Anteil am Sparer-Pauschbetrag gemäß § 20 Abs. 9 EStG zu.4. Da die Vorentscheidung auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruht, ist sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist abzuweisen.
bundesfinanzhof
bfh_092-13
18. Dezember 2013
Körperschaftsteuerbefreiung für die Abgabe von Zytostatika durch eine Krankenhausapotheke 18. Dezember 2013 - Nummer 092/13 - Urteil vom 31.07.2013 I R 82/12 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 31. Juli 2013 (I R 82/12) entschieden, dass die Abgabe von Medikamenten zur Krebsbehandlung (sog. Zytostatika) durch eine Krankenhausapotheke zur sofortigen ambulanten Verabreichung an Patienten von der Körperschaftsteuer befreit ist, wenn das Krankenhaus, von dem die Apotheke betrieben wird, ein gemeinnütziger Zweckbetrieb ist. Die Steuerbefreiung erstreckt sich auch auf die Gewerbesteuer, wie sich aus einem weiteren Urteil vom selben Tag (Aktenzeichen I R 31/12) ergibt.Bei einem gemeinnützigen Krankenhaus ist die Steuerbefreiung nicht auf die unmittelbare ärztliche und pflegerische Betätigung begrenzt. Sie erstreckt sich vielmehr auf alle typischerweise von einem Krankenhaus gegenüber seinen Patienten erbrachten Leistungen. Steuerfrei sind hiernach jedenfalls alle Einkünfte aus Tätigkeiten, die den Krankenhäusern gesetzlich zur Sicherstellung ihres Versorgungsauftrags übertragen sind und für die der Sozialversicherungsträger als Kostenträger für seine Versicherten deshalb grundsätzlich eintreten muss.Ob die Krankenhausapotheke zu öffentlichen Apotheken in Wettbewerb tritt, ist für den Umfang der Steuerbefreiung nach deutschem Recht ohne Belang. Der BFH hat aber darauf hingewiesen, dass das Gemeinnützigkeitsrecht aufgrund der Wettbewerbsrelevanz beihilferechtlichen Bedenken unterliegt. Diese Bedenken erlaubten dem BFH in dem entschiedenen Fall zwar nicht, die gesetzlich vorgesehene Steuerbefreiung zu verweigern. Der BFH hat jedoch klar zum Ausdruck gebracht, dass die EU-Kommission berufen wäre, die Steuerbefreiungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen und den Gesetzgeber ggf. zu einer Anpassung der deutschen Rechtslage aufzufordern.Der Entscheidung kann keine Aussage zu der vergleichbaren umsatzsteuerrechtlichen Problematik entnommen werden. Der BFH hat in dem dazu anhängigen Revisionsverfahren (Aktenzeichen V R 19/11 – Pressemitteilung Nr. 54/2012) das Verfahren ausgesetzt und die Frage der Steuerbefreiung dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt (Aktenzeichen C-366/12). Der Ausgang jenes Verfahrens bleibt insoweit abzuwarten. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: I R 82/12
1. Die Abgabe von Zytostatika durch die Krankenhausapotheke an ambulant behandelte Patienten des Krankenhauses zur unmittelbaren Verabreichung im Krankenhaus ist dem Zweckbetrieb Krankenhaus zuzurechnen. Dies gilt auch dann, wenn die Ermächtigung zur Durchführung ambulanter Behandlungen nicht dem Krankenhaus im Wege einer sog. Institutsermächtigung, sondern dem Chefarzt des Krankenhauses erteilt wird, der die Behandlungen als Dienstaufgabe durchführt.2. Die Körperschaftsteuerbefreiung für Krankenhäuser ist eine bestehende Beihilfe ("Alt-Beihilfe"), für die das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV nicht gilt. Tatbestand A. Streitig ist, ob die Abgabe von Medikamenten zur Behandlung von Krebserkrankungen (sog. Zytostatika) durch eine Krankenhausapotheke an Patienten zur anschließenden ambulanten Behandlung Teil des Zweckbetriebs der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) i.S. von § 67 der Abgabenordnung (AO) i.d.F. der Neufassung der Abgabenordnung vom 1. Oktober 2002 (BGBl I 2002, 3866, BStBl I 2002, 1056) --AO a.F.-- ist.Die Klägerin ist eine katholische rechtsfähige Stiftung des privaten Rechts. Nach ihrer Satzung und tatsächlichen Geschäftsführung dient sie der Förderung der öffentlichen Gesundheitspflege und ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) 2002 von der Körperschaftsteuer befreit. Zur Verwirklichung ihres Zwecks unterhält die Klägerin ein Hospital, das innerhalb der Vorgaben des § 67 AO a.F. betrieben und durch seine Krankenhausapotheke mit Arzneimitteln versorgt wird. Daneben liefert die Krankenhausapotheke Medikamente an Dritte, das Personal des Hospitals sowie andere Kliniken und Apotheken.Das Hospital verfügt über eine onkologische Ambulanz. Gemäß § 116 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch --SGB V-- i.d.F. des Gesetzes zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 1992, 2266) --SGB V 1992-- ist der im Hospital der Klägerin angestellte Chefarzt zur vertragsärztlichen Versorgung einschließlich der Chemotherapie befugt und führt diese Leistungen privat- und vertragsärztlich als Dienstaufgabe für das Hospital durch.Den Krebspatienten werden --in einem erheblichen Teil der Fälle nach vorheriger stationärer Behandlung-- unter ärztlicher Überwachung nach ihrem jeweiligen Krankheitsbild ambulant Zytostatika im Hospital verabreicht, die individuell auf sie abgestimmt werden. Die zur Durchführung der ambulanten Chemotherapie erforderlichen Zytostatika holen die Patienten zwecks unmittelbarer Verabreichung in der ambulanten Onkologie aus der Krankenhausapotheke ab.Die Klägerin behandelte die Abgabe der Medikamente zur Versorgung von stationär untergebrachten Patienten und zur ambulanten Chemotherapie in den Streitjahren 2003 bis 2006 als dem Zweckbetrieb Krankenhaus zugehörig.Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) vertrat demgegenüber die Auffassung, die Erträge aus der Abgabe der Zytostatika an ambulant behandelte Patienten seien nicht dem Zweckbetrieb Krankenhaus, sondern dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb der Krankenhausapotheke zuzurechnen. Hiervon ausgehend erließ das FA entsprechende Körperschaftsteuerbescheide für die Streitjahre 2003 bis 2006.Die dagegen erhobene Klage war erfolgreich; mit Urteil vom 24. Oktober 2012  10 K 630/11 K, das mit seinen Gründen in Entscheidungen zum Krankenhausrecht (KHE) 2013, 141 und mit seinem Leitsatz in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 159 veröffentlicht ist, hat das Finanzgericht (FG) Münster ihr stattgegeben.Gegen das Urteil des FG richtet sich die auf Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des FA. Es beantragt, unter Aufhebung des FG-Urteils die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Gründe B. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass die Klägerin von der Körperschaftsteuer befreit ist, soweit die Krankenhausapotheke in den Streitjahren 2003 bis 2006 an die Patienten Zytostatika zur unmittelbaren Verabreichung in der onkologischen Ambulanz ausgegeben hat.I. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 und 2 KStG 2002 sind die Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die nach der Satzung, dem Stiftungsgeschäft oder der sonstigen Verfassung und nach der tatsächlichen Geschäftsführung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienen (§§ 51 bis 68 AO a.F.), von der Körperschaftsteuer befreit. Wird ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb unterhalten, ist die Steuerbefreiung insoweit ausgeschlossen. Trotz Vorliegens eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs bleibt die Steuerfreiheit bestehen, wenn es sich um einen Zweckbetrieb (§§ 64 ff. AO a.F.) handelt.II. Nach diesen Voraussetzungen ist die Klägerin als rechtsfähige Stiftung des privaten Rechts (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG 2002) mit ihrem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb i.S. des § 14 AO in den Streitjahren steuerbefreit.1. Die Klägerin dient nach ihrem Stiftungsgeschäft und nach der tatsächlichen Geschäftsführung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken. Denn ihre Tätigkeit ist darauf gerichtet, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern (§ 52 Abs. 1 Satz 1 AO a.F.). Unter die Förderung der Allgemeinheit fällt insbesondere die Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens (§ 52 Abs. 2 Nr. 2 AO a.F. --s. jetzt § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO i.d.F. des Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements vom 10. Oktober 2007, BGBl I 2007, 2332, BStBl I 2007, 815--). Hiervon erfasst werden alle Tätigkeiten, die der Gesundheit der Bürger dienen, insbesondere die Verhinderung und Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten (Senatsurteile vom 7. März 2007 I R 90/04, BFHE 217, 413, BStBl II 2007, 628, und vom 6. Februar 2013 I R 59/11, BFHE 241, 101, BStBl II 2013, 603). Wie im Streitfall kann dies auch durch Krankenhäuser als begünstigte Einrichtungen geschehen (vgl. Senatsurteil in BFHE 241, 101, BStBl II 2013, 603; Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 2. Aufl., § 3 Rz 92).2. Der Auffassung der Finanzverwaltung (Erlasse des Finanzministeriums Schleswig-Holstein vom 8. August 2005 VI 325-S 0186-001, KSt-Kartei SH § 5 KStG Karte H 13.10, und des Bayerischen Landesamtes für Steuern vom 9. November 2009 S 0186.2.1-2/2 St31, KSt-Kartei BY § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG Karte 20.2; für die Umsatzsteuer s. auch Abschn. 4.14.6 Abs. 3 Nr. 4 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses), die Abgabe der Zytostatika an Patienten durch die Krankenhausapotheke zur anschließenden ambulanten Verabreichung im Krankenhaus führe gleichwohl zur Körperschaftsteuerpflicht, ist nicht beizupflichten. Die Klägerin unterhält mit dem Hospital, zu dem auch die Krankenhausapotheke als unselbständige Funktionseinheit zählt (§ 21 des Gesetzes über das Apothekenwesen --ApoG-- i.V.m. § 26 Abs. 1 der Verordnung über den Betrieb von Apotheken i.d.F. vom 26. September 1995 --BGBl I 1995, 1195-- bzw. der Zweiten Verordnung zur Änderung der Apothekenbetriebsordnung vom 9. Januar 2006 --BGBl I 2006, 18--), einen Zweckbetrieb i.S. von § 67 Abs. 1 AO a.F., dem die Abgabe der Zytostatika an ambulant behandelte Patienten zuzurechnen ist.a) Ein Krankenhaus ist gemäß § 67 Abs. 1 AO a.F. ein Zweckbetrieb, wenn es in den Anwendungsbereich des Gesetzes über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (Krankenhausentgeltgesetz --KHEntgG--) oder der Verordnung zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Bundespflegesatzverordnung --BPflV--) fällt und mindestens 40 % der jährlichen Belegungstage oder Berechnungstage auf Patienten entfallen, bei denen nur Entgelte für Krankenhausleistungen (§ 7 KHEntgG, § 10 BPflV) berechnet werden. Zwischen den Beteiligten besteht Einvernehmen, dass die Klägerin die Erfordernisse dieser Regelungen erfüllt. Der festgestellte Sachverhalt gibt keine Veranlassung, dies in Frage zu stellen, so dass sich Weiteres dazu erübrigt.b) Die Abgabe der Zytostatika durch die Krankenhausapotheke zur anschließenden Verabreichung an die ambulant behandelten Patienten ist dem Zweckbetrieb Krankenhaus zuzurechnen.aa) Wie der Senat bereits wiederholt entschieden hat, sind alle Einnahmen und Ausgaben, die mit den ärztlichen und pflegerischen Leistungen an die Patienten als Benutzer des jeweiligen Krankenhauses zusammenhängen, aufgrund der weit gefassten Legaldefinitionen des Krankenhauses in § 2 Nr. 1 des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze und § 107 Abs. 1 SGB V dem Zweckbetrieb Krankenhaus zuzurechnen (Senatsurteile vom 6. April 2005 I R 85/04, BFHE 209, 345, BStBl II 2005, 545, und vom 22. Juni 2011 I R 59/10, BFH/NV 2012, 61; s. auch Heintzen/Musil, Das Steuerrecht des Gesundheitswesens, 2. Aufl., Rz 140; Jachmann in Beermann/Gosch, AO § 67 Rz 7).Mit den ärztlichen und pflegerischen Leistungen des Krankenhausbetriebs hängen die Einnahmen auch dann in einem ausreichenden Maße zusammen, wenn sie --wie im Streitfall-- zwar nicht unmittelbar auf einer ärztlichen oder pflegerischen Leistung, aber auf einer typischerweise von einem Krankenhaus gegenüber seinen Patienten erbrachten Leistung beruhen (vgl. Senatsurteil in BFHE 209, 345, BStBl II 2005, 545). Ausgehend von dem Zweck des § 67 AO a.F., die Sozialversicherungsträger als Kostenträger für ihre Versicherten steuerlich zu entlasten (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 31. Mai 2007  1 BvR 1316/04, BFH/NV 2007, Beilage 4, 449, unter IV.3.b; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 67 AO Rz 1), handelt es sich jedenfalls solange um eine typischerweise gegenüber den Patienten erbrachte Leistung, als das Krankenhaus --wie im Streitfall-- zur Sicherstellung seines Versorgungsauftrages von Gesetzes wegen zu dieser Leistung befugt ist und der Sozialversicherungsträger als Kostenträger für seine Versicherten deshalb grundsätzlich zahlen muss.Die demgegenüber vom FA vertretene Auffassung, die Versorgung der stationär behandelten Patienten sei eine allgemeine Krankenhausleistung, während die --hier streitgegenständliche-- Abgabe der Zytostatika an ambulant behandelte Patienten eine selbständige Leistung darstelle, die nicht dem Zweckbetrieb Krankenhaus zugeordnet werden könne, überzeugt nicht (a.A. Buchna/Seeger/Brox, Gemeinnützigkeit im Steuerrecht, 10. Aufl., S. 358, 363; wohl auch Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 25. Februar 2004  3 K 2190/01, EFG 2004, 1799; kritisch dazu Karsten, Gesundheitsrecht --GesR-- 2007, 397 f.). Das FA verfährt insoweit nicht nur inkonsequent, indem es allein die Abgabe der Zytostatika an ambulant behandelte Patienten aus dem Zweckbetrieb ausnehmen will; ausgehend von seiner Auffassung, neben die eigentliche ärztliche und pflegerische Behandlung hinzutretende Leistungen müssten vom Zweckbetrieb ausgeschieden werden, müsste es folgerichtig zu einem viel weiter gehenden Ausschluss von Leistungen gelangen. Hiervon hat das FA aber Abstand genommen, weil diese Auffassung mit dem gemeinnützigkeitsrechtlichen Sinn und Zweck, die Sozialversicherungsträger umfassend zu entlasten, nicht vereinbar ist. Vielmehr beruht die Auffassung des FA auf einer unzutreffenden Übertragung spezifisch umsatzsteuerrechtlicher Grundsätze zu § 4 Nr. 16 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes i.d.F. der Neufassung des Umsatzsteuergesetzes vom 21. Februar 2005 (BGBl I 2005, 386, BStBl I 2005, 505) --UStG 2005-- auf die Auslegung des § 67 AO a.F. Soweit § 4 Nr. 16 Buchst. b UStG 2005 nur die mit dem Betrieb eines Krankenhauses i.S. des § 67 AO a.F. eng verbundenen Umsätze von der Umsatzsteuer befreit, bedeutet dies bereits vom Wortlaut her eine tatbestandliche Verengung der Steuerbefreiung (vgl. zu der Problematik der umsatzsteuerlichen Behandlung der Zytostatikaabgabe im Umsatzsteuerrecht Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 15. Mai 2012 V R 19/11, BFHE 237, 525, BStBl II 2012, 803). Insoweit mag sich dort die Frage stellen, ob die Abgabe der Zytostatika --abweichend von dem Grundsatz, dass jeder Umsatz eine eigene Leistung darstellt (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, jetzt Gerichtshof der Europäischen Union, --EuGH-- vom 25. Februar 1999 C-349/96 "CPP", Slg. 1999, I-973, Rz 29; vom 21. Juni 2007 C-453/05 "Ludwig", Slg. 2007, I-5083, Rz 17; BFH-Urteil vom 25. Juni 2009 V R 25/07, BFHE 226, 407, BStBl II 2010, 239; BFH-Beschluss vom 26. April 2010 V B 3/10, BFH/NV 2010, 1664)-- als unselbständige Nebenleistung zur Heilbehandlung von der Umsatzsteuer befreit ist (vgl. zur umsatzsteuerrechtlichen Zusammenfassung von Haupt- und Nebenleistung EuGH-Urteil vom 27. Oktober 2005 C-41/04 "Levob Verzekeringen" (Slg. 2005, I-9433, Rz 19 bis 22; Oelmaier in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 1 Rz 15 ff.). Für die Körperschaftsteuer ist dies mangels einer entsprechenden tatbestandlichen Eingrenzung nicht von Bedeutung.bb) Anders als die Lieferung von Medikamenten an Dritte, das Personal des Krankenhauses sowie an andere Kliniken und Apotheken ist die --hier allein streitige-- Abgabe der Zytostatika an ambulant behandelte Patienten nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen eine von einem Krankenhaus typischerweise gegenüber den Patienten erbrachte Leistung. Sie erfolgt allein, um eine effektive ambulante onkologische Behandlung im Krankenhaus zu gewährleisten, die --wie auch die Zytostatikaabgabe-- grundsätzlich zu Lasten der Krankenkassen erfolgt.aaa) Die ambulante onkologische Behandlung ist als ärztliche Leistung vom Versorgungsauftrag des Krankenhauses umfasst und ist deshalb grundsätzlich dem Zweckbetrieb zuzurechnen (so auch Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 67 AO Rz 2; Klaßmann, Das Krankenhaus 2012, 908, 910). Sie dient der Behandlung und Heilung, jedenfalls der Linderung der Krebserkrankungen der zu behandelnden Patienten.Dass die Behandlung ambulant erfolgt, ist kein Grund, sie nicht als eine von § 67 Abs. 1 AO a.F. erfasste ärztliche Leistung zu begreifen. Eine Krankenhausbehandlung muss nicht zwingend stationär erfolgen. Vielmehr geht insbesondere § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB V davon aus, dass neben stationären, teilstationären und vor- und nachstationären Behandlungen ebenso ambulante Behandlungen im Krankenhaus möglich sind. Ferner hat der Gesetzgeber durch § 116 SGB V 1992 die Möglichkeit geschaffen, dass Krankenhausärzte zur ambulanten vertragsärztlichen Versorgung der Patienten ermächtigt werden können, wie dies im Streitfall hinsichtlich des Chefarztes des Hospitals geschehen ist, damit dieser die Patienten in der ambulanten Onkologie des Krankenhauses behandeln kann. Nicht zuletzt aus dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz) vom 14. November 2003 (BGBl I 2003, 2190) wird der gesetzgeberische Wille deutlich, die weitgehende Trennung der Versorgungsbereiche ambulant/ stationär zu überwinden (Degener-Hencke, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 2006, 93).Dem FA kann nicht darin gefolgt werden, die Begriffe der ärztlichen und pflegerischen Leistungen müssten statisch in dem Sinne verstanden werden, dass auf das Tätigkeitsbild des Krankenhauses bei Inkrafttreten der Abgabenordnung am 1. Januar 1977 (§ 415 Abs. 1 AO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 22. Dezember 1983 --BGBl I 1983, 1577, BStBl I 1984, 7--) abzustellen sei, so dass die seitdem erfolgte Wandlung des Tätigkeitsbildes, insbesondere die Öffnung für ambulante Behandlungen, im Rahmen der Zurechnung zum Zweckbetrieb nach § 67 Abs. 1 AO a.F. nicht berücksichtigt werden könne. Für ein solches Verständnis lässt der Wortlaut des § 67 Abs. 1 AO a.F. jedweden Anhaltspunkt vermissen. Es ist insbesondere kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber dann auf die jeweils aktuellen Vorschriften des Krankenhausentgeltgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung verweist und hierdurch einen Bezug zu den sozialrechtlichen Legaldefinitionen des Krankenhausbegriffes herstellt. Auch angesichts des gesetzgeberischen Zwecks des § 67 Abs. 1 AO a.F. wäre es nicht nachvollziehbar, auf das Betätigungsfeld eines Krankenhauses zum 1. Januar 1977 abzustellen. Bezweckt der Gesetzgeber die steuerliche Entlastung der Sozialversicherungsträger, kann dies in dem vom Gesetzgeber umfassend gewollten Sinn nur erreicht werden, wenn auf den jeweils aktuellen Versorgungsauftrag des Krankenhauses abgestellt wird.Der Senat übersieht nicht, dass der BFH in seinem Beschluss vom 1. März 1995 IV B 43/94 (BFHE 177, 126, BStBl II 1995, 418) die durch einen Kassenarzt betriebene Dialysestation, die fachärztliche ambulante Leistungen abrechnete, nicht als ein Krankenhaus behandelt hat. Dem kann indes nicht die Erwägung entnommen werden, dass ambulante Leistungen nicht durch ein Krankenhaus steuerfrei erbracht werden können. Entscheidend war für den BFH in diesem Verfahren vielmehr, dass die Dialysestation insgesamt kein Krankenhaus war, weil sie ausschließlich ambulante Leistungen erbracht hat.bbb) Der Zurechnungszusammenhang der ambulanten Behandlungen zum Zweckbetrieb Krankenhaus wird im Streitfall nicht dadurch unterbrochen, dass der Chefarzt des Hospitals gemäß § 116 SGB V 1992 persönlich bevollmächtigt und verpflichtet worden ist, die ambulanten Behandlungen persönlich durchzuführen (hierzu Kuhla, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2002, 461, 462). Denn der Chefarzt erbringt seine Behandlungsleistungen innerhalb der zum Krankenhausbetrieb gehörenden ambulanten Onkologie. Er selbst wird gemäß § 116 SGB V 1992 als Krankenhausarzt und nicht als außerhalb des Krankenhausbetriebs praktizierender niedergelassener Arzt betrachtet. Auch § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternative 6 ApoG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Apothekengesetzes vom 21. August 2002 (BGBl I 2002, 3352) --ApoG 2002-- bzw. § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternative 6 ApoG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Apothekengesetzes vom 15. Juni 2005 (BGBl I 2005, 1642) --ApoG 2005-- bezeichnet ihn ausdrücklich als eine ermächtigte Ambulanz des Krankenhauses. Hinzu kommt im Streitfall, dass der Chefarzt die ambulanten Behandlungen nicht aufgrund eines eigenen Willensentschlusses, sondern aufgrund seines Dienstvertrags als Dienstaufgabe für das Hospital durchführt.ccc) Um die ambulante onkologische Behandlung effektiv wahrnehmen zu können, besitzt die Krankenhausapotheke des Hospitals die gesetzlich eingeräumte Befugnis, die Zytostatika an die ambulant behandelten Patienten abzugeben. § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternative 6 ApoG 2002 bzw. § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternative 6 ApoG 2005 erlaubt den Krankenhausapotheken die Abgabe von Arzneimitteln an ermächtigte Ambulanzen des Krankenhauses, insbesondere an gemäß § 116 SGB V 1992 ermächtigte Krankenhausärzte zur unmittelbaren Behandlung.Ein solcher Fall liegt hier vor, obwohl die Abgabe bei formaler Betrachtung nicht an den ermächtigten Krankenhausarzt, sondern an die ambulant behandelten Patienten zwecks unmittelbarer Verabreichung erfolgt ist. Dies ist jedoch unschädlich, da die Abgabe auf Veranlassung des ermächtigten Chefarztes erfolgt, der die Patienten mit einem Rezept in die Krankenhausapotheke schickt, um das jeweilige Zytostatikum zwecks unmittelbar anschließender Verabreichung abholen zu lassen. Auch dieser Fall muss nach Sinn und Zweck des § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternative 6 ApoG 2002 bzw. des § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternative 6 ApoG 2005 erfasst sein, da der Gesetzgeber das Aufgabenfeld der Krankenhausapotheken nicht nur in den Fällen einer unmittelbaren Abgabe an ermächtigte Ambulanzen des Krankenhauses erweitern wollte; Ziel war vielmehr in einem umfassenderen Sinn, die gesamte ambulante Versorgung in den Ambulanzen von Krankenhäusern zu ermöglichen (BTDrucks 14/756, S. 5; s. auch Frehse/Kleinke, Deutsche Apotheker-Zeitung --DAZ-- 2003, 4672, 4673). Dies mag der Gesetzgeber missverständlich dadurch zum Ausdruck gebracht haben, dass er nur eine Abgabe an die "ermächtigten Ambulanzen des Krankenhauses" zugelassen hat. Dass er dies allerdings selbst nicht in einem wörtlichen, sondern einem umfassenderen Sinn verstanden wissen will, der auch eine Abgabe an Patienten erfasst, wenn dies nur zur unmittelbar anschließenden Verabreichung in einer Krankenhausambulanz erfolgt, kommt insbesondere durch --die nachträglich eingefügten-- § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternativen 7 und 8 ApoG i.d.F. des GKV-Modernisierungsgesetzes bzw. § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternativen 7 und 8 ApoG 2005 zum Ausdruck, die ausdrücklich vorsehen, dass die zu verabreichenden Medikamente zur unmittelbaren Anwendung an die Patienten abgegeben werden können.Die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternative 6 ApoG 2002 bzw. § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternative 6 ApoG 2005 sind auch erfüllt, soweit die Abgabe der Zytostatika nicht gegenüber vertragsärztlich versorgten Patienten, sondern gegenüber Privatpatienten erfolgt ist. Dass die Vorschrift nur eine Abgabe an "ermächtigte Krankenhausärzte" gemäß § 116 SGB V 1992 erlaubt und damit an die Befugnis der Ärzte anknüpft, sich an der vertragsärztlichen Versorgung zu beteiligen, steht dem nicht entgegen. Dem Apothekengesetz ist grundsätzlich eine Differenzierung zwischen der Versorgung von gesetzlich und privat Versicherten fremd. Dem Wortlaut des § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternative 6 ApoG 2002 bzw. § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternative 6 ApoG 2005 kann lediglich entnommen werden, dass der Krankenhausarzt überhaupt gemäß § 116 SGB V 1992 ermächtigt sein muss; dass dies auch bei der konkreten ambulanten Behandlung der Fall zu sein hat, verlangt die Vorschrift nicht. Verhindert werden soll lediglich, dass an Krankenhäusern niedergelassene Ärzte, die im Rahmen des Krankenhauses praktizieren, in den Anwendungsbereich des § 14 Abs. 4 Satz 3 Alternative 6 ApoG 2002 bzw. des § 14 Abs. 7 Satz 2 Alternative 6 ApoG 2005 einbezogen werden (so bereits Frehse/Kleinke, DAZ 2003, 4672, 4673 f.).ddd) Dass Zytostatika auch an privat behandelte Patienten abgegeben werden, hindert die Zurechnung zum Krankenhausbetrieb nicht. Vielmehr entspricht es dem typisierenden Regelungscharakter des § 67 AO a.F., dass auch selbstzahlende Privatpatienten und deren Kostenträger erfasst werden, sofern --wie im Streitfall-- die von den Krankenhäusern berechneten Entgelte sich auch ihnen gegenüber im Rahmen der allgemeinen Krankenhausleistungen bewegen (BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2007, Beilage 4, 449, unter IV.3.b).c) Ob die Klägerin schließlich mit der Abgabe der Zytostatika durch ihre Krankenhausapotheke in ein tatsächliches oder potentielles Wettbewerbsverhältnis zu rund 400 anderen steuerlich nicht begünstigten Apotheken tritt, ist für die Beantwortung der Frage, ob die Abgabe dem Zweckbetrieb zuzurechnen ist, nicht von Bedeutung (a.A. Karsten, GesR 2007, 397, 398). Das Vorliegen eines Wettbewerbsverhältnisses ist zwar gemäß § 65 Nr. 3 AO für allgemeine Zweckbetriebe relevant (dazu Senatsurteil vom 13. Juni 2012 I R 71/11, BFH/NV 2013, 89; s. weiter gehend auch hinsichtlich § 66 AO Senatsbeschluss vom 18. September 2007 I R 30/06, BFHE 219, 184, BStBl II 2009, 126). Diese Bestimmung wird indes im Streitfall durch die Spezialregelung des § 67 AO a.F. verdrängt (vgl. BFH-Urteil vom 18. Oktober 1990 V R 35/85, BFHE 162, 502, BStBl II 1991, 157; Eversberg/Baldauf, Deutsche Steuer-Zeitung 2011, 597, 600; Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 AO Rz 45; Jachmann in Beermann/Gosch, § 67 AO Rz 1; Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 3. Aufl., § 7 Rz 90; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 67 AO Rz 1; Seer/Wolsztynski, Steuerrechtliche Gemeinnützigkeit der öffentlichen Hand, 2002, S. 174; so bereits für die Vorschrift des § 68 AO 1977 Senatsurteil vom 4. Juni 2003 I R 25/02, BFHE 202, 391, BStBl II 2004, 660). § 67 Abs. 1 AO a.F. qualifiziert Einrichtungen, die die Definition des Krankenhauses erfüllen, einschränkungslos zu Zweckbetrieben (so bereits Senatsurteil in BFH/NV 2012, 61); dies gilt insbesondere auch für die Fälle, in denen ein Wettbewerbsverhältnis zu anderen Personen oder Einrichtungen besteht.3. Entgegen der Auffassung des FA ist auch nicht von Bedeutung, ob die steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke nur durch einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb erreicht werden können. Die Vorschrift des § 65 AO wird insgesamt --und damit auch hinsichtlich des § 65 Nr. 2 AO-- durch die Spezialregelung des § 67 AO a.F. verdrängt (vgl. Fischer in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 65 AO Rz 45; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 65 Rz 2; Unger in Beermann/Gosch, § 65 AO Rz 8). Gleiches gilt gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 AO für Zweckbetriebe in Gestalt einer Einrichtung der Wohlfahrtspflege nach § 66 AO.III. Ob durch die Gewährung der Steuerbefreiungen im Streitjahr 2005 das Beihilfeverbot des Art. 87 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrags von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und einiger damit zusammenhängender Rechtsakte --EG-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002, Nr. C-325, 1) --jetzt Art. 107 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft --AEUV-- (Amtsblatt der Europäischen Union 2008 Nr. C-115, 47)-- verletzt wird, hat der erkennende Senat nicht zu prüfen. Es obliegt dem mitgliedstaatlichen Gericht nicht, darüber zu entscheiden, ob eine staatliche Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (EuGH-Urteile vom 18. Juli 2007 C-119/05 "Lucchini", Slg. 2007, I-6199, Rz 51; vom 18. Juli 2013 C-6/12 "P", Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2013, 1588, Rz 38). Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist ausschließlich die Kommission für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen oder einer Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt zuständig; sie unterliegt dabei ihrerseits der gerichtlichen Kontrolle (EuGH-Urteile vom 22. März 1977 Rs. 78/76 "Steinike & Weinlig", Slg. 1977, 595, Rz 9; in Slg. 2007, I-6199, Rz 52). Innerstaatlich ist das Beihilfeverbot nicht unmittelbar anwendbar (EuGH-Urteil vom 22. März 1977 Rs. 74/76 "Ianelli & Volpi", Slg. 1977, 557, Rz 11/12; Cremer in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl., Art. 107 AEUV Rz 8; Khan in Geiger/Khan/ Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl., Art. 107 AEUV Rz 6; Kreuschitz/ Wernicke in Lenz/Borchardt, EU-Verträge Kommentar, 6. Aufl., Art. 107 Rz 1; Müller-Graff in Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 107 AEUV Rz 3; v. Wallenberg in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 87 EGV Rz 3); es ist weder absolut noch unbedingt (so bereits EuGH-Urteil in Slg. 1977, 557, Rz 11/12).IV. Der Senat ist auch nicht durch das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV gehalten, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.1. Gemäß Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV darf ein Mitgliedstaat eine Beihilfe nicht einführen oder umgestalten, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat. Dieses Verbot gilt allein für neue Beihilfen; demgegenüber dürfen bestehende Beihilfen regelmäßig durchgeführt werden, solange die Kommission nicht ihre Unionsrechtswidrigkeit festgestellt hat (EuGH-Urteile vom 15. März 1994 C-387/92 "Banco Exterior de España", Slg. 1994, I-877, Rz 20; vom 29. November 2012 C-262/11 "Kremikovtzi", juris, Rz 49; in DStR 2013, 1588, Rz 36). Bestehende Beihilfen sind insbesondere die Beihilferegelungen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind (Art. 1 Buchst. b Unterbuchst. i der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 93 des EG-Vertrags).2. Von diesen Maßgaben ausgehend ist das Durchführungsverbot im Streitfall nicht anwendbar. § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG 2002 i.V.m. § 67 AO a.F. ist eine bestehende Beihilfe ("Alt-Beihilfe"), für die das Durchführungsverbot nicht gilt. Die Steuerbefreiung bestand schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 1. Januar 1958 (Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 27. Dezember 1957, BGBl II 1958, 1).a) § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 und 2 KStG 2002 geht zurück auf den im Wesentlichen inhaltsgleichen § 4 Abs. 1 Nr. 6 KStG 1934 vom 16. Oktober 1934 (RGBl I 1934, 1031; zur Gesetzeshistorie s. Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 5 KStG Rz 170).b) Für Krankenhäuser gilt diese Steuerbefreiung seit dem Erlass des § 10 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung der §§ 17 bis 19 des Steueranpassungsgesetzes (Gemeinnützigkeitsverordnung) vom 24. Dezember 1953 (BGBl I 1953, 1592, BStBl I 1954, 6), nach dem das Vermögen und die Einkünfte von Krankenanstalten von den Steuern befreit werden, wenn die Krankenanstalt in besonderem Maße der minderbemittelten Bevölkerung diente.Auch wenn § 67 AO a.F. hiervon abweichend formuliert worden ist, sollte die Zielsetzung, die Gesundheitskosten für Mitglieder der Sozialversicherungen niedrig zu halten, unverändert übernommen werden (BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2007, Beilage 4, 449, unter IV.3.b; Klein/Gersch, AO, 9. Aufl., § 67 Rz 3; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 67 AO Rz 1). Der geänderte Wortlaut des § 67 AO a.F. ist auf das Inkrafttreten der Bundespflegesatzverordnung zurückzuführen, die einen einheitlichen Pflegesatz für alle Patienten eingeführt hat, so dass die Anzahl der auf die Patientengruppen entfallenden Verpflegungstage kein geeigneter Maßstab mehr sein konnte (BTDrucks 7/4292, S. 22).Durch die anschließenden Änderungen des § 67 AO a.F. ist ebenfalls keine Rechtsänderung eingetreten. Selbst der durch Art. 1 Nr. 6 des Steuerbereinigungsgesetzes 1986 vom 19. Dezember 1985 (BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735) bewirkte Eingriff in die Struktur des § 67 Abs. 1 AO a.F. diente nur der redaktionellen Anpassung an die am 1. Januar 1986 in Kraft getretene neue Bundespflegesatzverordnung (Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 67 AO Rz 3). Mit den übrigen Änderungen des § 67 Abs. 1 AO a.F. sind --ohne inhaltliche Änderung-- lediglich die Klammerverweise auf die jeweils geltende Bundespflegesatzverordnung geändert worden.c) Eine Neubeihilfe durch Umgestaltung einer bestehenden Beihilfe liegt nicht deshalb vor, weil sich das Aufgabenfeld der Krankenhäuser seit dem 1. Januar 1977 stark gewandelt hat und insbesondere ambulante Behandlungen verstärkt durch Krankenhäuser durchgeführt werden können. Ob eine Umgestaltung vorliegt, bemisst sich nicht danach, welche Bedeutung die Beihilfe für das Unternehmen im Laufe seines Bestehens jeweils hatte und wie hoch sie jeweils war. Maßstab für die Einstufung einer Beihilfe als neue oder umgestaltete Beihilfe sind allein die Bestimmungen, in denen sie vorgesehen ist, sowie die dort vorgesehenen Modalitäten und Beschränkungen (EuGH-Urteil vom 9. August 1994 C-44/93 "Namur-Les assurances de crédit", Slg. 1994, I-3829, Rz 28). Nicht von Bedeutung sind insoweit die Maßnahmen, die daneben die Tätigkeiten des begünstigten Unternehmens betreffen und sich auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, auf den Wettbewerb oder auch nur für einen bestimmten Zeitraum auf die tatsächliche Höhe von Beihilfen auswirken können (EuGH-Urteil in Slg. 1994, I-3829, Rz 32). Dass sich sozialrechtliche und apothekenrechtliche Bestimmungen geändert haben und sich hierdurch die Weite der Steuerbefreiung verändert hat, ist hiernach nicht von Bedeutung. Die allein maßgebliche Regelung des § 67 AO a.F. hat sich --wie erläutert-- inhaltlich nicht geändert.V. Der Senat war nicht gehalten, das Verfahren auszusetzen und die Frage der Anwendbarkeit des Durchführungsverbots des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV wegen Vorliegens einer Neubeihilfe dem EuGH vorzulegen. Die Auslegung des Unionsrechts ist aus Sicht des Senats derart offenkundig, dass es einer Vorlage nicht bedarf (vgl. EuGH-Urteile vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81 "C.I.L.F.I.T.", Slg. 1982, 3415, Rz 21, und vom 18. Oktober 2011 C-128/09 bis C-131/09, C-134/09 und C-135/09 "Boxus und Roua", Slg. 2011, I-9711, Rz 31).
bundesfinanzhof
bfh_013-18
07. März 2018
Keine Restschuldbefreiung für Masseverbindlichkeiten 07. März 2018 - Nummer 013/18 - Urteil vom 28.11.2017 VII R 1/16 Ist Einkommensteuer im Insolvenzverfahren als Masseverbindlichkeit entstanden, aber vom Insolvenzverwalter aufgrund von Masseunzulänglichkeit nicht beglichen worden, darf das Finanzamt (FA) die Steuerschuld nach Abschluss des Insolvenzverfahrens mit Erstattungsansprüchen des ehemaligen Insolvenzschuldners verrechnen. Eine dem Insolvenzschuldner erteilte Restschuldbefreiung steht dem nicht entgegen, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 28. November 2017 VII R 1/16 entschieden hat.In dem Streitfall war über das Vermögen des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Aufgrund der Verwertung von Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter war Einkommensteuer als sog. Masseverbindlichkeit entstanden, die von dem Insolvenzverwalter nicht beglichen wurde. Nachdem das Insolvenzverfahren wegen Masseunzulänglichkeit eingestellt und dem Kläger Restschuldbefreiung gemäß § 301 der Insolvenzordnung (InsO) erteilt worden war, machte das FA die unbezahlt gebliebenen Steuerschulden geltend und verrechnete diese mit später entstandenen Erstattungsansprüchen des Klägers. Das Finanzgericht hob den Abrechnungsbescheid auf und entschied, dass der Kläger für Steuerschulden, die durch Verwertungshandlungen des Insolvenzverwalters entstanden seien, nicht einstehen müsse.Dieser Rechtsauffassung ist der BFH nicht gefolgt. Masseverbindlichkeiten werden nach seinem Urteil weder von einer Restschuldbefreiung erfasst - dies hatte der Bundesgerichtshof (BGH) bislang offengelassen - noch steht der Verrechnung eine sich aus dem Insolvenzverfahren ergebende Haftungsbeschränkung entgegen.Zwar sei Ziel eines Insolvenzverfahrens, dem redlichen Schuldner Gelegenheit zu geben, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien. Die Restschuldbefreiung nach § 301 InsO sei aber ausdrücklich auf Insolvenzgläubiger beschränkt. Hätte der Gesetzgeber die Restschuldbefreiung auch auf Masseverbindlichkeiten erstrecken wollen, so hätte er dies entsprechend regeln müssen.Soweit die BGH-Rechtsprechung von einer sog. Haftungsbeschränkung für Masseverbindlichkeiten ausgehe, die nach Verfahrenseröffnung durch Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters begründet worden sind, lasse sich dies auf Steuerschulden nicht übertragen, so dass insoweit keine „Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners“ besteht. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VII R 1/16
1. Masseverbindlichkeiten werden von einer Restschuldbefreiung nicht erfasst.2. Steuerschulden, die als Masseverbindlichkeiten entstanden sind, können nach Abschluss des Insolvenzverfahrens mit Erstattungsansprüchen des ehemaligen Insolvenzschuldners verrechnet werden. Der Verrechnung stehen eine dem Insolvenzverfahren immanente sog. Haftungsbeschränkung bzw. eine Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners nicht entgegen. Tenor Auf die Revision des Finanzamts wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 9. Dezember 2015  8 K 1112/15 aufgehoben.Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen. Tatbestand I.Über das Vermögen des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) wurde am 15. März 2007 das Insolvenzverfahren eröffnet. Für das Jahr 2008 entstand aufgrund der Verwertung von Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter Einkommensteuer, die aus der Masse nicht bezahlt wurde.Am 20. März 2012 zeigte der Insolvenzverwalter Masseunzulänglichkeit an. Am 15. Juli 2013 wurde das Insolvenzverfahren eingestellt; dem Kläger wurde Restschuldbefreiung erteilt.Mit Bescheid vom 27. März 2015 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) Einkommensteuer für 2013 fest. Aufgrund von Vorauszahlungen und einbehaltener Lohnsteuer führte die Festsetzung zu einem Erstattungsanspruch des Klägers. Diesen verrechnete das FA mit der noch offenen Forderung aus Einkommensteuer 2008 und erließ am 31. März 2015 einen entsprechenden Abrechnungsbescheid.Den Einspruch des Klägers wies das FA als unbegründet zurück.Die dagegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, der Aufrechnung stehe § 390 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) i.V.m. § 226 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) entgegen; denn die Forderung aus Einkommensteuer 2008 sei als Masseforderung wegen der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners einredebehaftet. Das Verfügungsrecht des Insolvenzverwalters sei auf die zur Insolvenzmasse gehörenden Gegenstände beschränkt; der Insolvenzverwalter könne nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) den Insolvenzschuldner im Hinblick auf dessen insolvenzfreies Vermögen nicht verpflichten (BGH-Teilurteil vom 24. September 2009 IX ZR 234/07, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2010, 69). Dementsprechend gehe auch der Bundesfinanzhof (BFH) von einer nur beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners für Masseverbindlichkeiten aus (BFH-Urteil vom 26. Mai 2013 IV R 23/11, BFHE 241, 233, BStBl II 2013, 759). Der Abrechnungsbescheid sei daher in der vom Kläger beantragten Höhe aufzuheben. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 785 veröffentlicht.Mit seiner Revision trägt das FA im Wesentlichen vor, für die Auffassung des FG, der als Masseforderung entstandenen Steuerforderung stehe eine Einrede entgegen, gebe es keine gesetzliche Grundlage. § 80 der Insolvenzordnung (InsO) entfalte Wirkung nur für das laufende Insolvenzverfahren; nach dessen Beendigung sei die Unterscheidung zwischen Masse und insolvenzfreiem Vermögen obsolet. Folgte man der Auffassung des FG, könnte die nicht beglichene Masseforderung weder beim Steuerschuldner noch, da § 61 InsO nach der BGH-Rechtsprechung (BGH-Beschluss vom 14. Oktober 2010 IX ZB 224/08, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht --ZIP-- 2010, 2252) bei Steuerforderungen nicht eingreife, beim Insolvenzverwalter erhoben werden. Faktisch führe dies zu einem Erlass der nach Beendigung des Insolvenzverfahrens noch offenen Masseverbindlichkeiten.Der Kläger erwidert, der Grundsatz, dass der Schuldner für Masseverbindlichkeiten ausschließlich mit der Insolvenzmasse hafte, gelte auch für die Zeit nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens. Schon der BGH habe in ständiger Rechtsprechung seit dem Jahr 1954 zur damals geltenden Konkursordnung entschieden, dass ein Konkursverwalter nur die Rechtsmacht habe, Masseverbindlichkeiten zu begründen, nicht hingegen die Befugnis, den Schuldner persönlich mit seinem insolvenzfreien Vermögen zu verpflichten. Das entspreche auch der gesicherten BFH-Rechtsprechung; der Auffassung des IV. Senats habe sich inzwischen auch der X. Senat angeschlossen (BFH-Beschluss vom 18. Dezember 2014 X B 89/14, BFH/NV 2015, 470, und BFH-Urteil vom 9. Dezember 2014 X R 12/12, BFHE 252, 482, BStBl II 2016, 852). Die gegenteilige Ansicht widerspreche dem in § 1 Satz 2 InsO niedergelegten Zweck des Insolvenzverfahrens bzw. der Restschuldbefreiung. Dass nach dem Wortlaut des § 301 InsO der redliche Schuldner nur von den Insolvenzforderungen befreit werde, nicht aber von den Masseverbindlichkeiten, sei ein kapitaler "Webfehler" der Insolvenzordnung. Daher müsse unterstellt werden, dass der Gesetzgeber an die BGH-Rechtsprechung habe anknüpfen wollen, der zufolge auch nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens aufgrund von Masseverbindlichkeiten nicht auf das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners zugegriffen werden dürfe. Dies zeige indiziell auch die Regelung des § 201 Abs. 1 InsO, die gerade nicht für Masseforderungen gelte. Schließlich sprächen auch das Leistungsfähigkeitsprinzip und der Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gegen die von der Revision angestrebte Lösung; denn sämtliche Einnahmen aus der Verwertung der Insolvenzmasse seien dem Zugriff des Insolvenzschuldners entzogen. Gründe II.Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Urteil verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO). Das FG hat den Abrechnungsbescheid zu Unrecht teilweise aufgehoben.Das FA hat nach Einstellung des Insolvenzverfahrens wirksam gegenüber dem Kläger mit seiner Forderung aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag 2008 aufgerechnet. Der Anspruch des Klägers auf Erstattung der Einkommensteuer 2013 ist dadurch in der hier streitigen Höhe erloschen.1. Aufgrund der von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen, die für den erkennenden Senat bindend sind (§ 118 Abs. 2 FGO), ist davon auszugehen, dass der Kläger einen Erstattungsanspruch aus Einkommensteuer für 2013 hatte und dass diesem Anspruch gleichartige Leistungen (§ 387 BGB i.V.m. § 226 Abs. 1 AO) in Form von Steuerforderungen des FA aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für 2008 gegenüberstanden.2. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO steht der Aufrechnung nicht entgegen, auch nicht im Fall einer entsprechenden Anwendung dieser Regelung zu Lasten von Altmassegläubigern nach angezeigter Masseunzulänglichkeit (vgl. MünchKommInsO-Hefermehl InsO § 210 Rz 12). Denn im Streitfall war das Insolvenzverfahren zum Zeitpunkt der Aufrechnung bereits beendet (vgl. auch BFH-Urteil vom 13. Dezember 2016 VII R 1/15, BFHE 256, 388, BStBl II 2017, 541).3. Die Forderung des FA aus Einkommensteuer 2008 fällt als Masseverbindlichkeit nicht unter die dem Kläger erteilte Restschuldbefreiung.Die Restschuldbefreiung wirkt gemäß § 286 und § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO gegen alle Insolvenzgläubiger. Insolvenzgläubiger sind alle persönlichen Gläubiger des Schuldners, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (§ 38 InsO). Der anspruchsbegründende Tatbestand muss also bereits vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen sein (vgl. auch BGH-Urteil vom 5. April 2016 VI ZR 283/15, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2017, 37).Massegläubiger (§ 53 InsO) sind keine Insolvenzgläubiger und Masseverbindlichkeiten sind keine Insolvenzforderungen. Daher werden Masseverbindlichkeiten nach dem eindeutigen Wortlaut des § 301 Abs. 1 Satz 1 InsO und der Systematik der §§ 35 ff. und 286 ff. InsO von der Restschuldbefreiung nicht erfasst.Sinn und Zweck der Regelungen über die Restschuldbefreiung gebieten es nicht, deren Wirkung über den Wortlaut des § 301 InsO hinaus auch auf Masseforderungen zu erstrecken (offen gelassen in BGH-Urteil vom 28. Juni 2007 IX ZR 73/06, Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung --NZI-- 2007, 670, Rz 16; wie hier: Uhlenbruck/Sternal InsO § 301 Rz 6; MünchKommInsO-Stephan InsO § 301 Rz 8; Wenzel in Kübler/ Prütting/Bork, InsO, § 301, Rz 3; Waltenberger in Kayser/ Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 8. Aufl. 2016, § 301 Rz 15; HambKomm/Streck, InsO, 6. Aufl., § 301 Rz 3; Kexel in Graf-Schlicker, InsO, § 301 Rz 4; a.A.: Voigt, Weiter im Schuldturm trotz Restschuldbefreiung? Gedanken zur Auslegung von §§ 286, 301 InsO, ZInsO 2002, 569, 572 f.).Zwar trifft es zu, dass es das Ziel des Insolvenzverfahrens ist, dem redlichen Schuldner Gelegenheit zu geben, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien (§ 1 Satz 2 InsO). Aber unter welchen formellen und materiellen Voraussetzungen und in welchem Umfang dies geschehen soll, wird allein durch die gesetzlichen Regelungen der InsO bestimmt, im Fall der Restschuldbefreiung durch § 301 InsO. Die in dieser Regelung klar vorgegebene Reichweite der Restschuldbefreiung kann nicht unter Hinweis auf die allgemeine Zielsetzung der InsO auf Masseverbindlichkeiten ausgedehnt werden. Hätte der Gesetzgeber Masseverbindlichkeiten in die Restschuldbefreiung einbeziehen wollen, hätte er den Anwendungsbereich des § 301 InsO nicht ausdrücklich auf Insolvenzgläubiger beschränkt.Aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip und Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich kein anderes Ergebnis herleiten. Einnahmen, die aus der Verwertung der Insolvenzmasse resultieren, sind Einnahmen des Insolvenzschuldners, ohne dass es darauf ankommt, ob die Einkünfte in das insolvenzfreie Vermögen fließen oder in die Insolvenzmasse (so schon BFH-Urteil vom 7. November 1963 IV 210/62 S, BFHE 78, 172, BStBl III 1964, 70; Roth, Insolvenzsteuerrecht, 2. Aufl. 2016, Rz 4.10 f.). Die fehlende Verfügungsbefugnis über das insolvenzbefangene Vermögen (vgl. § 80 InsO) berührt das Steuerrechtsverhältnis nicht (s. im Einzelnen unten: II.4.c bb).4. Der Aufrechnung des FA steht auch keine auf § 80 Abs. 1 InsO zurückzuführende Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners entgegen.a) Gemäß § 80 Abs. 1 InsO geht durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und darüber zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über. Damit verliert der Insolvenzschuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis in Bezug auf sein vom Insolvenzbeschlag erfasstes Vermögen. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, die gemeinschaftliche Befriedigung aller persönlichen Gläubiger zu sichern (vgl. Uhlenbruck/Mock InsO § 80 Rz 4; Lüke in Kübler/Prütting/Bork, a.a.O., § 80 InsO, Rz 3).Mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 200 InsO) bzw. mit dessen Einstellung (§§ 207 ff. InsO) endet grundsätzlich auch die Wirkung des § 80 Abs. 1 InsO; der Insolvenzschuldner erhält seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis zurück (s.a. Uhlenbruck/Mock, a.a.O., § 80 Rz 7).b) Allerdings leitet der BGH aus § 80 Abs. 1 InsO eine sog. Haftungsbeschränkung auch für solche Masseverbindlichkeiten ab, die nach Verfahrenseröffnung durch Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters begründet worden sind (BGH-Teilurteil in NJW 2010, 69, Rz 12, mit zahlreichen weiteren Nachweisen).Der Insolvenzschuldner bleibe zwar Schuldner aller durch die Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters nach Verfahrenseröffnung begründeten Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 InsO). Allerdings beschränke sich die Haftung während des Verfahrens auf die Gegenstände der Insolvenzmasse. Es handele sich um eine dem Verfahren immanente Haftungsbeschränkung. Für diese sei maßgeblich, dass der Verwalter nicht befugt sei, den Schuldner persönlich mit seinem insolvenzfreien Vermögen zu verpflichten, weil seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO auf das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen beschränkt sei (BGH-Teilurteil in NJW 2010, 69, Rz 12).Der BGH verweist dabei auf eine frühere Entscheidung, in der er eine entsprechende Beschränkung der Inanspruchnahme auch für die Zeit nach Beendigung der (Zwangs-)Verwaltung bejaht hat, nachdem also das Verwaltungs- und Verfügungsrecht wieder auf den Vermögensinhaber übergegangen ist (BGH-Urteil vom 25. November 1954 IV ZR 81/54, NJW 1955, 339). Der BGH führte in diesem Zusammenhang aus, es sei zunächst für den Konkursverwalter ausgesprochen worden, dass der Vermögensinhaber für die von ihm Dritten gegenüber begründeten rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten nur mit dem mit Beschlag belegten Vermögen hafte und dass er mit seinem verwaltungsfreien Vermögen für diese Schulden nicht einstehen müsse. Das folge daraus, dass das Verwaltungsrecht des Konkursverwalters auf das dem Konkursbeschlag unterworfene Vermögen beschränkt sei. Es handele sich um einen allgemeinen Grundsatz des deutschen Rechts, der in verschiedenen Bestimmungen des Gesetzes seinen Ausdruck gefunden habe (wird unter 2.c) der Entscheidungsgründe ausgeführt).Auch das insolvenzrechtliche Schrifttum geht ganz überwiegend davon aus, dass sich eine Haftung des Insolvenzschuldners für Ansprüche, die erst während des Insolvenzverfahrens als Masseansprüche begründet und nicht aus der Masse gezahlt worden sind, auch nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nur auf Massegegenstände beschränkt, die als Überschuss dem Schuldner zurückgegeben werden (§ 199 Satz 1 InsO), oder auf Gegenstände, die der Insolvenzverwalter als unverwertbar freigegeben hat (§ 197 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO). Denn --so auch hier die Begründung-- die Tätigkeit des Verwalters beschränke sich ausschließlich auf das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen; eine Haftung des gesamten Vermögens des Schuldners nach Beendigung des Insolvenzverfahrens könne daher durch das Handeln des Verwalters nicht begründet werden (s. z.B. MünchKommInsO-Hintzen § 201 Rz 16, und MünchKommInsO-Hefermehl § 53 Rz 34a). Dafür fehle es an einer rechtlichen Grundlage (so Meller-Hannich in Jaeger, InsO, § 201 Rz 8). Die Beschränkung der Schuldnerhaftung auf die Restmasse sei für die Massegläubiger auch nicht unzumutbar, weil der Insolvenzverwalter nach § 61 InsO für die Erfüllung dieser Masseverbindlichkeiten hafte (so Uhlenbruck/Wegener, a.a.O., § 201 Rz 17, unter Hinweis auf BGH-Urteil vom 6. Mai 2004 IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104, ZIP 2004, 1107).Dagegen befürwortet ein Teil des Schrifttums eine uneingeschränkte Haftung des Insolvenzschuldners für Masseverbindlichkeiten, insbesondere auch für Steuerforderungen (HambKommInsO-Herchen, a.a.O., § 201 Rz 6 f.; Runkel/ Schnurbusch, Rechtsfolgen der Masseunzulänglichkeit, NZI 2000, 49; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz 25.30 f.). Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass es im Geltungsbereich der InsO (und der Konkursordnung) an Vorschriften fehle, die der Konzeption der §§ 1967 ff. bzw. 1993 ff., 1975 ff. BGB entsprächen; soweit aber solche Regelungen nicht existierten, müsse das gesamte Vermögen einer Person ihren Gläubigern haften (so Runkel/Schnurbusch, NZI 2000, 49, 56 f.).c) Unabhängig davon, ob man der Auffassung des BGH und der herrschenden Ansicht im insolvenzrechtlichen Schrifttum grundsätzlich folgen mag, gilt eine auf § 80 Abs. 1 InsO gestützte Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners jedenfalls nicht in Bezug auf die hier streitigen Steuerschulden für die Zeit nach Beendigung des Insolvenzverfahrens.aa) Der erkennende Senat hat zunächst Zweifel, ob die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung begründete Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners für die Zeit nach Beendigung des Konkurs- bzw. Insolvenzverfahrens noch Bestand haben kann, nachdem zum 1. Januar 1999 die InsO in Kraft getreten ist. Denn eine solche Einrede ist in der InsO nicht kodifiziert worden. Dies hätte aber in Anbetracht der weitreichenden Folgen einer solchen Einrede nahegelegen, und zwar umso mehr, als sie im Ergebnis einer in § 301 InsO gerade nicht vorgesehenen Ausdehnung der Wirkung der Restschuldbefreiungen auf Masseverbindlichkeiten gleichkommt.In seinem Teilurteil vom 24. September 2009 in NJW 2010, 69, Rz 12 hat sich der BGH tatsächlich auch nur zu einer Haftungsbeschränkung während des Insolvenzverfahrens geäußert, auch wenn er sich dabei gleichwohl --ohne jede Einschränkung-- auf die frühere BGH-Rechtsprechung bezieht.bb) Doch braucht diese Frage im Hinblick auf die hier streitigen Steuerschulden nicht entschieden zu werden.Der Steuerpflichtige ist als Subjekt der Einkommensteuer (§ 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) grundsätzlich zugleich auch Steuerschuldner (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG). Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ändert daran nichts. Das öffentlich-rechtliche Steuerschuldverhältnis gegenüber dem Steuerpflichtigen bleibt bestehen (vgl. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 251 AO, Rz 41, m.w.N.; ebenso Uhländer in: Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 11. Aufl. 2015, S. 645 f.).Die Einkommensteuerschuld des Steuerpflichtigen entsteht kraft Gesetzes durch Verwirklichung des maßgeblichen Tatbestands (§ 38 AO), nicht dadurch, dass der Insolvenzverwalter den insolventen Steuerpflichtigen aufgrund seiner Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO zur Zahlung der Steuer verpflichtet. Lediglich mittelbar knüpft die Steuer an die Handlungen des Insolvenzverwalters an, soweit diese zu Einkünften i.S. der §§ 2 ff. EStG führen, die dem Steuerpflichtigen nach den allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Bestimmungen zuzurechnen sind. Daher kann es hinsichtlich der Frage, mit welchem Vermögen der Steuerpflichtige nach Abschluss des Insolvenzverfahrens für die noch bestehenden Steuerschulden einstehen muss, nicht auf die Reichweite der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse des Insolvenzverwalters ankommen.cc) Eine solche Differenzierung legt im Grunde auch schon die Rechtsprechung des BGH nahe. Denn auch der BGH unterscheidet in dem oben genannten Urteil (BGH-Teilurteil in NJW 2010, 69, Rz 19 ff.) zwischen Verbindlichkeiten, die nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 InsO durch Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters begründet werden, und solchen, die den Schuldner unmittelbar aufgrund gesetzlicher Regelungen treffen.So hat der BGH zwar entschieden, dass der Insolvenzschuldner auch für die Kosten des Insolvenzverfahrens (§ 54 InsO) nicht mit seinem Privatvermögen haftet. Der Grund hierfür liegt aber nach Auffassung des BGH nicht in der nur beschränkten Verwaltungs- und Verfügungsmacht des Insolvenzverwalters nach § 80 Abs. 1 InsO. Denn die Kosten unterschieden sich --so der BGH-- von den in § 55 Abs. 1 Nr. 1 Fall 1 InsO genannten Verbindlichkeiten schon dadurch, dass sie nicht erst durch Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters begründet werden. Ihre Grundlage hätten sie vielmehr bereits in der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 58 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes, § 63 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 1 Abs. 1 der Insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung). Dass der Insolvenzschuldner gleichwohl nicht mit seinem Privatvermögen hafte, beruhe allein darauf, dass die Kosten des Insolvenzverfahrens nach den einschlägigen insolvenzrechtlichen Bestimmungen darauf angelegt seien, allein aus der Masse des insolventen Rechtsträgers beglichen zu werden (BGH-Teilurteil in NJW 2010, 69, Rz 21, m.w.N.). Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 InsO weise das Insolvenzgericht den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ab, wenn das Vermögen des Schuldners voraussichtlich nicht ausreichen werde, um die Kosten des Verfahrens zu decken. Nach § 207 Abs. 1 Satz 1 InsO sei das Verfahren einzustellen, wenn sich nach Verfahrenseröffnung herausstelle, dass die Insolvenzmasse nicht ausreiche, um die Kosten des Verfahrens zu decken. Nach diesen Vorschriften sei also die Deckung der Verfahrenskosten aus der Masse grundsätzlich Voraussetzung für die Durchführung eines Insolvenzverfahrens (s.a. BGH-Beschluss vom 16. Juli 2009 IX ZB 221/08, ZIP 2009, 1591, Rz 9).Entsprechende Regelungen für die Einkommensteuer, denen zufolge die Deckung der als Masseverbindlichkeiten entstehenden Steuerschulden Voraussetzung für die Durchführung eines Insolvenzverfahrens ist, gibt es in der InsO nicht.dd) Es gibt auch im Übrigen keine gesetzlichen Regelungen, nach denen die Steuerschuld auf das ehemals zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen des Steuerpflichtigen nach Abschluss des Insolvenzverfahrens beschränkt ist. Auch aus § 201 InsO lässt sich eine solche Beschränkung nicht herleiten.ee) Dass sich eine Einrede der beschränkten Haftung des Insolvenzschuldners nicht auf die hier streitigen Steuerschulden erstrecken kann, erscheint auch insoweit sachgerecht und konsequent, als die BGH-Rechtsprechung den Begriff "Rechtshandlung" in § 61 InsO eng auslegt mit der Folge, dass ein Insolvenzverwalter, der es unterlässt, Steuern an das Finanzamt abzuführen, die durch die Verwertung von Masse als Masseverbindlichkeiten entstanden sind, hierfür nicht persönlich haftet (BGH-Beschluss in ZIP 2010, 2252, unter Berufung auf BGH-Urteil vom 2. Dezember 2004 IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236, ZIP 2005, 131; s.a. Lüke in Kübler/Prütting/Bork, a.a.O., § 61 Rz 4d; MünchKommInsO-Schoppmeyer, a.a.O., § 61 Rz 11).d) Aus dem Umstand, dass sich der IV. Senat des BFH der Rechtsprechung des BGH angeschlossen hat (BFH-Urteil in BFHE 241, 233, BStBl II 2013, 759, Rz 27 ff.), ergibt sich nichts anderes.Zwar führt auch der IV. Senat des BFH in seinem Urteil aus, die Rechtsmacht des Verwalters, mit Wirkung für und gegen den Schuldner zu handeln, sei gegenständlich nach § 80 Abs. 1 InsO auf die Insolvenzmasse beschränkt; er könne ausschließlich Masseverbindlichkeiten begründen, nicht hingegen den Schuldner persönlich mit seinem insolvenzfreien Vermögen verpflichten (BFH-Urteil in BFHE 241, 233, BStBl II 2013, 759, Rz 30). Doch geht es in dem vom IV. Senat des BFH entschiedenen Fall allein um die Frage, ob die Einkommensteuer auf Veräußerungsgewinne, die der Insolvenzverwalter durch Verwertung der zur Insolvenzmasse gehörenden Wirtschaftsgüter erzielt hat, in voller Höhe als sonstige Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu qualifizieren und gegenüber dem Insolvenzverwalter als Bekanntgabeadressat geltend zu machen ist. Dabei beziehen sich die Ausführungen des IV. Senats des BFH --ebenso wie die des BGH-Teilurteils in NJW 2010, 69-- auf ein noch nicht abgeschlossenes Insolvenzverfahren. Zu der Frage, welche Konsequenzen sich aus der Rechtsprechung des BGH in Bezug auf die sog. Nachhaftung des ehemaligen Insolvenzschuldners für die als Masseverbindlichkeiten entstandene Steuerschulden nach Abschluss des Insolvenzverfahrens ergeben, äußert sich der IV. Senat nicht.Das gilt auch für die von der Revision angeführten Entscheidungen des X. Senats des BFH (BFH-Urteil in BFHE 252, 482, BStBl II 2016, 852, und BFH-Beschluss in BFH/NV 2015, 470).5. In Anbetracht dieses Ergebnisses kann dahingestellt bleiben, ob die streitigen Steuerschulden des Klägers aus Einkommensteuer für 2008 --wie vom FG festgestellt-- insgesamt als Masseverbindlichkeiten i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO anzusehen (vgl. dazu im Einzelnen BFH-Urteil in BFHE 241, 233, BStBl II 2013, 759, m.w.N.) oder teilweise --wie vom FA mit der Revision vorgetragen-- dem insolvenzfreien Bereich des Klägers zuzuordnen sind (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2015 VII R 27/14, BFHE 248, 518, BStBl II 2015, 993; s. allgemein auch Paul in Graf-Schlicker, InsO § 55 Rz 19 ff.; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 251 AO Rz 72). Denn auch dann, wenn bzw. soweit es sich um Masseverbindlichkeiten gehandelt hat, war die Aufrechnung --wie dargelegt-- zulässig.6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_045-16
29. Juni 2016
Ausgleichs- und Abzugsbeschränkung für Verluste aus betrieblichen Termingeschäften verfassungsgemäß 29. Juni 2016 - Nummer 045/16 - Urteil vom 28.04.2016 IV R 20/13 Die Ausgleichs- und Abzugsbeschränkung für Verluste aus betrieblichen Termingeschäften nach § 15 Abs. 4 Satz 3 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist grundsätzlich verfassungsgemäß. Wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 28. April 2016 IV R 20/13 entschieden hat, gilt dies zumindest dann, wenn derartige Verluste noch mit späteren Gewinnen aus entsprechenden Geschäften verrechnet werden können und es deshalb noch nicht zu einer endgültigen Einkommensteuerbelastung kommt.Im Urteilsfall hatte eine Personengesellschaft, deren Geschäftszweck in erster Linie die Verpachtung von Grundstücken war, liquide Mittel in Zins-Währungs-Swaps investiert und daraus erhebliche Verluste bezogen. Das Finanzamt hatte die Feststellung getroffen, dass die Verluste solche aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG seien. Deshalb kam es nicht zu einer Verrechnung mit den im Übrigen erzielten Gewinnen. Zugleich ergab sich aus der Feststellung, dass die Verluste nur mit künftigen Gewinnen aus Termingeschäften verrechenbar waren.Die sich aus § 15 Abs. 4 Satz 3 ff. EStG ergebende Ausgleichs- und Abzugsbeschränkung ist nach dem Urteil des BFH jedenfalls in den Fällen verfassungsgemäß, in denen dem Steuerpflichtigen eine entsprechende Verlustnutzung in zukünftigen Jahren grundsätzlich noch möglich ist. Denn verfassungsrechtlich ist es nicht geboten, dass sich ein Verlust steuerlich schon im Veranlagungsjahr seiner Entstehung auswirken muss. Auch die Schlechterstellung betrieblicher Verluste aus Termingeschäften gegenüber sonstigen betrieblichen Verlusten, die grundsätzlich in vollem Umfang im Veranlagungsjahr verrechnet werden können, ist sachlich gerechtfertigt. Denn bei den von der Regelung betroffenen Termingeschäften handelt es sich um hochspekulative und damit besonders risikogeneigte Geschäfte, und der Eintritt von Verlusten bei solchen Geschäften ist daher deutlich wahrscheinlicher als der Eintritt von Verlusten bei sonstigen betrieblichen Tätigkeiten. Der Gesetzgeber ist berechtigt, derartige risikogeneigten betrieblichen Tätigkeiten, auch wenn sie mit Gewinnerzielungsabsicht unternommen werden, steuerlich anders zu behandeln als sonstige betriebliche Tätigkeiten, die nicht einen vergleichbar spekulativen Charakter haben. Ob die Ausgleichs- und Abzugsbeschränkung als verfassungswidrig anzusehen sein könnte, wenn eine Verlustnutzung in späteren Jahren z.B. wegen einer verlustbedingten Einstellung des Geschäftsbetriebs nicht möglich ist, war im Streitfall nicht zu entscheiden. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: IV R 20/13
Die Ausgleichs- und Abzugsbeschränkung für Verluste aus betrieblichen Termingeschäften in § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG ist jedenfalls in den Fällen, in denen es nicht zu einer Definitivbelastung kommt, verfassungsgemäß. Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 8. April 2013  10 K 3512/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen. Tatbestand A. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist als ehemaliger und einziger Kommanditist prozessualer Rechtsnachfolger der während des finanzgerichtlichen Verfahrens im Jahr 2011 vollbeendeten A-KG (KG). Deren Komplementärin war die nicht am Kapital beteiligte B-GmbH. Gesellschaftszweck der KG war die Verpachtung von Grundstücken.Seit 2005 zeichnete die KG Zins-Währungs-Swaps. In ihrer Feststellungserklärung für das Streitjahr 2009 erklärte sie nach Abzug von Verlusten aus Swapgeschäften in Höhe von 243.575 € einen Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von 28.527 €. Im Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 11. März 2011 für das Streitjahr (Feststellungsbescheid) stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 272.102 € sowie darin nicht enthaltene negative Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr maßgebenden Fassung (EStG) in Höhe von 243.575 € fest. Einspruch und Klage, mit der der Kläger beantragte, unter Streichung der negativen Einkünfte aus Termingeschäften gewerbliche Einkünfte in Höhe von 28.527 € festzustellen, blieben erfolglos. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Deutsches Steuerrecht-Entscheidungsdienst 2015, 270 abgedruckt.Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG sei verfassungswidrig.Er beantragt,das angefochtene Urteil des FG, die Einspruchsentscheidung vom 15. September 2011 sowie die Feststellung negativer Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG im Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung vom 11. März 2011 aufzuheben.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe B. Die Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Im Ergebnis zu Recht sind FA und FG davon ausgegangen, dass § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG verfassungsgemäß ist und die in den gewerblichen Einkünften der KG enthaltenen Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG im angegriffenen Feststellungsbescheid gesondert festzustellen sind.I. Nach § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG gelten die Sätze 1 und 2 der Vorschrift, wonach die dort genannten Verluste (Verluste aus gewerblicher Tierzucht oder gewerblicher Tierhaltung) weder mit anderen Einkünften aus Gewerbebetrieb noch mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten ausgeglichen noch nach § 10d EStG abgezogen werden dürfen (Satz 1), sondern nach Maßgabe des § 10d EStG die Gewinne mindern, die der Steuerpflichtige in dem unmittelbar vorangegangenen und in den folgenden Wirtschaftsjahren aus gewerblicher Tierzucht oder gewerblicher Tierhaltung erzielt hat oder erzielt (Satz 2), entsprechend für Verluste aus Termingeschäften, durch die der Steuerpflichtige einen Differenzausgleich oder einen durch den Wert einer veränderlichen Bezugsgröße bestimmten Geldbetrag oder Vorteil erlangt. Satz 3 gilt nicht für die Geschäfte, die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen i.S. des Gesetzes über das Kreditwesen (KWG) gehören oder die der Absicherung von Geschäften des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs dienen (§ 15 Abs. 4 Satz 4 EStG). Satz 4 gilt nicht, wenn es sich um Geschäfte handelt, die der Absicherung von Aktiengeschäften dienen, bei denen der Veräußerungsgewinn nach § 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. a und b EStG i.V.m. § 3c Abs. 2 EStG teilweise steuerfrei ist, oder die nach § 8b Abs. 2 des Körperschaftsteuergesetzes bei der Ermittlung des Einkommens außer Ansatz bleiben (§ 15 Abs. 4 Satz 5 EStG).1. Ob und in welcher Höhe in den gewerblichen Einkünften einer Personengesellschaft (positive oder negative) Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG enthalten sind und wie sich diese Verluste auf die Gesellschafter verteilen, ist gemäß § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung im Verfahren der gesonderten und einheitlichen Feststellung zu entscheiden. Es handelt sich um eine mit der gesonderten Feststellung der gewerblichen Einkünfte im Zusammenhang stehende Besteuerungsgrundlage. Die Entscheidung über die daran geknüpften Rechtsfolgen --bei Verlusten insbesondere die Versagung des vertikalen Verlustausgleichs-- ist hingegen erst bei den Einkommensteuerveranlagungen der Gesellschafter zu treffen (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. August 1985 I R 130/82, BFHE 144, 553, BStBl II 1986, 146, und vom 14. September 1989 IV R 88/88, BFHE 158, 353, BStBl II 1990, 152, zu der insoweit vergleichbaren Regelung in § 15 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG). Sind in den gewerblichen Einkünften einer Personengesellschaft (positive oder negative) Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG enthalten, so sind in dem Feststellungsbescheid zunächst die gewerblichen Einkünfte (einschließlich der Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG) und deren Verteilung auf die einzelnen Gesellschafter als selbständige Besteuerungsgrundlagen festzustellen. Daneben sind als weitere selbständige Besteuerungsgrundlagen die in den festgestellten gewerblichen Einkünften enthaltenen (positiven oder negativen) Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 EStG und deren Verteilung auf die Gesellschafter gesondert festzustellen. Es kommt also nicht nur der Feststellung der gewerblichen Einkünfte, sondern ebenso der Feststellung der darin enthaltenen Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG bindende Wirkung für die nachfolgende Veranlagung des einzelnen Gesellschafters zu.2. Mit der Qualifizierung von gewerblichen Einkünften als solche aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG wird --dem Sinn und Zweck des Feststellungsverfahrens entsprechend-- für sämtliche Beteiligte übereinstimmend darüber entschieden, dass diese Einkünfte den Ausgleichs- und Abzugsbeschränkungen des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG zu unterwerfen sind und somit auch, dass diese Vorschrift im Veranlagungsverfahren anzuwenden ist. Diese Anwendung hängt allerdings von der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift ab, deren Prüfung daher schon im Feststellungsverfahren zu erfolgen hat (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 18. Dezember 1989 IV B 37/89, BFH/NV 1990, 570, und BFH-Urteil vom 26. März 1996 IX R 12/91, BFHE 180, 223, BStBl II 1996, 606, zu der insoweit vergleichbaren Regelung in § 2a EStG).3. Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass die KG im Streitjahr gewerbliche Einkünfte in Höhe von 28.527 € erzielt hat und darin (negative) Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG in Höhe von 243.575 € enthalten sind. Das FA hat dies zwar im Feststellungsbescheid insoweit fehlerhaft umgesetzt, als es gewerbliche Einkünfte in Höhe von 272.102 € und darin nicht enthaltene negative Einkünfte aus Termingeschäften in Höhe von 243.575 € festgestellt hat. Dies kann allerdings nicht zum Nachteil des Klägers gereichen, der sich nicht gegen die vom FA zugrunde gelegte Höhe der von der KG im Streitjahr insgesamt erzielten gewerblichen Einkünfte wendet und etwa geltend macht, es müssten noch negative Einkünfte aus Termingeschäften berücksichtigt werden, sondern allein dagegen, dass die von der KG erzielten Einkünfte aus Termingeschäften auf der Grundlage des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG, den er für verfassungswidrig und daher für nicht anwendbar hält, gesondert festgestellt wurden.Unter den besonderen Umständen des Streitfalles ist daher von der Feststellung gewerblicher Einkünfte der KG in Höhe von 28.527 € und darin enthaltenen negativen Einkünften aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG auszugehen. Nur letztere greift der Kläger an mit der Begründung, es fehle an einer verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage. Da die Höhe der gewerblichen Einkünfte danach nicht angegriffen ist, hat der Senat nicht zu beurteilen, ob die von der KG im Streitjahr erlittenen Verluste aus Termingeschäften überhaupt betrieblich veranlasst waren (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil vom 23. April 2009 IV R 87/05, BFH/NV 2009, 1650, m.w.N.).II. Die Verlustausgleichs- und -abzugsbeschränkung des § 15 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Sätze 1 und 2 EStG ist jedenfalls, solange es --wie im Streitfall-- nicht zu einer Definitivbelastung kommt, verfassungsgemäß. Sie verstößt insbesondere nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).1. Im Streitfall kommt es durch die Anwendung des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG nicht zu einer Definitivbelastung dergestalt, dass eine Nutzung der Verluste aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG endgültig nicht mehr möglich ist. Ungeachtet des Umstandes, dass die KG nicht bereits im Streitjahr, sondern erst im Jahr 2011 vollbeendet wurde, kommt es für die Frage einer Definitivbelastung nicht auf die KG, sondern auf den Kläger als (ehemaligen) Gesellschafter der KG an. Denn es geht darum, ob er als Steuersubjekt der Einkommensteuer die auf ihn entfallenden Verluste aus Termingeschäften bei seiner Veranlagung zur Einkommensteuer noch nutzen kann. Das ist der Fall, denn er hat nach § 15 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Satz 2 und § 10d Abs. 1 und Abs. 2 EStG die Möglichkeit, die auf ihn entfallenden Verluste aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG zu Lebzeiten mit von ihm allein oder aus einer Beteiligung erzielten positiven Einkünften aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG auszugleichen. Die Frage, ob § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG auch im Fall einer Definitivbelastung verfassungsgemäß wäre, stellt sich daher im Streitfall nicht.2. Vor Eintritt einer Definitivbelastung bestehen gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG keine durchgreifenden Bedenken.a) Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 12. Mai 2009  2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111).b) Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als rechtlich gleich qualifiziert, wird hier, insbesondere im Bereich des Einkommensteuerrechts, vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt: durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit. Danach muss im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern, während die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedrigerer Einkommen angemessen sein muss. Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands muss die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig i.S. der Belastungsgleichheit umgesetzt werden. Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes (ständige Rechtsprechung, z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 123, 111).c) Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst der einfache Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits. Das BVerfG hat bisher offengelassen, ob das objektive Nettoprinzip, wie es in § 2 Abs. 2 EStG zum Ausdruck kommt, Verfassungsrang hat; jedenfalls aber kann der Gesetzgeber dieses Prinzip beim Vorliegen gewichtiger Gründe durchbrechen und sich dabei generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen bedienen (ständige Rechtsprechung, z.B. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 123, 111).3. Das objektive Nettoprinzip gebietet danach zwar den Abzug von Aufwendungen, die mit der Einkunftserzielung in einem unmittelbaren Sachzusammenhang stehen, allerdings von Verfassungs wegen nicht notwendigerweise in jedem einzelnen --aus rein erhebungstechnischen Gründen gewählten-- Veranlagungszeitraum. Danach wird eine Beschränkung des vertikalen Verlustausgleichs durch das allgemeine Leistungsfähigkeitsprinzip nicht grundsätzlich ausgeschlossen, solange nur tatsächlich entstandene Verluste überhaupt, ggf. in einem anderen Veranlagungszeitraum, und wenn auch beschränkt auf die gleiche Einkunftsart, steuerlich berücksichtigt werden. Denn Art. 3 Abs. 1 GG entfaltet seine Wirkung grundsätzlich Veranlagungszeitraum übergreifend (z.B. BFH-Urteile vom 18. Oktober 2006 IX R 28/05, BFHE 215, 202, BStBl II 2007, 259, und vom 10. Februar 2015 IX R 8/14, BFH/NV 2015, 830; BFH-Beschluss vom 29. April 2005 XI B 127/04, BFHE 209, 379, BStBl II 2005, 609, jeweils m.w.N.). Dass negative Einkünfte aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG nach dieser Vorschrift nur noch nach Maßgabe des § 10d EStG mit positiven Einkünften aus derartigen Termingeschäften verrechnet werden können, verstößt danach nicht gegen das objektive Nettoprinzip.4. Die Ungleichbehandlung von Verlusten aus Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG, die nur mit positiven Einkünften aus derartigen Termingeschäften verrechnet werden können, mit sonstigen betrieblichen Verlusten, die grundsätzlich in vollem Umfang mit positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten verrechnet werden können, ist sachlich gerechtfertigt.a) Die sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung besteht zunächst darin, dass es sich bei Termingeschäften i.S. des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG um hochspekulative und damit besonders risikogeneigte Geschäfte handelt und der Eintritt von Verlusten bei solchen Geschäften daher deutlich wahrscheinlicher ist als der Eintritt von Verlusten bei sonstigen betrieblichen Tätigkeiten. Dies gilt insbesondere für Steuerpflichtige, für die derartige Termingeschäfte nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören. Der Gesetzgeber ist berechtigt, derartige risikogeneigte betriebliche Tätigkeiten, auch wenn sie betrieblich veranlasst sind und mit Gewinnerzielungsabsicht unternommen werden, steuerlich anders zu behandeln als sonstige betriebliche Tätigkeiten, denen kein vergleichbares spekulatives Element innewohnt.Vor diesem Hintergrund ist es verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber in § 15 Abs. 4 Satz 4 EStG von der Verlustausgleichs- und -abzugsbeschränkung in § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG zwei Ausnahmen vorgesehen hat. So sind von der Verrechnungsbeschränkung zum einen die Geschäfte ausgenommen, die zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen i.S. des KWG gehören; bei diesen Unternehmen kann aufgrund ihrer Bindung an die Bestimmungen des KWG und des Umstands, dass Termingeschäfte zu ihrem gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, typisierend davon ausgegangen werden, dass sich Verlustrisiken nicht in gleichem Umfang realisieren wie bei Steuerpflichtigen, die keine vergleichbare Branchenkenntnis haben und nicht den Bestimmungen des KWG unterliegen. Des Weiteren hat der Gesetzgeber in § 15 Abs. 4 Satz 4 EStG aus dem Anwendungsbereich der Verrechnungsbeschränkung des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG solche Termingeschäfte ausgenommen, die der Absicherung von Geschäften des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs dienen; derartige Geschäfte werden nicht in Spekulationsabsicht abgeschlossen, sondern um Preis- bzw. Währungsrisiken zu minimieren bzw. auszuschließen (vgl. BTDrucks 14/443, S. 28).b) Darüber hinaus ist die Regelung in § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG aber auch deshalb sachlich gerechtfertigt, weil ohne eine solche Regelung ein Anreiz geschaffen wäre, risikogeneigte Geschäfte wie Termingeschäfte vom privaten in den betrieblichen Bereich zu verlagern.§ 15 Abs. 4 Satz 3 EStG wurde zusammen mit § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG durch das Steuerentlastungsgesetz (StEntlG) 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I 1999, 402) eingefügt. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 erfasste erstmals auch bestimmte Termingeschäfte als private Veräußerungsgeschäfte und unterwarf sie damit der Verlustausgleichsbeschränkung des § 23 Abs. 3 Sätze 6 und 7 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002. § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG sollte als Folgeänderung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sicherstellen, dass Verluste aus Termingeschäften im betrieblichen Bereich ebenfalls nur mit Gewinnen aus derartigen Geschäften verrechnet werden können (BTDrucks 14/23, S. 178; BTDrucks 14/443, S. 27). Die Regelung verhindert damit eine Umgehung der Verlustausgleichsbeschränkung des § 23 Abs. 3 Sätze 6 und 7 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 durch die Verlagerung spekulativer Geschäfte vom privaten in den steuerlich wirksamen betrieblichen Bereich. Vergleichbares gilt auch nach Übernahme der Termingeschäfte aus dem Bereich der privaten Veräußerungsgeschäfte des § 23 EStG als Kapitaleinkünfte in § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a EStG durch das Unternehmensteuerreformgesetz (UntStRefG) 2008 vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912). Denn auch als Kapitaleinkünfte unterliegen Termingeschäfte nach § 20 Abs. 6 Sätze 2 bis 4 EStG i.d.F. des UntStRefG 2008 einer vergleichbaren Verlustausgleichsbeschränkung, die ohne die Regelung des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG umgangen werden könnte, um Verluste aus Termingeschäften uneingeschränkt nutzen zu können.5. Ob dem Kläger trotz Anwendung der Verlustausgleichs- und -abzugsbeschränkung des § 15 Abs. 4 Satz 3 EStG das steuerlich zu verschonende Existenzminimum verbleibt oder die Besteuerung dem subjektiven Nettoprinzip zuwiderläuft, lässt sich nur bei Kenntnis aller Einkünfte und (privater) existenzsichernder Aufwendungen treffen, die der Kläger im Streitjahr bezogen bzw. verausgabt hat. Eine diesbezügliche Prüfung kann deshalb nicht im vorliegenden Feststellungsverfahren der KG erfolgen, sondern ist dem Einkommensteuerverfahren des Klägers vorbehalten (BFH-Beschluss vom 30. April 2008 IV B 64/07, BFH/NV 2008, 1474).III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_013-15
18. Februar 2015
Umsatzsteuer: Steuerfreiheit von Schönheitsoperationen 18. Februar 2015 - Nummer 013/15 - Urteil vom 04.12.2014 V R 16/12 Nach dem Urteil des V. Senats des Bundesfinanzhofes (BFH) vom 4. Dezember 2014 V R 16/12 sind ästhetische Operationen ("Schönheitsoperationen") als umsatzsteuerfreie Heilbehandlungen anzusehen, wenn der Eingriff aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels erforderlich ist. Darüber ist auf der Grundlage anonymisierter Patientenunterlagen zu entscheiden. Das Regelbeweismaß ist auf eine "größtmögliche Wahrscheinlichkeit" zu verringern.Konkret bedeutet dies: Eine Beweiserhebung über ästhetische Operationen als Heilbehandlung darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass Name und Anschrift des behandelten Patienten genannt werden. Stattdessen ist auf der Grundlage der anonymisierten Patientenunterlagen ein Sachverständigengutachten über die mit der Operation verfolgte Zielsetzung einzuholen. Der BFH betont auch die den Steuerpflichtigen (Klinik oder Arzt) treffenden Mitwirkungspflichten. Dieser muss --auf anonymisierter Grundlage-- detaillierte Angaben zu der mit dem jeweiligen Behandlungsfall verfolgten therapeutischen oder prophylaktischen Zielsetzung machen.Im konkreten Streitfall hob der BFH das Urteil der Vorinstanz auf, das eine Beweiserhebung von einer Benennung der behandelten Patienten abhängig gemacht hatte. Die Sache wurde an das Finanzgericht zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. Mit einem weiteren Urteil vom gleichen Tag hat der V. Senat ebenfalls zur Steuerfreiheit von Schönheitsoperationen entschieden (V R 33/12). Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: V R 16/12
1. Ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen sind nur dann als Heilbehandlung steuerfrei, wenn sie dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist.2. Zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist es bei Überprüfung der Umsatzsteuerfreiheit von Heilbehandlungsleistungen erforderlich, das für richterliche Überzeugungsbildung gebotene Regelbeweismaß auf eine "größtmögliche Wahrscheinlichkeit" zu verringern. Zugleich hat der Steuerpflichtige im gesteigerten Maß den ihn nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO treffenden Mitwirkungspflichten nachzukommen. Dies erfordert detaillierte Angaben zu der mit dem jeweiligen Behandlungsfall verfolgten therapeutischen oder prophylaktischen Zielsetzung. Tatbestand I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt eine Klinik, in der sie im Streitjahr 2002 durch approbierte Ärzte vorwiegend ästhetisch-chirurgische Maßnahmen wie Fettabsaugungen, Gesichts-, Hals- und Augenlid-Straffungen sowie Brustvergrößerungen, -verkleinerungen und -straffungen durchführte. Sie ging davon aus, dass ihre Leistungen im Zusammenhang mit diesen Operationen nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes in der für das Streitjahr (2002) geltenden Fassung (UStG) steuerfrei seien.Demgegenüber unterwarf der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Umsätze in dem Umsatzsteuerbescheid vom 25. September 2003, geändert durch Bescheid vom 6. September 2004, der Umsatzsteuer, indem er die Vergütungen der Klägerin als Gegenleistungen behandelte und einen Vorsteuerabzug berücksichtigte. Einspruch und Klage zum Finanzgericht (FG) hatten keinen Erfolg.Nach dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 1783 veröffentlichten Urteil des FG setze die Steuerfreiheit voraus, dass die Diagnose einer Gesundheitsstörung vorliege, ohne die keine Heilbehandlung gegeben sei. Hierzu genügten nicht allgemeine Feststellungen zu Gesundheitsstörungen in Fällen plastischer Operationen; vielmehr müsse in jedem der Leistung zugrunde liegenden Fall konkret eine solche Diagnose vorliegen. Hinzu müsse kommen, dass das Hauptziel der Maßnahme die Beseitigung oder Behandlung der Gesundheitsstörung sei. Liege daneben zumindest gleichgewichtig der Zweck in einer rein ästhetischen Maßnahme, reiche dies für die Steuerfreiheit nicht aus. Für sämtliche Voraussetzungen trage die Klägerin die objektive Beweislast, und zwar für jeden einzelnen Umsatz. Dieser Nachweis werde nicht bereits durch die Einschätzung des behandelnden Arztes erbracht. Auch die von der Klägerin vorgelegten Parteigutachten hätten diesen Nachweis nicht erbracht. Soweit die Gutachten lediglich allgemeine Ausführungen zu Gesundheitsstörungen bei plastischen Operationen enthielten, erfüllten sie nicht die Voraussetzungen des Nachweises, dass diese Voraussetzungen auch in jedem einem Umsatz zugrunde liegenden Einzelfall tatsächlich vorgelegen hätten. Die Einzelfallgutachten des Dr. H seien Parteivortrag und genügten nicht. Der Nachweis der Steuerfreiheit ergebe sich auch nicht aus den Einzelgutachten des Dr. H, denn selbst wenn die Diagnosen tatsächlich vorliegen sollten, sei damit nicht ausgeschlossen, dass die ästhetische Maßnahme nicht zumindest gleichwertiger Zweck der Leistung gewesen sei. Das vom Gericht eingeholte Gutachten durch Frau Dr. M führe zu dem Ergebnis, dass eine medizinische Indikation nur in Ausnahmefällen vorliege. Das Gutachten habe begründet, dass die von der Klägerin durchgeführten plastischen Operationen nur in wenigen Ausnahmefällen der Heilung bzw. Behandlung einer möglichen Gesundheitsstörung gedient hätten. Dies gelte insbesondere für die von der Klägerin hauptsächlich vorgetragenen psychischen Störungen. Gleichermaßen habe die Gutachterin festgestellt, dass eine Liposuktion grundsätzlich nicht der Behandlung von Fettleibigkeit diene und dass es für Softlifting keine medizinische Indikation gebe. Unter diesen Umständen könne die Steuerbefreiung nur gewährt werden, wenn die Voraussetzungen durch Einzelbegutachtungen sämtlicher Leistungen nachgewiesen würden. Nach dem vom Gericht eingeholten Gutachten sei es grundsätzlich möglich, anhand der Patientendokumentationen auch im Nachhinein noch eine Diagnose zu erstellen. Eine Begutachtung setze im Hinblick auf § 203 des Strafgesetzbuchs (StGB) aber in jedem Fall das Einverständnis des betroffenen Patienten voraus. Der Nachweis der medizinischen Indikation könne nicht durch die Begutachtung von anonymisierten Patientenunterlagen erbracht werden, da diese Rückfragen des Gutachters ausschlössen. Aufträge zur Einzelbegutachtung hätten nicht erteilt werden können. Die Klägerin habe trotz insoweit eindeutigen Hinweises des Gerichts keine Einverständniserklärungen der betroffenen Patienten vorgelegt. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung sei nicht möglich gewesen. Damit könne der Nachweis, dass das Hauptziel dieser Maßnahmen die Beseitigung oder Behandlung einer Gesundheitsstörung --im Sinne der Definition, wie sie bisher von der Rechtsprechung vorgenommen wurde-- war, nicht als erbracht angesehen werden.Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision, die sie auf die Verletzung materiellen und formellen Rechts stützt. Sie betreibe eine Fachklinik für plastisch chirurgische Eingriffe und für Diagnostik, Diätetik und Prävention. Durch ihre auf die plastische Chirurgie spezialisierten Fachärzte habe sie ärztliche Leistungen erbracht. Ihre Umsätze hätten sich zu ca. 43 % auf Fettabsaugungen, zu ca. 26 % auf Softlifting, zu ca. 15 % auf Augenlid-Operationen und zu ca. 8 % auf Brustveränderungen bezogen. Das FG habe aufgrund der Mitwirkung der Berichterstatterin bei der Urteilsfindung ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt. Verletzt sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör, da das FG Privatgutachten unzutreffend gewürdigt habe. Ebenso habe das FG die Pflicht zur richterlichen Sachaufklärung verletzt. Materiell-rechtlich habe das FG den Begriff der Heilbehandlung verkannt. Zu berücksichtigen sei die unterschiedliche Auslegung in den Mitgliedstaaten wie auch durch die nationalen Finanzgerichte. Eine ärztliche Leistung sei steuerfrei, wenn aus Sicht des behandelnden Arztes medizinisch-vertretbar eine therapeutische Zielsetzung der Behandlungsmaßnahme zum Schutze der menschlichen Gesundheit im Sinne einer Vorbeugung, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung angenommen werde. Diese Feststellung sei vom behandelnden Arzt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zu treffen. Ärztliche Leistungen der ästhetisch-plastischen Chirurgie seien steuerfrei, da bei ihnen die therapeutische Zielsetzung regelmäßig im Vordergrund stehe. Hierfür spreche auch die Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation. Chirurgisch behandelte Patienten mit Übergewicht hielten aufgrund von Fettabsaugungen (Liposuktion) ihr Gewicht besser und hätten eine signifikant geringere Neigung zu Depressionen als bei einer Gewichtsreduktion mittels Diät. Dies werde durch eine sozialgerichtliche Entscheidung bestätigt. Fettabsaugungen seien nach der ärztlichen Gebührenordnung abrechenbar. Damit liege eine regelmäßige Behandlungsfinanzierung durch die Sozialversicherungsträger vor. Ihre Leistungen der ästhetisch-plastischen Chirurgie hätten auch der Linderung oder Heilung von psychischen Leiden und seelischen Beeinträchtigungen der Patienten gedient. Maßgeblich sei die therapeutische Zielsetzung, nicht aber die Art der Behandlung. Leistungen eines Psychotherapeuten und eines ästhetisch-plastischen Chirurgen dürften nicht ungleich behandelt werden. Es reiche aus, dass die ärztliche Leistung zur Gesundheitsvorsorge erbracht werde. Nicht notwendig sei ein Zusammenhang mit einer drohenden Krankheit. Maßgeblich sei die Beurteilung durch den behandelnden Arzt. Anders sei es nur bei offenkundigen Zweifeln an dessen Beurteilung. Hierfür trage das FA die Feststellungslast. Zu berücksichtigen seien auch Privatgutachten. Die Auffassung des FG erhöhe die Kosten der Heilbehandlung. Der verantwortlich behandelnde Arzt für alle Umsätze im Streitfall, Dr. He. habe in jedem Einzelfall die medizinische Indikation geprüft und bejaht. Hieran bestünden keine offenkundigen Zweifel. Bestätigt werde dies durch die Privatgutachten von Dr. Bo. und Dr. Ha., insbesondere die Einzelgutachten des Dr. Ha. Für die Steuerfreiheit ihrer Leistungen spreche auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). Maßgeblich seien danach die Feststellungen des behandelnden Arztes. Eine Mitursächlichkeit des therapeutischen Zwecks reiche aus. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der therapeutische Zweck Hauptziel der Behandlung sein müsse. Der behandelnde Arzt habe im Streitfall in Übereinstimmung mit den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie zur Liposuktion (GÄCD-Leitlinien) gehandelt, die auch sozialversicherungsrechtlich von Bedeutung seien. Zumindest sei eine Vorlage an den EuGH erforderlich.Die Klägerin beantragt,den Umsatzsteuerbescheid 2002 vom 25. September 2003 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. Juni 2007 unter Aufhebung des Urteils des FG dahingehend zu ändern, dass die Veranlagung wie erklärt mit der Maßgabe durchgeführt wird, dass die streitigen Umsätze der Klägerin aus ärztlichen Behandlungsleistungen der plastischen Chirurgie steuerfrei behandelt werden.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen.Das FG habe verfahrensfehlerfrei entschieden. Es entspreche der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), dass eine Einzelbetrachtung erforderlich sei. Es lägen keine hinreichenden Nachweise für eine Steuerfreiheit vor. Gründe II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zwar stehen die Anforderungen, die das FG an das Vorliegen einer steuerfreien Heilbehandlungsleistung gestellt hat, im Ergebnis in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das FG ist aber zu Unrecht davon ausgegangen, dass es zu einer Beweiserhebung über die von der Klägerin im Einzelfall erbrachten Leistungen nicht verpflichtet war. Das FG hat insoweit die sich aus § 76 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 FGO ergebenden Verpflichtungen verkannt, was als materiell-rechtlicher Fehler zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung an das FG führt. Im zweiten Rechtsgang ist die bislang unterbliebene Beweiserhebung zu den von der Klägerin im Einzelnen erbrachten Leistungen nachzuholen.1. Nach § 4 Nr. 14 UStG, der nach dem Senatsurteil vom 18. August 2011 V R 27/10 (BFHE 235, 58, BFH/NV 2011, 2214, unter II.2.c) auch auf Heilbehandlungsleistungen der Klägerin anzuwenden ist, waren steuerfrei "die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt ... oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes".a) Diese Vorschrift ist nach ständiger BFH-Rechtsprechung entsprechend Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) auszulegen. Daher setzt die Steuerfreiheit voraus, dass der Unternehmer eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin durch ärztliche oder arztähnliche Leistungen erbringt und die dafür erforderliche Qualifikation besitzt (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 235, 58, BFH/NV 2011, 2214, unter II.1.a). Da die Begriffe der "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG und der "ärztlichen Heilbehandlung" i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG vom EuGH gleichbedeutend sind (EuGH-Urteil vom 21. März 2013 C-91/12, PFC Clinic, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2013, 335, Rdnr. 24), ist bei der Auslegung des nationalen Rechts die zu diesen beiden Bestimmungen ergangene Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. Da es aufgrund der Neuregelungen durch die Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) zu keinen inhaltlichen Änderungen gekommen ist, gilt dies auch für die zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und c der MwStSystRL ergangene Rechtsprechung (EuGH-Urteil vom 10. Juni 2010, C-86/09, Future Health Technologies Ltd, Slg. 2010, I-5215, Rdnr. 27).b) Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin dienen danach der Diagnose, Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen. Sie müssen einen therapeutischen Zweck haben. Hierzu gehören auch Leistungen zum Zweck der Vorbeugung und zum Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit. "Ärztliche Leistungen", "Maßnahmen" oder "medizinische Eingriffe" zu anderen Zwecken sind keine Heilbehandlungen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 235, 58, BFH/NV 2011, 2214, unter II.1.b).c) Für den Bereich der sog. Schönheitsoperationen hat der EuGH seine Rechtsprechung dahingehend präzisiert, dass "ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen ... unter den Begriff 'ärztliche Heilbehandlungen' oder 'Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin' [fallen] ..., wenn diese Leistungen dazu dienen, Krankheiten oder Gesundheitsstörungen zu diagnostizieren, zu behandeln oder zu heilen oder die Gesundheit zu schützen, aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen" (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Leitsatz erster Gedankenstrich). Die Leistungen müssen "dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist" (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Rdnr. 29). Dabei können die gesundheitlichen Probleme, die zu einer steuerfreien Heilbehandlung führen, auch "psychologischer Art" sein (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Rdnr. 33). Erfolgt "der Eingriff jedoch zu rein kosmetischen Zwecken", reicht dies nicht aus (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Rdnr. 29). Im Übrigen ist die "rein subjektive Vorstellung, die die Person, die sich einem ästhetischen Eingriff unterzieht, von diesem Eingriff hat, ... als solche für die Beurteilung, ob der Eingriff einem therapeutischen Zweck dient, nicht maßgeblich" (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Leitsatz zweiter Gedankenstrich). Von Bedeutung ist demgegenüber, dass die Leistungen "von einer Person erbracht werden, die zur Ausübung eines Heilberufs zugelassen ist, oder dass der Zweck des Eingriffs von einer solchen Person bestimmt wird" (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Leitsatz dritter Gedankenstrich). Denn die Beurteilung medizinischer Fragen "muss ... auf medizinischen Feststellungen beruhen, die von dem entsprechenden Fachpersonal getroffen worden sind" (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335, Rdnr. 35).Nichts anderes ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, nach der als Heilbehandlung nur die Tätigkeiten steuerfrei sind, die zum Zweck der Vorbeugung, der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen für bestimmte Patienten ausgeführt werden, so dass eine ärztliche Leistung, die in einem Zusammenhang erbracht wird, der die Feststellung zulässt, dass ihr Hauptziel nicht der Schutz der Gesundheit ist, nicht steuerfrei ist und es daher für die Umsatzsteuerfreiheit von Schönheitsoperationen nicht ausreicht, dass die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden können, sondern es vielmehr erforderlich ist, dass auch derartige Operationen dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen, womit es nicht zu vereinbaren ist, Leistungen der Schönheitschirurgen ohne Rücksicht auf ihre medizinische Indikation als steuerfrei zu behandeln (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 7. Oktober 2010 V R 17/09, BFH/NV 2011, 865, unter II.3.b). Unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils PFC Clinic in UR 2013, 335 bestehen an der Auslegung des Unionsrechts keine Zweifel, die eine Vorlage an den EuGH erforderlich machen.2. Die nach der EuGH-Rechtsprechung erforderliche Feststellung, welche Zwecke mit ärztlichen Leistungen verfolgt werden, ist in vielen Fällen, bei denen sich die Zielsetzung bereits aus der Leistung selbst ergibt, unproblematisch. Anders ist es im Bereich ästhetisch-chirurgischer Maßnahmen, die sowohl Heilbehandlungszwecken als auch bloßen kosmetischen Zwecken dienen können. Im Bereich der ästhetisch-chirurgischen Maßnahmen kommt es daher auf eine Einzelprüfung an. Diese ist entgegen dem Urteil des FG unter größtmöglicher Wahrung des zwischen Arzt und Patient bestehenden Vertrauensverhältnisses und damit auf der Grundlage anonymisierter Patientenunterlagen vorzunehmen. Daher kommt es für die im finanzgerichtlichen Verfahren erforderliche Beweiserhebung entgegen dem Urteil des FG nicht auf Einwilligungserklärungen der Patienten zur Vermeidung einer unbefugten Geheimnisoffenbarung i.S. von § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB an.a) Bei der Sachverhaltsaufklärung im finanzgerichtlichen Verfahren sind gemäß § 84 Abs. 1 FGO i.V.m. §§ 101 bis 103 der Abgabenordnung (AO) die dort bezeichneten Zeugnisverweigerungsrechte zu beachten. Die Auskunft können danach insbesondere Ärzte verweigern, soweit es um das geht, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut oder bekannt geworden ist (§ 102 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. c AO). Das Auskunftsverweigerungsrecht erstreckt sich nach der BFH-Rechtsprechung bei Rechtsanwälten und Steuerberatern auf Identität des Mandanten und die Tatsache seiner Beratung (BFH-Urteile vom 14. Mai 2002 IX R 31/00, BFHE 198, 319, BStBl II 2002, 712, und vom 8. April 2008 VIII R 61/06, BFHE 220, 313, BStBl II 2009, 579) und dementsprechend bei Ärzten auf die Identität des Patienten und die Tatsache seiner Behandlung (vgl. auch Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. Februar 1985  2 StR 561/84, BGHSt 33, 148).Daher braucht z.B. ein Steuerberater Postausgangsbücher oder Fahrtenbücher insoweit nicht vorzulegen, als sich aus ihnen Namen von Mandanten ergeben (BFH-Urteil in BFHE 198, 319, BStBl II 2002, 712). Dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen z.B. Arzt und Patient steht es aber nicht entgegen, wenn anonymisierte Unterlagen für Zwecke der gerichtlichen Sachaufklärung verwertet werden (BFH-Urteil in BFHE 198, 319, BStBl II 2002, 712).Der durch § 84 Abs. 1 FGO i.V.m. § 102 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. c AO gewährleistete Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient steht auch einem Benennungsverlangen entgegen, mit dem Name und Anschrift der behandelten Patienten ermittelt werden sollen, um diese als Zeugen zu vernehmen.b) Ist es aufgrund des gesetzlich geschützten Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient möglich, anonymisierte Unterlagen zu Patient und Behandlung für die Prüfung zu berücksichtigen, ob die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit einer Heilbehandlungsleistung vorliegen, muss das FG den Sachverhalt aufklären und ist nicht berechtigt, den Streitfall nach Maßgabe der Feststellungslast zu entscheiden.Nach der Rechtsprechung des BFH hat das FG vor einer Anwendung der Regeln über die Feststellungslast zu erwägen, ob das im konkreten Einzelfall für die richterliche Überzeugungsbildung erforderliche, aber auch ausreichende Beweismaß gegenüber dem Regelbeweismaß zu reduzieren ist. Das Beweismaß kann sich dabei auf eine "größtmögliche Wahrscheinlichkeit" verringern. Dies gilt nicht nur, wenn gerichtliche Versuche zur Sachaufklärung erfolglos bleiben, weil ein Beteiligter, der über eine besondere Beweisnähe verfügt, die ihm zumutbare Mitwirkung an der Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 3 FGO) verweigert (BFH-Urteil vom 23. März 2011 X R 44/09, BFHE 233, 297, BStBl II 2011, 884), sondern auch, wenn die Sachverhaltsaufklärung --wie im Streitfall-- im Hinblick auf den gesetzlichen Schutz des Arzt-Patientenverhältnisses nicht in der eigentlich gebotenen Weise durchgeführt werden kann.Es kommt dann in gesteigertem Maße auf ein das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wahrendes Zusammenwirken von FG und den Beteiligten an. Daraus folgt, dass zumutbarer Inhalt und Intensität der richterlichen Ermittlung im Zusammenhang mit dem Vorbringen der Beteiligten stehen. Je intensiver sich die Mitwirkung der Beteiligten gestaltet, umso stärker ist das FG gehalten, deren Vorbringen zu untersuchen. Je weniger die Beteiligten andererseits ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen, umso weniger Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung hat in der Regel auch das Gericht, so dass sich die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung mindert. Die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen wird so durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten begrenzt (Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 76 FGO Rz 116, m.w.N. zur Rechtsprechung des BFH).3. Danach ist das Urteil des FG aufzuheben. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass es zu einer Sachverhaltserforschung in Bezug auf die einzelnen Behandlungsfälle nur dann verpflichtet gewesen wäre, wenn die Patienten der Klägerin in die Offenbarung der zum persönlichen Lebensbereich gehörenden Behandlungsgeheimnisse einwilligen, da ansonsten eine Verletzung von § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorläge. Demgegenüber ist eine Sachverhaltsaufklärung in Bezug auf die einzelnen Behandlungsfälle auf der Grundlage anonymisierter Patientenunterlagen notwendig und möglich.4. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:a) Die im Streitfall gebotene Mitwirkung (s. oben II.2.b) erfordert detaillierte Angaben zu der mit dem jeweiligen Behandlungsfall verfolgten therapeutischen oder prophylaktischen Zielsetzung. Hierfür ist es erforderlich, für den jeweiligen Behandlungsfall die Tatsachen zur konkreten Krankheit, Verletzung oder Beeinträchtigung anzugeben, die im Sinne der EuGH-Rechtsprechung einen Eingriff ästhetischer Natur im jeweiligen Einzelfall "erforderlich" macht (EuGH-Urteil PFC Clinic in UR 2013, 335 Rdnr. 29). Dies gilt insbesondere für die Erforderlichkeit derartiger Eingriffe bei gesundheitlichen Problemen psychologischer Art. Soweit die von der Klägerin vorgelegte Dokumentation über die einzelnen Behandlungsfälle dem nicht genügt, ist ihr Gelegenheit zu weitergehenden Präzisierungen zu geben.Es ist dann auf der Grundlage derartiger, nach Name und Anschrift des jeweiligen Patienten anonymisierten Unterlagen Beweis durch Sachverständigengutachten über die einzelnen Behandlungsfälle zu erheben. Dabei besteht keine Bindung an die Beurteilung durch die Klägerin und das für sie tätige ärztliche Personal. Erst wenn die von der Klägerin anonymisiert beizubringenden Angaben nicht ausreichen, um den Heilbehandlungscharakter nachzuweisen, ist über die Steuerfreiheit nach Maßgabe der Feststellungslast zu entscheiden, die im Streitfall die Klägerin trifft, die die Steuerfreiheit geltend macht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 198, 319, BStBl II 2002, 712).b) Am Urteil des FG hat entgegen der Auffassung der Klägerin kein kraft Gesetzes ausgeschlossener Richter mitgewirkt. Gemäß § 51 Abs. 2 FGO ist von der Ausübung des Amtes als Richter auch ausgeschlossen, wer bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat. Aus der dienstlichen Äußerung der Richterin X vom 27. Mai 2013 ergibt sich, dass sie bereits seit Juni 1995 --zunächst im Wege der Abordnung-- am FG tätig war. Eine Mitwirkung an dem die Umsatzsteuerfestsetzung 2002 betreffenden Verwaltungsverfahren ist damit ausgeschlossen.c) Auf die weiteren Verfahrensrügen kam es nicht mehr an.
bundesfinanzhof
bfh_016-12
14. März 2012
Kein vorläufiger Rechtsschutz gegen Kernbrennstoffsteuer 14. März 2012 - Nummer 016/12 - Beschluss vom 09.03.2012 VII B 171/11 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat durch Beschluss vom 9. März 2012 VII B 171/11 die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Kernbrennstoffsteuer abgelehnt. Die Vorinstanz (Finanzgericht Hamburg, Beschluss vom 16. September 2011 4 V 133/11) hatte ernstliche Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Erlass des Kernbrennstoffsteuergesetzes bejaht und deshalb die Vollziehung des Steuerbescheids aufgehoben. Die bereits gezahlte Kernbrennstoffsteuer musste erstattet werden. Auf die Beschwerde des Hauptzollamts hat der BFH die Entscheidung aufgehoben und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.Wendet der Steuerpflichtige gegen die Steuerfestsetzung ein, das zugrunde liegende Gesetz sei verfassungswidrig, so kann vorläufiger Rechtsschutz nach dieser Entscheidung nur gewährt werden, wenn bei der gebotenen Abwägung das Interesse des Steuerpflichtigen, bis zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes von der Steuerzahlung verschont zu bleiben, schwerer wiegt als die für die vorläufige Vollziehung sprechenden öffentlichen Belange. Ob das Gesetz verfassungswidrig ist, kann danach bei einem formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetz im Eilverfahren nicht geklärt werden, denn die sog. Verwerfungskompetenz steht ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht zu. Im Streitfall, so der VII. Senat, sei dem Geltungsanspruch des formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes der Vorrang vor den Interessen des Kernkraftwerksbetreibers einzuräumen. Das Kernbrennstoffsteuergesetz sei - ungeachtet des Streits um die Gesetzgebungskompetenz - formell ordnungsgemäß zustande gekommen.Zu der Frage, ob dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Kernbrennstoffsteuergesetz zusteht, hat der BFH keine Stellung genommen. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VII B 171/11
Ein mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer der angefochtenen Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründeter Antrag auf AdV ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalles dem Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kein Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt. Einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bedarf es in diesen Fällen grundsätzlich nicht. Tatbestand   I. Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) betreibt in X ein Kraftwerk. Im Juni 2011 setzte sie in den Kernreaktor Brennelemente ein und löste anschließend eine selbsttragende Kettenreaktion aus, was zur Steuerentstehung nach § 5 Abs. 1 des Kernbrennstoffsteuergesetzes (KernbrStG) führte. Die verwendeten Brennelemente enthielten ... Gramm Uran 235. In ihrer für den Monat Juni 2011 abgegebenen Steueranmeldung berechnete die Antragstellerin eine Steuer von ... EUR, die zunächst bezahlt worden ist. Die Antragstellerin hat jedoch Sprungklage erhoben und Aufhebung der Vollziehung beantragt. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Hauptzollamt --HZA--) hat der Sprungklage nicht zugestimmt, sondern stattdessen im November 2011 eine Einspruchsentscheidung erlassen. Mit Beschluss vom 16. September 2011 hat das Finanzgericht (FG) die Vollziehung der Steueranmeldung ohne Sicherheitsleistung aufgehoben.In der Begründung seiner Entscheidung äußert das FG Bedenken, ob die Kernbrennstoffsteuer dem verfassungsrechtlichen Typus einer Verbrauchsteuer entspreche, so dass sie als Verbrauchsteuer i.S. des Art. 106 des Grundgesetzes (GG) angesehen werden könne, und ob dem Bund für die Einführung einer solchen Steuer nach Art. 105 Abs. 2 GG eine Gesetzgebungskompetenz zustehe. Die Kernbrennstoffe seien keine verbrauchsfähigen Güter im Sinne des herkömmlichen Verbrauchsteuerbegriffs, da sie ausschließlich im Rahmen eines Produktionsprozesses Verwendung fänden und nicht in den allgemeinen Wirtschaftsverkehr eingebracht würden. Besteuert werde die unternehmerische Tätigkeit der Erzeugung von Energie. Darüber hinaus bestünden erhebliche Zweifel, ob die Kernbrennstoffsteuer auf Abwälzbarkeit angelegt sei. In der Begründung zum Gesetzentwurf habe der Gesetzgeber ausgeführt, eine Überwälzung der den Stromerzeugern entstehenden zusätzlichen Kosten werde nur in geringem Umfang möglich sein (BTDrucks 17/3054 S. 1 und 2). Soweit nicht der Stromverbraucher belastet werden solle, kämen nur die Betreiber der Kernkraftwerke als Träger der Belastung in Betracht. Ernsthaft zweifelhaft sei auch, ob die Kernbrennstoffsteuer als "übrige Steuer" i.S. des Art. 105 Abs. 2 GG verstanden werden könne.Das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung stehe der Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids nicht entgegen. Die Einnahmen aus der Kernbrennstoffsteuer würden nach Angaben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) jährlich ca. 2,3 Mrd. EUR betragen. Diesem Betrag stünden nach der gleichen Prognose wegen der steuerlichen Absetzbarkeit der Steuer Mindereinnahmen im Bereich der Ertragsteuern in Höhe von 1,4 Mrd. EUR gegenüber. Diese Mindereinnahmen seien bei der Bestimmung des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen, auch wenn insoweit zum Teil die Länderhaushalte betroffen seien. Darüber hinaus sei eine Verringerung der Mehreinnahmen durch die vorzeitige Stilllegung von 8 der ursprünglich 17 Kernkraftwerke um mindestens ein Drittel zu berücksichtigen. Die Steuermehreinnahmen würden daher höchstens noch 600 Mio. EUR betragen, mithin ca. 0,3 % der Steuer- und sonstigen Einnahmen des Bundes. Die Belastung der Antragstellerin bei Nichtaufhebung der Vollziehung sei im Verhältnis zur Belastung der öffentlichen Haushalte im Falle einer Aufhebung demnach sehr hoch und würde die Aufhebung der Vollziehung der Steueranmeldung auch dann rechtfertigen, wenn das KernbrStG einen Geltungsvorrang beanspruchen könne.Mit seiner Beschwerde begehrt das HZA die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und die Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Vollziehung der angefochtenen Steueranmeldung. Es hält das KernbrStG für verfassungsgemäß; am Verbrauchsteuercharakter der Kernbrennstoffsteuer, die auf Abwälzung angelegt sei, und an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes bestünden keine Zweifel. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes würde zur vorläufigen Nichtanwendung des KernbrStG und damit zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen. Allein für den Zeitraum Januar bis September 2011 beliefen sich die Einnahmen aus der Kernbrennstoffsteuer auf über 875 Mio. EUR. Im Jahr 2011 sei mit einem Aufkommen von 1,3 Mrd. EUR und in den Folgejahren mit einem ähnlich hohen Aufkommen zu rechnen. Das öffentliche Interesse des Bundes an einer geordneten Haushaltsführung sei höher zu gewichten als das Individualinteresse der Antragstellerin.Die Antragstellerin ist der Beschwerde entgegengetreten. Sie schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen des FG an.Mit Zwischenbeschluss vom 11. Januar 2012 VII B 171/11 hat der beschließende Senat festgestellt, dass die vom HZA eingelegte Beschwerde zulässig ist. Gründe   II. Die Beschwerde des HZA ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Vollziehung. Dem öffentlichen Interesse am Vollzug des KernbrStG kommt nach den Umständen des Streitfalls der Vorrang gegenüber dem Interesse der Antragstellerin an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu.1. Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts, hat das FG im Regelfall dessen Vollziehung auszusetzen oder im Falle eines bereits vollzogenen Verwaltungsakts die Vollziehung wieder aufzuheben (§ 69 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kann trotz Vorliegens solcher Zweifel die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt werden.a) Ein solcher atypischer Fall kommt in Betracht, wenn die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454). Ist dies der Fall, setzt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wegen des Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers voraus (BFH-Beschlüsse vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; vom 27. August 2002 XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18; vom 6. November 2001 II B 85/01, BFH/NV 2002, 508; vom 30. Januar 2001 VII B 291/00, BFH/NV 2001, 1031, und vom 17. März 1994 VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567).b) Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an (BFH-Beschlüsse in BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, und vom 20. Mai 1992 III B 100/91, BFHE 168, 174, BStBl II 1992, 729). Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes ist dann der Vorrang einzuräumen, wenn die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung eines Steuerbescheids im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen Gesetzes führen würde, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff keine dauerhaften nachteiligen Wirkungen hat (BFH-Beschluss in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; a.A. offenbar Seer, Vorläufiger Rechtsschutz bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2012, 325).c) Wie das BVerfG entschieden hat, verstößt eine solche Interessensabwägung --die eine geordnete öffentliche Haushaltswirtschaft in den Blick nimmt-- nicht grundsätzlich gegen den aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch auf einen umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz, zumindest solange der sofortige Vollzug des Verwaltungsakts die Ausnahme bleibt; in Ausnahmefällen können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen (BVerfG-Beschluss vom 6. April 1988  1 BvR 146/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 69, Rechtsspruch 283).d) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin können diese Grundsätze nicht nur dann Geltung beanspruchen, wenn es um die Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm geht, sondern sie sind auch auf Fälle anzuwenden, in denen die formelle Verfassungsmäßigkeit einer Norm in Frage steht (zur fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes vgl. BFH-Beschluss in BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454). Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn ein Verfassungsverstoß offensichtlich wäre, so dass das Gesetz die formelle Verfassungswidrigkeit auf der Stirn trüge. In solchen Ausnahmefällen könnte Anlass bestehen, im Rahmen eines Aussetzungs- bzw. Aufhebungsverfahrens den Geltungsanspruch des Gesetzes in Frage zu stellen. So liegt es im Streitfall jedoch nicht (zur Verfassungsmäßigkeit des KernbrStG vgl. Wernsmann, Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Kernbrennstoffsteuer, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2011, 1367, und Jatzke, Die Kernbrennstoffsteuer - ein Exot im deutschen Verbrauchsteuerrecht, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern --ZfZ-- 2010, 278; Waldhoff, Die Kernbrennstoffsteuer als Verbrauchsteuer und die steuerrechtliche Typenlehre, zur Veröffentlichung in der ZfZ 3/12 vorgesehen; a.A. Seer, DStR 2012, 325).2. Zu Unrecht hat das FG im Streitfall die Aufhebung der Vollziehung der angefochtenen Steueranmeldung angeordnet. Die im Streitfall gebotene Abwägung des für eine Aufhebung der Vollziehung sprechenden individuellen Interesses der Antragstellerin und des einer solchen Maßnahme entgegenstehenden öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung sowie die gebotene Beachtung der Verwerfungskompetenz des BVerfG führen zu dem Ergebnis, dass vorläufiger Rechtsschutz nicht gewährt werden kann.a) In der praktischen Auswirkung käme die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes einem einstweiligen Außerkraftsetzen des KernbrStG gleich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass allein dem BVerfG nach § 32 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Kompetenz zusteht, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen. Von dieser Möglichkeit ist nach Auffassung des BVerfG nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch zu machen, denn der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Gesetz stellt stets einen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dar, so dass die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, ein besonderes Gewicht haben müssen (BVerfG-Beschluss vom 22. Mai 2001  2 BvQ 48/00, BVerfGE 104, 23, 27 f.).b) Nach Auffassung des beschließenden Senats liegt ein überwiegendes besonderes berechtigtes Interesse der Antragstellerin nicht vor. Eine faktische Außerkraftsetzung des KernbrStG würde zu Einnahmeausfällen in Milliardenhöhe führen. Ausweislich des Referentenentwurfs rechnete die Bundesregierung in den Jahren 2011 bis 2016 mit einem jährlichen Aufkommen in Höhe von ca. 2,3 Mrd. EUR, das ohne gesetzlich festgelegte Zweckbindung zur Konsolidierung des Bundeshaushalts beitragen sollte (BTDrucks 17/3054 S. 1). Auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Lisa Paus u.a. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (BTDrucks 17/4609) hat die Bundesregierung mitgeteilt, im Rahmen der Verhandlungen zum Förderfondsvertrag habe unter den Vertragspartnern ein Konsens bestanden, nach dem bei einem Steuersatz von 145 EUR/g Kernbrennstoff von einem durchschnittlichen Aufkommen der Kernbrennstoffsteuer von 2,3 Mrd. EUR auszugehen sei, wobei im Falle eines gemeinsamen Kalkulationsirrtums über die Höhe des zu erzielenden Aufkommens eine korrigierende Erhöhung des Steuersatzes erfolgen könne (BTDrucks 17/4832 S. 4 f.). Von vornherein war die Einführung der neuen Steuer darauf angelegt, dem Bund Steuereinnahmen in Milliardenhöhe zu verschaffen. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Aufkommenserwartungen im ersten Jahr der Erhebung der Kernbrennstoffsteuer nicht vollständig erfüllt worden sind. Im Jahr 2011 betrug das Gesamtaufkommen lediglich 922 Mio. EUR. Nach den Ergebnissen des Arbeitskreises Steuerschätzungen wird in den Folgejahren mit einem durchschnittlichen Aufkommen von ca. 1,3 Mrd. EUR gerechnet (Monatsbericht des BMF, November 2011).c) Im Rahmen der vorzunehmenden Interessensabwägung können die durch die steuerliche Absetzbarkeit der Kernbrennstoffsteuer als Betriebsausgaben zu erwartenden Mindereinnahmen im Bereich der Körperschaft- und Gewerbesteuern zwar nicht völlig außer Acht gelassen werden, jedoch erreichen sie nicht ein solches Ausmaß, dass die verbleibenden Mehreinnahmen ein überwiegendes öffentliches Interesse des Bundes an einer geordneten Haushaltsführung nicht mehr begründen können. In seinem Beschluss vom 26. November 2010 geht der Bundesrat unter Voraussetzung der Nichtabwälzbarkeit der Steuer von Mindereinnahmen bei Ländern und Gemeinden in Höhe von 500 Mio. EUR aus (BRDrucks 687/10 S. 2). In diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung bestätigt, dass die Mindereinnahmen bei der Körperschaft- und Gewerbesteuer bei allen Gebietskörperschaften zwischen 25 % und 30 % des Aufkommens der Kernbrennstoffsteuer betragen könnten, jedoch zugleich auf die Möglichkeit der Abwälzung der Steuer und auf die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke hingewiesen. Diese führe zu Zusatzgewinnen bei den Betreibern von Kernkraftwerken und damit zu zusätzlichem Aufkommen bei den Ertragsteuern. Deshalb gehe die Bundesregierung davon aus, dass das Steueraufkommen die Steuermindereinnahmen aus dem Betriebsausgabenabzug der Kernbrennstoffsteuer überkompensieren werde (BTDrucks 17/4832 S. 5). Diese Gesichtspunkte hat das FG bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen und dem prognostizierten Gesamtaufkommen von 2,3 Mrd. EUR einen auf Steuermindereinnahmen zurückzuführenden Abzugsbetrag in Höhe von 1,4 Mrd. EUR gegenübergestellt, dessen Berechnung nicht belegt wird. Jedenfalls ergibt sich dieser Betrag nicht aus der vom FG angeführten BTDrucks 17/3054. Aus der Beantwortung der bereits in Bezug genommenen Kleinen Anfrage in BTDrucks 17/4609 lässt sich auf Mindereinnahmen bei der Körperschaft- und Gewerbesteuer von lediglich 690 Mio. EUR schließen, wobei auf die Länder und Gemeinden ca. 500 Mio. EUR entfallen (BTDrucks 17/4832 S. 5). Danach bleibt es für den Bundeshaushalt bei Mehreinnahmen von über 2 Mrd. EUR.d) Allerdings hat das FG zu Recht auf das Atom-Moratorium und die Stilllegung der ältesten Atomkraftwerke hingewiesen. Nach § 7 Abs. 1a des Atomgesetzes sind bei insgesamt acht Kernkraftwerken die Berechtigungen zum Leistungsbetrieb mit Ablauf des 6. August 2011 erloschen. Wie die Bundesregierung mitgeteilt hat, kann das erwartete Aufkommen der Kernbrennstoffsteuer durch die dauerhafte Abschaltung dieser Kernkraftwerke jährlich um einen "dreistelligen Millionenbetrag im oberen Bereich" geringer ausfallen (BTDrucks 17/5749 S. 3). Auch die Berücksichtigung der mit der Abschaltung verbundenen Mindereinnahmen führt nicht zu einer derartigen Minderung des Aufkommens der Kernbrennstoffsteuer, dass das berechtigte Interesse des Bundes an einer Haushaltskonsolidierung und geordneten Haushaltsführung vernachlässigt werden könnte. Aufgrund der dauerhaften Stilllegung von acht Kernkraftwerken ist nach den Ergebnissen des Arbeitskreises Steuerschätzungen das geschätzte Aufkommen für das Jahr 2012 um 830 Mio. EUR und für die folgenden Jahre um jeweils 1 Mrd. EUR zu korrigieren (Monatsbericht des BMF, November 2011). Danach verbleibt ein prognostiziertes jährliches Steueraufkommen der Kernbrennstoffsteuer von über 1 Mrd. EUR.Letztlich können Unsicherheiten bei der exakten Bestimmung des Steuerausfalls bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung auf sich beruhen. Entscheidend ist, dass durch eine Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Bescheids das KernbrStG faktisch mit der Folge von drohenden hohen Einnahmeausfällen außer Kraft gesetzt würde.e) Dem Vorbringen der Antragstellerin ist nicht schlüssig zu entnehmen, dass durch die sofortige Vollziehung der angefochtenen Steueranmeldung irreparable Nachteile oder eine unzumutbare Härte drohen würden. In diesem Zusammenhang verweist sie lediglich auf den teilweisen Wegfall der kalkulierbaren Gewinne aus der Kernenergiegewinnung und auf --nicht näher bezifferte-- Kosten für frustrierte Aufwendungen und nutzlos gewordene Anlageninvestitionen sowie umfangreiche Investitionen in alternative Formen der Energiegewinnung. Auch die Behauptung, dass für Zwecke der Ertragsbesteuerung zumindest in 2011 im Inland ein negatives Jahresergebnis erzielt werde, wird nicht näher belegt. Jedenfalls lässt sich aus diesen Angaben nicht auf eine drohende Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Antragstellerin schließen. Nach der Rechtsprechung des BFH setzt eine Aufhebung der Vollziehung wegen unbilliger Härte voraus, dass der Betroffene seine wirtschaftliche Lage im Einzelnen vorträgt und glaubhaft macht (BFH-Beschlüsse vom 29. März 2001 III B 80/00, BFH/NV 2001, 1294, und in BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18). Nach Einschätzung des Senats ist die (vorläufige) Entrichtung der Steuer der Antragstellerin durchaus zumutbar. Dies wird auch durch den Verzicht des FG auf die Anforderung einer Sicherheitsleistung belegt, den es damit begründet hat, dass Anhaltspunkte für eine Gefährdung des --im Streitfall sehr hohen-- Steueranspruchs nicht ersichtlich seien.
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bfh_034-16
20. April 2016
Fahrtkosten bei Vermietung und Verpachtung regelmäßig in voller Höhe abziehbar 20. April 2016 - Nummer 034/16 - Urteil vom 01.12.2015 IX R 18/15 Vermieter können Fahrtkosten zu ihren Vermietungsobjekten im Regelfall mit einer Pauschale von 0,30 € für jeden gefahrenen Kilometer als Werbungskosten geltend machen. Die ungünstigere Entfernungspauschale (0,30 € nur für jeden Entfernungskilometer) ist aber dann anzuwenden, wenn das Vermietungsobjekt ausnahmsweise die regelmäßige Tätigkeitsstätte des Vermieters ist. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 1. Dezember 2015 IX R 18/15 klargestellt.Im Streitfall sanierte der Steuerpflichtige mehrere Wohnungen und ein Mehrfamilienhaus und suchte die hierfür eingerichteten Baustellen 165-mal bzw. 215-mal im Jahr auf. Aufgrund der Vielzahl der Fahrten zu den beiden Objekten kam das Finanzamt (FA) zu dem Ergebnis, dass der Steuerpflichtige am Ort der Vermietungsobjekte seine regelmäßige Tätigkeitsstätte habe. Die Fahrtkosten waren daher nach Ansicht des FA nur in Höhe der Entfernungspauschale abziehbar.Der BFH gab dem FA Recht. Denn auch bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung kann ein Vermieter - vergleichbar einem Arbeitnehmer - am Vermietungsobjekt eine regelmäßige Tätigkeitsstätte haben, wenn er sein Vermietungsobjekt nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit fortdauernd und immer wieder aufsucht. Dies war aufgrund der ungewöhnlich hohen Zahl Fahrten und der damit praktisch arbeitstäglichen Anwesenheit hier der Fall. Der Steuerpflichtige konnte daher seine Fahrtkosten nur in Höhe der Entfernungspauschale abziehen.Im Regelfall sucht ein Steuerpflichtiger ein Vermietungsobjekt allerdings nicht arbeitstäglich auf, sondern in größerem oder kleinerem zeitlichem Abstand, z.B. zu Kontrollzwecken, bei Mieterwechseln oder zur Ablesung von Zählerständen. Zudem erfordert bei nicht umfangreichem Grundbesitz die Verwaltung eines Mietobjekts in der Regel keine besonderen Einrichtungen, wie z.B. ein Büro, sondern erfolgt regelmäßig von der Wohnung des Steuerpflichtigen aus. In einem solchen Fall ist das Vermietungsobjekt nicht der ortsgebundene Mittelpunkt der Vermietungstätigkeit. Die Fahrtkosten können dann entsprechend den lohnsteuerlichen Grundsätzen mit 0,30 € je gefahrenen Kilometer geltend gemacht werden. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: IX R 18/15
Der Abzug von Kosten für Fahrten zu einem Vermietungsobjekt im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ist auf die Entfernungspauschale beschränkt, wenn sich an dem Objekt der ortsgebundene Mittelpunkt der dauerhaft und auf Überschusserzielung angelegten Vermietungstätigkeit befindet. Tenor Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Februar 2015  7 K 7084/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen. Tatbestand I. Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung von Fahrtkosten im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung.Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden.Die Kläger erzielten Einnahmen aus der Vermietung dreier Wohnungen in der C...-straße und aus einem Mehrfamilienhaus in der D...-straße in E. In ihrer Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 2010 machten die Kläger hinsichtlich der beiden Objekte jeweils Fahrtkosten im Umfang von 3.711,41 € (= insgesamt 7.422,81 €) geltend, die sie auf der Grundlage eines ordnungsgemäß geführten Fahrtenbuchs als Werbungskosten bei den beiden Objekten ansetzten. Die gefahrenen Kilometer setzten sich wie folgt zusammen:ZahlFahrtstreckekmgesamt40Wohnung - C...-straßeD...-straße - Wohnung14560125Wohnung - C...-straße - Wohnung101 250175Wohnung - D...-straße - Wohnung4700Weitere Fahrten138Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) kam zu dem Ergebnis, die Fahrten zu den beiden Objekten seien nur mit der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen. Nur für die sonstigen Fahrten könne der sich aus der Teilung der Gesamtkosten (7.422,81 €) durch die Gesamtkilometer (3 345 km) ergebende Kilometersatz von 2,22 € angesetzt werden. Daher könnten als Fahrtkosten lediglich insgesamt 682,86 € angesetzt werden. Das FA berechnete die Fahrtkosten wie folgt:ZahlFahrtstreckekm einfach40Wohnung - C...-straße - D...-straße - Wohnung 7        x 0,30 € 84,00 €125Wohnung - C...-straße - Wohnung 5        x 0,30 € 187,50 €175Wohnung - D...-straße - Wohnung 2        x 0,30 € 105,00 €Weitere Fahrten138x 2,22 €306,36 €Summe682,86 €Daher setzte das FA im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 9. Mai 2012 die Einkommensteuer auf der Grundlage von Fahrtkosten in Höhe von 682,86 € fest. Einspruch und Klage dagegen blieben erfolglos.Mit seiner in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 1087 veröffentlichten Entscheidung führte das Finanzgericht (FG) aus: Die Fahrtkosten des Klägers zu den beiden Objekten seien nur beschränkt auf die Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, Abs. 3 EStG zum Werbungskostenabzug zuzulassen. Denn der Kläger habe an den beiden Objekten eine regelmäßige Tätigkeitsstätte begründet. Eine regelmäßige Tätigkeitsstätte sei am Vermietungsobjekt dann anzunehmen, wenn sich dort im Wege einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls der quantitative und qualitative Mittelpunkt der gesamten auf dieses Objekt bezogenen auf die Einkünfteerzielung gerichteten Tätigkeit des Steuerpflichtigen befinde. Gegen eine Einordnung des Vermietungsobjekts als regelmäßige Tätigkeitsstätte spreche zwar, wenn dieses nur gelegentlich aufgesucht werde. Allerdings sprächen regelmäßige Fahrten zum und die Vornahme umfangreicher Verwaltungs-, Instandhaltungs-, Überwachungs- und Pflegetätigkeiten am Vermietungsobjekt dafür, dass es sich um eine regelmäßige Tätigkeitsstätte handele. Hier sei der Kläger im Streitjahr 165-mal zu dem einen Objekt und 215-mal zu dem anderen Objekt gefahren. Bei einer derart großen Zahl an Fahrten sei anzunehmen, dass der Kläger überwiegend an den beiden Mietobjekten tätig geworden sei. Für eine regelmäßige Tätigkeitsstätte an den beiden Mietobjekten spreche auch Art und Umfang der vom Kläger dort vorgenommenen Tätigkeiten. Diese hätten sich nicht auf bloße Kontrollen beschränkt, sondern auch regelmäßige Arbeiten wie z.B. Streuen, Fegen, Wässern oder Pflanzen umfasst.Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine fehlerhafte Anwendung der § 9 Abs. 3, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Dies folge aus der Annahme des FG, am Ort der Vermietungsobjekte werde die quantitativ und qualitativ maßgebliche Vermietungstätigkeit erbracht und dort liege die regelmäßige Tätigkeitsstätte. Denn ein Vermieter erbringe den überwiegenden Teil seiner Tätigkeit nicht am Ort des oder der Vermietungsobjekte, sondern am Ort der Verwaltung der Immobilien. An diesem Ort würden die laufenden Verwaltungstätigkeiten erledigt, die Abrechnungen und Nebenkostenabrechnungen gefertigt, der Schriftwechsel mit Mietern und Behörden abgewickelt sowie die steuerliche Verwaltung der Vermietungstätigkeiten durchgeführt. Insbesondere die Verwaltungsarbeit präge die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Daher stellten die Fahrten zu den Vermietungsobjekten nicht Fahrten zu regelmäßigen Tätigkeitstätten dar und unterfielen nicht der Abzugsbeschränkung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, Abs. 3 EStG. Denn aus der Zahl der Fahrten zu einem Vermietungsobjekt lasse sich nicht ableiten, welchen zeitlichen Aufwand der Besuch bei diesem Vermietungsobjekt erfordere. Die Verweisung in § 9 Abs. 3 EStG auf die Abzugsbeschränkungen nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG könne daher bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung nur gelten, wenn der Steuerpflichtige Fahrten zu dem Ort vornehme, an dem er die tatsächliche Verwaltung des bzw. der Vermietungsobjekte wahrnehme.Die Kläger beantragen sinngemäß,das Urteil des FG aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 9. Mai 2012 dahingehend abzuändern, dass bei der Berechnung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Objekte C...-straße und D...-straße weitere Werbungskosten in Höhe von jeweils 3.369,98 € zugrunde gelegt werden.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Fahrtkosten der Kläger im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 9 Abs. 3, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG nur beschränkt auf die Entfernungspauschale zum Abzug kommen. Denn auch bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) kann ein Steuerpflichtiger eine regelmäßige Tätigkeitsstätte innehaben (dazu unter 1.). Auf der Grundlage der von ihm festgestellten und nicht weiter mit Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachen (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) hat das FG zutreffend eine regelmäßige Tätigkeitsstätte der Kläger an den beiden Vermietungsobjekten bejaht (dazu unter 2.).1. Fahrten eines Steuerpflichtigen zu seinem Vermietungsobjekt kommen nur in Höhe der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 3, Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG zum Ansatz, wenn er dort seine regelmäßige Tätigkeitsstätte unterhält.a) Nach § 9 Abs. 3 EStG gilt § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG auch im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Steuerpflichtige, die im Zusammenhang mit ihrer Vermietungstätigkeit außerhalb ihrer Wohnung eine regelmäßige Tätigkeitsstätte begründet haben, können die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Tätigkeitsstätte nur mit der Entfernungspauschale von 0,30 € je Entfernungskilometer geltend machen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Mai 1995 IX R 73/91, BFHE 177, 464, BStBl II 1995, 713; Hessisches FG, Urteil vom 29. April 1993  10 K 3886/09, EFG 1993, 781; Fuhrmann in Korn, § 9 EStG, Rz 301). § 9 Abs. 3 EStG ist zur Gleichstellung von Nichtarbeitnehmern mit Arbeitnehmern in das Gesetz eingefügt worden (vgl. Erster schriftlicher Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1966 zu BTDrucks V/1187, S. 6; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, § 9 EStG Rz 542; Schmidt/Loschelder, EStG, 34. Aufl., § 9 Rz 253).Eine regelmäßige Tätigkeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 3, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG liegt daher vor, wenn das vermietete Objekt der (ortsgebundene) Mittelpunkt der dauerhaft und auf Überschusserzielung angelegten Vermietungstätigkeit des Steuerpflichtigen ist (vgl. BFH-Urteile vom 9. Juni 2011 VI R 55/10, BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, unter II.1.c; VI R 36/10, BFHE 234, 160, BStBl II 2012, 36, unter II.2.a, m.w.N.). Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Tätigkeiten der Steuerpflichtige im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung an dem oder den verschiedenen Vermietungsobjekten im Einzelnen wahrnimmt und welches konkrete Gewicht diesen Tätigkeiten zukommt. Der regelmäßigen Tätigkeitsstätte muss eine hinreichend zentrale Bedeutung im Rahmen der mit dem Objekt erzielten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zukommen. Allein der Umstand, dass der Steuerpflichtige das Vermietungsobjekt im zeitlichen Abstand immer wieder aufsucht (z.B. zu Kontrollzwecken oder zur Ablesung von Zählerständen) reicht für die Annahme einer regelmäßigen Tätigkeitsstätte nicht aus. Vielmehr ist eine gewisse Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit der Tätigkeit am Vermietungsobjekt erforderlich (vgl. BFH-Urteile in BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, unter II.1.d; vom 9. Juni 2011 VI R 58/09, BFHE 234, 155, BStBl II 2012, 34, unter II.1.; FG Düsseldorf, Urteil vom 4. Juni 1991  6 K 89/86 E, EFG 1992, 67).b) Die Tätigkeit eines Steuerpflichtigen zur Erzielung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung besteht im Wesentlichen in der Verwaltung seines Grundbesitzes. Bei nicht umfangreichem Grundbesitz erfordert diese Verwaltung in der Regel keine besonderen Einrichtungen, wie z.B. ein Büro, sondern erfolgt regelmäßig von der Wohnung des Steuerpflichtigen aus. Regelmäßige Tätigkeitsstätte ist dann die Wohnung des Steuerpflichtigen. Aufwendungen für gelegentliche Fahrten zu dem vermieteten Grundstück sind Werbungskosten i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG (vgl. R 21.2 Abs. 4 der Einkommensteuer-Richtlinien; Oberfinanzdirektion Köln, Verfügung vom 13. Mai 1975 S 2211 - 13 - St 111, Der Betrieb 1975, 1101; FG Düsseldorf in EFG 1992, 67; HHR/Bergkemper, § 9 EStG Rz 544; Fuhrmann in Korn, § 9 EStG Rz 302 f.; Schmidt/Loschelder, a.a.O., § 9 EStG Rz 253; Blümich/Schallmoser, § 21 EStG Rz 400, Stichwort "Reisekosten"; Schmidt, Neue Wirtschafts-Briefe 2014, 782, 787 f.). Die Aufwendungen können in diesem Fall in tatsächlicher Höhe oder entsprechend R 9.5 Abs. 1 der Lohnsteuer-Richtlinien 2008 mit 0,30 € je gefahrenen Kilometer geltend gemacht werden.c) Sucht der Vermieter hingegen ein Vermietungsobjekt nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, also fortdauernd und immer wieder auf, und wird er dort schwerpunktmäßig tätig, unterhält er --vergleichbar einem Arbeitnehmer-- eine regelmäßige Tätigkeitstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG am Belegenheitsort des Vermietungsobjekts. Denn dann wird dieses Objekt zum Mittelpunkt seiner auf dieses Objekt bezogenen Vermietungstätigkeit. Es ist dem Vermieter dann möglich, sich auf die immer gleichen Wege einzustellen und die anfallenden Wegekosten, z.B. durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, gering zu halten. In diesem Fall stellt sich § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG auch bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung insoweit als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip dar (vgl. BFH-Urteile in BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, unter II.1.c und d; in BFHE 234, 160, BStBl II 2012, 36, unter II.2.a, m.w.N.; in BFHE 234, 155, BStBl II 2012, 34, unter II.1.; FG Münster, Urteil vom 28. November 1989 VI 2090/86 E, EFG 1990, 303; FG Düsseldorf in EFG 1992, 67; Hessisches FG in EFG 1993, 781; FG Nürnberg, Urteil vom 4. Mai 1977 V 163/75, Deutsches Steuerrecht 1977, 575; FG Köln, Urteil vom 12. Juni 1986 V K 373/84, EFG 1986, 555; von Beckerath in Kirchhof, EStG, 14. Aufl., § 9 Rz 140; Seitrich, Betriebs-Berater 1986, 2308, 2309; Baldauf, EFG 2015, 1089, 1090). Die Frage, ob eine regelmäßige Tätigkeitstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung im Büro oder häuslichen Arbeitszimmer des Steuerpflichtigen oder am Vermietungsobjekt vorhanden ist, ist vom FG anhand einer Würdigung der tatsächlichen Umstände im Einzelfall zu bestimmen.2. Nach diesen Rechtsgrundsätzen hat das FG auf der Grundlage der von ihm festgestellten und nicht weiter mit Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachen zutreffend eine regelmäßige Tätigkeitsstätte des Klägers an den beiden Vermietungsobjekten bejaht. Denn der Kläger hat im Streitjahr nach den bindenden Feststellungen des FG die beiden Vermietungsobjekte nicht nur gelegentlich und zu Kontrollzwecken aufgesucht, sondern mehrmals (arbeits-)täglich und damit wiederholt und immer wieder. Die Schlussfolgerung des FG, wonach bei insgesamt 380 Fahrten innerhalb eines Jahres zu den beiden Vermietungsobjekten der ortsgebundene Mittelpunkt der vom Kläger verrichteten Tätigkeiten im Rahmen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung im Streitjahr an den Objekten lag, ist daher revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_005-14
22. Januar 2014
Kindergeld für verheiratete Kinder 22. Januar 2014 - Nummer 005/14 - Urteil vom 17.10.2013 III R 22/13 Der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges Kind entfällt nicht deshalb, weil das Kind verheiratet ist. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) durch Urteil vom 17. Oktober 2013 für die ab 2012 geltende Rechtslage entschieden.Nach langjähriger Rechtsprechung des BFH erlosch der Kindergeldanspruch für ein volljähriges Kind grundsätzlich mit dessen Eheschließung. Dies beruhte auf der Annahme, dass der Anspruch auf Kindergeld oder einen Kinderfreibetrag eine typische Unterhaltssituation voraussetze, die infolge der Heirat wegen der zivilrechtlich vorrangigen Unterhaltsverpflichtung des Ehegatten regelmäßig entfalle. Der Kindergeldanspruch blieb nach dieser Rechtsprechung nur erhalten, wenn --wie z.B. bei einer Studentenehe-- die Einkünfte des Ehepartners für den vollständigen Unterhalt des Kindes nicht ausreichten und das Kind auch nicht über ausreichende eigene Mittel verfügte (sog. Mangelfall).Diese Rechtsprechung hat der BFH nun aufgegeben. Das ungeschriebene Erfordernis einer "typischen Unterhaltssituation" hatte der BFH bereits 2010 aufgegeben (BFH-Urteil vom 17. Juni 2010 III R 34/09, Pressemitteilung Nr. 74/2010). Seit einer Gesetzesänderung hängt der Kindergeldanspruch (mit Wirkung ab Januar 2012) zudem nicht mehr davon ab, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes einen Grenzbetrag (von zuletzt 8.004 € jährlich) nicht überschreiten. Damit, so der BFH, ist der sog. Mangelfallrechtsprechung seitdem die Grundlage entzogen. Der BFH hat insofern gegen die in der zentralen Dienstanweisung für die Familienkassen niedergelegte Verwaltungsauffassung entschieden. Das bedeutet: Wenn die übrigen Voraussetzungen für die Berücksichtigung des Kindes erfüllt sind, können Eltern seit Januar 2012 das Kindergeld auch dann beanspruchen, wenn ihr Kind z.B. mit einem gut verdienenden Partner verheiratet ist. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: III R 22/13
Die Verheiratung eines Kindes kann dessen Berücksichtigung seit Januar 2012 nicht mehr ausschließen. Da es seitdem auf die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht mehr ankommt, ist der sog. Mangelfallrechtsprechung die Grundlage entzogen (gegen DA-FamEStG 2013 Abschn. 31.2.2). Tatbestand I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist leiblicher Vater einer 1991 geborenen Tochter, die nach dem Abschluss ihrer Schulausbildung am 1. Oktober 2010 eine dreijährige Ausbildung begann, für die sie Ausbildungsvergütung bezog.Die Tochter heiratete im April 2011. Ihr Ehemann befindet sich seit September 2011 in einem Berufsausbildungsverhältnis und erhält ebenfalls eine Ausbildungsvergütung.Der Kläger leistete seiner Tochter, die für 2012 (Streitjahr) einen Abzweigungsantrag gestellt hat, keinen Unterhalt. Seinen Kindergeldantrag lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 20. Juli 2012 ab und wies den fristgemäß eingelegten Einspruch als unbegründet zurück, weil die Tochter sich mit ihrem eigenen Einkommen und dem Unterhaltsbeitrag ihres Ehemannes selbst unterhalten könne. Nach der Berechnung der Familienkasse hatte die Tochter Einkünfte von mehr als 8.300 EUR erzielt.Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, da es ab 2012 nicht mehr auf die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes ankomme, sei ein etwaiger Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann unerheblich.Zur Begründung ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Gründe II. Die Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Tochter zu berücksichtigen ist.1. Dem Kläger steht nach dem Wortlaut der §§ 32, 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für seine Tochter Kindergeld zu. Die Tochter ist ab Januar 2012 als Kind zu berücksichtigen, denn sie hat das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet, wird für einen Beruf ausgebildet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) und hat noch keine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium abgeschlossen (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 --EStG n.F.--, BGBl I 2011, 2131). Die Höhe ihrer Einkünfte und Bezüge ist --im Gegensatz zu der bis Ende 2011 geltenden Rechtslage-- ohne Bedeutung.2. Ihre Verheiratung steht der Berücksichtigung --entgegen der Verwaltungsansicht (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2013)-- nicht entgegen.a) Die Verheiratung des Kindes hindert den Anspruch auf Kindergeld nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 EStG n.F. nicht; einen entsprechenden Ausschlusstatbestand enthält die Vorschrift nicht.b) Nach langjähriger Rechtsprechung (z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 2. März 2000 VI R 13/99, BFHE 191, 69, BStBl II 2000, 522; vom 19. April 2007 III R 65/06, BFHE 218, 70, BStBl II 2008, 756; vom 22. Dezember 2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340) bestand für ein verheiratetes Kind jedoch grundsätzlich kein Anspruch auf Kindergeld. Dies beruhte auf der Annahme, dass der Kindergeldanspruch für über 18 Jahre alte Kinder eine typische Unterhaltssituation seitens der Eltern voraussetzt, an der es fehlt, wenn das Kind verheiratet ist oder während einer Übergangs- oder Wartezeit einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgeht. Der Anspruch blieb jedoch erhalten, wenn bei einem verheirateten Kind --wie z.B. bei einer Studentenehe-- die Einkünfte des Ehepartners für den vollständigen Unterhalt des Kindes nicht ausreichten und das Kind ebenfalls nicht über ausreichende eigene Mittel für seinen Unterhalt verfügte --sog. Mangelfall-- (so ausdrücklich das BFH-Urteil in BFHE 191, 69, BStBl II 2000, 522) oder die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag trotz seiner Vollzeiterwerbstätigkeit nicht erreichten (Senatsurteil vom 18. Mai 2006 III R 1/06, BFH/NV 2006, 1825), so dass die Eltern weiterhin für das Kind aufkommen mussten.c) Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der "typischen Unterhaltssituation" wurde vom BFH mit Urteil vom 17. Juni 2010 III R 34/09 (BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982) aufgegeben. Der BFH ist damit von einer teleologischen zu einer am Wortlaut und der Systematik des § 32 Abs. 4 EStG orientierten Auslegung übergegangen, die die Rechtsanwendung deutlich vereinfacht hat (Sauerland, Deutsches Steuerrecht 2010, 2118). Seit der Rechtsprechungsänderung ist zunächst der Berücksichtigungstatbestand zu prüfen (u.a. Verwandtschaftsgrad und Alter des Kindes sowie Ausbildung, Übergangs- oder Wartezeit). Anschließend war --für die Zurechnung von Kindern bis Ende 2011-- zu ermitteln, ob die Berücksichtigung wegen Überschreitung des Grenzbetrags (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.) ausgeschlossen war.aa) Der BFH hat auch nach der Rechtsprechungsänderung in mehreren Urteilen zum Kindergeldanspruch für verheiratete Kinder daran festgehalten, dass dieser wegen der vorrangigen Unterhaltsverpflichtung des Ehegatten grundsätzlich ausgeschlossen sei und nur ausnahmsweise --in Mangelfällen-- nach der Eheschließung fortbestehe. Die Entscheidung richtete sich jedoch sodann stets nach dem Ergebnis der Grenzbetragsberechnung, bei der dem verheirateten Kind der vom Ehegatten bezogene Unterhalt als Bezug zugerechnet wurde. Wenn der Grenzbetrag nicht erreicht wurde, weil die Unterhaltsleistungen dafür zu niedrig waren oder der getrennt lebende Ehegatte keinen Unterhalt leistete (BFH-Urteil in BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340), wurde das verheiratete Kind berücksichtigt.bb) Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation ist seit dem BFH-Urteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982 vollständig entfallen, und nicht nur --wie die Familienkasse meint-- für die Fallgruppe der vollzeitbeschäftigten Kinder.Der BFH hat daher auch wiederholt in seinen die Vollzeiterwerbstätigkeit von Kindern betreffenden Entscheidungen ausgesprochen, dass es nach dem Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik unerheblich sei, aus welchen Gründen es an einer typischen Unterhaltssituation der Eltern fehlt (z.B. BFH-Urteil vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774).Darüber hinaus hat er das Argument, die Berücksichtigung eines Kindes setze voraus, dass sich die Eltern in einer typischen Unterhaltssituation befänden, auch für andere Sachverhaltsgestaltungen ausdrücklich abgelehnt, z.B. zur Berücksichtigung eines Zivildienstleistenden als Ausbildungsplatz suchendes Kind (Senatsurteil vom 27. September 2012 III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544) sowie zu einem unverheirateten Kind, das mit dem anderen Elternteil seines nichtehelichen Kindes in einem gemeinsamen Haushalt lebt und gegen diesen einen gegenüber der Unterhaltspflicht der Eltern vorrangigen Unterhaltsanspruch nach § 1615l des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat (Urteil vom 11. April 2013 III R 24/12, BFHE 241, 255, BStBl II 2013, 866).cc) Die von der Familienkasse befürwortete Fortführung einer Einkünfte- und Bezügegrenze, die sich zwecks Prüfung eines Mangelfalles allein auf verheiratete Kinder beschränkt, würde der mit der Abschaffung der Grenzbetragsregelung bei volljährigen Kindern vom Gesetzgeber bezweckten Entlastung der Eltern vom Erklärungsaufwand und der Entlastung der Verwaltung von der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge der Kinder widersprechen (BRDrucks 54/11, S. 27).Sie wäre zudem im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes bedenklich, weil die Eltern verheirateter Kinder dadurch gegenüber Eltern, die ihren Kindern typischerweise ebenfalls nicht zum Unterhalt verpflichtet sind, benachteiligt würden. Dies betrifft insbesondere die Eltern volljähriger Kinder mit hinreichenden Einkünften (z.B. aus einer hohen Ausbildungsvergütung) oder Bezügen (z.B. Kinder, deren Unterhalt durch den "Erbonkel" oder ein Stipendium bestritten wird).dd) Die Versagung der Berücksichtigung eines verheirateten Kindes ist zudem dann nicht zu rechtfertigen, wenn das Kind --wie im Streitfall-- die nach Verwaltungsauffassung insoweit "fortgeltende" Einkünfte- und Bezügegrenze nicht aufgrund der Unterhaltsleistungen seines Ehegatten, sondern allein aufgrund eigener Einkünfte überschreitet. Denn die Entlastung der Eltern beruht dann nicht auf der Heirat und den dadurch erlangten Unterhaltsansprüchen des Kindes, sondern lediglich auf den Einkünften des Kindes, die nach der durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 geschaffenen Gesetzeslage ab 2012 nicht mehr zu berücksichtigen sind.
bundesfinanzhof
bfh_064-11
17. August 2011
Keine Teilwertabschreibung auf festverzinsliche Wertpapiere wegen unter Nennwert gesunkenen Kurses 17. August 2011 - Nummer 064/11 - Urteil vom 08.06.2011 I R 98/10 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 8. Juni 2011 I R 98/10 entschieden, dass eine Abschreibung (sog. Teilwertabschreibung) auf festverzinsliche Wertpapiere unter ihren Nennwert allein wegen gesunkener Kurse nicht zulässig ist. Dies betrifft insbesondere auch Geldinstitute, denn Abschreibungsverbot gilt auch für festverzinsliche Wertpapiere, die zum Handelsbestand gehören und deshalb im Umlaufvermögen gehalten werden.Eine Bank hatte Teilwertabschreibungen auf festverzinsliche Wertpapiere geltend gemacht. Dies hatte das Finanzamt insoweit abgelehnt, als die Kurswerte unter deren Nominalwert gefallen waren. Dem folgte der BFH. Ein Wirtschaftsgut ist grundsätzlich mit seinen Anschaffungskosten in der Bilanz auszuweisen. Stattdessen kann der Teilwert angesetzt werden, wenn dieser aufgrund einer voraussichtlich dauernden Wertminderung unter den Anschaffungskosten des Wirtschaftsgutes liegt. Sinkt der Kurs festverzinslicher Wertpapiere unter ihren Nennbetrag, rechtfertigt dies nach Auffassung des BFH grundsätzlich keine gewinnmindernde Teilwertabschreibung. Da feststehe, dass der Gläubiger zum Ende der Laufzeit den Nennbetrag des Papiers erhalte, sei die Wertminderung nicht dauernd. Nur wenn Zweifel an der Bonität des Schuldners bestünden, komme eine andere Beurteilung in Betracht. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: I R 98/10
Bei festverzinslichen Wertpapieren, die eine Forderung in Höhe des Nominalwerts der Forderung verbriefen, ist eine Teilwertabschreibung unter ihren Nennwert allein wegen gesunkener Kurse regelmäßig nicht zulässig. Dies gilt auch dann, wenn die Wertpapiere zum Umlaufvermögen gehören. Tatbestand I. Die Beteiligten streiten über die Bewertung festverzinslicher Wertpapiere. Streitjahr ist 2007.Die Klägerin, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist ein Kreditinstitut in der Rechtsform einer eingetragenen Genossenschaft. Sie hielt am 31. Dezember 2007 in ihrem Umlaufvermögen u.a. festverzinsliche Wertpapiere. Die Kurswerte von einigen dieser Wertpapiere waren an dem genannten Bilanzstichtag unter die Anschaffungskosten gesunken; sie beliefen sich bei verschiedenen Papieren auf mehr und bei anderen auf weniger als 100 % des Nominalwerts.Am 11. Januar 2008 stellte die Klägerin ihre Bilanz für das Streitjahr auf. Bis zu diesem Tag hatten sich die Kurse verschiedener Papiere seit dem Bilanzstichtag erholt; bei einzelnen Papieren war es in der Zeit zwischen dem 31. Dezember 2007 und dem 11. Januar 2008 zunächst zu Kurserholungen und später zu Kursrückgängen gekommen, durch die die zunächst eingetretenen Wertsteigerungen teilweise rückgängig gemacht worden waren. Das angefochtene Urteil enthält eine tabellarische Übersicht zu den einzelnen Kursentwicklungen, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird.Der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ einen Körperschaftsteuerbescheid für das Streitjahr, in dem er davon ausging, dass die in Rede stehenden Wertpapiere in der Steuerbilanz der Klägerin mit den höchsten in der Zeit zwischen dem 31. Dezember 2007 und dem 11. Januar 2008 erreichten Kurswerten anzusetzen seien. Diesen Bescheid focht die Klägerin nach erfolglosem Einspruchsverfahren mit einer Klage an. Im Verlauf des Klageverfahrens ist unstreitig geworden, dass eine der von der Klägerin gehaltenen Fondsbeteiligungen (WKN 980554) einen Immobilienfonds betrifft und dass insoweit der von der Klägerin begehrte Ansatz eines um 3.612 EUR niedrigeren Teilwerts berechtigt ist; dem hat das FA in der ersten Instanz durch einen eingeschränkten Klageabweisungsantrag Rechnung getragen.Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt (FG Münster, Urteil vom 9. Juli 2010  9 K 75/09 K): Es entschied, dass bei der Bewertung der übrigen Wertpapiere am Tag der Bilanzaufstellung erreichte höhere Kurswerte zu berücksichtigen seien. Für die Bilanzierung unbeachtlich seien dagegen zwischenzeitliche Kurserholungen, die sich bis zur Aufstellung der Bilanz wieder verflüchtigt hätten. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2011, 221 abgedruckt.Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung materiellen Rechts. Sie beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und den angefochtenen Bescheid dahin zu ändern, dass --unter gegenläufiger Minderung des Gewerbesteuer-Aufwands-- die handelsrechtlich vorgenommenen Teilwertabschreibungen in Höhe von 367.502 EUR in vollem Umfang als den Gewinn mindernd berücksichtigt werden.Das FA hat ebenfalls Revision eingelegt und beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Beide Beteiligten beantragen zudem die Zurückweisung der Revision des jeweils anderen. Gründe   II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage insgesamt. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).1. Die Klägerin ermittelt ihren Gewinn nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes i.V.m. § 4 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Sie muss dabei gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG in dessen für das Streitjahr maßgeblicher Fassung (EStG 2002) für den Schluss eines jeden Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen ansetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist und die Bewertung jenes Betriebsvermögens nach § 6 EStG 2002 vornehmen.2. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG 2002 sind die nicht in § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2002 genannten Wirtschaftsgüter --u.a. Beteiligungen und Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens-- grundsätzlich mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten anzusetzen. Die in § 6 Abs. 1 Nr. 2 EStG 2002 genannten Einschränkungen und Verminderungen der Anschaffungs- oder Herstellungskosten spielen im Streitfall keine Rolle. Jedoch kann an Stelle jener Kosten der Teilwert i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG 2002 angesetzt werden, wenn er aufgrund einer voraussichtlich dauernden Wertminderung niedriger ist (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG 2002). Eine solche "Teilwertabschreibung" macht die Klägerin im Streitfall geltend.3. Diesem Begehren ist das FA insoweit gefolgt, als es in dem angefochtenen Bescheid für die festverzinslichen Wertpapiere insgesamt um 540.750 EUR geminderte Teilwerte und in Bezug auf die Fondsanteile insgesamt um 176.690 EUR geminderte Teilwerte berücksichtigt hat. Die damit vom FA anerkannten Teilwertabschreibungen belaufen sich mithin auf insgesamt 717.440 EUR. Für eine darüber hinausgehende Gewinnminderung ist im Streitfall kein Raum. In diesem Zusammenhang muss nicht die zwischen den Beteiligten streitige Frage entschieden werden, ob am maßgeblichen Bilanzstichtag bei allen in Rede stehenden Wirtschaftsgütern "voraussichtlich dauernde" Wertminderungen i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG 2002 insoweit nicht vorlagen, als die Werte jener Wirtschaftsgüter bis zum Tag der Bilanzaufstellung durch die Klägerin wieder angestiegen waren. Denn unabhängig davon fehlt es jedenfalls bei den festverzinslichen Wertpapieren an einer "voraussichtlich dauernden" Wertminderung, soweit die Kurswerte der Papiere unter deren Nominalwert abgesunken sind oder schon vor ihrem (weiteren) Absinken unter jenem Wert lagen.a) Der Begriff "voraussichtlich dauernde Wertminderung" ist weder im Handelsgesetzbuch (HGB) noch im Steuerrecht definiert. Er bezeichnet im Grundsatz eine Minderung des Teilwerts (handelsrechtlich: des beizulegenden Werts), die einerseits nicht endgültig sein muss, andererseits aber nicht nur vorübergehend sein darf. Ob eine Wertminderung "voraussichtlich dauernd" ist, muss unter Berücksichtigung der Eigenart des jeweils in Rede stehenden Wirtschaftsguts beurteilt werden (Senatsurteil vom 27. November 1974 I R 123/73, BFHE 114, 415, BStBl II 1975, 294).b) Im Zusammenhang mit festverzinslichen Wertpapieren ist insoweit zu berücksichtigen, dass diese regelmäßig eine Forderung in Höhe des Nominalwerts des Papiers verbriefen. Der Inhaber eines solchen Papiers hat mithin das gesicherte Recht, am Ende der Laufzeit diesen Nominalwert zu erhalten. Diese Sicherheit hat er an jedem Bilanzstichtag, und zwar unabhängig davon, ob zwischenzeitlich infolge bestimmter Marktgegebenheiten der Kurswert des Papiers unter dessen Nominalwert liegt. Ein Absinken des Kurswerts unter den Nominalwert erweist sich unter diesem zeitlichen Blickwinkel mithin jedenfalls dann, wenn sich darin nicht ein Risiko hinsichtlich der Rückzahlung widerspiegelt, als nur vorübergehend und folglich als nicht dauerhaft. Das schließt --entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung (Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 25. Februar 2000, BStBl I 2000, 372, Tz. 24 f.)-- die Annahme einer "voraussichtlich dauernden" Wertminderung aus (ebenso Hoffmann/Lüdenbach, NWB Kommentar Bilanzierung, 2. Aufl., § 253 Rz 127; vgl. auch Buciek, Der Betrieb --DB-- 2010, 1029, 1030).c) Das gilt auch dann, wenn die Wertpapiere --wie nach den Feststellungen des FG im Streitfall-- zum Umlaufvermögen eines Betriebs gehören. Denn in einem solchen Fall sind die Papiere zwar nicht dazu bestimmt, dem Betrieb auf Dauer zu dienen; sie sollen vielmehr nach dem Willen des Unternehmers ggf. --bei Bedarf oder unter bestimmten sonstigen Gegebenheiten-- vor dem Ende ihrer Laufzeit veräußert werden. Auch kann aus der Sicht eines jeden Bilanzstichtags nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer in diesem Sinne "vorzeitigen" späteren Veräußerung nur ein unterhalb des Nominalwerts liegender Wert erlöst werden kann. Darauf ist aber bei der Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG 2002 nicht abzustellen. Maßgeblich ist insoweit vielmehr, dass weder eine vorzeitige Veräußerung noch ein Zuwarten des Gläubigers bis zur Endfälligkeit vorausgesehen werden kann. Unter diesen Umständen liegt die vom Gesetz geforderte voraussichtliche Dauerhaftigkeit der Wertminderung nicht vor.d) Diese Beurteilung wird durch die nachfolgende Rechtsentwicklung der seit 29. Mai 2009 gültigen einschlägigen handelsrechtlichen Regelungen (Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz) zusätzlich gestützt. Dem Ansatz eines niedrigeren Teilwerts i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG 2002 entspricht dort die außerplanmäßige Abschreibung. Eine solche kann bei Gegenständen des Anlagevermögens grundsätzlich nur bei voraussichtlich dauernder Wertminderung vorgenommen werden (§ 253 Abs. 3 Satz 3 HGB), während sie bei im Anlagevermögen gehaltenen Finanzanlagen unabhängig von einer solchen zulässig ist (§ 253 Abs. 3 Satz 4 HGB). Die Erleichterung einer außerplanmäßigen Abschreibung bei Finanzanlagen dient erkennbar dem Ziel, in diesem Bereich u.a. Zinsschwankungen auf die Bewertung durchschlagen zu lassen; in diesem Sinne werden denn auch im handelsrechtlichen Schrifttum im Zusammenhang mit festverzinslichen Wertpapieren solche Vorgänge als "nicht dauerhafte" Wertänderungen verstanden (z.B. Wiedmann in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Handelsgesetzbuch, 2. Aufl., § 253 Rz 86). Auch wenn § 6 EStG 2002 insoweit einen eigenständigen und vom Handelsrecht losgelösten Begriffsinhalt aufweist (Senatsurteil vom 26. September 2007 I R 58/06, BFHE 219, 100, BStBl II 2009, 394), erscheint eine unterschiedliche Auslegung doch nur dann sachgerecht, wenn die Abweichung von spezifisch steuerrechtlichen Gesichtspunkten getragen wird; an solchen fehlt es hier. § 253 Abs. 4 HGB schließlich macht bei Gegenständen des Umlaufvermögens die außerplanmäßige Abschreibung nicht von einer voraussichtlich dauernden Wertminderung, sondern u.a. von einem gesunkenen Börsen- oder Marktpreis abhängig; insoweit weicht § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG 2002 aber von jener Regelung ab, was darauf hinweist, dass z.B. ein gesunkener Börsenkurs steuerrechtlich gerade nicht stets zum Ansatz eines niedrigeren Teilwerts führen soll. Die Bewertung festverzinslicher Wertpapiere ist in besonderem Maße geeignet, dieser vom Gesetz vorgegebenen Unterscheidung Rechnung zu tragen.e) Schließlich widerspricht das Abstellen auf die gesicherte Aussicht des Gläubigers, am Fälligkeitstag den Nennbetrag zu erhalten, nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Frage der "voraussichtlich dauernden Wertminderung".aa) Das gilt in besonderem Maße im Hinblick auf die Entscheidung des IV. Senats des BFH zur steuerrechtlichen Behandlung von Fremdwährungsverbindlichkeiten (BFH-Urteil vom 23. April 2009 IV R 62/06, BFHE 224, 564, BStBl II 2009, 778). Danach ist bei Verbindlichkeiten mit einer Restlaufzeit von ca. 10 Jahren davon auszugehen, dass sich Währungsschwankungen in der Regel ausgleichen; ein durch Wechselkursveränderungen ausgelöstes Absinken des Teilwerts berechtigt daher nicht zu einer Teilwertabschreibung. Diese Beurteilung beruht darauf, dass im Zusammenhang mit Verbindlichkeiten deren gesamte Laufzeit zu betrachten ist und eine zwischenzeitlich eingetretene Wertänderung nicht "voraussichtlich dauernd" ist, wenn sie sich bis zum Ende der Laufzeit ausgleichen wird (ebenso Buciek, DB 2010, 1029, 1030); das ist bei Verbindlichkeiten denkbar, bei festverzinslichen Wertpapieren --abgesehen von der Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit des Schuldners-- aber sogar sicher. Deshalb ist hier mehr noch als in dem vom IV. Senat angesprochenen Bereich die Annahme begründet, dass der Ansatz eines niedrigeren Teilwerts ausscheidet.bb) Für den Fall eines Kursverfalls bei im Anlagevermögen gehaltenen börsennotierten Aktien hat der erkennende Senat zwar eine Teilwertabschreibung für geboten erachtet (Senatsurteil in BFHE 219, 100, BStBl II 2009, 394). Mit der dort beurteilten Situation ist die hier interessierende aber schon von der wirtschaftlichen Ausgangslage her nicht vergleichbar. Denn bei Aktien fehlt es daran, dass deren spätere Veräußerung oder Einlösung zu einem bestimmten Wert sichergestellt ist; der Inhaber einer im Wert gesunkenen Aktie muss vielmehr damit rechnen, dass der Wertverlust auf Dauer anhalten oder sich noch vergrößern wird. Die für die Behandlung festverzinslicher Papiere ausschlaggebende Überlegung greift daher bei Aktien nicht, was eine unterschiedliche Handhabung beider Bereiche rechtfertigt.cc) Es kann dem Blick auf die Situation bei Endfälligkeit eines Wertpapiers auch nicht die Rechtsprechung des BFH zur Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG bei abnutzbaren Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (BFH-Urteile 14. März 2006 I R 22/05, BFHE 212, 526, BStBl II 2006, 680; vom 9. September 2010 IV R 38/08, BFH/NV 2011, 423) entgegengehalten werden. Danach ist zwar bei der Beurteilung der "voraussichtlichen Dauerhaftigkeit" nicht auf die gesamte, sondern nur auf die halbe Restnutzungsdauer des betreffenden Wirtschaftsguts abzustellen. Diese Annahme beruht aber darauf, dass abnutzbare Wirtschaftsgüter nach Ablauf ihrer Nutzungsdauer regelmäßig auch ohne eine zwischenzeitlich eingetretene Wertminderung einen Restwert von Null haben und dass deshalb in diesem Bereich für die gesetzlich vorgesehene Teilwertabschreibung (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG 2002) kaum noch Raum wäre, wenn man eine auf diesen Zeitpunkt bezogene vergleichende Betrachtung des Zustands mit Wertminderung und des Zustands ohne Wertminderung abstellen würde. Sie dient mithin einer Auslegung, die der gesetzlichen Vorgabe einen angemessenen Anwendungsbereich eröffnet. Dieser Gesichtspunkt greift in der hier zu beurteilenden Situation nicht.f) Im Streitfall hat das FG zwar nicht festgestellt, dass die von der Klägerin gehaltenen festverzinslichen Wertpapiere bei Endfälligkeit (nur) zu ihrem Nennwert eingelöst werden sollten. Eine solche Vorgabe entspricht jedoch dem Regelfall und ist zudem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden. Der Senat geht daher davon aus, dass jedenfalls eine Einlösung zu einem deutlich niedrigeren Kurs nicht in Rede steht. Auch bietet das angefochtene Urteil keinen Anknüpfungspunkt für die Annahme, dass bei einzelnen oder allen festverzinslichen Papieren das Absinken der Kurswerte unter die Nennwerte auf Gründen beruht, die mit einem Risiko in Bezug auf die Einlösung bei Fälligkeit zu tun haben; das FG hat vielmehr ausgeführt, dass es um Schuldverschreibungen von "Schuldnern mit bester Bonität" geht (S. 12 des FG-Urteils). Angesichts dessen kann ein Absinken des Teilwerts nur insoweit gewinnmindernd berücksichtigt werden, als der Teilwert den Nennwert nicht unterschreitet. Das führt, wenn man zu Gunsten der Klägerin ausschließlich auf die am Bilanzstichtag gegebenen Teilwerte abstellt, zu folgender Berechnung (Beträge in EUR):      Kenn-Nr.AnschaffungskostenVergleichswertGewinnminderungBilanzstichtagAON33M     5.033.0005.000.00033.000HLB0FW    5.011.0005.000.00011.000HVOEBA       4.954.5005.000.000------WGZOAU     1.961.7501.900.00061.750WGZON2    5.011.2505.000.00011.250WGZ0PW     2.507.0002.500.000 7.000WGZ0QR     4.998.5005.000.000------WGZ09Q     10.070.00010.055.000 15.000WGZ10D     10.081.00010.040.00041.000WLB5H2     2.453.000 2.500.000 ------ 180.000                                                             Im Rahmen der Gewinnermittlung muss die Klägerin mithin, selbst wenn man zu ihren Gunsten bis zur Bilanzaufstellung eingetretene Kurserholungen nicht berücksichtigt, im Hinblick auf die festverzinslichen Wertpapiere lediglich ein Absinken der Teilwerte um 180.000 EUR berücksichtigen. Hinzu kommen bei den Fondsanteilen eingetretene Wertverluste von höchstens 242.055 EUR. Die Summe dieser Gewinnminderungen beläuft sich auf 422.055 EUR. Demgegenüber sind in dem angefochtenen Bescheid bereits Gewinnminderungen in einer Gesamthöhe von 717.440 EUR berücksichtigt. Eine weiter gehende Gewinnminderung kann daher nicht angesetzt werden.4. Das Urteil des FG, das diesen Grundsätzen nicht entspricht, muss aufgehoben werden. Die Klage ist abzuweisen. Dem steht nicht entgegen, dass das FA in der ersten Instanz seinen ursprünglichen Antrag auf Klageabweisung eingeschränkt und in der mündlichen Verhandlung vor dem FG beantragt hat, (nur) im Hinblick auf eine der Fondsbeteiligungen "eine weitere Teilwertabschreibung in Höhe von 3.612,42 EUR vorzunehmen". Dieser Umstand führt insbesondere nicht dazu, dass das FG über den derart eingeschränkten Klageabweisungsantrag nicht hinausgehen durfte (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) und dass deshalb im Revisionsverfahren ebenfalls der mögliche Streitgegenstand durch diese Einschränkung begrenzt wird. Denn § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO bezieht sich ausschließlich auf den Antrag des Klägers; der Antrag des Beklagten ist nur eine Anregung an das Gericht, bei der Beurteilung der Rechtslage auf bestimmte Punkte besonders Wert zu legen, und entfaltet keine verfahrensrechtliche Bindungswirkung (Senatsurteil vom 17. Juli 2008 I R 12/08, BFHE 222, 423, BStBl II 2009, 160, m.w.N.). Ebenso spielt das Verbot der Verböserung, das nur an die Steuerfestsetzung in dem angefochtenen Bescheid anknüpft, im Streitfall keine Rolle. Schließlich führt die Einschränkung des beim FG gestellten Antrags nicht dazu, dass das FA durch das angefochtene Urteil insoweit nicht beschwert ist; denn die Beschwer folgt unabhängig von der erstinstanzlichen Antragstellung allein daraus, dass das FG dem FA nicht in vollem Umfang gefolgt ist (BFH-Beschluss vom 15. November 1971 GrS 7/70, BFHE 103, 456, BStBl II 1972, 120; BFH-Urteil vom 2. Februar 1979 VI R 108/75, BFHE 127, 37, BStBl II 1979, 338, 340; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 120 Rz 12, m.w.N.). Deshalb darf das FA, wenn es beim FG eine Änderung des angefochtenen Bescheids zu Gunsten des Klägers beantragt und das FG die Steuer über das so beantragte Maß hinaus herabgesetzt hat, in einem Revisionsverfahren eine vollständige Abweisung der Klage beantragen. Das ist im Streitfall geschehen, und aus materiell-rechtlicher Sicht muss jenem Antrag gefolgt werden.
bundesfinanzhof
bfh_007-15
28. Januar 2015
Aufwendungen für eine Dichtheitsprüfung einer Abwasserleitung als steuerbegünstigte Handwerkerleistung 28. Januar 2015 - Nummer 007/15 - Urteil vom 06.11.2014 VI R 1/13 Mit Urteil vom 6. November 2014 hat der VI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) entschieden, dass die Überprüfung der Funktionsfähigkeit einer Anlage (Dichtheitsprüfung einer Abwasserleitung) durch einen Handwerker und damit die Erhebung des unter Umständen noch mangelfreien Istzustandes ebenso eine steuerbegünstigte Handwerkerleistung i.S. des § 35a Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sein kann wie die Beseitigung eines bereits eingetretenen Schadens oder vorbeugende Maßnahmen zur Schadensabwehr.Der Kläger beantragte in der Einkommensteuererklärung 2010 für eine Dichtheitsprüfung der Abwasserleitung seines privat genutzten Wohnhauses vergeblich eine Steuerermäßigung nach § 35a Abs. 3 EStG für die Inanspruchnahme von Handwerkerleistungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen. Das Finanzamt war der Auffassung, dass die Dichtheitsprüfung – wie die vom TÜV oder anderen autorisierten Fachkräften durchzuführende Sicherheitsprüfung einer Heizungsanlage im Gegensatz zu einer Wartung der Heizungsanlage – mit einer Gutachtertätigkeit vergleichbar sei. Nach Randnummer 12 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 15. Februar 2010 (BStBl I 2010, 140; ersetzt durch BMF-Schreiben vom 10. Januar 2014, BStBl I 2014, 75, Rdnr. 22) seien aber Aufwendungen, bei denen eine Gutachtertätigkeit im Vordergrund stehe, nicht nach § 35a EStG begünstigt. Das Finanzgericht (FG) gab der daraufhin erhobenen Klage hingegen statt.Dies hat der BFH nun bestätigt. Das FG habe die Dichtheitsprüfung der Abwasserleitungen des privat genutzten Wohnhauses zu Recht als steuerbegünstigte Handwerkerleistungen i.S. des § 35a Abs. 3 EStG beurteilt. Denn die Dichtheitsprüfung der Abwasserleitung habe der Überprüfung der Funktionsfähigkeit einer Hausanlage gedient und sei damit als (vorbeugende) Erhaltungsmaßnahme zu beurteilen. Die regelmäßige Überprüfung von Geräten und Anlagen auf deren Funktionsfähigkeit erhöhe deren Lebensdauer, sichere deren nachhaltige Nutzbarkeit, diene überdies der vorbeugenden Schadensabwehr und zähle damit zum Wesen der Instandhaltung. Dies gelte auch dann, wenn hierüber eine Bescheinigung "für amtliche Zwecke" erstellt werde. Denn durch das Ausstellen einer solchen Bescheinigung werde eine handwerkliche Leistung weder zu einer gutachterlichen Tätigkeit noch verliere sie ihren Instandhaltungscharakter. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VI R 1/13
Die Erhebung des unter Umständen noch mangelfreien Istzustandes, beispielsweise die Überprüfung der Funktionsfähigkeit einer Anlage durch einen Handwerker, kann ebenso Handwerkerleistung i.S. des § 35a Abs. 3 EStG sein wie die Beseitigung eines bereits eingetretenen Schadens oder vorbeugende Maßnahmen zur Schadensabwehr. Tatbestand I. Streitig ist die Berücksichtigung von Aufwendungen für eine Dichtheitsprüfung der privaten Abwasserleitung als steuerermäßigende Handwerkerleistung nach § 35a des Einkommensteuergesetzes (EStG).In der Einkommensteuererklärung 2010 beantragte der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) für eine Dichtheitsprüfung der Abwasserleitung seines privat genutzten Wohnhauses eine Steuerermäßigung nach § 35a Abs. 3 EStG in der im Streitjahr (2010) geltenden Fassung. In der entsprechenden Rechnung sind Arbeitskosten von 357,36 € ausgewiesen.In dem Einkommensteuerbescheid 2010 vom 8. Mai 2012 blieben die Aufwendungen unberücksichtigt. Die Einkommensteuer wurde auf 6.160 € festgesetzt.Hiergegen sowie gegen die Berücksichtigung einer zumutbaren Belastung bei den Krankheitskosten richtete sich der fristgerecht eingelegte Einspruch. Hinsichtlich der zumutbaren Belastung wurde das Einspruchsverfahren nach § 363 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) ruhend gestellt. Hinsichtlich der Steuerermäßigung nach § 35a Abs. 3 EStG wies der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) den Einspruch durch Teileinspruchsentscheidung (§ 367 Abs. 2a Satz 1 AO) vom 14. Juni 2012 zurück. Die Dichtheitsprüfung sei wie die vom TÜV oder anderen autorisierten Fachkräften durchzuführende Sicherheitsprüfung einer Heizungsanlage im Gegensatz zu einer Wartung der Heizungsanlage mit einer Gutachtertätigkeit vergleichbar. Nach Rdnr. 12 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 15. Februar 2010 IV C 4-S 2296-b/07/0003 (BStBl I 2010, 140; ersetzt durch BMF-Schreiben vom 10. Januar 2014 IV C 4-S 2296-b/07/0003:004, BStBl I 2014, 75, Rdnr. 22) seien Aufwendungen, bei denen eine Gutachtertätigkeit im Vordergrund stehe, nicht nach § 35a EStG begünstigt.Das Finanzgericht (FG) gab der daraufhin erhobenen Klage statt. Entgegen der Auffassung des FA habe bei der Dichtheitsprüfung nicht die Gutachtertätigkeit im Vordergrund gestanden. Zielrichtung der Maßnahme sei die Instandhaltung der Abwasserleitung gewesen. Deshalb seien die streitgegenständlichen Aufwendungen für die Dichtheitsprüfung der Abwasserleitung als steuerermäßigende Handwerkerleistung anzuerkennen.Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.Es beantragt,das Urteil des FG Köln vom 18. Oktober 2012  14 K 2159/12 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Aufwendungen des Klägers für die Dichtheitsprüfung der Abwasserleitungen seines privat genutzten Wohnhauses als steuerermäßigende Handwerkerleistungen nach § 35a Abs. 3 EStG zu berücksichtigen sind.1. Nach § 35a Abs. 3 Satz 1 EStG ermäßigt sich auf Antrag die tarifliche Einkommensteuer für die Inanspruchnahme von Handwerkerleistungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen um 20 %, höchstens um 1.200 €. Die Steuerermäßigung kann nur in Anspruch genommen werden, wenn die Handwerkerleistung in einem in der Europäischen Union oder dem Europäischen Wirtschaftsraum liegenden Haushalt des Steuerpflichtigen erbracht wird (§ 35a Abs. 4 Satz 1 EStG), und gilt nach § 35a Abs. 5 Satz 2 EStG nur für Arbeitskosten.a) Handwerkerleistungen sind einfache wie qualifizierte handwerkliche Tätigkeiten, unabhängig davon, ob es sich um regelmäßig vorzunehmende Renovierungsarbeiten oder um Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen handelt (vgl. Senatsurteil vom 6. Mai 2010 VI R 4/09, BFHE 229, 534, BStBl II 2011, 909). Begünstigt werden handwerkliche Tätigkeiten, die von Mietern und Eigentümern für die zu eigenen Wohnzwecken genutzte Wohnung in Auftrag gegeben werden, z.B. das Streichen und Tapezieren von Innenwänden, die Beseitigung kleinerer Schäden, die Erneuerung eines Bodenbelags (Teppichboden, Parkett oder Fliesen), die Modernisierung des Badezimmers oder der Austausch von Fenstern. Hierzu gehören auch Aufwendungen für Renovierungs-, Erhaltungs- und Modernisierungsarbeiten auf dem Grundstück, z.B. Garten- und Wegebauarbeiten (BTDrucks 16/643, 10, und BTDrucks 16/753, 11), aber auch die Reparatur, Wartung und der Austausch von Gas- und Wasserinstallationen (Barein in Littmann/ Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 35a EStG Rz 27).b) Die sachliche Begrenzung der begünstigten Maßnahme ist allein aus dem Tatbestandsmerkmal "im Haushalt" zu bestimmen (Senatsurteil vom 13. Juli 2011 VI R 61/10, BFHE 234, 391, BStBl II 2012, 232; BMF-Schreiben in BStBl I 2014, 75, Rdnr. 20). Insbesondere unterscheidet das Gesetz weder nach Wortlaut noch nach Entstehungsgeschichte oder Sinn und Zweck zwischen sachlich begünstigten und nicht begünstigten Handwerkerleistungen. § 35a Abs. 3 EStG gilt vielmehr insoweit (nicht aber räumlich, vgl. Senatsurteil vom 20. März 2014 VI R 56/12, BFHE 245, 49, BStBl II 2014, 882) ausnahmslos für alle handwerklichen Tätigkeiten. So ist beispielsweise nicht erforderlich, dass der Leistungserbringer in die Handwerksrolle eingetragen ist. Auch Kleinunternehmer i.S. des § 19 des Umsatzsteuergesetzes (vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 2014, 75, Rdnr. 23) oder die öffentliche Hand können steuerbegünstigte Handwerkerleistungen erbringen (Apitz in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 35a EStG Rz 21; Eversloh in Lademann, EStG, § 35a EStG Rz 86; Wüllenkemper, Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 52; vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 2014, 75, Rdnr. 22, 58 <Schornsteinfeger>).2. Nach diesen Grundsätzen hat das FG die Dichtheitsprüfung der Abwasserleitungen des privat genutzten Wohnhauses zu Recht als steuerbegünstigte Handwerkerleistungen i.S. des § 35a Abs. 3 EStG beurteilt. Denn die Dichtheitsprüfung der Abwasserleitung diente nach den Feststellungen des FG der Überprüfung der Funktionsfähigkeit einer Hausanlage und ist damit als (vorbeugende) Erhaltungsmaßnahme zu beurteilen (vgl. Fischer in Kirchhof, EStG, 13. Aufl., § 35a Rz 10).a) Die Erhebung des unter Umständen noch mangelfreien Istzustandes, beispielsweise die Prüfung der ordnungsgemäßen Funktion einer Anlage durch einen Handwerker, ist ebenso Handwerkerleistung i.S. des § 35a Abs. 3 EStG wie die Beseitigung eines bereits eingetretenen Schadens oder Maßnahmen zur vorbeugenden Schadensabwehr. Dies gilt auch dann, wenn der Handwerker über den ordnungsgemäßen Istzustand eines Gewerkes/einer Anlage eine Bescheinigung "für amtliche Zwecke" erstellt. Denn durch das Ausstellen einer solchen Bescheinigung verliert eine dahingehende handwerkliche Leistung ihren Instandhaltungscharakter nicht. Denn die regelmäßige Überprüfung von Geräten und Anlagen auf deren Funktionsfähigkeit (einschließlich Dokumentation) erhöht deren Lebensdauer, sichert deren nachhaltige Nutzbarkeit, dient überdies der vorbeugenden Schadensabwehr und zählt damit zum Wesen der Instandhaltung. Das verkennt die Revision, wenn sie fordert, zwischen begünstigten Handwerkerleistungen, durch die ein Objekt in seinem Zustand beeinflusst (verändert) werde, und nicht begünstigten Leistungen eines Handwerkers (Untersuchungen und Gutachten), die lediglich dazu dienten, den aktuellen Zustand eines Objekts festzustellen, zu unterscheiden. Im Übrigen ist die Erhebung des Istzustandes regelmäßig Voraussetzung für eine spätere --nicht unbedingt unmittelbar zeitlich nachfolgende und u.U. durch einen anderen Handwerksbetrieb durchgeführte-- Beseitigung des Schadens oder für Maßnahmen zur vorbeugenden Schadensabwehr und insoweit ohnehin als Annex, also Nebenleistung, zu der damit einhergehenden steuerbegünstigten Handwerkerleistung ebenfalls begünstigt (Bode, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 35a Rz D 6, Rz F 5; vgl. auch Eversloh in Lademann, EStG, § 35a EStG Rz 86; differenzierend Barein, a.a.O., § 35a EStG Rz 28).b) Wortlaut sowie Sinn und Zweck des § 35a EStG stehen dieser Auslegung der Vorschrift nicht entgegen. Denn das Gesetz unterscheidet tatbestandlich nicht zwischen steuerbegünstigten Handwerkerleistungen, die zur Bekämpfung der Schwarzarbeit/Förderung der Beschäftigung förderungsbedürftig sind, und solchen Handwerkerleistungen, die einer solchen Förderung nicht bedürfen, weil sie ohnehin oder regelmäßig nicht "ohne Rechnung" in Anspruch genommen werden. Der Gesetzgeber hat vielmehr eine generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelung getroffen, ohne bei den materiellen und "formellen Voraussetzungen" des § 35a EStG, etwa die Einbindung eines Kreditinstituts oder einer Bank in den Zahlungsvorgang, nach für Schwarzarbeit anfälligeren oder weniger anfälligen Berufsgruppen und Tätigkeiten zu unterscheiden (vgl. Senatsbeschluss vom 30. Juli 2013 VI B 31/13, BFH/NV 2013, 1786).
bundesfinanzhof
bfh_054-10
23. Juni 2010
Finanzamt kann die vom Vollstreckungsschuldner am eigenen Grundstück bestellten Dienstbarkeiten anfechten 23. Juni 2010 - Nummer 054/10 - Urteil vom 30.03.2010 VII R 22/09 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit dem heute veröffentlichten Urteil vom 30. März 2010 VII R 22/09 entschieden, dass das Finanzamt (FA) im Wege der Gläubigeranfechtung vorgehen kann, wenn sich ein Vollstreckungsschuldner am eigenen Grundstück ein Nießbrauchs- oder Wohnrecht bestellt. Die Anfechtung bewirkt, dass das FA einen Anspruch auf Vorrang seiner Rechte bei der Zwangsvollstreckung in das Grundstück geltend machen kann.Im Streitfall hatte eine Vollstreckungsschuldnerin mit ihren Kindern eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) gegründet und dieser mehrere Grundstücke übertragen. In den notariellen Verträgen hatte sie sich jeweils den Nießbrauch bzw. ein Wohnrecht vorbehalten. Das FA focht die Grundstücksübertragungen gegenüber der GbR an, zusätzlich aber – und nur darum ging es im Streitfall – auch gegenüber der Vollstreckungsschuldnerin die Bestellung der zu ihren eigenen Gunsten bewirkten Dienstbarkeiten. Es sah eine ungerechtfertigte Gläubigerbenachteiligung darin, dass in der Zwangsversteigerung der Grundstücke, die die GbR wegen der erfolgten Anfechtung dulden müsse, Nießbrauch und Wohnrecht zugunsten der Vollstreckungsschuldnerin bestehen blieben, eine Zwangsvollstreckung in das Wohnrecht aber ausgeschlossen und die Verwertung des Nießbrauchsrechts als solches wirtschaftlich uninteressant wäre. Der Zugriff auf den vor der Bestellung der Dienstbarkeiten bestehenden vollen Wert des unbelasteten Grundstücks wäre somit vereitelt.Der BFH gab, anders als die Vorinstanz, dem FA Recht. Die zu entscheidende Rechtsfrage war, ob das Ausscheiden eines Gegenstandes aus dem Vermögen des Schuldners grundsätzlich Voraussetzung der Anfechtung einer Rechtshandlung ist. Denn nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften (§§ 3, 11 AnfG) muss dem Gläubiger das zur Verfügung gestellt werden, was durch eine anfechtbare Rechtshandlung aus dem Vermögen des Schuldners "veräußert, weggegeben oder aufgegeben" worden ist. Die Bestellung eines Teilrechts am eigenen Grundstück aber ist weder Veräußerung noch Weggabe oder Aufgabe aus dem Schuldnervermögen. Der BFH stellt nun klar, dass dieser Wortlaut nicht als Beschränkung der Anfechtungsrechte auf die genannten Arten der Vermögensminderungen verstanden werden darf, sondern dass es sich um eine nicht abschließende Auflistung von Vermögensminderungen handelt, die dazu dient, den Anspruch des Anfechtenden nach Art und Umfang auf das zu beschränken, was zur Wiederherstellung der früheren, durch die Vermögensverschiebung vereitelten Zugriffslage für die Gläubiger erforderlich ist. Fazit: Für sich selbst bestellte Rechte am eigenen Grundstück sind nicht anfechtungsfest, wenn die Bestellung nach den gesamten Umständen in Gläubigerbenachteiligungsabsicht erfolgt ist. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VII R 22/09
1. Die Anfechtbarkeit der Bestellung dinglicher Rechte am eigenen Grundstück folgt aus einer unmittelbaren Anwendung des § 3 Abs. 1 AnfG (Fortentwicklung der Senatsrechtsprechung) .2. Die Gläubigerbenachteiligung liegt schon in der Bestellung dinglicher Rechte, unabhängig von einer sich daran anschließenden Übertragung des Grundeigentums. Die Teilrechte verschlechtern im Fall einer Zwangsvollstreckung die Zugriffslage .3. Der Anspruchsinhalt des § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG ist nicht auf Fälle der Vermögensminderung durch Veräußerung, Weggabe oder Aufgabe von Vermögensbestandteilen an einen Dritten beschränkt. Als bloße Rechtsfolgenbestimmung ergänzt diese Vorschrift nicht die Anfechtungsnormen um eine abschließende Regelung der anfechtbaren Rechtshandlungen auf solche der Veräußerung, Weggabe und Aufgabe, sondern beschränkt das, was dem Gläubiger wieder "zur Verfügung gestellt" werden soll, nach Art und Umfang auf das, was "veräußert, weggegeben oder aufgegeben" worden ist .4. Hat ein Vollstreckungsschuldner ein Nießbrauchsrecht oder ein dingliches Wohnrecht am eigenen Grundstück anfechtbar begründet, hat das FA einen schuldrechtlichen Anspruch auf Duldung des Vorrangs seiner Rechte in der Zwangsvollstreckung   . Tatbestand I. Nachdem im Jahre 2000 die Wohnung der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) durch die Steuerfahndung wegen des Verdachts auf Schenkungsteuerhinterziehung durchsucht worden war, setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) im Oktober 2004 Schenkungsteuer fest. Zuvor hatte die Klägerin mit notariellem Vertrag vom 29. Februar 2000 (UrNr. S 631/2000) eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Tochter gegründet, an der sie mit 2 % und Sohn und Tochter mit jeweils 49 % beteiligt waren. Im selben Vertrag brachte die Klägerin in ihrem Eigentum stehende Grundstücke in diese GbR ein, behielt sich aber jeweils das unentgeltliche Nießbrauchsrecht an diesen Grundstücken vor, das in der Folgezeit auch ins Grundbuch eingetragen wurde. Weiter wurde der Klägerin unter bestimmten Voraussetzungen ein Rücktrittsrecht eingeräumt; die GbR übernahm eine Buchgrundschuld, während die zugrunde liegende Schuldverpflichtung bei der Klägerin verblieb; für eine von der Klägerin gleichzeitig bestellte --von der GbR ebenfalls übernommene-- Eigentümergrundschuld wurde der Klägerin das Recht zur Valutierung eingeräumt.Mit notariellem Vertrag vom 14. Dezember 2004 behielt sich die Klägerin auf Lebensdauer das unentgeltliche Wohnrecht an sämtlichen Räumen eines weiteren, von ihr selbst genutzten Anwesens mit der Maßgabe vor, dass der Eigentümer das Gebäude instand zu halten und die Kosten für Schönheitsreparaturen, Strom, Wasser und Heizung zu tragen habe. Die Rechte wurden zusammen als Leibgedinge in das Grundbuch eingetragen. Dieses Grundstück übertrug die Klägerin mit notariellem Vertrag vom 5. Januar 2005 auf den Sohn, für den zugleich die Eintragung einer Wohnungsreallast für die Nutzung eines Wohnraums samt Küche und Bad/WC während der Dauer des der Klägerin bestellten Leibgedinges bewilligt und beantragt wurde. Für die Klägerin wurde ein Recht zum Rücktritt vom Vertrag eingeräumt und dazu eine Rückauflassungsvormerkung im Grundbuch eingetragen.Nachdem Vollstreckungsversuche bei der Klägerin nicht zur Tilgung der Steuerschuld führten, erließ das FA gegen die Klägerin am 31. März 2005 einen Duldungsbescheid, mit dem es die Bestellung der Nießbrauchsrechte im Vertrag vom 29. Februar 2000 (Nrn. 1 und 2 des Bescheids), die Vereinbarung des Rücktrittsrechts in § 11 des Vertrags (Nr. 3), die Einräumung eines Rechts zur Valutierung einer zu bestellenden Eigentümergrundschuld in § 13 des Vertrags (Nr. 4), die Bestellung eines Wohnrechts im Vertrag vom 14. Dezember 2004 (Nr. 5) und die Einräumung eines Rücktrittsrechts sowie die Bestellung der Rückauflassungsvormerkung im Vertrag vom 5. Januar 2005 (Nr. 6) gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 1 und § 15 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 des Anfechtungsgesetzes (AnfG) anfocht. Das FA werde über Anfechtungen der Grundstücksübertragungen an die GbR und den Sohn die Duldung der Eintragung von Zwangshypotheken, der Pfändung der auf den Grundstücken lastenden Eigentümergrundschulden und der damit zusammenhängenden Rückübertragungsansprüche erwirken und dann die Zwangsversteigerung der Grundstücke betreiben. Die Klägerin habe den Vorrang dieser zu begründenden Rechte bzw. Pfändungen vor den in den Nrn. 1 bis 6 bezeichneten, von ihr als sonstiger Rechtsnachfolgerin anfechtbar erlangten Rechte nach §§ 11, 15 AnfG zu dulden.Mit einem weiteren Duldungsbescheid focht das FA die mit Vertrag vom 5. Januar 2005 vereinbarte Grundstücksüberlassung gegenüber dem Sohn der Klägerin an.Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage der Klägerin blieb hinsichtlich der Anfechtung der Rückauflassungsvormerkung (Vertrag vom 5. Januar 2005) erfolglos, im Übrigen hob das Finanzgericht (FG) den Duldungsbescheid auf. Die Nießbrauchsbestellungen zu Gunsten der Klägerin seien nicht anfechtbar, weil die Klägerin, die das jeweilige Grundstück bereits mit dem Nießbrauchsrecht belastet auf die GbR übertragen habe, zum einen nicht i.S. der § 3 Abs. 1 Satz 1, § 15 Abs. 2 Nr. 1 AnfG Sonderrechtsnachfolgerin der GbR als der bezüglich der Eigentumsübertragung an den Grundstücken eigentlichen Anfechtungsschuldnerin sei, zum anderen durch die Bestellung des Nießbrauchs gerade keinen Gegenstand aus ihrem Vermögen weggegeben, sondern sich den weitgehenden wirtschaftlichen Wert der Immobilie bis an ihr Lebensende gesichert habe. Da die Klägerin durch die bloß schuldrechtlichen, nicht durch Vormerkungen im Grundbuch gesicherten Vereinbarungen eines Rechts zum Rücktritt vom Vertrag und zur Valutierung einer zu bestellenden Eigentümergrundschuld nicht Sonderrechtsnachfolgerin der GbR geworden sei, scheitere die Anfechtung auch insoweit. Gleiches gelte bezüglich der Bestellung des Wohnrechts an dem von ihr bewohnten Hausgrundstück. Auch diese scheitere mangels Sonderrechtsnachfolge der Klägerin nach ihrem Sohn, da nicht dieser, sondern die Klägerin selbst vor Übertragung des Grundstücks das Wohnrecht bestellt habe und weil sie, wie im Falle der Nießbrauchsbestellung, keinen Gegenstand aus ihrem Vermögen weggegeben habe. Demgegenüber sei die Bestellung und Eintragung der Rückauflassungsvormerkung zu Gunsten der Klägerin gemäß § 3 Abs. 2, § 15 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 AnfG zu Recht angefochten und der Duldungsbescheid insoweit rechtmäßig, weil die Klägerin durch die Vormerkung Sonderrechtsnachfolgerin ihres Sohns als dem eigentlichen Anfechtungsgegner geworden sei und die Durchsetzung der berechtigten Anfechtung der Grundstücksübertragung gegenüber dem Sohn durch die Rückauflassungsvormerkung vereitelt würde. Gläubigerbenachteiligung liege vor, da das Grundstück bei Vornahme der Rechtshandlung wertausschöpfend belastet gewesen sei und die Klägerin keine gleichwertige Gegenleistung für die Übertragung des Grundstücks erlangt habe. Die gesetzliche Vermutung der Gläubigerbenachteiligungsabsicht in § 3 Abs. 2 AnfG und die diesbezügliche Kenntnis des Sohns habe nicht widerlegt werden können.Gegen die teilweise Aufhebung des Duldungsbescheids richtet sich die Revision des FA. Es hält die Auffassung des FG für falsch, dass die Bestellung eines Nießbrauchsrechts bzw. eines Wohnrechts durch den Eigentümer für sich selbst nicht gemäß § 3 Abs. 1 AnfG angefochten werden könne, weil es nicht sein könne, dass ein vorsätzliches "In-sich-Geschäft" des Schuldners zum Nachteil des Gläubigers nicht anfechtbar sei, nur weil § 3 Abs. 1 Satz 1 AnfG bei Fremdgeschäften die zusätzliche Voraussetzung aufstelle, dass "der andere Teil" den Vorsatz des Schuldners gekannt habe. Auch aus § 1 Abs. 1 AnfG ergebe sich, dass es entscheidend auf eine Gläubigerbenachteiligung im Sinne einer Erschwerung der Vollstreckungsmöglichkeiten in den konkreten Gegenstand ankomme.Durch die Bestellung des Nießbrauchs habe die Klägerin das unbelastete Volleigentum i.S. des § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG "aufgegeben". Aus dieser Vorschrift werde deutlich, dass die Anfechtung keine Rechtshandlung zu Gunsten eines Dritten voraussetze, sondern dass auch Rechtsgeschäfte, die der Schuldner mit sich selbst abschließe, angefochten werden könnten. Dass die Belastung zu Gunsten der Klägerin eingetragen worden sei, könne keine Rolle spielen, da sich die Zusammensetzung ihres Vermögens und der in der Verwertung zu erzielende Erlös geändert hätten, und zwar ausschließlich in der Absicht, das FA zu benachteiligen. Durch diese Rechtshandlung sei eine Vollstreckung nur noch über den Weg der Zwangsversteigerung eines nießbrauchsbelasteten Grundstücks und der Vollstreckung in den Nießbrauch möglich. Dieser Weg verspreche neben einer umständlicheren Vollstreckung einen angesichts der Ungewissheit von Dauer und Höhe des Nießbrauchs deutlich geringeren Erlös als eine Zwangsversteigerung des unbelasteten Grundstücks. Durch den Nießbrauch sinke der Verkehrswert des Grundstücks erheblich. In den Nießbrauch könne lediglich durch Pfändung der Mieteinnahmen vollstreckt werden. Wenn aber, wie vorliegend, die Mieterträge vorrangig abgetreten seien, sei eine Vollstreckung nicht möglich.Auch die Bestellung des Wohnrechts an dem auf den Sohn übertragenen Hausgrundstück habe das FG zu Unrecht für zulässig gehalten, da sie nicht in erster Linie wegen der beabsichtigten Veräußerung, sondern allein deshalb vorgenommen worden sei, die Vollstreckung in das Grundstück deutlich zu erschweren. Auch insoweit sei deshalb die Anfechtung gerechtfertigt.Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben, soweit es die Regelungen des Duldungsbescheids in Nrn. 1, 2 und 5 aufgegeben hat, und die Klage insoweit abzuweisen.Die Klägerin schließt sich den Ausführungen des FG an und beantragt, die Revision zurückzuweisen. Gründe II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils, soweit darin der Duldungsbescheid hinsichtlich der Positionen 1, 2 und 5 aufgehoben worden ist und insoweit zur Abweisung der Klage. Die Entscheidung des FG verletzt in dem angefochtenen Umfang Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) kann das FA nach § 191 der Abgabenordnung denjenigen durch Duldungsbescheid in Anspruch nehmen, der nach dem AnfG verpflichtet ist, die Vollstreckung zu dulden (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1996 VII R 35/96, BFHE 181, 268, BStBl II 1997, 17, m.w.N.). Im Streitfall steht dem FA der mit dem angefochtenen Duldungsbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung gegen die Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Duldung des Vorrangs seiner Rechte (noch zu erwirkende Zwangshypotheken, Pfändung der auf den Grundstücken lastenden Eigentümergrundschulden und der damit zusammenhängenden Rückübertragungsansprüche) gegenüber den in den Nrn. 1, 2 und 5 des Duldungsbescheids bezeichneten Rechten zu.Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG muss dem Gläubiger, soweit es zu seiner Befriedigung erforderlich ist, das zur Verfügung gestellt werden, was durch eine anfechtbare Rechtshandlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist.2. Der in § 11 AnfG vorausgesetzte Anfechtungstatbestand ergibt sich in der Konstellation des Streitfalls aus einer entsprechenden Anwendung des § 3 Abs. 1 AnfG. Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtshandlung, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor der Anfechtung mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, anfechtbar, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte.a) Nach ihrem Wortlaut setzt die Norm voraus, dass eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung zu Gunsten eines Dritten vorliegt. Dementsprechend hat der Senat im Urteil vom 14. Juli 1981 VII R 49/80 (BFHE 133, 501, BStBl II 1981, 751), worauf das FG zutreffend hingewiesen hat, ausgeführt, das Anfechtungsgesetz enthalte "nach seinem Wortlaut keinen Anfechtungstatbestand, der es ermöglichte, gegenüber dem Schuldner selbst die zu seinen Gunsten erfolgte Bestellung von beschränkt persönlichen Dienstbarkeiten anzufechten". Dem lag die Überlegung zugrunde, dass grundsätzlich Voraussetzung einer Anfechtung das Ausscheiden eines Gegenstands aus dem Vermögen des Schuldners ist und etwas, was im Vermögen des Schuldners ist, schwerlich in dieses zurückgewährt werden kann.b) Der Senat hat in jener Entscheidung allerdings ausdrücklich dahinstehen lassen, ob sich diese Anfechtungsnorm erweiternd auf Fälle anwenden lasse, in denen ein Recht an dem bisher dem Schuldner gehörenden Grundstück zu seinen eigenen Gunsten bestellt werde. Auch der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich in einem Fall, in dem der Empfänger eines anfechtbar übertragenen Grundstücks dem Übertragenden, dem Schuldner, daran ein Wohnrecht bestellt hatte, nicht abschließend festgelegt (BGH-Urteil vom 13. Juli 1995 IX ZR 81/94, BGHZ 130, 314). Die Frage, ob es anfechtbar gewesen wäre, wenn sich der Übertragende, der Schuldner, von Anfang an selbst das Wohnrecht bestellt hätte, konnte dort offenbleiben. Denn der Schuldner war in jenem Fall hinsichtlich des Wohnrechts Sonderrechtsnachfolger des Grundstückserwerbers i.S. des § 15 Abs. 2 AnfG (dort § 11 Abs. 2 AnfG a.F.) und als solcher der Anfechtung ausgesetzt.c) Im Streitfall ist die Frage, ob § 3 Abs. 1 AnfG nur auf Rechtshandlungen des Schuldners zu Gunsten eines Dritten anwendbar ist, entscheidungserheblich. Denn anders als in den vom BGH entschiedenen Fällen sind hier die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 AnfG nicht gegeben.aa) Nach § 15 Abs. 2 AnfG kann die Anfechtbarkeit gegen einen sonstigen Rechtsnachfolger, der nicht Gesamtrechtsnachfolger ist, geltend gemacht werden, wenn dem Rechtsnachfolger zur Zeit seines Erwerbs die Umstände bekannt waren, welche die Anfechtbarkeit des Erwerbs seines Rechtsvorgängers begründen, oder wenn der Rechtsnachfolger zur Zeit seines Erwerbs zu den Personen gehörte, die dem Schuldner nahestehen, es sei denn, dass ihm zu dieser Zeit die Umstände unbekannt waren, welche die Anfechtbarkeit des Erwerbs seines Rechtsvorgängers begründen oder wenn dem Rechtsnachfolger das Erlangte unentgeltlich zugewendet worden ist.Die Vorschrift dehnt die Anfechtbarkeit von Rechtshandlungen gegenüber Ersterwerbern auf deren "Sonderrechtsnachfolger" aus, um einen umfassenden Gläubigerschutz zu gewährleisten.bb) Die Klägerin ist nicht Rechtsnachfolgerin im Sinne dieser Norm.(1) Zwar setzt die Sonderrechtsnachfolge i.S. des § 15 Abs. 2 AnfG nach der Rechtsprechung des BGH nicht die Vollübertragung des anfechtbar Erlangten voraus, sondern kann schon vorliegen, wenn aus dem anfechtbar Erworbenen ein neues, beschränktes Recht geschaffen oder eine besondere Befugnis abgezweigt wird.(2) Auch muss der Rechtsnachfolger nach § 15 Abs. 2 AnfG nicht ein Dritter sein. Vielmehr kann auch der Schuldner des Anfechtungsgläubigers selbst Rechtsnachfolger im anfechtbaren Erwerb werden, wenn er sich an dem von ihm übertragenen Grundeigentum ein Teilrecht von dem Erwerber hat zurückübertragen lassen (vgl. BGH-Urteil in BGHZ 130, 314).(3) Anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall sind aber weder die Nießbrauchsrechte noch das Wohnrecht zu Gunsten der Klägerin von den Erwerbern der Grundstücke --der GbR bzw. dem Sohn-- bestellt worden. Nach den Feststellungen des FG hat sich die Klägerin diese Teilrechte an ihren eigenen Grundstücken vor der Eigentumsübertragung selbst bestellt.(4) Ob in einer solchen Konstellation eine entsprechende Anwendung des § 15 Abs. 2 AnfG in Betracht käme, weil die Interessenlage, der § 15 Abs. 2 AnfG Rechnung trägt, sich nur unwesentlich von derjenigen unterscheidet, die entsteht, wenn das neue, beschränkte Recht nicht erst nach der anfechtbaren Übertragung des Grundstücks durch den Erwerber, sondern schon vor dieser Übertragung durch den bisherigen Eigentümer im Hinblick auf die beabsichtigte Übertragung des Grundstücks geschaffen wird, muss hier nicht geprüft werden, denn:d) Die Anfechtbarkeit der Bestellung dinglicher Rechte am eigenen Grundstück ergibt sich nach Auffassung des Senats unmittelbar aus § 3 Abs. 1 AnfG.aa) Der Wortlaut der Norm, wonach eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung anfechtbar ist, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte, beschränkt ihre Anwendbarkeit nicht auf den Fall der Fremdbegünstigung. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung des "Wenn"-Satzes darin, den gutgläubigen Erwerber in Fällen der Fremdbegünstigung vor einer Anfechtung zu schützen. Im Fall der Selbstbestellung eines Teilrechts am eigenen Grundstück geht der Konditionalsatz ins Leere.bb) Die Gläubigerbenachteiligung besteht darin, dass sich schon allein durch die Bestellung einer Grundstücksbelastung am eigenen Grundstück die Zugriffslage für die Gläubiger --unabhängig von einer sich daran anschließenden Übertragung des Grundeigentums-- verschlechtern kann. Denn im Fall einer Zwangsvollstreckung in das Grundstück bleibt dieses im Rang vor dem Anfechtungsgläubiger stehende Teilrecht bestehen (vgl. Stöber, Zwangsversteigerungsgesetz, 19. Aufl., § 15 Rz 26, § 44 Rz 4). Im Streitfall liegen solche Verschlechterungen der Zugriffslage für die Gläubiger vor.(1) Die Zwangsvollstreckung und damit die Befriedigungsmöglichkeit für Gläubiger in das von der Klägerin im Vertrag vom 14. Dezember 2004 für sich selbst bestellte Wohnrecht ist ausgeschlossen, weil die Beteiligten die Überlassung des Wohnrechts an Dritte nicht gestattet haben (§ 857 Abs. 3 der Zivilprozessordnung --ZPO--, § 1092 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB--; vgl. BGH-Urteil in BGHZ 130, 314).(2) Der an den Grundstücken bestellte Nießbrauch kann zwar grundsätzlich Gegenstand der Pfändung sein; allerdings, wie sich aus § 857 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 1059 BGB ergibt, ist er der Pfändung nur insoweit unterworfen, als die Ausübung einem anderen überlassen werden kann. Wegen seiner Unveräußerlichkeit, die auch in der Zwangsvollstreckung Bestand hat, darf der Pfändungspfandgläubiger den Nießbrauch nicht zu seiner Befriedigung verwerten, sondern ihn nur zu diesem Zweck ausüben. Dies schließt eine Überweisung des Stammrechts selbst zur Einziehung oder an Zahlungs statt nach § 857 Abs. 1, § 835 Abs. 1 ZPO ebenso aus wie eine anderweitige Verwertung durch Versteigerung oder freien Verkauf (so BGH-Urteil vom 12. Januar 2006 IX ZR 131/04, BGHZ 166, 1).cc) Auch an der nach § 3 Abs. 1 AnfG erforderlichen Gläubigerbenachteiligungsabsicht der Klägerin bestehen nach den Feststellungen des FG keine Zweifel.(1) Bezüglich der im Grundstücksübertragungsvertrag vom 5. Januar 2005 vereinbarten Rückauflassungsvormerkung, deren Anfechtung das FG für berechtigt erachtet hat, hat das FG die Gläubigerbenachteiligung und die entsprechende Absicht der Klägerin festgestellt. Da das Wohnrecht in demselben Vertrag bestellt wurde, erfassen die Feststellungen des FG zur Gläubigerbenachteiligung auch diese Rechtshandlung. Mangels entsprechender Verfahrensrügen ist der Senat daran gebunden.(2) In Bezug auf die Nießbrauchsbestellungen war das FG einer Würdigung der die Gläubigerbenachteiligung betreffenden Umstände enthoben, da es deren Anfechtung aus anderen Gründen für nicht berechtigt hielt. Anhand der vom FG insoweit gleichwohl getroffenen Feststellungen kann der Senat hierzu aber selbst entscheiden. Die Gläubigerbenachteiligung muss nicht das Ziel des Schuldnerhandelns sein. Es genügt, wenn der Schuldner die Benachteiligung als mögliche Folge seines Handelns erkennt und billigend in Kauf nimmt (BGH-Urteil in BGHZ 130, 314, m.w.N.).Hiernach steht die Gläubigerbenachteiligungsabsicht außer Zweifel. Sowohl der zeitliche Zusammenhang der Grundstücksübertragung auf die neu gegründete GbR mit der Wohnungsdurchsuchung durch die Steuerfahndung wegen Verdachts der Schenkungsteuerhinterziehung als auch die Gesamtschau der Verfügungen der Klägerin lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass die Klägerin ihr Grundvermögen vor dem Zugriff des Fiskus schützen wollte.So stellt sich die Eigentumsübertragung auf die GbR als eine nach § 4 Abs. 1 AnfG anfechtbare Schenkung dar, da die Klägerin für die Hingabe keine Gegenleistung erhalten hat (vgl. BGH-Urteil vom 15. Dezember 1994 IX ZR 153/93, BGHZ 128, 184, m.w.N.). Die Grundstücke waren werthaltig. Eine wertausschöpfende Belastung der auf die GbR übertragenen Grundstücke scheidet angesichts eines von der Klägerin im FG-Verfahren selbst eingeräumten Verkehrswerts von 400.000 EUR und einer Grundschuldbelastung von 300.000 EUR (davon eine noch nicht zur Sicherung eingesetzte Eigentümergrundschuld über 100.000 EUR) aus, so dass die Übertragung an die GbR, an der sie selbst neben ihren beiden Kindern nur mit 2 % beteiligt war, wie eine Schenkung zu beurteilen ist. Die vorbehaltenen Nießbrauchsrechte sind keine "Gegenleistung"; Gegenstand der Schenkung ist vielmehr das damit jeweils belastete Grundstück (vgl. BGH-Urteil vom 7. April 1989 V ZR 252/87, BGHZ 107, 156).Auch die vorbehaltenen Nießbrauchsrechte selbst bieten den Gläubigern --wie oben dargestellt-- keine dem Volleigentum vergleichbare Befriedigungsmöglichkeit. Sie beeinträchtigen vielmehr zusätzlich die Verwertbarkeit der Grundstücke in der --nach Anfechtung der Schenkung vorgesehenen-- Zwangsvollstreckung.Bei diesem Gesamtbefund greift zu Gunsten des FA bezüglich der Nießbrauchsbestellungen die Vermutung der Gläubigerbenachteiligungsabsicht des § 3 Abs. 2 Satz 2 AnfG, die den gesamten Vertragsinhalt erfasst.3. Der Anspruch aus § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG ist bei gegebener Anfechtbarkeit darauf gerichtet, dem Gläubiger das zur Verfügung zu stellen, was aus dem Vermögen des Schuldners "veräußert, weggegeben oder aufgegeben" ist.a) Im Streitfall steht dem Duldungsanspruch des FA nicht entgegen, dass sich die Klägerin die in Nrn. 1, 2 und 5 des Duldungsbescheids bezeichneten Rechte, also die Bestellung der Nießbrauchsrechte und des Wohnrechts, bei der Einbringung der Grundstücke in die GbR bzw. der Übertragung auf den Sohn vorbehalten hat. Zwar bewirkt die Bestellung dinglicher Rechte zu Gunsten des Grundeigentümers keine Schmälerung seines Vermögens, wie sie bei einer Veräußerung, Weggabe oder Aufgabe von Vermögensbestandteilen an einen Dritten typisch ist. Der Anspruchsinhalt des § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG deckt aber nicht nur diese Fälle der Vermögensminderung ab. Die Regelung muss im Zusammenhang mit den Anfechtungstatbeständen gelesen werden. § 11 AnfG regelt (nur) die Rechtsfolgen der wirksamen Anfechtung einer Rechtshandlung; er ergänzt nicht die Anfechtungsnormen um eine abschließende Bestimmung der anfechtbaren Rechtshandlungen auf solche der Veräußerung, Weggabe und Aufgabe. Ziel des § 11 AnfG ist --wie schon der mit Wirkung vom 1. Januar 1999 aufgehobenen Vorgängervorschrift des § 7 AnfG a.F. (vgl. Art. 1 § 20 Abs. 2 Satz 1 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994, BGBl I 1994, 2911)-- die Wiederherstellung der durch die Vermögensverschiebung vereitelten Zugriffslage für die Gläubiger. Der gegenüber der früheren Formulierung, das Erhaltene müsse vom Empfänger "zurückgewährt" werden, geänderte Wortlaut, dass das durch die anfechtbare Handlung Weggegebene bzw. Aufgegebene dem Gläubiger zu dessen Befriedigung "zur Verfügung gestellt" werden muss, macht dieses Ziel besonders deutlich (vgl. Huber, Anfechtungsgesetz, 10. Aufl., § 11 Rz 4; BGH-Urteil vom 29. Juni 2004 IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397). Der Gläubiger soll so --aber auch nur so-- gestellt werden, als könne er auf das Vermögen des Schuldners noch so zugreifen, wie es ihm ohne die anfechtbare Disposition des Schuldners möglich gewesen wäre (vgl. BGH-Urteil in BGHZ 130, 314; Kilger/Huber, Anfechtungsgesetz, 8. Aufl., § 7 Anm. I, 2). § 11 AnfG umschreibt mit den Begriffen "veräußert, weggegeben oder aufgegeben" eine Beschränkung des Anspruchs nach Art und Umfang darauf, was zur Befriedigung des anfechtenden Gläubigers nötig ist (vgl. dazu BGH-Urteil vom 9. Mai 1996 IX ZR 50/95, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1996, 2231). So besteht z.B. infolge der Anfechtung kein Anspruch auf Einräumung eines dinglichen Rechts (so schon Urteil des Reichsgerichts vom 3. März 1931 VII 218/30, RGZ 131, 340). Im Kern dieser Regelung geht es "nur" darum, den "Erfolg" der wirksam angefochtenen Rechtshandlung insoweit zu verhindern, wie sie eine Gläubigerbenachteiligung konkret verursacht.b) Mit Bestellung der Nießbrauchsrechte und des Wohnrechts hat die Klägerin keine Rechte auf- oder weggegeben, sie hat dadurch aber --wie gesehen-- den Zugriff auf ihre Vermögenswerte schon vor Übergang des Grundeigentums --und erst recht vor dem Hintergrund dieser Verfügung-- beeinträchtigt. Diese Vermögenslage muss sie zu Gunsten des Fiskus nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG wieder herstellen.4. Das FA hat die Klägerin mit dem Duldungsbescheid zu Recht verpflichtet, seinen in der Zwangsvollstreckung in das Grundstück zu begründenden Rechten den Vorrang vor dem jeweils eingetragenen Nießbrauch und dem Wohnrecht einzuräumen.a) Das FA kann mit diesem Vorrang von der Klägerin in der Zwangsvollstreckung das Nichtgebrauchmachen von dem zu ihren Gunsten eingetragenen Wohnrecht, ihre Einwilligung in die Auszahlung des auf das Wohnrecht entfallenden Versteigerungserlöses sowie --bei Bestehenbleiben des Wohnrechts im Rahmen der Zwangsversteigerung-- Wertersatz verlangen (vgl. z.B. Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Urteil vom 26. Juni 2000  5 U 89/99, juris, Rz 70). Mit dem Vorrang gegenüber dem Nießbrauch kann das FA entweder erreichen, dass der Nießbrauch mit dem Zuschlag erlischt, § 52 Abs. 1 Satz 2, § 91 Abs. 1 i.V.m. § 44 Abs. 1 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung oder es kann mit dem Duldungstitel die Anordnung der Zwangsverwaltung beantragen.b) Ein Anspruchsinhalt des § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG auf Einräumung des Vorrangs wird in der zivilrechtlichen Judikatur durchgehend bejaht. Da der Anfechtungsgegner --wie oben ausgeführt-- bei anfechtbaren Grundpfandrechten die Zugriffslage nicht genauso wiederherzustellen hat, wie sie ohne die anfechtbare Rechtslage bestände, sondern nur insoweit, wie dies zur Befriedigung gerade des anfechtenden Gläubigers nötig ist, genügt es, dass der Anfechtungsgegner von dem anfechtbar erworbenen Recht keinen Gebrauch machen kann. "Geht einem Grundpfandrecht des Anfechtungsgläubigers ... ein anfechtbar erlangtes dingliches Recht eines anderen an dem Grundstück vor, so begründet der Anfechtungsanspruch ... in der Regel die schuldrechtliche Verpflichtung des Anfechtungsgegners, dem Recht des Anfechtungsgläubigers in entsprechender Anwendung des § 880 BGB den Vorrang einzuräumen" (BGH-Urteil in NJW 1996, 2231).c) Da das FA selbst nicht den Anspruch auf Beseitigung der Dienstbarkeiten erhoben hat, bedarf es keiner Erwägungen dazu, ob der Umstand, dass die Dienstbarkeiten nicht für einen Dritten, sondern für den Eigentümer, der zugleich Vollstreckungsschuldner ist, bestellt worden sind, einen weitergehenden Anspruch als die Einräumung des Vorrangs rechtfertigen könnte.5. Die Kosten des gesamten Verfahrens trägt die Klägerin gemäß § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO. Das FA ist nur hinsichtlich der Anfechtung des dinglich nicht abgesicherten Rücktrittsrechts und des Rechts zur Valutierung der Eigentümergrundschuld im Vertrag vom 29. Februar 2000 unterlegen. Beide Positionen fallen im Verhältnis zum Anfechtungsrecht des FA im Übrigen wirtschaftlich nicht ins Gewicht.
bundesfinanzhof
bfh_078-13
06. November 2013
Gewinnrealisierung kann auch bei Einbringung eines Betriebs in eine Mitunternehmerschaft gegen Mischentgelt vermieden werden 06. November 2013 - Nummer 078/13 - Urteil vom 18.09.2013 X R 42/10 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 18. September 2013 X R 42/10 entschieden, dass bei einer Einbringung eines Betriebs in eine Mitunternehmerschaft, für die dem Einbringenden ein sog. Mischentgelt - bestehend aus Gesellschaftsrechten und einer Darlehensforderung gegen die Gesellschaft - gewährt wird, nicht zwingend ein steuerpflichtiger Gewinn anfällt. Vielmehr kann eine Gewinnrealisierung bei Wahl der Buchwertfortführung dann vermieden werden, wenn die Summe aus dem Nominalbetrag der Gutschrift auf dem Kapitalkonto des Einbringenden bei der Personengesellschaft und dem gemeinen Wert der eingeräumten Darlehensforderung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Einzelunternehmens nicht übersteigt.Damit ist der BFH von der Auffassung der Finanzverwaltung abgewichen, die in derartigen Fällen den Vorgang nach dem Verhältnis der beiden Teilleistungen in einen erfolgsneutral gestaltbaren und einen zwingend erfolgswirksamen - und damit steuererhöhenden - Teil aufspaltet (BMF-Schreiben vom 11. November 2011 – Umwandlungssteuererlass -, BStBl I 2011, 1314, Tz. 24.07). Die nunmehrige Entscheidung des X. Senats erweitert die bereits bestehenden Möglichkeiten der Unternehmen, durch Inanspruchnahme der Regelung des § 24 des Umwandlungssteuergesetzes Umstrukturierungen vorzunehmen, ohne dass dabei Ertragsteuern anfallen.Im Streitfall hatte ein Einzelunternehmer seinen Betrieb, der einen Buchwert von 352.356,12 €, aber zugleich hohe stille Reserven aufwies, zum Buchwert in eine GmbH & Co. KG eingebracht. Zugleich nahm er seine Ehefrau und zwei Kinder mit Kapitalanteilen von insgesamt 100.000 € unentgeltlich in die neu gegründete KG auf. Er selbst erhielt in der KG einen Kapitalanteil von 150.000 € sowie eine Darlehensforderung von 102.356,12 €. Sowohl das Finanzamt als auch das erstinstanzlich entscheidende Finanzgericht nahmen an, dass der Einzelunternehmer aufgrund der Einräumung der Darlehensforderung einen Gewinn von 95.717,65 € zu versteuern habe. Dem folgte der BFH nicht. Da die Summe aller Kapitalkonten sowie der Darlehensforderung (352.356,12 €) nicht größer sei als der Buchwert des bisherigen Einzelunternehmens, ergebe sich kein Gewinn.Auf die unterschiedlichen Auffassungen, die derzeit zwischen dem IV. Senat des BFH und der Finanzverwaltung hinsichtlich der Anwendung der sogenannten Trennungstheorie in den Fällen der teilentgeltlichen Übertragung einzelner Wirtschaftsgüter bei Mitunternehmerschaften (§ 6 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes) bestehen (vgl. einerseits BFH-Urteil vom 19. September 2012 IV R 11/12, BFHE 239, 76, andererseits BMF-Schreiben vom 12. September 2013, BStBl I 2013, 1164), brauchte der X. Senat in dieser Entscheidung nicht einzugehen. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: X R 42/10
1. Bringt der Steuerpflichtige einen Betrieb in eine Mitunternehmerschaft ein und wendet er zugleich Dritten unentgeltlich Mitunternehmeranteile zu, sind auf diesen Vorgang die Vorschriften der § 6 Abs. 3 EStG und § 24 UmwStG nebeneinander anwendbar (gegen BMF-Schreiben vom 11. November 2011, BStBl I 2011, 1314, Tz. 01.47, letzter Satz).2. Erhält der Steuerpflichtige im Rahmen der Einbringung seines Betriebs in eine Mitunternehmerschaft neben dem Mitunternehmeranteil auch eine Darlehensforderung gegen die Gesellschaft, schließt dies die Anwendung des § 24 UmwStG nicht aus; die Gutschrift auf dem Darlehenskonto ist jedoch als Entgelt anzusehen, das sich grundsätzlich gewinnrealisierend auswirken kann.3. Bei einer Einbringung eines Betriebs gegen ein sog. Mischentgelt --bestehend aus Gesellschaftsrechten und einer Darlehensforderung gegen die Personengesellschaft-- wird bei Wahl der Buchwertfortführung dann kein Gewinn realisiert, wenn die Summe aus dem Nominalbetrag der Gutschrift auf dem Kapitalkonto des Einbringenden bei der Personengesellschaft und dem gemeinen Wert der eingeräumten Darlehensforderung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Einzelunternehmens nicht übersteigt (gegen BMF-Schreiben vom 11. November 2011, BStBl I 2011, 1314, Tz. 24.07). Tatbestand I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Kommanditist der mit notarieller Urkunde vom 28. Dezember 2002 gegründeten Beigeladenen, einer GmbH & Co. KG (KG).Weitere Gesellschafter sind die Komplementär-GmbH (G-GmbH) sowie --als Kommanditisten-- die Ehefrau (E) des Klägers und seine beiden Töchter T und U. Seine Einlage sollte der Kläger durch Einbringung seines Einzelunternehmens mit allen Aktiva und Passiva, die bei Eintragung der KG in das Handelsregister vorhanden waren, im Wege der Einzelrechtsnachfolge unverzüglich nach der Handelsregister-Eintragung mit schuldrechtlicher Wirkung zum 1. Januar des Streitjahres 2003 erbringen. Entsprechend wurde in der notariellen Urkunde die Übertragung des zu den Aktiva des Einzelunternehmens gehörenden Grundbesitzes sowie der Geschäftsanteile an zwei GmbH (R-GmbH und C-GmbH) vereinbart.Die Einbringung wurde zum Buchwert des Einzelunternehmens vorgenommen, der sich auf 690.217,80 EUR belief. Soweit das in der Schlussbilanz des Einzelunternehmens ausgewiesene Eigenkapital des Klägers seinen neuen Kapitalanteil (150.000 EUR) überstieg, sollte der Mehrbetrag seinem "Darlehenskonto" gutgeschrieben werden (§ 3 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags). Auf diesem "Darlehenskonto", welches neben einem "Kapitalkonto", einem "Rücklagenkonto" und einem "Verlustvortragskonto" geführt wurde, werden nach § 4 Nr. 2 des Gesellschaftsvertrags die entnahmefähigen Gewinnanteile, Entnahmen, Zinsen, der Ausgaben- und Aufwendungsersatz, die Vorabvergütung sowie der sonstige Zahlungsverkehr zwischen der KG und dem Kläger gebucht. Im Falle des Ausscheidens des Klägers aus der KG ist das "Darlehenskonto" nach § 14 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags "neben der Abfindung auf den Tag des Ausscheidens auszugleichen". Die Verluste der Gesellschaft, die nicht durch Guthaben auf den "Rücklagenkonten" gedeckt sind, werden auf den "Verlustvortragskonten" gebucht (§ 4 Nr. 4 des Gesellschaftsvertrags).Die Kommanditisten E, T und U wurden vom Kläger im Wege der Schenkung in die KG aufgenommen. Gemäß § 3 Nr. 2 des Gesellschaftsvertrags betrug der Kapitalanteil der E 50.000 EUR; die Kapitalanteile der T und U betrugen jeweils 25.000 EUR.Im Zuge einer Außenprüfung kam der Prüfer zu der Auffassung, dass die Einbringung des Einzelunternehmens in die KG zwar dem Anwendungsbereich des § 24 des Umwandlungssteuergesetzes in der im Streitjahr 2003 geltenden Fassung (UmwStG 2002) unterfalle. Das dortige Bewertungswahlrecht gelte indes nur, soweit dem Einbringenden Gesellschaftsrechte gewährt würden. Die Gegenleistung durch Gutschrift auf dem "Darlehenskonto" schließe die Begünstigung des § 24 UmwStG 2002 hingegen aus. Der Prüfer berechnete den Einbringungsgewinn mit 392.865,30 EUR. Entsprechend erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) am 28. Februar 2008 einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des Gewinns 2003, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 392.865 EUR auswies.Mit dem dagegen eingelegten Einspruch machte der Kläger sinngemäß geltend, die Einbringung unterliege aufgrund der Aufnahme der nahen Angehörigen gemäß § 6 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der im Streitjahr geltenden Fassung dem Buchwertzwang. Soweit für den Kläger § 24 UmwStG 2002 anzuwenden sei, entstehe entsprechend der Einheitstheorie kein Einbringungsgewinn.Das FA half dem Einspruch mit Bescheid vom 22. April 2008 teilweise ab, indem es den Gewinn auf 375.682 EUR herabsetzte. Hierbei trug es dem Einspruchsvorbringen insoweit Rechnung, als es in Bezug auf die unentgeltliche Zuwendung der Kommanditbeteiligungen an die Angehörigen des Klägers keinen Gewinn mehr ansetzte. Im Übrigen wies es den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 11. Februar 2009 zurück.Mit seiner Klage trug der Kläger u.a. vor, ein zwischenzeitlich rechtskräftig abgeschlossenes zivilgerichtliches Verfahren habe ergeben, dass sämtliche seit dem 3. Mai 2000 gefassten Gesellschafterbeschlüsse der C-GmbH --darunter auch die Zustimmung zur Übertragung des vom Kläger gehaltenen Geschäftsanteils auf die KG-- unwirksam seien. Dieser Geschäftsanteil sei daher mangels wirksamer Übertragung im Eigentum des Klägers verblieben und als dessen Sonderbetriebsvermögen im Rahmen der KG anzusetzen, so dass sich die Gutschrift auf seinem "Darlehenskonto" bei der KG um den Buchwert der C-GmbH (337.861,68 EUR) auf 102.356,12 EUR vermindere. Unter Berücksichtigung dieses Sachvortrags legte das FA eine neue Berechnung des Einbringungsgewinns vor, nach der nunmehr von einem Gewinn in Höhe von 91.462 EUR auszugehen sei. Im Übrigen hielt das FA an seiner Rechtsauffassung fest.Das Finanzgericht (FG) gab der Klage insoweit statt, als es die Einkünfte aus Gewerbebetrieb auf 95.717,65 EUR herabsetzte. Im Übrigen wies es die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2011, 491).Soweit der Kläger sein bisheriges Einzelunternehmen unentgeltlich für Rechnung seiner Ehefrau und der beiden Töchter eingebracht habe, seien die anteilig auf die nahen Angehörigen entfallenden Buchwerte gemäß § 6 Abs. 3 EStG fortzuführen gewesen. Dies habe das FA mit dem Teilabhilfebescheid vom 22. April 2008 zutreffend umgesetzt.Soweit der Kläger den Betrieb für eigene Rechnung eingebracht habe, finde allein die Vorschrift des § 24 UmwStG 2002 Anwendung. Der Kläger habe für die Einbringung ein Mischentgelt erhalten, nämlich Gesellschaftsrechte und eine sonstige Ausgleichsleistung in Gestalt der Gutschrift auf seinem Darlehenskonto bei der KG, die Fremdkapital der Gesellschaft darstelle. Die Einbringung sei nur insoweit nach § 24 UmwStG 2002 erfolgsneutral möglich, als dem Kläger im Gegenzug Gesellschaftsrechte gewährt worden seien.Zur Berechnung des Einbringungsgewinns sei auf die Grundsätze des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11. Dezember 2001 VIII R 58/98 (BFHE 197, 411, BStBl II 2002, 420) zurückzugreifen, auch wenn dieser Entscheidung die Einbringung eines einzelnen Wirtschaftsguts gegen ein Mischentgelt in Höhe des Teilwerts des eingebrachten Wirtschaftsguts zu Grunde gelegen habe. Im Ergebnis stelle sich die vorliegende Einbringung des Betriebs gegen ein Mischentgelt, das neben der Gewährung von Gesellschaftsrechten die Einräumung einer "echten" Darlehensforderung umfasse, wie eine Betriebseinbringung gegen eine Zuzahlung in das Privatvermögen des Einbringenden dar.Das FG berechnete den Einbringungsgewinn wie folgt:        Veräußerungspreis102.356,12 EURabzüglich anteiliges Kapitalkonto des Einzelunternehmens./. 6.638,48 EUR= Gewinn95.717,65 EURMit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 24 Abs. 1 UmwStG 2002. Bei der Einbringung eines Betriebs in eine Personengesellschaft komme es nicht zu einer Gewinnrealisierung, soweit die erhaltenen Gesellschaftsrechte sowie die anderen Gegenleistungen (hier: Gutschrift auf dem Darlehenskonto) den Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens nicht überstiegen.Der Kläger beantragt,das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung vom 11. Februar 2009 aufzuheben und unter Änderung des Bescheids über die gesonderte Feststellung des Gewinns 2003 vom 22. April 2008 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb auf 0 EUR festzustellen.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen.Die Buchwertfortführung des § 24 UmwStG 2002 finde ihren Rechtsgrund in der Fortsetzung des unternehmerischen Engagements. Daran fehle es, soweit der Gesellschafter für die Einbringung --neben Gesellschaftsrechten-- ein weiteres Entgelt erhalte. Ein Aufschub der Besteuerung der stillen Reserven sei nur insoweit gerechtfertigt, als eine Mitunternehmerstellung durch entsprechende Gesellschaftsrechte gewährt werde. Auch die --nur auf Einbringungen in Kapitalgesellschaften anwendbaren-- Vorschriften des § 20 Abs. 2 Satz 5, Abs. 4 Satz 2 UmwStG 2002 zeigten, dass in den Fällen des § 24 UmwStG 2002 keine sonstigen Gegenleistungen zugelassen seien. Würde man § 24 UmwStG 2002 auf solche Leistungen anwenden, könnte insoweit auf stille Reserven später nicht mehr zugegriffen werden. Zumindest aber würde das Subjektsteuerprinzip verletzt, weil stille Reserven auf andere Gesellschafter übergingen.Die Anwendung der in Fällen teilentgeltlicher Betriebsveräußerungen zur Lösung des Widerstreits zwischen § 16 EStG und § 6 Abs. 3 EStG entwickelten Einheitstheorie auf Fälle eines Mischentgelts sei nicht sachgerecht, weil es sich um eine entgeltliche Übertragung handele.Die Beigeladene hat sich zum Rechtsstreit inhaltlich nicht geäußert.Das Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen ist dem Rechtsstreit beigetreten. Es hat keinen Antrag gestellt, unterstützt in der Sache aber die Auffassung des FA. Gründe II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung sowie der Einspruchsentscheidung vom 11. Februar 2009 und zur Änderung des angefochtenen Bescheids dahingehend, dass Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 0 EUR festgestellt werden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).Das FG hat zwar zu Recht § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG auf die unentgeltliche Aufnahme der E, T und U in den Betrieb des Klägers und § 24 UmwStG 2002 in Bezug auf die Einbringung des Einzelunternehmens angewendet (unten 1.). Auch schließt die Gewährung der Darlehensforderung, die sich grundsätzlich gewinnrealisierend auswirkt, die Anwendung des § 24 UmwStG 2002 nicht aus (unten 2.). Jedoch ist im Streitfall trotz der Gutschrift auf dem Darlehenskonto kein Gewinn angefallen, weil die Summe aus dem Nominalwert des Kapitalkontos des Klägers bei der KG und dem gemeinen Wert der eingeräumten Darlehensforderung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Einzelunternehmens nicht überschritten hat (unten 3.).1. Zu Recht hat das FG den Anwendungsbereich des § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG nur insoweit als eröffnet angesehen, als der Kläger im Zuge der Einbringung seines Einzelunternehmens seinen Angehörigen E, T und U unentgeltlich Gesellschaftsbeteiligungen an der KG zugewendet hat.a) Wird ein Betrieb, ein Teilbetrieb oder der Anteil eines Mitunternehmers an einem Betrieb unentgeltlich übertragen, so sind bei der Ermittlung des Gewinns des bisherigen Betriebsinhabers (Mitunternehmers) die Wirtschaftsgüter mit den Werten anzusetzen, die sich nach den Vorschriften über die Gewinnermittlung ergeben (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 EStG); dies gilt auch bei der unentgeltlichen Aufnahme einer natürlichen Person in ein bestehendes Einzelunternehmen sowie bei der unentgeltlichen Übertragung eines Teils eines Mitunternehmeranteils auf eine natürliche Person (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EStG).§ 6 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 Alternative 1 EStG ist auch dann anwendbar, wenn mehrere natürliche Personen in ein bestehendes Einzelunternehmen aufgenommen werden (ebenso z.B. Gratz in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, § 6 EStG Rz 1368; Schmidt/ Kulosa, EStG, 32. Aufl., § 6 Rz 661). Für diesen Fall kann --ausgehend vom Normzweck, die unentgeltliche Betriebs- und Unternehmensnachfolge von ertragsteuerlichen Belastungen zu verschonen-- nichts anderes gelten als bei der Aufnahme nur einer einzigen natürlichen Person.b) In Bezug auf die Einbringung des Einzelunternehmens gegen Gewährung eines Mitunternehmeranteils an den Kläger hat das FG zu Recht § 24 UmwStG 2002 angewendet. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 12. Oktober 2005 X R 35/04 (BFH/NV 2006, 521), das eine insoweit vergleichbare Fallgestaltung im Jahr 1995 betraf, den Vorgang aufgespalten: Soweit der dortige Kläger seine beiden Betriebe gegen Gewährung eines eigenen Mitunternehmeranteils in die Personengesellschaft eingebracht hatte, hielt der Senat die Vorschrift des § 24 UmwStG --in der im Jahr 1995 geltenden, mit § 24 UmwStG 2002 insoweit übereinstimmenden Fassung-- grundsätzlich für einschlägig. Soweit der Kläger seine Betriebe hingegen zum Zweck der unentgeltlichen Aufnahme seines Sohnes eingebracht hatte, lag nach Auffassung des Senats ein gesondert zu beurteilender Übertragungsvorgang vor.Diese Entscheidung hat sowohl Zustimmung (Fuhrmann in Widmann/ Mayer, Umwandlungsrecht, § 24 Rz 164, 26; Hoffmann in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 6 Rz 1056; Korn/Strahl in Korn, § 6 EStG Rz 475.1, sowie Korn, Kölner Steuerdialog 2005, 14633, 14642) als auch --insbesondere nach Ergänzung des § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG durch das Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz (UntStFG) vom 20. Dezember 2001 (BGBl I 2001, 3858) mit Wirkung zum Veranlagungszeitraum 2001-- Kritik hervorgerufen. Nach der Gegenauffassung soll sich die in § 6 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EStG angeordnete zwingende Buchwertfortführung bei der unentgeltlichen Aufnahme von natürlichen Personen in ein Einzelunternehmen auf alle beteiligten Personen --einschließlich des Einbringenden-- beziehen und § 24 UmwStG daneben nicht mehr zur Anwendung kommen (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 11. November 2011, BStBl I 2011, 1314, Tz. 01.47, letzter Satz; Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, Umwandlungssteuerrecht, 7. Aufl., § 24 Rz 72; Schmidt/Wacker, a.a.O., § 16 Rz 204; HHR/Gratz, § 6 EStG Rz 1368, m.w.N. zum Streitstand; Rasche in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG, 2. Aufl., § 24 Rz 15; Werndl, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 6 Rz J 8, sowie Prinz in Bordewin/Brandt, § 6 EStG Rz 847: § 6 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 Alternative 1 EStG als lex specialis zu § 24 UmwStG).Der erkennende Senat hält an seiner im Urteil in BFH/NV 2006, 521 geäußerten Rechtsauffassung fest. Die Aufteilung der teils gegen Gewährung eines eigenen Mitunternehmeranteils sowie teils zum Zweck der unentgeltlichen Aufnahme der Angehörigen vorgenommenen Einbringung beruht darauf, dass zwei --rechtlich getrennt zu würdigende-- Vorgänge vorliegen. Ebenso wie bei der entgeltlichen Aufnahme eines Dritten in ein Einzelunternehmen werden auch bei einer unentgeltlichen Aufnahme die steuerrechtlichen Tatbestände der Veräußerung und der Einbringung parallel verwirklicht (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 18. Oktober 1999 GrS 2/98, BFHE 189, 465, BStBl II 2000, 123, unter C.II., vor 1.).Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Einfügung des § 6 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EStG durch das UntStFG, denn damit sollte die bereits zuvor praktizierte steuerneutrale Behandlung dieser Fälle --nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich klarstellend-- auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden (Begründung des Regierungsentwurfs eines UntStFG vom 17. August 2001, BRDrucks 638/01, S. 49; ebenso BTDrucks 14/6882, S. 32).2. Ebenfalls zutreffend hat das FG erkannt, dass die Gewährung der Darlehensforderung neben den Gesellschaftsrechten die Anwendung des § 24 UmwStG 2002 nicht ausschließt, wobei sich die Gutschrift auf einem Darlehenskonto grundsätzlich gewinnrealisierend auswirkt.a) Die Anwendung des § 24 UmwStG 2002 wird nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass dem Einbringenden neben Gesellschaftsrechten sonstige Gegenleistungen gewährt werden.§ 24 Abs. 1 UmwStG 2002 verlangt lediglich die Einräumung einer Mitunternehmerstellung als Gegenleistung für die Einbringung, so dass diese Norm auch in Fällen der Gewährung eines Mischentgelts --unabhängig von der rechtlichen Einordnung und den Rechtsfolgen des nicht in Gesellschaftsrechten bestehenden Teils der Gegenleistung-- Anwendung finden kann. Es ist nicht erforderlich, dass die Gegenleistung ausschließlich in der Gewährung von Gesellschaftsrechten besteht (allgemeine Meinung; vgl. BFH-Urteil vom 24. Juni 2009 VIII R 13/07, BFHE 225, 402, BStBl II 2009, 993, unter II.3.a aa; BMF-Schreiben vom 25. März 1998, BStBl I 1998, 268, Tz. 24.08; ebenso BMF-Schreiben in BStBl I 2011, 1314, Tz. 24.07).b) Im Streitfall hat der Kläger --in Gestalt seines Kommanditanteils an der KG-- Gesellschaftsrechte im Nominalbetrag von 150.000 EUR erhalten. Der auf dem Darlehenskonto gutgeschriebene Betrag in Höhe von 102.356,12 EUR ist hingegen aus der Sicht der KG Fremdkapital. Insoweit wurden dem Kläger keine Gesellschaftsrechte gewährt. Es handelt sich daher um eine zusätzliche Gegenleistung.Die Darlehensforderung war als echte unentziehbare Forderung ausgestaltet, die insbesondere nicht mit etwaigen Verlusten der KG verrechnet werden konnte (zu den Abgrenzungskriterien zwischen Eigen- und Fremdkapital bei Gewährung von Darlehensforderungen vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2006, 521, und vom 26. Juni 2007 IV R 29/06, BFHE 218, 291, BStBl II 2008, 103). Dies ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig.c) Der erkennende Senat geht mit der Finanzverwaltung (BMF-Schreiben in BStBl I 1998, 268, Tz. 24.08; ebenso BMF-Schreiben in BStBl I 2011, 1314, Tz. 24.07) und dem überwiegenden Teil des Schrifttums davon aus, dass eine Gutschrift auf einem Darlehenskonto grundsätzlich als Entgelt anzusehen ist und sich gewinnrealisierend auswirken kann (Schmitt/Hörtnagl/ Stratz, Umwandlungsgesetz, Umwandlungssteuergesetz, 6. Aufl., § 24 UmwStG Rz 140; Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, a.a.O., § 24 Rz 59 f.; ders., Der GmbH-Steuerberater --GmbH-StB-- 2011, 303, 305; ders. in Patt/Rupp/Aßmann, Der neue Umwandlungssteuererlass, S. 178; Jäschke in Lademann, UmwStG, § 24 Rz 20; Brandenberg, Die Steuerberatung --Stbg-- 2012, 145, 155; Wüllenkemper, Anmerkung zum vorinstanzlichen Urteil, EFG 2011, 491, 495 f.; Wacker, Betriebs-Berater 1998, Beilage 8 zu Heft 26, S. 1, 30, rechte Spalte; vgl. auch Senatsurteil in BFH/NV 2006, 521, in dem der erkennende Senat im Rahmen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 UmwStG 1995 geprüft hat, ob es sich bei dem dortigen variablen Gesellschafterkonto um ein "echtes" Kapitalkonto oder um ein Darlehenskonto gehandelt hat, sowie BFH-Urteil in BFHE 197, 411, BStBl II 2002, 420; a.A. Fuhrmann in Widmann/Mayer, a.a.O., § 24 UmwStG Rz 583 i.V.m. 527; Schlößer in Haritz/Benkert, Umwandlungssteuergesetz, 2. Aufl., § 24 Rz 59; nunmehr unklar Schlößer in Haritz/Menner, Umwandlungssteuergesetz, 3. Aufl., § 24 Rz 77 und 78).Dem in § 24 Abs. 2 UmwStG 2002 enthaltenen Bewertungswahlrecht liegt der Gedanke zu Grunde, dass in der Personengesellschaft das unternehmerische Engagement in mitunternehmerischer Form fortgesetzt wird (vgl. BFH-Entscheidungen in BFHE 197, 411, BStBl II 2002, 420, und vom 20. September 2007 IV R 70/05, BFHE 219, 86, BStBl II 2008, 265). Daran fehlt es, soweit der Gesellschafter für die Übernahme des Wirtschaftsguts ein über die Gewährung von Gesellschaftsrechten hinausgehendes Entgelt erhält. Insoweit erbringt der Gesellschafter seine Leistung nämlich nicht zur Stärkung der Gesellschaft oder seiner Gesellschafterstellung (BFH-Urteil in BFHE 197, 411, BStBl II 2002, 420; ebenso Wüllenkemper, EFG 2011, 495). In Gestalt der Gutschrift auf dem Darlehenskonto erhält der Einbringende vielmehr eine Vermögensposition als weiteren Gegenwert (ebenso Patt, GmbH-StB 2011, 303, 305).Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Darlehensforderung des Klägers, der in der Steuerbilanz der KG eine entsprechende Verbindlichkeit als Fremdkapital gegenübersteht, in einer Sonderbilanz bei der KG (notwendiges Sonderbetriebsvermögen) zu aktivieren ist und damit zum steuerrechtlichen Betriebsvermögen der KG gehört (so aber Fuhrmann in Widmann/Mayer, a.a.O., § 24 UmwStG Rz 583 i.V.m. 526; Schlößer in Haritz/Benkert, a.a.O., § 24 Rz 59; nunmehr unklar Schlößer in Haritz/Menner, a.a.O., § 24 Rz 77 und 78). Dies folgt daraus, dass die Darlehensforderung nicht dem Vermögensbereich der Personengesellschaft als Bestandteil des eingebrachten Vermögens zugeführt, sondern erst im Zusammenhang mit der Einbringung --als Gegenleistung für die Übertragung des eingebrachten Betriebsvermögens-- begründet wurde (vgl. BFH-Urteil in BFHE 197, 411, BStBl II 2002, 420; ebenso Patt in Dötsch/ Patt/Pung/Möhlenbrock, a.a.O., § 24 Rz 60).3. Zu Unrecht hat das FG jedoch aufgrund der Gutschrift auf dem Darlehenskonto des Klägers einen steuerpflichtigen Gewinn in Höhe von 95.717,65 EUR angenommen. Im Streitfall ist bei der vorgenommenen Einbringung des Einzelunternehmens gegen ein sog. Mischentgelt --bestehend aus Gesellschaftsrechten und einer Darlehensforderung gegen die KG-- kein Gewinn entstanden, weil die Summe aus dem Nominalbetrag der Gutschrift auf dem Kapitalkonto des Klägers bei der KG und dem gemeinen Wert der eingeräumten Darlehensforderung den steuerlichen Buchwert des eingebrachten Einzelunternehmens nicht überschritten hat.a) Der BFH hatte bislang eine derartige Fallkonstellation nicht zu beurteilen. Die Finanzverwaltung vertritt zwischenzeitlich die Auffassung, bei Einbringung gegen ein Mischentgelt sei der Vorgang entsprechend dem Verhältnis der jeweiligen Teilleistungen in einen erfolgsneutral gestaltbaren und einen zwingend erfolgswirksamen Teil aufzuspalten (BMF-Schreiben in BStBl I 2011, 1314, Tz. 24.07, unter Verweis auf das zur Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern gegen ein "drittübliches" Mischentgelt in Höhe des Teilwerts bzw. gemeinen Werts des übertragenen Wirtschaftsguts ergangene BFH-Urteil in BFHE 197, 411, BStBl II 2002, 420; hingegen war in dem --für das Streitjahr noch anzuwendenden-- BMF-Schreiben in BStBl I 1998, 268, Tz. 24.08 keine ausdrückliche Stellungnahme zu der im Streitfall verwirklichten Gestaltung enthalten).Ein Teil der Literatur hat sich der Verwaltungsauffassung angeschlossen (Patt in Dötsch/Patt/Pung/Möhlenbrock, a.a.O., § 24 Rz 60, 62; ders., GmbH-StB 2011, 303, 308 f.; Wüllenkemper, EFG 2011, 495 f.). Andere Autoren meinen, dass es jedenfalls insoweit nicht zu einer Gewinnrealisierung komme, als die Summe aus dem Nominalbetrag der Gutschrift auf den Kapitalkonten und dem gemeinen Wert der sonstigen Gegenleistung den Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens nicht übersteige (so Fuhrmann in Widmann/Mayer, a.a.O., § 24 UmwStG Rz 583 i.V.m. 526, unter der Prämisse, dass man mit der h.M. die Gewährung eines Darlehensanspruchs als potenziell gewinnrealisierend erachte; Strahl in Carlé-Korn-Stahl-Strahl, Umwandlungen - Der neue Umwandlungssteuer-Erlass, 2. Aufl., S. 149; ders., Stbg 2011, 147, 156).b) Der erkennende Senat schließt sich im Ergebnis der letztgenannten Auffassung an. Auch in den Fällen des Mischentgelts kommt es nicht zu einer Aufdeckung stiller Reserven, sofern das Entgelt (bzw. die Summe der Teilentgelte) den Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens nicht übersteigt.aa) Wird ein Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil gemäß § 24 Abs. 1 UmwStG 2002 in eine Personengesellschaft eingebracht und wird der Einbringende Mitunternehmer der Gesellschaft, liegt darin ein tauschähnlicher Vorgang, der den Tatbestand einer Betriebs-, Teilbetriebs- oder Anteilsveräußerung nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG erfüllt (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Entscheidungen vom 21. Juni 1994 VIII R 5/92, BFHE 174, 451, BStBl II 1994, 856, und in BFHE 219, 86, BStBl II 2008, 265). Die grundsätzlich gewinnrealisierende Rechtsfolge eines solchen Veräußerungsvorgangs kann indes durch Ausübung des Bewertungswahlrechts gemäß § 24 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 UmwStG 2002 vermieden werden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 7. November 2006 VIII R 13/04, BFHE 215, 260, BStBl II 2008, 545).Im Rahmen des § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung eine teilentgeltliche Übertragung der dort genannten betrieblichen Sachgesamtheiten (Gewerbebetrieb, Teilbetrieb, Mitunternehmeranteil) als einheitlicher Rechtsvorgang anzusehen (sog. Einheitstheorie) und daher nicht nach Maßgabe der sog. Trennungstheorie in einen entgeltlichen und einen unentgeltlichen Teil aufzuspalten. In diesen Fällen entsteht ein (Veräußerungs-)Gewinn nur, wenn die Summe der Entgelte bzw. Gegenleistungen den Buchwert der übertragenen betrieblichen Sachgesamtheit sowie die Veräußerungskosten übersteigt (z.B. BFH-Urteile vom 10. Juli 1986 IV R 12/81, BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811; vom 22. September 1994 IV R 61/93, BFHE 176, 350, BStBl II 1995, 367, und vom 7. November 2000 VIII R 27/98, BFHE 193, 549; aus dem Schrifttum z.B. Schmidt/Wacker, a.a.O., § 16 Rz 58 f.; HHR/Geissler, § 16 EStG Rz 76). Dabei sind bilanzierte betriebliche Verbindlichkeiten als unselbständige Bestandteile der jeweiligen Sachgesamtheit anzusehen, so dass der Netto-Buchwert des übertragenen Betriebsvermögens (Aktiva ./. Passiva) der Summe der Entgelte bzw. Gegenleistungen gegenüberzustellen ist (BFH-Urteile vom 16. Dezember 1992 XI R 34/92, BFHE 170, 183, BStBl II 1993, 436, und vom 21. März 2002 IV R 1/01, BFHE 198, 537, BStBl II 2002, 519).bb) Die Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist auch im Rahmen der Einbringung eines Betriebs gegen Gewährung eines --aus der Einräumung von Gesellschaftsrechten sowie der Begründung einer Darlehensforderung bestehenden-- Mischentgelts sachgerecht. Dies beruht darauf, dass es sich bei den unter § 24 Abs. 1 UmwStG 2002 fallenden Einbringungsvorgängen --wie oben dargestellt-- ebenfalls um die Übertragung betrieblicher Sachgesamtheiten handelt.Zwar sind die unter aa) angeführten Entscheidungen zur Anwendung der "Einheitstheorie" in den Fällen des § 16 Abs. 1 EStG zu teilentgeltlichen Veräußerungen ergangen, während Einbringungen nach § 24 Abs. 1 UmwStG 2002 --auch solche, die wie im Streitfall gegen ein "Mischentgelt" vorgenommen werden-- dem Grunde nach vollentgeltliche Vorgänge darstellen. Gleichwohl ist das vorliegende Mischentgelt für Zwecke der hier vorzunehmenden Ermittlung der Höhe des anteilig realisierten Gewinns wie ein Teilentgelt zu behandeln, weil § 24 Abs. 2 UmwStG 2002 es ermöglicht, den in der Gewährung von Gesellschaftsrechten bestehenden Teil des Mischentgelts mit dem Buchwert zu bewerten. In diesen Fällen bleibt die für Zwecke der Einkommensbesteuerung anzusetzende Höhe des Mischentgelts --insoweit wie bei einem Teilentgelt-- hinter dem gemeinen Wert des eingebrachten Betriebsvermögens zurück, was die Gleichsetzung beider Vorgänge rechtfertigt; allein entscheidend ist der Umstand, ob das gesamte Teil- oder Vollentgelt den Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens nicht übersteigt.Der Einwand des FA, die "Einheitstheorie" sei entwickelt worden, um in Fällen teilentgeltlicher Betriebsveräußerungen den Widerstreit zwischen den Vorschriften des § 16 EStG einerseits und des § 6 Abs. 3 EStG andererseits zu lösen, ist zwar im Ansatz zutreffend (vgl. BFH-Urteil in BFHE 147, 63, BStBl II 1986, 811). Er führt aber nicht zu einer anderen Beurteilung des Streitfalls, weil hier ein vergleichbarer Normenwiderstreit zu lösen ist. So ist vorliegend eine Kombination aus einer unter § 16 EStG fallenden Betriebsveräußerung (soweit es um die Darlehensforderung geht) und einer unter § 24 UmwStG 2002 fallenden, die Fortsetzung des unternehmerischen Engagements prämierenden --und ebenso wie in den Fällen des § 6 Abs. 3 EStG zum Buchwert möglichen-- Einbringung verwirklicht worden. Die Anwendung der Einheitstheorie stellt sich vor diesem Hintergrund als ebenso sachgerecht dar wie in Fällen der teilentgeltlichen Betriebsveräußerung.c) Auch die weiteren Einwendungen des FA greifen nicht durch.aa) So kann der vorliegende Sachverhalt nicht mit einer Betriebseinbringung gegen die Zuzahlung eines neu eintretenden Gesellschafters in das Privatvermögen des Einbringenden verglichen werden.In derartigen Fällen ist anerkannt, dass der Veräußerungsvorgang getrennt von der Einbringung zu beurteilen ist und in Höhe der Differenz zwischen der Zuzahlung und den anteiligen Buchwerten der Wirtschaftsgüter des eingebrachten Betriebsvermögens zu einer Gewinnrealisierung führt (BFH-Urteile vom 8. Dezember 1994 IV R 82/92, BFHE 176, 392, BStBl II 1995, 599; in BFHE 225, 402, BStBl II 2009, 993, sowie Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 189, 465, BStBl II 2000, 123). Dabei hat der BFH in seinem Urteil in BFHE 176, 392, BStBl II 1995, 599 ausdrücklich keine Bedenken gegen eine Berechnung der anteiligen Buchwerte entsprechend dem Verhältnis, in welchem die Zuzahlung zum Gesamtwert des eingebrachten Betriebsvermögens steht, geäußert.Teile der Literatur halten diese Zuzahlungs-Fälle mit denen der Einbringung gegen Mischentgelt für vergleichbar, weil zwischen ihnen weder wirtschaftlich noch steuerrechtlich ein Unterschied bestehe (Patt, GmbH-StB 2011, 303, 304; Wüllenkemper, EFG 2011, 496; a.A. Fuhrmann in Widmann/Mayer, a.a.O., § 24 UmwStG Rz 583 i.V.m. 527).Der Vergleichbarkeit steht jedoch entgegen, dass sich die Zuzahlung eines künftigen Mitgesellschafters aus der Sicht der Altgesellschafter als Veräußerung eines Mitunternehmeranteils an einen Dritten darstellt, die von der Einbringung des Betriebs in die Personengesellschaft zu trennen ist. Zudem bewirkt eine an der Höhe der erworbenen anteiligen stillen Reserven orientierte Zuzahlung in das Vermögen des Einbringenden im Regelfall, dass die Gesamtgegenleistung über den Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens hinausgehen wird.bb) Auch der vom FA vorgenommene Umkehrschluss aus den Vorschriften des § 20 Abs. 2 Satz 5, Abs. 4 Satz 2 UmwStG 2002 hat für den Streitfall keine Bedeutung. Die genannten Vorschriften erfassen nach ihrem klaren Wortlaut nur solche Zusatz-Gegenleistungen, deren gemeiner Wert den Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens übersteigt. In derartigen Fällen käme auch der erkennende Senat zu einer Gewinnrealisierung (vgl. oben 2.c). Der Streitfall liegt aber in tatsächlicher Hinsicht anders; er ist dadurch gekennzeichnet, dass der gemeine Wert der dem Kläger eingeräumten Darlehensforderung auch zusammen mit dem Nominalbetrag seines Kapitalkontos in der KG den Buchwert des von ihm eingebrachten Betriebsvermögens nicht übersteigt.cc) Gegen die vom Senat vorgenommene Auslegung des § 24 Abs. 1 UmwStG 2002, die zur Steuerneutralität derartiger Einbringungsvorgänge führt, kann nicht eingewendet werden, dass auf stille Reserven, die in der eingebrachten Sachgesamtheit im Zeitpunkt der Einbringung enthalten sind, später teilweise nicht mehr zugegriffen werden könne.In Teilen des Schrifttums wird zwar vertreten, dass sich ein Aufschub der Besteuerung der stillen Reserven des eingebrachten Vermögens nach § 24 UmwStG 2002 nur rechtfertigen lasse, soweit diese in einem Substrat gebunden seien, mit dem eine Rechtsträgerschaft verbunden ist. Dies sei allein der Mitunternehmeranteil (so Wüllenkemper, EFG 2011, 495).Dies ist indes unzutreffend. Durch die Einräumung der Darlehensforderung --auf Seiten der KG eine Darlehensverbindlichkeit-- anstelle einer Gutschrift auf dem Kapitalkonto ändert sich zwar das Verhältnis zwischen Eigen- und Fremdkapital und damit --bei fehlenden Ergänzungsbilanzen-- die Verteilung der Anteile an den stillen Reserven zwischen den Gesellschaftern. Das Bilanzbild auf der Aktivseite --einschließlich des Umfangs der in den Aktiva enthaltenen stillen Reserven-- bleibt jedoch unverändert, so dass die stillen Reserven der Gesellschaft der Besteuerung nicht entzogen werden.dd) Das dargestellte --vom FA ebenfalls beanstandete-- Übergehen stiller Reserven auf andere Gesellschafter ist von der gesetzgeberischen Konzeption mit abgedeckt. Diese Rechtsfolge beruht darauf, dass der Kläger den Einbringungsvorgang --in rechtlich zulässiger und in der Praxis üblicher Weise-- mit einem unentgeltlichen Übertragungsvorgang i.S. des § 6 Abs. 3 EStG gekoppelt hat. Die letztgenannte Vorschrift ist vom Gesetzgeber aber bewusst geschaffen worden, um das Übergehen stiller Reserven in Fällen unentgeltlicher Übertragungen --typischerweise auf Angehörige-- zu ermöglichen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb das Übergehen stiller Reserven zwar in den Fällen des § 6 Abs. 3 EStG sachgerecht und vom Gesetzgeber gewollt sein soll, nicht aber dann, wenn ein unter § 6 Abs. 3 EStG fallender Vorgang mit der Einbringung eines Betriebs in eine Personengesellschaft gemäß § 24 UmwStG 2002 gekoppelt wird.Zwar enthält das BFH-Urteil vom 16. Dezember 2004 III R 38/00 (BFHE 209, 62, BStBl II 2005, 554, unter II.2.b) die Aussage, § 24 UmwStG ermögliche nur deshalb eine gewinnneutrale Einbringung, weil die stillen Reserven über die gewährten Gesellschaftsrechte weiterhin demselben Steuersubjekt zugeordnet blieben. Dieses Urteil ist jedoch --ebenso wie diejenigen Entscheidungen, auf die der III. Senat für die zitierte Aussage verweist-- zu einem Fall ergangen, in dem ein gegen Entgelt neu eintretender Gesellschafter eine Zuzahlung in das Privatvermögen des Einbringenden geleistet hatte. Derartige Fallgestaltungen sind mit dem Streitfall aber nicht vergleichbar (vgl. bereits oben aa).Im Übrigen kann es auch bei ausschließlicher Anwendung des § 24 UmwStG 2002 durchaus zu einem Übergehen stiller Reserven auf andere Steuersubjekte kommen. Bringt beispielsweise bei einer Gesellschaft, an der zwei Gesellschafter zu je 50 % beteiligt sind, ein Gesellschafter einen Betrieb mit hohen stillen Reserven zu Buchwerten ein, erhöht sich zwar buchmäßig nur sein Kapitalkonto in der Personengesellschaft. Wirtschaftlich sind die stillen Reserven des eingebrachten Betriebs aber teilweise auch auf den Anteil des anderen Gesellschafters übergesprungen.Zudem gehen in den --systematisch eng mit § 24 UmwStG 2002 verwandten-- Fällen des § 16 EStG ebenfalls stille Reserven auf andere Steuersubjekte über, wenn eine Betriebsveräußerung als teilentgeltlicher Vorgang anzusehen ist. Die Anwendung der --gerade zu § 16 EStG entwickelten-- Einheitstheorie bringt diese Rechtsfolge denknotwendig mit sich.4. Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger im Streitfall aus dem Einbringungsvorgang keinen Gewinn realisiert.Die dem Kläger seitens der KG gewährte Gegenleistung ist mit 252.356,12 EUR zu bewerten (150.000 EUR Nominalbetrag der Gutschrift auf dem Kapitalkonto zzgl. 102.356,12 EUR gemeiner Wert der eingeräumten Darlehensforderung).Der (Netto-)Buchwert des vom Kläger eingebrachten Betriebsvermögens beläuft sich ebenfalls auf 252.356,12 EUR. Dieser Betrag errechnet sich wie folgt:-       Buchwert des Betriebsvermögens des Einzelunternehmens im Zeitpunkt der Einbringung690.217,80 EUR-       Korrektur um den Buchwert der nicht mit eingebrachten C-GmbH (vgl. dazu die Erläuterungen unten a)./. 337.861,68 EUR-       abzüglich auf die Angehörigen entfallende Teile des Kapitalkontos (vgl. dazu die Erläuterungen unten b)./. 100.000,00 EUR-       Saldo 252.356,12 EURDa die Summe des Nominalbetrags der Gutschrift auf dem Kapitalkonto des Klägers und des gemeinen Werts der Gutschrift auf dem Darlehenskonto den steuerlichen Buchwert der eingebrachten betrieblichen Sachgesamtheit nicht übersteigt, kommt es nicht zu einer Gewinnrealisierung.a) Die Verminderung der Gutschrift auf dem Darlehenskonto um den Buchwert der C-GmbH aufgrund der Unwirksamkeit der Übertragung des Geschäftsanteils an dieser Gesellschaft ist zwar im Gesellschaftsvertrag nicht ausdrücklich geregelt. Sie entspricht jedoch dem Willen des Klägers sowie der übrigen Gesellschafter der KG und ergibt sich damit --aufgrund der insoweit gegebenen Lückenhaftigkeit des Gesellschaftsvertrags-- aus der salvatorischen Klausel in § 15 des Gesellschaftsvertrags. Im Übrigen ist diese Vorgehensweise zwischen den Beteiligten unstreitig.b) Der in der Schlussbilanz des Einzelunternehmens ausgewiesene Wert des Kapitalkontos ist zudem um den Nominalbetrag der Kommanditeinlagen zu mindern, die der Kläger seinen Angehörigen zugewendet hat.Die vom FA vertretene prozentuale Aufteilung des Kapitalkontos nach Maßgabe der Beteiligungsverhältnisse an der KG --danach würde auf den Kläger ein Anteil von 60 % entfallen-- kommt hingegen nicht in Betracht.Dies ergibt sich aus der --bereits vom FG vorgenommenen-- Auslegung der notariellen Urkunde, die Grundlage der Einbringung und der Gesellschaftsgründung war (ebenso auf die Auslegung der getroffenen Vereinbarungen abstellend: BFH-Urteil vom 21. September 2000 IV R 54/99, BFHE 193, 301, BStBl II 2001, 178; aus dem Schrifttum Groh, Der Betrieb 2001, 2162, 2163; Fuhrmann in Widmann/Mayer, a.a.O., § 24 UmwStG Rz 583 i.V.m. 532). § 3 Nr. 3 des Gesellschaftsvertrags zeigt, dass zum einen der Kläger ein Kapitalkonto in Höhe von 100.000 EUR --zuzüglich der Darlehensforderung-- und zum anderen seine Angehörigen feste Kapitalkonten von je 25.000 EUR bzw. 50.000 EUR erhalten sollten. Eine prozentuale Beteiligung der Angehörigen am Betriebsvermögen des bisherigen Einzelunternehmens im Umfang von je 10 % bzw. 20 % war danach nicht gewollt.5. Der Senat kann durcherkennen. Eine Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO) ist insbesondere nicht im Hinblick auf die Korrektur der Einbringungsbilanz um den letztlich nicht mit eingebrachten Anteil an der C-GmbH angezeigt. Dies entspricht auch der im Revisionsverfahren geäußerten eigenen Auffassung des Klägers. Zudem hat er nach eigenen Angaben --insoweit unwidersprochen-- zwischenzeitlich eine berichtigte Einbringungsbilanz eingereicht, in der die Unwirksamkeit der Übertragung des Geschäftsanteils an der C-GmbH berücksichtigt worden ist.6. Soweit der Kläger 3/4 der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu tragen hat, ergibt sich die Kostenentscheidung aus § 137 Satz 1 FGO, da der Kläger die entscheidungserhebliche Unwirksamkeit der Übertragung des Geschäftsanteils an der C-GmbH bereits im Rechtsbehelfsverfahren hätte geltend machen können und müssen. Das zivilgerichtliche Verfahren, in dem die Unwirksamkeit der Anteilsübertragung geklärt worden ist, ist noch während des Einspruchsverfahrens rechtskräftig abgeschlossen worden.Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung, nach der das FA die Kosten des Revisionsverfahrens sowie 1/4 der Kosten des Klageverfahrens zu tragen hat, auf § 135 Abs. 1 FGO.Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt hat, können ihr keine Kosten auferlegt werden (§ 135 Abs. 3 FGO). Andererseits entspricht es nicht der Billigkeit, ihre außergerichtlichen Kosten dem FA oder der Staatskasse aufzuerlegen (§ 139 Abs. 4 FGO). Nach dem Grundgedanken des Kostenrechts setzt die Erstattungsfähigkeit der Kosten ein Obsiegen der Beigeladenen voraus. Im Streitfall ist jedoch nicht erkennbar, dass sich die steuerliche Rechtsposition der Beigeladenen aufgrund der Entscheidung des erkennenden Senats verbessert hätte.
bundesfinanzhof
bfh_073-15
21. Oktober 2015
Aufwendungen eines Arbeitnehmers für die Feier des Geburtstags und der Bestellung zum Steuerberater 21. Oktober 2015 - Nummer 073/15 - Urteil vom 08.07.2015 VI R 46/14 Der VI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit Urteil vom 8. Juli 2015 entschieden, dass Aufwendungen eines Arbeitnehmers für eine Feier aus beruflichem und privatem Anlass hinsichtlich der Gäste aus dem beruflichen Umfeld als Werbungskosten abziehbar sein können.Der Kläger wurde im Februar des Streitjahres zum Steuerberater bestellt. Im April desselben Jahres war sein 30. Geburtstag. Zur Feier beider Ereignisse lud er Kollegen, Verwandte und Bekannte in die Stadthalle seines Wohnorts ein. Er teilte die für Hallenmiete und Bewirtung entstandenen Aufwendungen nach Köpfen auf und begehrte den Abzug als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, soweit sie auf die dem beruflichen Bereich zugeordneten Gäste entfielen.Der BFH entschied, dass der als Werbungskosten abziehbare Betrag im Falle einer Feier aus beruflichem und privatem Anlass anhand der Herkunft der Gäste aus dem beruflichen oder privaten Umfeld des Steuerpflichtigen abgegrenzt werden kann, wenn die Einladung der Gäste aus dem beruflichen Umfeld (nahezu) ausschließlich beruflich veranlasst ist. Hiervon kann insbesondere dann auszugehen sein, wenn nicht nur ausgesuchte Gäste aus dem beruflichen Umfeld eingeladen werden, sondern die Einladungen nach abstrakten berufsbezogenen Kriterien (z.B. alle Auszubildenden, alle Zugehörigen einer bestimmten Abteilung) ausgesprochen werden. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: VI R 46/14
1. Aufwendungen eines Arbeitnehmers für eine Feier aus beruflichem und privatem Anlass können teilweise als Werbungskosten abziehbar sein.2. Der als Werbungskosten abziehbare Betrag der Aufwendungen kann anhand der Herkunft der Gäste aus dem beruflichen/privaten Umfeld des Steuerpflichtigen abgegrenzt werden, wenn die Einladung der Gäste aus dem beruflichen Umfeld (nahezu) ausschließlich beruflich veranlasst ist. Hiervon kann insbesondere dann auszugehen sein, wenn nicht nur ausgesuchte Gäste aus dem beruflichen Umfeld eingeladen werden, sondern die Einladungen nach abstrakten berufsbezogenen Kriterien (z.B. alle Auszubildenden, alle Zugehörigen einer bestimmten Abteilung) ausgesprochen werden. Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 19. März 2014  1 K 3541/12 aufgehoben.Die Sache wird an das Finanzgericht Baden Württemberg zurückverwiesen.Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen. Tatbestand I. Streitig ist, ob die Aufwendungen für eine Feier anlässlich eines runden Geburtstages und der Bestellung zum Steuerberater als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit abziehbar sind.Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte im Streitjahr 2009 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus seiner Tätigkeit für die X in Y. Im Streitjahr war er in Z wohnhaft. Am ... 2009 wurde er zum Steuerberater bestellt. Am ... 2009 war sein XX. Geburtstag. Er lud für den ... 2009 Kollegen, Verwandte und Bekannte zu einer Feier in die ZZ ein. In der Einladungskarte sprach er eine Einladung zur Feier seiner bestandenen Steuerberaterprüfung und zu seinem XX. Geburtstag aus. In der Benutzungserlaubnis der Stadt Z wurde die Veranstaltung als Geburtstagsfeier und der Kläger als Veranstalter bezeichnet. Die Feier begann um 18:30 Uhr. Sie wurde von einem 21-köpfigen Posaunenchor umrahmt. Die Menükarte war mit "XX & StB" überschrieben. Von den 99 erschienenen Gästen waren 46 Arbeitskollegen und 32 Verwandte und Bekannte.In seiner Einkommensteuererklärung 2009 vom 13. August 2010 machte der Kläger die Aufwendungen für die Feier zunächst nicht geltend. Die Einkommensteuer wurde erklärungsgemäß festgesetzt. Mit dem Einspruch begehrte der Kläger nunmehr den teilweisen Abzug der Aufwendungen für die Feier als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Die Gesamtaufwendungen von 3.413,69 € (für Hallenmiete und Bewirtung) teilte er dabei unter Hinweis auf den Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. September 2009 GrS 1/06 (BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672) und das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 6. Juli 2010 (BStBl I 2010, 614) nach Köpfen auf, wobei er 46 Personen (Geschäftsleitung und Berufskollegen) dem beruflichen Bereich und 53 Personen (private Gäste einschließlich Posaunenchor) dem privaten Bereich zuordnete. Hieraus ergab sich ein Betrag in Höhe von 1.586,34 € (3.413,69 € x 46,47 %), den der Kläger als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend machte. Während des Einspruchsverfahrens wurde der Einkommensteuerbescheid aus hier nicht streitigen Gründen geändert. Mit Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2012 wies der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) den Einspruch als unbegründet zurück.Die hiergegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 370 veröffentlichten Gründen ab.Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.Der Kläger beantragt,das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 19. März 2014  1 K 3541/12 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2009 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2012 dahingehend zu ändern, dass für den beruflich veranlassten Anteil der Feier Werbungskosten in Höhe von 1.586,34 € anerkannt werden.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen. Gründe II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Feststellungen des FG tragen nicht dessen Würdigung, die Aufwendungen für die Feier in der ZZ seien insgesamt privat veranlasst.1. Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG--). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegen Werbungskosten vor, wenn zwischen den Aufwendungen und den steuerpflichtigen Einnahmen ein Veranlassungszusammenhang besteht. Davon ist auszugehen, wenn die Aufwendungen mit der Einkünfteerzielung objektiv zusammenhängen und ihr subjektiv zu dienen bestimmt sind, d.h. wenn sie in wirtschaftlichem Zusammenhang mit den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit stehen. Maßgeblich dafür, ob ein solcher Zusammenhang besteht, ist zum einen die --wertende-- Beurteilung des die betreffenden Aufwendungen "auslösenden Moments", zum anderen dessen Zuweisung zur einkommensteuerrechtlich relevanten Erwerbssphäre. Dabei bilden die Gründe, die den Steuerpflichtigen zu den Aufwendungen bewogen haben, das auslösende Moment.Ergibt die Prüfung, dass die Aufwendungen nicht oder in nur unbedeutendem Maße auf privaten, der Lebensführung des Steuerpflichtigen zuzurechnenden Umständen beruhen, so sind sie grundsätzlich als Werbungskosten abzuziehen. Beruhen die Aufwendungen hingegen nicht oder in nur unbedeutendem Maße auf beruflichen Umständen, so sind sie nicht abziehbar (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672). Ist der erwerbsbezogene Anteil nicht von untergeordneter Bedeutung, kann eine Aufteilung und ein Abzug des beruflich veranlassten Teils der Kosten in Betracht kommen, sofern der den Beruf fördernde Teil der Aufwendungen sich nach objektiven Maßstäben zutreffend und in leicht nachprüfbarer Weise abgrenzen lässt (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672; Senatsbeschluss vom 24. September 2013 VI R 35/11, BFH/NV 2014, 500).2. Nach diesen Grundsätzen ist auch zu klären, ob und in welchem Umfang die von einem Arbeitnehmer für die Durchführung einer Veranstaltung oder Feier getragenen Kosten als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Abzug gebracht werden können.a) Für die danach erforderliche Beurteilung, ob die Aufwendungen beruflich oder privat veranlasst sind, ist nach der Rechtsprechung des Senats in erster Linie auf den Anlass der Feier abzustellen. Indes ist der Anlass einer Feier nur ein erhebliches Indiz, nicht aber das allein entscheidende Kriterium für die Beurteilung der beruflichen oder privaten Veranlassung der Bewirtungsaufwendungen. Trotz eines herausgehobenen persönlichen Ereignisses kann sich aus den übrigen Umständen des Einzelfalls ergeben, dass die Aufwendungen für die Feier beruflich veranlasst sind. Umgekehrt begründet ein Ereignis in der beruflichen Sphäre allein nicht die Annahme, die Aufwendungen für eine Feier seien (nahezu) ausschließlich beruflich veranlasst. Denn auch diese Ereignisse werden häufig im Rahmen eines privaten Festes unter Einschluss befreundeter Arbeitskollegen begangen. Ob die Aufwendungen Werbungskosten sind, ist daher anhand weiterer Kriterien zu beurteilen. So ist von Bedeutung, wer als Gastgeber auftritt, wer die Gästeliste bestimmt, ob es sich bei den Gästen um Kollegen, Geschäftsfreunde oder Mitarbeiter (des Steuerpflichtigen oder des Arbeitgebers), um Angehörige des öffentlichen Lebens, der Presse, um Verbandsvertreter oder um private Bekannte oder Angehörige des Steuerpflichtigen handelt. Zu berücksichtigen ist außerdem, an welchem Ort die Veranstaltung stattfindet, ob sich die finanziellen Aufwendungen im Rahmen vergleichbarer betrieblicher Veranstaltungen bewegen und ob das Fest den Charakter einer privaten Feier aufweist oder ob das nicht der Fall ist (Senatsurteile vom 11. Januar 2007 VI R 52/03, BFHE 216, 320, BStBl II 2007, 317; vom 1. Februar 2007 VI R 25/03, BFHE 216, 522, BStBl II 2007, 459; vom 10. Juli 2008 VI R 26/07, BFH/NV 2008, 1831; Senatsbeschluss in BFH/NV 2014, 500).Da Personen, die zusammen arbeiten, häufig auch private Kontakte untereinander pflegen, kann für die Zuordnung der Aufwendungen zum beruflichen oder privaten Bereich ferner bedeutsam sein, ob nur ausgesuchte Arbeitskollegen eingeladen werden oder ob die Einladung nach allgemeinen Kriterien ausgesprochen wird. Werden Arbeitskollegen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten betrieblichen Einheit (z.B. alle Arbeitnehmer einer Abteilung) oder nach ihrer Funktion, die sie innerhalb des Betriebes ausüben (z.B. alle Außendienstmitarbeiter oder Auszubildenden), eingeladen, legt dies den Schluss nahe, dass die Aufwendungen für diese Gäste (nahezu) ausschließlich beruflich veranlasst sind, und zwar auch dann, wenn der Steuerpflichtige zu einzelnen dieser nach abstrakten berufsbezogenen Gründen eingeladenen Kollegen freundschaftlichen Kontakt pflegen sollte. Werden demgegenüber nur einzelne Arbeitskollegen eingeladen, kann dies auf eine nicht nur unerhebliche private Mitveranlassung der Aufwendungen für diese Gäste schließen lassen und ein Abzug deshalb ausscheiden.b) Sind Aufwendungen für eine Feier gemischt veranlasst, weil daran sowohl Gäste aus dem privaten als auch dem beruflichen Umfeld teilgenommen haben, sind die Gesamtkosten anteilig nach Gästen aufzuteilen (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672). Die auf den einzelnen Gast entfallenden Kosten sind aber bei einer Feier wie unter den im Streitfall gegebenen Umständen mangels eines objektiven Aufteilungsmaßstabs entweder zur Gänze der beruflichen oder aber der privaten Sphäre zuzurechnen (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 227, 1, BStBl II 2010, 672, Rz 125).c) Dabei obliegt die Beurteilung, ob Aufwendungen beruflich oder privat veranlasst sind, in erster Linie der tatrichterlichen Würdigung des FG. Das FG hat anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen, wo die Grenze zwischen betrieblichem und privatem Bereich verläuft und welche Indizien für sich allein ausreichend sind, um eine betriebliche Veranlassung zu bejahen (Senatsentscheidungen vom 26. Januar 2010 VI B 95/09, BFH/NV 2010, 875; vom 19. Juni 2008 VI R 33/07, BFHE 222, 359, BStBl II 2009, 11; in BFH/NV 2014, 500).3. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sein Urteil kann deshalb keinen Bestand haben. Zum einen hat es seiner Würdigung die unzutreffende Prämisse zugrunde gelegt, dass die Bestellung zum Steuerberater eher ein privates als ein berufliches Ereignis sei. Zum anderen hat es bei seiner Würdigung nicht geprüft, ob die eingeladenen Kollegen nach abstrakten berufsbezogenen Kriterien eingeladen wurden.Die Bestellung zum Steuerberater ist Voraussetzung für die Tätigkeit des Klägers als Steuerberater und stellt gleichsam den ersten Akt im Rahmen dieser Tätigkeit dar. Diesem Ereignis kann ungeachtet der Tatsache, dass es auch ein persönliches Ereignis im Leben des Klägers darstellt, der überwiegend berufsbezogene Charakter nicht abgesprochen werden (vgl. Senatsurteil in BFHE 216, 320, BStBl II 2007, 317, zur Zurruhesetzung).Das FG wird im zweiten Rechtsgang erneut prüfen, ob die allein streitigen Aufwendungen für die Gäste aus dem beruflichen Umfeld (nahezu) ausschließlich beruflich veranlasst sind. Diese Annahme wird auch unter Berücksichtigung der Gestaltung der Feier im Streitfall insbesondere dann naheliegen, wenn die Einladung der Kollegen primär in der bestandenen Steuerberaterprüfung gründete und nicht von privaten Neigungen bestimmt war. Der Schluss auf rein berufliche Erwägungen für die Einladung einzelner oder aller Arbeitskollegen wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn und soweit diese nach abstrakten berufsbezogenen Kriterien eingeladen wurden, z.B. wenn der Kläger sämtliche Steuerberater des Unternehmens oder der Niederlassung, bei der er tätig ist, eingeladen haben sollte.4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_017-18
21. März 2018
Umsatzsteuerrechtliche Gleichbehandlung von Pharmarabatten 21. März 2018 - Nummer 017/18 - Urteil vom 08.02.2018 V R 42/15 Rabatte, die Pharmaunternehmen für die Lieferung von Arzneimitteln zu gewähren haben, mindern umsatzsteuerrechtlich die Steuerschuld der Pharmaunternehmen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob es sich um eine Lieferung für gesetzlich oder privat krankenversicherte Personen handelt, wie der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 8. Februar 2018 V R 42/15 entschieden hat.Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das Arzneimittel herstellt und sie steuerpflichtig über Großhändler an Apotheken liefert. Diese geben die Arzneimittel an gesetzlich Krankenversicherte ab. Die Arzneimittel werden an die Krankenkassen geliefert und von diesen ihren Versicherten zur Verfügung gestellt. Die Apotheken gewähren den Krankenkassen einen Abschlag auf den Arzneimittelpreis. Die Klägerin muss den Apotheken diesen Abschlag nach sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften erstatten. Die Finanzverwaltung behandelt den Abschlag umsatzsteuerrechtlich als Entgeltminderung. Dies führt zu einer Minderung der von der Klägerin geschuldeten Umsatzsteuer.Arzneimittel für privat Krankenversicherte geben die Apotheken aufgrund von Einzelverträgen mit diesen Personen ab. Das Unternehmen der privaten Krankenversicherung ist dabei nicht selbst Abnehmer der Arzneimittel, sondern erstattet die ihren Versicherten entstandenen Kosten. Auch in diesem Fall muss die Klägerin dem Unternehmen der privaten Krankenversicherung einen Abschlag auf den Arzneimittelpreis gewähren. Dies beruht auf § 1 des Gesetzes über Rabatte für Arzneimittel vom 22. Dezember 2010 (AMRabG). Danach haben die pharmazeutischen Unternehmer den Unternehmen der privaten Krankenversicherung und den Trägern der Kosten in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen nach beamtenrechtlichen Vorschriften (Beihilfeträgern) für verschreibungspflichtige Arzneimittel, deren Kosten diese ganz oder teilweise erstattet haben, nach dem Anteil der Kostentragung Abschläge entsprechend den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften zu gewähren.Die Klägerin macht auch für die nach § 1 AMRabG gewährten Rabatte eine Entgeltminderung und damit eine Minderung ihrer Steuerschuld geltend. Das Finanzamt verweigerte sich dem entsprechend einem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 14. November 2012 (BStBl I 2012, 1170, unter I.2.). Die Entgeltminderung aufgrund eines Rabatts setze eine Lieferkette voraus, die zwischen dem Rabattgewährenden und dem Rabattempfänger bestehen müsse. Diese liege nur im Fall der Rabattgewährung an die gesetzlichen Krankenkassen vor, nicht aber auch bei der Rabattgewährung an die Unternehmen der privaten Krankenversicherung und an Beihilfeträger, da die Lieferkette hier bei der privat krankenversicherten Person ende.Im Revisionsverfahren richtete der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, das der EuGH durch das Urteil Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG vom 20. Dezember 2017 C-462/16 (EU:C:2017:1006) beantwortete.Auf der Grundlage dieses EuGH-Urteils hat jetzt der BFH entschieden, dass auch die Abschläge pharmazeutischer Unternehmer nach § 1 AMRabG die Bemessungsgrundlage für die gelieferten Arzneimittel mindern. Damit kommt es zu einer Gleichbehandlung bei der Rabattgewährung an gesetzliche Krankenkassen einerseits und an Unternehmen der privaten Krankenversicherung sowie den diesen gleichgestellten Beihilfeträgern andererseits. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: V R 42/15
Abschläge pharmazeutischer Unternehmer nach § 1 AMRabG mindern die Bemessungsgrundlage für die gelieferten Arzneimittel (Folgeentscheidung zum EuGH-Urteil Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG vom 20. Dezember 2017 C-462/16, EU:C:2017:1006). Tenor Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. September 2015  6 K 1251/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen. Tatbestand I.Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das im Streitjahr 2011 Arzneimittel herstellte und sie steuerpflichtig über Großhändler an Apotheken lieferte.Diese gaben die Arzneimittel an gesetzlich Krankenversicherte aufgrund eines Rahmenvertrages mit dem Spitzenverband der Krankenkassen ab. Die Arzneimittel wurden an die Krankenkassen geliefert und von diesen ihren Versicherten zur Verfügung gestellt. Die Apotheken gewährten den Krankenkassen einen Abschlag auf den Arzneimittelpreis. Die Klägerin als pharmazeutisches Unternehmen musste den Apotheken oder --bei Einschaltung von Großhändlern-- den Großhändlern diesen Abschlag erstatten. Die Finanzverwaltung behandelte den Abschlag umsatzsteuerrechtlich als Entgeltminderung (vgl. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 14. November 2012, BStBl I 2012, 1170, unter I.1.).Arzneimittel für privat Krankenversicherte gaben die Apotheken aufgrund von Einzelverträgen mit diesen Personen ab. Das Unternehmen der privaten Krankenversicherung war dabei nicht selbst Abnehmer der Arzneimittel, sondern erstattete lediglich die ihren Versicherten entstandenen Kosten. In diesem Fall musste die Klägerin dem Unternehmen der privaten Krankenversicherung einen Abschlag auf den Arzneimittelpreis gewähren. Dies beruhte auf § 1 des Gesetzes über Rabatte für Arzneimittel vom 22. Dezember 2010 (AMRabG). Danach hatten die pharmazeutischen Unternehmer den Unternehmen der privaten Krankenversicherung und den Trägern der Kosten in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen nach beamtenrechtlichen Vorschriften für verschreibungspflichtige Arzneimittel, deren Kosten diese ganz oder teilweise erstattet haben, nach dem Anteil der Kostentragung Abschläge entsprechend § 130a Abs. 1, 1a, 2, 3, 3a und 3b des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) zu gewähren. Dies galt auch für sonstige Träger von Kosten in Krankheitsfällen, die diese im Rahmen einer Absicherung im Krankheitsfall tragen, durch die eine Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 Satz 1 des Versicherungsvertragsgesetzes und nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ausgeschlossen wurde.Die Klägerin machte für diese Abschläge in ihrer Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr eine Minderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) bei den von ihr an Arzneimittelhändler ausgeführten Arzneimittellieferungen geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) erließ aufgrund einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung und in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung (vgl. BMF-Schreiben in BStBl I 2012, 1170, unter I.2.) einen geänderten Umsatzsteuerbescheid, in dem die Abschläge nicht mehr entgeltmindernd berücksichtigt wurden. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos.Die daraufhin erhobene Klage hatte vor dem Finanzgericht (FG) Erfolg. Das FG änderte mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 2243 abgedruckten Urteil den Umsatzsteuerbescheid dahingehend, dass die Umsätze gemäß der Umsatzsteuer-Jahreserklärung angesetzt wurden. Gegen dieses Urteil wendet sich das FA mit der Revision, mit der es die Verletzung materiellen Rechts rügt.Das FA beantragt,das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.Im Revisionsverfahren hat der erkennende Senat das Verfahren mit Beschluss vom 22. Juni 2016 ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) gerichtet.Dieser hat hierauf mit Urteil Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG vom 20. Dezember 2017 C-462/16 (EU:C:2017:1006) wie folgt geantwortet:"Im Licht der vom Gerichtshof der Europäischen Union im Urteil vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 28 und 31), aufgestellten Grundsätze zur Bestimmung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage und unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ist Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem dahin auszulegen, dass der Abschlag, den ein pharmazeutisches Unternehmen aufgrund einer nationalen Gesetzesregelung einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung gewährt, im Sinne dieses Artikels zu einer Minderung der Steuerbemessungsgrundlage für dieses pharmazeutische Unternehmen führt, wenn es Arzneimittel über Großhändler an Apotheken liefert, die die Arzneimittel an privat Krankenversicherte liefern, denen von der privaten Krankenversicherung die Kosten für den Bezug der Arzneimittel erstattet werden."Die Beteiligten hatten im Nachgang zu diesem Urteil Gelegenheit zur Stellungnahme und haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Gründe II.Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin zu einer Minderung nach § 17 Abs. 1 UStG berechtigt ist.1. Ändert sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz, hat der Unternehmer, der den Umsatz ausgeführt hat, gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL. Danach wird im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes die Besteuerungsgrundlage (Steuerbemessungsgrundlage) unter von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.Der EuGH hatte hierzu bereits entschieden, dass, wenn ein Hersteller eines Erzeugnisses, der zwar nicht vertraglich mit dem Endverbraucher verbunden ist, aber das erste Glied einer zu diesem führenden Kette von Umsätzen bildet, dem Endverbraucher einen Preisnachlass gewährt, die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer um diesen Nachlass vermindert werden muss (EuGH-Urteile Elida Gibbs vom 24. Oktober 1996 C-317/94, EU:C:1996:400, Rz 28, 31; Ibero Tours vom 16. Januar 2014 C-300/12, EU:C:2014:8, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2014, 274, Rz 29). Der EuGH hat aber eine Minderung abgelehnt, wenn ein Reisebüro als Vermittler dem Endverbraucher aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten einen Nachlass auf den Preis der vermittelten Leistung gewährt, die von dem Reiseveranstalter erbracht wird (EuGH-Urteil Ibero Tours, EU:C:2014:8, HFR 2014, 274, Rz 33). Dies beruht darauf, dass das Reisebüro außerhalb einer Leistungskette vom Reiseveranstalter zum Endverbraucher steht.2. Mit dem nunmehr vorliegenden Urteil Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG (EU:C:2017:1006) hat der EuGH klargestellt, dass der Abschlag, den ein pharmazeutisches Unternehmen aufgrund einer nationalen Gesetzesregelung einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung gewährt, zu einer Minderung der Steuerbemessungsgrundlage für dieses pharmazeutische Unternehmen führt, wenn es Arzneimittel über Großhändler an Apotheken liefert, die die Arzneimittel an privat Krankenversicherte liefern, denen von der privaten Krankenversicherung die Kosten für den Bezug der Arzneimittel erstattet werden. Dem schließt sich der erkennende Senat an.3. Danach hat das FG zu Recht entschieden, dass die Klägerin für die Abschläge, die sie nach § 1 AMRabG gezahlt hat, in unionsrechtskonformer Auslegung des § 17 Abs. 1 UStG zur Minderung berechtigt ist.4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_063-15
17. September 2015
Gewinne aus der Teilnahme an Pokerturnieren können der Einkommensteuer unterliegen 17. September 2015 - Nummer 063/15 - Urteil vom 16.09.2015 X R 43/12 Der X. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat mit einem am 16. September 2015 verkündeten Urteil im Verfahren X R 43/12 entschieden, dass Gewinne aus der Teilnahme an Pokerturnieren als Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Einkommensteuer unterliegen können.Der Kläger des zugrundeliegenden Verfahrens hatte nach den Feststellungen der Vorinstanz über Jahre hinweg hohe Preisgelder aus der Teilnahme an Pokerturnieren (u.a. in den Varianten „Texas Hold´em“ und „Omaha Limit“) erzielt. Das Finanzamt hat diese der Einkommensteuer unterworfen. Das Finanzgericht Köln als Vorinstanz hat durch Zwischenurteil entschieden, dass die Einkünfte des Klägers aus Turnierpokerspielen einkommensteuerbar sind. Über die Höhe des vom Kläger erzielten Gewinns ist noch nicht entschieden.Dieses Zwischenurteil hat der X. Senat des BFH nunmehr bestätigt. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen zwar noch nicht vor. In der mündlichen Urteilsbegründung hat die Vorsitzende des X. Senats aber erläutert, dass das Einkommensteuergesetz (EStG) die Besteuerung weder in positiver noch in negativer Hinsicht an den Tatbestand des „Glücksspiels“ knüpft. Soweit dieser Begriff in Vorschriften des Straf- oder Verwaltungsrechts ausdrücklich genannt ist, ist dies für die Beurteilung der Frage, ob in steuerlicher Hinsicht Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt werden, nicht maßgeblich.Zwar hat die ältere finanzgerichtliche Rechtsprechung eine „Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr“ --eines der Merkmale des in § 15 Abs. 2 EStG definierten einkommensteuerlichen Begriffs des Gewerbebetriebs-- verneint, wenn eine Tätigkeit sich als „reines Glücksspiel“ darstellte (z.B. Lottospiel). Im vorliegenden Verfahren hat die Vorinstanz aber durch Auswertung zahlreicher Quellen festgestellt, dass die vom Kläger gespielten Pokervarianten nicht als reines Glücksspiel anzusehen seien, sondern schon bei einem durchschnittlichen Spieler das Geschicklichkeitselement nur wenig hinter dem Zufallselement zurücktrete. Diese Würdigung bindet den BFH als Revisionsgericht.Dies bedeutet nicht, dass jeder Turnierpokerspieler mit dieser Tätigkeit einkommensteuerlich zum Gewerbetreibenden wird. Vielmehr ist –-wie bei jedem anderen Streitfall auch-– stets zwischen einem „am Markt orientierten“ einkommensteuerbaren Verhalten und einer nicht steuerbaren Betätigung abzugrenzen. Diese Abgrenzung findet aber vorrangig nicht bei einem --im EStG ohnehin nicht erwähnten-- Merkmal des „Glücksspiels“ statt, sondern bei den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen der Nachhaltigkeit und der Gewinnerzielungsabsicht, ggf. auch bei der erforderlichen Abgrenzung zu einer privaten Vermögensverwaltung. Diese weiteren Merkmale des einkommensteuerlichen Gewerbebegriffs waren im Fall des Klägers nach den Feststellungen der Vorinstanz aber ebenfalls erfüllt.Nicht zu entscheiden war in diesem Verfahren, ob auch Gewinne aus dem Pokerspiel in Spielcasinos (sog. Cash-Games) oder aus Pokerspielen im Internet (Online-Poker) einkommensteuerpflichtig sein können. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: X R 43/12
1. Die Teilnahme an Turnierpokerspielen kann als Gewerbebetrieb i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG zu qualifizieren sein.2. Das Turnierpokerspiel (hier: in den Varianten "Texas Hold'em" und "Omaha") ist nach einkommensteuerrechtlichen Maßstäben im Allgemeinen nicht als reines --und damit per se nicht steuerbares-- Glücksspiel, sondern als Mischung aus Glücks- und Geschicklichkeitsspiel einzustufen.3. Die für die Bejahung eines Gewerbebetriebs erforderliche Abgrenzung zwischen einem "am Markt orientierten", einkommensteuerbaren Verhalten und einer nicht steuerbaren Tätigkeit muss stets anhand des konkret zu beurteilenden Einzelfalls vorgenommen werden. Sie wird sich praktisch in erster Linie nach den Tatbestandsmerkmalen der Nachhaltigkeit und der Gewinnerzielungsabsicht, ggf. auch nach dem ungeschriebenen negativen Tatbestandsmerkmal der Nichterfüllung der Voraussetzungen einer privaten Vermögensverwaltung, richten. Tenor Die Revision der Kläger gegen das Zwischenurteil des Finanzgerichts Köln vom 31. Oktober 2012  12 K 1136/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen. Tatbestand I. 1. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Kläger erzielte im Streitjahr 2008 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als Flugkapitän. Gegen Ende des Jahres 2009 teilte die Steuerfahndung dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) mit, dass der Kläger nach einer dort eingegangenen Anzeige "seit Jahren an Pokerturnieren teilgenommen und eine Gewinnsumme von ca. $ 1.000.000 (...) erhalten" habe. Die Steuerfahndung vertrat insoweit unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11. November 1993 XI R 48/91 (BFH/NV 1994, 622, zum Berufskartenspieler) die Auffassung, der Kläger habe damit Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt. Die Höhe der Einnahmen schätzte sie anhand einer im Internet zugänglichen Datenbank (The Hendon Mob Poker Database). Von diesen Beträgen (umgerechnet 105.012 €) nahm sie einen pauschalen Betriebsausgabenabzug in Höhe von 30 % der Einnahmen vor. Danach ergab sich für das Streitjahr aus Turnierteilnahmen ein Gewinn von 73.508 €. Etwaige weitere Gewinne aus dem Pokerspiel in Spielcasinos (sog. Cash-Games) und im Internet (Online-Poker) ließ die Steuerfahndung ausdrücklich außer Ansatz.Am 10. September 2010 erließ das FA --mangels Abgabe einer Steuererklärung im Wege der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen-- einen Einkommensteuerbescheid für 2008, in dem es aus Turnierpokerspielen einen Gewinn von 59.000 € ansetzte. Während des anschließenden Einspruchsverfahrens reichten die Kläger ihre Einkommensteuererklärung nach, in der sie für den Kläger einen Gewinn aus "Autorentätigkeit" (Beiträge für einen Poker-Internetblog, Provisionserlöse aus dem Verkauf einer DVD "Pokerschule") von 13.590 € erklärten. Für Auftritte als Kommentator von Pokerspielen für einen Fernsehsender habe der Kläger mangels Nebentätigkeitsgenehmigung seines Arbeitgebers kein Entgelt erhalten. Die vom FA angesetzten Einnahmen seien Gewinne aus Glücksspielen und daher nicht steuerbar. Die Internet-Datenbank sei keine belastbare Schätzungsgrundlage.In der Einspruchsentscheidung setzte das FA die Einkünfte des Klägers aus der Teilnahme an Pokerturnieren --nach entsprechendem Verböserungshinweis-- mit dem von der Steuerfahndung geschätzten Betrag von 73.508 € an.Während des Klageverfahrens reichte der Kläger eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nach, in der er Erlöse von 121.686,59 € erklärte. Nach diversen Abzugspositionen (Erlösschmälerungen, Reisekosten, "Buy-Ins") in Höhe von insgesamt 139.186,20 € ermittelte er einen Verlust von 17.499,61 €.Das Finanzgericht (FG) entschied durch Zwischenurteil, die Einkünfte des Klägers aus Pokerturnieren seien als gewerbliche Einkünfte steuerbar (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2013, 612). Es stellte fest, der Kläger habe bereits in den Vorjahren 2003 bis 2007 an 19 Turnieren teilgenommen und dabei Preisgelder von 596.197 € bei Antrittsgeldern von 43.867 € vereinnahmt. Im Streitjahr habe er wiederum an zahlreichen Turnieren teilgenommen und dabei erhebliche Einnahmen erzielt.Des Weiteren kam das FG zu der Überzeugung, dass die Vereinnahmung der streitgegenständlichen Preisgelder wesentlich und überwiegend von den Fähigkeiten des Klägers abhängig sei. Dem legte es --als Ausgangspunkt seiner Beweiswürdigung-- eine Auswertung von Rechtsprechung und Literatur zur Ausgestaltung des Pokerspiels als Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel zugrunde. Insofern gelangte es zu dem Ergebnis, dass das Turnierpokerspiel in den vom Kläger praktizierten Varianten "Texas Hold'em" und "Omaha" immer auch Geschicklichkeitselemente enthalte, die sich aufgrund der individuellen, auch durch seine berufliche Ausbildung bzw. Tätigkeit begünstigten spielerischen Fähigkeiten des Klägers in seiner Person derart verdichteten, dass es ihm --im Gegensatz zum Durchschnittsspieler-- in besonderem Maße möglich gewesen sei, Einfluss auf den Ausgang von Pokerturnieren zu nehmen, so dass der Erfolg beim Turnierpokerspiel überwiegend von seinem Geschick abhängig gewesen sei.2. Mit ihrer Revision wenden sich die Kläger, wie bereits im Vor- und Klageverfahren, gegen die Einstufung der streitgegenständlichen Preisgelder als gewerbliche Einkünfte. Das Zwischenurteil sei nicht nur sachlich-rechtlich unzutreffend, sondern auch verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.Auf Basis der --ihrer Auffassung nach unvollständigen bzw. rechtsfehlerhaften-- Feststellungen des FG sei weder das Erfordernis der Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr verwirklicht noch könne eine Gewinnerzielungsabsicht des Klägers unterstellt werden. Zudem sei das Gericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger mit seiner Tätigkeit als Turnierpokerspieler den Bereich privater Vermögensverwaltung verlassen habe. Da das Zwischenurteil rückwirkend von der bisherigen Verwaltungspraxis abweiche, wonach Pokergewinne als Glücksspielgewinne nicht steuerbar seien, liege ein Verstoß gegen die Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vor, wodurch das Rechtsstaatsprinzip verletzt sei. Entsprechendes gelte in Bezug auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, da das Urteil von dem in anderen Rechtsgebieten geprägten Glücksspielbegriff abweiche.In verfahrensrechtlicher Hinsicht rügen die Kläger, das FG habe den Sachverhalt mit Blick auf die "erfolgreiche" Teilnahme des Klägers an Pokerturnieren nur unzureichend aufgeklärt. Außerdem beanstanden sie eine Verletzung der richterlichen Hinweispflicht. Das Gericht habe es pflichtwidrig unterlassen, die Kläger vor der Urteilsfindung darauf hinzuweisen, dass es seine Entscheidung auf den Vortrag des Beklagten bzw. die Inhalte der Internetdatenbank zu stützen gedenke bzw. den gegenläufigen Vortrag der Kläger für unsubstantiiert halte. Auch seien die Kläger entgegen § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht dazu aufgefordert worden, Beweismittel zu benennen und zu Tatsachen oder Beweismitteln Stellung zu nehmen. Ferner liege ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten vor, weil das FG hinsichtlich des Umfangs der Turnierteilnahmen unberücksichtigt gelassen habe, dass der Kläger mit Schriftsatz vom 26. August 2011 eine diese Angaben beinhaltende Aufstellung ("Excel-Tabelle") vorgelegt habe. Überdies habe das Gericht keine weitergehenden Ermittlungen zu den Spielerfähigkeiten des Klägers vorgenommen; insbesondere hätte dessen "CRF-Wert" (sog. kritische Wiederholungshäufigkeit) festgestellt werden müssen. Das FG habe nicht über den zur Einstufung des Pokerspiels erforderlichen Sachverstand verfügt. Entsprechendes gelte für die Autoren in der von ihm zitierten juristischen Fachliteratur. Schließlich sei die Heranziehung einer im FG-Urteil genannten Studie von Peren und Clement überraschend erfolgt. Es habe im Vorfeld der Entscheidungsfindung keine Gelegenheit bestanden, hierzu Stellung zu nehmen.Die Kläger beantragen,das angefochtene Zwischenurteil aufzuheben.Das FA beantragt,die Revision der Kläger zurückzuweisen.Anders als das FG betrachtet es indes nicht den Turnierveranstalter, sondern die Mitspieler als Leistungsempfänger. Gründe II. Die Revision der Kläger ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht erkannt, dass die vom Kläger im Streitjahr vereinnahmten Preisgelder aus Pokerturnieren als gewerbliche Einkünfte i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG steuerbar sind.1. Das Zwischenurteil geht bei der Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 EStG von zutreffenden materiell-rechtlichen Maßstäben aus.Gewerbebetrieb ist nach der grundlegenden Definition in § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG eine selbständige und nachhaltige Betätigung, die mit Gewinnerzielungsabsicht unternommen wird, sich als Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt und nicht als Ausübung von Land- oder Forstwirtschaft oder selbständiger Arbeit anzusehen ist; darüber hinaus darf es sich bei der Tätigkeit nach der Rechtsprechung nicht um private Vermögensverwaltung handeln (vgl. z.B. Senatsurteil vom 19. Oktober 2010 X R 41/08, BFH/NV 2011, 245, unter II.1.).a) Nach den vom FG getroffenen Feststellungen stehen die Selbständigkeit und Nachhaltigkeit der Betätigung des Klägers als Turnierpokerspieler außer Frage.b) Entgegen der Auffassung der Revision nahm der Kläger auch am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teil.aa) Dieses Merkmal dient dazu, aus dem Gewerbebetrieb solche Tätigkeiten auszuklammern, die zwar in Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt werden, aber nicht auf Leistungs- oder Güteraustausch gerichtet sind, wobei neben Sach- und Dienstleistungen auch geistige und andere immaterielle Leistungen Gegenstand gewerblicher Tätigkeit sein können. Die Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr setzt keinen Güteraustausch gegen festes Entgelt voraus. Vielmehr kann das Entgelt auch erfolgsabhängig bestimmt werden.In Bezug auf die steuerrechtliche Beurteilung von Spielgewinnen bzw. Preisgeldern ist in der noch vom Reichsfinanzhof (RFH) begründeten höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung anerkannt, dass bei einem reinen Glücksspiel (z.B. Lotterie) keine Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr vorliegt, weil es an der Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung fehlt. Denn dort stellen weder die Spieltätigkeit noch der Spieleinsatz Leistungen dar, die durch den Spielgewinn vergütet werden (s. dazu z.B. BFH-Urteile in BFH/NV 1994, 622, unter II.1., m.w.N. zur Rechtsprechung des RFH; vom 19. Juli 1990 IV R 82/89, BFHE 161, 144, BStBl II 1991, 333, unter 2., zu Einkünften aus dem Betrieb eines Trabrennstalls, und vom 28. November 2007 IX R 39/06, BFHE 220, 67, BStBl II 2008, 469, unter II.2.a, zu Preisgeldern für die Teilnahme als Kandidat an einer Fernsehshow; in allen drei Fällen wurde das Vorliegen eines Gewerbebetriebs i.S. des § 15 Abs. 2 EStG bzw. einer Leistungsbeziehung i.S. des § 22 Nr. 3 EStG allerdings bejaht).Wie der BFH in dem genannten, der Sache nach ähnlich gelagerten Fall eines "berufsmäßigen" Skat-, Rommé- und Backgammonspielers in BFH/NV 1994, 622 bereits entschieden hat, erfordert dieses Merkmal, dass der Steuerpflichtige eine Tätigkeit am Markt gegen Entgelt für Dritte äußerlich erkennbar anbietet. Seine Tätigkeit muss nach außen hin in Erscheinung treten und sich an eine --wenn auch nur begrenzte-- Allgemeinheit (Verkehrskreis) wenden.bb) Dies zugrunde gelegt, hat das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise darauf abgestellt, dass der Kläger den Veranstaltern der von ihm besuchten Pokerturniere --wie jeder andere Teilnehmer auch-- die öffentliche Darbietung seiner spielerischen Fähigkeiten antrug und ihm hierfür als Entgelt im vorgenannten Sinne ein von seiner Platzierung abhängiges Preisgeld in Aussicht gestellt wurde. Der dagegen von der Revision erhobene Einwand, wonach die zu beurteilenden Pokerturniere keine Unterhaltungsveranstaltungen darstellten, die auch von der Mitwirkung der Kandidaten lebten und nur deshalb den Veranstalter veranlassten, ihnen für die Teilnahme eine Chance auf einen hohen Preis einzuräumen, findet --ungeachtet der Frage, inwieweit dies vorliegend zur Etablierung einer Leistungsbeziehung zwingend erforderlich war-- im angegriffenen Urteil bereits keine Tatsachengrundlage. Er erschließt sich angesichts der weiteren Feststellungen zur Veröffentlichung der Turnierergebnisse im Internet und zur medialen Präsenz bzw. Vermarktung insbesondere des Klägers (Tätigkeit als Fernsehkommentator von Pokerspielen, Autor eines Poker-Internetblogs, Hauptdarsteller einer Poker-Schulungs-DVD) auch nicht. Vielmehr lässt sich der von den Klägern in Abrede gestellte Unterhaltungscharakter der Turnierpokerveranstaltungen daraus hinreichend deutlich entnehmen. Weitere Ausführungen des FG hierzu waren angesichts des insoweit unsubstantiierten Klägervorbringens rechtlich nicht erforderlich (vgl. § 105 Abs. 3 Satz 1 FGO).cc) Für die Beteiligung des Klägers am allgemeinen Güter- und Leistungsaustausch ist es darüber hinaus rechtlich ohne Belang, dass er zugleich die (obligatorische) Verpflichtung einging, sich durch die Zahlung eines "Buy-Ins" (Startgeld) an den Aufwendungen bzw. der Vergütung des Turnierveranstalters zu beteiligen. Diese Zahlungen stellten nach der einkommensteuerrechtlichen Systematik Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 4 EStG) des Klägers dar, durch die sich --bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise-- letztlich nur die Maximalhöhe des von ihm erzielbaren Gewinns verringerte. Vor diesem Hintergrund fehlte es entgegen dem Revisionsvorbringen weder "an der Kausalität einer (...) Leistungserbringung durch den Kläger und der Einräumung einer Gewinnchance" noch brauchte das FG Feststellungen zu sämtlichen "Buy-Ins" zu treffen, weil vorliegend offenkundig war, dass das Startgeld des einzelnen Turnierteilnehmers das maximal erzielbare Preisgeld nicht überstieg. Aus demselben Grund waren auch keine Feststellungen des FG zur konkreten Verwendung der Startgelder durch die (auch im Ausland ansässigen) Turnierveranstalter bzw. zu deren Kostenkalkulation notwendig. Denn damit war ausgeschlossen, dass sich der Kläger --bezogen auf das maximal erzielbare Preisgeld-- seinen Gewinn gleichsam selbst finanzierte und es aus diesem Grund an einer Gegenleistung des jeweiligen Veranstalters fehlte.Das von den Klägern zum Beleg ihrer gegenteiligen Auffassung herangezogene Urteil des IV. Senats des BFH in BFHE 161, 144, BStBl II 1991, 333 zu gewerblichen Einkünften aus dem Betrieb eines Trabrennstalls steht dem nicht entgegen. Auch dort hat der BFH (unter 2.) ausgesprochen, dass die Entrichtung von Startgeldern für die steuerrechtliche Einordnung der Wettbewerbsteilnahme im Grundsatz ohne Belang ist. Die sich unmittelbar anschließenden Ausführungen zu den Voraussetzungen der Teilnahme an den in jenem Revisionsverfahren zu beurteilenden Trabrennen bzw. die Finanzierung der dort ausgelobten Rennpreise zielten ersichtlich nur auf den Einzelfall bzw. die von den dortigen Klägern vorgetragenen tatsächlichen Einwendungen ab. Ihnen lassen sich nach Auffassung des erkennenden Senats keine tragenden, den einkommensteuerrechtlichen Gewerbebegriff auch für andere Fallgestaltungen einschränkenden Rechtssätze entnehmen.dd) Rechtlich unerheblich, da für den Gewerbebegriff nicht konstitutiv, ist außerdem, dass der Kläger "regelmäßig keine eigenen Verpflichtungen außer der Entrichtung eines 'Buy-ins' einging" bzw. "allenfalls die Obliegenheit" auf sich nahm, "regelkonform zu spielen", seine Tätigkeit nur für die beteiligten Verkehrskreise erkennbar war und er seine öffentliche Darbietungsleistung --bezogen auf die einzelne Turnierteilnahme-- nicht zugleich einer Mehrzahl von Interessenten anbot (vgl. Senatsurteil vom 6. März 1991 X R 39/88, BFHE 164, 53, BStBl II 1991, 631, unter 2., m.w.N.).Auf eine etwaige, vom FA in Anlehnung an den abweichenden Sachverhalt des BFH-Urteils in BFH/NV 1994, 622 angenommene Leistungsbeziehung des Klägers zu den übrigen Turnierteilnehmern kommt es nicht mehr an.ee) Eine Teilnahme des Klägers am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr scheidet auch nicht deshalb aus, weil das Turnierpokerspiel ein Glücksspiel wäre, dem es an einer Verknüpfung zwischen Leistung und Gegenleistung fehlen würde.Dabei ist in rechtlicher Hinsicht zu beachten, dass der einkommensteuerrechtliche Begriff des "Gewerbebetriebs", wie er in § 15 Abs. 2 EStG definiert ist, das Tatbestandsmerkmal des "Glücksspiels" weder in positiver noch in negativer Hinsicht kennt. Für die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten des Steuerpflichtigen die Merkmale des "Gewerbebetriebs" erfüllt, kommt es insbesondere nicht auf das für strafrechtliche Zwecke (§§ 284, 285 des Strafgesetzbuchs) entwickelte Verständnis dieses Begriffs an.(1) Zwar ist in der bisherigen Rechtsprechung regelmäßig eine Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr verneint worden, wenn sich die vom Steuerpflichtigen ausgeübte Tätigkeit als reines Glücksspiel darstellte (vgl. die vorstehend unter II.1.b aa angeführten Nachweise). Das FG hat im angefochtenen Zwischenurteil indes festgestellt, die vom Kläger gespielten Pokervarianten seien nicht als reines Glücksspiel anzusehen. Es ist unter Heranziehung von Tatsachengrundlagen, die es einer umfassenden Auswertung der verwaltungs-, straf- und zivilrechtlichen Literatur und Rechtsprechung entnommen hat, zu der Überzeugung gelangt, bereits bei einem durchschnittlichen Spieler trete das Geschicklichkeitselement nur noch wenig hinter dem Zufallselement zurück bzw. übertreffe dieses sogar. Dies bedeute, dass das Pokerspiel im Allgemeinen als Mischung aus Glücks- und Geschicklichkeitselementen anzusehen sei.Anders als die Kläger meinen, handelt es sich bei dieser Einordnung der vom Kläger gespielten Pokervarianten um eine Tatsachenwürdigung --nämlich eine tatsächliche Schlussfolgerung aus vom FG ebenfalls festgestellten Anknüpfungstatsachen--, die das Revisionsgericht gemäß § 118 Abs. 2 FGO in derselben Weise bindet wie die festgestellten Anknüpfungstatsachen selbst (vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 39, m.w.N. zur diesbezüglichen ständigen BFH-Rechtsprechung).Eine Einordnung als "reines Glücksspiel" --nur in einem solchen Fall hat die angeführte ältere Rechtsprechung eine Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr verneint-- ist damit nach den bindenden Feststellungen des FG für die vom Kläger gespielten Pokervarianten auszuschließen.(2) Auf die individuellen --ggf. über- oder unterdurchschnittlichen-- Fähigkeiten eines Pokerspielers kommt es für die Frage, ob Leistung und Gegenleistung im Sinne der vorstehenden Ausführungen verknüpft sind, nicht an. Diese Aspekte sind vorrangig bei den weiteren Tatbestandsmerkmalen der Nachhaltigkeit und der Gewinnerzielungsabsicht, ggf. auch beim ungeschriebenen negativen Tatbestandsmerkmal der Nichterfüllung der Voraussetzungen einer privaten Vermögensverwaltung, zu berücksichtigen.(3) Danach kann im Streitfall dahinstehen, ob ein Leistungsverhältnis im vorgenannten Sinne ggf. auch dann anzunehmen wäre, wenn sich das Turnierpokerspiel als reines Glücksspiel darstellte, bei dem zwar nicht das Spielgeschick des Klägers, aber seine individuelle Bekanntheit als häufig auftretender Spieler, Fernsehkommentator, Blog-Autor und Hauptdarsteller einer Poker-Schulungs-DVD Gegenstand der entgeltlichen öffentlichen Darbietung wäre.(4) Anders als die Revision rügt, hat sich das FG damit nicht in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des BFH gesetzt. Insbesondere besteht kein Widerspruch zum Urteil des BFH vom 8. Dezember 1981 VIII R 125/79 (BFHE 135, 426, BStBl II 1982, 618, unter 1.) zur Steuerbarkeit von Einkünften aus privaten Devisentermingeschäften, da vorliegend weder über die Auslegung der §§ 22 Nr. 2, 23 EStG zu befinden war noch eine steuerbegründende Analogie in Rede stand. Ebenfalls keinen Widerspruch, sondern vielmehr eine Bestätigung findet die vom FG vertretene Rechtsauffassung in dem bereits zitierten BFH-Urteil zur Steuerbarkeit von Preisgeldern für die Teilnahme als Kandidat an einer Fernsehshow in BFHE 220, 67, BStBl II 2008, 469. Auf dem Boden der tatrichterlichen Feststellungen ist schließlich --entgegen dem Revisionsvortrag-- auch kein Widerspruch zum Urteil des BFH vom 24. April 2012 IX R 6/10 (BFHE 237, 197, BStBl II 2012, 581, unter II.1.d) zur Steuerbarkeit des "Big Brother"-Preisgeldes zu erkennen, zumal in der von den Klägern in Bezug genommenen Urteilspassage Glücksspieleinnahmen ausdrücklich nur angesprochen sind, "soweit sie außerhalb einer betrieblichen oder beruflichen Tätigkeit anfallen". Dasselbe gilt für das die Auslegung des Rennwett- und Lotteriegesetzes betreffende BFH-Urteil vom 10. Juli 1968 II 94/63 (BFHE 93, 388, BStBl II 1968, 829).Auf den von der Revision behaupteten Widerspruch zur Rechtslage in Österreich, der Schweiz oder in anderen Staaten kommt es für die Beurteilung des Streitfalls nach Maßgabe des deutschen Einkommensteuerrechts nicht an. Dies gilt insbesondere auch für die von den Klägern im Schriftsatz vom 24. März 2015 bezeichneten Entscheidungen des österreichischen Bundesfinanzgerichts vom 10. und 13. Oktober 2014 RV/3100566/2012 bzw. RV/3100567/2012 (beide zu --hier nicht streitgegenständlichen-- sog. Cash-Games) sowie vom 18. Dezember 2014 RV/7103332/2011, die im Übrigen jeweils das österreichische Glücksspielgesetz, nicht aber das Einkommensteuerrecht betreffen.c) Das FG hat überdies zu Recht die --für sich gesehen ausreichende und auch von der Revision zu Beginn des zweiten Absatzes auf Seite 106 der Begründungsschrift vom 17. Juli 2013 nicht gänzlich in Abrede gestellte-- Absicht des Klägers bejaht, durch seine Betätigung als Turnierpokerspieler einen Totalgewinn zu erzielen. Dabei ist die Vorinstanz zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei der Gewinnerzielungsabsicht um ein subjektives Tatbestandsmerkmal handelt, das allerdings nicht nach den Absichtserklärungen des Steuerpflichtigen, sondern nach den äußeren Umständen zu beurteilen ist (grundlegend Beschluss des Großen Senats des BFH vom 25. Juni 1984 GrS 4/82, BFHE 141, 405, BStBl II 1984, 751, unter C.IV.3.c bb), und hat aus den objektiv feststellbaren Umständen zu den Turnierpokeraktivitäten des Klägers in den Jahren 2003 bis einschließlich 2008 und auch in den Folgejahren in revisionsrechtlich einwandfreier Weise auf das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht geschlossen. Dass dieser Betätigung zweifelsohne --auch-- eine nicht unerhebliche Spielleidenschaft zugrunde lag, stand dem im Streitfall nicht entgegen. Denn nach der gesetzgeberischen Wertung in § 15 Abs. 2 Satz 3 EStG ist es für die Annahme eines Gewerbebetriebs (bei Vorliegen seiner Voraussetzungen im Übrigen) ausreichend, wenn die Gewinnerzielungsabsicht einen Nebenzweck darstellt. Den von den Klägern in diesem Kontext geltend gemachten Aufwendungen bzw. Verlusten musste das FG nicht weiter nachgehen, weil der Vortrag --obwohl er sich ausschließlich auf Tatsachen aus ihrer eigenen Sphäre bezog-- zu unsubstantiiert und deshalb nicht geeignet war, die hier für die Annahme einer Gewinnerzielungsabsicht sprechenden Beweisanzeichen zu entkräften (vgl. dazu Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach, § 15 EStG Rz 1045 a.E., m.w.N.).d) Zuletzt ist das FG unter Zugrundelegung des Gesamtbilds der von ihm festgestellten Verhältnisse und der Verkehrsanschauung ohne Rechtsverstoß davon ausgegangen, dass die Betätigung des Klägers als Turnierpokerspieler den Rahmen privater Vermögensverwaltung --sofern diese beim Pokerspiel überhaupt vorstellbar ist-- überschritten hat. Danach befriedigte er durch die Turnierteilnahmen nicht allein seine privaten Spielbedürfnisse gleich einem Freizeit- oder Hobbyspieler, sondern es rückten insofern die vom FG herausgestellten strukturell-gewerblichen Aspekte (regelmäßige Teilnahme an großen, auch im Ausland ausgetragenen Turnieren, Umfang der jährlich bzw. über die Jahre hinweg erzielten Preisgelder und --damit korrespondierend-- nicht unerhebliche "Buy-Ins", vertragliche Einkleidung der Turnierteilnahme, pokerbezogene mediale Präsenz bzw. Vermarktung der eigenen Person und Fähigkeiten) in der Gesamtschau entscheidend in den Vordergrund.Die gegen diese tatrichterliche Würdigung gerichteten Revisionsangriffe dringen nicht durch. Das betrifft zum einen den von der Revision näher ausgeführten Umstand, dass die vom FG herangezogenen Gesichtspunkte jeweils für sich betrachtet noch der Sphäre der privaten Vermögensverwaltung zuzuordnen seien. Dies überzeugt bereits deshalb nicht, weil das Gesamtbild der den Streitfall ausmachenden Verhältnisse maßgebend ist. Auch war es aus Rechtsgründen nicht erforderlich, dass das FG die Betätigung des Klägers einem konkreten, bereits als Gewerbeausübung anerkannten Berufsbild zuweist. Es genügte, die Betätigung des Klägers unspezifisch in den --im weitesten Sinne-- beruflichen (professionellen) Kontext einzuordnen.2. Die von den Klägern erhobenen Verfahrensrügen sind bereits unzulässig, hilfsweise aber auch unbegründet. Wegen der Einzelheiten sieht der Senat gemäß § 126 Abs. 6 Satz 1 FGO von einer Begründung ab, zumal er in dem vorangegangenen --gemäß § 90a Abs. 3 Halbsatz 2 FGO allerdings als nicht ergangen geltenden-- Gerichtsbescheid ausführlich zu den Verfahrensrügen Stellung genommen hat und die Beteiligten hiergegen weder in den nachfolgend eingereichten Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung Einwendungen erhoben haben.3. Die sachlich-rechtlichen Angriffe gegen die Beweiswürdigung des FG haben keinen Erfolg.a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese tatrichterliche Überzeugungsbildung ist nur eingeschränkt überprüfbar. Sie kann in der Revisionsinstanz nicht durch eine eigene, von der Beurteilung des Gerichts abweichende Beweiswürdigung des Rechtsmittelführers ersetzt werden. Vielmehr ist es allein Aufgabe des FG, die im Einzelfall entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnisse festzustellen und zu gewichten. Dabei unterliegt es keinen starren Regeln. Die von ihm aus den festgestellten Tatsachen gezogenen Schlüsse müssen nicht zwingend, sondern nur möglich sein. Allerdings darf das Gericht bei der Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung nicht nach sachfremden Erwägungen oder willkürlich verfahren und muss die gebildete subjektive Überzeugung in seinem Urteil objektivieren. Seine Überzeugungsbildung muss verstandesmäßig einsichtig und logisch nachvollziehbar sein. Sie darf keine inneren Widersprüche aufweisen, lückenhaft oder unklar sein oder gegen die Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstoßen. Außerdem muss sie sich auf festgestellte Tatsachen stützen. Dazu hat das Tatgericht darzulegen, wie und dass es seine Überzeugung in rechtlich zulässiger und einwandfreier Weise gewonnen hat. Andernfalls kann darin bereits für sich gesehen ein sachlich-rechtlicher Mangel des Urteils zu sehen sein, der auch ohne besondere Rüge vom Revisionsgericht beanstandet werden kann (vgl. z.B. Senatsurteil vom 12. Dezember 2013 X R 33/11, BFH/NV 2014, 693, unter II.3.a, m.w.N.; s.a. Gräber/ Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 96 Rz 25 ff.).b) Daran gemessen hält die Beweiswürdigung der Vorinstanz revisionsrechtlicher Prüfung stand.aa) Die Kläger können bereits im Grundsatz nicht gehört werden, soweit sie in ihrer Begründungsschrift und den nachfolgenden Schriftsätzen neue Tatsachen vortragen oder die Beweiswürdigung des FG durch eine von ihnen selbst vorgenommene Beweiswürdigung in Zweifel ziehen bzw. zu ersetzen suchen. Das betrifft --insbesondere-- ihren über die Urteilsfeststellungen hinausgehenden Vortrag zur zeitlichen Beanspruchung des Klägers durch dessen Berufstätigkeit bzw. die "weiteren Hobbys", zum Umfang seiner Spielbankbesuche im Streitjahr, zum Ablauf von Turnierpokerspielen als solchem, zu den von ihnen in Bezug genommenen Teilnahmebedingungen der "World Series of Poker" bzw. Turnierregeln der "European Poker Tour", zu den Wahrscheinlichkeiten bestimmter "Start-Hand-Kombinationen" oder auch zum Inhalt einer E-Mail-Nachricht der Pilotenvereinigung "Cockpit" vom 30. Januar 2013. Gleiches gilt für ihr außerhalb der vom FG getroffenen Feststellungen liegendes Vorbringen zum Lotto-, Schach- und Roulettespiel, zur Übertragung des "Rangkorrelationskoeffizienten" bei Fußballturnieren auf das Pokerspiel, zu den Inhalten und Ergebnissen einer experimentellen Studie von Sévigny et al. zum "Internet Poker", zu Forschungserkenntnissen zur "Entwicklung kognitiver Verzerrungsmuster" bzw. den "Gesetzen der operanten Konditionierung", zu dem Turnier "Big One for One Drop", zu den weiteren Pokerspielern Danzer, Raymer, Heinz und Hansen, zu dem Gutachten von Meyer und von Meduna vom 24. Januar 2014, zu der Studie "Internet poker: Could skill be a matter of chance?" oder zu den vom Kläger bis einschließlich 2014 erzielten Spielgewinnen.Die Kläger zeigen auch dadurch keinen Rechtsfehler des FG-Urteils auf, dass sie nach eigener Bewertung der festgestellten und/oder von ihnen zusätzlich vorgetragenen Tatsachen zu abweichenden Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Teilnahme des Klägers am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr bzw. das Angebot einer Tätigkeit am Markt gegen Entgelt, dessen Gewinnerzielungsabsicht und das Überschreiten der Grenzen privater Vermögensverwaltung kommen.bb) Anders als die Kläger rügen, ist die Beweiswürdigung der Vorinstanz nicht lückenhaft. Dies gilt zum einen für die von ihnen unter Hinweis auf den (vom FG herangezogenen) Beitrag von Rock und Fiedler in der Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht (ZfWG) 2008, 412 vermissten Feststellungen zum "CRF-Wert" des Klägers als Maßstab für den Geschicklichkeitsanteil des Pokerspiels. Darauf kam es für die vom Gericht eingangs seiner Beweiswürdigung vorgenommene allgemeine Auswertung der Rechtsprechung und Literatur zur Abgrenzung zwischen Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel beim Poker nicht an. Soweit das FG sich im Anschluss eine Überzeugung von den individuellen Spielerfähigkeiten des Klägers gebildet hat, hat es entgegen dem Revisionsvortrag ersichtlich nicht auf die "Fiedler-Methode", sondern auf andere Kriterien abgestellt. Das war im Rahmen der freien Beweiswürdigung zulässig.Auch musste das FG keine ins Einzelne gehenden Feststellungen dazu treffen, "wann der Kläger 'aktiv' gegenüber einem Pokerturnierveranstalter seine Spieltätigkeit 'angeboten' hat". Denn die streitgegenständlichen Turnierteilnahmen setzten denklogisch voraus, dass der Kläger zuvor mit dem jeweiligen Veranstalter in Kontakt trat.Dabei durfte das FG seine Überzeugung zur Häufigkeit der Turnierteilnahmen --ungeachtet der für das Streitjahr vorgelegten Gewinnermittlung-- auch auf die Inhalte der Internetdatenbank "Hendon Mob Poker Database" stützen. Die Kläger haben die aus der Datenbank entnommenen Turnierteilnahmen in ihrer Gesamtheit weder gegenüber dem FA noch gegenüber dem Tatgericht substantiiert bestritten, sondern bereits zu Beginn des Besteuerungsverfahrens gegenüber der Steuerfahndung zugestanden (vgl. Schreiben vom 16. November 2009: "Die vorgelegte Liste 'Hendon Mob Poker Database' soll als Besteuerungsgrundlage herangezogen werden. Die dort enthaltenen Gewinne werden jedoch ausdrücklich bestritten."). Soweit sie deren Richtigkeit bzw. Verlässlichkeit im Gegensatz dazu im weiteren Verlauf des Verfahrens verneint haben, hätten sie dem --anhand der Datenbankauszüge sehr substantiierten-- Vorbringen des FA mit mindestens ebenso substantiiertem Gegenvorbringen aus ihrer Sphäre entgegentreten müssen. Dies ist vorliegend nicht geschehen. Unabhängig davon kommt ein revisibler Beweiswürdigungsfehler hier auch deshalb nicht in Betracht, weil das FG die Datenbankinhalte ausdrücklich nur indiziell als "verwertbaren Anhaltspunkt" herangezogen, sich mit den von den Klägern gegen deren Beweiskraft vorgebrachten Einwänden auseinandergesetzt und diese in der von ihm vorgenommenen Gesamtwürdigung mit nachvollziehbaren Erwägungen für nicht durchgreifend erachtet hat.Dies gilt für die Ergebnisprognose des FG bei der Prüfung der Gewinnerzielungsabsicht des Klägers entsprechend, die die Kläger mit dem Einwand in Frage stellen, es fehle an einem "positiven Erwartungswert". Auch insoweit ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass sich das Gericht auf die Indiztatsachen aus der Datenbank und den Klagevortrag gestützt hat und nach deren Gesamtwürdigung zu der Überzeugung gelangt ist, der Kläger habe durch seine Teilnahme an den Turnierpokerspielen nach einer Betriebsvermögensmehrung in Form eines Totalgewinns gestrebt.cc) Die Beweiswürdigung des FG ist auch nicht in sich widersprüchlich.Dass es den Kläger allein mit Blick auf die Regelmäßigkeit seiner Teilnahme an großen bzw. internationalen Pokerturnieren mit einem Golf- oder Tennisprofi verglichen hat, steht nicht im Widerspruch zu dem von den Klägern als offenkundig angesehenen Umstand, dass es im Golf- oder Tennissport durchaus üblich sei, bekannte und besonders erfolgreiche Spieler --im Gegensatz zum Poker-- zu Turnieren einzuladen und diesen Startgelder zu bezahlen, zumal sie diesen Gesichtspunkt in dem von ihnen vorgelegten steuerrechtlichen "Gutachten zur Einkommensteuerpflicht von Preisgeldern aus Pokerturnieren" teilweise (in Bezug auf die Turnierserie "Partypoker Group Match Premier League") selbst relativieren.Ferner stellt es keinen inneren Widerspruch dar und verstößt auch nicht gegen die Denkgesetze, dass das Gericht einerseits die vom Kläger für das Streitjahr pauschaliert geltend gemachten Reisekosten mit Blick auf eine eventuelle private Mitveranlassung durch Urlaubsreisen als nicht überprüfbar angesehen und andererseits aufgrund des Unterschieds zwischen den in seiner Gewinnermittlung angegebenen und den in der Internetdatenbank gelisteten Preisgeldern geschlussfolgert hat, dass der Kläger an weiteren, nicht in die Datenbank aufgenommenen Pokerturnieren teilnahm.Widersprüchlich ist des Weiteren nicht, dass sich das FG dem Vortrag des Klägers, "dass er hauptsächlich in seinem Urlaub an Turnieren in Las Vegas teilgenommen habe" bzw. seine aus der Datenbank ersichtlichen "hauptsächlichen Aktivitäten über Zeiträume von 3-4 Wochen in seinem Haupturlaub stattgefunden hätten", nicht angeschlossen, sondern sich aufgrund der Datenbankinhalte von kontinuierlich über das Jahr verteilten Turnierteilnahmen überzeugt hat.dd) Die Einwände der Revision gegen die vom FG vorgenommene Auswertung von Rechtsprechung und Literatur zu der Frage, ob es sich beim Pokerspiel im Allgemeinen um ein Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel handelt, gehen fehl. Dass das Gericht für seine Überzeugungsbildung --aus Sicht der Kläger-- "lediglich sechs Untersuchungen" herangezogen hat, macht seine Beweiswürdigung für sich gesehen nicht rechtsfehlerhaft. Auch hat es entgegen der Kritik der Revision ausdrücklich kenntlich gemacht, dass es sich bei der Studie von Peren und Clement um ein wirtschaftswissenschaftliches Gutachten handelt. Anders als die Kläger meinen, lässt sich der Beitrag von Rock und Fiedler in ZfWG 2008, 412 zwanglos unter den vom FG gewählten Oberbegriff "verwaltungsrechtliche Literatur" fassen.Soweit die Kläger ausführen, der von ihnen aus dem Gutachten von Peren und Clement entnommene Satz "Die Klassifizierung von Onlinepoker als Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel bleibt daher letztendlich eine Frage, die politisch beantwortet werden muss" stünde im Widerspruch zu dem Ergebnis der Auswertung des FG, wonach "mehrheitlich" vertreten werde, dass bereits bei einem Durchschnittsspieler das Geschicklichkeitselement nur noch wenig hinter dem Zufallselement zurücktrete bzw. dieses bereits übertreffe, verkennen sie, dass in dem von ihnen zitierten Satz nicht die tatsächliche, sondern die rechtliche Einordnung des --zumal nicht streitgegenständlichen-- Onlinepokerspiels angesprochen ist. Dies ergibt sich nicht nur aus dem vom FG in Bezug genommenen Unterpunkt "2.3 Zwischenfazit" des Gutachtens, sondern bereits aus dem von den Klägern ebenfalls zitierten Anschlusssatz "Für Mischspiele wie Poker entsteht dadurch allerdings eine Rechtsunsicherheit". Die anschließende eigene Deutung der Ergebnisse des Gutachtens durch die Kläger bzw. ihre inhaltlichen Angriffe dagegen sind im Revisionsverfahren unbeachtlich. Dasselbe gilt in Bezug auf den Aufsatz von Holznagel in MultiMedia und Recht 2008, 439. Die in diesem Kontext erhobene weitere Rüge, die Betrachtung von Fischhaber und Manz in Gewerbearchiv 2007, 405 gelange "gerade nicht" zu dem Ergebnis, "dass das Pokerspiel eine überwiegende Geschicklichkeitskomponente aufweise", ist angesichts der Ausführungen der Vorinstanz, dass nach Auffassung dieser Autoren "die Entscheidung über Gewinn oder Verlust vom Zufall abhänge", nicht nachvollziehbar.Schließlich hat das FG das Urteil des I. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 28. September 2011 I ZR 93/10 (Monatsschrift für Deutsches Recht --MDR-- 2012, 111) zutreffend wiedergegeben. Anders als von den Klägern behauptet, steht das Auswertungsergebnis des FG nicht im Widerspruch zu dieser Entscheidung. Denn auch der BGH hat die Möglichkeit, dass "professionelle Spieler (...) ihre Erfolgschancen steigern können", erkannt, in dem von ihm zu beurteilenden Fall jedoch nicht weiter verfolgt, da dies für die dort vorzunehmende Auslegung von § 3 Abs. 1 des Glücksspielstaatsvertrages (GlüStV) rechtlich ohne Bedeutung war (vgl. BGH-Urteil in MDR 2012, 111, Rz 81).ee) Überdies durfte das FG aus der beruflichen Tätigkeit des Klägers Rückschlüsse auf das Vorliegen der Voraussetzungen zur erfolgreichen Anwendung von Geschicklichkeitsfaktoren beim Pokerspiel ziehen. Dabei ist es --in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise-- von den gesetzlichen Ausbildungsinhalten für den theoretischen Teil der Prüfung zur Erteilung einer Verkehrspilotenlizenz ausgegangen (vgl. aktuell § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Luftverkehrsgesetzes i.V.m. Anhang I --Teil-FCL--, Nr. FCL.515, Buchst. b der Verordnung --EU-- Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung --EG-- Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, Amtsblatt L 311 vom 25. November 2011, S. 1 ff.) und hat sich auf dieser Grundlage die Überzeugung gebildet, dass der Kläger als Verkehrspilot über mathematische Kenntnisse verfügt, die es ihm im Grundsatz ermöglichen, --auch-- auf das Pokerspiel bezogene Wahrscheinlichkeitsberechnungen durchzuführen. Dies ist als solches nachvollziehbar und wird zudem durch die vom Luftfahrt-Bundesamt entsprechend Anhang 1 zu Nr. JAR-FCL 1.470 der Bekanntmachung der Bestimmungen über die Lizenzierung von Piloten (Flugzeug) --JAR-FCL 1 deutsch-- vom 15. April 2003 (BAnz. Nr. 80a vom 29. April 2003, S. 98) veröffentlichten "Lernziele nach JAR-FCL/Teil-FCL" bestätigt. Daraus ergibt sich, dass zum Anforderungsprofil eines Verkehrspiloten (z.B. in den Fachgebieten "050 Meteorologie" oder "061 Allgemeine Navigation") auch die Durchführung von Berechnungen gehört.Entgegen dem Revisionsvortrag ergibt sich aus den Lernzielen zum Fachgebiet "040 Menschliches Leistungsvermögen" des Weiteren, dass das Berufsbild eines Piloten auch psychologische Kenntnisse umfasst (s. dort Nr. 040 03 00 00 ff.). Es kann daher im Streitfall dahinstehen, ob während eines Verkehrsfluges (Ausnahme-)Situationen denkbar sind, in denen --wie vom FG ausgeführt und von den Klägern bestritten-- der Flugkapitän die Passagiere beruhigen oder binnen Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen muss, die über das Leben vieler Menschen entscheiden.4. Das FG hat keine anderen bei der Beurteilung des Streitfalls zu beachtenden Rechtsgrundsätze verletzt.a) Der Vortrag der Revision zur "Doppelbesteuerung der Spielgewinne" des Klägers bei Spielbankbesuchen geht bereits im steuerrechtlichen Ausgangspunkt fehl, weil Schuldner der Spielbankabgabe nicht der Kläger, sondern der Spielbankunternehmer ist. Soweit die Spielbankabgabe daher im Rahmen des --ohnedies als Betriebsausgabe abziehbaren-- "Buy-Ins" auf den Turnierteilnehmer überwälzt werden sollte, läge mangels identischem Steuersubjekt keine Doppelbesteuerung, sondern allenfalls eine (indirekte) Mehrfachbelastung vor, die vorliegend keine verfassungsrechtlichen Komplikationen erkennen lässt.b) Die von den Klägern gerügte Verletzung der Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes liegt nicht vor. Anders als die Revision unter Bezugnahme auf Verwaltungsanweisungen zur einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Preisgeldern aus der Teilnahme an einem Rundfunk- oder Fernsehquiz bzw. einer Fernsehshow behauptet, ist keine allgemeine Verwaltungspraxis erkennbar, wonach Pokergewinne generell als nicht steuerbare Glücksspielgewinne eingestuft werden. Dagegen sprach auch im Streitjahr schon das BFH-Urteil in BFH/NV 1994, 622 zum Berufskartenspieler.Dass das von den Klägern bereits mit Schreiben vom 1. November 2006 in Bezug auf die Einkommensteuer 2003 konsultierte damals zuständige Finanzamt mitgeteilt hat, ein "Gewinn bei einem Pokerturnier i.H.v. $ 63.600" sei in der Bundesrepublik Deutschland nicht steuerpflichtig, hat das FG zu Recht als ungeeignet angesehen, einen Vertrauenstatbestand zu begründen. Denn dieser Auskunft lag im Gegensatz zu der vom Tatgericht durchgeführten Gesamtschau der Verhältnisse des Streitfalls offenkundig nur ein einzelner Turnierpokergewinn zugrunde. Das damit korrespondierende Anfrageschreiben haben die Kläger nicht vorgelegt.c) Schließlich ist auch der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht tangiert. Dies wäre nur dann der Fall, wenn aufgrund der Einordnung der vom Kläger ausgeübten Turnierpokerspieltätigkeit als gewerbliche Betätigung im Sinne des Einkommensteuerrechts unauflösbare Widersprüchlichkeiten innerhalb der Gesamtrechtsordnung zu besorgen wären. Das ist jedoch mit Blick auf die voneinander abweichenden Normzwecke des Glücksspiel- und des Steuerrechts auszuschließen. Während das Glücksspielrecht (flankiert durch die hierauf Bezug nehmenden Strafrechtsnormen) spezifischen Sucht-, Betrugs-, Manipulations- und Kriminalitätsgefährdungspotentialen entgegenwirken soll (vgl. § 1 GlüStV), zielt das Einkommensteuerrecht im Interesse der Gleichbehandlung aller Steuerzahler darauf ab, das am Markt erwirtschaftete Einkommen zu erfassen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht widersprüchlich, sondern im Gegenteil folgerichtig, dass einerseits das Glücksspielrecht nicht nur auf reine Glücksspiele angewendet wird (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV), sondern auch auf Betätigungen, die sich --wie das Turnierpokerspiel-- als Mischung aus Glücks- und Geschicklichkeitskomponenten darstellen, und andererseits das Steuerrecht auch auf das an einem "Glücksspielmarkt" erwirtschaftete Einkommen zugreift, selbst wenn das Glücksspielrecht diesen Markt gewissen Beschränkungen unterwirft. Die dahinterstehenden gesetzgeberischen Wertungen kommen dabei, ohne dass es auf diese Vorschrift im Streitfall konkret ankäme, im Steuerrecht insbesondere in dem in § 40 der Abgabenordnung normierten Programmsatz klar zum Ausdruck.5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
bundesfinanzhof
bfh_094-10
03. November 2010
EuGH-Vorlage: Darf die Vorsteueraufteilung bei gemischt genutzten Gebäuden vom Flächenverhältnis anstelle des Umsatzverhältnisses abhängig gemacht werden? 03. November 2010 - Nummer 094/10 - Beschluss vom 22.07.2010 V R 19/09 Mit Beschluss vom 22. Juli 2010 hat der V. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gerichtet.In der Sache geht es um die Höhe des Vorsteuerabzugs für Eingangsleistungen zur Herstellung eines Gebäudes, mit dem sowohl steuerfreie als auch steuerpflichtige Vermietungsumsätze erzielt werden. Da der Vorsteuerabzug nur für steuerpflichtige Ausgangsumsätze eröffnet wird, ist in diesen Fällen ebenso wie bei der Errichtung eines Gebäudes für Geschäfts- und private Wohnzwecke eine Aufteilung der Vorsteuern erforderlich. Als Aufteilungsmaßstab kommt das Verhältnis von steuerfrei zu steuerpflichtig vermieteten Flächen in Betracht (Flächenschlüssel), nach der Rechtsprechung des BFH aber auch die für Steuerpflichtige oft günstigere Höhe der Mietumsätze (Umsatzschlüssel). Im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 2003 ordnete der Gesetzgeber an, dass ab dem 1. Januar 2004 eine Aufteilung nach dem Umsatzschlüssel nur noch dann erfolgen darf, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist. Da bei Gebäuden eine Aufteilung nach dem Flächenschlüssel stets eine wirtschaftliche Zurechnung ermöglicht, schließt die Gesetzesänderung eine Anwendung des Umsatzschlüssels praktisch aus.Der V. Senat fragt beim EuGH an, ob diese Einschränkung des Umsatzschlüssels mit den Vorgaben des Unionsrechts vereinbar ist. Dieses sieht den Umsatzschlüssel als Regel-Aufteilungsmaßstab vor. Hiervon können die Mitgliedstaaten zwar in Ausnahmefällen abweichen, der Senat hält es jedoch für zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für einen dieser Ausnahmefälle vorliegen.Die EuGH-Vorlage hat große Bedeutung für die Errichtung von Wohn- und Geschäftsgebäuden, da die Höhe des Vorsteuerabzugs deren Finanzierung (Kapitalbedarf) beeinflusst. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: V R 19/09
Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:Ist Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, für die Aufteilung der Vorsteuern aus der Errichtung eines gemischt-genutzten Gebäudes vorrangig einen anderen Aufteilungsmaßstab als den Umsatzschlüssel vorzuschreiben?   Tatbestand I. Sachverhalt Die Beteiligten streiten darum, ob die Vorsteuern auf Eingangsleistungen zur Herstellung eines gemischt-genutzten Gebäudes im Streitjahr (2004) nach dem Verhältnis der Ausgangsumsätze aufgeteilt werden konnten.Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) errichtete in den Jahren 2003 und 2004 ein Wohn- und Geschäftshaus, das sie nach Fertigstellung (Ende 2004) teils steuerpflichtig, teils steuerfrei vermietete. Von den im Streitjahr angefallenen und den Gebäudeteilen nicht direkt zugerechneten Vorsteuern machte die Klägerin 54,07 % (aus 446.610,27 EUR) in ihrer Umsatzsteuer-Jahreserklärung des Streitjahres geltend. Diesen Prozentsatz ermittelte sie auf der Grundlage der im Jahr 2003 kalkulierten Umsätze aus der Vermietung von Wohnungen zu privaten Wohnzwecken (152.000 EUR) und der Vermietung von Geschäftsräumen (179.000 EUR).Im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Auffassung, nach § 15 Abs. 4 Satz 3 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2003 (StÄndG 2003) vom 15. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2645) seien die Vorsteuern ab dem 1. Januar 2004 nach einem Flächenmaßstab aufzuteilen. Bei einem Flächenanteil der steuerpflichtig vermieteten Geschäftsräume von 34,4% führe dies zu einer Kürzung der geltend gemachten Vorsteuern. Außerdem habe der Übergang vom Umsatzschlüssel zum Flächenschlüssel ab dem 1. Januar 2004 eine Änderung der Verhältnisse und damit eine Berichtigung der Vorsteuern nach § 15a UStG zur Folge. Gegen den auf dieser Grundlage ergangenen Umsatzsteuerbescheid 2004 vom 9. Juni 2004 legte die Klägerin erfolglos Einspruch ein.Die Klage hatte dagegen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ging in dem in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 2009, 1790 veröffentlichten Urteil davon aus, dass die Klägerin nach der nationalen Regelung des § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG nicht mehr befugt gewesen sei, ihre Vorsteuern im Verhältnis der steuerfreien zu den steuerpflichtigen Umsätzen aufzuteilen, weil die Aufteilung der Vorsteuern nach dem Flächenschlüssel zwar auf einem wirtschaftlich vertretbaren Aufteilungsmaßstab beruhe. Diese Regelung verstoße aber gegen das Gemeinschaftsrecht, das den Umsatzschlüssel als Regel-Aufteilungsmaßstab vorsehe. Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) eröffne dem nationalen Gesetzgeber nicht die Möglichkeit, vorrangig einen anderen Aufteilungsmaßstab als den Umsatzschlüssel festzulegen. Diese Bestimmung regele lediglich die vorrangige Direktzuordnung der Eingangsleistungen zu steuerpflichtigen oder steuerfreien Ausgangsleistungen. Für den verbleibenden Rest an Vorsteuern gelte die Grundregel der Unterabs. 1 und 2 des Art. 17 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG, die eine Aufteilung anhand des Umsatzschlüssels vorsehe.Mit der --vom FG zugelassenen-- Revision rügt das FA sinngemäß die Verletzung des § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG und bringt zur Begründung im Wesentlichen vor: Diese Norm beruhe auf Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG, wobei der in der deutschen Sprachfassung verwendete Begriff "Zuordnung" im Sinne von "Gebrauch" oder "Verwendung" zu verstehen sei. Die Auslegung des Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG durch das FG stimme nicht mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zum Vorsteuerabzug bei der Anschaffung oder Herstellung gemischt-genutzter Gebäude überein. Wenn die gesamten Vorsteuerbeträge aus der Anschaffung oder Herstellung eines solchen Gebäudes nach § 15 Abs. 4 UStG aufzuteilen seien (BFH-Urteile vom 28. September 2006 V R 43/03, BFHE 215, 335, BStBl II 2007, 417; vom 22. November 2007 V R 43/06, BFHE 219, 450, BStBl II 2008, 770), verbleibe kein Raum mehr für eine Direktzuordnung, die nach dem Verständnis des FG durch Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG ermöglicht werde.Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Gründe   II. Der Senat setzt das Verfahren aus und legt dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die im Leitsatz genannte Frage zur Vorabentscheidung vor.III. Die maßgeblichen Vorschriften1. Nationales RechtFür die Beurteilung des Streitfalls sind die folgenden Vorschriften des UStG maßgebend:a) § 1 Steuerbare Umsätze"(1) Der Umsatzsteuer unterliegen die folgenden Umsätze:1. die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. ..."b) § 4 Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen"Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei: ...12. Buchst. a) die Vermietung und die Verpachtung von Grundstücken, ..."c) § 9 Verzicht auf Steuerbefreiungen"(1) Der Unternehmer kann einen Umsatz, der nach § 4 Nr. ... 12 ... steuerfrei ist, als steuerpflichtig behandeln, wenn der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird. ..."d) § 15 UStG Vorsteuerabzug"(1) Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:1. die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind....(2) Vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist die Steuer für die Lieferungen, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen sowie für die sonstigen Leistungen, die der Unternehmer zur Ausführung folgender Umsätze verwendet:1. steuerfreie Umsätze; ...(4) Verwendet der Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten, eingeführten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstand oder eine von ihm in Anspruch genommene sonstige Leistung nur zum Teil zur Ausführung von Umsätzen, die den Vorsteuerabzug ausschließen, so ist der Teil der jeweiligen Vorsteuerbeträge nicht abziehbar, der den zum Ausschluss vom Vorsteuerabzug führenden Umsätzen wirtschaftlich zuzurechnen ist. Der Unternehmer kann die nicht abziehbaren Teilbeträge im Wege einer sachgerechten Schätzung ermitteln. Eine Ermittlung des nicht abziehbaren Teils der Vorsteuerbeträge nach dem Verhältnis der Umsätze, die den Vorsteuerabzug ausschließen, zu den Umsätzen, die zum Vorsteuerabzug berechtigen, ist nur zulässig, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist."2. UnionsrechtUnionsrechtlich sind die folgenden Vorschriften der Richtlinie 77/388/EWG von Bedeutung:a) Art. 2 Steueranwendungsbereich"Der Mehrwertsteuer unterliegen:1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt; ..."b) Art. 17 Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug"(1) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.(2) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen: ......(5) Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die nach den Absätzen 2 und 3 ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, ist der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt.Dieser Pro-rata-Satz wird nach Artikel 19 für die Gesamtheit der vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt.Jedoch können die Mitgliedstaatena) dem Steuerpflichtigen gestatten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro-rata-Satz anzuwenden, wenn für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen geführt werden;b) den Steuerpflichtigen verpflichten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro-rata-Satz anzuwenden und für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen zu führen;c) dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihn verpflichten, den Abzug je nach der Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen vorzunehmen;d) dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihm vorschreiben, den Vorsteuerabzug nach der in Unterabsatz 1 vorgesehenen Regel bei allen Gegenständen und Dienstleistungen vorzunehmen, die für die dort genannten Umsätze verwendet wurden;e) vorsehen, dass der Betrag der Mehrwertsteuer, der vom Steuerpflichtigen nicht abgezogen werden kann, nicht berücksichtigt wird, wenn er geringfügig ist."c) Art. 19 Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs"(1) Der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 1 ergibt sich aus einem Bruch; dieser enthält:- im Zähler den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der zum Vorsteuerabzug nach Artikel 17 Absätze 2 und 3 berechtigenden Umsätze, abzüglich der Mehrwertsteuer- im Nenner den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der im Zähler stehenden sowie der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze, abzüglich der Mehrwertsteuer. Die Mitgliedstaaten können in den Nenner auch die Subventionen einbeziehen, die nicht in Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) genannt sind.Der Pro-rata-Satz wird auf Jahresbasis in Prozent festgesetzt und auf einen vollen Prozentsatz aufgerundet."IV. Rechtliche Beurteilung des Streitfalls1. Nationales RechtNach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG kann der Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Ausgeschlossen vom Vorsteuerabzug ist die Steuer für die Lieferung von Gegenständen sowie für sonstige Leistungen, die der Unternehmer zur Ausführung steuerfreier Umsätze verwendet (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG). Der Senat legt diese Bestimmungen unionsrechtlich dahingehend aus, dass ein Vorsteuerabzug nur besteht, wenn der Unternehmer Leistungen bezieht, die er für Zwecke eigener steuerpflichtiger Umsätze zu verwenden beabsichtigt (z.B. BFH-Urteil vom 6. Mai 2010 V R 29/09, BFH/NV 2010, 1952). Verwendet der Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten Gegenstand nur zum Teil zur Ausführung von Umsätzen, die den Vorsteuerabzug ausschließen, so ist nach § 15 Abs. 4 Satz 1 UStG der Teil der jeweiligen Vorsteuerbeträge nicht abziehbar, der den zum Ausschluss vom Vorsteuerabzug führenden Umsätzen wirtschaftlich zuzurechnen ist. Der Unternehmer kann die nicht abziehbaren Teilbeträge im Wege einer sachgerechten Schätzung ermitteln (§ 15 Abs. 4 Satz 2 UStG). Eine Ermittlung des nicht abziehbaren Teils der Vorsteuerbeträge nach dem Verhältnis der Umsätze, die den Vorsteuerabzug ausschließen, zu den Umsätzen, die zum Vorsteuerabzug berechtigen (sog. Umsatzschlüssel), ist nach § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG, mit dem der Gesetzgeber auf die Anerkennung des Umsatzschlüssels als sachgerechten Aufteilungsmaßstab durch die Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteil vom 17. August 2001 V R 1/01, BFHE 196, 345, BStBl II 2002, 833) reagierte, seit dem 1. Januar 2004 nur noch dann zulässig, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist.Im Streitfall erzielte die Klägerin aus der Vermietung des Gebäudes steuerfreie Umsätze (§ 4 Nr. 12 Buchst. a UStG), soweit sie Wohnungen zu privaten Wohnzwecken vermietete. Daneben erzielte sie aufgrund des Verzichts auf die Steuerbefreiung (§ 9 Abs. 1 UStG; Art. 13 Teil C der Richtlinie 77/388/EWG) steuerpflichtige Vermietungsumsätze, soweit ihre Mieter die Räumlichkeiten zur Ausführung steuerpflichtiger Umsätze verwendeten. Die im Zusammenhang mit der Errichtung des Gebäudes angefallenen Vorsteuern waren somit nach § 15 Abs. 4 UStG aufzuteilen. Einer Aufteilung nach dem von der Klägerin begehrten Verhältnis der steuerfreien zu den steuerpflichtigen Umsätzen (Umsatzschlüssel) steht § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG entgegen, da mit der Aufteilung nach dem vom BFH als wirtschaftlich vertretbaren Aufteilungsmaßstab anerkannten Flächenschlüssel (vgl. BFH-Urteil vom 12. März 1992 V R 70/87, BFHE 168, 447, BStBl II 1992, 755, unter 2.b aa; BFH-Beschluss vom 21. Mai 1987 V S 11/85, BFH/NV 1987, 536) eine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist.2. Unionsrechta) Soweit Gegenstände und Dienstleistungen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, sieht Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG einen Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer vor, der auf die ein Recht zum Vorsteuerabzug begründenden Umsätze entfällt. Da Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG i.V.m. Art. 19 der Richtlinie 77/388/EWG vorsieht, dass der Pro-rata-Satz für die Gesamtheit der vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt wird, werden grundsätzlich die zum Vorsteuerabzug berechtigenden und die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze des gesamten Unternehmens ins Verhältnis gesetzt. Aus den vorgenannten Bestimmungen hat der vorlegende Senat geschlossen, dass das Unionsrecht den Umsatzschlüssel als Regel-Aufteilungsmaßstab vorgibt (BFH-Urteile vom 18. November 2004 V R 16/03, BFHE 208, 461, BStBl II 2005, 503, unter II.3.a; vom 1. Juli 2004 V R 32/00, BFHE 205, 555, BStBl II 2004, 1022, unter II.3.a; BFH-Beschluss vom 20. April 1998 V B 129/97, BFH/NV 1999, 79).b) Die Bestimmung des Pro-rata-Satzes nach dem Gesamtumsatz des Unternehmens hat pauschalen Charakter, da sie außer Betracht lässt, für welchen Bereich des Unternehmens die Eingangsleistungen bezogen wurden. Dies kann unter Umständen zu sachwidrigen Ergebnissen führen. So ändert sich beispielsweise ein Pro-rata-Satz von 50 % für Vorsteuern aus Eingangsleistungen zur Errichtung eines vermieteten Wohn- und Geschäftshauses bei steuerpflichtigen und steuerfreien Vermietungsumsätzen in jeweils gleicher Höhe, wenn der Vermieter im Rahmen seines Unternehmens noch weitere Umsätze ausführt. Dabei kann die Einbeziehung von steuerfreien Ausgangsumsätzen zu einer Verminderung des Pro-rata-Satzes auf beispielsweise 10 % oder weniger, die Einbeziehung von steuerpflichtigen Ausgangsumsätzen zu einer Erhöhung des Pro-rata-Satzes auf beispielsweise 90 % oder mehr führen.Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG ("Jedoch können die Mitgliedstaaten...") erlaubt deshalb mehrere Einschränkungen des Grundsatzes von Unterabs. 2.Der Senat hält es für klärungsbedürftig, ob eine dieser Bestimmungen den nationalen Gesetzgeber dazu ermächtigt, die Aufteilung nach dem Umsatzschlüssel dahingehend einzuschränken, dass dieser nur dann angewandt werden darf, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist (Subsidiarität des Umsatzschlüssels).aa) Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie 77/388/EWG ermächtigen die Mitgliedstaaten, dem Steuerpflichtigen zu gestatten oder ihn zu verpflichten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen "besonderen Pro-rata-Satz" anzuwenden, wenn für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen geführt werden. Unter einem "besonderen" Pro-rata-Satz könnte zwar auch eine andere Aufteilungsmethode als der Umsatzschlüssel zu verstehen sein, deren Anwendung ist aber an das Vorliegen getrennter Aufzeichnungen geknüpft. Da § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG eine derartige Verknüpfung nicht enthält, sondern den Umsatzschlüssel in allen Fällen ausschließt, in denen eine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist, dürfte Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchs. a und b der Richtlinie 77/388/EWG als unionsrechtliche Grundlage nicht in Betracht kommen.bb) Der Senat hält es auch für zweifelhaft, ob Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. d und e der Richtlinie 77/388/EWG die Mitgliedstaaten zur Einschränkung des Umsatzschlüssels ermächtigt. Buchst. d nimmt ausdrücklich Bezug auf die in Unterabs. 1 vorgesehene Regel und setzt damit die Anwendung des Umsatzschlüssels voraus. Buchst. e der Bestimmung betrifft nicht das Aufteilungsverfahren, sondern enthält eine Bagatellregelung zugunsten des Steuerpflichtigen.cc) Fraglich ist, ob Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG den nationalen Gesetzgeber zur Einschränkung des Umsatzschlüssels berechtigt. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihn verpflichten, den Abzug je nach der Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen vorzunehmen.(1) Die Bundesregierung hat die Einschränkung des Umsatzschlüssels durch § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG ausdrücklich auf Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG gestützt (vgl. Regierungsentwurf eines Steueränderungsgesetzes 2003, BTDrucks 15/1562 S. 51 "Zu Buchstabe d") und zur Begründung ausgeführt, die Anwendung des Umsatzschlüssels sei für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich, da sie nach Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG davon abweichende Aufteilungsmaßstäbe festlegen könnten. Dies kann darauf gestützt werden, dass sich in der unterschiedlichen Nutzung der Flächen die Zuordnung des Gebäudes bzw. der Gebäudeteile zu den mit ihnen ausgeführten Umsätzen ausdrückt (vgl. Meyer, EFG 2009, 1792; Kraeusel, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht 2004, 2; Birkenfeld, Umsatzsteuer-Handbuch, § 184 Rz 373).(2) Gegen diese Auffassung könnte aber angeführt werden, dass der Wortlaut des Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG unklar ist und die Gesetzessystematik sowie der Normzweck für eine Beibehaltung des Umsatzschlüssels sprechen.(a) Der Wortlaut der Ermächtigung zur Aufteilung von Vorsteuern nach der "Zuordnung" der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen lässt nicht erkennen, dass dem Gesetzgeber damit die Möglichkeit eröffnet wird, einen anderen Aufteilungsschlüssel als den Umsatzschlüssel vorzuschreiben. Im nationalen Recht ist zwar ebenso wie im Gemeinschaftsrecht anerkannt, dass der Unternehmer Gegenstände und Dienstleistungen dem unternehmerischen oder dem nichtunternehmerischen Bereich zuordnen kann. Die Aufteilung von Vorsteuern kann aber schon deshalb nicht von einer derartigen Zuordnung abhängen, weil sowohl die steuerpflichtigen als auch die steuerfreien Umsätze zum unternehmerischen Bereich gehören und die Aufteilung von Vorsteuern gerade solche Umsätze betrifft, die nicht eindeutig zugeordnet werden können.Die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung der Unionsrichtlinien gebietet es, eine Bestimmung bei Zweifeln an ihrem Inhalt unter Berücksichtigung der Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen. Dabei ist grundsätzlich allen Sprachfassungen der gleiche Wert beizumessen (EuGH-Urteile vom 2. April 1998 C-296/95, Commissioners of Customs and Excise, Slg. 1998, I-1605 Rz 5; vom 26. Mai 2005 C-498/03, Kingscrest, Slg. 2005, I-4427 Rz 26; vom 12. November 1998 C-149/97, Institute of The Motor Industry, Slg. 1998, I-7053 Rz 16).Die französische Fassung des Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. c lautet "...opérer la déduction suivant l'affectation de tout ou partie des biens et services", wobei mit "l'affectation" der Verwendungszweck gemeint sein könnte. Nach der englischen Fassung ("...to make the deduction on the basis of the use of all or part of the goods and services") ist ebenfalls auf die Nutzung bzw. Verwendung der Waren oder Dienstleistungen abzustellen. Dies wird bestätigt durch die italienische Fassung ("operare la deduzione in base all'utilizzazione della totalità o di une parte di beni e servizi") und die niederländische Fassung, die in diesem Zusammenhang den Terminus "gebruik" verwendet.Demnach darf der nationale Gesetzgeber den Steuerpflichtigen berechtigen oder verpflichten, die Aufteilung der Vorsteuern entsprechend der Verwendung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen vorzunehmen. Die Frage nach dem Aufteilungsschlüssel bleibt jedoch auch unter Berücksichtigung der erwähnten Fassungen anderer Mitgliedstaaten offen. Dies könnte entweder zur Folge haben, dass hierfür auf den Regel-Aufteilungsmaßstab und damit auf den Umsatzschlüssel rekurriert wird oder aber, dass jeder Aufteilungsschlüssel zulässig ist, der die Nutzung oder Verwendung von Gegenständen und Dienstleistungen messen kann. Dies wäre für Gebäude auch die Flächengröße oder das Raumvolumen.(b) Die systematische Auslegung des Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG könnte der Möglichkeit entgegenstehen, einen anderen Aufteilungsschlüssel als den Umsatzschlüssel zwingend vorzuschreiben. Während Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG festlegt, dass der nach Art. 19 Abs. 1 ermittelte Pro-rata-Satz für die Gesamtheit der Umsätze des Steuerpflichtigen gelten soll, schafft Unterabs. 3 eine Rechtsgrundlage dafür, von einem einheitlichen Aufteilungsmaßstab für das gesamte Unternehmen des Steuerpflichtigen abzusehen und für bestimmte Teilbereiche gesonderte Aufteilungsverhältnisse zu ermitteln. Demnach könnte Unterabs. 3 so zu verstehen sein, dass er lediglich Ausnahmen von der zwingenden Anwendung eines einheitlichen Aufteilungsmaßstabs für das gesamte Unternehmen schafft, also nichts an der Vorgabe ändert, die Vorsteuern anhand eines Umsatzschlüssels aufzuteilen. Dies stünde auch im Einklang mit den Bestimmungen in Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. a, b und d der Richtlinie 77/388/EWG, die --wie bereits ausgeführt wurde-- ebenfalls von einem Umsatzschlüssel ausgehen.(c) Schließlich könnte der in den Gesetzesmaterialien für die Richtlinie 77/388/EWG niedergelegte Zweck des Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 einer Einschränkung des Umsatzschlüssels entgegenstehen. Danach sollen durch Unterabs. 3 die Ungleichmäßigkeiten der Besteuerung vermieden werden, die sich aus dem pauschalen Charakter der "allgemeinen" Pro-rata-Regel ergeben. Die Mitgliedstaaten können daher dem Steuerpflichtigen gestatten oder vorschreiben, "spezielle" Pro-rata-Sätze zu ermitteln und den Abzug entsprechend der tatsächlichen Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen zu den steuerpflichtigen Tätigkeiten vorzunehmen (vgl. Vorschlag für die Sechste Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 11/73, S. 20). Die Verwendung der Termini "allgemeiner" und "spezieller" Pro-rata-Satz könnte dahingehend verstanden werden, dass am Umsatzschlüssel als Aufteilungsmaßstab festzuhalten ist und die mit dem allgemeinen Pro-rata-Satz verbundenen "Ungleichmäßigkeiten der Besteuerung" dadurch vermieden werden sollen, dass anstelle des Unternehmens (Gesamtumsatz) eine gegenständliche Aufteilung anhand des Umsatzes eines konkreten Bezugsobjekts (Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände) vorgenommen wird.3. EntscheidungserheblichkeitDie Entscheidungserheblichkeit der Vorlage folgt daraus, dass sich die Klägerin im Falle der Unionsrechtswidrigkeit des § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG auf die für sie günstigere Regelung des Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 1 und 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG berufen und eine Aufteilung der Vorsteuern nach dem Umsatzschlüssel erreichen könnte.
bundesfinanzhof
bfh_004-12
18. Januar 2012
Keine Aussetzungszinsen für fehlerhaft zu hoch ausgesetzte Beträge bei vollem Erfolg des Rechtsbehelfs 18. Januar 2012 - Nummer 004/12 - Urteil vom 31.08.2011 X R 49/09 Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 31. August 2011 X R 49/09 entschieden, dass für fehlerhaft zu hoch ausgesetzte Beträge Aussetzungszinsen nach § 237 der Abgabenordnung (AO) nicht entstehen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache vollen Erfolg gehabt hat.Im Streitfall hatte das Finanzamt im Einspruchsverfahren gegen Feststellungsbescheide (Grundlagenbescheide) antragsgemäß die Aussetzung der Vollziehung bewilligt. Bei der Berechnung des Aussetzungsbetrages im Rahmen der Einkommensteuerbescheide (Folgebescheide) setzte das Finanzamt indes fehlerhaft einen zu hohen Betrag von der Vollziehung aus. Im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Feststellungsbescheide obsiegte der Steuerpflichtige in vollem Umfang. Wegen der überhöhten Aussetzung hatte er gleichwohl Nachzahlungen zu leisten. Hierauf setzte das Finanzamt Zinsen fest. Der Steuerpflichtige hielt die Zinsfestsetzung für rechtswidrig, da § 237 AO die (teilweise) Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs voraussetze. Der BFH hat sich dem angeschlossen. Da das Rechtsbehelfsverfahren gegen die Grundlagenbescheide in vollem Umfang Erfolg gehabt habe, sei der Tatbestand des § 237 AO nicht erfüllt. Nach Sinn und Zweck der Norm komme eine erweiternde Auslegung der Vorschrift gleichfalls nicht in Betracht. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: X R 49/09
Hatte ein Rechtsbehelf in vollem Umfang Erfolg, können auch dann keine Aussetzungszinsen gemäß § 237 AO festgesetzt werden, wenn das FA rechtsirrig einen zu hohen Betrag von der Vollziehung ausgesetzt hatte. Tatbestand I. Der Revisionsbeklagte ist Erbe der während des Revisionsverfahrens verstorbenen Klägerin (E).E war Gesellschafterin einer GbR. Während eines Rechtsbehelfsverfahrens betreffend negative Gewinnfeststellungsbescheide der GbR war die Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewährt worden. Infolgedessen wurde die Vollziehung der Bescheide über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag aufgehoben (künftig: ausgesetzt/Aussetzung). Diese Aussetzung erfolgte allerdings in größerem Umfang als es der Streitgegenstand hinsichtlich der Feststellungsbescheide erfordert hätte. Nach dem Vorbringen des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) im Revisionsverfahren beruhte dies darauf, dass bei der Berechnung fälschlich frühere --zwischenzeitlich geänderte-- Bescheide zugrunde gelegt worden waren.Das Rechtsbehelfsverfahren hatte in vollem Umfang Erfolg. Wegen der überhöhten AdV hatte E gleichwohl Nachzahlungen zu leisten. Das FA setzte deswegen gegen E für Einkommensteuer 1994 und 1996 nebst Solidaritätszuschlag 1996 Aussetzungszinsen in Höhe von zuletzt insgesamt 375.774 EUR fest. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.Das Finanzgericht (FG) gab mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 382 veröffentlichten Urteil, das im Rubrum die Einkommensteuer 1994 und 1996, nicht aber den Solidaritätszuschlag 1996 nannte, der Klage statt. Für die Festsetzung dieser Zinsen fehle es an einer rechtlichen Grundlage. § 237 der Abgabenordnung (AO) sei nicht anwendbar, wenn, wie hier, Einspruch oder Klage in vollem Umfange Erfolg gehabt hätten. Es fehle an einer Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Zinsen als Ausgleich für Fehler eines Finanzamts bei einer AdV.Mit der Revision vertritt das FA weiterhin die Auffassung, die Nachzahlungsbeträge seien zu verzinsen. Im Rubrum der Revisionsbegründung nennt es, nachdem es im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wie das FG ausdrücklich lediglich die Einkommensteuern bezeichnete, wieder den Solidaritätszuschlag 1996.Die in § 237 Abs. 1 Satz 1 AO vorausgesetzte Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs beurteile sich allein danach, inwieweit nach endgültiger Erledigung der ausgesetzte Betrag geschuldet werde, unabhängig davon, aus welchem Grund dies der Fall sei. Daher sei nicht der Streitgegenstand des Einspruchsverfahrens, sondern der geschuldete und von der Vollziehung ausgesetzte Steuerbetrag für den Umfang der Verzinsung maßgebend. Im Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheiden gelte nach § 237 Abs. 1 Satz 2 AO nichts anderes. Der Wortlaut des § 237 Abs. 1 Satz 1 AO sei daher unter Berücksichtigung seines Zwecks erweiternd so auszulegen, dass ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid auch insoweit endgültig keinen Erfolg gehabt habe, als trotz Abhilfe des Einspruchs oder der Anfechtungsklage weiterhin ein Betrag geschuldet werde, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt gewesen sei.Dieses Verständnis entspreche dem Zweck des § 237 Abs. 1 AO. Die Vorschrift wolle dem Steuerpflichtigen den ihm durch die AdV eröffneten, jedoch nach materiellem Recht nicht zustehenden Zinsvorteil nehmen. Dem werde lediglich eine Verzinsung gerecht, die unabhängig von der Rechtmäßigkeit der AdV-Entscheidung in Grund und Höhe an den tatsächlich ausgesetzten und noch verbliebenen geschuldeten Betrag anknüpfe.Im Übrigen sei E nicht rechtsschutzlos gestellt gewesen, denn sie hätte ihre Zinszahlungspflicht durch verschiedene Maßnahmen vermeiden können, namentlich durch Einspruch gegen die AdV-Verfügungen, durch Änderungsantrag nach § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO oder auch durch Zahlung der zuviel von der Vollziehung ausgesetzten Beträge. Die AdV wäre dann gegenstandslos geworden.Das FA beantragt,das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen,hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.Der Revisionsbeklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.Die Auffassung des FA stehe mit dem Gesetzeswortlaut nicht in Einklang. Danach sei Grundvoraussetzung für die Festsetzung von Aussetzungszinsen, dass ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage ganz oder teilweise ("soweit") endgültig keinen Erfolg gehabt habe. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt, da der Einspruch in vollem Umfang erfolgreich gewesen sei. Zum zweiten in § 237 AO vorgesehenen Prüfungsschritt, der Festlegung der Höhe der Aussetzungszinsen, komme man danach nicht mehr.Die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH), auf die sich das FA zur Berechnung des zu verzinsenden Betrages stütze, seien jeweils zu Sachverhalten ergangen, in denen die Rechtsbehelfe zumindest teilweise nicht erfolgreich gewesen seien. Gründe II. Die Revision ist unbegründet und gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht erkannt, dass für die Nachzahlungsbeträge keine Zinsen festzusetzen waren.1. Hinsichtlich des Streitgegenstandes stellt der Senat klar, dass der Rechtsstreit auch den Solidaritätszuschlag 1996 umfasst. Einspruch und Klage hatten den Solidaritätszuschlag zum Gegenstand. Soweit die Rubren, beginnend mit dem FG-Urteil, ihn zunächst nicht mehr enthielten, handelt es sich um offenkundige Versehen.2. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid oder gegen eine Einspruchsentscheidung hiergegen endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen. Dies gilt entsprechend, wenn nach Einlegung eines förmlichen Rechtsbehelfs gegen einen Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) oder eine Rechtsbehelfsentscheidung hiergegen die Vollziehung eines Folgebescheids ausgesetzt wurde (§ 237 Abs. 1 Satz 2 AO).Die in Satz 1 dieser Vorschrift genannte Voraussetzung, dass ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage "endgültig keinen Erfolg gehabt" haben dürfe, gilt damit auch in den Fällen des Satzes 2.An dieser Voraussetzung fehlt es im Streitfall. Die Rechtsbehelfsverfahren gegen die Grundlagenbescheide hatten in vollem Umfang Erfolg.a) Der Wortlaut des § 237 AO ist insoweit eindeutig. Die Frage, ob ein Rechtsbehelf Erfolg hatte, bemisst sich nach dem Verfahrensgegenstand und dem konkretisierten Rechtsbehelfsbegehren und ist unabhängig von der verfahrenstechnischen Art der Erledigung. "Endgültig keinen Erfolg gehabt" hat der Rechtsbehelf insbesondere dann, wenn er durch unanfechtbare Entscheidung abgewiesen, vom Rechtsbehelfsführer zurückgenommen oder eingeschränkt worden ist, wenn mithin das FA dem Begehren, den festgesetzten Steuerbetrag herabzusetzen, im Ergebnis nicht abhilft, gleich, aus welchem Grunde (grundlegend Senatsurteil vom 27. November 1991 X R 103/89, BFHE 166, 311, BStBl II 1992, 319, m.w.N.).Für die Beurteilung der endgültigen Erfolglosigkeit i.S. des § 237 Abs. 1 Satz 2 AO ist dementsprechend ausschließlich auf das Ergebnis des gegen den Grundlagenbescheid gerichteten Rechtsbehelfsverfahrens abzustellen, während die sich auf der Ebene des Folgebescheids ergebende steuerliche Auswirkung unbeachtlich ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 27. Oktober 2003 X B 36/03 und X B 37/03, BFH/NV 2004, 158; ebenso im Anschluss an die Vorinstanz Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 237 AO Rz 18, und Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 237 AO Rz 14).b) Soweit der BFH mehrfach entschieden hat, dass die Zinsfestsetzung nicht von der Rechtmäßigkeit der bestandskräftigen AdV-Entscheidung, sondern von dem tatsächlich ausgesetzten Betrag abhängt (vgl. Urteile in BFHE 166, 311, BStBl II 1992, 319; vom 25. März 1992 I R 159/90, BFHE 168, 13, BStBl II 1992, 997; vom 18. Juli 1994 X R 33/91, BFHE 175, 294, BStBl II 1995, 4; vom 9. November 1998 XI R 24/98, BFHE 187, 400, BStBl II 1999, 201, und vom 12. Dezember 2007 XI R 25/07, BFH/NV 2008, 339), beziehen sich diese Entscheidungen auf Konstellationen, in denen die jeweils eingelegten Rechtsbehelfe wenigstens teilweise ohne Erfolg geblieben waren. Die Tatbestandswirkung der AdV-Entscheidung (dazu eingehend Senatsurteil vom 22. Mai 2007 X R 26/05, BFH/NV 2007, 1817) bezieht sich nur auf die darauf folgende Frage, in welchem Umfang der ausgesetzte Betrag verzinst wird. Sie bezieht sich nicht, wie das FA meint, auf den fehlenden Erfolg des Rechtsbehelfs.c) Überlegungen zu dem systematischen Zusammenhang des § 237 AO sowie zum Sinn und Zweck der Verzinsungsvorschriften vermögen keine abweichende Entscheidung zu rechtfertigen.Nach § 233 Satz 1 AO werden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nur verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist. §§ 233a bis 237 AO enthalten eine Reihe von Zinstatbeständen für bestimmte Konstellationen. Die Zinstatbestände bilden einen abschließenden Katalog. Im Fall des in vollem Umfang erfolgreichen Rechtsbehelfs fallen nach der Konzeption des Gesetzes keine Aussetzungszinsen an; entscheidend ist der Erfolg des Rechtsbehelfs; der Umfang der AdV und der Aspekt der Verzinsung sind in diesem Fall unerheblich. Eine erweiternde Auslegung des Tatbestandes des § 237 Abs. 1 AO kommt daher nach Sinn und Zweck der Norm nicht in Betracht.d) Der Senat verkennt nicht, dass dies in anderen Fällen zu scheinbar unbilligen Ergebnissen führen kann. Der Steuerpflichtige, der mit seinem Rechtsbehelf im Wesentlichen Erfolg hatte und nur zu einem Teil unterlegen blieb, hat Aussetzungszinsen für den gesamten zuviel ausgesetzten Betrag zu zahlen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 175, 294, BStBl II 1995, 4), während derjenige Steuerpflichtige, der vollen Erfolg hatte, hinsichtlich des zuviel ausgesetzten Betrags von der Zinspflicht verschont bleibt. Gerechtfertigt ist diese Differenzierung, weil derjenige, dessen Rechtsbehelf in vollem Umfang Erfolg hat, von der Zinspflicht verschont bleiben soll; der "volle Erfolg" wird gewissermaßen durch die vollständige Entbindung von der Zinspflicht "prämiert".3. Der angefochtene Zinsbescheid lässt sich auch auf keine andere Rechtsgrundlage stützen. § 233a AO erfasst Differenzen zwischen Festsetzungen. Die Nachzahlungsbeträge, um die es im Streitfall geht, beruhen nicht auf einer Änderung der Festsetzung, sondern auf dem Umfang der AdV. Eine Zinsvorschrift, die unmittelbar an Überzahlungen des Steuerpflichtigen oder der Finanzbehörde anknüpft, existiert nicht.
bundesfinanzhof
bfh_058-17
13. September 2017
Wiesnbrezn auf dem Oktoberfest steuerbegünstigt 13. September 2017 - Nummer 058/17 - Urteil vom 03.08.2017 V R 15/17 Verkauft ein Brezelverkäufer auf dem Oktoberfest in Festzelten "Wiesnbrezn" an die Gäste des personenverschiedenen Festzeltbetreibers, ist der ermäßigte Umsatzsteuersatz von 7 % für Lebensmittel anzuwenden. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 3. August 2017 (V R 15/17) die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung zurückgewiesen, die im Verkauf der Brezeln durch den Brezelverkäufer einen restaurantähnlichen Umsatz gesehen hatte, der dem Regelsteuersatz von 19 % unterliegen sollte.Im Streitfall pachtete die Klägerin während des Oktoberfestes Verkaufsstände in mehreren Festzelten an. Die von ihr beschäftigten „Breznläufer“ gingen durch die Reihen des Festzelts und verkauften die Brezeln an die an Bierzelttischen sitzenden Gäste des Festzeltbetreibers. Das Finanzamt sah hierin umsatzsteuerrechtlich eine sog. sonstige Leistung, die dem Regelsteuersatz unterliege. Es sei ein überwiegendes Dienstleistungselement gegeben, weil der Klägerin die von den Festzeltbetreibern bereitgestellte Infrastruktur, bestehend aus Zelt mit Biertischgarnituren und Musik, zuzurechnen sei. Das Finanzgericht bestätigte dies.Demgegenüber hob der BFH das Urteil der Vorinstanz auf und gab der Klage statt. Danach führt der Verkauf der Brezeln umsatzsteuerrechtlich zu einer Lieferung der Backwaren, die ermäßigt zu besteuern ist. Die in den Festzelten aufgestellten Biertischgarnituren, bestehend aus Tischen und Bänken, dienten den eigenen Gastronomieumsätzen des Festzeltbetreibers. Damit handelte es sich um für die Klägerin fremde Verzehrvorrichtungen, an denen der Klägerin kein eigenes Mitbenutzungsrecht zugestanden habe. Sie habe keine Verfügungs oder Dispositionsmöglichkeit in dem Sinne erlangt, dass sie Besuchern Sitzplätze im Festzelt zuweisen konnte. Es sei nach der "Realität" im Bierzelt auch nicht davon auszugehen, dass Personen, die ausschließlich Brezeln von der Klägerin erwarben, zur Nutzung der Biertischgarnituren berechtigt gewesen wären, ohne zusätzliche Leistungen des Festzeltbetreibers in Anspruch nehmen zu müssen.Das Urteil ist zu den Streitjahren 2012 und 2013 ergangen. Bei gleichbleibenden Verhältnissen ist die kurz vor Beginn des Oktoberfests 2017 veröffentlichte BFH-Entscheidung auch für die Folgejahre zu beachten. Bundesfinanzhof Pressestelle      Tel. (089) 9231-400 Pressereferent  Tel. (089) 9231-300 Siehe auch: V R 15/17
Die Abgabe von Brezeln ("Wiesnbrezn") in Festzelten durch einen vom Festzeltbetreiber personenverschiedenen Unternehmer unterliegt dem ermäßigten Steuersatz. Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 22. Februar 2017  3 K 2670/14 aufgehoben.Der Umsatzsteuerbescheid 2012 vom 7. Januar 2014 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 9. September 2014, geändert durch den Bescheid vom 6. August 2015 und der Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 27. Mai 2015 geändert durch den Bescheid vom 6. August 2015 und vom 24. August 2015 werden dahingehend geändert, dass die Umsatzsteuer 2012 auf ... € und die Umsatzsteuer 2013 ... € festgesetzt wird.Die Kosten des gesamten Verfahrens hat das Finanzamt zu tragen. Tatbestand I.Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) pachtete in den Streitjahren 2012 und 2013 Verkaufsstände in Festzelten während des Oktoberfestes zum Verkauf von Brezeln (bayerisch: "Brezen") an Besucher der Festzelte. Dabei handelte es sich ausschließlich um sog. "Wiesnbrezn". Sie setzte dabei sog. "Brezenläufer" ein. Die Klägerin ging von der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes aus. Im Anschluss an eine Umsatzsteuersonderprüfung war der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) der Auffassung, dass der Verkauf von Brezeln in den Festzelten umsatzsteuerrechtlich dem Regelsteuersatz unterliege, da der Klägerin die die Bewirtung fördernde, von den Festzeltbetreibern bereitgestellte Infrastruktur bestehend aus Zelt mit Biertischgarnituren und Musik zuzurechnen sei, und änderte mit Bescheid vom 7. Januar 2014 die Umsatzsteuerfestsetzung 2012 gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung.Ebenso änderte das FA die Vorauszahlungsbescheide 2013/III und IV. Das FA ging auch in den (geänderten) Umsatzsteuerbescheiden 2012 und 2013 vom 6. August 2015 sowie im Änderungsbescheid für 2013 vom 24. August 2015 von der Anwendung des Regelsteuersatzes aus.Einspruch und Klage zum Finanzgericht (FG) hatten keinen Erfolg.Das FG begründete sein in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2017, 873 veröffentlichtes Urteil damit, dass der Verkauf von Backwaren in Festzelten durch die Klägerin und ihre Brezenläufer unter Berücksichtigung von Art. 6 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStVO) und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) dem Regelsteuersatz unterliege. Die Klägerin habe sich die Nutzungsmöglichkeit der Festzelte gegen Entgelt einräumen lassen. Ihr seien deshalb die Verzehrvorrichtungen der Bierzeltbetreiber zuzurechnen. Zu berücksichtigen sei, dass der Bundesfinanzhof (BFH) zwar seine Rechtsprechung zum Umsatzsteuergesetz (UStG) aufgegeben habe, nach der Verzehrvorrichtungen eines Dritten für das Vorliegen einer sonstigen Leistung sprächen, wenn diese auch im Interesse des leistenden Unternehmers zur Verfügung gestellt werden. Leiste der Dritte jedoch an den Unternehmer und dieser wiederum an den Kunden, handele es sich um ein Dienstleistungselement des speiseabgebenden Unternehmers, das im Rahmen der Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen sei.Die in den Festzelten von den Festzeltbetreibern bereitgestellten Verzehrvorrichtungen (Biertische und Bierbänke) seien der Klägerin zuzurechnen, auch wenn sich diese nicht in ihrem Eigentum befunden haben. Die Nutzungsmöglichkeit der Biertische und Bierbänke sei keine unbeachtliche Leistung eines Dritten, denn die Klägerin habe sich in den jeweiligen Verträgen mit den Festzeltbetreibern das Recht zum Verkauf in diesen Festzelten und damit die Nutzungsmöglichkeit der dort von den Festwirten bereitgehaltenen Verzehrmöglichkeiten gegen Entgelt einräumen lassen. Die Klägerin habe damit auch das Recht erworben, die in den jeweiligen Festzelten aufgestellten Bierbänke und -tische insgesamt durch ihre Kunden nutzen zu lassen. Dieses Mobiliar sei --anders als im Kino-- dazu bestimmt, den Kunden den Verzehr der von der Klägerin erworbenen Backwaren möglicherweise zu erleichtern. Des Weiteren seien der Klägerin auch das Musikangebot in den Festzelten sowie der eventähnliche Charakter als zusätzliche Dienstleistungen zuzurechnen. Schließlich stelle sich der Verkauf der Brezeln aus Sicht der Verbraucher auch als eine Ergänzung des Getränke- und Speiseangebots der Festzeltbetreiber dar.Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision. Sie habe nur Verkaufsstände angemietet oder gepachtet. Keiner der Verträge habe vorgesehen, dass sie ihren Kunden Bierbänke oder Biertische zur Nutzung überlassen könne. Die Festzeltbetreiber hätten auch selbst Brezeln verkauft. Sie habe nur Standardprodukte ohne Kellnerservice und ohne Bedienung geliefert. Leistungen anderer Unternehmer seien nicht zu berücksichtigen. Geschirr oder Besteck seien nicht überlassen worden. Die Bereitstellung der Bierzeltgarnituren sei durch die Festzeltbetreiber erfolgt. Sie habe diese nicht zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Sie habe sich an den Betriebskosten des Festzelts nicht beteiligt. Ihre Leistungen haben sich von denen der Festzeltbetreiber deutlich unterschieden. Die Annahme, ihre Kunden hätten die Bierzeltgarnituren auch ohne Leistungsbezug vom jeweiligen Festzeltbetreiber benutzen dürfen, sei völlig wirklichkeitsfremd. Der Festzeltbetreiber und sein Personal würden dies durch die Ausübung des Hausrechts verhindern. Der Durchschnittsverbraucher benötige zudem zum Verzehr einer Brezel weder eine Bank noch einen Tisch.Die Klägerin beantragt,das Urteil des FG aufzuheben und die Umsatzsteuer unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids 2012 vom 6. August 2015 und den Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 24. August 2015 auf ... € (2012) und ... € (2013) festzusetzen.Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen.Die Backwaren seien ausschließlich von den "Brezenläufern" angeboten worden. Der jeweilige Stand habe nur dazu gedient, Ware zu lagern und an die Brezenläufer auszugeben. Für das Recht zum Verkauf der Backwaren habe die Klägerin den Wirten hohe fünfstellige Beträge gezahlt. Der Klägerin seien die Verzehrvorrichtungen (Bierzeltgarnituren) zuzurechnen, auch wenn die Verträge zwischen der Klägerin und den Festzeltbetreibern hierfür keine ausdrücklichen Regelungen enthalten hätten. Bereits aus dem Verkauf an den Festzelttischen ergebe sich ein entscheidendes Dienstleistungselement. Es liege aus Empfängersicht eine gemeinsame Leistung von Klägerin und Festzeltbetreiber vor. Gründe II.Auf die Revision der Klägerin ist das Urteil des FG aufzuheben. Die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide 2012 und 2013 sind im beantragten Umfang zu ändern (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen dem Urteil des FG unterliegt die Abgabe von Brezeln in Festzelten durch einen vom Festzeltbetreiber personenverschiedenen Unternehmer dem ermäßigten Steuersatz, da es sich um eine Lieferung, nicht aber um eine sonstige Leistung handelt. Für die vom FG angenommene Zurechnung der im Festzelt vorhandenen Verzehrvorrichtungen besteht keine Rechtsgrundlage.1. Lieferungen eines Unternehmers sind gemäß § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die er oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen. Sonstige Leistungen sind nach § 3 Abs. 9 UStG Leistungen, die keine Lieferungen sind.Unionsrechtlich beruhen diese Vorschriften auf Art. 14 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 MwStSystRL. Als Lieferung von Gegenständen gilt danach die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, als Dienstleistung gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.Zudem ist Art. 6 MwStVO zu berücksichtigen. Nach Abs. 1 gilt die Abgabe zubereiteter oder nicht zubereiteter Speisen und/ oder von Getränken, zusammen mit ausreichenden unterstützenden Dienstleistungen, die deren sofortigen Verzehr ermöglichen, als Restaurant- und Verpflegungsdienstleistung. Die Abgabe von Speisen und/oder Getränken ist dabei nur eine Komponente der gesamten Leistung, bei der der Dienstleistungsanteil überwiegt. Restaurantdienstleistungen sind die Erbringung solcher Dienstleistungen in den Räumlichkeiten des Dienstleistungserbringers und Verpflegungsdienstleistungen sind die Erbringung solcher Dienstleistungen an einem anderen Ort als den Räumlichkeiten des Dienstleistungserbringers. Nach Abs. 2 gilt die Abgabe von zubereiteten oder nicht zubereiteten Speisen und/oder Getränken mit oder ohne Beförderung, jedoch ohne andere unterstützende Dienstleistungen, nicht als Restaurant- oder Verpflegungsdienstleistung. Art. 65 MwStVO ordnet die Anwendung dieser Regelungen ab 1. Juli 2011 an.2. Die Abgabe von Nahrungsmitteln und Speisen kann sowohl im Rahmen einer Lieferung als auch als sonstige Leistung erfolgen.a) Bei der Abgrenzung zwischen Lieferung und sonstiger Leistung ist nach der Rechtsprechung von EuGH und BFH auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Maßgebend ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, unter denen der Umsatz erfolgt. Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung ist die qualitative und nicht nur die quantitative Bedeutung der Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung zu bestimmen (BFH-Urteil vom 30. Juni 2011 V R 18/10, BFHE 234, 496, BStBl II 2013, 246, unter II.1.b aa unter Bezugnahme auf EuGH-Urteil Bog u.a. vom 10. März 2011 C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09, EU:C:2011:135, BStBl II 2013, 256, Rz 62).Soweit für den Verzehr Mobiliar wie Sitz- und Tischeinrichtungen zur Verfügung steht, ist zu berücksichtigen, dass das bloße Vorhandensein von Mobiliar, das nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, den Verzehr von Lebensmitteln möglicherweise zu erleichtern, nicht als Dienstleistungselement angesehen werden kann, das geeignet wäre, dem Umsatz insgesamt die Eigenschaft einer Dienstleistung zu verleihen. Es sind nur die Verzehrvorrichtungen zu berücksichtigen, die vom Leistenden ausschließlich dazu bestimmt werden, den Verzehr von Lebensmitteln möglicherweise zu erleichtern (BFH-Urteil in BFHE 234, 496, BStBl II 2013, 246, unter II.1.b bb unter Bezugnahme auf EuGH-Urteil Bog u.a., EU:C:2011:135, BStBl II 2013, 256, Rz 62 und 73).Der erkennende Senat hat dabei seine Rechtsprechung aufgegeben, nach der Verzehrvorrichtungen eines Dritten berücksichtigt werden können, wenn diese auch im Interesse des leistenden Unternehmers zur Verfügung gestellt waren (BFH-Urteil in BFHE 234, 496, BStBl II 2013, 246, unter II.2.b aa). Dementsprechend hat der erkennende Senat auch entschieden, dass für die Abgrenzung, ob ein Unternehmer mit einem Partyservice Lieferungen ausgeführt oder sonstige Leistungen erbracht hat, die Gestellung von Geschirr und Besteck durch einen anderen Unternehmer grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist (BFH-Urteil vom 11. April 2013 V R 28/12, BFH/NV 2013, 1638, unter II.4.a).b) Hieran hat sich durch Art. 6 MwStVO nichts geändert. Soweit es danach für die Annahme einer Dienstleistung (sonstigen Leistung) auf ausreichende unterstützende Dienstleistungen ankommt, die zu einem überwiegenden Dienstleistungsanteil führen, entspricht dies der qualitativen Betrachtungsweise der bisherigen Rechtsprechung. Das Erfordernis des Überwiegens führt dazu, dass vergleichsweise geringfügige Dienstleistungsanteile die Annahme sonstiger Leistungen nicht rechtfertigen. Dass nur Dienstleistungsanteile des leistenden Unternehmers Berücksichtigung finden, ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Neuregelung daraus, dass die Speisen- und Getränkeabgabe als "eine komplexe einheitliche Leistung" anzusehen ist (EuGH-Urteil Bog u.a., EU:C:2011:135, BStBl II 2013, 256, Rz 56 und 61), die ein Leistender an einen Empfänger erbringt (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 4. Februar 2015 XI R 14/14, BFHE 250, 240, BStBl II 2015, 908, unter II.3.b, und vom 14. Mai 2014 XI R 13/11, BFHE 245, 424, BStBl II 2014, 734, unter II.1.b dd). Somit ist es unerheblich, ob Art. 6 MwStVO auch für eine Steuerentstehung bereits vor seinem Inkrafttreten von Bedeutung sein kann.3. Danach hat im Streitfall das Urteil des FG keinen Bestand. Der Verkauf von Brezeln an Abnehmer, die im Rahmen einer von einem anderen Unternehmer erbrachten Leistung an von diesen zur Verfügung gestellten Tischen sitzen, begründet entgegen dem Urteil des FG nicht die Annahme einer sonstigen Leistung anstelle einer Lieferung.a) Nach den vom FG getroffenen und für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) befanden sich in den Festzelten sog. Bierzeltgarnituren bestehend aus Tischen und Bänken, die der jeweilige Betreiber des Festzelts aufgestellt hatte, um seine eigenen Gastronomieumsätze durch die entgeltliche Abgabe von Getränken und Speisen zu fördern. Damit handelte es sich zum einen um Verzehrvorrichtungen eines Dritten, die für die Frage, ob die Klägerin Lieferungen oder sonstige Leistungen erbracht hat, grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sind. Zum anderen ist aufgrund dieser eigenunternehmerischen Nutzung der Verzehrvorrichtungen durch die Festwirte auch ausgeschlossen, dass diese die Verzehrvorrichtungen an die Klägerin für den Absatz ihrer Brezeln überlassen haben, um sich hierdurch einer Nutzung für eigene Zwecke zu begeben.b) Damit kommt eine Berücksichtigung der Verzehrvorrichtungen bei der Prüfung, ob die Klägerin Brezeln geliefert oder im Rahmen einer sonstigen Leistung abgegeben hat, nur dann in Betracht, wenn ihr der Art nach ein Mitbenutzungsrecht an diesen Verzehrvorrichtungen zugestanden hat. Selbst die Finanzverwaltung geht davon aus, dass es sich um ein "Zur-Verfügung-Stellen" durch den Leistenden handeln muss, so dass übertragen auf den Streitfall zuerst der Festwirt die Bierzeltgarnituren der Klägerin und dann die Klägerin den Bierzeltbesuchern die Sitzmöglichkeit am Tisch zur Verfügung stellt (vgl. Abschn. 3.6 Abs. 4 Satz 12 und Abs. 5 Satz 5 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses).Davon ist im Streitfall indes nicht auszugehen. Denn die Klägerin hat keine Verfügungs- oder Dispositionsmöglichkeit an den Bierzeltgarnituren in dem Sinne erlangt, dass sie Festzeltbesuchern Sitzplätze im Festzelt zuweisen konnte. Zudem ist nicht davon auszugehen, dass Personen, die ausschließlich Brezeln von der Klägerin erwarben, zur Nutzung der Bierzeltgarnituren auch dann berechtigt waren, wenn sie keine zusätzlichen Leistungen des Festzeltbetreibers für den Erwerb von dessen Getränken und Speisen in Anspruch nahmen. Damit bestand für die Klägerin und ihre Kunden unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität im Festzelt nur die Möglichkeit einer bloßen Mitbenutzung der Sitzgelegenheiten mit Tisch im Rahmen eines Getränke- und Speisenbezugs vom Festzeltbetreiber. Die Leistung der Klägerin ist daher nur als Abrundung eines gastronomischen Angebots der Festwirte durch einen vom Festwirt personenverschiedenen Unternehmer anzusehen, nicht aber als eigene --die Annahme einer Lieferung verdrängende-- Restaurant- oder Verpflegungsdienstleistung der Klägerin.c) Darüber hinaus handelte es sich bei Brezeln um eine Standardspeise einfachster Art, die keinerlei über den bloßen Herstellungsvorgang hinausgehendes Zubereitungselement wie etwa ein Warmhalten für den Verzehr aufwies. Für ihren Verzehr bedurfte es zudem keiner Art von Hilfsvorrichtung. Dies gilt auch für "Wiesnbrezn". Es kommen keinerlei Behältnisse zum Einsatz, deren Verwendung wie z.B. beim Verzehr von Bratwürsten, Popcorn oder Nachos durch Ablagemöglichkeiten erleichtert wird. Das Vorhandensein einer Verzehrvorrichtung als dienstleistungsartiges Hilfsinstrument für die Annahme einer Dienstleistung ist somit zu vernachlässigen, da die konkret vorhandenen Vorrichtungen für den Verzehr des Gegenstandes nach allgemeinen Gepflogenheiten nicht notwendig sind und dem Mobiliar damit die hinreichende Eignung fehlt, den Verzehr solcher Lebensmittel zu erleichtern (vgl. EuGH-Urteil Bog u.a., EU:C:2011:135, BStBl II 2013, 256, Rz 73).Ebenso ändert sich die steuerrechtliche Beurteilung nicht durch den vom FA angeführten "Eventcharakter" im Bierzelt durch den Einsatz von Blasmusikkapellen etc. Die Beschallung durch einen anderen Unternehmer beim Brezelverzehr führt nicht zu einer Umqualifizierung in eine sonstige Leistung.d) Der erkennende Senat ist bei der Würdigung, ob die Leistung der Klägerin als Lieferung oder sonstige Leistung anzusehen ist, nicht an die anderslautende Entscheidung der Vorinstanz gebunden.Zwar ist die im vorliegenden Fall vorzunehmende Gesamtbetrachtung (s. oben II.2.a), ob eine einheitliche Leistung vorliegt, im Wesentlichen das Ergebnis einer tatsächlichen Würdigung durch das FG (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 17. April 2008 V R 39/05, BFH/NV 2008, 1712, unter II.2.d und 3.b). Es ist aber anerkannt, dass der BFH im Rahmen der revisionsrechtlichen Nachprüfung der Auslegung von Verträgen durch das FG auch nachzuprüfen hat, ob das FG die für die Auslegung bedeutsamen Begleitumstände, insbesondere die Interessenlage der Beteiligten erforscht und zutreffend gewürdigt hat (vgl. BFH-Urteile vom 19. Oktober 2001 V R 75/98, BFH/NV 2002, 547, unter II.4.a; vom 31. Juli 2002 X R 48/99, BFHE 200, 504, BStBl II 2003, 282, unter II.1.a cc; vom 11. Januar 2005 IX R 15/03, BFHE 209, 77, BStBl II 2005, 477, unter II.2.b aa). Entsprechendes gilt für die hier vorzunehmende umsatzsteuerrechtliche Beurteilung einer Leistung als Lieferung oder sonstige Leistung (ebenso zur Beurteilung eines Leistungsbündels aus der Sicht eines Durchschnittsverbrauchers BFH-Urteil vom 10. Februar 2010 XI R 49/07, BFHE 228, 456, BStBl II 2010, 1109, unter II.3.c).e) Die Einwendungen des FA hiergegen greifen nicht durch.Soweit das FA im Verkauf an den Bierzelttischen ein Dienstleistungselement sieht, genügt dies für die Annahme einer sonstigen Leistung ebenso wenig wie bei einem Lieferdienst für Speisen.Ohne Erfolg macht das FA geltend, dass eine gemeinsame Leistung von Klägerin und Festzeltbetreiber, die gemeinsam gegenüber Dritten tätig seien, vorliege. Denn wäre dies der Fall, müsste das FA die Steuerbescheide gegen die Klägerin und den jeweiligen Festzeltbetreiber aufheben und die Umsätze als Leistungen einer zwischen diesen bestehenden Personengesellschaft ansehen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vom FA betonten Empfängersicht. Gegen diese spricht bereits, dass die Klägerin und die Festzeltbetreiber die Entgelte für ihre jeweiligen Leistungen für die Festzeltbesucher eindeutig erkennbar gesondert vereinnahmten.4. Die Sache ist spruchreif. Mangels anderer Umstände als der unbeachtlichen Zurechnung der sog. Infrastruktur der Festzeltbetreiber liegen im Streitfall keine Dienstleistungselemente vor, die gegen die Annahme von Lieferungen sprechen könnten. Da es sich zudem um die Lieferungen von Gegenständen handelte, die nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 31 UStG als "Zubereitungen aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch; Backwaren" dem ermäßigten Steuersatz unterliegen, ist der Klage stattzugeben.5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
bundesfinanzhof
bgh_106-2013
26.06.2013
Urteil im Dresdner Schleuser-Prozess rechtskräftig Ausgabejahr 2013 Erscheinungsdatum 26.06.2013 Nr. 106/2013 Das Landgericht Dresden hat in einem umfangreichen Verfahren eine vietnamesische Staatsangehörige und zwei ehemalige Mitarbeiter der Dresdener Ausländerbehörde wegen einer Vielzahl von Fällen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern sowie wegen Bestechung bzw. Bestechlichkeit zu teils langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts bildeten die Angeklagten über rund zehn Jahre hinweg eine Bande, die sich auf die entgeltliche Einschleusung vietnamesischer Staatsangehöriger und deren Betreuung bis hin zur Erschleichung dauernder Aufenthaltstitel spezialisiert hatte. Gegen das Urteil hatte nur eine der Angeklagten, die zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilte ehemalige Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde, Revision eingelegt. Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Verurteilung im Wesentlichen bestätigt. Das Urteil ist insgesamt rechtskräftig. Beschluss vom 30. Mai 2013 – 5 StR 130/13 LG Dresden - Urteil vom 7. Juni 2012 – 3 KLs 391 Js 100019/09 Karlsruhe, den 26. Juni 2013 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 5. Strafsenats vom 30.5.2013 - 5 StR 130/13 -
Tenor Die Revision der Angeklagten W. gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 7. Juni 2012 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen, jedoch mit der Maßgabe (§ 349 Abs. 4 StPO), dass in den Fällen 1 hh und 1 ii der Urteilsgründe die Verurteilung wegen tateinheitlich verwirklichter Bestechlichkeit entfällt.Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen. Gründe Das Landgericht hat die Angeklagte W. wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 48 Fällen, in 14 Fällen in Tateinheit mit Bestechlichkeit, und wegen Geheimnisverrats zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Gegen die nicht revidierenden Mitangeklagten T. und L. hat es wegen des Tatkomplexes Gesamtfreiheitsstrafen von sechs Jahren bzw. vier Jahren und vier Monaten verhängt. Die mit der Sachbeschwerde geführte Revision der Angeklagten W. erzielt lediglich in einem geringen Umfang Erfolg.1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bildeten die Angeklagten spätestens seit 2000 eine Bande, die sich auf die Einschleusung von vietnamesischen Staatsangehörigen und die missbräuchliche Verschaffung von Aufenthaltstiteln für diese spezialisiert hatte. Die Angeklagten L. (bis 2007) und W. (bis 2010) waren im Tatzeitraum Sachbearbeiter bei der Ausländerbehörde Dresden, die Angeklagte T. dolmetschte für die Behörde. 1 Vietnamesische Staatsangehörige wurden mit Unterstützung von Mittelsmännern der Angeklagten T. in Vietnam mit durch Falschangaben erschlichenen Visa nach Deutschland verbracht und dann gegebenenfalls bis zur Erteilung einer kollusiv beschafften Niederlassungserlaubnis betreut. Von den "Leistungen" der Angeklagten umfasst waren unter anderem die Organisation von Scheinehen und deren jeweils zwei bis drei Jahre später erfolgter Scheidung sowie die Organisation von missbräuchlichen (Schein-) Vaterschaftsanerkennungen. Bei Bedarf wurden weitere Maßnahmen getroffen, um die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu schaffen, etwa Bescheinigungen über Mietverträge oder fingierte Lohnabrechnungen besorgt. Je nach Aufwand forderte die Angeklagte T. von den Geschleusten Beträge von 7.000 bis 22.000 &euro;.Der Angeklagte L. , der als versierter Fachmann im Ausländerrecht als Ideengeber für das Vorgehen im Einzelnen fungierte, wurde für seine Beiträge mit Geldgeschenken, der Finanzierung von Urlaubsreisen und in Form sexueller Dienstleistungen entlohnt. Die Angeklagte W. erhielt Bargeldbeträge bis zu 700 &euro;, Kleidungsstücke und andere Geschenke sowie Vergünstigungen beim Besuch des von der Angeklagten T. betriebenen Nagelstudios.2. Die Revision der Angeklagten W. ist im Wesentlichen unbegründet nach § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:a) In den Fällen 1 hh und 1 ii der Urteilsgründe ist die Verfolgung der jeweils tateinheitlich mit dem Verbrechen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern ausgeurteilten Bestechlichkeit verjährt. Entsprechend der Antragsschrift des Generalbundesanwalts hat die Angeklagte die beiden Schleusungstaten am 22. März 2005 begangen, wohingegen der verjährungsunterbrechende Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Dresden erst am 26. März 2010 und damit nach Ablauf der für § 332 StGB maßgebenden Verjährungsfrist von fünf Jahren erging (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 3 StGB). Nach Durchführung der genannten pflichtwidrigen Diensthandlungen gemäß zuvor getroffener Unrechtsvereinbarung und nicht ausschließbar zuvor erfolgter Entlohnung war der Angriff auf das Schutzgut des § 332 StGB abgeschlossen und demnach Beendigung eingetreten (vgl. dazu BGH, Urteile vom 19. Juni 2008 - 3 StR 90/08, BGHSt 52, 300, 303 ff., und vom 6. September 2011 - 1 StR 633/10, NStZ 2012, 511, 513). Auf die Geltungsdauer der erteilten Aufenthaltstitel, die allenfalls für das Schutzgut aufenthaltsrechtlicher Strafvorschriften relevant sein könnte, kann es insoweit nicht ankommen.Der Senat hat den Schuldspruch analog § 354 Abs. 1 StPO berichtigt. Der Wegfall des Vorwurfs der Bestechlichkeit lässt die betroffenen Einzelstrafaussprüche und die Gesamtstrafe unberührt. Das gilt schon deswegen, weil die vom Landgericht verhängten Einzelstrafen nicht danach unterscheiden, ob die Angeklagte in unverjährter Zeit zusätzlich ein Amtsdelikt verwirklicht hat.b) Der Schuldspruch wegen (gewerbs- und bandenmäßigen) Einschleusens von Ausländern in Form entgeltlicher Unterstützung von Falschangaben im aufenthaltsrechtlichen Verfahren (§ 96 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 Nr. 2, § 97 Abs. 2 AufenthG bzw. § 92a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 92 Abs. 2 Nr. 2, § 92b Abs. 1 AuslG 1990) hat in den Fällen Bestand, in denen die Angeklagte ausschließlich (Fälle 2 aa, 11 bb, 13 bb, 16 cc und 29) oder innerhalb einer Handlungseinheit neben der Erteilung von Aufenthaltstiteln (Fälle 3 bb, 4 bb, 6 cc, 7 bb, 8 cc, 8 dd, 9 cc, 10 cc, 11 aa, 13 aa, 19 bb, 19 cc, 21 aa, 22 und 30) selbst falsche Angaben gemacht hat. Betroffen sind ganz überwiegend wahrheitswidrige Bestätigungen, dass Scheinehepartner die erforderlichen Erklärungen vorrangig zum Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft persönlich vor ihr abgegeben hätten (Fälle 3 bb, 4 bb, 6 cc, 7 bb, 8 cc, 8 dd, 9 cc, 10 cc, 11 aa, 13 aa, 13 bb, 16 cc, 19 bb, 19 cc, 21 aa, 22 und 30). Teils bestätigte die Angeklagte (zusätzlich) wahrheitswidrig, dass kein Sozialleistungsbezug vorliege (8 dd), dass deutsche Sprachkenntnisse 6 genügend (Fälle 11 bb, 13 bb) oder die Vermögensverhältnisse hinreichend seien (Fall 30).aa) Die Frage, ob der Täter einer Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990), der durch eigene Falschangaben zugleich solche des den Aufenthaltstitel erstrebenden Ausländers oder eines anderen fördert, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (§ 92a Abs. 1 AuslG 1990) wegen Einschleusens von Ausländern verurteilt werden kann, wird nicht einheitlich beurteilt (vgl., wohl befürwortend, Cannawurf, Die Beteiligung im Ausländerstrafrecht, 2007, S. 145, eher ablehnend Mosbacher in GK AufenthG, Stand Juli 2008, § 95 Rn. 260 f.; offen gelassen von OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2004, 376, 378). Der Senat bejaht sie jedenfalls für die vorliegenden Fallkonstellationen.Zwar wird derjenige, der fremdnützig (Erschleichen eines Aufenthaltstitels "für einen anderen") Falschangaben macht, wegen dieser Tat grundsätzlich nicht auch der Beihilfe zur Straftat eines anderen nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) schuldig zu sprechen sein (vgl. Mosbacher aaO). Indessen sieht der Gesetzgeber den Kern des Schleusungsunrechts in entgeltlichen oder wiederholten Beihilfe- und Anstiftungshandlungen. Er hat deswegen in § 96 Abs. 1 AufenthG (§ 92a Abs. 1 AuslG 1990) in selbständigen Tatbeständen die Beteiligung zur Täterschaft erhoben (vgl. BGH, Urteile vom 25. März 1999 - 1 StR 344/98, NStZ 1999, 409; vom 11. Juli 2003 - 2 StR 31/03, NStZ 2004, 45). Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut kommt es dabei darauf an, ob der Täter des § 96 Abs. 1 AufenthG (§ 92a Abs. 1 AuslG 1990) durch seinen Beitrag (gegebenenfalls auch) zu den dort in Bezug genommenen Straftaten Hilfe geleistet oder zu ihnen angestiftet hat. Das hat die Angeklagte in Bezug auf § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) getan, indem sie den Erklärungen der im aufenthaltsrechtlichen Verfahren aufgetretenen Scheinehepartner zum Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Bestätigung deren persönlicher Anwesenheit und damit verbundene Vorspiegelung 8 selbst vorgenommener amtlicher Prüfung höheres Gewicht verliehen hat. Entsprechendes gilt für die anderen Verlautbarungen. Demgegenüber kann im Hinblick auf die Verselbständigung der Schleusungstatbestände nicht ausschlaggebend sein, ob der Betroffene, wenn er nur nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) verurteilt würde, als Teilnehmer oder (auch) als Täter zu bestrafen wäre (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Februar 2005 - 1 StR 501/04). Dass der Gesetzgeber solche "doppelgesichtigen" Handlungen durch eine enge Anknüpfung an die Entscheidung für oder gegen eine Täterschaft hinsichtlich des isoliert betrachteten § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) aus den Schleusungsdelikten ausgrenzen wollte, liegt gänzlich fern. Eine Interpretation in diesem Sinn wäre geeignet, nicht auflösbare Wertungswidersprüche hervorzurufen (insoweit auch OLG Karlsruhe, aaO; Mosbacher, aaO, Rn. 262 sowie § 96 Rn. 2).bb) Das Urteil des Senats vom 4. Dezember 2007 (5 StR 324/07, StV 2008, 182) betrifft einen anders gelagerten Sachverhalt und steht der Entscheidung schon deswegen nicht entgegen. Zu prüfen war dort, ob bei gemeinsamer illegaler Einreise von zwei Ausländern jeder der beiden Ausländer neben seiner Strafbarkeit als Täter einer illegalen Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ohne Weiteres zugleich Gehilfe in Bezug auf die illegale Einreise des anderen ist, mit der Folge, dass bei darüber hinaus verwirklichter Beihilfe zur illegalen Einreise eines weiteren Ausländers durch Übernahme von Verpflegungs- und Unterbringungskosten der Schleusungstatbestand nach § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Fassung des Gesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) - Handeln zugunsten mehrerer Ausländer - verwirklicht wird (BGH, aaO, Rn. 14, 30; abweichend Mosbacher, aaO, § 96 Rn. 2; vgl. auch BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1990 - 1 StR 500/90). Das hat der Senat verneint.c) Die Verurteilung wegen Einschleusens von Ausländern wird auch in den Fällen von den Feststellungen getragen, in denen sich der Beitrag der Angeklagten auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln, das Aufbringen eines 10 Klebers auf Ausweispapieren oder die Zustimmung zu durch Falschangaben erschlichenen Visa (vorgebliche Studienaufenthalte, vorgetäuschte Tätigkeit als Au-Pair-Kraft) beschränkte.Das (abstrakte) Gefährdungsdelikt nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) ist in seiner ersten Fallvariante vollendet, sobald die Falschangaben gemacht sind. Beendigung tritt hingegen frühestens mit der Erteilung des erschlichenen Aufenthaltstitels ein, weil erst ab diesem Zeitpunkt der Angriff auf das von der Vorschrift geschützte Rechtsgut abgeschlossen sein kann (vgl. zur gleichgelagerten Frage beim Subventionsbetrug etwa BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 - 5 StR 467/06, NStZ 2007, 578, 579 mwN). Bis zur Beendigung ist nach ständiger Rechtsprechung Beihilfe möglich. Dass die Handlungsakte der Angeklagten die Haupttaten gefördert haben und fördern sollten, steht außer Zweifel (vgl. zum Subventionsbetrug auch Tiedemann in LK StGB, 12. Aufl., § 264 Rn. 37 f.; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 28. Aufl., § 264 Rn. 49, jeweils mwN). Ob die Angeklagte im Hinblick auf das kollusive Zusammenwirken der Beteiligten den Straftatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) täterschaftlich verwirklicht hat, ist aus den bereits dargelegten Gründen nicht entscheidend.d) Der im Fall 18 bb erteilten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gingen ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 58) falsche Mitteilungen zu einem gesicherten Lebensunterhalt sowie - anspruchsbegründend - zur Ausübung der gemeinsamen Personensorge für das Kind mit dem Scheinvater und damit für das aufenthaltsrechtliche Verfahren allgemein bedeutsame Angaben (BGH, Beschluss vom 2. September 2009 - 5 StR 266/09, BGHSt 54, 140, 146) voraus (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 27 Abs. 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 4 AufenthG; siehe auch OVG Magdeburg, Beschluss vom 25. August 2006 - 2 M 228/06). Ähnliches gilt für Fall 24 bb (UA S. 71). In beiden Fällen muss deshalb nicht entschieden werden, ob - für sich genommen - die Geltendmachung einer allein zur Erlangung eines Aufenthaltstitels erfolg-12 ten und damit missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung den Tatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990) erfüllen würde (vgl. dazu OVG Münster, InfAuslR 2013, 23; OLG Hamm, NJW 2008, 1240; Gericke in MünchKomm-StGB, § 95 AufenthG Rn. 101 mwN).e) Entgegen der Auffassung der Revision ist die Annahme gewerbs- und bandenmäßigen Handelns der Angeklagten W. rechtlich nicht zu beanstanden.aa) Dem Zusammenhang der von den Angeklagten verwirklichten Vielzahl von Taten ist ein arbeitsteiliges und von hoher Professionalität geprägtes deliktisches Verhalten im Rahmen internationaler organisierter Schleuserkriminalität zu entnehmen. Das Ausscheiden des Bandenmitglieds L. aus der Ausländerbehörde im Jahre 2007 hat dabei nur dazu geführt, dass die Angeklagte W. zum Teil in dessen Stellung eingerückt ist, wobei aber L. nach den Feststellungen weiterhin im Hintergrund wirkte.bb) Das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit hat das Landgericht aus der Feststellung abgeleitet, dass das Bandenmitglied T. neben weiterer - für einen längeren Zeitraum, wenngleich in eher gering gewichtigem Umfang von der Angeklagten W. eingeräumter - Vorteilsgewährung dieser im Jahr 2010 mehrfach Geldbeträge bis zu 700 &euro; gezahlt hat. Wenn es hieraus und namentlich auch mit Blick auf die mit den Taten für die Angeklagte W. verbundenen hohen persönlichen Risiken den Schluss zieht, dass diese im gesamten Tatzeitraum gegen tatbestandsrelevante Entlohnung gehandelt hat, so hält sich dies im Rahmen zulässiger richterlicher Überzeugungsbildung.3. Der Generalbundesanwalt weist mit Recht darauf hin, dass das Landgericht über den Fall 25 der Anklage nicht entschieden hat, weswegen dieser Fall nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens ist (vgl. BGH, Be-14 schlüsse vom 11. November 1993 - 4 StR 629/93 - und vom 23. März 2001 - 2 StR 7/01).4. Die Vorschriftenliste ist um das Vergehen des Geheimnisverrats (§ 353b StGB) zu ergänzen.Basdorf Sander Schneider Dölp König
bundesgerichtshof
bgh_83-2002
15.08.2002
3. Strafsenat: Anlocken mit falschen Versprechungen zu „Kaffeefahrten“ ist strafbar Ausgabejahr 2002 Erscheinungsdatum 15.08.2002 Nr. 83/2002 Nr. 83/2002 Ein in der Verkaufsfahrtenbranche tätiger Unternehmer führte Tagesbusreisen mit Verkaufsveranstaltungen durch, auf denen Wolldecken, Porzellanwaren u.ä. verkauft werden sollten. Für jede Fahrt richtete er mindestens 1500 persönlich adressierte Werbeschreiben vorwiegend an ältere, nicht mehr berufstätige Personen. Sechs dieser Fahrten hat die Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen in Oldenburg zum Gegenstand einer Anklage zur Wirtschaftsstrafkammer beim Landgericht Oldenburg gemacht, um eine rechtsgrundsätzliche Entscheidung zur Zulässigkeit bestimmter Werbemethoden zu erlangen. Soweit der Angeklagte bei fünf dieser Fahrten ein "leckeres Mittagessen" versprochen, jedoch nur je eine Konservendose mit Suppe, bzw. mit Brechbohnen zum Mitnehmen verteilen ließ, hat ihn das Landgericht wegen strafbarer Werbung nach § 4 Abs. 1 UWG verurteilt. Dagegen hat es abgelehnt, die Vorspiegelung von erzielten "Topgewinnen" aus angeblich bereits stattgefundenen Verlosungen oder Lotterien, die auf der Reise überreicht werden sollten, als strafbare Werbung zu qualifizieren, weil der erforderliche Zusammenhang zwischen Anpreisung und angebotener Dienstleistung, nämlich der Tagesreise, fehle. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, daß nicht nur das bewußt unwahre und irreführende Versprechen eines "leckeren Mittagessens", sondern auch das der Aushändigung eines angeblichen "Topgewinns" in Zusammenhang mit der angebotenen Tagesbusreise steht. Nur derjenige könne in den Genuß des vermeintlichen Gewinns kommen, der an der Reise teilnehme. Damit werde auch das darin liegende Anlocken vom Tatbestand der strafbaren Werbung nach § 4 Abs. 1 UWG erfaßt. Der Senat hat daher den Freispruch in einem weiteren Fall aufgehoben und den Angeklagten auch insoweit wegen strafbarer Werbung verurteilt. Er hat die Sache zur erneuten Festsetzung der Strafe unter Berücksichtigung des erweiterten Schuldumfangs an das Landgericht zurückverwiesen. Soweit der Angeklagte auch wegen Betrugs verurteilt worden war, weil er bei einem Teil der Werbeschreiben eine 0190-Service-Telefonnummer für nähere Auskünfte angegeben hatte, den Anrufern jedoch keine über den Inhalt der Werbeschreiben hinausgehenden Auskünfte hatte erteilen lassen, hat der Senat das Verfahren eingestellt, weil das Landgericht diesen Sachverhalt, der an sich den Tatbestand des Betrugs erfüllen könnte, nicht ausreichend festgestellt hat. Urteil vom 15. August 2002 – 3 StR 11/02 Karlsruhe, den 15. August 2002 § 4 UWG lautet: Wer in der Absicht, den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurugen, in öffentlichen Bekanntmachungen oder in Mitteilungen, die für einen größeren Kreis von Personen bestimmt sind, über geschäftliche Verhältnisse, insbesondere über die Beschaffenheit, den Ursprung, die Herstellungsart oder die Preisbemessung von Waren, über den Besitz von Auszeichnungen, über den Anlaß oder den Zweck des Verkauf oder über die Menge der Vorräte wissentlich unwahre und zur Irreführung geeignete Angaben macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 3. Strafsenats vom 15.8.2002 - 3 StR 11/02 -
Tenor 1.Das Verfahren wird gemäß § 154 a StPO auf den Vorwurf der strafbaren Werbung beschränkt.2.Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 19. Juli 2001 wird verworfen.3.Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben, a) soweit der Angeklagte im Fall II. 1 der Urteilsgründe freigesprochen wurde; insoweit wird er wegen eines weiteren Falles der strafbaren Werbung verurteilt;b) im gesamten Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen.4.Der Schuldspruch wird dahin klargestellt, daß der Angeklagte der strafbaren Werbung in sechs Fällen schuldig ist.5.Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.Von Rechts wegen. Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten wegen strafbarer Werbung in fünf Fällen (II. 2 bis 6) sowie wegen Betrugs in zwei Fällen (II. 7 und 8) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn vom Vorwurf strafbarer Werbung im Fall II. 1 freigesprochen.I. 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Angeklagte seit Jahren in der Verkaufsfahrtenbranche selbständig tätig. Er organisierte Tagesbusfahrten mit Verkaufsveranstaltungen, die er entweder auf eigene Rechnung durchführte oder an andere Unternehmen gegen Entgelt abgab. Seine Kunden warb er mit selbst verfaßten Schreiben, von denen er pro Busreise mindestens 1.500 Stück versandte. Die bevorzugte Zielgruppe dieser Werbeschreiben bestand aus älteren und nicht berufstätigen Personen.Um die tatsächliche Herkunft der Werbeschreiben und seine Verantwortlichkeit hierfür zu verschleiern, verwendete der Angeklagte wechselnde Phantasienamen und gab unterschiedliche Orte als Absender an. Zudem beauftragte er Ende 1998 einen früheren Mitangeklagten als "Strohmann", der für ihn unter dem Namen einer angeblichen Firma Postfächer anmietete. Diese wurden in der Folgezeit auf den Werbeschreiben des Angeklagten als Zustellanschrift für die dort verwendeten Scheinfirmierungen genannt. Damit erreichte der Angeklagte, daß es den Empfängern der Schreiben fast unmöglich wurde, den Absender und tatsächlichen Reiseveranstalter festzustellen, und daß sich Abmahnungen der Verbraucherschutzverbände an nicht existente Firmen und Personen richteten.Im Fall II. 1 verfaßte der Angeklagte Werbeschreiben für eine Verkaufsfahrt zum Preis von 19,90 DM mit der Überschrift "Jackpot geknackt -Voucher für Herrn/ Frau .....", wobei er den jeweiligen Namen der Empfänger einfügte. Im Text gab er wahrheitswidrig an, der Empfänger habe bei einer Verlosung unter 99 Preisen einen "Topgewinn" erzielt und den "Jackpot" im Wert von 500 DM gewonnen, wobei er den Gewinn auf der Tagesfahrt überreicht bekomme. Der Text war für alle etwa 1.500 angeschriebenen Adressaten gleich. Entgegen der Ankündigung hatte eine Verlosung nicht stattgefunden, vielmehr erhielten alle Reiseteilnehmer einen Reisegutschein im Wert von 500 DM, der aber nur bei der Buchung einer Auslandsreise bei der Firma des Angeklagten eingelöst werden konnte.Im Fall II. 2 versandte der Angeklagte ein entsprechendes Werbeschreiben, versprach jedoch zusätzlich jedem Reisegast "-im Fahrpreis enthalten ein leckeres, reichhaltiges Mittagsmenü, welches man einfach mitnehmen muß". Die Teilnehmer erhielten neben den Kleingeschenken wiederum einen Reisegutschein wie im Fall II. 1 und anstelle des "leckeren, reichhaltigen Mittagsmenüs" eine Konservendose Erbsensuppe zum Mitnehmen.In den Fällen II. 3 bis 6 änderte der Angeklagte die Werbeschreiben dahin ab, daß er anstelle des Gewinns eines "Voucher" vorspiegelte, man habe für den wiederum namentlich angesprochenen Empfänger einen Lotterieschein ausgefüllt, fünf "Richtige" getroffen und werde den Gewinn von 483,10 DM (II. 3, 4), 452,66 DM (II. 5) und 621,74 DM (II. 6) auf der Tagesfahrt in bar auszahlen. Daneben wurde neben kleineren Geschenken ein im Reisepreis von 19,50 DM enthaltenes "leckeres, schmackhaftes Mittagessen" versprochen. Anstelle des versprochenen Gewinns von rund 500 DM wurden den Reisegästen lediglich kleine Geldbeträge zwischen 3 und 10 DM, in einigen Fällen eine Flasche Shampoo im Wert von 2,80 DM ausgehändigt. Statt des Mittagessens erhielten sie wiederum nur eine Konservendose mit Suppe oder Brechbohnen. In den Fällen II. 4 bis 6 hatte der Angeklagte auf die Buchung von Teilnehmern hin eine "Platzbestätigung" übersandt, die auf der Rückseite kleingedruckte Geschäftsbedingungen enthielt, deren Umfang bei der Wiedergabe im Urteil über fünf Schreibmaschinenseiten umfaßt. Unter Nr. 8. b.) ist die Klausel enthalten: "Die Mindestteilnehmerzahl an einer Verlosung/Gewinnspiel/Spielgemeinschaft auf einer Tagesfahrt beträgt 250 Reiseteilnehmer, Bargeldpreise (Lotto, Lotterie) werden ggf. gesplittet."2. Das Landgericht hat die unzutreffenden Angaben zum Mittagessen in den Fällen II. 2 bis 6 als strafbare Werbung nach § 4 Abs. 1 UWG gewertet, während es in dem unwahren Versprechen eines Gewinns keine auf die angebotene Leistung einer Tagesfahrt bezogene unwahre Angabe über geschäftliche Verhältnisse im Sinne des § 4 Abs. 1 UWG gesehen hat. Daher hat es den Angeklagten im Fall II. 1, in dem kein Mittagessen angeboten war, freigesprochen und in den Fällen II. 2 bis 6 die Ankündigung eines Gewinnes nicht dem abgeurteilten Schuldumfang zugrunde gelegt. Unter Fall-Nr. II. 7 und 8 hat das Landgericht den Angeklagten wegen Betrugs in zwei Fällen durch die Einrichtung und den Betrieb von zwei 0190-Telefon-Servicenummern verurteilt, unter denen er Informationen angeboten, aber nicht erteilt habe. Bei der Strafzumessung hat das Landgericht in allen Fällen "zu Gunsten" des Angeklagten das Vorhandensein eines -allerdings vermeidbaren -Verbotsirrtums nach § 17 StGB angenommen und die Strafrahmen nach § 17 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB gemildert.Die Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Sachrüge dagegen, daß das Versprechen eines Gewinnes der Verurteilung wegen strafbarer Werbung nicht zugrunde gelegt und der Angeklagte im Fall II. 1 daher freigesprochen worden ist. Ferner beanstandet sie die Strafmilderung nach § 17 StGB.Der Angeklagte macht mit der Sachrüge geltend, die Feststellung des Landgerichts, er habe entsprechend seiner Absicht in den Fällen II. 7 und 8 den Anrufern keine Informationen von Wert zukommen lassen, sei nicht belegt. Dazu hat er ferner eine Aufklärungsrüge erhoben.Der Senat hat das Verfahren unter Ausscheidung des Vorwurfs des Betrugs auf den Tatbestand der strafbaren Werbung beschränkt. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat er den Freispruch im Fall II. 1 aufgehoben und auch insoweit auf ein Vergehen der strafbaren Werbung durcherkannt, sowie den gesamten Strafausspruch aufgehoben. Die Revision des Angeklagten, die nach der Verfahrensbeschränkung nur noch die strafbare Werbung betrifft, hat er verworfen.II. Strafbare Werbung:1.Die Annahme einer strafbaren Werbung nach § 4 Abs. 1 UWG in den Fällen II. 2 bis 6 hält rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat in der Werbeangabe, die Reisegäste erhielten ein "leckeres, reichhaltiges Mittagsmenü", bzw. ein "leckeres, schmackhaftes Mittagessen", obgleich sie lediglich eine verschlossene Konservendose mit einer Suppe oder mit Brechbohnen zum Mitnehmen ausgehändigt bekommen sollten, mit Recht eine wissentlich unwahre, zur Irreführung geeignete Angabe gesehen, die auch die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 UWG erfüllt. Dies bedarf keiner näheren Begründung.2.Dagegen kann dem Landgericht nicht gefolgt werden, soweit es im Versprechen eines Gewinns keine Angabe über geschäftliche Verhältnisse im Sinne des § 4 Abs. 1 UWG gesehen hat, die den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorruft.a) Die Angaben zu den versprochenen Gewinnen sind wissentlich unwahr. Für das falsche Versprechen der Auszahlung eines größeren Bargeldgewinnes in den Fällen II. 3 bis 6 hat die Strafkammer die Unwahrheit ohne Rechtsfehler selbst festgestellt. Dabei hat sie zutreffend dargelegt, daß die nicht auf dem Werbeschreiben selbst, sondern nur auf der erst später nach der Buchung einer Reise zugesandten "Platzbestätigung" enthaltene Klausel 8. b.) der "Geschäftsbedingungen" dieser Annahme nicht entgegensteht. Denn abgesehen davon, daß es sich um eine Passage eines längeren, sehr klein gedruckten Textes handelte, der sich weitgehend nicht auf die Verhältnisse einer Tagesfahrt bezog, konnte diese nachträgliche Einschränkung die Unwahrheit der Angabe im Werbeschreiben nicht mehr beseitigen (vgl. BGH BB 2000, 1429 f.).Unwahr sind entgegen der Annahme des Landgerichts aber auch die Versprechungen über den Gewinn eines "Voucher" im Wert von 500 DM in den Fällen II. 1 und 2, denn bei den tatsächlich ausgegebenen Gutscheinen, die nur bei Buchung einer Auslandsreise bei der Firma des Angeklagten hätten in Zahlung gegeben werden können, handelte es sich weder um einen Gewinn, noch tatsächlich um einen "Voucher".Das Landgericht hat insoweit festgestellt, daß ein "Voucher" ein Touristik-Gutschein für in voraus bezahlte Leistungen ist. Ein derartiger Gutschein wird nach der (vollständigen) Bezahlung einer bestimmten touristischen Dienstleistung, etwa eines Hotelaufenthalts oder einer Reise, ausgehändigt und berechtigt den Inhaber zur Inanspruchnahme dieser Leistung, ohne daß er dabei weitere Aufzahlungen zu erbringen hätte. Dagegen konnte hier ein Reiseteilnehmer für den "Reisegutschein" allein keine touristische Dienstleistung erhalten, sondern mußte vielmehr erst eine Auslandsreise beim Angeklagten buchen, also eine erhebliche finanzielle Verpflichtung eingehen, um dann auf den Reisepreis diesen Gutschein angerechnet zu bekommen.Es kommt hinzu, daß durch die unwahre Angabe "Topgewinn" dem Empfänger der Eindruck vermittelt wird, er sei ein gegenüber den anderen Teilnehmern einer Verlosung herausgehobener "Glückspilz", was ihn in besonderer Weise veranlassen kann und soll, die angebotene Tagesfahrt zu buchen, um in den Genuß des Gewinnes kommen zu können (vgl. zur Befriedigung ideeller Bedürfnisse des Abnehmers BGH wistra 1987, 221). Zudem wird hierdurch auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein besonders günstiges Angebot vorgetäuscht. Denn ein Interessent wird den tatsächlichen Wert eines solchen Gutscheins höher bewerten, wenn er davon ausgehen kann, allein er -unter einer größeren Anzahl von Teilnehmern -erhalte diese Vergünstigung. Wüßte er dagegen, daß in Wirklichkeit jeder Teilnehmer diesen Rabatt erhält, läge für ihn der Schluß nahe, es handle sich in Wahrheit nicht um einen echten Gewinn, sondern lediglich um einen Scheinrabatt auf eine zuvor entsprechend verteuerte Leistung.b) Die unwahren Angaben sind auch zur Irreführung geeignet. Dies ist bei jeder Angabe der Fall, die einen nicht ganz unbeachtlichen Teil der durch die Werbung angesprochenen Verkehrskreise veranlassen kann, sie für wahr zu halten und dadurch getäuscht zu werden; dabei genügt -ebenso wie bei § 3 UWG -die Gefahr einer Irreführung (BGH BB 1954, 299, 300; Otto in Großkommentar zum UWG, 1992 § 3 Rdn. 34 m. w. N.). Die näheren Ausführungen in den persönlich adressierten Werbeschreiben über die Verlosungen und Lotterieteilnahmen sowie zur Höhe des Gewinns ("krumme" Beträge wie z. B. 462,66 DM) und zur Auszahlung ("garantiert in bar", "darauf unser Wort") vermögen jedenfalls die hier bevorzugt angesprochenen älteren und nicht mehr berufstätigen Personen zu täuschen.c) Die unwahren Angaben betreffen auch geschäftliche Verhältnisse. Der in den §§ 3 und 4 UWG identisch verwendete Begriff der geschäftlichen Verhältnisse ist in einem weiten Sinne zu verstehen und umfaßt alle mit dem Geschäftsbetrieb unmittelbar oder mittelbar in Beziehung stehenden Umstände; lediglich persönliche Verhältnisse des Werbenden ohne Verbindung mit den Belangen des Betriebs u. ä. werden nicht erfaßt (BGHSt 36, 389, 392 m. w. N.). Danach kann nicht zweifelhaft sein, daß Angaben zu Leistungen, die den Empfänger anlocken sollen, die angebotene Werbefahrt zu buchen, auf geschäftliche Verhältnisse bezogen sind. Denn das Versprechen des Gewinns ist maßgeblich für dessen Einschätzung, ob sich die Reise lohnt oder nicht, und damit auch für seine Entscheidung, diese zu buchen.d) Die Angaben zu den angeblichen Gewinnen stehen entgegen der Auffassung des Landgerichts auch in Zusammenhang mit der Leistung, für die geworben wird, wie das schon nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 1 UWG erforderlich ist, wonach die unwahren, zur Irreführung geeigneten Angaben in der Absicht gemacht worden sein müssen, den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurufen (vgl. Otto in Großkommentar zum UWG, 1992 § 4 Rdn. 99).Allerdings ist dieser Zusammenhang in der Rechtsprechung für Fälle verneint worden, in denen Passanten mit schwindelhaften Anpreisungen ("jeder Besucher bekommt 10 DM in bar" OLG Köln, MDR 1964, 1028; Verlosung bei Verkaufsveranstaltung OLG Hamm, WRP 1963, 176 f.) von der Straße in einen Verkaufsraum gelockt wurden. Der Senat kann offen lassen, ob er dieser Rechtsprechung zum schwindelhaften Anlocken mit Geschenken in einen lokalen Verkaufsraum zustimmen würde. Dagegen könnte sprechen, daß zwar kein rechtlicher Zusammenhang zwischen dem Versprechen eines Geschenkes mit der angebotenen Verkaufsware im Sinne einer vertraglichen Gegenleistung, wohl aber ein wirtschaftlicher Zusammenhang besteht. Denn der Unternehmersetzt die Anpreisung von Geschenken als Werbemaßnahme zur Förderung seiner Verkaufstätigkeit ein, aus deren Erlös wiederum die Kosten der Werbung zu finanzieren sind. Umgekehrt liegt nahe, daß ein Interessent die Möglichkeit, ein Geschenk zu erlangen, mit dem Verkaufsangebot zusammen sehen und insgesamt von einem günstigen Angebot ausgehen wird.Auch wenn man der zitierten Rechtsprechung zu lokalen Verkaufsveranstaltungen im Grundsatz folgt, kann indes in dem hier zu beurteilenden Sachverhalt der erforderliche Zusammenhang zwischen der unwahren Werbeangabe und der angebotenen Leistung nicht zweifelhaft sein. Während es dort auf die Frage eines Zusammenhangs zwischen der falschen Anpreisung und der in dem Verkaufsraum angebotenen Ware ankam, wobei der Interessent bei freiem Eintritt das versprochene Geschenk auch dann erhalten sollte, wenn er keinen Einkauf tätigt, muß hier der umworbene Kunde sich erst bereit finden, eine Fahrt mit Verkaufsveranstaltung zu buchen, um in den Genuß des (vermeintlichen) Gewinns zu kommen. Denn das Angebot des Angeklagten hatte eine "Werbefahrt" zum Gegenstand, bei der ein Teilnehmer für den Preis von 19,50 DM, bzw. 19,90 DM neben der Busbeförderung ein Mittagessen (nur Fälle II. 2 bis 6), verschiedene Sachgeschenke und schließlich einen wertvollen Gewinn erhalten sollte. Daß diese Leistungen gerade mit der angebotenen Werbefahrt und nicht mit der Verkaufsveranstaltung verknüpft worden sind, ergibt sich aus den Formulierungen der Werbeschreiben. Dies belegen Wendungen wie "im Fahrpreis enthalten", "als Dankeschön für ihre regelmäßige Teilnahme an unseren Fahrten", "erhalten Sie auf dieser Tagesfahrt" und der abschließenden Bemerkung nach Aufzählung aller Leistungen "Eine tolle Werbefahrt für nur 19,50 DM -wer kann Ihnen das heute noch bieten?" (UA S. 7, 11). Dagegen wird die mit der Fahrt verbundene Verkaufsveranstaltung eher beiläufig als Nebensache mit Hinweisen wie "Die Teilnahme an einer interessanten Produktshow ist kostenlos und jedem freigestellt." (UA S. 13) erwähnt.Die Strafkammer, die insoweit ersichtlich nur auf die Leistung einer Busbeförderung (bloß mit Verköstigung ohne Berücksichtigung der versprochenen Geschenke und eines Gewinnes) wie bei sonstigen rein touristischen Ausflugsfahrten abstellt, wird mit dieser Betrachtung den besonderen, sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergebenden Umständen nicht gerecht. Denn diese sind auch aus der Sicht der umworbenen Teilnehmer dadurch gekennzeichnet, daß sie ein Entgelt -wenn auch nur in geringem Umfang -für die Werbefahrt entrichten und zudem durch ihre Teilnahme dem Unternehmer die Möglichkeit geben, sie im Rahmen einer Verkaufsveranstaltung in besonders intensiver Weise zu bewerben. Dieser wird dadurch in die Lage versetzt, die dort angebotenen Waren mit einem solchen Aufschlag ("zu überhöhten Preisen" -UA S. 5) zu verkaufen, daß neben der Erzielung eines erstrebten Unternehmergewinns auch die Geschenke und sonstigen "kostenlosen" Leistungen finanziert werden können. Daher sind für die Entscheidung des Empfängers eines Werbeschreibens, ob er eine solche Verkaufsfahrt buchen soll, neben dem Ausflugserlebnis auch die angebotenen Zusatzleistungen wie Mittagessen und Geschenke von Bedeutung. Gleiches gilt in besonderem Maße für die versprochene Auskehrung eines angeblich erzielten Gewinnes. Da er nach dem Inhalt der Werbung nur auf der Reise übergeben wird, muß der Teilnehmer diese buchen, um ihn erlangen zu können. Diese erhält damit in seinen Augen auch den Anschein eines ganz besonders günstigen Angebots. Damit ist ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der angebotenen "Werbefahrt" und der Werbeanpreisung gegeben.3. Die Voraussetzungen strafbarer Werbung nach § 4 Abs. 1 UWG sind damit auch hinsichtlich der versprochenen Gewinnausschüttung in den Fällen II. 1 bis 6 gegeben. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen rechtfertigen diese rechtliche Bewertung, wobei nach Sachlage ausgeschlossen werdenkann, daß es bei Anlegung zutreffender rechtlicher Maßstäbe zu anderen, dem entgegenstehenden Feststellungen gelangt wäre. Der Senat entscheidet daher entsprechend § 354 Abs. 1 StPO im Fall II. 1 unter Aufhebung des Teilfreispruchs in der Sache und trifft den Schuldspruch selbst. In den Fällen II. 2 bis 6 erweitert sich der Schuldumfang durch die vorliegende Entscheidung im Hinblick auf die Einbeziehung der Versprechungen eines Gewinnes in den Tatbestand der strafbaren Werbung.4. Der Strafausspruch kann danach auch in den Fällen II. 2 bis 6 keinen Bestand haben. Der neue Tatrichter wird daher über die Strafe insgesamt neu zu befinden haben. Auf die weitere Rüge der Staatsanwaltschaft, das Landgericht habe dem Angeklagten zu Unrecht einen -allerdings vermeidbaren -Verbotsirrtum zugebilligt, kommt es somit nicht an. Auch diese Rüge wäre allerdings begründet:Für eine revisionsrechtliche Überprüfung der Annahme eines Verbotsirrtums fehlt es bereits an einer ausreichenden Darstellung der Einlassung des Angeklagten zur inneren Tatseite. Zur Frage strafbarer Werbung wird lediglich mitgeteilt, er meine, seine Angaben seien "Wort für Wort wahr". Das besagt aber nichts dazu, ob der Angeklagte sein Tun tatsächlich für erlaubt oder verboten hielt. Sofern sich der Angeklagte tatsächlich auf fehlende Unrechtseinsicht berufen haben sollte, wäre eine Auseinandersetzung der Strafkammer mit den dagegen sprechenden Gesichtspunkten erforderlich gewesen; insbesondere die krasse Unrichtigkeit der Angaben über das versprochene Mittagessen und die in Aussicht gestellten Gewinnausschüttungen in Verbindung mit den geschilderten umfangreichen Verschleierungsmaßnahmen lassen die Annahme eines Verbotsirrtums kaum nachvollziehbar erscheinen. Im übrigen steht diese Annahme in Widerspruch zur Feststellung der Strafkammer auf UA S. 43, erhabe das Überschreiten der Grenzen zur strafbaren Werbung "billigend in Kauf genommen". Für die Annahme des Unrechtsbewußtseins genügt es nämlich, daß der Täter bei der Tat mit der Möglichkeit rechnet, Unrecht zu tun, und dies billigend in Kauf nimmt (BGHSt 4, 1, 4; BGH NJW 1996, 1604 f.).III. Betrug:Soweit es die Verurteilung des Angeklagten wegen Betruges, begangen durch den Betrieb der 0190-Telefon-Servicenummern, anbelangt, teilt der Senat den rechtlichen Ausgangspunkt des Landgerichts, wonach der Tatbestand des § 263 StGB erfüllt sein kann, wenn es dem Betreiber lediglich auf das "Abkassieren" ankommt, ohne daß er bereit ist, die in Aussicht gestellten Informationsleistungen zu erbringen (Koblitz in Wabnitz/Janovski, Handbuch des Wirtschafts-und Steuerstrafrechts, 2000, S. 855; vgl. auch OLG Frankfurt NJW-RR 1999, 409). Dies kann auch gegeben sein, wenn sich der Betreiber -wie es die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vorwirft -darauf beschränken will, bereits erteilte Informationen (hier: die in den Werbeschreiben enthaltenen) zu wiederholen, den Anrufenden jedoch Antworten auf die sie wirklich interessierenden Fragen (hier etwa nach dem Top-Gewinn) vorzuenthalten. Indes erlaubt die unzureichende Beweiswürdigung der Strafkammer nicht die revisionsrechtliche Prüfung, ob hier ein solcher Sachverhalt auf ausreichender Tatsachengrundlage festgestellt worden ist. Auch ist nicht festgestellt, ob es Gespräche gegeben hat, in denen Interessenten sich etwa nur an-oder abmelden wollten, in denen mithin eine Information gar nicht begehrt worden war, mit der Folge, daß eine Strafbarkeit wegen vollendeten Betruges ausscheidet. Schließlich ist auch die konkurrenzrechtliche Behandlung als Betrug in zwei selbständigen Fällen rechtsfehlerhaft, da nicht die Vorbereitungshandlung der Einrichtung der Telefonnummern entscheidend ist, sondern die mit den einzelnen Werbeaktionenverbundene Täuschungshandlung, so daß Tateinheit mit den Fällen der strafbaren Werbung gegeben gewesen wäre. Das Urteil müßte daher -auch in den Fällen der Verurteilung nach § 4 UWG -aufgehoben und das Verfahren zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. In der neuen Hauptverhandlung wäre eine möglicherweise umfangreiche Beweiserhebung zum Inhalt und Informationswert der nunmehr bereits länger zurückliegenden Telefongespräche erforderlich, die zu ihrem voraussichtlichen Ertrag nicht im Verhältnis stünde. Deshalb hat der Senat die Verfolgung nach § 154 a StPO beschränkt; die Anwendung von § 154 StPO hätte das Vorliegen selbständiger Taten des Betruges erfordert.Tolksdorf Miebach Winkler RiBGH von Lienen ist durch Urlaub gehindert, zu unterschreiben: RiBGH Becker ist durch Urlaub gehindert, zu unterschreiben:Tolksdorf Tolksdorf Nachschlagewerk: ja BGHSt: nein Veröffentlichung: ja UWG § 4 Abs.1 Zur Strafbarkeit falscher Versprechungen, mit denen zur Teilnahme an entgeltlichen "Kaffeefahrten" gelockt werden soll.
bundesgerichtshof
bgh_12-2004
11.02.2004
XII. Zivilsenat: Zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen Ausgabejahr 2004 Erscheinungsdatum 11.02.2004 Nr. 12/2004 Nr. 12/2004 Der u.a. für Familiensachen zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte die Wirksamkeit eines notariellen Ehevertrages zu beurteilen. Die seit 2001 geschiedenen Parteien hatten 1985 geheiratet. Der 1948 geborene Ehemann ist Unternehmensberater; seine sieben Jahre jüngere Ehefrau hatte vor der Ehe ein Hochschulstudium abgeschlossen und war als Archäologin tätig gewesen. 1988, zwei Jahre nach Geburt ihres ersten und rund ein Jahr vor Geburt ihres zweiten Kindes, vereinbarten sie Gütertrennung, schlossen den Versorgungsausgleich aus und verzichteten wechselseitig auf nachehelichen Unterhalt mit Ausnahme des Unterhalts der Ehefrau wegen Kindesbetreuung. Der Ehemann verpflichtete sich im übrigen, durch laufende Prämienzahlungen für seine Ehefrau auf deren 60. Lebensjahr eine Kapitallebensversicherung mit einer erwarteten Ablaufleistung von rund 172.000 DM zu begründen. Das Oberlandesgericht hat den Ehevertrag unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Inhaltskontrolle von Eheverträgen als unwirksam angesehen und der Klage der Ehefrau auf nachehelichen Unterhalt und Auskunft im Rahmen des Zugewinnausgleichs teilweise stattgegeben. Der Senat hat dieses Urteil, soweit es mit der Revision angefochten ist, aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zwecks neuer Feststellungen zurückverwiesen. Nach Auffassung des Senats steht es Ehegatten grundsätzlich frei, die gesetzlichen Regelungen über den Zugewinn, den Versorgungsausgleich und den nachehelichen Unterhalt ehevertraglich auszuschließen. Allerdings darf der Schutzzweck dieser Regelungen nicht beliebig unterlaufen werden. Die Grenze ist dort zu ziehen, wo die vereinbarte Lastenverteilung der individuellen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse in keiner Weise mehr gerecht wird, weil sie evident einseitig ist und für den belasteten Ehegatten bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe unzumutbar erscheint. Das ist um so eher der Fall, je mehr der Ehevertrag in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift. Insoweit ist eine Abstufung vorzunehmen. Zum Kernbereich gehören in erster Linie der Unterhalt wegen Kindesbetreuung und in zweiter Linie der Alters- und Krankheitsunterhalt, denen der Vorrang vor den übrigen Unterhaltstatbeständen (z.B. Ausbildungs- und Aufstockungsunterhalt) zukommt. Der Versorgungsausgleich steht als vorweggenommener Altersunterhalt auf gleicher Stufe wie dieser selbst und ist daher nicht uneingeschränkt abdingbar. Der Ausschluß des Zugewinnausgleichs schließlich unterliegt - für sich allein genommen - angesichts der Wahlfreiheit des Güterstandes keiner Beschränkung. Der Tatrichter hat daher in einem ersten Schritt gemäß § 138 Abs. 1 BGB eine Wirksamkeitskontrolle des Ehevertrages anhand einer auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses bezogenen Gesamtwürdigung der individuellen Verhältnisse der Ehegatten vorzunehmen, insbesondere also hinsichtlich ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse und ihres geplanten oder bereits verwirklichten Lebenszuschnitts. Das Verdikt der Sittenwidrigkeit wird dabei regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn durch den Vertrag Regelungen aus dem Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts ganz oder jedenfalls zu erheblichen Teilen abbedungen werden, ohne daß dieser Nachteil durch anderweitige Vorteile gemildert oder durch die besonderen Verhältnisse der Ehegatten gerechtfertigt wird. Ergibt diese Prüfung, daß der Ehevertrag unwirksam ist, treten an dessen Stelle die gesetzlichen Regelungen. Andernfalls ist in einem zweiten Schritt im Wege der Ausübungskontrolle (§ 242 BGB) zu prüfen, ob und inwieweit die Berufung auf den Ausschluß gesetzlicher Scheidungsfolgen angesichts der aktuellen Verhältnisse nunmehr mißbräuchlich erscheint und deshalb das Vertrauen des Begünstigten in den Fortbestand des Vertrages nicht mehr schutzwürdig ist. In einem solchen Fall hat der Richter die Rechtsfolge anzuordnen, die den berechtigten Belangen beider Parteien in ausgewogener Weise Rechnung trägt. Der Senat hat die Annahme des Oberlandesgerichts, die von den Eheleuten getroffenen Abreden seien unwirksam, nicht gebilligt. Für einen Verstoß gegen die guten Sitten (§ 138 Abs. 1 BGB, Wirksamkeitskontrolle) fehle es an tatsächlichen Feststellungen, insbesondere was die von den Ehegatten mit der Abrede verfolgten Zwecke, ihre Lebensplanung und ihre sonstigen Beweggründe betreffe. Eine vom Ehemann ausgenutzte Unterlegenheit der Ehefrau sei nicht erkennbar. Für die Zeit der Kinderbetreuung sei der gesetzliche Unterhaltsanspruch der Ehefrau schon nach dem erklärten Parteiwillen nicht ausgeschlossen; für die Zeit nach der Kinderbetreuung könne sich eine - wenn auch nicht notwendig auf den vollen eheangemessenen Unterhalt gerichtete - Unterhaltspflicht des Ehemannes im Wege der Ausübungskontrolle (§ 242 BGB) ergeben. Einer solchen Kontrolle unterliege zwar auch der vereinbarte Ausschluß des Zugewinnausgleichs; die vom Oberlandesgericht hierzu bislang getroffenen Feststellungen rechtfertigten jedoch nicht die Annahme, daß der Ehemann nach § 242 BGB gehindert werde, sich auf die von den Parteien vereinbarte Gütertrennung zu berufen. Urteil vom 11. Februar 2004 - XII ZR 265/02 Karlsruhe, den 11. Februar 2004 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des XII. Zivilsenats vom 11.2.2004 - XII ZR 265/02 -
BundesgerichtshofBGB §§ 138, 242, 1408, 1410, 1585cZur Inhaltskontrolle von Eheverträgen.BGH, Urteil vom 11. 2. 2004 – XII ZR 265/02; OLG München (lexetius.com/2004,458)[1] Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2003 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke, Prof. Dr. Wagenitz und Dr. Ahlt für Recht erkannt:[2] Auf die Revision des Antragstellers wird das Urteil des 4. Zivilsenats – zugleich Familiensenat – des Oberlandesgerichts München, Zivilsenate in Augsburg, vom 1. Oktober 2002 hinsichtlich der Nummern I. 2. und II. des Entscheidungssatzes insgesamt und hinsichtlich der Nummer I. 1. des Entscheidungssatzes insoweit aufgehoben, als der Antragsteller zu Unterhaltszahlungen von mehr als 1.278,23 € monatlich verurteilt worden ist.[3] Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.[4] Wert: 235.365 €.[5] Tatbestand: Die rechtskräftig geschiedenen Parteien streiten über nachehelichen Unterhalt und Ausgleich des Zugewinns.[6] Der 1948 geborene Antragsteller und die 1955 geborene Antragsgegnerin haben am 22. November 1985 miteinander die Ehe geschlossen, aus der die am 24. März 1986 und am 21. Mai 1989 geborenen Kinder M. und V. hervorgegangen sind.[7] Der Antragsteller ist seit 1985 als Unternehmensberater tätig. Die Antragsgegnerin, die in den Fächern alte Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik das Magisterexamen bestanden hat, leitete 1984 und 1985 archäologische Ausgrabungen, gab diese Tätigkeit aber wegen ihrer Schwangerschaft auf. Ihre Absicht, den Doktorgrad zu erwerben, verfolgte sie auf Wunsch ihres Mannes nicht weiter; sie widmete sich dem Haushalt und der Erziehung der Kinder.[8] Am 17. Februar 1988 schlossen die Parteien einen notariellen Ehevertrag. Darin verzichteten sie "für den Fall der Scheidung … gegenseitig auf jegliche … nacheheliche Unterhaltsansprüche, mit Ausnahme des Unterhaltsanspruchs der Ehefrau wegen Kindesbetreuung". Außerdem vereinbarten sie für die Zukunft Gütertrennung. Sie erklärten, daß ein Zugewinn bisher nicht entstanden sei; vorsorglich verzichteten sie wechselseitig auf etwaige bisher entstandene Zugewinnausgleichsansprüche. Den Versorgungsausgleich schlossen sie aus. Den Verzicht der Antragsgegnerin stellten sie dabei unter die Bedingung, daß der Antragsteller spätestens ab Juni 1988 für die Antragsgegnerin eine private Kapitallebensversicherung mit einer Versicherungssumme in Höhe von 80.000 DM auf den Zeitpunkt der Vollendung ihres sechzigsten Lebensjahres mit Rentenwahlrecht abschließen und die Beiträge hierauf während des Bestehens der Ehe laufend zahlen sollte. Im Falle der Scheidung sollte er ihr den dreifachen Jahresbeitrag zu dieser Versicherung in einer Summe als Abfindung bezahlen. Weitere Zahlungen sollte er dann nicht mehr schulden.[9] Am 27. April 1988 wurde für die Antragsgegnerin bei der P. L. eine Kapitallebensversicherung über 80.000 DM abgeschlossen, auf die der Antragsteller in der Folge Zahlungen leistete. Am 13. November 2001, in der Scheidungsverhandlung vor dem Amtsgericht, verpflichtete er sich in Abweichung vom ursprünglichen Vertrag, die Raten fortlaufend bis zum Ablauf der Versicherung am 1. Mai 2015 zu zahlen.[10] Der Antragsteller erzielte nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts "in den letzten Jahren" ein monatliches Einkommen von durchschnittlich 27.000 DM netto aus abhängiger und selbständiger Arbeit. Die Antragsgegnerin betreibt seit 1994 an ihrem Wohnort einen "alternativen" Spielwarenladen, zuletzt zusammen mit einer Postagentur. Ihr monatliches Einkommen aus dieser Tätigkeit beläuft sich – nach ihren Angaben – auf 1.084 DM vor Steuern. Die Parteien bewohnten ein Haus in A. mit einer Wohnfläche von 200 mý auf einem Grundstück von ca. 1. 200 bis 1. 300 mý, das die Parteien vom Bruder des Antragstellers für eine monatliche Gesamtmiete von 2.548 DM gemietet hatten. Die Antragsgegnerin erhielt vom Antragsteller ein monatliches Wirtschaftsgeld von 2.692 DM sowie einen Ausgleich für ihre Mitarbeit in seinem häuslichen Büro von monatlich 500 DM. Im übrigen war der Zuschnitt der ehelichen Lebensverhältnisse, was Kleidung, Einrichtung und sonstige Ausstattung anbelangt, nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts bescheiden.[11] Die Parteien leben seit Februar 1999 dauernd getrennt. Die Kinder haben nach dem übereinstimmenden Willen der Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei der Antragsgegnerin; der Antragsteller zahlt für sie Unterhalt nach der höchsten Stufe der Düsseldorfer Tabelle.[12] Das Amtsgericht hat mit Verbundurteil die Ehe der Parteien geschieden und festgestellt, daß ein Versorgungsausgleich nicht stattfindet. Außerdem hat es den Antragsteller verurteilt, an die Antragsgegnerin 3.671 DM Elementarunterhalt und 1.081 DM Altersvorsorgeunterhalt zu zahlen; die auf weitergehenden Unterhalt sowie die im Rahmen einer Stufenklage auf Auskunft und Zahlung eines Zugewinnausgleichs gerichteten Anträge der Antragsgegnerin hat es abgewiesen. Hinsichtlich des Ausspruchs über die Scheidung und über den Versorgungsausgleich ist das Urteil des Amtsgerichts seit dem 13. April 2002 rechtskräftig.[13] Auf die Berufung der Antragsgegnerin hat das Oberlandesgericht den Antragsteller verurteilt, an die Antragsgegnerin monatlich im voraus Elementarunterhalt in Höhe von 2.897 € sowie Vorsorgeunterhalt in Höhe von 952 € zu zahlen; im übrigen hat es ihre Berufung hinsichtlich des Unterhaltsbegehrens zurückgewiesen. Ebenso hat es die Anschlußberufung des Antragstellers, mit der er sich gegen die 2.500 DM (= 1.278,23 €) monatlich übersteigende Verurteilung zur Unterhaltszahlung wehrte, zurückgewiesen. Hinsichtlich des Zugewinnausgleichs hat es ihn verurteilt, über sein Endvermögen Auskunft zu erteilen, und die Sache im übrigen an das Amtsgericht zurückverwiesen. Mit der zugelassenen Revision wendet sich der Antragsteller gegen das Berufungsurteil, soweit es ihn beschwert.[14] Entscheidungsgründe: Das Rechtsmittel führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.[15] I. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts, dessen Entscheidung in FamRZ 2003, 35 (m. Anm. Bergschneider 39) veröffentlicht ist, steht der Klägerin neben dem Betreuungsunterhalt ein Anspruch auf Aufstockungsunterhalt sowie auf Auskunftserteilung zum Zwecke des Zugewinnausgleichs zu. Der notarielle Vertrag der Parteien vom 17. Februar 1988 schließe diese Ansprüche nicht aus, da er – gemessen an den vom Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen vom 6. Februar 2001 (FamRZ 2001, 343 m. Anm. Schwab 349) und vom 29. März 2001 (FamRZ 2001, 985) genannten Maßstäben – für unwirksam zu erachten sei.[16] Nach diesem Vertrag hätten die Parteien zwar gegenseitig auf jegliche nachehelichen Unterhaltsansprüche mit Ausnahme des Unterhaltsanspruchs der Ehefrau wegen Kindesbetreuung verzichtet. Damit habe der Antragsteller jedoch praktisch kein Recht aufgegeben, da man nicht davon habe ausgehen können, daß er bei einem Vermögen von über einer Million DM und hohen monatlichen Einkünften im Falle der Scheidung unterhaltsbedürftig würde. Die Antragsgegnerin, die demgegenüber über kein Vermögen und – abgesehen von den aus der Bürotätigkeit für den Antragsteller erzielten 500 DM – über kein Einkommen verfügt habe, sei wirtschaftlich völlig vom Antragsteller abhängig gewesen. Gemäß seinem Wunsch habe sie sich der Haushaltsführung gewidmet. Wegen der Betreuung der damals noch nicht ganz zweijährigen Tochter M. und der am 21. Mai 1989 geborenen Tochter V. habe sie praktisch auf Jahre hinaus keine Aussicht gehabt, durch eine Erwerbstätigkeit ihren Unterhalt sicherzustellen. Insgesamt sei die Antragsgegnerin somit durch den weitgehenden Unterhaltsverzicht unangemessen benachteiligt worden, weil ihr – gegenüber dem finanziellen Beitrag des Antragstellers zu den ehelichen Lebensverhältnissen gleichwertiger – Beitrag in Form von Haushaltsführung und Kindesbetreuung für den Fall der Scheidung unberücksichtigt geblieben sei. Ihr sei nicht nur ohne sachlichen Grund die Teilhabe an den ehelichen Lebensverhältnissen genommen worden, die durch den – bei dem monatlichen Nettoeinkommen des Antragstellers von 27.000 DM besonders werthaltigen – Aufstockungsunterhalt gewährleistet werden soll. Ihr sei vielmehr auch das alleinige Risiko aufgebürdet worden, im Alter, bei Krankheit oder bei Arbeitslosigkeit ohne hinreichende Einkünfte auszukommen.[17] Der Ausschluß jeder Unterhaltsberechtigung für diese Fälle sei auch mit dem Wohl der gemeinsamen Kinder nicht vereinbar. Auch wenn der Antragsteller an die Kinder Unterhalt nach der höchsten Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle leiste, bestehe doch die Gefahr, daß die Antragsgegnerin im Falle ihrer Invalidität unter Verhältnissen leben müsse, welche die Entwicklungsmöglichkeit der Kinder weit mehr einschränkten als es den gemeinsamen wirtschaftlichen Verhältnissen entspreche. Die ungenügende Absicherung der Antragsgegnerin für den Fall der Invalidität beruhe insbesondere darauf, daß sie mit ihrem Verzicht auf den Versorgungsausgleich nicht nur mögliche Anwartschaften auf eine Altersrente, sondern auch auf eine Invaliditätsversorgung verloren habe. Dieser Nachteil werde durch die vereinbarte Kapitallebensversicherung bei weitem nicht ausgeglichen, zumal bei Durchführung des Versorgungsausgleichs auf die Antragsgegnerin Rentenanwartschaften in Höhe von 590,94 DM übertragen worden wären. Zur Begründung solcher Rentenanwartschaften im Wege des Einmalbeitrags wäre, bezogen auf den 31. März 2000, ein Betrag von 128.748,74 DM erforderlich gewesen, mithin weit mehr als die für die Antragsgegnerin vereinbarte Versicherungssumme von 80.000 DM. Auch hierin liege eine unangemessene Benachteiligung der Antragsgegnerin, welche den vereinbarten Ausschluß des Versorgungsausgleichs als unwirksam erscheinen lasse, auch wenn die Entscheidung des Amtsgerichts, keinen Versorgungsausgleich durchzuführen, nicht angefochten sei.[18] Auch der vereinbarte Ausschluß des Zugewinnausgleichs sei unwirksam, weil der Antragsteller seine dominierende Situation als Inhaber eines Vermögens und Bezieher eines weit überdurchschnittlichen Einkommens gegenüber der vermögens- und praktisch einkommenslosen Antragsgegnerin zu deren Nachteil ausgenutzt habe. Der Antragsteller habe sich nicht auf die Sicherung seines ererbten Vermögens beschränkt, was angeblich sein Motiv für den Abschluß des Ehevertrags gewesen sei. Er habe vielmehr die Antragsgegnerin, auf deren Seite kein Zugewinn zu erwarten gewesen sei, von der Teilhabe an dem gemeinsam Erwirtschafteten ausgeschlossen. Dadurch sei die Antragsgegnerin insbesondere in ihrer Altersversorgung betroffen worden, da hierfür bei gut verdienenden Personen wie dem Antragsteller erfahrungsgemäß auch mit Hilfe des Vermögens Vorsorge getroffen werde.[19] Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.[20] II. Das Gesetz gibt Ehegatten die Möglichkeit, durch während oder vorsorglich schon vor der Ehe getroffene Vereinbarungen für den Fall einer späteren Scheidung den nachehelichen Unterhalt oder sonstige versorgungs- und güterrechtliche Angelegenheiten verbindlich zu regeln (§ 1408 Abs. 1 und 2, § 1585 c BGB).[21] 1. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats bestand für derartige Vereinbarungen grundsätzlich volle Vertragsfreiheit. Eine besondere Inhaltskontrolle, ob die Regelung angemessen sei, fand – abgesehen von Vereinbarungen nach § 1587 o BGB – nicht statt (Senatsbeschluß vom 2. Oktober 1996 – XII ZB 1/94 – FamRZ 1997, 156, 157; vgl. auch Senatsurteil vom 28. November 1990 – XII ZR 16/90 – FamRZ 1991, 306). Der Verzicht auf nachehelichen Unterhalt berühre nicht einen Kernbereich der Ehe (Senatsurteil vom 24. April 1985 – IVb ZR 22/84 – FamRZ 1985, 788). Auch werde das Wesen der Ehe nicht dadurch mitbestimmt, daß eine "wirtschaftliche Lebensgemeinschaft" entstehe oder daß die Ehegatten bei Auflösung der Ehe an den während ihres Bestehens eingetretenen vermögensrechtlichen Veränderungen beteiligt würden (Senatsurteil vom 24. April 1985 aaO 789).[22] Schranken der Gültigkeit einer solchen Vereinbarung ergäben sich allein aus den §§ 134, 138 BGB. Ob eine Vereinbarung im Einzelfall gegen die guten Sitten verstoße, hänge von ihrem aus Inhalt, Beweggründen und Zweck zu entnehmenden Gesamtcharakter ab, wobei sich aus dem zeitlichen Abstand zu einer nicht beabsichtigten, sondern nur für denkbar gehaltenen Scheidung zusätzliche Gesichtspunkte ergeben könnten (Senatsurteile vom 24. April 1985 aaO und vom 28. November 1990 aaO 307). Es reiche für sich allein nicht aus, daß die Vereinbarung in dem Bestreben abgeschlossen worden sei, sich von sämtlichen nachteiligen Folgen einer Scheidung freizuzeichnen (Senatsurteil vom 28. November 1990 aaO). Auch genüge nicht, daß sich die Regelung ausschließlich oder überwiegend zu Lasten eines der beiden Ehegatten auswirken könne (Senatsbeschluß vom 2. Oktober 1996 aaO 157). Schließlich könne die Sittenwidrigkeit der Abrede auch nicht allein aus dem Umstand hergeleitet werden, daß die vertragschließende Frau von dem Mann schwanger gewesen und dieser die Eheschließung mit ihr von dem Abschluß dieses Vertrags abhängig gemacht habe. Da der Mann, ungeachtet der Schwangerschaft der Frau, von einer Eheschließung hätte absehen und sich auf die rechtlichen Verpflichtungen eines mit der Mutter nicht verheirateten Vaters zurückziehen können, könne von einer zu mißbilligenden Ausnutzung einer Zwangslage der Frau nicht ausgegangen werden (Senatsbeschlüsse vom 18. September 1996 – XII ZB 206/94 – FamRZ 1996, 1536, 1537 und vom 2. Oktober 1996 aaO 157 f.). Allerdings könne ein Unterhaltsverzicht dann den guten Sitten zuwiderlaufen und damit nichtig sein, wenn die Parteien ihre auf der Ehe beruhenden Familienlasten objektiv zum Nachteil der Sozialhilfe geregelt hätten (Senatsurteile BGHZ 86, 82, 88, vom 24. April 1985 aaO 790 und vom 9. Juli 1992 – XII ZR 57/91 – FamRZ 1992, 1403). Dazu bedürfe es nicht unbedingt eines Bewußtseins der Parteien, durch ihre Vereinbarung den Träger der Sozialhilfe zu schädigen; vielmehr könne es bereits genügen, daß sie sich einer solchen Erkenntnis grob fahrlässig verschlossen hätten (Senatsurteil vom 24. April 1985 aaO).[23] Auch sei dem auf Unterhalt in Anspruch genommenen geschiedenen Ehegatten die Berufung auf einen Unterhaltsverzicht des anderen Ehegatten unter Umständen nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt; dies könne namentlich dann der Fall sein, wenn die zur Zeit des Unterhaltsverzichts bestehenden Verhältnisse sich nachträglich so entwickelt hätten, daß überwiegende schutzwürdige Interessen gemeinschaftlicher Kinder der Geltendmachung des Verzichts entgegenstünden (Senatsurteile vom 24. April 1985 – IVb ZR 17/84 – FamRZ 1985, 787 f. und vom 15. Oktober 1986 – IVb ZR 79/85 – FamRZ 1987, 46, 47), mögen die Parteien die dann später tatsächlich eingetretene Entwicklung – nämlich die Scheidung bei fortbestehender Betreuungsbedürftigkeit der Kinder – auch bereits beim Abschluß des Unterhaltsverzichts bedacht haben (Senatsurteil vom 9. Juli 1992 aaO 1404). Die Dauer und Höhe der Unterhaltspflicht sei allerdings in einem solchen Fall insoweit beschränkt, als nicht das Kindeswohl ein Weiterbestehen des Unterhaltsanspruchs gebiete (Senatsurteil vom 28. November 1990 aaO 307, vom 30. November 1994 – XII ZR 226/93 – FamRZ 1995, 291, 292 und vom 16. April 1997 – XII ZR 293/95 – FamRZ 1997, 873, 874). Der Höhe nach stehe dem betreuenden Ehegatten der Unterhaltsanspruch nur insoweit zu, als er, um seinen Betreuungspflichten nachzukommen, darauf zur Deckung seines notwendigen eigenen Lebensbedarfs angewiesen sei; nur wenn besondere Gründe des Kindeswohls dies geböten, sei dem betreuenden Ehegatten mehr als der notwendige Unterhalt zuzubilligen (Senatsurteile vom 9. Juli 1992 aaO 1405, vom 30. November 1994 aaO 291 f. und vom 16. April 1997 aaO 874 f.).[24] 2. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Februar 2001 (aaO) und vom 29. März 2001 (aaO) geben Anlaß, die dargestellte Rechtsprechung zu überprüfen.[25] a) Mit seinem Senatsbeschluß vom 6. Februar 2001 (aaO) hat das Bundesverfassungsgericht an seine Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle von Bürgschaftsverträgen (NJW 1994, 36) und zum entschädigungslosen Wettbewerbsverbot von Handelsvertretern (NJW 1990, 1469) angeknüpft und die dort entwickelten Grundsätze auf Eheverträge und Unterhaltsvereinbarungen übertragen:[26] Danach setze die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie voraus, daß die Voraussetzungen der Selbstbestimmung auch tatsächlich gegeben seien. Der im Vertrag zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Vertragsparteien lasse zwar in der Regel auf einen durch den Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen, den der Staat grundsätzlich zu respektieren habe. Sei jedoch aufgrund einer einseitigen Aufbürdung von vertraglichen Lasten und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner ersichtlich, daß in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht habe, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen könne, sei es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, daß sich für einen Vertragspartner die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehre.[27] Dies gelte auch für Eheverträge, mit denen Eheleute ihre höchstpersönlichen Beziehungen für die Zeit ihrer Ehe oder danach regelten. Art. 6 Abs. 1 GG gebe ihnen hierbei das Recht, ihre jeweilige Gemeinschaft nach innen in ehelicher und familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten. Verfassungsrechtlich geschützt sei allerdings nur eine Ehe, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stünden. Der Staat habe infolgedessen der Freiheit der Ehegatten, ihre ehelichen Beziehungen und wechselseitigen Rechte und Pflichten mit Hilfe von Verträgen zu gestalten, dort Grenzen zu setzen, wo der Vertrag nicht Ausdruck gleichberechtigter Lebenspartnerschaft sei, sondern eine auf ungleichen Verhandlungspositionen basierende einseitige Dominanz eines Ehepartners widerspiegele. Dies sei regelmäßig anzunehmen, wenn eine nichtverheiratete schwangere Frau sich vor die Alternative gestellt sehe, in Zukunft entweder allein für das Kind Sorge zu tragen oder durch Eheschließung den Kindesvater in die Verantwortung einzubinden, wenn auch um den Preis eines mit ihm zu schließenden, sie aber stark belastenden Ehevertrags. Ob ein solcher Vertrag die Frau deutlich mehr belaste als den Mann, hänge wesentlich auch davon ab, welche familiäre Konstellation die Vertragspartner anstrebten und ihrem Vertrag zugrunde legten. Verzichteten Ehepartner etwa gegenseitig auf nacheheliche gesetzliche Unterhaltsansprüche, liege darin bei Ehen, in denen beide Partner einer etwa gleichwertigen Berufstätigkeit nachgingen und sich Haus- und Familienarbeit teilten, keine ungleiche Belastung. Sehe die Lebensplanung der Partner jedoch vor, daß sich in der Ehe einer der beiden unter Aufgabe einer Berufstätigkeit im wesentlichen der Kinderbetreuung und Haushaltsführung widme, benachteilige der Verzicht auf den nachehelichen Unterhalt denjenigen, der sich der Betreuung des Kindes und der Arbeit im Hause gewidmet habe. Je mehr im Ehevertrag gesetzliche Rechte abbedungen oder zusätzliche Pflichten übernommen würden, desto mehr könne sich dieser Effekt einseitiger Benachteiligung verstärken.[28] Es sei Aufgabe der Gerichte, den Inhalt des Vertrags in Fällen gestörter Vertragsparität einer Kontrolle über die zivilrechtlichen Generalklauseln zu unterziehen und gegebenenfalls zur Wahrung beeinträchtigter Grundrechtspositionen eines Ehevertragspartners zu korrigieren. Die Eheschließungsfreiheit stehe einer solchen Inhaltskontrolle nicht entgegen, denn sie rechtfertige nicht die Freiheit zu unbegrenzter Ehevertragsgestaltung und insbesondere nicht eine einseitige ehevertragliche Lastenverteilung. Dementsprechend sei ein Teil des Eherechts herkömmlich zwingendes Recht.[29] b) Während die vorgenannte Senatsentscheidung unmittelbar nur die Wirksamkeit einer vor der Eheschließung getroffenen ehevertraglichen Vereinbarung betraf, in der sich eine Schwangere u. a. verpflichtet hatte, den Ehemann und Kindesvater für den Fall der Scheidung von Unterhaltsansprüchen des erwarteten Kindes teilweise freizustellen, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluß vom 29. März 2001 (aaO) diese Rechtsprechung fortgeführt und eine oberlandesgerichtliche Entscheidung beanstandet, die der Ehefrau nur den notwendigen Betreuungsunterhalt zuerkannt, ihre weitergehenden Anträge auf Unterhalt, Zugewinn- und Versorgungsausgleich aber zurückgewiesen hatte. Die Ehegatten hatten vor der Eheschließung nachehelichen Unterhalt sowie Zugewinn- und Versorgungsausgleich vertraglich ausgeschlossen. Das Oberlandesgericht hätte – so das Bundesverfassungsgericht – die besondere Situation, in der sich die Ehefrau als Schwangere mit schon einem – noch dazu schwerbehinderten – Kind (aus einer anderen Verbindung) bei Vertragsschluß befunden habe und die allein schon ein deutliches Indiz für ihre Unterlegenheit als Vertragspartnerin gewesen sei, zum Anlaß nehmen müssen, den gesamten Vertragsinhalt einer Kontrolle zu unterziehen; dabei hätte es der Frage nachgehen müssen, ob der Ehevertrag die Ehefrau – zumal in ihrer familiären und wirtschaftlich beengten Situation – einseitig und unangemessen belaste.[30] 3. Die Frage, welche Konsequenzen sich aus diesen Entscheidungen für die Beurteilung von Eheverträgen allgemein – also auch in Fällen, in denen die Ehefrau bei Vertragsabschluß nicht schwanger ist – ergeben, wird in der Literatur wie auch in der Fachöffentlichkeit unterschiedlich beantwortet.[31] a) Differenzen bestehen bereits bei der Beurteilung, wann – allgemein – von einer einseitigen Lastenverteilung für den Scheidungsfall gesprochen werden kann.[32] So soll nach einer Auffassung eine solche einseitige Lastenverteilung jedenfalls dann vorliegen, wenn der "Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgensystems" berührt sei. Dazu sollen zumindest diejenigen Regelungen des nachehelichen Unterhalts zählen, die an eine ehebedingte Bedürftigkeit anknüpfen, möglicherweise auch der Versorgungsausgleich, nicht dagegen ohne weiteres auch der Zugewinnausgleich (Dauner-Lieb AcP 200 (2001) 295, 319 f.).[33] Nach einer weiteren Auffassung erfordere das Eheverständnis des BGB keine bestimmte Zuordnung oder Teilhabe auf der Vermögensebene. Auch die eheliche Solidarität verlange keine gegenseitige Vermögensbeteiligung, da diese nicht an Bedarfslagen anknüpfe und somit keine unterhaltsrechtliche Funktion erfüllen solle. Bedenken bestünden jedoch, sobald die Vereinbarung der Gütertrennung mit weiteren Abreden verbunden werde, welche die Versorgungslage gerade desjenigen Ehegatten gefährdeten, der nach geplanter oder gelebter Gestaltung der Verhältnisse "ehebedingt" einer sozialen Sicherstellung besonders bedürfe. Auch ohne eine derartige Kumulierung könne eine güterrechtliche Vereinbarung bedenklich sein, wenn mit ihr nicht nur die künftige Vermögenszuordnung geregelt, sondern auf schon begründete Rechtspositionen verzichtet werde. Der Versorgungsausgleich stehe, obwohl auch er nicht auf Bedarfslagen rekurriere, dem Unterhalt näher als dem Zugewinnausgleich; gleichwohl sei anzunehmen, daß er innerhalb der – hier engeren – gesetzlichen Grenzen der ehevertraglichen Gestaltungsfreiheit unterliege (Schwab DNotZ 2001, 9, 15 ff.).[34] Nach einer dritten Meinung soll die Verantwortung der Ehegatten füreinander (§ 1353 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BGB) zwingendes Recht sein, das zwar dem Selbstverständnis der Beteiligten, nicht aber ehevertraglicher Gestaltung offenstehe (Goebel FamRZ 2003, 1513, 1516).[35] Auf dem Deutschen Familiengerichtstag 2003 hat der Arbeitskreis "Unterhaltsvereinbarungen" zwar einen Unterhaltsverzicht grundsätzlich für zulässig erachtet, nicht aber einen vollen Verzicht auf den Betreuungsunterhalt. Nach dem Votum des Arbeitskreises "Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich" soll ein "Globalverzicht" auf Unterhalt, Zugewinn- und Versorgungsausgleich zwar grundsätzlich möglich, aber nur dann unproblematisch sein, wenn eine hinreichende Absicherung der Alters- und Invaliditätsrisiken bestehe.[36] b) Unterschiedlich wird auch die Bedeutung eingeschätzt, die einem zwischen den Vertragspartnern bestehenden Ungleichgewicht zukommen soll. Zum Teil wird gefolgert, daß eine Unterlegenheit der durch einen Ehevertrag benachteiligten Ehefrau jedenfalls dann zu verneinen sei, wenn diese durch einen Notar über den Inhalt des Vertrags belehrt worden sei und diesen ohne Zeitdruck abgeschlossen habe (Langenfeld DNotZ 2001, 272, 279). Nach anderer Auffassung soll bei besonders ausgeprägter objektiver Benachteiligung eines Ehegatten durch den Ehevertrag eine tatsächliche Vermutung für die Situation der Unterlegenheit dieses Ehegatten sprechen (Schwab DNotZ aaO 15; ähnlich auch der Arbeitskreis "Vereinbarungen zum Versorgungsausgleich" des Deutschen Familiengerichtstags 2003: "widerlegbare Vermutung"). Von dritter Seite wird empfohlen, "sich von der verkrampften Suche nach Ungleichgewichtslagen zu lösen" und die Ehevertragsfreiheit ganz generell im Hinblick auf eine potentielle Einverdienerehe für den Kernbereich des Scheidungsfolgensystems "teleologisch zu reduzieren" (Dauner-Lieb AcP aaO 323; ihr folgend auch Goebel aaO 1518).[37] c) Ausdrücklich offengelassen hat das Bundesverfassungsgericht die Frage, mit welchen Instrumentarien die Fachgerichte die ihnen aufgegebene Inhaltskontrolle umsetzen sollen. Hierzu wird in der Literatur eine Sanktionierung erwogen, die zwischen § 138 Abs. 1 und § 242 BGB nach dem Ausmaß der Benachteiligung differenziert (Schwab FamRZ 2001, 349, 350; ders. DNotZ aaO 17 f.; Bergschneider FamRZ 2001, 1338, 1340; in diese Richtung auch die obengenannten Arbeitskreise des Deutschen Familiengerichtstags 2003). Dabei werden die engen Grenzen betont, die dem Korrektiv des § 138 BGB gezogen seien; zugleich wird auf die mangelnde strukturelle Eignung einer Wirksamkeitskontrolle hingewiesen, die auf vorformulierte, allgemeine Regelungen zugeschnitten sei (Dauner-Lieb aaO 328). § 138 BGB würde mit seiner Nichtigkeitsfolge auch dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs in die Ehevertragsfreiheit nicht gerecht (Goebel aaO 1519). Soweit die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (etwa Bergschneider FamRZ 2003, 376, 378) und der ergänzenden Vertragsauslegung in Betracht gezogen werden, besteht Einigkeit, daß diese Instrumente – unbeschadet ihrer Abgrenzung im einzelnen – versagen, wenn die Vertragsparteien die später eingetretene Entwicklung auch nur für möglich gehalten und dennoch eine bewußt abschließende Regelung getroffen hätten; genau dies werde aber bei ehevertraglich vereinbarten Verzichten vielfach der Fall sein (Dauner-Lieb aaO 326 f.). Empfohlen wird deshalb vielfach eine Ausübungskontrolle, die der Bundesgerichtshof schon bisher – wie dargelegt – unter Berufung auf § 242 BGB zur Abmilderung der harten Konsequenzen einer grundsätzlich "vollen Ehevertragsfreiheit" genutzt hat (Goebel aaO 1519 f., Grziwotz FF 2001, 41, 44; Schervier MittBayNot 2001, 213, 214). Dabei wird jedoch zum Teil eine Ausdehnung des Instituts der Ausübungskontrolle gefordert: So solle sich die Ausübungskontrolle auch auf Fallkonstellationen erstrecken, in denen ein Ehevertrag keine Belastung Dritter – etwa gemeinsamer Kinder – bewirke, sondern nur einen der Ehegatten selbst einseitig und unangemessen benachteilige. Außerdem solle die Ausübungskontrolle auch Benachteiligungen eines Ehegatten erfassen, die sich aufgrund von Umständen verwirklichten, die bei Vertragsschluß bereits absehbar gewesen seien und – weil vom ursprünglichen Parteiwillen gedeckt – die Berufung auf die vertragliche Abrede nach bisherigem Verständnis nicht ohne weiteres als rechtsmißbräuchlich erscheinen ließen (Dauner-Lieb aaO 328 f.).[38] III. Nach Auffassung des Senats läßt sich nicht allgemein und für alle denkbaren Fälle abschließend beantworten, unter welchen Voraussetzungen eine Vereinbarung, durch welche Ehegatten ihre unterhaltsrechtlichen Verhältnisse oder ihre Vermögensangelegenheiten für den Scheidungsfall abweichend von den gesetzlichen Vorschriften regeln, unwirksam ist (§ 138 BGB) oder die Berufung auf alle oder einzelne vertragliche Regelungen unzulässig macht (§ 242 BGB). Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtschau der getroffenen Vereinbarungen, der Gründe und Umstände ihres Zustandekommens sowie der beabsichtigten und verwirklichten Gestaltung des ehelichen Lebens. Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:[39] 1. Die gesetzlichen Regelungen über nachehelichen Unterhalt, Zugewinn und Versorgungsausgleich unterliegen grundsätzlich der vertraglichen Disposition der Ehegatten; einen unverzichtbaren Mindestgehalt an Scheidungsfolgen zugunsten des berechtigten Ehegatten kennt das geltende Recht nicht.[40] a) Zwar hat der Gesetzgeber dem in § 1569 BGB verankerten Grundsatz der nachehelichen unterhaltsrechtlichen Eigenverantwortung eines jeden Ehegatten ein nahezu lückenloses System von Unterhaltsansprüchen gegenübergestellt, die den Schutz des sozial schwächeren Ehegatten nach der Scheidung sichern und insbesondere ehebedingte Nachteile ausgleichen sollen, die er um der Ehe oder der Kindererziehung willen in seinem eigenen beruflichen Fortkommen und dem Aufbau einer entsprechenden Altersversorgung erlitten hat. Andererseits hat er in den §§ 1353, 1356 BGB das – grundgesetzlich geschützte, vgl. Art. 6 GG – Recht der Ehegatten verbürgt, ihre eheliche Lebensgemeinschaft eigenverantwortlich und frei von gesetzlichen Vorgaben entsprechend ihren individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Die auf die Scheidungsfolgen bezogene Vertragsfreiheit ist insoweit eine notwendige Ergänzung dieses verbürgten Rechts und entspringt dem legitimen Bedürfnis, Abweichungen von den gesetzlich geregelten Scheidungsfolgen zu vereinbaren, die zu dem individuellen Ehebild der Ehegatten besser passen. So können etwa Lebensrisiken eines Partners, wie sie z. B. in einer bereits vor der Ehe zutage getretenen Krankheit oder in einer Ausbildung angelegt sind, die offenkundig keine Erwerbsgrundlage verspricht, von vornherein aus der gemeinsamen Verantwortung der Ehegatten füreinander herausgenommen werden. Auch der Gedanke der nicht allein auf die Ehezeit beschränkten ehelichen Solidarität – und zwar auch in der bloß programmatischen und in seinen Konturen unscharfen Ausformung des 1998 mit dem Eheschließungsrecht eingeführten § 1353 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BGB, der eine gegenseitige Verantwortung der Ehegatten füreinander vorgibt (vgl. dazu Wagenitz, Festschrift für Rolland 1999, 379, 381 f.) – ist weder dazu bestimmt noch geeignet, unterhaltsrechtliche Pflichten, in denen sich die nacheheliche Solidarität konkretisiert, als zwingendes, der Disposition der Parteien entzogenes Recht zu statuieren (so aber wohl Goebel aaO S. 1516). § 1585 c BGB enthält dementsprechend auch keine Einschränkung in Richtung eines unverzichtbaren Mindestgehalts an Rechten.[41] b) Der Zugewinnausgleich ist weniger Ausfluß nachehelicher Solidarität als Ausdruck einer Teilhabegerechtigkeit, die zwar im Einzelfall ehebedingte Nachteile ausgleichen kann, in ihrer Typisierung aber weit über dieses Ziel hinausgreift und nicht zuletzt deshalb von § 1408 Abs. 1 BGB der Disposition der Ehegatten unterstellt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in anderem Zusammenhang verdeutlicht, daß Leistungen, die Ehegatten im gemeinsamen Unterhaltsverband für die eheliche Gemeinschaft erbringen, unabhängig von ihrer ökonomischen Bewertung gleichgewichtig sind und daß deshalb beide Ehegatten grundsätzlich auch Anspruch auf gleiche Teilhabe am gemeinsam Erwirtschafteten haben (BVerfG FamRZ 2002, 527, 529). Diese fiktive Gleichgewichtung schließt jedoch die Möglichkeit der Ehegatten, ihrer individuell vereinbarten Arbeitsteilung oder einer evident unterschiedlichen ökonomischen Bewertung ihrer Beiträge in der Ehe durch eine vom Gesetz abweichende einvernehmliche Regelung angemessen Rechnung zu tragen, nicht aus. Auch bleibt es ihnen unbenommen, im Einzelfall als unbillig empfundenen Ergebnissen des gesetzlichen Güterstandes – etwa im Hinblick auf Wertsteigerungen des Anfangsvermögens – durch die vom Gesetz eröffnete Wahl der Gütertrennung zu begegnen.[42] c) Diese Überlegungen gelten – jedenfalls im Grundsatz – auch für den Versorgungsausgleich, der sich zwar seiner Zielrichtung nach als ein vorweggenommener Altersunterhalt verstehen läßt, andererseits aber dem Mechanismus des Zugewinnausgleichs nachgebildet ist. § 1408 Abs. 2 BGB erlaubt deshalb ausdrücklich ehevertragliche Modifikationen auch des Versorgungsausgleichs bis hin zu seinem gänzlichen Ausschluß, die allerdings unwirksam werden, wenn ein Ehegatte binnen Jahresfrist die Scheidung beantragt. Auch im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Scheidung können die Ehegatten gemäß § 1587 o BGB Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich treffen. Diese bedürfen dann allerdings der familiengerichtlichen Genehmigung nach § 1587 o Abs. 2 BGB und erfordern eine richterliche Inhaltskontrolle, die auch die Unterhaltsregelung und die Vermögensauseinandersetzung berücksichtigen und auf einen nach Art und Höhe angemessenen Ausgleich unter den Ehegatten Bedacht nehmen muß.[43] 2. Die grundsätzliche Disponibilität der Scheidungsfolgen darf indes nicht dazu führen, daß der Schutzzweck der gesetzlichen Regelungen durch vertragliche Vereinbarungen beliebig unterlaufen werden kann. Das wäre der Fall, wenn dadurch eine evident einseitige und durch die individuelle Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse nicht gerechtfertigte Lastenverteilung entstünde, die hinzunehmen für den belasteten Ehegatten – bei angemessener Berücksichtigung der Belange des anderen Ehegatten und seines Vertrauens in die Geltung der getroffenen Abrede – bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe unzumutbar erscheint. Die Belastungen des einen Ehegatten werden dabei um so schwerer wiegen und die Belange des anderen Ehegatten um so genauerer Prüfung bedürfen, je unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Regelungen in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift.[44] a) Zu diesem Kernbereich gehört in erster Linie der Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB), der schon im Hinblick auf seine Ausrichtung am Kindesinteresse nicht der freien Disposition der Ehegatten unterliegt. Freilich ist auch er nicht jeglicher Modifikation entzogen. So lassen sich immerhin Fälle denken, in denen die Art des Berufs es der Mutter erlaubt, Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren, ohne daß das Kind Erziehungseinbußen erleidet. Auch erscheint eine ganztägige Betreuung durch die Mutter nicht als unabdingbare Voraussetzung für einen guten Erziehungserfolg, so daß sich Ehegatten auch darüber verständigen könnten, ab einem bestimmten Kindesalter Dritte zur Betreuung heranzuziehen, um einen möglichst frühen Wiedereintritt der Mutter in das Berufsleben zu ermöglichen.[45] Bei der Ausrichtung am Kernbereich der Scheidungsfolgen wird man im übrigen für deren Disponibilität eine Rangabstufung vornehmen können, die sich in erster Linie danach bemißt, welche Bedeutung die einzelnen Scheidungsfolgenregelungen für den Berechtigten in seiner jeweiligen Lage haben. So ist die Absicherung des laufenden Unterhaltsbedarfs für den Berechtigten in der Regel wichtiger als etwa der Zugewinn- oder der spätere Versorgungsausgleich. Innerhalb der Unterhaltstatbestände wird – nach dem Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB) – dem Krankheitsunterhalt (§ 1572 BGB) und dem Unterhalt wegen Alters (§ 1571 BGB) Vorrang zukommen. Zwar knüpfen diese beiden letzteren Unterhaltstatbestände nicht an ehebedingte Nachteile an. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie nicht zum Kernbereich der gesetzlichen Scheidungsfolgenregelung gehören und der uneingeschränkten Disposition der Ehegatten unterstehen. Gerade indem das Gesetz sich hier mit einem bloß zeitlichen Zusammenhang mit der Ehe begnügt, mißt es diesen Einstandspflichten als Ausdruck nachehelicher Solidarität besondere Bedeutung bei – was freilich einen Verzicht nicht generell ausschließt, etwa wenn die Ehe erst nach Ausbruch der Krankheit oder im Alter geschlossen wird. Die Unterhaltspflicht wegen Erwerbslosigkeit (§ 1573 BGB) erscheint demgegenüber nachrangig, da das Gesetz das Arbeitsplatzrisiko ohnehin auf den Berechtigten verlagert, sobald dieser einen nachhaltig gesicherten Arbeitsplatz gefunden hat (§ 1573 Abs. 4; vgl. auch § 1573 Abs. 5 BGB). Ihr folgen Krankenvorsorge- und Altersvorsorgeunterhalt (§ 1578 Abs. 2 1. Variante, Abs. 3 BGB). Am ehesten verzichtbar erscheinen Ansprüche auf Aufstockungs- und Ausbildungsunterhalt (§ 1573 Abs. 2, § 1575 BGB), da diese Unterhaltspflichten vom Gesetz am schwächsten ausgestaltet und nicht nur der Höhe (vgl. § 1578 Abs. 1 Satz 2 BGB), sondern auch dem Grunde nach zeitlich begrenzbar sind (§ 1573 Abs. 5, § 1575 Abs. 1 Satz 2 BGB).[46] b) Auf derselben Stufe wie der Altersunterhalt rangiert der Versorgungsausgleich. Als vorweggenommener Altersunterhalt steht er vertraglicher Disposition nur begrenzt offen. Vereinbarungen über ihn müssen deshalb nach denselben Kriterien geprüft werden wie ein vollständiger oder teilweiser Unterhaltsverzicht. Als Teilhabe an dem in der Ehe erworbenen Versorgungsvermögen ist der Versorgungsausgleich andererseits aber auch dem Zugewinnausgleich verwandt; das mag – jedenfalls bei deutlich gehobenen Versorgungsverhältnissen – eine weitergehende Dispositionsbefugnis rechtfertigen.[47] c) Der Zugewinnausgleich erweist sich ehevertraglicher Disposition am weitesten zugänglich. Das Eheverständnis erfordert, worauf Schwab (aaO S. 16) mit Recht hingewiesen hat, keine bestimmte Zuordnung des Vermögenserwerbs in der Ehe. Die eheliche Lebensgemeinschaft war und ist – auch als gleichberechtigte Partnerschaft von Mann und Frau – nicht notwendig auch eine Vermögensgemeinschaft. Auch die vom Bundesverfassungsgericht (FamRZ 2002 aaO S. 529) – für das Recht des nachehelichen Unterhalts – betonte Gleichgewichtigkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit hat keine bestimmte Strukturierung der ehelichen Vermögenssphäre zur Folge. Wie § 1360 Satz 2 BGB (vgl. auch § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB) verdeutlicht, sind nicht etwa das Erwerbseinkommen des einen und die Haushaltsführung des anderen Ehegatten einander gleichwertig. Für die Erfüllung des Anspruchs auf Familienunterhalt gleiches Gewicht haben nur die Unterhaltsbeiträge, welche die Ehegatten aus ihrem Erwerbseinkommen oder als Familienarbeit erbringen (BVerfG FamRZ 2002 aaO; so auch Gernhuber/Coester-Waltjen Lehrbuch des Familienrechts 4. Aufl. § 34 I 5 S. 495, insbes. Fußn. 4). Zwar sieht der gesetzliche Güterstand eine gleiche Teilhabe der Ehegatten am gemeinsam erwirtschafteten Vermögen vor. Dem liegt die typisierende Vorstellung zugrunde, daß die Ehegatten in ökonomisch gleichwertiger Weise zur Vermögensbildung beitragen. Diese – nur fiktive – Gleichwertigkeit hindert die Ehegatten jedoch nicht, durch Modifizierung oder Abwahl des Regelgüterstandes ihre interne Vermögensordnung einvernehmlich an die individuellen Verhältnisse ihrer konkret beabsichtigten oder gelebten Eheform anzupassen und dabei auch eigene ökonomische Bewertungen an die Stelle der gesetzlichen Typisierung zu setzen. Schließlich fordert auch das Gebot ehelicher Solidarität keine wechselseitige Vermögensbeteiligung der Ehegatten: Deren Verantwortung füreinander (§ 1353 Abs. 1 Satz 2 2. Halbs. BGB) tritt bei konkreten und aktuellen Versorgungsbedürfnissen auf den Plan; ihr trägt – wie gezeigt – das geltende Unterhaltsrecht Rechnung. Das geltende Güterrecht knüpft demgegenüber nicht an Bedarfslagen an; die vom Regelgüterstand verfolgte Gewinnbeteiligung hat keine unterhaltsrechtlichen Funktionen (Schwab aaO). Zwar wird bei einer Gesamtschau die Versorgungslage des nicht- oder nicht voll erwerbstätigen Ehegatten im Einzelfall auch durch das Ehevermögensrecht mitbestimmt. Grob unbillige Versorgungsdefizite, die sich aus den für den Scheidungsfall getroffenen Absprachen der Ehegatten ergeben, sind jedoch vorrangig im Unterhaltsrecht – weil bedarfsorientiert – und allenfalls hilfsweise durch Korrektur der von den Ehegatten gewählten Vermögensordnung zu kompensieren.[48] 3. Ob aufgrund einer vom gesetzlichen Scheidungsfolgenrecht abweichenden Vereinbarung eine evident einseitige Lastenverteilung entsteht, die hinzunehmen für den belasteten Ehegatten unzumutbar erscheint, hat der Tatrichter zu prüfen. Diese Aufgabe wird nicht dadurch obsolet, daß der belastete Ehegatte durch einen Notar hinreichend über den Inhalt und die Konsequenzen des Vertrages belehrt wurde (a. A. Langenfeld aaO), zumal eine solche Überprüfung und Belehrung ohnehin nur bei Vereinbarungen in notarieller Form stattfindet, wie sie von § 1408 Abs. 1 i. V. mit § 1410, § 1587 o Abs. 2 Satz 1 BGB vorgeschrieben wird, nicht dagegen bei Unterhaltsvereinbarungen, die – was § 1585 c BGB zuläßt – privatschriftlich oder formlos getroffen werden.[49] a) Der Tatrichter hat dabei zunächst – im Rahmen einer Wirksamkeitskontrolle – zu prüfen, ob die Vereinbarung schon im Zeitpunkt ihres Zustandekommens offenkundig zu einer derart einseitigen Lastenverteilung für den Scheidungsfall führt, daß ihr – und zwar losgelöst von der künftigen Entwicklung der Ehegatten und ihrer Lebensverhältnisse – wegen Verstoßes gegen die guten Sitten die Anerkennung der Rechtsordnung ganz oder teilweise mit der Folge zu versagen ist, daß an ihre Stelle die gesetzlichen Regelungen treten (§ 138 Abs. 1 BGB). Erforderlich ist dabei eine Gesamtwürdigung, die auf die individuellen Verhältnisse beim Vertragsschluß abstellt, insbesondere also auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse, den geplanten oder bereits verwirklichten Zuschnitt der Ehe sowie auf die Auswirkungen auf die Ehegatten und auf die Kinder. Subjektiv sind die von den Ehegatten mit der Abrede verfolgten Zwecke sowie die sonstigen Beweggründe zu berücksichtigen, die den begünstigten Ehegatten zu seinem Verlangen nach der ehevertraglichen Gestaltung veranlaßt und den benachteiligten Ehegatten bewogen haben, diesem Verlangen zu entsprechen. Das Verdikt der Sittenwidrigkeit wird dabei regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn durch den Vertrag Regelungen aus dem Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts ganz oder jedenfalls zu erheblichen Teilen abbedungen werden, ohne daß dieser Nachteil für den anderen Ehegatten durch anderweitige Vorteile gemildert oder durch die besonderen Verhältnisse der Ehegatten, den von ihnen angestrebten oder gelebten Ehetyp oder durch sonstige gewichtige Belange des begünstigten Ehegatten gerechtfertigt wird.[50] b) Soweit ein Vertrag danach Bestand hat, muß der Richter sodann – im Rahmen der Ausübungskontrolle – prüfen, ob und inwieweit ein Ehegatte die ihm durch den Vertrag eingeräumte Rechtsmacht mißbraucht, wenn er sich im Scheidungsfall gegenüber einer vom anderen Ehegatten begehrten gesetzlichen Scheidungsfolge darauf beruft, daß diese durch den Vertrag wirksam abbedungen sei (§ 242 BGB). Dafür sind nicht nur die Verhältnisse im Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend. Entscheidend ist vielmehr, ob sich nunmehr – im Zeitpunkt des Scheiterns der Lebensgemeinschaft – aus dem vereinbarten Ausschluß der Scheidungsfolge eine evident einseitige Lastenverteilung ergibt, die hinzunehmen für den belasteten Ehegatten auch bei angemessener Berücksichtigung der Belange des anderen Ehegatten und seines Vertrauens in die Geltung der getroffenen Abrede sowie bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe unzumutbar ist. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die tatsächliche einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse von der ursprünglichen, dem Vertrag zugrundeliegenden Lebensplanung grundlegend abweicht. Nacheheliche Solidarität wird dabei ein Ehegatte regelmäßig nicht einfordern können, wenn er seinerseits die eheliche Solidarität verletzt hat; soweit ein angemessener Ausgleich ehebedingter Nachteile in Rede steht, werden dagegen Verschuldensgesichtspunkte eher zurücktreten. Insgesamt hat sich die gebotene Abwägung an der Rangordnung der Scheidungsfolgen zu orientieren: Je höherrangig die vertraglich ausgeschlossene und nunmehr dennoch geltend gemachte Scheidungsfolge ist, um so schwerwiegender müssen die Gründe sein, die – unter Berücksichtigung des inzwischen einvernehmlich verwirklichten tatsächlichen Ehezuschnitts – für ihren Ausschluß sprechen.[51] Hält die Berufung eines Ehegatten auf den vertraglichen Ausschluß der Scheidungsfolge der richterlichen Rechtsausübungskontrolle nicht stand, so führt dies im Rahmen des § 242 BGB noch nicht zur Unwirksamkeit des vertraglich vereinbarten Ausschlusses. Auch wird dadurch nicht notwendig die vom Gesetz vorgesehene, aber vertraglich ausgeschlossene Scheidungsfolge in Vollzug gesetzt.[52] Der Richter hat vielmehr diejenige Rechtsfolge anzuordnen, die den berechtigten Belangen beider Parteien in der nunmehr eingetretenen Situation in ausgewogener Weise Rechnung trägt. Dabei wird er sich allerdings um so stärker an der vom Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge zu orientieren haben, je zentraler diese Rechtsfolge im Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts angesiedelt ist.[53] IV. Die angefochtene Entscheidung wird den dargestellten Anforderungen an die richterliche Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle unterhaltsrechtlicher oder ehevertraglicher Vereinbarungen nicht gerecht.[54] 1. Das Oberlandesgericht hat den Vertrag insgesamt als unwirksam angesehen, weil die Antragsgegnerin auf die Unterhaltsansprüche aus den §§ 1571 bis 1576 BGB, auf Zugewinn- und Versorgungsausgleich verzichtet habe und damit eine unangemessene, einseitig zu ihren Lasten gehende Regelung getroffen worden sei. Daß die Parteien den Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB bestehen gelassen haben, ändere an dieser Beurteilung nichts, da es sich dabei nur um den Mindestunterhalt handele, der einem erziehenden Elternteil im Interesse der betreuungsbedürftigen Kinder nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ohnehin nach § 242 BGB zu belassen sei.[55] Diese Auffassung des Oberlandesgerichts wird von den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht getragen. Eine solche Unwirksamkeit könnte sich, wie ausgeführt, nur aus § 138 Abs. 1 BGB – im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der vereinbarten Regelungen – ergeben (Wirksamkeitskontrolle). Die Voraussetzungen eines Verstoßes gegen die guten Sitten sind jedoch weder dargelegt noch sonst ersichtlich.[56] a) Welche Gründe die Parteien zum Abschluß ihrer Vereinbarung veranlaßt haben, ist nicht erkennbar. Insbesondere ist nicht festgestellt, welche Motive die Antragsgegnerin bewogen haben, vertraglich auf einen Teil der ihr für den Fall einer etwaigen Scheidung zustehenden Rechte zu verzichten. Das Oberlandesgericht geht von einer Unterlegenheit der Antragsgegnerin beim Vertragsschluß aus, die der Antragsteller mißbraucht habe. Angesichts der Beschränkung des § 138 Abs. 1 BGB auf gravierende Verletzungen der sittlichen Ordnung fehlt für eine solche Einschätzung bereits die tatsächliche Grundlage. Die Antragsgegnerin war beim Vertragsschluß bereits seit mehr als zwei Jahren mit dem Antragsteller verheiratet und nicht erneut schwanger. Sie verfügte über eine akademische Ausbildung, die sie bereits erfolgreich beruflich genutzt hatte; die mit der Geburt ihres (ersten) Kindes einhergegangene Unterbrechung ihrer Berufsausübung lag wenig mehr als zwei Jahre zurück. Eine völlige wirtschaftliche Abhängigkeit der Antragsgegnerin vom Antragsteller, wie sie das Oberlandesgericht seiner Beurteilung zugrunde legt, ist damit noch nicht dargetan. Der vom Oberlandesgericht hervorgehobene Umstand, daß die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft auf Wunsch des Antragstellers eine von ihr angestrebte Promotion nicht betrieben hat, ist für die Frage der Sittenwidrigkeit ihres Verzichts auf gesetzliche Scheidungsfolgen ohne Belang. Das gilt auch für die gute Einkommens- und Vermögenslage des Antragstellers, auf die das Oberlandesgericht abhebt, ohne sie allerdings für den Zeitpunkt des Vertragsschlusses festzustellen. Insbesondere läßt sich aus der günstigen finanziellen Situation des Antragstellers keine Zwangslage der Antragsgegnerin herleiten, die sie veranlaßt haben könnte, sich auf einen teilweisen Verzicht der ihr vom Gesetz für den Scheidungsfall eingeräumten und gerade bei überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen – wie das Oberlandesgericht ausführt – besonders "werthaltigen" Rechte einzulassen.[57] b) Auch der objektive Gehalt der von den Parteien getroffenen notariellen Vereinbarung vermag nach den bisherigen Feststellungen den Vorwurf eines Verstoßes gegen die guten Sitten nicht zu begründen.[58] Denn der unmittelbare Kernbereich der gesetzlichen Scheidungsfolgen wird von der Vereinbarung nicht tangiert. Vielmehr haben die Parteien den Unterhalt insoweit nicht abbedungen, als "ein Unterhaltsanspruch der Ehefrau wegen Kinderbetreuung" in Frage steht. Diese Regelung sollte im übrigen – nach der vom Oberlandesgericht unterlassenen und vom Senat daher nachzuholenden Auslegung der Vereinbarung – nicht nur den Anspruch erfassen, der sich im Falle ganztätig notwendiger Kinderbetreuung allein aus § 1570 BGB ergibt. Vielmehr war – nach rechtem Verständnis – auch der Anspruch auf Aufstockungsunterhalt gemäß § 1573 Abs. 2 BGB umfaßt, der neben den Teilanspruch aus § 1570 BGB tritt, wenn einem Ehegatten wegen fortschreitenden Alters der Kinder eine Teilerwerbstätigkeit obliegt. Nach der Rechtsprechung des Senats (Senatsurteil vom 13. Dezember 1989 – IVb ZR 79/89 – FamRZ 1990, 492, 493 f.) reicht in diesem Fall der Unterhaltsanspruch aus § 1570 BGB nur soweit, wie die Kindesbetreuung einen Ehegatten an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit hindert. Soweit der ihm hiernach zustehende Unterhalt aus § 1570 BGB zusammen mit dem Einkommen aus einer Teilerwerbstätigkeit zur Deckung seines vollen Unterhalts nach den ehelichen Lebensverhältnissen (§ 1578 BGB) nicht ausreicht, kommt ein zusätzlicher Aufstockungsunterhalt nach § 1573 Abs. 2 BGB in Betracht. Es kann hier nicht davon ausgegangen werden, daß die Parteien der Antragsgegnerin nur denjenigen Unerhaltsteilanspruch belassen wollten, der sich unmittelbar aus § 1570 BGB herleiten läßt, zumal diese Differenzierung vom Senat erst nach Vertragsschluß entwickelt worden ist. Nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Vereinbarung sollte vielmehr der Unterhaltsverzicht der Antragsgegnerin auf die Zeit nach dem Wegfall jeglicher Kindesbetreuung beschränkt werden. Für die Zeit der vollen oder teilweisen Betreuungsbedürftigkeit der Kinder sollte sie dagegen Unterhalt nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften verlangen können, und zwar gleichgültig, ob er unmittelbar nur auf § 1570 BGB oder teilweise auch auf § 1573 Abs. 2 BGB beruht. Auch der Höhe nach ergibt sich aus der Vereinbarung keine Einschränkung, etwa auf den Mindestunterhalt. Beide Teilansprüche sollten sich nach den ehelichen Lebensverhältnissen bestimmen und der Antragsgegnerin die Beibehaltung des bisherigen Lebensstandards gewährleisten.[59] Mit dem Unterhalt wegen Krankheit und Alters haben die Parteien zwar gewichtige Scheidungsfolgen abbedungen. Dies könnte – im Zusammenhang mit den weiteren Regelungen – den Vorwurf der Sittenwidrigkeit aber allenfalls dann begründen, wenn die Parteien bei ihrer Lebensplanung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses einvernehmlich davon ausgegangen wären, daß die Antragsgegnerin sich dauerhaft oder doch langfristig völlig aus dem Erwerbsleben zurückziehen und der Familienarbeit widmen sollte; denn nur in diesem Falle wäre der Antragsgegnerin der Aufbau einer eigenen Sicherung gegen die Risiken von Alter oder Krankheit auf Dauer verwehrt und würde eine stete Abhängigkeit vom Antragsteller begründet. Eine solche einvernehmliche Lebensplanung ist jedoch nicht festgestellt.[60] Zwar wird der vereinbarte Verzicht auf Unterhalt wegen Alters in seiner die Antragsgegnerin benachteiligenden Wirkung dadurch verstärkt, daß die Parteien auch den Versorgungsausgleich ausgeschlossen haben. Dieser Ausschluß wird jedoch durch die vertragliche Verpflichtung des Antragstellers gemildert, für die Ehefrau eine Kapitellebensversicherung abzuschließen und zu unterhalten. Der Umstand, daß – nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts – der Antragsgegnerin bei Durchführung des Versorgungsausgleichs Versorgungsanrechte der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von rund 590 DM zu übertragen gewesen wären, zu deren Begründung ein Einmalbetrag von rund 128.000 DM hätte eingezahlt werden müssen, mag die Bedeutung dieser Lebensversicherung über nominal 80.000 DM als Kompensation für den Ausschluß des Versorgungsausgleichs möglicherweise im Nachhinein relativieren. Für eine Sittenwidrigkeit der Abrede läßt sich daraus jedoch nichts herleiten. Denn es ist nicht ersichtlich, daß schon im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorhersehbar war, daß der Antragsteller künftig Versorgungsanrechte erwerben werde, von denen er rund 590 DM auf die Antragsgegnerin übertragen müßte. Zudem ist die Versicherungssumme einer Kapitallebensversicherung mit der aus dieser Versicherung später zu erwartenden Ablaufleistung (nach Auskunft der Versicherung hier: 172.294 DM) nicht identisch; beide Größen sind überdies schon ihrer Funktion nach mit dem Einmalbeitrag der gesetzlichen Rentenversicherung nicht vergleichbar. Das Oberlandesgericht weist zwar zutreffend darauf hin, daß die Kapitallebensversicherung der Antragsgegnerin keinen Invaliditätsschutz verschaffe. Jedoch vermittelt auch die gesetzliche Rentenversicherung dem versorgungsausgleichsberechtigten Ehegatten Invaliditätsschutz nicht schlechthin, sondern nur unter der Voraussetzung einer dreijährigen Zahlung von Pflichtbeiträgen innerhalb der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI; vgl. auch § 1587 o Abs. 2 Satz 4 BGB, der in seiner seit dem 1. Januar 2000 geltenden Fassung nicht mehr die Eignung alternativer Sicherungen auch "für den Fall der Erwerbsunfähigkeit" verlangt).[61] Der von den Parteien vereinbarte Ausschluß der Unterhaltspflicht für den Fall der Arbeitslosigkeit sowie der Verzicht auf Aufstockungsunterhalt (für die Zeit nach der Kinderbetreuung) und auf Billigkeitsunterhalt rechtfertigen – schon nach ihrer Bedeutung im System des Scheidungsfolgenrechts – das Verdikt der Sittenwidrigkeit nicht. Für den Ausschluß des gesetzlichen Güterstandes gilt nichts anderes.[62] 2. Sofern sich ergibt, daß die von den Parteien getroffenen Abreden – auch in subjektiver Hinsicht – einer richterlichen Wirksamkeitskontrolle am Maßstab des § 138 Abs. 1 BGB standhalten, bleibt zu prüfen, ob und inwieweit der Antragsteller durch § 242 BGB gehindert wird, sich auf den vereinbarten Ausschluß einzelner Scheidungsfolgen zu berufen (Ausübungskontrolle).[63] a) Für die Zeit der Betreuungsbedürftigkeit der Kinder ist der Antragsteller, wie dargelegt, schon deshalb zur Unterhaltsleistung verpflichtet, weil die Parteien seine Unterhaltspflicht insoweit nicht ausgeschlossen haben; das Oberlandesgericht hat ihn deshalb dem Grunde nach zu Recht zur Unterhaltszahlung verurteilt.[64] Für die Zeit nach der Kinderbetreuung könnte sich eine Unterhaltspflicht des Antragstellers namentlich aus § 1573 Abs. 2 BGB ergeben. Falls sich der von der Antragsgegnerin vertraglich erklärte Verzicht auf diesen Unterhalt nicht schon als nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig erweist und ein solcher Anschlußunterhalt zur Entscheidung steht, wird zu prüfen sein, inwieweit sich der Antragsteller gemäß § 242 BGB auf diesen Verzicht berufen kann. Im Rahmen dieser Ausübungskontrolle wird der Tatrichter zu erwägen haben, daß die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit der Geburt des ersten Kindes ihre Berufstätigkeit eingestellt und sich der Familienarbeit sowie später einer selbständigen Erwerbstätigkeit gewidmet hat, die zwar nicht ihrer durch Ausbildung erworbenen Qualifikation entspricht, die sich aber offenbar mit der Haushaltsführung und der Betreuung der – inzwischen zwei – Kinder vereinbaren läßt. Mit der Aufgabe ihrer Berufstätigkeit hat die Antragsgegnerin ein Risiko auf sich genommen, das sich mit dem Scheitern der Ehe der Parteien zu einem Nachteil verdichtet, wenn die Betreuungsbedürftigkeit der gemeinsamen Kinder endet und sich erweisen sollte, daß der Antragsgegnerin ein "Wiedereinstieg" in ihren erlernten Beruf nicht oder nur unter deutlich ungünstigeren Konditionen möglich ist. Entsprach es einem gemeinsamen Entschluß der Parteien, daß die Antragsgegnerin im Interesse der Familie dauerhaft auf eine weitere Tätigkeit in ihrem erlernten Beruf verzichten sollte, so könnte es unbillig erscheinen, wenn der Antragsteller die sich hieraus ergebenden nachteiligen Konsequenzen unter Berufung auf die notarielle Abrede allein der Antragsgegnerin aufbürdet. Zwar dürfte der Antragsgegnerin aufgrund des – hier als wirksam unterstellten – Unterhaltsverzichts Aufstockungsunterhalt nach Maßgabe der ehelichen Lebensverhältnisse (§ 1573 Abs. 2, § 1578 Abs. 1 BGB) zu versagen sein. Im Rahmen tatrichterlicher Ausübungskontrolle könnte der Antragsgegnerin aber gleichwohl ein Unterhaltsanspruch zuerkannt werden, der jedenfalls ihre ehebedingten Erwerbsnachteile ausgleicht. Dessen Höhe könnte nach der Differenz des Einkommens, das die Antragsgegnerin aus einer ihrer Ausbildung entsprechenden kontinuierlich ausgeübten Berufstätigkeit erzielen könnte (§ 287 ZPO), und dem Verdienst bemessen werden, den sie aus einer ihr nach dem Berufsverzicht noch möglichen und zumutbaren vollen Erwerbstätigkeit erlöst oder doch erlösen könnte; seine Grenze fände ein solcher Anspruch jedenfalls an dem nach den ehelichen Lebensverhältnissen bemessenen vollen Unterhalt.[65] b) Die vom Oberlandesgericht ausgesprochene Verpflichtung des Antragstellers zur Auskunft über seinen in der Ehe erzielten Zugewinn kann, falls sich der Ehevertrag nicht schon nach § 138 Abs. 1 BGB als unwirksam erweist, nur Bestand haben, wenn der Antragsteller gemäß § 242 BGB gehindert ist, sich auf die von den Parteien vereinbarte Gütertrennung zu berufen. Das ist – jedenfalls auf der Grundlage der vom Oberlandesgericht bislang getroffenen Feststellungen – nicht der Fall.[66] Der Zugewinnausgleich wird vom Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts nicht umfaßt; er zeigt sich, wie dargelegt, vertraglicher Gestaltung in weitem Umfang offen. Die Berufung auf eine wirksam vereinbarte Gütertrennung wird sich deshalb nur unter engsten Voraussetzungen als rechtsmißbräuchlich erweisen – so etwa dann, wenn die Ehegatten bei ihrer Abrede von beiderseitiger, ökonomisch vergleichbar gewinnbringender Berufstätigkeit ausgegangen sind, diese Planung sich aber später nicht verwirklichen läßt. In solchen und ähnlichen Ausnahmefällen mögen besondere Verhältnisse es ungeachtet der getroffenen Abreden als unbillig erscheinen lassen, daß der nicht erwerbstätige Ehegatte im Nachhinein um die Früchte seiner Mitarbeit in der Ehe gebracht würde. So liegen die Dinge hier indes nicht. Insbesondere hindert der vom Oberlandesgericht betonte Umstand, daß die Antragsgegnerin sich in der Ehe der Haushaltsführung und Kindererziehung gewidmet hat, für sich genommen den Antragsteller nach Treu und Glauben nicht, sich auf eine von den Parteien wirksam vereinbarte Gütertrennung zu berufen. Zwar mag es der Antragsgegnerin – angesichts ihres zugunsten der Familie erklärten zumindest vorläufigen Verzichts auf eine eigene Erwerbstätigkeit und im Hinblick auf die Dauer ihrer Ehe – nicht mehr zuzumuten sein, sich nunmehr – nach der Scheidung – mit einem Lebensstandard zu begnügen, der ihren eigenen, durch fehlende zwischenzeitliche Berufstätigkeit möglicherweise deutlich verminderten Erwerbschancen entspricht. Abhilfe ist in solchen Fällen jedoch nicht mit einer die ehevertraglichen Abreden unterlaufenden Vermögensteilhabe zu bewirken; vielmehr ist ein die eigenen Einkünfte übersteigender Bedarf des in der Ehe nicht erwerbstätigen Ehegatten systemgerecht mit den Instrumenten des Unterhaltsrechts zu befriedigen. Dies gilt auch, soweit die gesetzlichen Unterhaltsansprüche wirksam abbedungen sind; in diesem Fall kann – wie gezeigt – eine im Wege richterlicher Ausübungskontrolle zuzuerkennende Unterhaltsrente ehebedingte Nachteile einzelfallgerecht kompensieren.[67] Auch die übrigen vom Oberlandesgericht angeführten Gesichtspunkte vermögen den Vorwurf des Rechtsmißbrauchs nicht zu tragen. Ein – zumindest in den letzten Jahren – besonders hohes Einkommen des Antragstellers erzwingt eine der getroffenen Güterstandsabrede widersprechende Teilhabe der Antragsgegnerin nicht; dies gilt auch für die nicht näher belegte Annahme, die – in ihrem Ladengeschäft ganztags tätige – Antragsgegnerin habe es dem Antragsteller durch ihre Führung des Haushalts und die Betreuung der Kinder erst ermöglicht, sich voll seiner Berufstätigkeit zu widmen. Die Belange der gemeinsamen Kinder werden durch die Zuordnung des elterlichen Vermögens nicht berührt. Andere für § 242 BGB erhebliche Umstände sind nicht ersichtlich.[68] V. Die angefochtene Entscheidung kann nach allem keinen Bestand haben. Der Senat vermag auf der Grundlage der vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen in der Sache nicht abschließend zu entscheiden. Die Sache war deshalb an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, damit es die für die gebotene Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle erforderlichen Feststellungen nachholt.[69] Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:[70] 1. Die Antragsgegnerin kann, wie dargelegt, für die Zeit der Betreuungsbedürftigkeit der gemeinsamen Kinder vom Antragsteller Unterhalt nach Maßgabe der ehelichen Lebensverhältnisse beanspruchen. Bei der Bemessung dieses Unterhalts hat das Oberlandesgerichts zutreffend einen objektiven Maßstab angelegt und denjenigen Lebensstandard für entscheidend erachtet, der vom Standpunkt eines vernünftigen Betrachters bei Berücksichtigung der konkreten Einkommens- und Vermögensverhältnisse angemessen erscheint. Nur in diesem Rahmen kann das tatsächliche Konsumverhalten der Ehegatten während des ehelichen Zusammenlebens Berücksichtigung finden (vgl. etwa Senatsurteil vom 25. Januar 1984 – IVb ZR 43/82 – FamRZ 1984, 358, 360 f.). Deshalb bleibt, wie das Oberlandesgericht im Grundsatz mit Recht annimmt, eine aus dieser Sicht zu dürftige Lebensführung der Parteien für die Bedarfsbestimmung der Antragsgegnerin außer Betracht. Dennoch dürfte nicht – wie im angefochtenen Urteil geschehen – für die Bemessung der ehelichen Lebensverhältnisse schlechthin auf das aktuelle und mit 27.000 DM außerordentlich hohe Nettoeinkommen des Antragstellers abgehoben werden. Eine solche Betrachtung verkennt die tatsächlichen Unsicherheiten, denen die Beibehaltung eines solchen Einkommensniveaus im Wirtschaftsleben und insbesondere im Beruf des Antragstellers unterworfen ist. Diese Unsicherheiten dürfen es auch bei Anlegung eines objektiven Maßstabs nicht ohne weiteres geraten erscheinen lassen, den Lebensstandard einer auf Konstanz ihrer Lebensführung bedachten Familie an den jeweils aktuellen Einkommensverhältnissen auszurichten. Zudem wird bei einer solchen Betrachtung übersehen, daß ein Einkommen in der vom Oberlandesgericht festgestellten Höhe – auch und gerade vom Standpunkt eines vernünftigen Betrachters – üblicherweise nicht allein zu Konsumzwecken eingesetzt wird, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil der Vermögensbildung dient (vgl. Senatsurteile vom 1. Oktober 1986 – IVb ZR 68/85 – FamRZ 1987, 36, 39 und vom 18. Dezember 1991 – XII ZR 2/91 – FamRZ 1992, 423, 424). Inwieweit es danach für Unterhaltszwecke nicht zur Verfügung steht, ist eine Frage der tatrichterlichen Würdigung, der das Oberlandesgericht nachzugehen hat.[71] 2. Das Oberlandesgericht hat den vom Antragsteller zu befriedigenden Unterhaltsbedarf der Antragsgegnerin konkret bemessen und deren Unterhalt anhand einer Auflistung von Bedarfspositionen ermittelt. Das dürfte im Ansatz nicht zu beanstanden sein. Allerdings hat das Oberlandesgericht unberücksichtigt gelassen, daß die Antragsgegnerin vom Antragsteller für die beiden gemeinsamen Kinder Unterhalt nach dem höchsten Satz der Düsseldorfer Tabelle erhält. In diesen Unterhaltssätzen sind Bedarfsbeträge – namentlich für Wohn- und Wohnnebenkosten – berücksichtigt, die auch in den für die Antragsgegnerin aufgelisteten Bedarfsbeträgen enthalten sind und für sie und die Kinder nur einmal anfallen. Deshalb müßten bei den für die Antragsgegnerin in Ansatz gebrachten Bedarfspositionen Leistungen, die der Antragsteller bereits im Rahmen des Kindesunterhalts teilweise erbringt, anspruchsmindernd berücksichtigt werden. Das hat das Oberlandesgericht – soweit ersichtlich – nicht getan.
bundesgerichtshof
bgh_041-2009
24.02.2009
Teilerfolg für die Oppositionsmitglieder des Irak-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages Ausgabejahr 2009 Erscheinungsdatum 24.02.2009 Nr. 041/2009 Im 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, der sich unter anderem mit der Frage befasst, ob und gegebenenfalls worüber es vor oder während des Irak-Krieges einen Informationsaustausch zwischen dem Bundesnachrichtendienst und US-Dienststellen gab, stellte der Abgeordnete Prof. Dr. Paech am 8. Oktober 2008 den Antrag, die Bundesregierung aufzufordern, die bislang von ihr zur Verfügung gestellten, "nahezu vollständig geweißten" Mitteilungen eines BND-Mitarbeiters aus der Region in "ungeweißter Form" zu übermitteln. Dem Antrag stimmten neben Prof. Dr. Paech auch die Abgeordneten Dr. Stadler und Ströbele zu; die Mehrheit des Untersuchungsausschusses stimmte jedoch gegen ihn. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, der Abgeordnete Kauder, lehnte es daraufhin ab, die Unterlagen bei der Bundesregierung anzufordern. Dies begründete er damit, dass es sich nicht um einen Beweisantrag gehandelt habe. Daraufhin beantragte die aus den Abgeordneten Dr. Stadler, Prof. Dr. Paech und Ströbele bestehende Minderheit des Untersuchungsausschusses beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs unter anderem die Feststellung, dass der Antrag wirksam beschlossen und der Vorsitzende verpflichtet sei, den Beweisbeschluss der Bundesregierung zuzuleiten. Damit hatte sie teilweise Erfolg. Zwar war nicht festzustellen, dass der Beweisantrag von dem Untersuchungsausschuss wirksam beschlossen wurde. Auch war der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses nicht verpflichtet, den von der Mehrheit abgelehnten Antrag der Bundesregierung zuzuleiten. Jedoch hätte der Untersuchungsausschuss dem von einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses unterstützten Antrag, bei dem es sich um einen Beweisantrag gehandelt habe, mehrheitlich zustimmen müssen (§ 17 Abs. 2 Untersuchungsausschussgesetz [PUAG]). Dies muss der Untersuchungsausschuss nunmehr nachholen. Die Entscheidung betrifft allein den Erlass des Beweisbeschlusses durch den Untersuchungsausschuss. Über die Verpflichtung der Bundesregierung zur Herausgabe der (ungeschwärzten) Akten hatte der Ermittlungsrichter nicht zu entscheiden. Bundesgerichtshof, Ermittlungsrichter I, Beschluss vom 20. Februar 2009 – 1 BGs 20/09 - I ARs 3/08 Karlsruhe, den 24. Februar 2009 § 17 Abs. 2 PUAG: Beweise sind zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt sind, es sei denn, die Beweiserhebung ist unzulässig oder das Beweismittel ist auch nach Anwendung der in diesem Gesetz vorgesehenen Zwangsmittel unerreichbar. Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des Ermittlungsrichters vom 20.2.2009 - 1 BGs 20/09 -
BGH, Beschluss vom 20.02.2009 - Aktenzeichen I ARs 3/2008 DRsp Nr. 2009/4252 Zulässigkeit eines Antrags auf Zurverfügungstellung von Unterlagen in leserlicher Form in einem Untersuchungsausschuss; Rechtsnatur eines Antrags auf erneute Befassung mit einem Beweisantrag Normenkette: PUAG § 17 Abs. 2 ; GG Art. 44 ; StPO § 244 Abs. 3 ; Gründe: I. Die Begehren der Antragstellerin zielen auf die ausschussinterne Umsetzung und Ausführung eines im 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gestellten Antrags auf Beiziehung von Unterlagen der Bundesregierung (Mitteilungen eines BND-Mitarbeiters). 1. Der 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wurde am 7. April 2006 eingesetzt, um unter anderem zu klären, "ob und inwieweit über die in dem Bericht der Bundesregierung [an das Parlamentarische Kontrollgremium vom 20. Februar 2006] aufgeführten hinaus weitere Informationen ... vom BND vor Beginn und während des Irak-Krieges aus dem Irak an die Zentrale gegeben wurden und an US-Dienststellen gelangt sind, die für die US-Kriegsführung von Bedeutung sein konnten oder sogar tatsächlich dafür eingesetzt wurden" (IV.2. der BT-Drs. 16/990 und 16/1179), sowie zu klären, "Anfragen welchen Inhalts von den US-Stellen an den BND ab Beginn des Jahres 2003 gestellt wurden [und] wie auf die Anfragen seitens des BND reagiert wurde" (a.a.O. Ziffern IV.4.). Im Mai 2006 fasste der Untersuchungsausschuss mehrere Beweisbeschlüsse, die insbesondere die Beiziehung von Unterlagen der Bundesregierung und des BND zu Weisungen und Aufträgen an im Irak eingesetzte BND-Mitarbeiter sowie deren Meldungen an die BND-Zentrale (Beweisbeschluss 16-16 vom 18. Mai 2006) und von weiteren Akten sowie Unterlagen der Bundesregierung und des Bundeskanzleramtes zum Gegenstand hatten (Beweisbeschlüsse 16-17 und 16-27 vom 18. Mai 2006). Im Juni 2008 übermittelte die Bundesregierung dem Untersuchungsausschuss mehrere Stehordner, die nach dem Schreiben des Bundeskanzleramts vom 30. Juni 2008 - unter Zusicherung der Vollständigkeit - "das Schriftgut des Bundesnachrichtendienstes zu den o.g. Beweisbeschlüssen" sowie "Schriftgut, ... [das] nicht einschlägig im Sinne des Untersuchungsauftrags ist", enthalten. Die Unterlagen weisen stellenweise Schwärzungen auf, bezüglich derer - auch zur "Zusammenstellung der Akten" - das Bundeskanzleramt auf die "verfassungsmäßigen Grenzen des Beweiserhebungsrechts" des Untersuchungsausschusses verwies. Teil der Unterlagen sind in einem mit der VS-Einstufung "Geheim" versehenen Stehordner enthaltene Schreiben eines BND-Mitarbeiters, die in erheblichem Umfang geschwärzt sind (im Folgenden bezeichnet als "Request for Information"). In der 96. Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 25. September 2008 beantragte der Abgeordnete S. , die Bundesregierung aufzufordern, "diegeweißten' Stellen in den Akten offen zu legen". Dieser Antrag wurde von der Ausschussmehrheit abgelehnt. In der 98. Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 8. Oktober 2008 stellte der Abgeordnete Prof. Dr. P. mündlich folgenden Antrag: "Der Ausschuss fordert die Bundesregierung auf, die auf den request for information beruhenden Meldungen des Gardisten, die bislang nahezu vollständiggeweißt' sind, dem Ausschuss in ungeweißter Form zu übermitteln. Falls die Bundesregierung dieser Aufforderung nicht nachkommt, wird eine einstweilige Verfügung beantragt." Nachdem der Antrag zurückgestellt worden war, wies Dr. H. (Bundeskanzleramt) darauf hin, dass die Schwärzungen aus "wohlerwogenen Gründen" des Staatswohls vorgenommen worden seien; es handle sich um Informationen eines anderen Nachrichtendienstes, die "der Gardist ... lediglich [als] völlig indoloser Bote" weitergeleitet habe und bezüglich derer die Bundesregierung nicht disponieren könne. Anschließend verlas der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses noch in dessen 98. Sitzung folgenden, zwischenzeitlich vom Abgeordneten Prof. Dr. P. schriftlich vorgelegten Antrag: "Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Requests for Information des Verbindungsoffiziers des BND bei US-CENTCOM/FORWARD in Doha in vollständiger Fassung dem 1. Untersuchungsausschuss vorzulegen." Der als Drucksache (A-Drs.) 586 erfasste Antrag wurde im Untersuchungsausschuss auch im Hinblick auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Organstreitverfahren (Az.: 2 BvE 3/07) sowie die "Dispositionsbefugnis der Bundesregierung" und die "Verfügungsgewalt des deutschen Nachrichtendienstes" erörtert, wobei der Antragsteller seinen Antrag als "Beweiskonkretisierungsantrag" bezeichnete. Auf die sog. Fristeinrede (die sich darauf bezieht, dass Beweisanträge grundsätzlich bis zum Donnerstag der Vorwoche einzureichen sind) wurde allseits verzichtet. Anschließend stimmten die Abgeordneten Dr. St. , Prof. Dr. P. sowie S. - und damit ein Viertel der Mitglieder des Ausschusses - für den Antrag, die "Koalitionsfraktionen" (Protokoll S. 23) stimmten gegen ihn. Daraufhin stellte der Vorsitzende fest, dass der Antrag mit dem notwendigen Minderheitsquorum beschlossen worden sei, das Beweismittel sei weder unerreichbar, noch sei die Zulässigkeit gerügt worden. Hiergegen erhob ein Mitglied des Untersuchungsausschusses - noch während der Sitzung - Einwendungen und verwies darauf, dass es sich nicht um einen Beweisantrag, sondern eine Handlungsaufforderung gehandelt habe, für die nicht § 17 PUAG gelte, sondern die durch (einfache) Mehrheit abgelehnt werden könne. In der Folgezeit fertigte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses den Beschluss nicht aus und leitete ihn auch nicht der Bundesregierung zu. Dies begründete er in der 100. Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 16. Oktober 2008 damit, dass er prüfe, ob es sich um einen Sach- oder einen Beweisantrag gehandelt habe und wie es zu werten sei, "dass die Minderheit dem Antrag zugestimmt habe und die Mehrheit sich nicht wie üblich enthalten, sondern dagegen gestimmt habe". Mit Schreiben vom 30. Oktober 2008 teilte er unter anderem mit, dass der Antrag nicht als Beweisantrag im Sinn des § 17 PUAG angesehen werden könne; vielmehr sei der Antrag durch die Ausschussmehrheit (wirksam) abgelehnt worden. Er sehe sich aus Rechtsgründen daran gehindert, die Zuleitung als Beweisbeschluss an die Bundesregierung zu veranlassen (Schreiben vom 10. November 2008). 2. Die Antragstellerin ist der Ansicht, wegen der Schwärzungen in den Schreiben des BND-Mitarbeiters sei es dem Untersuchungsausschuss nicht möglich, insbesondere Ziffer IV.4. des Untersuchungsauftrags zu erfüllen. Sie ist der Meinung, dem zulässigen und rechtmäßigen Antrag sei am 8. Oktober 2008 durch einen (wirksamen) Beweisbeschluss entsprochen worden, zumal die Beweiserhebung zulässig und das Beweismittel erreichbar sei. Auch habe (insbesondere) der Ausschussvorsitzende selbst den Antrag als Beweisantrag behandelt und die Entscheidung über ihn als Beweisbeschluss bezeichnet. Ein nachträgliches Prüfungsrecht stehe dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses nicht zu. Die Antragstellerin beantragt festzustellen: Der Antrag zu A-Drs. 586 ist am 8.10.2008 in der 98. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wirksam beschlossen worden, der Vorsitzende des 1. Untersuchungsausschusses der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ist verpflichtet, den Beweisbeschluss zu A-Drs. 586 der Bundesregierung unverzüglich zuzuleiten, hilfsweise: der 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages wird verpflichtet, unverzüglich eine wirksame Beschlussfassung zum Antrag A-Drs. 596 nachzuholen. Mit Schreiben vom 5. Februar 2009 fasste die Antragstellerin den Hilfsantrag "wie folgt": Es wird festgestellt, dass der 1. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages verpflichtet ist, den Beweisantrag auf A-Drs. 586 unverzüglich zu beschließen. Die Antragsgegner sind der Ansicht, das vorliegende Antragsverfahren sei bereits unzulässig. Zum einen ziele es der Sache nach auf das bereits in dem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht verfolgte Begehren und sei Teil der Auseinandersetzung über die Aktenfreigabe durch die Bundesregierung. Zum anderen sei der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs für die Entscheidung nicht zuständig, weil es sich nicht um einen Beweisantrag im Sinn des § 17 PUAG , sondern um einen Sachantrag gehandelt habe. Auch die unbeanstandet gebliebene Behandlung des in der 96. Sitzung des Untersuchungsausschusses gestellten Antrags zeige, dass der hier gegenständliche und mit jenem identische Antrag zutreffend als Sachantrag - und nicht als Beweisantrag - behandelt worden sei, zumal der Antragsteller selbst seinen Antrag nicht als Beweisantrag angesehen habe. Schließlich sind die Antragsgegner der Meinung, die Anträge seien wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. In der Sache vertreten die Antragsgegner die Auffassung, dass - würde es sich um einen Beweisantrag handeln - die Beweiserhebung unzulässig und das Beweismittel teilweise unerreichbar sei; unzulässig sei er als "reine Wiederholung" und aus Gründen des Geheimnisschutzes und damit des Staatswohls, unerreichbar sei das Beweismittel, weil die Bundesregierung über die von den US-Stellen gelieferten Informationen keine Verfügungsgewalt besitze. Die Antragsgegner beantragen, die Anträge als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen. 3. Wegen der weiteren Einzelheiten wird insbesondere auf die Antragsschrift vom 5. Dezember 2008 und die Erwiderung des Vertreters der Antragsgegner vom 12. Januar 2009 Bezug genommen. II. Das Begehren der Antragstellerin hat teilweise Erfolg. Der Untersuchungsausschuss ist verpflichtet, sich nochmals mit dem vom Abgeordneten Prof. Dr. P. gestellten Beweisantrag (A-Drs. 586) zu befassen und ihm - sollte er weiterhin von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses unterstützt werden - (zumindest) mehrheitlich im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 1 PUAG zuzustimmen. 1. Die Haupt- und Hilfsanträge sind zulässig. a) Der Statthaftigkeit der Anträge und der Entscheidungsbefugnis des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof stehen weder Art. 93 GG , § 13 BVerfGG entgegen, noch das bereits anhängige Organstreitverfahren oder die Möglichkeit einer (weiteren) Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit einer Aktenanforderung des Untersuchungsausschusses gegenüber der Bundesregierung oder einer der in § 18 Abs. 1 PUAG aufgeführten Stellen. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist weder unmittelbar noch mittelbar die im Streitfall (gegebenenfalls) allein vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidende Frage, ob die Bundesregierung gegenüber dem Untersuchungsausschuss zur Übersendung von (ungeschwärzten) Akten - hier: bezüglich der "Request for Information" - verpflichtet ist (vgl. §§ 18 Abs. 3 , 36 Abs. 1 PUAG ). Vielmehr geht es - was auch die Anträge deutlich machen - um das in § 17 PUAG ausdrücklich geregelte Verfahren bei der ausschussinternen Behandlung und Entscheidung über den Antrag zu einer Beweiserhebung und damit einen bezüglich der erforderlichen Zustimmungsquote gegenüber dem Strafprozess zwar modifizierten, hinsichtlich der Ablehnungsgründe ( § 17 Abs. 2 PUAG ) aber der Regelung in § 244 Abs. 3 StPO teilweise entsprechenden Verfahrensabschnitt (vgl. auch BT-Drs. 14/5790 S. 17). Auch wenn das Beweiserhebungs- und Beweiserzwingungsrecht der Minderheit in Art. 44 GG wurzelt (vgl. BVerfGE 67, 100 , 128, 134), geht es vorliegend mithin nicht (vorrangig) um die Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht, sondern die Anwendung der einfachgesetzlichen Regelung des § 17 PUAG . Diese Prüfung ist nicht dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, sondern obliegt - verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG, einstweilige Anordnung vom 15. Juni 2006 - 2 BvQ 18/05 [Rdn. 37 ff.]; anderer Ansicht wohl Klein in Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 44 Rdn. 239) - nach §§ 17 Abs. 4 , 36 Abs. 1 PUAG (zumindest auch) dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs. b) Antragsberechtigt im Sinn des § 17 Abs. 4 PUAG und Antragstellerin ist die Minderheit eines Viertels der Mitglieder des Untersuchungsausschusses als solche, nicht die Abgeordneten (persönlich), die diese Minderheit bilden (vgl. Gärditz ZParl 2005, 854, 859; Platter, Das parlamentarische Untersuchungsverfahren vor dem Verfassungsgericht, Berlin, 2004, S. 166). Antragsgegner sind - wie in der Antragsschrift aufgeführt und aus dem jeweiligen Antrag unzweifelhaft zu entnehmen - der Untersuchungsausschuss (1. Haupt- und Hilfsantrag) sowie der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses (2. Hauptantrag; zum Vorsitzenden als möglichem Antragsgegner auch Gärditz ZParl 2005, 854, 868). 2. Die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 36 Abs. 2 PUAG ist nicht geboten. Hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Einsetzung des Untersuchungsausschusses bestehen keine Bedenken, zumal auch von den Verfahrensbeteiligten weder im vorliegenden Verfahren noch - soweit bekannt - in dem vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Organstreitverfahren (Az. 2 BvE 3/07) entsprechende Einwände erhoben wurden. 3. Die Antragstellerin hat in der Sache teilweise Erfolg. a) Unbegründet sind jedoch die mit den Hauptanträgen verfolgten Begehren. Soweit aufgrund des 1. Hauptantrags festgestellt werden soll, dass der Beweisantrag vom Untersuchungsausschuss wirksam beschlossen wurde, trifft dies nicht zu. Vielmehr stimmte die Mehrheit der Ausschussmitglieder gegen den Antrag. Damit war er abgelehnt ( § 9 Abs. 4 Satz 1 PUAG ). Dem steht nicht entgegen, dass nach § 17 Abs. 2 PUAG - sofern die Voraussetzungen im Übrigen vorliegen - Beweise zu erheben sind, wenn dies von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt wurde. Allein dadurch, dass eine qualifizierte Minderheit einen solchen Antrag stellt oder für ihn stimmt, wird er nicht vom Ausschuss "wirksam beschlossen" (vgl. dazu auch unten b. dd.). Infolge der Ablehnung des Antrags war und ist der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses nicht - wie im 2. Hauptantrag begehrt - verpflichtet, den Beweisbeschluss der Bundesregierung zuzuleiten (vgl. § 6 Abs. 2 PUAG ). b) Erfolg hat jedoch der entsprechend dem Entscheidungstenor auszulegende Hilfsantrag. Der Untersuchungsausschuss hat sich nochmals mit dem vom Abgeordneten Prof. Dr. P. gestellten Beweisantrag (A-Drs. 586) zu befassen und ihm - sollte er weiterhin von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Ausschusses unterstützt werden - (zumindest) mehrheitlich im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 1 PUAG zuzustimmen. aa) Bei dem vom Abgeordneten Prof. Dr. P. gestellten Antrag (A-Drs. 586) handelt es sich um einen Beweisantrag im Sinn des § 17 Abs. 2 , 4 PUAG . (1.) Unter einem Beweisantrag wird im Strafverfahren - soweit vorliegend von Bedeutung - das Begehren eines Prozessbeteiligten verstanden, mit einem bestimmten, nach der Strafprozessordnung zulässigen Beweismittel eine konkrete, für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch relevante Beweisbehauptung festzustellen (vgl. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung , 51. Aufl., § 244 Rdn. 18; Fischer in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung , 6. Aufl., § 244 Rdn. 69 ff., 79 jeweils m.w.N.). Er ist mithin durch die Bezeichnung eines Beweismittels und die Angabe der durch dieses zu beweisenden Behauptung, also eine äußere oder innere Tatsache bzw. einen Sachverhalt, gekennzeichnet. Diese Anforderungen gelten infolge der Verweisung in Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG im Grundsatz auch für Beweisanträge im Sinn des § 17 Abs. 2 PUAG (vgl. Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2005, § 16 Rdn. 3, 5). Die Angabe des Beweismittels, dessen sich der Ausschuss bedienen soll, ist auch bei einer im Untersuchungsausschuss begehrten Beweisaufnahme unerlässlich, schon weil erst dies die Prüfung ermöglicht, ob das Beweismittel erreichbar ist ( § 17 Abs. 2 PUAG ). Ferner muss den Mitgliedern des Ausschusses vor der Abstimmung über den Antrag als notwendige Grundlage des eigenen Abstimmungsverhaltens aber auch die Tatsache oder der Sachverhalt bekannt sein, die bzw. der Gegenstand der Beweisaufnahme sein soll. Nicht zuletzt wird hiervon häufig die Entscheidung abhängen, ob die Beweiserhebung vom Untersuchungsauftrag gedeckt und aus diesem oder anderen Gründen zulässig ist ( § 17 Abs. 2 PUAG ). Auch ist erst dann, wenn Beweismittel und Beweisthema klar sind, eine sachgerechte Entscheidung des Gerichts nach § 17 Abs. 4 PUAG über eine abgelehnte Beweiserhebung möglich. Indes dürfen insofern an einen Beweisantrag keine überzogenen, letztlich nur mehr Formalien betreffende Anforderungen gestellt werden. So ist es beispielsweise ausreichend, wenn die Angabe des Beweisthemas vom Antragsteller erst auf Frage eines Ausschussmitglieds nachgeholt wird. Ferner wird dem Zweck, der der Forderung nach der Mitteilung des Beweisthemas zugrunde liegt, auch ohne dessen ausdrückliche Angabe entsprochen, wenn das Beweisthema offensichtlich ist oder aufgrund des Zusammenhangs, in dem der Antrag gestellt wurde, unzweifelhaft feststeht und ohne weiteres etwa aus dem über die Ausschusssitzung gefertigten Protokoll nachvollzogen werden kann. In solchen Fällen unterliegt es keinen Bedenken, wenn Beweismittel und Beweisthema erst im Beweisbeschluss konkret bezeichnet werden (vgl. BT-Drs. 14/2363 S. 13; ähnlich Glauben/Brocker a.a.O § 16 Rdn. 3). Neben diesen allgemein Beweisanträge betreffenden Grundsätzen gelten für Anträge, die die Vorlage von Akten im Sinn des § 18 Abs. 1 PUAG betreffen, weitere Besonderheiten. Akten als solche - als "Gesamturkunde" - sind nämlich keine Beweismittel im Sinn der Strafprozessordnung für ihren Inhalt. Beweismittel sind insofern vielmehr nur die jeweils einen bestimmten Vorgang oder eine solche Tatsache betreffenden Eintragungen, also die einzelnen in der Akte enthaltenen Urkunden (Fischer in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung a.a.O. § 244 Rdn. 81 m.w.N.). Die uneingeschränkte Übernahme dieser Bewertung in Bezug auf Akten als Beweismittel würde indes den Bedürfnissen und Besonderheiten des Verfahrens eines Untersuchungsausschusses nicht gerecht, zumal die Strafprozessordnung selbst (in § 96 i.V.m. § 94 Abs. 1) zwischen "Akten" und "Beweismitteln" zumindest einen engen Zusammenhang herstellt. Im Strafverfahren werden die der Staatsanwaltschaft bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens ohnehin bekannten Ermittlungsmaßnahmen und deren Ergebnisse dem Gericht durch die Übersendung der Akten unterbreitet und dem Verteidiger auf Verlangen durch Akteneinsicht ( § 147 StPO ) übermittelt. Weitgehend auf dieser Grundlage entscheidet das Gericht, welche Beweise in der Hauptverhandlung erhoben werden sollen; auch für die Prozessbeteiligten, die Beweiserhebungen anregen oder beantragen wollen, sind die in den Akten niedergelegten Erkenntnisse regelmäßig von besonderer Bedeutung und vor einer solchen Antragstellung jedenfalls zu bedenken. In ähnlicher Weise dient die Aktenanforderung im Untersuchungsausschuss zunächst regelmäßig der Information der Ausschussmitglieder (Glauben/Brocker a.a.O. § 17 Rdn. 4, 8; Weisgerber, Das Beweiserhebungsverfahren parlamentarischer Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages, 2003, S. 325; Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschussgesetz , 2003, S. 232; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 - 2 BvR 1178, 1179, 1191/86 [Rdn. 114]), ist die Aktenübersendung also notwendige - und durch die Verfassung abgesicherte - Grundlage für die Ausübung des parlamentarischen Kontrollrechts (vg. BVerfGE 67, 100 , 132: "Wesenskern"). Darüber hinaus ist die Aktenanforderung aber bereits Teil der Beweiserhebung; sie bereitet nämlich die Beweisaufnahme durch Einführung einzelner Aktenteile im Wege des Urkundenbeweises nach § 31 PUAG vor (vgl. Glauben/Brocker a.a.O. § 15 Rdn. 3, § 16 Rdn. 8, § 15 Rdn. 5, § 17 Rdn. 41; ferner Klein in Maunz/Dürig a.a.O. Art. 44 Rdn. 215, 218; Achterberg/Schulte in v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz , Art. 44 Rdn. 116; Weisgerber a.a.O. S. 144; zur Unterscheidung "Beweiserhebung" - "Beweisaufnahme": BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 1987 - 2 BvR 1178, 1179, 1191/86 [Rdn. 115]). Dienen die Akten mithin aber zunächst der Informationsbeschaffung, so kann - soweit sie die Beweisaufnahme vorbereiten - zumindest im Regelfall nicht verlangt werden, dass der Antragsteller in seinem Beweisantrag bereits das auf den (ihm regelmäßig jedenfalls im Detail noch nicht bekannten) Inhalt der Akte bezogene Beweisthema mitteilt; schlichtweg "ins Blaue hinein" aufgestellte Behauptungen oder Vermutungen hinsichtlich des Akteninhalts sind von ihm nicht zu verlangen und wären für die mit der Entscheidung über den Antrag Befassten auch nicht weiterführend. Die "sinngemäße Anwendung" der Vorschriften über den Strafprozess ( Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG ; dazu Weisgerber a.a.O. S. 147) gebietet es in solchen Fällen der Aktenanforderung daher regelmäßig nicht, einen Beweisantrag nur dann anzunehmen, wenn auch ein konkretes Beweisthema mitgeteilt ist; insofern genügt vielmehr, dass ein erkennbarer Zusammenhang mit dem Untersuchungsauftrag besteht (vgl. zu einem "Beweisantrag" auf Aktenvorlage, dessen Beweisthema lediglich mit dem "Untersuchungsauftrag" bezeichnet wurde: BVerfGE 67, 100 , 109, 145; im Ergebnis ähnlich BbgVerfG LKV 2004, 177 , 178; Glauben/Brocker a.a.O. § 16 Rdn. 3). (2.) Auf dieser Grundlage ist der vom Abgeordneten Prof. Dr. P. gestellten Antrag (A-Drs. 586) als Beweisantrag im Sinn des § 17 Abs. 2 , 4 PUAG zu bewerten. Der Antrag bezeichnete die anzufordernden Unterlagen und es war offensichtlich, dass die Mitteilungen des BND-Mitarbeiters in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Untersuchungsauftrag standen und Beweisthema die dem Antragsteller im Einzelnen noch nicht bekannten Inhalte der "Request for Information", jedenfalls aber schon die Existenz von "Anfragen ... von US-Stellen" im Sinn der Ziffer IV.4. des Untersuchungsauftrags waren. Unerheblich ist demgegenüber, ob der Antrag bereits früher gestellt oder von einem früheren Beweisantrag umfasst war. Allein dies, also die bloße Wiederholung, würde dem Antrag nicht die Qualität als Beweisantrag nehmen. Jedoch wäre der Antrag als Beweisantrag unzulässig oder zumindest nicht als solcher zu behandeln, wenn er trotz bereits erfolgter Beweisaufnahme nochmals gestellt und auf deren bloße Wiederholung gerichtet wäre (vgl. Fischer in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung a.a.O. § 244 Rdn. 107). Das ist vorliegend aber nicht der Fall. Es ist schon nicht vorgetragen, dass bezüglich der übersandten "Request for Information" gemäß § 31 PUAG Beweis erhoben wurde. Aber auch wenn auf die bloße Übersendung der Unterlagen abzustellen wäre, würde sich der Antrag nicht auf deren Wiederholung beziehen; denn der Antragsteller will mit seinem Begehren ein Übermittlung der ungeschwärzten Schriftstücke erreichen, nicht aber die erneute Übersendung der im selben Umfang unleserlich gemachten Unterlagen. bb) Der Antrag entspricht auch im Übrigen den sich aus § 17 Abs. 2 Halbs. 1 PUAG ergebenden Anforderungen. Dabei kann dahinstehen, ob er - wie nach dem Wortlaut von § 17 Abs. 2 PUAG erforderlich - von einer qualifizierten Minderheit (so zwar nicht die amtliche, aber die gebräuchliche Bezeichnung, vgl. etwa BT-Drs 14/5790 S. 17; BVerfGE 105, 197, 225 f.) oder lediglich einem Ausschussmitglied gestellt wurde. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung (Minderheitenschutz) genügt es, wenn ihm - wie hier - vor der Abstimmung weitere Mitglieder "beigetreten" sind und er damit durch eine qualifizierte Minderheit unterstützt wurde. Demgegenüber kommt der Frage, wie der Vorsitzende, der oder die Antragsteller bzw. die weiteren Ausschussmitglieder den Antrag qualifiziert haben, keine maßgebliche Bedeutung für die hier vorzunehmende Bewertung zu (zu der auf ältere Gesetzesmaterialien zurückgehenden Bezeichnung als "Beweisvorbereitungsantrag" bzw. "Beweisvorbereitungsbeschluss": Glauben/Brocker a.a.O. § 16 Rdn. 8). Im Rahmen einer nach § 17 Abs. 4 PUAG zu treffenden Entscheidung ist ein Antrag als Beweisantrag zu behandeln, wenn er den an diesen zu stellenden Anforderungen entspricht. cc) Der Beweisantrag durfte von der Ausschussmehrheit nicht abgelehnt werden, da keiner der Ablehnungsgründe des § 17 Abs. 2 PUAG vorlag. (1.) § 17 Abs. 2 PUAG ermöglicht die - grundsätzlich zu begründende (BVerfGE 105, 197, 225 ; Glauben/Brocker a.a.O. § 27 Rdn. 9) - Ablehnung eines Beweisantrags nur im Fall der Unzulässigkeit der Beweiserhebung oder der Unerreichbarkeit des Beweismittels. (a.) Der Antrag durfte nicht wegen Unzulässigkeit der Beweiserhebung abgelehnt werden. Unzulässig ist die Beweiserhebung beispielsweise dann, wenn sie durch den Untersuchungsauftrag nicht gedeckt ist oder gegen verfassungsrechtliche, gesetzliche und geschäftsordnungsrechtliche Vorschriften verstößt (BT-Drs. 14/2363 S. 14; 14/5790 S. 17; Risch DVBl. 2003, 1418; Glauben/Brocker a.a.O. § 15 Rdn. 6 f.). Ein solcher Fall ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Allein der Umstand, dass ein Beweisantrag mehrfach gestellt wurde, macht - unabhängig davon, ob ein solcher Fall hier vorliegt - die Beweiserhebung nicht unzulässig. Ebenso wenig wäre die Beweiserhebung unzulässig, wenn ein Antrag trotz bereits erfolgter Ablehnung erneut oder wenn er nach durchgeführter Beweiserhebung nochmals gestellt werden würde (vgl. Fischer in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung a.a.O. § 244 Rdn. 107; zur Unterscheidung zwischen der Unzulässigkeit eines Beweisantrags und der Unzulässigkeit der Beweiserhebung auch Meyer-Goßner a.a.O. § 244 Rdn. 48). In diesen Fällen wäre die (erneute) Erhebung des Beweises nicht "verboten", sondern - möglicherweise - der Beweisantrag nicht als solcher zu behandeln oder unzulässig. Auch soweit sich die Antragsgegner auf eine Unzulässigkeit "wegen Geheimnisschutzinteressen" berufen, vermag dies die Ablehnung des Beweisantrags nicht zu rechtfertigen. Nach dem Wortlaut des § 96 StPO steht eine "Sperrerklärung" zwar schon dem Ersuchen um Übersendung von Akten entgegen. Jedoch wird die im Strafprozess durch §§ 95 , 96 StPO geregelte Aktenanforderung im Verfahren des Untersuchungsausschusses durch § 18 PUAG modifiziert. Sachlich gerechtfertigt dadurch, dass regelmäßig allein die aktenführende oder für die "Sperrerklärung" bzw. die Herausgabe der Akten verantwortliche Stelle die tatsächlichen Grundlagen und Hintergründe etwaiger "Geheimnisschutzinteressen" kennt und bewerten kann, besteht die Verpflichtung der Bundesregierung und der in § 18 Abs. 1 PUAG genannten Stellen, einem Aktenübersendungsersuchen des Untersuchungsausschusses zu entsprechen "vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Grenzen". Dies - und auch die Regelung in § 18 Abs. 2 PUAG - zeigt, dass der Untersuchungsausschuss ein solches Ersuchen auch dann stellen darf, wenn zu erwarten ist, dass es aus "verfassungsrechtlichen Gründen" abgelehnt wird; denn über deren Vorliegen entscheidet die Bundesregierung oder der zuständige Bundesminister und im Streitfall das Bundesverfassungsgericht - nicht aber schon vorab der Untersuchungsausschuss. Hinzu kommt, dass - falls schon der Untersuchungsausschuss im Hinblick auf eine drohende oder bereits tatsächlich abgegebene "Sperrerklärung" der Bundesregierung von einer mittels Beweisbeschluss einzufordernden Aktenübersendung absehen müsste - von ihm eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach § 18 Abs. 3 PUAG nicht mehr eingeholt werden könnte. Nichts anderes gilt, wenn das Aktenübersendungsersuchen in Form eines Beweisantrags gestellt wird. Im Übrigen ist vorliegend zudem zu berücksichtigen, dass die Übersendung der (nicht oder weniger umfassend geschwärzten) "Request for Information" bislang noch nicht in konkretisierter Form Gegenstand eines Beweisantrags oder eines Aktenübersendungsersuchens war. Auch der Beweisbeschluss 16-438 betrifft lediglich "Aufzeichnungen ... zwischen Stellen des BND ... und Stellen von Centcom". Hinzu kommt, dass die "Request for Information" nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrags der Antragstellerin in der Antragsschrift (S. 6) jedenfalls nicht nur aus den Gründen geschwärzt wurden, die der Vertreter des Bundeskanzleramts in der 110. Ausschusssitzung vom 18. Dezember 2008 (nochmals) erläuterte (fehlende Dispositionsbefugnis), und er dort zudem ankündigte, dass ein entsprechender Beweisantrag eine - wenn auch nicht aussichtsreiche - Anfrage um Freigabe bei der dispositionsbefugten Stelle zur Folge hätte. (b.) Auch der Ablehnungsgrund der Unerreichbarkeit lag und liegt nicht vor. Unerreichbar sind Beweismittel, bei denen der Untersuchungsausschuss nicht weiß oder nicht ermitteln kann, wo sie sich aufhalten oder bei denen abzusehen ist, dass sie auch nach Anwendung der im Untersuchungsausschussgesetz vorgesehenen Zwangsmittel für die Beweiserhebung im laufenden Untersuchungsverfahren nicht herbeigeschafft werden können (BT-Drs. 14/2363 S. 14; 14/5790 S. 17). Letzteres ist bezüglich der "Request for Information" aus den oben dargelegten Gründen nicht der Fall, Unerreichbarkeit aufgrund anderer Umstände ist ersichtlich nicht gegeben. (2.) Ob neben den in § 17 Abs. 2 PUAG aufgeführten Gründen noch weitere Umstände, wie Verschleppung oder offensichtlicher Missbrauch (BVerfGE 105, 197, 225) , die Ablehnung eines Beweisantrags rechtfertigen können oder ob solche Umstände bereits zur Unzulässigkeit der Beweiserhebung führen, bedarf keiner Entscheidung. Solche Umstände sind vorliegend nicht gegeben. dd) Bestand und besteht somit kein tragfähiger Grund für die Ablehnung des Antrags, waren die Ausschussmitglieder zumindest mehrheitlich (im Sinn des § 9 Abs. 4 Satz 1 PUAG ) verpflichtet, dem Beweisantrag zuzustimmen, mithin den Beweisbeschluss zu erlassen (vgl. BT-Drs. 14/2363 S. 14; 14/5790 S. 17; Klein in Maunz/Dürig a.a.O. Art. 44 Rdn. 198; Risch DVBl. 2003, 1418, 1423; zur entsprechenden Praxis der Untersuchungsausschüsse auch Platter a.a.O. S. 80 mit Beispielen in Fußn. 257). Dies ist nunmehr nachzuholen. Entsprechend war der Hilfsantrag der Antragstellerin auszulegen (vgl. zum Ziel des Hilfsantrags insbesondere S. 11, 17 der Antragsschrift). Diese Entscheidung des Untersuchungsausschusses kann der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs nicht ersetzen, da er andernfalls - weil sein Beschluss nicht Gegenstand oder Grundlage eines Organstreitverfahrens sein kann - dieses Beweismittel einem solchen verfassungsgerichtlichen Verfahren entziehen würde (vgl. Risch DVBl. 2003, 1418, 1423 f.). Ob dies auch dann gilt, wenn sich die Mehrheit des Untersuchungsausschusses trotz einer sie zur Zustimmung verpflichtenden gerichtlichen Entscheidung weigert, den Beweisbeschluss zu erlassen, bedarf hier keiner Entscheidung. Im Hinblick auf die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten sowie in Abgrenzung zur im Streitfall insofern allein dem Bundesverfassungsgericht zustehenden Entscheidungsbefugnis wird vorsorglich darauf hingewiesen, dass die vorliegende Entscheidung allein den Erlass eines Beweisbeschlusses durch den Untersuchungsausschuss zum Gegenstand hat, nicht aber dessen Vollzug oder gar die Bundesregierung dazu verpflichtet, dem Ausschuss (ungeschwärzte) Akten zur Verfügung zu stellen. III. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Ein Gebührentatbestand bezüglich der Gerichtskosten ist nicht ersichtlich, zudem wäre der Bund von der Zahlung dieser Gebühren befreit ( § 2 Abs. 1 Satz 1GKG). Auch für die Überbürdung der Kosten und Auslagen der Antragstellerin bzw. der Antragsgegner mangelt es an einer Rechtsgrundlage (vgl. zudem § 35 Abs. 1 PUAG ). [...] © copyright - Deubner Verlag, Köln
bundesgerichtshof
bgh_128-2014
11.09.2014
Bundesgerichtshof bestätigt Verurteilung einer Pflegedienstbetreiberin wegen Betrugs Ausgabejahr 2014 Erscheinungsdatum 11.09.2014 Nr. 128/2014 Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte über die Revision einer Betreiberin eines ambulanten Pflegedienstes zu entscheiden, die wegen Betrugs und Urkundenfälschung in zahlreichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte sich die Angeklagte gegenüber einer Kranken- und Pflegekasse vertraglich verpflichtet, die langfristige Pflege eines schwerkranken Wachkomapatienten zu übernehmen. Der Vertrag sah vor, dass eine bestimmte Anzahl täglicher Pflegestunden erbracht und für die Pflege nur Pflegepersonal mit einer besonderen Qualifikation für Intensivpflege eingesetzt werden sollte. Gegenüber der Kasse rechnete die Angeklagte eine überhöhte Anzahl Arbeitsstunden ab und versah die den Rechnungen beigefügten Leistungsnachweise überwiegend mit gefälschten Unterschriften der Ehefrau des Patienten. Außerdem hatte sie für die Pflege entgegen der vertraglichen Vereinbarung durchweg geringer qualifiziertes Personal eingesetzt. Der Pflegezustand des Patienten war während der Betreuung durch den Pflegedienst der Angeklagten dennoch gut. Das Landgericht hat in der Geltendmachung der Vergütungsansprüche durch die Angeklagte eine Täuschung der Kranken- und Pflegekasse über die vertragsgemäße Erbringung der Pflegeleistungen gesehen. Durch die Bezahlung der Rechnungen sei dieser auch insoweit ein Vermögensschaden entstanden, als die Leistungen mit geringer qualifiziertem Personal erbracht worden seien. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die gegen dieses Urteil eingelegte Revision der Angeklagten verworfen. Die Verurteilung wegen Betrugs ist rechtsfehlerfrei erfolgt. Der Angeklagten stand kein Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse zu. Denn das Unterschreiten der nach dem Vertrag vereinbarten Qualifikation des eingesetzten Pflegepersonals führt nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen des Sozialrechts auch dann zum vollständigen Entfallen des Vergütungsanspruchs des Betreibers eines Pflegedienstes, wenn die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden. Im vorliegenden Fall kam hinzu, dass die eingesetzten Mitarbeiter des Pflegedienstes der Angeklagten aufgrund ihrer geringeren Qualifikation eine hinreichende Versorgung des Patienten etwa in Notfallsituationen nicht sicherstellen konnten, weshalb die erbrachten Leistungen keine gleichwertige Gegenleistung für die Zahlungen der Krankenkasse darstellten. In Anlehnung an die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Abrechnungsbetrug bei kassen- und privatärztlichen Leistungen ist daher der Kranken- und Pflegekasse ein Betrugsschaden in voller Höhe der an die Angeklagte gezahlten Beträge entstanden. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Beschluss vom 16. Juni 2014 – 4 StR 21/14 LG Hagen – Urteil vom 24. Juni 2013 – 46 KLs 300 Js 1873/10 38/12 Karlsruhe, den 11. September 2014 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 4. Strafsenats vom 16.6.2014 - 4 StR 21/14 -
Zum Abrechnungsbetrug der Betreiberin eines ambulanten Pflegedienstes, deren Mitarbeiter nicht über die mit der Kranken- und Pflegekasse vertraglich vereinbarte Qualifikation verfügen. Tenor 1. Der Angeklagten wird auf ihren Antrag nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 24. Juni 2013 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.Die Kosten der Wiedereinsetzung hat die Angeklagte zu tragen.2. Die Revision der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen. Gründe Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Betrugs in 96 Fällen, davon in 91 Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, unter Einbeziehung der durch das Urteil des Amtsgerichts Velbert vom 19. September 2012 verhängten Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer Revision, die auf die Verletzung materiellen und formellen Rechts gestützt ist.A.Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils betrieb die Angeklagte, eine ausgebildete Krankenschwester, seit 2003 verschiedene Pflegedienste.Herr O. befand sich seit dem Frühjahr 2007 infolge einer schweren Erkrankung im Wachkoma; es entwickelte sich ein apallisches Syndrom. Ihm wurden ein Tracheostoma, eine Magensonde und ein Dauerkatheter gelegt. Ab September 2007 wurde er zu Hause gepflegt. Zu ihrer Unterstützung stellte seine Ehefrau jeweils für einen Zeitraum von etwa drei Monaten wechselnde Hilfskräfte aus Polen ein. Als sich der Gesundheitszustand ihres Ehemannes verschlechterte, entschloss sie sich, den Pflegedienst der Angeklagten zu beauftragen.Die zuständige Kranken- und Pflegekasse, die B. , genehmigte für die Zeit vom 10. August bis zum 2. Oktober 2008 eine 24stündige häusliche Krankenpflege, wobei vier Stunden auf die Grundpflege (Pflegeversicherung) und 20 Stunden auf die häusliche Krankenpflege (Krankenversicherung) entfielen. Ab dem 3. Oktober 2008 wurden zwölf Stunden häusliche Krankenpflege und zwei Stunden Grundpflege bewilligt.Der Pflegedienst der Angeklagten war Mitglied des Landesverbandes N. e.V., der mit verschiedenen Krankenkas- sen einen Vertrag zur Durchführung der häuslichen Krankenpflege, der häuslichen Pflege und der Haushaltshilfe geschlossen hatte. Die B. war nicht Partei dieses Vertrages, ließ aber seinen Inhalt gegen sich gelten. Da der Vertrag aber keine detaillierte Regelung über die häusliche Krankenpflege enthielt, waren Ergänzungsvereinbarungen zwischen der B. und den jeweiligen Pflegediensten erforderlich. Zwischen der B. und der Angeklagten auf Seiten des Pflegedienstes wurde deshalb im September 2008 eine "Ergänzungsvereinbarung zum Vertrag über die Durchführung häuslicher Krankenpflege gemäß § 37 SGB V sowie der Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI für beatmungspflichtige Versicherte" geschlossen, die unter anderem eine Vergütung für die "Behandlungspflege" von 32 € pro Stunde bis zum 11. September 2008 und von 29 € pro Stunde seit dem 12. September 2008 vorsah.Weiter heißt es in der Vereinbarung u.a.:"§ 1 - Gegenstand der Zusatzvereinbarung:(1) Diese Zusatzvereinbarung soll die Versorgung von Herrn O. nach § 37 SGB V sowie mit Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI sicherstellen, der einer besonders aufwändigen Behandlungspflege bedarf. Bei Herrn O. handelt es sich um einen Wachkomapatienten, der über mehrere Stunden am Tag bis rund um die Uhr unter Krankenbeobachtung stehen muss.§ 2 - Besondere Anforderungen an die Qualifikation der Pflegekräfte und an die Leistungserbringung:(1) Der Pflegedienst stellt sicher, dass er die ... Vertragsleistungen nur von dazu fachlich qualifizierten und berufsrechtlich legitimierten Pflegekräften durchführen lässt. Dazu gehört, dass er genügend fachlich weitergebildete Fachgesundheits- und Krankenpfleger/-innen für Intensivpflege und Anästhesie bzw. genügend Krankenpfleger/-innen und Kinderkrankenpfleger/-innen für pädiatrische Intensivpflege beschäftigt. ...(3) Der Pflegedienst hat dafür zu sorgen, dass die Pflege auch bei Abwesenheit von Pflegekräften wegen Verhinderung, Krankheit oder Urlaub durch leistungsfähige, gleich qualifizierte Vertretungen gewährleistet ist."Der den Vertrag auf Seiten der B. abschließende Leiter der Leis- tungsabteilung und die Angeklagte verstanden diese Vereinbarung übereinstimmend dahin, dass Herr O. ausschließlich durch Personal mit der ange- gebenen Zusatzqualifikation gepflegt werden oder zumindest das eingesetzte Personal engmaschig durch bei der Angeklagten beschäftigte Personen, die über diese Zusatzqualifikation verfügen, eingearbeitet, unterstützt und überwacht werden musste.In der Folgezeit setzte die Angeklagte zu keinem Zeitpunkt Personal ein, das über die in § 2 Abs. 1 Satz 2 der Zusatzvereinbarung beschriebene Qualifikation verfügte, sondern vielmehr examinierte Krankenschwestern, Altenpfleger/-innen, Altenpflegehelfer/-innen und Auszubildende zur Krankenschwester. Auch wurde das Personal nicht durch entsprechend qualifizierte Fachkräfte, die im Pflegedienst der Angeklagten auch nur kurzzeitig beschäftigt waren, eingearbeitet oder überwacht. Die Angeklagte selbst wies die eingesetzten Kräfte in die routinemäßig anfallenden Arbeiten ein und hielt sie an, sich im Übrigen an die anwesenden polnischen Frauen zu halten oder den Notarzt zu rufen. Die Pflege des Herrn O. erfolgte auch nicht über 24 Stunden bzw. 14 Stunden täglich, sondern lediglich in dem Zeitraum, in dem die Ehefrau des Patienten ihrem Beruf nachging, nämlich zwischen ca. 8.00 Uhr und ca. 14.00 Uhr im Umfang von 5,5 bis 7,5 Stunden täglich.Der Pflegezustand des Herrn O. war während des gesamten Tatzeit- raums gut; es konnte nicht festgestellt werden, dass Krisen oder Krankenhausaufenthalte während dieser Zeit durch eine unzureichende Pflege seitens des von der Angeklagten eingesetzten Personals verursacht wurden.Die Vereinbarungen zwischen dem Pflegedienst und der B. sa- hen ferner vor, dass den über Pflegeleistungen erstellten Rechnungen Leistungsnachweise beizufügen waren, die im Falle der Pflegeversicherungsleistungen / Grundleistungen die einzelnen erbrachten Leistungen und im Falle der Krankenversicherungsleistungen / Behandlungspflege die zeitliche Dauer der Leistungen an den jeweiligen Tagen dokumentieren sollten.Im Zeitraum zwischen dem 21. September 2008 und dem 15. August 2010 reichte die Angeklagte unter dem Namen verschiedener von ihr betriebener Pflegedienste an 96 Tagen insgesamt 123 Rechnungen samt Leistungsnachweisen bei der B. ein, an 93 Tagen Rechnungen an die Kranken- kasse - zum Teil zusammen mit Rechnungen an die Pflegeversicherung -, an drei Tagen lediglich Rechnungen an die Pflegeversicherung. Die Rechnungen über Krankenversicherungsleistungen waren hinsichtlich der geleisteten Arbeitsstunden überhöht. Die Unterschriften unter den beigefügten Leistungsnachweisen waren in 91 Fällen gefälscht.Die zuständigen Mitarbeiter der B. gingen bei der Prüfung der Rechnungen davon aus, dass die Leistungen entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen und in dem abgerechneten Umfang erbracht worden waren.Hätten sie von der tatsächlichen Qualifikation und der tatsächlichen Art und Weise der Einarbeitung und Überwachung des eingesetzten Personals oder der Fälschung der Unterschriften auf den Leistungsnachweisen erfahren, hätten sie die Bezahlung der Rechnungen vollständig verweigert.Insgesamt erlangte die Angeklagte aus den an 96 Tagen eingereichten Rechnungen einen Betrag in Höhe von 247.154,51 € von der B. , wobei 35.213,51 € auf die Pflegeversicherung und 211.941 € auf die Krankenversicherung entfielen.B.Der Angeklagten war gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie nach den Ausführungen ihres Verteidigers an der Fristversäumung kein Verschulden trifft (§ 44 StPO).C.Das Rechtsmittel der Angeklagten ist unbegründet.I.Die Verfahrensrüge greift aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 4. Februar 2014 nicht durch.II.Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge deckt keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Hinsichtlich des Tatbestands der Urkundenfälschung bedarf dies keiner näheren Darlegung. Aber auch den Tatbestand des Betrugs hat das Landgericht zu Recht als erfüllt angesehen.1. Die Angeklagte täuschte die zuständigen Mitarbeiter der B. durch die Einreichung der Rechnungen nebst Leistungsnachweisen konkludent über das Vorliegen der den Zahlungsanspruch begründenden Tatsachen. Soweit die Angeklagte Rechnungen mit überhöhter Stundenzahl eingereicht hat, liegt dies auf der Hand. Darüber hinaus gab die Angeklagte aber auch konkludent wahrheitswidrig vor, Pflegepersonal eingesetzt und beschäftigt zu haben, das die vertraglich vereinbarte Qualifikation aufwies. Im Einzelnen:a) Zwar fordert das SGB V bezüglich der häuslichen Krankenpflege keine besondere Qualifikation der von den Leistungserbringern eingesetzten Personen. Die Krankenkassen sind jedoch berechtigt, den Abschluss eines Vertrages über die Leistung häuslicher Krankenpflege von einer bestimmten formalen Qualifikation des Pflegepersonals abhängig zu machen (BSGE 90, 150, 154 ff.; BSGE 98, 12, 17, 19). Wird eine solche Vereinbarung getroffen, bildet sie neben den gesetzlichen Bestimmungen die Grundlage der Leistungsbeziehung und soll sicherstellen, dass sich die Pflege nach den gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen vollzieht (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Mai 2000 - B 3 KR 19/99 B, Rn. 5, juris; BSGE 94, 213, 220 Rn. 26; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. April 2008 - L 1 KR 78/07, Rn. 32, juris). Eine solche Bestimmung haben die Vertragsparteien hier in § 2 der am 12. September 2008 unterzeichneten "Ergänzungsvereinbarung" getroffen, und zwar ausdrücklich für die häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V und die Pflegesachleistung nach § 36 SGB XI. Die Leistungserbringung gegenüber der Krankenversicherung und gegenüber der Pflegeversicherung richtete sich daher nach denselben Maßstäben.b) Das Landgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass nach der getroffenen Vereinbarung jegliche pflegerische Versorgung des Patienten O. durch besonders qualifiziertes Personal, nämlich durch Fachgesund- heits- und Krankenpfleger/-innen und Kinderkrankenpfleger/-innen für pädiatrische Intensivpflege durchgeführt werden, zumindest aber das Personal durch derart ausgebildete Personen eingearbeitet, angeleitet, unterstützt und überwacht werden sollte. Die Bestimmung in § 2 Abs. 1 Satz 2 der Vereinbarung, dass der Pflegedienst genügend Fachgesundheits- und Krankenpfleger/-innen für Intensivpflege und Anästhesie bzw. Krankenpfleger/-innen und Kinderkrankenpfleger/-innen für pädiatrische Intensivpflege beschäftigen müsse, hat das Landgericht - ebenso wie die Vertragsparteien - als Konkretisierung der Anforderungen im Satz 1 der Regelung verstanden. Danach waren die Herrn O. verordneten Vertragsleistungen nur von dazu fachlich besonders quali- fizierten Pflegekräften durchzuführen. Gegen diese Auslegung des Vertrags, die dem Tatrichter obliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2012 - 3 StR 314/12, StraFo 2013, 123, 125; Urteil vom 13. Mai 2004 - 5 StR 73/03, NJW 2004, 2248, 2250), ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern.c) Hiervon ausgehend hat das Landgericht rechtsfehlerfrei auch insoweit in den Abrechnungen der Angeklagten eine Täuschung der Mitarbeiter der B. erblickt; denn tatsächlich setzte die Angeklagte - obwohl sie dies in den eingereichten Rechnungen zumindest konkludent (mit-)erklärt hat - zur Pflege des Herrn O. zu keinem Zeitpunkt Mitarbeiter mit der vereinbarten Zu- satzqualifikation ein und veranlasste auch keine Einweisung und Überwachung des vor Ort tätigen Personals durch solche Mitarbeiter. Auch hatte sie nur kurzzeitig Personal beschäftigt, das diese Qualifikation aufwies.2. Ausweislich der rechtsfehlerfreien Feststellungen gingen die Mitarbeiter der B. deshalb davon aus, dass die Angeklagte die Leistungen wie vereinbart erbracht habe und bezahlten die Rechnungen. Hätten sie von der fehlenden Qualifikation des Personals gewusst, hätten sie dies nicht getan.3. Der B. ist durch die irrtumsbedingte Bezahlung der Rechnun- gen ein Vermögensschaden entstanden.Ein solcher tritt ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des Gesamtwerts des Vermögens des Verfügenden führt (Gesamtsaldierung, vgl. BGH, Urteil vom 27. Juni 2012 - 2 StR 79/12, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 77; Beschlüsse vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11, BGHSt 57, 95 Rn. 75; vom 5. Juli 2011 - 3 StR 444/10, jeweils mwN). Aus dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG folgt dabei, dass die gebotene wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht durch eine normative Auslegung des Merkmals des Vermögensnachteils bzw. -schadens überlagert werden darf (vgl. BVerfG, NStZ 2010, 626, 629; NJW 2012, 907, 916 f.).a) Nach diesem Maßstab liegt zunächst ein Vermögensschaden der B. vor, soweit die Angeklagte in sämtlichen Abrechnungen gegenüber der Krankenkasse mehr Dienststunden angegeben hat als tatsächlich geleistet wurden (vgl. BGH, Urteil vom 1. Dezember 1989 - 4 StR 419/89, BGHSt 36, 320, 321; Volk, NJW 2000, 3385, 3386; SSW-StGB/Satzger, 2. Aufl., § 263 Rn. 255).b) Aber auch soweit durch die Mitarbeiter der Angeklagten die Pflegeleistungen tatsächlich erbracht wurden, tragen die Feststellungen die Annahme eines Vermögensschadens und damit die Verurteilung wegen Betrugs.aa) Denn die B. war im Tatzeitraum nicht zur Zahlung der in Rechnung gestellten Beträge verpflichtet, da die von der Angeklagten eingesetzten und beschäftigten Pflegekräfte nicht über die in der Vereinbarung zwischen der Angeklagten und der B. vorausgesetzte Qualifikation verfüg- ten.Das Unterschreiten der nach dem Vertrag vereinbarten Qualifikation führt nach den insoweit maßgeblichen Grundsätzen des Sozialrechts auch dann zum vollständigen Entfallen des Vergütungsanspruchs, wenn die Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden ("streng formale Betrachtungsweise", vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02, BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensschaden 62 m. Anm. Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316; Beschluss vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94, NStZ 1995, 85 f.; Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. Dezember 2009 - L 1 KR 89/06, Rn. 36, juris). Dies ergibt sich aus Folgendem:Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können die Krankenkassen auf formalen Ausbildungs- und Weiterbildungsqualifikationen bestehen, weil sonst eine den praktischen Erfordernissen entsprechende Qualitätskontrolle der Leistungserbringung nicht möglich ist (BSGE 98, 12 Rn. 32 mwN). Die Abrechenbarkeit von Leistungen knüpft daher streng an die formale Qualifikation des Personals an, wobei die vertragliche Vereinbarung mit dem Leistungserbringer maßgeblich ist (SG Potsdam, Urteil vom 8. Februar 2008 - S 7 KR 40/07, juris; SG Dresden, Beschluss vom 10. September 2003 - S 16 KR 392/03 ER). Dem Leistungserbringer steht daher für Leistungen, die er unter Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften oder vertragliche Vereinbarungen bewirkt, auch dann keine Vergütung zu, wenn diese Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht sind (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Mai 2000 - B 3 KR 19/99 B, Rn. 5, juris; BSGE 94, 213, 220 Rn. 26; Urteil vom 8. September 2004 - B 6 KA 14/03 R, Rn. 23, juris, jeweils mwN). Auch Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung oder Geschäftsführung ohne Auftrag scheiden in diesen Fällen aus (BSG, Beschluss vom 17. Mai 2000 - B 3 KR 19/99 B, Rn. 5, juris). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Rechtsauffassung bestehen nicht. Die Regelungen im Sozialrecht dienen in erster Linie der Wirtschaftlichkeit und der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, welche einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang darstellen (vgl. BVerfG, NJW 2014, 2340, 2341 Tz. 34).Hatten die Angeklagte und die Pflegedienste mithin unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf die geltend gemachten Leistungen, so ist der B. mit den Zahlungen wirtschaftlich - nicht lediglich normativ - ein entsprechender Schaden entstanden.bb) Darüber hinaus stellte die Arbeitsleistung als solche keine Gegenleistung für die Zahlungen der Kranken- und Pflegekasse dar. Aufgrund der verletzten vertraglichen Vorgabe war unter den hier gegebenen besonderen Umständen die Qualität der Leistung so gemindert, dass ihr wirtschaftlicher Wert gegen Null ging (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juli 2014 - 5 StR 182/14, Rn. 13; Singelnstein, wistra 2012, 417, 422; Schönke-Schröder/Perron, StGB, 29. Aufl., § 263 Rn. 112b; Luig, Vertragsärztlicher Abrechnungsbetrug und Schadensbestimmung, 2009, S. 147; Volk, NJW 2000, 3385, 3387 f.; Dannecker/Bülte, NZWiSt 2012, 81, 84; Dann, NJW 2012, 2001, 2003; Wischnewski/Jahn, GuP 2011, 212, 215; zum Abrechnungsbetrug bei Kassenärzten vgl. auch Lindemann, NZWiSt 2012, 334, 39; Grunst, NStZ 2004, 533, 536 f.; Idler, JuS 2004, 1037, 1041; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl., § 14, Rn. 14/33; Stein, MedR 2001, 124, 127, 130). Denn eine hinreichende Versorgung konnte bei dem tracheostomierten Patienten O. unter Berücksichtigung möglicher Notfallsituationen, die eine Beatmung notwendig machen konnten, entsprechend der Auffassung der B. nur erfolgen, wenn die eingesetzten Mitar- beiter über eine Zusatzausbildung zum Fachgesundheitspfleger oder Krankenpfleger bzw. Kinderkrankenpfleger für pädiatrische Intensivpflege verfügten. Dies sollte durch die vertraglichen Vereinbarungen mit der Angeklagten über die Zusatzqualifikation sichergestellt werden, was dieser auch bekannt war. Die eingesetzten Mitarbeiter der Angeklagten erhielten jedoch nicht einmal nähere Instruktionen darüber, welche Komplikationen bei Herrn O. eintreten könn- ten und welche Maßnahmen bei einem Notfall, z.B. während der Wartezeit auf den Notarzt zu ergreifen wären. Sie wurden lediglich darauf verwiesen, sich an die vor Ort tätigen, nicht ausgebildeten polnischen Hilfskräfte, die allerdings kaum Deutsch sprachen, zu wenden oder gegebenenfalls den Notarzt zu rufen. Vor diesem Hintergrund stellten die tatsächlich erbrachten Leistungen der Pflegedienste der Angeklagten nicht nur eine Schlechtleistung dar, sondern stehen einer Nichterbringung der vertraglich geschuldeten Leistung gleich. Die von der Angeklagten erbrachten Leistungen waren daher auch unabhängig von dem Entfallen eines sozialversicherungsrechtlichen Vergütungsanspruchs bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise für die B. wertlos.Schon aus diesem Grund steht der Annahme eines Vermögensschadens auch das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, das eine Ersetzung der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise durch eine normative Auslegung des Merkmals des Vermögensnachteils bzw. -schadens verbietet (vgl. BVerfG, NStZ 2010, 626, 629; NJW 2012, 907, 916 f.), nicht entgegen.cc) Der Annahme eines vollständigen Vermögensverlustes steht auch nicht entgegen, dass die B. die dem Versicherten O. geschuldeten Leistungen im Nachhinein nicht mehr erbringen muss. Dabei kann dahinstehen, ob der Anspruch des Versicherten O. auf häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V durch das Tätigwerden der Angeklagten erloschen ist (vgl. LG Lübeck, GesR 2006, 176, 177; Grunst, NStZ 2004, 533, 535; Gaidzik, wistra 1998, 329, 331 f.; Ellbogen/Wichmann, MedR 2007, 14; Saliger, ZIS 2011, 902, 917; Idler, JuS 2004, 1037, 1041). Insoweit fehlt es jedenfalls bereits an der erforderlichen Unmittelbarkeit des herbeigeführten Vermögenszuwachses. Denn eine Befreiung von der Leistungspflicht gegenüber dem Versicherungsnehmer stellt keine Gegenleistung für die gezahlte Pflegevergütung dar. Sie würde vielmehr aus einer anderen Leistungsbeziehung als derjenigen zwischen der B. und der Angeklagten herrühren (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11, BGHSt 57, 95, 117; MüKoStGB/Hefendehl, 2. Aufl., § 263 Rn. 582; Hellmann, NStZ 1995, 232, 233; Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316).Aus demselben Grund entfällt der Vermögensschaden auch nicht dadurch, dass die Krankenkasse keinen anderen Pflegedienst mit der Pflege des Herrn O. beauftragen musste und deshalb Aufwendungen erspart hat (BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11, aaO, 118 f.; Urteil vom 4. September 2012 - 1 StR 534/11, BGHSt 57, 312 Rn. 52; Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02, NStZ 2003, 313, 315 mit zust. Anm. Beckemper/Wegner, NStZ 2003, 315, 316; Beschluss vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94, NStZ 1995, 85, 86 mit zust. Anm. Hellmann, NStZ 1995, 232, 233; SSW-StGB/Satzger, 2. Aufl., § 263 Rn. 256; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 263 Rn. 155; aA Wischnewski/Jahn, GuP 2011, 212, 216; Wasserburg, NStZ 2003, 353, 357).III.Auch der Strafausspruch begegnet keinen rechtlichen Bedenken.Da sich die erbrachten Leistungen des Pflegedienstes der Angeklagten aus den vorgenannten Gründen nicht schadensmindernd auswirkten, hat das Landgericht zu Recht einen Vermögensschaden der B. in voller Höhe der bezahlten Rechnungen angenommen. Ob bei der Strafzumessung in Fällen zu Unrecht abgerechneter pflegerischer Leistungen der Umstand tatsächlich erbrachter Leistungen und hierzu entstandener Aufwendungen strafmildernd berücksichtigt werden muss (so für vertragsärztliche Abrechnungen BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 3 StR 161/02, NJW 2003, 1198, 1200; Beschluss vom 28. September 1994 - 4 StR 280/94, NStZ 1995, 85 f.; offen gelassen für den Bereich privatärztlicher Liquidation in BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11, NJW 2012, 1377, 1385 Rn. 109), kann letztlich offen bleiben. Das Landgericht hat bei der Strafrahmenwahl und bei der Strafzumessung ausdrücklich berücksichtigt, dass "es sich bei dem entstandenen Vermögensschaden um einen formalen Schaden handelt und die geschädigte Versicherung die ausgezahlten Beträge in Höhe von insgesamt 247.154,51 € auch bei ordnungsgemäßer Leistung hätte zahlen müssen und nicht an einen anderen Dienst nachentrichten, also noch einmal zahlen muss". Dass dies hinsichtlich der nicht erbrachten Arbeitsstunden nicht zutrifft, beschwert die Angeklagte nicht.Sost-Scheible Roggenbuck Franke Mutzbauer Quentin
bundesgerichtshof
bgh_136-2013
15.08.2013
Bundesgerichtshof entscheidet im Streit zwischen der weltweit tätigen Hard Rock-Gruppe und dem "Hard Rock Cafe Heidelberg" Ausgabejahr 2013 Erscheinungsdatum 15.08.2013 Nr. 136/2013 Das "Hard Rock Cafe Heidelberg" kann unter dieser Bezeichnung weiter betrieben werden, es dürfen dort aber keine mit dem international bekannten "Hard-Rock-Cafe-Logo" gekennzeichneten Artikel mehr verkauft werden. Das hat der u.a. für das Wettbewerbs- und Markenrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs heute entschieden. Die Klägerin zu 1, die zur weltweit tätigen Hard-Rock-Gruppe gehört, betreibt Hard-Rock-Cafés in Berlin, München und Köln. Die Klägerin zu 2 ist Inhaberin zahlreicher Wort- und Wort-/Bildmarken "Hard Rock Cafe". Die Beklagte zu 1, deren Geschäftsführer der Beklagte zu 3 ist, betreibt ein Restaurant unter der Bezeichnung "Hard Rock Cafe Heidelberg". Bei der Einrichtung und Ausstattung des Restaurants hatten sich seine Gründer bewusst an dem 1971 in London eröffneten "Hard Rock Cafe" orientiert. Jedenfalls seit 1978 verwendet die Beklagte zu 1 das typische kreisrunde Hard-Rock-Logo der Klägerin zu 2 in Speise- und Getränkekarten sowie auf Gläsern. Sie benutzt die Wortfolge "Hard Rock Cafe" sowie das Logo als Eingangsschild, auf der Eingangstür und in den Fenstern ihres Restaurants und bietet Merchandising-Artikel an, die ebenfalls dieses Logo tragen. Die Klägerinnen meldeten erstmals Ende 1986 ihr Logo als Marke für Bekleidung in Deutschland an; ihr erstes deutsches Hard-Rock-Café wurde 1992 in Berlin eröffnet. Unmittelbar danach erwirkten die Klägerinnen eine einstweilige Verfügung gegen die Beklagte, nahmen aber den Antrag auf ihren Erlass nach Widerspruch der Beklagten zurück. Mit der Klage im vorliegenden Verfahren wollen die Klägerinnen es den Beklagten verbieten lassen, unter der Bezeichnung "Hard Rock" und unter den Logos "Hard Rock Cafe Heidelberg" ein Restaurant zu betreiben oder zu bewerben, sowie Merchandising-Artikel mit dem Aufdruck "Hard Rock Cafe" zu vertreiben; außerdem sollen die Beklagten zu 2 und 3 auf bestimmte für sie registrierte Domainnamen mit dem Bestandteil "hardrock-cafe" verzichten. Schließlich möchten die Klägerinnen die Verurteilung der Beklagten zur Auskunfterteilung und Vernichtung von mit dem Hard-Rock-Logo versehenen Merchandising-Artikeln sowie die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten erreichen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerinnen blieb ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat die Auffassung des Berufungsgerichts bestätigt, Ansprüche gegen den Betrieb des Heidelberger Restaurants unter der Bezeichnung "Hard Rock" seien verwirkt, weil die Klägerinnen diese Firmierung nach Rücknahme des Antrags auf einstweilige Verfügung mehr als 14 Jahre geduldet haben. Im Übrigen hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben, der Klage hinsichtlich des Vertriebs konkret bezeichneter Merchandising-Artikel stattgegeben und die Sache im übrigen Umfang der Aufhebung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Rechtsfolge der Verwirkung im Marken- und Lauterkeitsrecht ist allein, dass ein Markeninhaber seine Rechte wegen bestimmter, bereits begangener oder noch andauernder Rechtsverletzungen nicht mehr durchsetzen kann. Bei wiederholten, gleichartigen Verletzungshandlungen lässt jede Verletzungshandlung einen neuen Unterlassungsanspruch entstehen. Auch längere Untätigkeit des Markeninhabers kann insoweit kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, derartiges Verhalten werde weiterhin geduldet. Jedes Angebot und jeder Verkauf eines Merchandising-Artikels, jede neue Werbung und jeder neue Internetauftritt sind für die Frage der Verwirkung daher gesondert zu betrachten. Der Vertrieb der Merchandising-Artikel durch die Beklagten verletzt die Markenrechte der Klägerin zu 2. Er verstößt auch gegen das wettbewerbsrechtliche Irreführungsverbot. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Beklagten den Vertrieb derartiger Produkte in Deutschland möglicherweise schon vor der Klägerin aufgenommen haben. Das Restaurant der Beklagten befindet sich in bester touristischer Lage Heidelbergs. Ein erheblicher Teil seiner Kunden sind ortsfremde Gäste, denen die Hard-Rock-Cafés der Klägergruppe bekannt sind, die aber nicht wissen, dass das Restaurant der Beklagten nicht dazu gehört. Diese Irreführung müssen die Beklagten unterbinden. Über die weiteren Ansprüche der Klägerinnen konnte der Bundesgerichtshof nicht abschließend entscheiden. Insoweit wird es unter anderem darauf ankommen, ob die Beklagten für die Bezeichnung "Hard Rock Cafe Heidelberg" schon einen Schutz als Unternehmenskennzeichen im Raum Heidelberg erworben hatten, bevor für die Klägerin zu 2 Marken in Deutschland angemeldet worden sind. Soweit den Beklagten die weitere Verwendung der Logos "Hard Rock Cafe" zu gestatten sein sollte, müssten sie durch klarstellende Zusätze Verwechslungen mit den Restaurants der Klägerinnen ausschließen. Urteil vom 15. August 2013 - I ZR 188/11 – Hard Rock Café OLG Karlsruhe - Urteil vom 14. September 2011 – 6 U 94/10 LG Mannheim - Urteil vom 7. Mai 2010 – 7 O 275/09 Karlsruhe, den 15. August 2013 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des I. Zivilsenats vom 15.8.2013 - I ZR 188/11 -
a) Nach Umsetzung des Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2005/29/EG ins deutsche Recht besteht der lauterkeitsrechtliche Schutz aus § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und § 5 Abs. 2 UWG neben dem individualrechtlichen Schutz aus dem Markenrecht.b) An dem Grundsatz, dass in Fällen der Irreführung eine Verwirkung des Unterlassungsanspruchs im Allgemeinen ausscheidet, wird jedenfalls für die Fallgruppe der Irreführung über die betriebliche Herkunft gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG nicht festgehalten (Klarstellung zu BGH, Urteil vom 29. September 1982 - I ZR 25/80, GRUR 1983, 32, 34 = WRP 1983, 203 - Stangenglas I).c) Soweit Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG die Absicht des Werbenden voraussetzt, über die betriebliche Herkunft zu täuschen, reicht es aus, dass der Werbende mit bedingtem Vorsatz handelt, also eine Täuschung von Verbrauchern für möglich hält und billigend in Kauf nimmt.d) Für die Anwendung der Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG kommt es nicht darauf an, welche der Parteien den Vertrieb der Waren oder Dienstleistungen zuerst aufgenommen hat.e) Gleichartige, jeweils abgeschlossene Verletzungshandlungen lösen jeweils einen neuen Unterlassungsanspruch aus; im Rahmen der Verwirkung ist daher für das Zeitmoment auf die letzte Verletzungshandlung abzustellen (im Anschluss an BGH, Urteil vom 18. Januar 2012 - I ZR 17/11, GRUR 2012, 928 Rn. 23 = WRP 2012, 1104 - Honda-Grauimport). Tenor I. Auf die Revisionen der Klägerinnen zu 1 und zu 2 wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 14. September 2011 unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als - hinsichtlich der Klageanträge zu 1.1 (c) und 1.1 (d), des Hilfsantrags zu 1.1 (e) - insoweit jedoch allein in Bezug auf die Beklagten zu 1 und 3 - und der hierauf rückbezogenen Anträge zu 1.2 bis 1.4, hinsichtlich des Antrags zu 2.2 und in Bezug auf die Beklagten zu 1 und 3 hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungssenat gestellten Hilfsantrags zum Nachteil der Klägerin zu 1 und - hinsichtlich der Klageanträge zu 1.1 (a) in der Alternative "ein Restaurant zu bewerben", 1.1 (c), 1.1 (d), des Hilfsantrags zu 1.1 (e) - insoweit jedoch allein in Bezug auf die Beklagten zu 1 und 3 - und der hierauf rückbezogenen Anträge zu 1.2 bis 1.4 sowie hinsichtlich der Anträge zu 2.1 bis 3 zum Nachteil der Klägerin zu 2 erkannt worden ist.II. Auf die Berufung der Klägerinnen zu 1 und 2 wird das Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Mannheim vom 7. Mai 2010 abgeändert. Die Beklagten zu 1 und zu 3 werden verurteilt,1. es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr die nachfolgend abgebildeten Merchandising-Artikel und Souvenirs mitdem Aufdruck "Hard Rock Cafe" anzubieten, zu vertreiben und/oder zu bewerben2. Auskunft zu erteilen über den Umfang der Verletzungshandlungen durch die unter 1. genannten Produkte sowie den damit erzielten Umsatz und Gewinn, und zwar unter Angabe- der Menge der Produkte,- der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des entstandenen Gewinns, wobei der erzielte Gewinn nicht durch den Abzug von Fixkosten und variablen Gemeinkosten gemindert ist, es sei denn, diese können ausnahmsweise den Verletzerprodukten unmittelbar zugeordnet werden, wobei die Richtigkeit der Angaben durch Übermittlung entsprechender Belege nachzuweisen ist,- der Art, des Zeitraums und des Umfangs der Bewerbung der Produkte, worunter auch das Anbieten der Produkte über das Internet fällt,wobei sich die Auskunftspflicht gegenüber der Klägerin zu 1 auf ab dem 16. Januar 2009 und gegenüber der Klägerin zu 2 auf ab dem 1. Januar 2006 begangene Verletzungshandlungen beschränkt.3. Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1 und zu 3 verpflichtet sind, der Klägerin zu 1 den entstandenen und zukünftig entstehenden Schaden durch nach dem 16. Januar 2009 begangene Verletzungshandlungen gemäß Nr. 1 zu ersetzen.4. Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1 und zu 3 verpflichtet sind, der Klägerin zu 2 den entstandenen und zukünftig entstehenden Schaden durch nach dem 1. Januar 2006 begangene Verletzungshandlungen gemäß Nr. 1 zu ersetzen.III. Im übrigen Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, streiten die Parteien über Ansprüche, die auf Unterlassung, Auskunft, Schadensersatz und Vernichtung gerichtet sind, sowie über den Verzicht auf bestimmte Domainnamen im Zusammenhang mit der Bezeichnung und dem Logo "Hard Rock Cafe".Die Klägerin zu 1, die zur weltweit tätigen Hard-Rock-Gruppe mit derzeit ca. 140 Hard-Rock-Cafes in 50 Ländern gehört, betreibt drei deutsche Hard-Rock-Cafes in Berlin, München und Köln.Die Klägerin zu 2 ist Inhaberin zahlreicher Wort- und Wort-Bild-Marken mit dem Wortbestandteil "Hard Rock Cafe" und "Hard Rock". Die nachfolgend wiedergegebene schwarzweiße Wort-Bild-Marke (DE 11 867 94) wurde am 5. Dezember 1986 angemeldet und am 26. Januar 1993 für "Bekleidungsstücke, Schuhwaren, Kopfbedeckungen" eingetragen:Die Beklagte zu 1, deren Geschäftsführer der Beklagte zu 3 ist, betreibt in der Hauptstraße in Heidelberg ein Restaurant unter der Bezeichnung "Hard Rock Cafe Heidelberg". Sie bewirbt es im Internet auf den Seiten www.topausgehen.de und www.hardrockcafe.de, in deren Impressum sie als Verantwortliche genannt ist. Die Beklagte zu 2 ist bei der Denic als Inhaberin dieser beiden Domainnamen, der Beklagte zu 3 als Inhaber der Domainnamen www.hardrockcafe-1 heidelberg.de, www.hardrockcafeonline.de, www.hardrockcafeonline.de und www.hardrockcafeshop.de registriert. Bei Eingabe eines der für den Beklagten zu 3 registrierten Domainnamen erfolgt eine automatische Umleitung auf die Internetseite www.topausgehen.de.Die Beklagte zu 1 benutzt die Wortfolge "Hard Rock Cafe" sowie das oben dargestellte Logo in und an ihrem Restaurant, insbesondere als Eingangsschild, auf der Eingangstür und in den Fenstern. Sie bietet auch zahlreiche Merchandising-Artikel zum Verkauf an, auf denen die Wortfolge und/oder das Logo aufgedruckt sind. Seit wann diese Benutzungen erfolgen, ist zwischen den Parteien streitig. Jedenfalls verwendet die Beklagte zu 1 das kreisrunde Logo seit ihrer Gründung im Jahr 1978 in Speise- und Getränkekarten sowie auf Gläsern.Im Jahr 1978 waren für die Klägerin zu 2 in der Bundesrepublik Deutschland keine Marken "Hard Rock Cafe" registriert. In Europa gab es zu diesem Zeitpunkt lediglich ein von der Klägergruppe betriebenes Hard-Rock-Cafe in London, das den Gründern der Beklagten zu 1 bekannt war und das ihnen bei der Eröffnung ihrer Gaststätte als Vorbild diente. Dementsprechend sind an den Wänden der Gaststätte unter anderem Gitarren, Schallplatten sowie Fotografien von Musikern angebracht.Am 9. August 1993 erwirkten die Klägerinnen zu 2 und 3 vor dem Landgericht Mannheim wegen Verletzung der Wort-Bild-Marke DE 11 867 94 eine einstweilige Verfügung, durch die der Beklagten zu 1 verboten wurde, mit der Marke gekennzeichnete Bekleidungsstücke anzubieten, zu vertreiben oder zu bewerben. Nachdem die Beklagte zu 1 im dagegen gerichteten Widerspruch darauf hingewiesen hatte, dass ihr Restaurant bereits seit Ende 1978 unter der Bezeichnung "Hard Rock Cafe" geführt wird und dort seit 1985 Merchandising-5 Artikel mit diesem Logo vertrieben werden, nahmen die Klägerinnen den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurück. Bis zu einem Schreiben der Klägerin zu 2 vom 11. Februar 2008, in dem sie sich allein gegen die Nutzung der für die Beklagten zu 2 und zu 3 registrierten Domainnamen mit den Wortfolgen "hardrockcafe" oder "hardrockcafe" wandte, gab es hinsichtlich der nun im Streit stehenden Ansprüche keinen weiteren Kontakt zwischen den Parteien.Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, haben die Klägerinnen zu 1 und 2 in der Berufungsinstanz beantragt,1. die Beklagten unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verurteilen,1.1 es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr(a) unter der Bezeichnung "Hard Rock" ein Restaurant zu betreiben oder zu bewerben,...(c) unter den nachfolgend abgebildeten Logos ein Restaurant zu betreiben oder zu bewerben(d) mit den nachfolgend abgebildeten Logos auf den Webseiten www.topausgehen.de/index_hardrock.php und www.hardrockcafe.de/index_hardrock.php ein Restaurant zu bewerben(e) Merchandising-Artikel und Souvenirs mit dem Aufdruck "Hard Rock Cafe" anzubieten, zu vertreiben und/oder zu bewerben, insbesondere die nachfolgend abgebildeten Produkte[es folgen 24 Produktabbildungen].Außerdem haben die Klägerinnen zu 1 und 2 die Verurteilung der Beklagten zur Auskunftserteilung (Antrag zu 1.2), Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten (Antrag zu 1.3) sowie Vernichtung der unter 1.1 (e) aufgeführten Merchandising-Produkte im Besitz der Beklagten zu 1 sowie deren endgültige Entfernung aus den Vertriebswegen (Antrag zu 1.4) begehrt.Die Klägerinnen zu 1 und 2 haben ferner beantragt, 2. die Beklagte zu 2 zu verurteilen, 2.1 gegenüber der Denic auf den Domainnamen hardrockcafe.de zu verzichten, 2.2 es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr mit den nachfolgend abgebildeten Logos auf den Webseiten www.topausgehen.de, www.hardrockcafe.de, www.topausgehen.de/index_hardrock.php und www.hardrockcafe.de/index_hardrock.php ein Restaurant zu bewerben[es folgen die unter 1.1 (d) wiedergegebenen Abbildungen]3. den Beklagten zu 3 zu verurteilen, gegenüber der Denic auf die Domainnamen hardrockcafeheidelberg.de, hardrockcafeonline.de, hardrockcafeonline.de sowie hardrockcafeshop.de zu verzichten.Die Klägerinnen zu 1 und 2 haben im Termin vor dem Berufungsgericht zu den Anträgen zu 1.1 (c) und 1.1 (d) klargestellt, dass sich der Angriff jeweils gegen die Verwendung der einzelnen dort wiedergegebenen Logos richtet, zwischen die Abbildungen also jeweils ein "oder" einzufügen sei. 9 Die Klägerin zu 1 hat im Termin außerdem hilfsweise beantragt, den Beklagten unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verbieten, ein Restaurant unter der Bezeichnung "Hard Rock Cafe" zu betreiben oder zu bewerben, wenn dabeia) die unter Ziffer 1.1 (c) aufgeführten Logos verwendet werden, wobei die Aufzählung jeweils mit "und/oder" verbunden ist undb) Merchandising-Artikel und/oder Souvenirs mit dem Aufdruck "Hard Rock Cafe" angeboten, vertrieben und/oder beworben werden, wenn dies in der Aufmachung erfolgt gemäß Ziffer 1.1 (e), wobei auch hier die einzelnen Darstellungen durch "und/oder" verbunden sein sollen, undc) in der Inneneinrichtung Gitarren oder Schallplatten oder Fotografien von Musikern verwendet werden, wenn dies wie in den Fotos gemäß Anlagen BK 16 geschieht, undd) ...Die Berufung der Klägerinnen ist ohne Erfolg geblieben.Mit ihrer - hinsichtlich der Klägerin zu 1 vom Berufungsgericht und hinsichtlich der Klägerin zu 2 vom Senat - zugelassenen Revision verfolgen die Klägerinnen zu 1 und 2 ihre Anträge aus der Berufungsinstanz in dem oben wiedergegebenen Umfang weiter. Die Beklagten beantragen, die Rechtsmittel zurückzuweisen. Gründe A. Das Berufungsgericht hat angenommen, markenrechtlichen Ansprüchen der Klägerin zu 2 stehe jedenfalls der Einwand der Verwirkung entgegen, nachdem die Klägerin zu 2 nach Rücknahme ihres Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung im Jahre 1993 bis zum 11. Februar 2008 untätig geblieben sei. Die Beklagte zu 1 bzw. deren damalige Geschäftsführer seien bei der Benutzungsaufnahme nicht bösgläubig gewesen, da sie zu diesem Zeit-12 punkt nicht damit habe rechnen müssen, dass die Klägerinnen ihre Aktivitäten auf den Kontinent ausdehnen würden. Auf den Einwand der Verwirkung könnten sich auch die Beklagten zu 2 und 3 berufen.Wettbewerbsrechtliche Ansprüche der Klägerin zu 1 kämen ebenfalls nicht in Betracht. Die Klageanträge zu 1.1 (a) bis (d) seien zu weit gefasst, weil mit ihnen den Beklagten auch eindeutig erlaubte Handlungen verboten werden sollten. Der Hauptantrag zu 1.1 (e) sei jedenfalls zu weit, weil er jede denkbare Gestaltung des Aufdrucks "Hard Rock Cafe" umfasse.Die Klage habe auch keinen Erfolg, soweit die Klägerin zu 1 hilfsweise ein auf konkret abgebildete Merchandising-Artikel beschränktes Vertriebsverbot erstrebe. Ein Anspruch aus Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG bestehe nicht, weil es an einer Täuschungsabsicht der Beklagten fehle. Zwar könne angenommen werden, dass die Beklagten eine Täuschung solcher Verbraucher in Kauf nähmen, die die Gaststätten der Klägerinnen kennten und aufgrund der ähnlichen Gestaltung der Merchandising-Artikel der Beklagten meinten, diese seien unter Verantwortung der Klägerin zu 1 oder eines Unternehmens der gleichen Gruppe hergestellt worden. Da die Beklagte zu 1 in Deutschland den Vertrieb solcher Artikel aber bereits vor der Klägerin zu 1 aufgenommen habe, könne sie dafür ein rechtlich nicht zu beanstandendes Motiv anführen.Der auf das Verbot des Vertriebs der Merchandising-Artikel gerichtete Antrag sei ferner nicht aus §§ 3, 5 Abs. 1 und 2 UWG begründet. Allerdings könne das Angebot der Beklagten bei denjenigen Verbrauchern, die über die Gastronomiebetriebe der Klägergruppe informiert seien, aber nicht wüssten, dass die Gaststätte der Beklagten zu 1 nicht dazu gehöre, die Vorstellung hervorrufen, bei den von der Beklagten angebotenen Merchandising-Artikeln han-16 dele es sich um solche, die unter der Verantwortung der Klägergruppe hergestellt oder vertrieben würden. Die danach bei einem Teil des Verkehrs bestehende Irreführungsgefahr sei aber im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausnahmsweise hinzunehmen. Mit entsprechenden Erwägungen hat das Berufungsgericht auch den Hilfsantrag zurückgewiesen.B. Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung in wesentlichen Punkten nicht stand. Markenrechtliche Ansprüche der Klägerin zu 2 sind entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts weitgehend nicht verwirkt (nachfolgend I). Auch die Abweisung wettbewerbsrechtlicher Ansprüche der Klägerin zu 1 hat zum überwiegenden Teil keinen Bestand (nachfolgend II).I. Revision der Klägerin zu 2 Die Annahme des Berufungsgerichts, markenrechtliche Ansprüche der Klägerin zu 2 seien insgesamt verwirkt, trifft allein hinsichtlich der Begehungsform "zu betreiben" im Antrag zu 1.1 (a) zu. Auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts können die übrigen von der Klägerin zu 2 gestellten Anträge nicht abgewiesen werden.1. Wie der Senat nach Verkündung des Berufungsurteils entschieden hat, ist Rechtsfolge der allgemeinen Verwirkung auf der Grundlage des § 242 BGB im Markenrecht allein, dass ein Markeninhaber seine Rechte im Hinblick auf bestimmte konkrete bereits begangene oder noch andauernde Rechtsverletzungen nicht mehr durchzusetzen vermag (BGH, Urteil vom 18. Januar 2012 - I ZR 17/11, GRUR 2012, 928 Rn. 23 = WRP 2012, 1104 - Honda-Grauimport). Bei wiederholten gleichartigen Verletzungshandlungen lässt jede Verletzungshandlung einen neuen Unterlassungsanspruch entstehen. Auch längere Untätigkeit des Markeninhabers gegenüber bestimmten gleichartigen Verletzungs-19 handlungen kann kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, der Markeninhaber werde auch künftig ein derartiges Verhalten dulden und auch in der Zukunft nicht gegen solche - jeweils neuen - Rechtsverletzungen vorgehen.a) Die für die Beurteilung des Zeitmoments der Verwirkung maßgebliche Frist hat im vorliegenden Fall daher mit jeder vom Antrag der Klägerin zu 2 umfassten Verletzungshandlung neu zu laufen begonnen. Daher können Ansprüche, die sich gegen das Anbieten und den Vertrieb von Merchandising-Artikeln und Souvenirs mit dem Aufdruck "Hard Rock Cafe" sowie gegen die Werbung für solche Produkte richten, jedenfalls seit dem 2. Juni 2009, dem Datum der dieser Klage vorausgegangenen Abmahnung, nicht verwirkt sein (Antrag zu 1.1 (e)). Dasselbe gilt für Unterlassungsansprüche der Klägerin zu 2 wegen nach dem 2. Juni 2009 begonnener Werbung für ein Restaurant unter der Bezeichnung oder den Logos "Hard Rock" gemäß den Anträgen zu 1.1 (a) und 1.1 (c) oder nach diesem Datum neu begonnene Werbung auf den Webseiten gemäß den Anträgen zu 1.1 (d) und 2.2.b) Nach den bislang getroffenen Feststellungen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass Ansprüche der Klägerin zu 2 wegen Werbung auf den Webseiten gemäß den Anträgen zu 1.1 (d) und 2.2 vor dem 2. Juni 2009 verwirkt sind. Es ist nicht festgestellt, ab wann der Klägerin zu 2 die entsprechenden Internetauftritte bekannt waren. Dafür ist ohne Bedeutung, dass die Klägerin zu 2 mindestens seit August 1993 wusste, dass die Beklagte zu 1 unter Verwendung des Logos und unter der Bezeichnung "Hard Rock Cafe" eine Gaststätte in Heidelberg betreibt und in diesem Zusammenhang Bekleidungsstücke und andere Gegenstände mit dem Logo vertreibt. Gegenüber diesen Handlungen stellt die Aufnahme von Werbung im Internet eine andersartige Verletzung dar, die sich insbesondere durch die Möglichkeit jederzeitigen und weltweiten Aufrufs auszeichnet. Die Duldung des Betriebs einer Gaststätte un-22 ter einem bestimmten Logo ist daher von vornherein nicht geeignet, ein berechtigtes Vertrauen darauf zu begründen, dass ein Markeninhaber auch eine Internetwerbung mit dem Logo für diese Gaststätte dulden werde.c) Auch hinsichtlich der Anträge zu 2.1 und 3, die auf einen Verzicht auf die verschiedenen Domainnamen mit dem Bestandteil "hardrock" oder "hardrockcafe" gerichtet sind, kommt eine Verwirkung nicht in Betracht. Zwar handelt es sich insofern bei der von den Klägerinnen angenommenen Namensrechtsverletzung um eine Dauerhandlung; denn die Registrierung eines Domainnamens ist ein einmaliger Akt, der dann andauernde Wirkungen in Form der fortbestehenden Inhaberschaft an dem Domainnamen hat. Das für eine Verwirkung maßgebliche Zeitmoment beginnt in diesem Fall also mit der Registrierung des jeweiligen Domainnamens. Hinsichtlich der in Rede stehenden Domainnamen gilt Folgendes:aa) Was die für den Beklagten zu 3 registrierten Domainnamen www.hardrockcafeheidelberg.de, www.hardrockcafeonline.de, www.hardrockcafeonline.de und www.hardrockcafeshop.de angeht, lässt sich den Feststellungen des Berufungsgerichts kein Zeitpunkt der Registrierung entnehmen. Damit besteht hinsichtlich des mit dem Antrag zu 3 geltend gemachten Anspruchs auch keine Grundlage für die Annahme einer Verwirkung.bb) Hinsichtlich des Domainnamens "hardrockcafe.de", der Gegenstand des Klageantrags zu 2.1 ist, lässt sich dem Berufungsurteil, das insofern auf die vom Landgericht getroffenen Feststellungen verweist, entnehmen, dass die Beklagte zu 2 diesen Domainnamen im Jahr 2002 für sich hat registrieren lassen. Die Beklagte zu 2 ist auch wegen dieses Domainnamens am 11. Februar 2008 abgemahnt worden. Es ist aber nichts dazu festgestellt, wann die Nutzung des Domainnamens für den Gaststättenbetrieb der Beklagten zu 1 aufgenommen 24 worden ist und seit wann die Klägerin zu 2 von dieser Nutzung Kenntnis hatte oder bei der gebotenen Wahrung ihrer Interessen hätte haben müssen.Im Übrigen ist anerkannt, dass die Bösgläubigkeit des Verletzers zu einer Verlängerung der für die Erfüllung des Zeitmoments bei der Verwirkung erforderlichen Frist führt (BGH, Urteil vom 24. Juni 1993 - I ZR 187/91, GRUR 1993, 913, 914 - KOWOG; Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG, 31. Aufl., § 11 Rn. 2.19). Da die für das Zeitmoment der Verwirkung erforderliche Frist mit jeder neuen Verletzungshandlung und damit auch mit jeder neuen Registrierung eines Domainnamens erneut zu laufen beginnt, ist auch für die Frage der Bösgläubigkeit der Beklagten zu 2 als Domaininhaberin - Entsprechendes gilt gegebenenfalls für den Beklagten zu 3 - auf den Kenntnisstand der für sie handelnden Personen zum Zeitpunkt der Registrierung abzustellen. Bei Registrierung des Domainnamens im Jahr 2002 konnte der Beklagten zu 2 die weltweite Expansion der Klägerin zu 2 und insbesondere die Gründung eines deutschen Hard-Rock-Cafes 1992 in Berlin nicht verborgen geblieben sein. Vom Interesse der heutigen Klägerinnen zu 2 und 3 am deutschen Markt hatte die Beklagte zu 2 auch aufgrund der im August 1993 erwirkten einstweiligen Verfügung Kenntnis. Selbst wenn die Beklagten - wie vom Berufungsgericht angenommen - 1979 noch davon ausgegangen sind, die Klägerinnen seien an einer Vermarktung ihrer Geschäftsidee in Deutschland nicht interessiert, konnte die Beklagte zu 2 dies daher im Jahr 2002 keineswegs mehr annehmen.d) Auch die auf den Antrag zu 1.1 (e) rückbezogenen Auskunfts- und Vernichtungsansprüche (Anträge zu 1.2 und 1.4) sowie der insgesamt auf den Antrag zu 1.1 rückbezogene Schadensersatzfeststellungsanspruch (Antrag zu 1.3) können auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht als insgesamt verwirkt angesehen werden. 27 e) Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht allerdings den markenrechtlichen Unterlassungsanspruch der Klägerin zu 2 gegen den Betrieb eines Restaurants unter der Bezeichnung "Hard Rock" gemäß Antrag zu 1.1 (a) als unbegründet abgewiesen. Der ununterbrochene Betrieb einer Gaststätte unter einer bestimmten Bezeichnung stellt eine Dauerhandlung dar. Die für das Zeitmoment der Verwirkung maßgebliche Frist beginnt mit der Aufnahme des Gaststättenbetriebs. Die Annahme des Berufungsgerichts, aufgrund mehr als 14-jähriger Duldung durch die Klägerin zu 2 nach Rücknahme des Antrags auf einstweilige Verfügung sei unter den im Streitfall festgestellten Umständen insoweit Verwirkung eingetreten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.f) Hinsichtlich des Betriebs des Restaurants unter bestimmten Logos (Antrag zu 1.1 (c)) kommt es darauf an, wann jeweils mit der entsprechenden Benutzung des Logos begonnen wurde. Für jede abweichende Gestaltung des Logos beginnt die für das Zeitmoment maßgebliche Frist erneut zu laufen. Auch wenn ein in bestimmter Weise gestaltetes Logo mehrfach verwendet wird, ist insofern jeweils der Beginn der entsprechenden einzelnen Verwendung maßgeblich. Die für die Beurteilung einer Verwirkung des mit dem Antrag zu 1.1 (c) verfolgten Anspruchs in der Alternative "Betrieb des Restaurants unter bestimmten Logos" erforderlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht bislang nicht getroffen. Insbesondere ist nicht festgestellt, ob sich der Antrag zu 1.1 (c) auf dieselben Logos bezieht, die der Abmahnung der Klägerin zu 2 im Jahr 1993 zugrunde lagen. Schon daher kann in der Revisionsinstanz auch insoweit keine Verwirkung angenommen werden.2. Die Abweisung der von der Revision der Klägerin zu 2 weiterverfolgten Anträge - mit Ausnahme des Antrags zu 1.1 (a), soweit er sich auf den Betrieb eines Restaurants bezieht - stellt sich allein hinsichtlich des Hauptantrags zu 1.1 (e) (Anbieten, Vertreiben und Bewerben von Merchandising-Artikeln und 29 Souvenirs mit dem Aufdruck "Hard Rock Cafe") sowie - nur in Bezug auf die Beklagte zu 2 - des Hilfsantrags zu 1.1 (e) und der hierauf rückbezogenen Anträge zu 1.2 bis 1.4 aus anderen Gründen als richtig dar.a) Wie das Berufungsgericht zutreffend zum entsprechenden Antrag der Klägerin zu 1 ausgeführt hat, ist der Antrag zu 1.1 (e) der Klägerin zu 2 zu unbestimmt, soweit er sich allgemein gegen das Anbieten, Vertreiben und Bewerben von "Merchandising-Artikeln und Souvenirs" wendet. Den Wörtern Merchandising-Artikel und Souvenir fehlt ein für das Vollstreckungsverfahren ausreichend klarer Begriffsinhalt. Die Klägerin hat die von ihren markenrechtlichen Ansprüchen erfassten Produkte jedenfalls anhand der für die Markeneintragung maßgeblichen Produktklassifikation abstrakt zu bezeichnen. Das ist ihr möglich und zumutbar.aa) Der Antrag zu 1.1 (e) enthält aber den Hilfsantrag, den Beklagten das Anbieten, den Vertrieb und das Bewerben der in seinem Insbesondere-Teil abgebildeten konkreten Produkte zu verbieten. Die Aufnahme von eindeutigen Produktabbildungen in den Antrag ist grundsätzlich ein geeigneter Weg zu einer hinreichend bestimmten Antragsfassung. Auch wenn in einigen Fällen deutlichere Abbildungen wünschenswert und möglich erscheinen, lässt sich im Streitfall noch mit genügender Klarheit erkennen, um was es sich bei den im Antrag zu 1.1 (e) abgebildeten Produkten handelt.bb) Ein durch die Benutzung der Bezeichnung "Hard Rock Cafe Heidelberg" möglicherweise erworbenes Unternehmenskennzeichen der Beklagten zu 1 kann den im Antrag zu 1.1 (e) allein gegen Produktkennzeichnungen gerichteten markenrechtlichen Ansprüchen der Klägerin zu 2 nicht entgegengehalten werden. 32 cc) Allerdings ist die Abweisung des Antrags zu 1.1 (e) durch das Berufungsgericht zu bestätigen, soweit er sich gegen die Beklagte zu 2 richtet. Nach den von der Revision insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Beklagte zu 2 bei der Denic als Inhaberin des Domainnamens www.hardrockcafe.de registriert. Es ist aber weder festgestellt noch sonst ersichtlich, dass in der Person der Beklagten zu 2 Wiederholungs- oder Erstbegehungsgefahr hinsichtlich des Vertriebs der konkret beanstandeten Merchandising-Artikel und Souvenirs besteht.dd) Der Senat hat über den gegen die Beklagten zu 1 und zu 3 gerichteten Hilfsantrag zu 1.1 (e) der Klägerin zu 2 selbst zu entscheiden, weil es insoweit keiner weiteren Feststellungen bedarf (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Klägerin zu 2 kann gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG von den Beklagten zu 1 und 3 verlangen, dass sie Angebot, Vertrieb und Bewerbung der Merchandising-Artikel in der konkret im Antrag wiedergegebenen Aufmachung unterlassen.Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts werden von der Beklagten zu 1 Merchandising-Artikel und Souvenirs vertrieben, die mit dem Hard-Rock-Logo gekennzeichnet sind. Darin liegt eine markenmäßige Verwendung.Die Beklagte zu 1 benutzt das Hard-Rock-Logo für Waren, die mit von den Klagemarken geschützten Waren identisch oder ihnen zumindest sehr ähnlich sind. Die Klägerin zu 2 hat klargestellt, in welcher Reihenfolge sie die Klagemarken geltend macht. Danach sind für sie die im Antrag zu 1.1 (e) konkret wiedergegebenen Bekleidungsstücke und Kopfbedeckungen aus der in erster Linie geltend gemachten Klagemarke DE 011 86 794 mit Priorität vom 5. Dezember 1986 geschützt. Für Uhren, Anstecknadeln und Geldbörsen ist die am 21. Februar 1995 angemeldete Klagemarke Nr. 4 (DE 395 07 362) geschützt. Gläser und Feuerzeuge gehören zum Schutzbereich der Klagemarke Nr. 7 35(EM 040 70 348), die insoweit ab ihrer Anmeldung am 15. Oktober 2004 Schutz vermittelt. Die Klagemarke Nr. 8 (EM 037 17 329) ist unter anderem für Schlüsselringe seit der Anmeldung am 11. März 2004 geschützt. Das im Klageantrag 1.1 (e) abgebildete Schlüsselband ist eine einem Schlüsselring sehr ähnliche Ware.Das von der Beklagten zu 1 benutzte Logo ist mit den für die Klägerin zu 2 geschützten Wort-Bildmarken DE 011 86 794 (Klagemarke Nr. 1), DE 395 07 362 (Klagemarke Nr. 4), EM 040 70 348 (Klagemarke Nr. 7) und EM 037 17 329 (Klagemarke Nr. 8) - je nach Produkt - identisch oder jedenfalls sehr ähnlich.Das Berufungsgericht hat zwar keine Feststellungen zur Kennzeichnungskraft der Klagemarken getroffen. Es spricht viel dafür, dass dem durch Schriftzug und Kreissymbol charakteristisch und einprägsam gestalteten Hard-Rock-Logo hohe Kennzeichnungskraft zukommt. Jedenfalls kann aber in der Revisionsinstanz ohne weiteres von durchschnittlicher Kennzeichnungskraft ausgegangen werden.Danach besteht für alle im Antrag zu 1.1 (e) abgebildeten Produkte zumindest Verwechslungsgefahr im Sinne von § 14 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG, so dass der entsprechende Unterlassungsanspruch der Klägerin zu 2 begründet ist.Der Beklagte zu 3 haftet als Geschäftsführer auf Unterlassung, weil er jedenfalls Kenntnis von den markenverletzenden Verkäufen in der Gaststätte der Beklagten zu 1 hat und sie nicht unterbunden hat. 39 ee) Auch die auf den Hilfsantrag zu 1.1 (e) rückbezogenen Auskunfts- und Schadenersatzfeststellungsanträge zu 1.2 und 1.3 gegen die Beklagten zu 1 und 3 stehen der Klägerin zu 2 grundsätzlich zu.(1) Allerdings haben die Beklagten in den Tatsacheninstanzen die Einrede der Verjährung erhoben. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wusste die Klägerin zu 2 jedenfalls ab August 1993, dass die Beklagte zu 1 im Zusammenhang mit ihrer Gaststätte Bekleidungsstücke und andere Gegenstände mit dem Logo "Hard Rock Cafe" vertreibt. Der Lauf der Verjährungsfrist des § 20 MarkenG begann dann mit jedem nach August 1993 erfolgten markenverletzenden Verkauf eines mit diesem Logo gekennzeichneten Merchandising-Artikels. Die Pflicht zu Auskunft und Schadenersatz ist daher im Hinblick auf die entsprechend anzuwendenden §§ 195, 199 Abs. 1 BGB auf Verletzungshandlungen beschränkt, die nach dem 1. Januar 2006 begangen worden sind.(2) Außerdem besteht die Pflicht zur Auskunft nur in dem für die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs erforderlichen Umfang (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1987 - I ZR 70/85, GRUR 1987, 364, 365 = WRP 1987, 466 - Vier-Streifen-Schuh). Da sich der Verkauf von Merchandising-Artikeln in der Gaststätte der Beklagten zu 1 nur an Endverbraucher richtet, bedarf es nicht der Angabe von Namen und Anschriften der Käufer oder einzelner Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen und -zeiten.ff) Der Vernichtungsanspruch zu 1.4 der Klägerin zu 2 ist nicht entscheidungsreif. Soweit die Klägerin zu 2 diesen Antrag auf § 18 Abs. 1 MarkenG stützen kann, bedarf es noch der umfassenden Interessenabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß Absatz 3 dieser Vorschrift. Die 43 dazu erforderlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bisher nicht getroffen.b) Den übrigen markenrechtlichen Ansprüchen der Klägerin zu 2 könnte entgegenstehen, dass die Beklagten für die Bezeichnung "Hard Rock Cafe Heidelberg" möglicherweise schon einen Schutz als Unternehmenskennzeichen im Raum Heidelberg erworben hatten, bevor für die Klägerin zu 2 Marken in Deutschland angemeldet worden sind. Das Berufungsgericht hat dazu indes keine Feststellungen getroffen, sondern nur ausgeführt, es sei zwischen den Parteien streitig, seit wann die Wortfolge "Hard Rock Cafe" und das entsprechende Logo in und an der Gaststätte der Beklagten zu 1 benutzt werde.Ein Unternehmenskennzeichenrecht mit besserer Priorität als die Markenrechte der Klägerin zu 2 könnten die Beklagten auch für eine Werbung im Internet gemäß dem Klageantrag zu 1.1 (d) benutzen.c) Die Beklagten haben in den Tatsacheninstanzen die Einrede der Verjährung erhoben. Soweit sich die Klägerin zu 2 gegen bestimmte Formen der Internetwerbung (Anträge zu 1.1 (d) und 2.2), die Werbung für ein Restaurant unter der Bezeichnung oder den Logos "Hard Rock" (Anträge 1.1 (a) und 1.1 (c)) und den Betrieb eines Restaurants unter bestimmten Logos wendet oder den Verzicht auf Domainnamen (Anträge 2.1 und 3) und Schadenersatzfeststellung (Antrag 1.3) begehrt, kommt grundsätzlich eine Verjährung der markenrechtlichen Ansprüche in Betracht (§ 20 MarkenG). Die für die Prüfung der Verjährungseinrede erforderlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht indes bisher nicht getroffen.Es ist offen, wann die Domainnamen registriert wurden und wann die Klägerin zu 2 davon Kenntnis erlangte. Ebenso sind weder der jeweilige Beginn 47 der Internetwerbung noch die entsprechende Kenntniserlangung festgestellt. Von Betrieb und Bewerbung der Gaststätte der Beklagten zu 1 in Heidelberg unter der Bezeichnung und Verwendung eines Logos "Hard Rock" hatte die Klägerin zu 2 zwar schon 1993 Kenntnis. Es ist aber nicht festgestellt, ob sich der Antrag zu 1.1 (c) auf dieselben Logos bezieht, die der damaligen Abmahnung zugrunde lagen. Ebenso ist offen, inwiefern neue Werbehandlungen für ein Restaurant unter der Bezeichnung "Hard Rock" von den Beklagten in unverjährter Zeit vorgenommen wurden. Damit fehlt hinsichtlich dieser Ansprüche auch eine Grundlage für die Beurteilung, inwieweit ein Anspruch der Klägerin zu 2 auf Schadenersatz verjährt sein könnte.3. Somit hat das Berufungsurteil im Hinblick auf die Klägerin zu 2 allein hinsichtlich der Abweisung des Klageantrags zu 1.1 (a) in der Alternative "Betrieb eines Restaurants" unter der Bezeichnung "Hard Rock", der Abweisung des Antrags zu 1.1 (b) (Slogan "HELP THE PLANET"; Revision nicht zugelassen), der Abweisung des Hauptantrags zu 1.1 (e) (Vertrieb von Merchandising-Artikeln und Souvenirs) und - jedoch nur in Bezug auf die Beklagte zu 2 - des Hilfsantrags zu 1.1 (e) sowie der auf diese Anträge rückbezogenen Anträge zu 1.2 bis 1.4 Bestand. Der Hilfsantrag zu 1.1 (e) der Klägerin zu 2 (Vertrieb bestimmter Merchandising-Artikel) und die auf diesen rückbezogenen Ansprüche 1.2 (mit den oben Rn. 45 - dargelegten Einschränkungen) und 1.3 sind begründet. Im Übrigen vermag der Senat über die Revision der Klägerin zu 2 nicht abschließend zu entscheiden. Die Sache ist insoweit nicht zur Endentscheidung reif, weil das Berufungsgericht die zur Beurteilung der markenrechtlichen Ansprüche erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat. 51 II. Revision der Klägerin zu 1 Die vollständige Abweisung der allein auf Wettbewerbsrecht gestützten Ansprüche der Klägerin zu 1 durch das Berufungsgericht hält revisionsrechtlicher Nachprüfung ebenfalls nicht stand.1. Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings den Klageantrag zu 1.1 (a) der Klägerin zu 1 als unbegründet abgewiesen, weil er zu weit geht. Ein generelles Verbot, unter der Bezeichnung "Hard Rock" ein Restaurant zu betreiben oder zu bewerben, steht der Klägerin zu 1 aufgrund der für sie allein in Betracht kommenden lauterkeitsrechtlichen Anspruchsgrundlagen nicht zu.Anders als § 14 Abs. 2 Nr. 3 MarkenG gewähren die Vorschriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, die dem Schutz des Verkehrs vor Täuschung dienen, keinen von Verwechslungsgefahr unabhängigen Bekanntheitsschutz für geschäftliche Bezeichnungen. So setzt Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG die Werbung für eine Ware oder Dienstleistung voraus, die der Ware oder Dienstleistung eines Mitbewerbers ähnlich ist. Die Vorschrift des § 5 Abs. 2 UWG erfasst nur geschäftliche Handlungen als irreführend, die eine Verwechslungsgefahr mit anderen Waren oder Dienstleistungen oder mit der Marke oder einem anderen Kennzeichen eines Mitbewerbers hervorrufen. Auch § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG knüpft an die Eignung zur Täuschung über die betriebliche Herkunft einer Ware oder Dienstleistung an.Der Antrag zu 1.1 (a) der Klägerin zu 1 erfasst auch Verhaltensweisen der Beklagten, die ihnen auf der Grundlage der genannten Anspruchsgrundlagen nicht verboten werden können. Von einem Restaurant der Klägerin zu 1 erwartet der Verkehr auch nach dem Klagevortrag eine bestimmte Gestaltung einschließlich der Verwendung typischer Logos sowie des Angebots bestimmter 52 Speisen und Merchandising-Produkte. Wie das Berufungsgericht mit Recht ausgeführt hat, sind aber durchaus Restaurants unter der Bezeichnung "Hard Rock" denkbar, deren Gestaltung und Leistungsangebot von vornherein so weit von denen der Gaststätten der Klägerinnen entfernt ist, dass weder eine Ähnlichkeit der Dienstleistung noch eine Verwechslungsgefahr besteht. Zutreffend hat das Berufungsgericht etwa auf eine in den Bergen gelegene Ausflugsgaststätte für Sportkletterer hingewiesen, die die Bezeichnung "Hard Rock" führt und dabei - abgesehen vom Namen - nichts mit den von Cafes der Klägerin zu 1 gemein hätte. Gegen derartige Verwendungen der Bezeichnung "Hard Rock" stehen der Klägerin zu 1 keine lauterkeitsrechtlichen Ansprüche zu.2. Das Berufungsgericht hat die Klageanträge zu 1.1 (c) und 1.1 (d) der Klägerin zu 1 ebenfalls mit der Begründung abgewiesen, sie gingen zu weit. Das hat keinen Bestand.a) Der Antrag zu 1.1 (c) richtet sich dagegen, ein Restaurant unter einem der vier im Antrag abgebildeten Logos zu betreiben oder zu bewerben. Die Abbildungen zeigen das in typischer Weise graphisch gestaltete Logo "Hard Rock Cafe" mit dem Ortszusatz Heidelberg. Mit dem Antrag zu 1.1 (d) soll den Beklagten verboten werden, mit zwei bestimmten, ebenfalls typisch gestalteten "Hard Rock Cafe"-Logos unter zwei konkret genannten Webseiten ein Restaurant zu bewerben. Anders als im Antrag zu 1.1 (a) ist die beanstandete Verletzungsform in den Anträgen zu 1.1 (c) und 1.1 (d) also ein markenmäßig verwendetes Kennzeichen.Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Verwendung eines dieser Logos zum Betrieb oder zur Bewerbung eines Restaurants bei Verbrauchern, denen das Logo bekannt ist, die Vermutung hervorrufen kann, es bestehe ein Zusammenhang des so beworbenen Restaurants mit der 56 Klägergruppe. Auch wenn diese Verbraucher mehr oder minder konkrete Vorstellungen darüber haben mögen, wie die von den Klägerinnen betriebenen Gaststätten gestaltet sind und welche Speisen und Getränke sie anbieten, wird eine Verwechslungsgefahr dann aber entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht dadurch ausgeschlossen, dass die beworbene Gaststätte in ihrer Gestaltung oder ihrem Angebot den Restaurants der Klägerinnen unähnlich ist. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Klägerinnen nach ihrem Geschäftsmodell und unter ihrem Logo inzwischen 140 offizielle Filialen in über 50 Ländern betreiben, davon drei in Deutschland. Ein nicht unerheblicher Teil des Verkehrs wird deshalb einen Zusammenhang mit dieser Gastronomiekette auch dann annehmen, wenn er deren Logo an einem deutlich anders gestalteten Restaurant vorfindet. Das Betreiben oder Bewerben eines Restaurants unter den im Klageantrag zu 1.1 (c) abgebildeten Logos durch die Beklagten kann deshalb grundsätzlich zur Täuschung über die betriebliche Herkunft der dort angebotenen Dienstleistungen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG) geeignet sein. Dasselbe gilt für die Verwendung der im Antrag zu 1.1 (d) abgebildeten Logos zur Werbung für ein Restaurant.b) Die Klägerin zu 1 ist als Mitbewerber im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 1 UWG berechtigt, Ansprüche aus § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG gegen die Beklagte zu 1 geltend zu machen. Auch wenn sie bisher eigene Cafes nur in Berlin, München und Köln betreibt und Gaststätten typischerweise ein räumlich begrenztes Einzugsgebiet haben, steht die Klägerin zu 1 beim Vertrieb von Merchandising-Artikeln sowie hinsichtlich der Verbraucher, die auf Reisen gezielt Hard-Rock-Cafes aufsuchen, auch beim Restaurantbetrieb mit der Beklagten zu 2 in einem konkreten Wettbewerbsverhältnis.c) Einem auf Herkunftstäuschung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG gestützten Anspruch der Klägerin zu 1 steht auch kein Vorrang des Markenrechts 59 entgegen. Dritte, die nicht Markeninhaber sind, können seit Umsetzung der Richtlinie 2005/29/EG lauterkeitsrechtliche Ansprüche wegen Herkunftstäuschung geltend machen. An der bisherigen Rechtsprechung, nach der die durch eine bestimmte Kennzeichnung hervorgerufene Irreführung über die betriebliche Herkunft allein nach den Grundsätzen des Markenrechts zu beurteilen war (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2001 - I ZR 138/99, BGHZ 149, 191, 195 f. - shell.de), kann aufgrund der ins deutsche Recht umgesetzten Bestimmung des Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2005/29/EG nicht mehr festgehalten werden. Der individualrechtliche Schutz aus dem Markenrecht und der lauterkeitsrechtliche Schutz nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb bestehen nunmehr nebeneinander (vgl. Bornkamm in Köhler/Bornkamm aaO § 5 Rn. 4.211 f.).d) Eine abschließende Entscheidung über die Klageanträge zu 1.1 (c) und (d) sowie den hierauf rückbezogenen Antrag zu 1.3 ist dem Senat nicht möglich.aa) Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Beklagte zu 1 an einzelnen oder allen der in den Anträgen wiedergegebenen Logos ein Kennzeichenrecht gemäß § 5 Abs. 2 MarkenG mit besserer Priorität als die Rechte der Klägerinnen erworben hat. In diesem Fall könnte die Klägerin zu 1 einen vollständigen Verzicht auf die Nutzung der entsprechenden Logos nicht verlangen. Aus § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG könnte sich für sie allerdings ein Anspruch auf Unterlassung einer irreführenden Verwendung des Logos ergeben (vgl. für den Fall der irreführenden Verwendung einer Marke BGH, Urteil vom 10. Juni 2010 - I ZR 42/08, GRUR 2011, 85 Rn. 18 = WRP 2011, 63 - Praxis Aktuell). Die Beklagten könnten eine Gefahr der Verwechslung mit den Restaurants der Klägerinnen und damit die Gefahr der Irreführung etwa durch klarstellende Hinweise beseitigen. Dadurch müsste deutlich werden, dass das Restaurant der Beklag-61 ten zu 1 nicht zu der Hard-Rock-Gruppe mit Sitz in London gehört, die international Hard-Rock-Cafes betreibt, und dass es mit dieser auch nicht durch Lizenzverträge oder sonstige Vereinbarungen verbunden ist.bb) Unabhängig davon ist hinsichtlich der mit den Anträgen zu 1.1 (c) und (d) angegriffenen Verwendung der Hard-Rock-Logos auch eine Verwirkung der lauterkeitsrechtlichen Ansprüche der Klägerin zu 1 nicht von vornherein ausgeschlossen.Der Bundesgerichtshof hat zwar bisher angenommen, dass in Fällen der Irreführung eine Verwirkung des Unterlassungsanspruchs im Allgemeinen ausscheidet, weil das Interesse der Allgemeinheit, vor Irreführung bewahrt zu werden, grundsätzlich als vorrangig vor den Individualinteressen des Werbenden anzusehen ist (BGH, Urteil vom 29. September 1982 - I ZR 25/80, GRUR 1983, 32, 34 = WRP 1983, 203 - Stangenglas I). Um einen Wertungswiderspruch zum Markenrecht zu vermeiden, kann daran aber jedenfalls für die neue Fallgruppe der Irreführung über die betriebliche Herkunft gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG nicht festgehalten werden. Besteht ein schutzwürdiger Besitzstand an der Verwendung einer bestimmten Kennzeichnung, der einem markenrechtlichen Unterlassungsanspruch mit Erfolg entgegengehalten werden kann, so bestimmt dieses Ergebnis auch die Beurteilung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG. Denn es ist kein Grund dafür erkennbar, dass der jedem Mitbewerber gewährte lauterkeitsrechtliche Anspruch weitergehen soll als das in gleicher Weise auf Unterlassung gerichtete individuelle Ausschließlichkeitsrecht des Markeninhabers.Die Klägerin zu 2 hatte bereits bei ihrer Abmahnung im August 1993 davon Kenntnis, dass die Beklagte zu 1 unter dem Hard-Rock-Logo eine Gaststätte in Heidelberg betreibt. Für das zur Beurteilung der Verwirkung maßgebliche Zeitmoment sind die Klägerinnen zu 1 und zu 2 aufgrund ihrer unternehmeri-63 schen Verbindung als Einheit anzusehen. Allerdings hat das Berufungsgericht nicht festgestellt, ob es sich bei den Logos gemäß Antrag zu 1.1 (c) um dieselben Logos handelt, die der Abmahnung der Klägerin zu 2 im Jahr 1993 zugrunde lagen. Es ist auch offen, wann die Klägerin zu 1 Kenntnis von der Internetwerbung gemäß Antrag 1.1 (d) erlangt hat. Damit fehlt es in der Revisionsinstanz an einer Grundlage für eine abschließende Beurteilung der Verwirkung dieses Anspruchs.cc) Die Beklagten haben ferner die Einrede der Verjährung erhoben. Ob diese Einrede begründet ist, hängt davon ab, wann die Beklagten die Verwendung der konkret beanstandeten Logos für den Betrieb und die Bewerbung ihres Restaurants sowie in der Internetwerbung aufgenommen haben und wann die Klägerinnen davon Kenntnis erlangten. Dazu ist bislang nichts festgestellt.3. Das Berufungsgericht hat den Hauptantrag zu 1.1 (e) der Klägerin zu 1 ohne Rechtsfehler abgewiesen. Dieser Antrag ist durch Verwendung der Begriffe "Merchandising-Artikel und Souvenirs" bereits zu unbestimmt (siehe oben Rn. 32). Die Abweisung des gegen den Vertrieb und die Bewerbung bestimmter im Antrag abgebildeter Produkte gerichteten Hilfsantrags hält mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung revisionsrechtlicher Nachprüfung jedoch nicht stand.a) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist ein Anspruch der Klägerin zu 1 aus Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG insoweit nicht ausgeschlossen. Nach dieser Bestimmung ist stets unzulässig die Werbung für eine Ware oder Dienstleistung, die der Ware oder Dienstleistung eines Mitbewerbers ähnlich ist, wenn dies in der Absicht geschieht, über die betriebliche Herkunft der beworbenen Ware oder Dienstleistung zu täuschen. 66 Das Berufungsgericht hat zunächst festgestellt, dass die von den Beklagten zu 1 und 3 beworbenen und vertriebenen Merchandising-Artikel gemäß Klageantrag zu 1.1 (e) entsprechenden Artikeln ähnlich sind, die in den von der Klägerin zu 1 betriebenen Gaststätten in Köln, Berlin und München, aber auch von anderen zur Klägergruppe gehörenden Hard-Rock-Cafes weltweit vertrieben werden.Das Berufungsgericht ist sodann aber von einem zu engen Verständnis der Täuschungsabsicht im Sinne der Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG ausgegangen. Weder dem gesetzlichen Tatbestand noch dem Sinn und Zweck der Bestimmung, einen Schutz der Verbraucher vor Irreführungen zu gewährleisten, kann eine Beschränkung dieser Vorschrift auf Fälle entnommen werden, in denen die Täuschung über den Ursprung der beworbenen Ware alleiniges Motiv der Werbung ist (vgl. Ullmann in Ullmann, jurisPK-UWG, 3. Aufl., Anhang zu § 3 Abs. 3 (Nr. 13) UWG Rn. 14). Es reicht auch aus, wenn der Werbende mit bedingtem Vorsatz handelt, also eine Täuschung von Verbrauchern lediglich für möglich hält und billigend in Kauf nimmt (vgl. Köhler in Köhler/Bornkamm aaO Anhang zu § 3 III Rn. 13.7; Ullmann aaO). Schließlich kommt es für Nummer 13 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG nicht darauf an, ob die Beklagten in Deutschland den Vertrieb mit dem charakteristischen Hard Rock-Logo gekennzeichneter Merchandising-Artikeln vor den Klägerinnen begonnen haben (vgl. Ullmann aaO Rn. 6) oder ob sie zu diesem Zeitpunkt bösgläubig gehandelt haben.Für den in die Zukunft gerichteten Unterlassungsanspruch ist vielmehr die anhand objektiver Indizien zu ermittelnde Motivation der Beklagten beim fortgesetzten Vertrieb der fraglichen Merchandising-Produkte maßgeblich. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass nach den Feststellungen des Berufungsgerichts inzwischen von der Klägergruppe 140 offizielle Filialen in 69 über 50 Ländern betrieben werden, davon drei in Deutschland, und dass die Gaststätte der Beklagten zu 1 in der von vielen ausländischen Touristen frequentierten Heidelberger Hauptstraße liegt. Unter diesen Umständen liegt die Annahme nahe, dass sich die Beklagten beim Vertrieb der Merchandising-Produkte schon seit längerem bewusst jedenfalls auch den Umstand zunutze machen, dass zahlreiche ausländische Besucher bei ihnen derartige Produkte in der Meinung erwerben werden, es handele sich um Erzeugnisse der ihnen bekannten Gastronomiekette der Klägerinnen. Hinsichtlich auswärtiger deutscher Besucher, die die Restaurants der Klägerin in Berlin, Köln und München kennen, dürfte es sich nicht anders verhalten.Auch wenn ursprünglich eine Täuschungsabsicht der Beklagten gefehlt haben mag, weil die Erzeugnisse der Klägerinnen in Deutschland nicht vertrieben wurden, kann sich das ohne weiteres geändert haben, nachdem die Klägerinnen eigene Cafes in Deutschland eröffnet haben. Es steht auch fest, dass die Gründer der Beklagten zu 1 das Geschäftsmodell des ersten, seit 1971 in London betriebenen Hard-Rock-Cafes übernommen haben. Die Produkte der Beklagten sind danach an diejenigen der Klägerinnen angelehnt und nicht etwa umgekehrt.b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann sich der Hilfsantrag der Klägerin zu 1 auch als aus §§ 3, 5 Abs. 1 und 2 UWG begründet erweisen.aa) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts können Verbraucher, die zwar die Gastronomiebetriebe der Klägerseite kennen, aber nicht wissen, dass die Gaststätte der Beklagten zu 1 nicht dazu gehört, zu der Fehlvorstellung gelangen, dass die von der Beklagten zu 1 angebotenen Merchandising-Artikel unter der Verantwortung der Klägerseite hergestellt oder vertrieben 72 werden. Für diesen Teil der Verbraucher, der nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht unerheblich ist, hält das Berufungsgericht eine Irreführung über die betriebliche Herkunft im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG sowie das Hervorrufen einer Verwechslungsgefahr im Sinne von § 5 Abs. 2 UWG für gegeben. Diese Annahme lässt auf der Grundlage der festgestellten Umstände keinen Rechtsfehler erkennen. Danach ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Kunden der Beklagten zu 1 für Merchandising-Artikel auf ortsfremde Gäste entfällt, die Hauptzielgruppe für den Verkauf derartiger Produkte sind und von dem das Geschäftsmodell der Klägerinnen kopierenden, in bester touristischer Lage Heidelbergs gelegenen Restaurant der Beklagten zu 1 angelockt werden.bb) Das Berufungsgericht hat die wettbewerbliche Relevanz der Fehlvorstellung dieser Verbrauchergruppe zugunsten der Klägerin zu 1 unterstellt, dazu aber keine abschließenden Feststellungen getroffen. Die wettbewerbliche Relevanz folgt im Streitfall indes schon daraus, dass es sich nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerinnen bei den Merchandising-Artikeln der Hard-Rock-Cafes um Sammlerobjekte handelt, durch die der Besitzer in bestimmten Kreisen als vielgereister Mensch ausgewiesen wird. Diesen Verbrauchern kommt es regelmäßig entscheidend darauf an, ihre Souvenirs in offiziellen Restaurants der Hard-Rock-Gruppe zu erwerben und nicht in einer von dieser nicht autorisierten Gaststätte, die das Geschäftsmodell des ersten Hard-Rock-Cafes in London kopiert hat.cc) Trotz einer unterstellt wettbewerblich relevanten Irreführung hat das Berufungsgericht im Streitfall Ansprüche nach den §§ 3, 5 UWG in Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verneint. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. 75 Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine geringe Irreführungsgefahr in besonderen Ausnahmefällen hinzunehmen ist, wenn die Belange der Allgemeinheit nicht erheblich beeinträchtigt werden. Eine solche Ausnahme kommt als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes insbesondere dann in Betracht, wenn durch das Verbot ein wertvoller Besitzstand an einer Individualkennzeichnung zerstört würde (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2002 - I ZR 276/99, GRUR 2003, 628, 630 = WRP 2003, 747 - Klosterbrauerei, mwN). Ob eine solche Ausnahme angenommen werden kann, bestimmt sich aufgrund einer Abwägung der Interessen der Parteien sowie der Allgemeinheit.Dabei gibt es entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts im Streitfall keinen Anlass, die individuellen Interessen der Klägerin zu 1 an der Unterbindung der angegriffenen Handlungen außer Betracht zu lassen. Die Klägerinnen haben zahlreiche E-Mails enttäuschter Kunden vorgelegt, die sich bei ihnen über bei der Beklagten gekaufte Produkte beschwert haben. Die Klägerin zu 1 muss daher eine Beeinträchtigung ihres Rufs befürchten. Hinzu kommt die durch den Irrtum vieler Kunden, das Restaurant der Beklagten zu 1 gehöre zur Gruppe der Klägerinnen, hervorgerufene Marktverwirrung. Diese Interessen der Klägerin zu 1 haben erhebliches Gewicht.Anders als das Berufungsgericht annimmt, kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, dass die Klägerinnen zu 2 und 3 den Vertrieb der angegriffenen Merchandising-Artikel durch die Beklagte zu 1 nach Rücknahme des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung im Jahre 1993 bis zum Jahr 2008 nicht beanstandet haben. Dieser Umstand hat für die Interessenabwägung bei der Prüfung einer Einschränkung des Irreführungsverbots unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit keine maßgebliche Bedeutung. Andernfalls würde der Grundsatz ausgehöhlt, dass das für die Verwirkung maßgebliche Zeitmoment mit jedem Verkauf eines mit dem Hard-Rock-Logo gekennzeichne-77 ten Produkts durch die Beklagte zu 1 neu beginnt (vgl. BGH, GRUR 2012, 928 Rn. 22 f. - Honda-Grauimport).Nicht zugestimmt werden kann auch der Auffassung des Berufungsgerichts, den Interessen derjenigen Teile des angesprochenen Verkehrs, die durch das Angebot der Beklagten irregeführt würden, komme nur geringes Gewicht zu. Für sie wird häufig der Wunsch, ein Originalprodukt der Klägerinnen zu erwerben und ihre Sammlung authentischer Merchandising-Artikel zu vervollständigen, maßgebliches Kaufmotiv sein. Im Übrigen hat die Klägerin zu 1 vorgetragen, dass den Kunden der Beklagten zu 1 Merchandising-Produkte schlechterer Qualität als in den Restaurants der Klägerinnen angeboten werden. Diesem Vorbringen hat das Berufungsgericht - wie die Revision rügt - keine hinreichende Beachtung geschenkt.Anders als das Berufungsgericht meint, ist den Beklagten auch nicht durch den langjährigen unbeanstandeten Vertrieb von Merchandising-Artikeln im Zusammenhang mit ihrer Gaststätte ein schutzwürdiger Besitzstand erwachsen. Schutzwürdig könnte allenfalls ein Interesse der Beklagten zu 1 an der als Dauerhandlung anzusehenden Fortführung der Geschäftsbezeichnung ihrer Gaststätte sein. Demgegenüber kommt ein schutzwürdiger Besitzstand am weiteren Vertrieb irreführender Merchandising-Artikel schon deshalb nicht in Betracht, weil gleichartige Verletzungshandlungen, die zeitlich unterbrochen auftreten, jeweils einen neuen Unterlassungsanspruch auslösen. Ebenso wenig wie im Markenrecht (vgl. BGH, GRUR 2012, 928 Rn. 22 f. - Honda-Grauimport) kann im Wettbewerbsrecht ein Recht anerkannt werden, irreführende Wettbewerbshandlungen zeitlich unbegrenzt fortzusetzen. Im Streitfall kommt hinzu, dass die Gründer der Beklagten zu 1 für ihr Restaurant bewusst die Geschäftsidee des ersten Hard-Rock-Cafes der Klägerinnen in London übernommen haben. Auch wenn darin mangels Marken und Tätigkeit der Klägerinnen in 80 Deutschland zum damaligen Zeitpunkt keine Rechtsverletzung gelegen hat, war dieses Verhalten doch mit dem Mangel behaftet, dass es ohne Vereinbarung mit den Inhabern des Londoner Hard-Rock-Cafes und ohne deren Wissen begonnen wurde. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit eines Verbots für die Beklagten kann auch dieser Aspekt nicht unberücksichtigt bleiben.Im Übrigen standen in den Fällen, in denen der Senat ausnahmsweise eine Einschränkung des Irreführungsverbots unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit angenommen hat, wesentlich längere Zeiträume der unbeanstandeten Ausübung des irreführenden Verhaltens als im Streitfall in Rede (vgl. BGH, GRUR 2003, 628, 631 - Klosterbrauerei: 160 Jahre; BGH, GRUR 1977, 159, 161 - Ostfriesische Tee Gesellschaft: über 60 Jahre).c) Das Berufungsurteil hat indes Bestand, soweit der Hilfsantrag zu 1.1 (e) und die auf diesen Antrag rückbezogenen Ansprüche der Klägerin zu 1 gegen die Beklagte zu 2 abgewiesen worden sind (§ 561 ZPO). Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Beklagte zu 2 bei der Denic als Inhaberin des Domainnamens www.hardrockcafe.de registriert. Es ist aber weder festgestellt noch sonst ersichtlich, dass in der Person der Beklagten zu 2 Wiederholungs- oder Erstbegehungsgefahr hinsichtlich des Vertriebs der konkret beanstandeten Merchandising-Artikel besteht.d) Der Senat hat über den gegen die Beklagten zu 1 und zu 3 gerichteten Hilfsantrag zu 1.1 (e) der Klägerin zu 1 selbst zu entscheiden, weil es insoweit keiner weiteren Feststellungen bedarf (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Klägerin zu 1 kann gemäß §§ 8, 3, 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und § 5 Abs. 2 UWG von den Beklagten zu 1 und 3 verlangen, dass sie Angebot, Vertrieb und Bewerbung der 82 Merchandising-Artikel in der konkret im Antrag wiedergegebenen Aufmachung unterlassen.e) Auch die auf den Hilfsantrag zu 1.1 (e) rückbezogenen Auskunfts- und Schadenersatzfeststellungsanträge zu 1.2 und 1.3 gegen die Beklagten zu 1 und 3 stehen der Klägerin zu 1 grundsätzlich zu.aa) Allerdings haben die Beklagten in den Tatsacheninstanzen die Einrede der Verjährung erhoben. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wusste die Klägerin zu 2 jedenfalls ab August 1993, dass die Beklagte zu 1 im Zusammenhang mit ihrer Gaststätte Bekleidungsstücke und andere Gegenstände mit dem Logo "Hard Rock Cafe" vertreibt. Diese Kenntnis hat sich die Klägerin zu 1 als Betreiberin der deutschen Hard Rock Cafes zurechnen zu lassen. Der Lauf der Verjährungsfrist des § 11 UWG begann dann mit jedem nach August 1993 erfolgten wettbewerbswidrigen Verkauf eines mit diesem Logo gekennzeichneten Merchandising-Artikels. Die Pflicht zu Auskunft und Schadenersatz ist daher auf Verletzungshandlungen beschränkt, die nicht mehr als sechs Monate vor Klageerhebung, also nach dem 15. Januar 2009, begangen worden sind.bb) Außerdem besteht die Pflicht zur Auskunft nur in dem für die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs erforderlichen Umfang (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1987 - I ZR 70/85, GRUR 1987, 364, 365 = WRP 1987, 466 - Vier-Streifen-Schuh). Da sich der Verkauf von Merchandising-Artikeln in der Gaststätte der Beklagten zu 1 nur an Endverbraucher richtet, bedarf es nicht der Angabe von Namen und Anschriften der Käufer oder einzelner Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen und -zeiten. 85 f) Der Vernichtungsantrag zu 1.4 der Klägerin zu 1, der sich allein aus § 8 Abs. 1 UWG ergeben könnte, ist ebenso wie der entsprechende Antrag der Klägerin zu 2 (dazu oben Rn. 46) nicht entscheidungsreif.g) Der Beklagte zu 3 haftet als Geschäftsführer im selben Umfang wie die Beklagte zu 1, da er jedenfalls Kenntnis von den rechtsverletzenden Verkäufen in der Gaststätte der Beklagten zu 1 hatte und sie nicht unterbunden hat.4. Das Berufungsurteil enthält für die Abweisung der Anträge zu 2 und 3 der Klägerin zu 1 keine Begründung. Offenbar hat das Berufungsgericht auch diese Ansprüche als verwirkt angesehen. Das trifft allerdings, wie oben (Rn. 21 ff.) ausgeführt, nicht zu.a) Die Abweisung der Anträge zu 2.1 und 3 der Klägerin zu 1 (Verzicht auf bestimmte Domainnamen gegenüber der Denic) hat indes im Ergebnis Bestand. Die Klägerin zu 1 macht keine kennzeichenrechtlichen Ansprüche geltend. Aus den von ihr allein erhobenen wettbewerbsrechtlichen Ansprüchen kann sich kein Anspruch ergeben, auf bestimmte Domainnamen gegenüber der Denic zu verzichten.b) Mit dem Antrag zu 2.2 will die Klägerin zu 1 der Beklagten zu 2 verbieten, ein Restaurant unter bestimmten im Antrag abgebildeten Hard Rock-Logos auf bestimmten Webseiten zu bewerben. Auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin zu 1 diesen Antrag auf wettbewerbsrechtliche Ansprüche stützen kann. Der Senat hat für die Beurteilung der Verjährungseinrede der Beklagten keine Grundlage, weil offen ist, seit wann die Klägerin zu 1 von der beanstandeten Internetwerbung Kenntnis hatte. Da der Senat insoweit nicht selbst in der Sache ent-88 scheiden kann, bedarf es für den Antrag zu 2.2 der Klägerin zu 1 einer Zurückverweisung an das Berufungsgericht.5. Die Abweisung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrags der Klägerin zu 1 durch das Berufungsgericht ist zu bestätigen, soweit er sich gegen die Beklagte zu 2 richtet. Es ist weder festgestellt noch sonst ersichtlich, dass in der Person der Beklagten zu 2, die bei der Denic als Inhaberin des Domainnamens www.hardrockcafe.de registriert ist, Wiederholungs- oder Erstbegehungsgefahr hinsichtlich des Betriebs oder der Bewerbung eines Restaurants mit den im Hilfsantrag aufgeführten Ausstattungsmerkmalen besteht.Im Übrigen hat die Zurückweisung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsantrags der Klägerin zu 1 keinen Bestand. Das Berufungsurteil beruht auch insoweit auf den Erwägungen zu Verwirkung und Irreführung, die rechtlicher Nachprüfung nicht standhalten (siehe oben Rn. 21 ff. und 70).Über den Hilfsantrag ist zu entscheiden, da er sich gegen den Betrieb und die Bewerbung eines Restaurants in bestimmter Weise richtet und daher eine Einschränkung des hinsichtlich Restaurantbetrieb und -bewerbung unter der Bezeichnung "Hard Rock" unbegründeten Antrags zu 1.1 (a) darstellt.Die Sache ist insoweit nicht zur Endentscheidung reif, weil es noch weiterer Feststellungen bedarf. Die in dem Hilfsantrag aufgeführten, mit a) bis d) bezeichneten vier Merkmale von Restaurantbetrieb oder -werbung sind zwar kumulativ verknüpft. Das Merkmal b) entspricht dabei dem Hilfsantrag zu 1.1 (e), der begründet ist. Allerdings kann den Beklagten der Betrieb eines Restaurants unter der Bezeichnung "Hard Rock Cafe" und die Werbung dafür nicht schon allein deshalb untersagt werden, weil dort Merchandising-Artikel entsprechend den konkret im Antrag zu 1.1 (e) bezeichneten Produkten ange-93 boten, vertrieben oder beworben werden. Vielmehr kommt es insoweit darauf an, ob die Beklagten ein Unternehmenskennzeichenrecht mit besserer Priorität als die Rechte der Klägerinnen erworben haben.Das Berufungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass der Klägerin zu 1 keine Ansprüche gegen die Verwendung des Slogans "Help the Planet" (Merkmal d) des Hilfsantrags) durch die Beklagten zustehen. Die Begründetheit des Hilfsantrags hängt daher davon ab, ob die Klägerin zu 1 den Beklagten zu 1 und 3 die Verwendung jedenfalls eines der im Antrag zu 1.1 (a) aufgeführten Logos oder der in Merkmal c) näher beschriebenen Inneneinrichtung verbieten lassen kann. Dazu bedarf es weiterer Feststellungen des Berufungsgerichts. Ein Unterlassungsanspruch bezüglich eines dieser Merkmale reicht zur Begründung des Hilfsantrags aus, weil sich das jeweils andere Merkmal wie auch die Merkmale b) und d) dann als Überbestimmung darstellen.6. Somit hat das Berufungsurteil im Hinblick auf die Klägerin zu 1 hinsichtlich der Abweisung der Klageanträge zu 1.1 (a) (Betrieb und Bewerben eines Restaurants unter der Bezeichnung "Hard Rock"), 1.1 (b) (Slogan "HELP THE PLANET"; Revision nicht zugelassen), des Hauptantrags zu 1.1 (e), des Hilfsantrags zu 1.1 (e) - jedoch nur in Bezug auf die Beklagte zu 2 -, der auf diese Anträge rückbezogenen Anträge zu 1.2 bis 1.4 sowie der Anträge zu 2.1 und 3 Bestand. Der Hilfsantrag zu 1.1 (e) der Klägerin zu 1 (Vertrieb bestimmter Merchandising-Artikel) und die auf diesen rückbezogenen Ansprüche zu 1.2 (mit den oben Rn. 45 dargelegten Einschränkungen) und 1.3 sind begründet. Der Senat hat davon abgesehen, in den Unterlassungstenor eine Ordnungsmittelandrohung aufzunehmen. Die beantragte Androhung "eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden angemessen erhöhten Ordnungsgeldes" lässt nicht erkennen, womit die Beklagten in jedem Fall einer Zuwiderhandlung rechnen müssen. Eine Festlegung in dem Sinne, dass im Falle 97 wiederholter Zuwiderhandlungen jeweils höhere Ordnungsmittel festgesetzt werden, kommt im Erkenntnisverfahren ohnehin nicht in Betracht.Im Übrigen vermag der Senat über die Revision der Klägerin zu 1 nicht abschließend zu entscheiden. Die Sache ist insoweit nicht zur Endentscheidung reif, weil zur Beurteilung der wettbewerbsrechtlichen Ansprüche erforderliche Feststellungen des Berufungsgerichts fehlen.Bornkamm Pokrant Schaffert Kirchhoff Koch Vorinstanzen:LG Mannheim, Entscheidung vom 07.05.2010 - 7 O 275/09 -OLG Karlsruhe, Entscheidung vom 14.09.2011 - 6 U 94/10 - 99
bundesgerichtshof
bgh_056-2009
11.03.2009
Mieterhöhungsverlangen und Pflicht zur Beifügung eines Mietspiegels Ausgabejahr 2009 Erscheinungsdatum 11.03.2009 Nr. 056/2009 Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass es für ein ordnungsgemäßes Mieterhöhungsverlangen nicht erforderlich ist, den Mietspiegel beizufügen, wenn dieser im Kundencenter des Vermieters eingesehen werden kann. Die Beklagten sind Mieter einer Wohnung der Klägerin in Wiesbaden. Mit Schreiben vom 25. April 2006 verlangte die Klägerin von den Beklagten die Zustimmung zur Erhöhung der Grundmiete von 374,50 € auf 407,54 € (= 6,74 €/m²). Zur Begründung des Erhöhungsverlangens berief sich die Klägerin unter Erläuterung der begehrten Mieterhöhung auf den Mietpreisspiegel der Landeshauptstadt Wiesbaden (Stand 1. Januar 2006). Die Klägerin wies im Mieterhöhungsverlangen darauf hin, dass der Mietspiegel unter anderem beim Mieterschutzverein in Wiesbaden erhältlich sei und in ihrem Kundencenter eingesehen werden könne. Die Beklagten stimmten der Mieterhöhung nicht zu. Das Amtsgericht hat die auf Zustimmung zur Mieterhöhung gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. Sie führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung an das Berufungsgericht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Beifügung des Mietspiegels zur ordnungsgemäßen Begründung des Mieterhöhungsverlangens nicht erforderlich, wenn dieser allgemein zugänglich ist. In einem solchen Fall ist es dem Mieter zumutbar, zur Prüfung der Angaben des Vermieters auf den ohne weiteres zugänglichen Mietspiegel zuzugreifen. Nichts anderes gilt, wenn die Einsichtnahme in den Mietspiegel wie im hier zu entscheidenden Fall im Kundencenter des Vermieters gewährleistet ist. Die Beifügung des Mietspiegels ist auch nicht deswegen erforderlich, um eine rechtliche Beratung des Mieters - etwa durch einen Rechtsanwalt - zu ermöglichen, weil dessen Kenntnis von dem Inhalt des Mietspiegels vorausgesetzt werden kann. Das Berufungsgericht wird nunmehr festzustellen haben, ob das Mieterhöhungsverlangen materiell berechtigt ist. Urteil vom 11. März 2009 - VIII ZR 74/08 AG Wiesbaden - Urteil vom 5. April 2007 - 91 C 5091/06-19 LG Wiesbaden - Urteil vom 14. Dezember 2007 - 3 S 44/07 Karlsruhe, den 11. März 2009 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des VIII. Zivilsenats vom 11.3.2009 - VIII ZR 74/08 -
Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 14. Dezember 2007 aufgehoben.Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Beklagten haben von der Klägerin eine Wohnung in W. gemietet. Mit Schreiben vom 25. April 2006 begehrte die Klägerin von den Beklagten die Zustimmung zu einer Erhöhung der Grundmiete von 374,50 &euro; auf 407,54 &euro; (= 6,74 &euro;/qm). Zur Begründung des Erhöhungsverlangens berief sich die Klägerin auf den Mietpreisspiegel der Landeshauptstadt W. - Stand 1. Januar 2006 - und erläuterte die begehrte Mieterhöhung wie folgt:Vergleichsmietenberechnung Grundmerkmal Einstufung Baualtersklasse Lageklasse Ausstattungsklasse Größenklassebis 31.12.1960 (1954)mittelmit Heizung, mit Bad 60,00 qm - 100,00 qm (60,50 qm)Mietpreisspanne laut Mietspiegel 5,79 EUR/qm - 7,79 EUR/qm (Mittelwert: 6,79 EUR/qm)Tabellenwert 6,79 EUR/qm_Vergleichsmiete gemäß Mietspiegel 6,79 EUR/qm Außerdem wies die Klägerin im Mieterhöhungsverlangen darauf hin, dass der Mietspiegel unter anderem beim Mieterschutzverein W. und U. e.V., in W. erhältlich sei und auch im Kundencenter der Klägerin eingesehen werden könne. Die Beklagten erteilten die erbetene Zustimmung zur Mieterhöhung nicht.Die Klägerin hat Klage auf Zustimmung zu einer Mieterhöhung von 374,50 &euro; um 33,04 &euro; auf 407,54 &euro; ab 1. Juli 2006 erhoben. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Gründe Die Revision hat Erfolg.I.Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Zustimmung zum Mieterhöhungsverlangen vom 25. April 2006 zu, weil das Mieterhöhungsverlangen nicht ausreichend begründet und deshalb gemäß § 558a BGB formell unwirksam sei. Bei einem unter Bezugnahme auf einen Mietspiegel begründeten Mieterhöhungsverlangen müsse der Vermieter den Mietspiegel beifügen, sofern dieser wie hier nicht kostenlos zugänglich sei. Dem Mieter sei es nicht zuzumuten, finanzielle Aufwendungen zu tätigen, um Kenntnis von der Begründung nehmen zu können, die der Vermieter zu erbringen habe. Es sei auch nicht ausreichend, dass dem Mieter angeboten werde, den Mietspiegel im Kundencenter des Vermieters einzusehen, selbst wenn sich dieses in örtlicher Nähe zur Wohnung des Mieters befinde. Bei einer Einsichtnahme im Kundencenter bestünden nur eingeschränkte Prüfungsmöglichkeiten für den Mieter. Der Mietspiegel stehe dem Mieter dort nur begrenzt zur Verfügung, so dass es dem Mieter nicht möglich sei, sich durch Dritte, z.B. durch einen Rechtsanwalt, umfassend über die Berechtigung des Mieterhöhungsverlangens beraten zu lassen. Auch sei zu berücksichtigen, dass angesichts der beschränkten Öffnungszeiten eines Kundencenters für Berufstätige eine Einsichtnahme mitunter gar nicht möglich sei. Darauf, dass sie auf Nachfrage der Beklagten auch bereit gewesen wäre, diesen kostenlos ein Exemplar des Mietspiegels zur Verfügung zu stellen, könne sich die Klägerin nicht berufen, weil sie darauf im Mieterhöhungsverlangen nicht hingewiesen habe.II.Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Mieterhöhungsverlangen der Klägerin vom 25. April 2006 erfüllt die formellen Voraussetzungen des § 558a BGB. Der Beifügung des Mietspiegels für die Stadt W. bedurfte es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht.1. Gemäß § 558a Abs. 1 BGB ist das Erhöhungsverlangen dem Mieter in Textform zu erklären und zu begründen. Mit der Begründung des Mieterhöhungsverlangens sollen dem Mieter im Interesse einer außergerichtlichen Einigung die Tatsachen mitgeteilt werden, die er zur Prüfung einer vom Vermieter gemäß § 558 BGB begehrten Mieterhöhung benötigt, also etwa die Angabe der ortsüblichen Vergleichsmiete und bei Bezugnahme auf einen Mietspiegel die Einordnung der Wohnung in die betreffende Kategorie des Mietspiegels (Senatsurteil vom 10. Oktober 2007 - VIII ZR 331/06, NZM 2008, 124, Tz. 18). Dabei dürfen nach der Rechtsprechung des Senats an die Begründung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden; es genügt die Angabe des nach Auffassung des Vermieters einschlägigen Mietspiegelfeldes (Senatsurteil vom 12. Dezember 2007 - VIII ZR 11/07, NJW 2008, 573, Tz. 12, 15 f.). Diesen Anforderungen wird das Mieterhöhungsverlangen der Klägerin, das die Einstufung der Wohnung nach Baualter, Lage, Ausstattung sowie Größenklasse mitteilt und die dafür im Mietspiegel angesetzte Vergleichsmiete angibt, gerecht.2. Zu Recht macht die Revision geltend, dass die ordnungsgemäße Begründung des Mieterhöhungsverlangens der Klägerin nicht die Beifügung des Mietspiegels erforderte. Der Senat hat bereits entschieden, dass es einer Beifügung des Mietspiegels jedenfalls dann nicht bedarf, wenn dieser allgemein zugänglich ist (Senatsurteil vom 12. Dezember 2007, aaO, Tz. 15); in einem solchen Fall ist es dem Mieter zumutbar, zur Überprüfung des Mieterhöhungsverlangens auf den ohne weiteres zugänglichen Mietspiegel zuzugreifen. Dasselbe gilt, wenn der Vermieter - wie hier - in seinem Mieterhöhungsverlangen die Einsichtnahme in den Mietspiegel in den Räumen seines Kundencenters am Wohnort des Mieters anbietet. Ebenso wie bei der Einsichtnahme in die Belege der Betriebskostenabrechnung (vgl. dazu Senatsurteil vom 8. März 2006 - VIII ZR 78/05, NJW 2006, 1419, Tz. 24) kann einem Mieter, der die Angaben des Vermieters zur Einordnung seiner Wohnung in den Mietspiegel sowie die dafür angegebene ortsübliche Vergleichsmiete anhand des Mietspiegels überprüfen will, eine damit unter Umständen verbundene gewisse Mühe zugemutet werden. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bedarf es einer Beifügung des Mietspiegels auch nicht deshalb, um eine umfassende rechtliche Beratung des Mieters - zum Beispiel durch einen Rechtsanwalt - zu ermöglichen, denn die Kenntnis des örtlichen Mietspiegels ist bei einem in Mietsachen tätigen Rechtsanwalt vorauszusetzen.III.Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben; es ist deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif, weil das Berufungsgericht - vor dem Hintergrund seiner Rechtsauffassung zur formellen Unwirksamkeit des Mieterhöhungsverlangens folgerichtig - keine Feststellungen zur materiellen Berechtigung des Begehrens getroffen hat. Der Rechtsstreit ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).Ball Dr. Frellesen Hermanns Dr. Milger Dr. Hessel Vorinstanzen:AG Wiesbaden, Entscheidung vom 05.04.2007 - 93 C 5091/06-19 -LG Wiesbaden, Entscheidung vom 14.12.2007 - 3 S 44/07 -
bundesgerichtshof
bgh_161-2007
31.10.2007
Kein Anspruch des Leasingnehmers auf einen "Übererlös" Ausgabejahr 2007 Erscheinungsdatum 31.10.2007 Nr. 161/2007 Kein Anspruch des Leasingnehmers auf einen "Übererlös" Der unter anderem für das Leasingrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat seine Rechtsprechung zu der Frage fortgeführt, wem bei einem Kraftfahrzeug-Leasingvertrag derjenige Teil einer Kasko-Versicherungsleistung zusteht, der den nicht amortisierten Gesamtaufwand einschließlich des kalkulierten Gewinns des Leasinggebers übersteigt. Dem heute verkündeten Urteil liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin leaste von der Beklagten im Herbst 2002 einen gebrauchten Pkw Porsche. Die Klägerin schloss für das Fahrzeug vereinbarungsgemäß zugunsten der Beklagten eine Vollkaskoversicherung mit Selbstbeteiligung ab. Am 9. August 2003 wurde der Wagen bei einem Verkehrsunfall ohne Fremdverschulden stark beschädigt. Gestützt auf ein für diesen Fall vertraglich vorgesehenes außerordentliches Kündigungsrecht kündigte die Beklagte daraufhin den Leasingvertrag zum 30. September 2003. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin neben einer Mietsonderzahlung von 20.000 € Leasingraten in Höhe von insgesamt 11.739,20 € entrichtet. Der Kaskoversicherer erstattete der Beklagten 36.718,32 €. Später erwarb die Klägerin das Fahrzeug zum Restwert von 20.516,38 € von der Beklagten. Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte habe unter Berücksichtigung der Versicherungsleistung weitaus mehr erhalten, als ihr bei vorzeitiger Beendigung des Leasingvertrags als – von der Beklagten abzurechnender – Schadensersatz wegen Nichterfüllung zustehe. Die Beklagte habe insgesamt 88.973,90 € erlöst. Selbst bei ordnungsgemäßer Vertragsdurchführung hätte sie nur 68.505,24 € beanspruchen können. Die Klägerin meint, dass ihr der Differenzbetrag von 20.468,66 € zustehe. Sie nimmt die Beklagte auf Endabrechnung des Leasingvertrags und Auskunftserteilung sowie Auszahlung des unter Berücksichtigung der Versicherungsleistung empfangenen Mehrbetrags in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Der Bundesgerichtshof hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Der Leasinggeber ist zwar, soweit der Leasingnehmer wie üblich (und auch hier) die Sach- und Preisgefahr trägt, grundsätzlich - auch ohne besondere Vereinbarung - verpflichtet, dem Leasingnehmer die Leistung aus einer von diesem für die Leasingsache abgeschlossenen Versicherung zugute kommen zu lassen und erhaltene Versicherungsleistungen im Falle der Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für die Reparatur oder die Wiederbeschaffung des Fahrzeugs zu verwenden oder sie bei Beendigung und Abwicklung des Leasingverhältnisses auf mögliche Schadensersatz- oder Ausgleichsforderungen anzurechnen, die ihm gegen den Leasingnehmer zustehen. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Leasinggeber einen danach verbleibenden Betrag an den Leasingnehmer auszukehren hätte. Da die Vollkaskoversicherung ausschließlich das Interesse des Eigentümers an der Erhaltung des Fahrzeugs deckt, steht ein solcher Betrag grundsätzlich alleine dem Leasinggeber als dem Eigentümer des Fahrzeugs zu. Dies gilt jedenfalls bei der hier gegebenen Vertragsgestaltung eines Leasingvertrags mit Andienungsrecht des Leasinggebers und ohne Mehrerlösbeteiligung des Leasingnehmers. Urteil vom 31. Oktober 2007 - VIII ZR 278/05 LG Karlsruhe - Urteil vom 28. Januar 2005 - 15 O 94/04 ./. OLG Karlsruhe - Urteil vom 11. Oktober 2005 - 8 U 47/05 Karlsruhe, den 31. Oktober 2007 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des VIII. Zivilsenats vom 31.10.2007 - VIII ZR 278/05 -
BundesgerichtshofBGB § 535Bei der vorzeitigen Beendigung eines Leasingvertrags mit Andienungsrecht und ohne Mehrerlösbeteiligung steht eine wegen der Beschädigung, des Untergangs, des Verlusts oder des Diebstahls des Leasingobjekts gezahlte Versicherungsentschädigung auch insoweit dem Leasinggeber zu, als sie seinen zum Zeitpunkt der vorzeitigen Beendigung des Leasingvertrages noch nicht amortisierten Gesamtaufwand einschließlich des kalkulierten Gewinns übersteigt.BGH, Urteil vom 31. 10. 2007 – VIII ZR 278/05; OLG Rostock (lexetius.com/2007,3713)[1] Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 31. Oktober 2007 durch den Vorsitzenden Richter Ball, die Richter Wiechers und Dr. Wolst, die Richterin Dr. Milger und den Richter Dr. Koch für Recht erkannt:[2] Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 11. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.[3] Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.[4] Tatbestand: Gemäß Antrag der Klägerin vom 26. Oktober 2002 und Annahme der Beklagten vom 5. November 2002 schlossen die Parteien einen Leasingvertrag über einen gebrauchten Pkw Porsche. Die Parteien vereinbarten eine Mietsonderzahlung von 17.241,38 € (einschließlich Mehrwertsteuer 20.000 €; die Bruttobeträge sind auch nachfolgend jeweils in Klammer angeführt) und monatliche Leasingraten von 920 € (1.067,20 €) bei einer Leasingdauer von 36 Monaten, beginnend mit dem 1. Dezember 2002. Der Anschaffungswert des Fahrzeugs ist im Vertrag mit 60.338,79 € (69.993 €), der Restwert mit 18.101,64 € (20.997,90 €) angegeben.[5] In dem Leasingvertrag ist unter anderem Folgendes bestimmt:"Die Vertragspartner sind sich einig, dass durch die monatlich zu entrichtende Leasingrate während der Vertragsdauer die Anschaffungs-Finanzierungs-Nebenkosten von E. [Beklagte] nicht gedeckt werden (Teilamortisation). Unter Berücksichtigung der steuerlichen Vorschriften vereinbaren die Parteien den obigen Restwert. Auf Verlangen von E. ist der Leasingnehmer verpflichtet, bei Ende der oben vereinbarten Vertragsdauer den Leasinggegenstand zum kalkulierten Restwert käuflich zu erwerben. Die Einzelheiten ergeben sich aus § 16 der umseitigen Vertragsbedingungen."[6] Die dem Leasingvertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Vertragsbedingungen der Beklagten (im Folgenden AVB) lauten auszugsweise:"§ 10 Gefahrtragung (Sach- und Preisgefahr)1. Mit Übernahme des Leasing-Objektes geht die Sach- und Preisgefahr, insbesondere die Gefahr des zufälligen Unterganges, Verlustes und des Diebstahls des Leasing-Objektes auf den Leasingnehmer über. […] Die Verpflichtung zur Fortentrichtung der vereinbarten Leasingraten bleibt bestehen. Darüber hinaus steht sowohl dem Leasingnehmer als auch E. in den vorgenannten Fällen ein kurzfristiges Kündigungsrecht zu.2. § 10 Ziff. 1 gilt entsprechend im Falle der Beschädigung des Leasing-Objektes. Ein Kündigungsrecht besteht in diesem Fall jedoch nur, wenn die Reparaturkosten 60 % des Zeitwertes des Leasing-Objektes überschreiten.3. Für jeden Fall der Kündigung ist E. dann berechtigt, vom Leasingnehmer eine Ausgleichszahlung analog der Berechnung gemäß § 13 der nachfolgenden Bedingungen zu verlangen (Kündigungsforderung). E. wird Zug um Zug gegen Ausgleich der Kündigungsforderung etwaige Ansprüche gegen Dritte (z. B. Versicherungen, s. § 11) an den Leasingnehmer bis zur Höhe der Kündigungsforderung abtreten. […]§ 11 Versicherungspflicht1. Der Leasingnehmer verpflichtet sich, bis zur tatsächlichen Rückgabe das Leasing-Objekt auf eigene Kosten zum Neuwert gegen branchenüblich versicherbare Verluste oder Schäden, insbesondere Schwachstrom und gegen Blitzschlag, Feuer, Explosion, Diebstahl und Wasserschäden aller Art zu versichern. Für Kraftfahrzeuge ist eine Haftpflichtversicherung mit einer Versicherungssumme von mindestens DM 2, 0 Mio. pauschal und eine Vollkasko-Versicherung mit DM 1. 000, – Selbstbeteiligung abzuschließen.2. Der Leasingnehmer hat E. zur Erteilung eines üblichen Sicherungsscheins mit der Übernahmebestätigung eine unterzeichnete Versicherungserklärung zu übergeben und E. den Sicherungsschein zu überlassen.[…]4. Mit Abschluss des Leasingvertrages tritt der Leasingnehmer hiermit unwiderruflich alle Rechte aus dem gem. § 11 des Leasingvertrages abgeschlossenen oder noch zu schließenden Versicherungsverträgen sowie alle Schadensersatzansprüche gegen Dritte an die die Abtretung hiermit annehmende E. ab. Mit dem Abschluss des Leasingvertrages weist der Leasingnehmer im Schadensfall bereits jetzt die Versicherung an, Entschädigungszahlungen ausschließlich an E. zu leisten. Die Abwicklung mit dem Versicherer obliegt dem Leasingnehmer. Hat der Leasingnehmer die Ansprüche von E. voll erfüllt, stehen die Ansprüche gegen den Versicherer dem Leasingnehmer zu. […]5. Die Versicherungsentschädigungen werden dem Leasingnehmer auf die von ihm nach § 13 der nachfolgenden Bedingungen zu erbringenden Leistungen angerechnet, jedoch mit Ausnahme des Betrages, den die Versicherung zum Ausgleich des nach Wiederherstellung des Leasing-Objektes noch verbleibenden merkantilen Minderwertes leistet.[…]§ 13 (Folgen der fristlosen Kündigung)1. Im Falle der fristlosen Kündigung durch E. (im Falle des § 10 durch E. oder den Leasingnehmer) werden zusätzlich zu den rückständigen Brutto-Leasingraten die für die restliche Vertragsdauer noch ausstehenden Netto-Leasingraten sowie der vertraglich vereinbarte Netto-Restwert, jeweils abgezinst zum Refinanzierungszinssatz von E. und unter Abzug ersparter Kosten der E. als Schadensersatz wegen Nichterfüllung sofort fällig und zahlbar. Ein Erlös aus der Verwertung des Leasing-Objektes (ohne Mehrwertsteuer) wird unter Abzug der Verwertungskosten und des Marktwertes, der bei regulärer Vertragsbeendigung voraussichtlich für das Leasing-Objekt erzielt worden wäre (Nachmieterlös), auf die Forderung angerechnet.[…]§ 16 (Andienungsrecht des Leasinggebers)1. Die Parteien haben einen Teil-Amortisations-Leasingvertrag abgeschlossen. Sie sind sich darüber einig, dass die monatlich zu entrichtenden Leasingraten während der vereinbarten Vertragslaufzeit die Anschaffungs-, Finanzierungs- und Nebenkosten von E. nicht decken (Teil-Amortisation). Unter Berücksichtigung der steuerlichen Vorschriften haben die Parteien deshalb den auf der Vorderseite ausgewiesenen Restwert vereinbart.2. Sofern sich der Leasingvertrag nicht gem. § 1 stillschweigend verlängert hat, ist der Leasingnehmer auf Verlangen von E. verpflichtet, nach Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer das Leasing-Objekt in dem Zustand, in dem es sich bei Vertragsende befindet, zu dem auf der Vorderseite vereinbarten Restwert zuzügl. MwSt. käuflich zu erwerben (sog. Andienungsrecht von E.).[…]."[7] Die Klägerin schloss für das Fahrzeug vereinbarungsgemäß eine Vollkaskoversicherung mit einer Selbstbeteiligung von 1.000 € ab und ließ der Beklagten einen Sicherungsschein ausstellen. Am 9. August 2003 wurde der Pkw bei einem Verkehrsunfall ohne Fremdverschulden stark beschädigt. Ein von dem Kaskoversicherer eingeschalteter Kraftfahrzeugsachverständiger ermittelte Reparaturkosten von 44.907,72 € (52.092,96 €), einen Wiederbeschaffungswert von 58.189,66 € (67.500 €) und einen Restwert von 20.516,38 € (23.799 €).[8] Die Beklagte kündigte den Leasingvertrag mit Schreiben vom 8. September 2003 zum 30. September 2003, nannte eine nicht näher konkretisierte Schadensersatzforderung von 44.000 € ohne Mehrwertsteuer und teilte mit, dass sie nach Eingang der Versicherungsleistung eine Endabrechnung aufgeben werde. Der Versicherer erstattete der Beklagten 36.718,32 €. Die Klägerin erwarb von der Beklagten das beschädigte Fahrzeug zu einem Kaufpreis von 20.516,38 € (23.799 €).[9] Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte habe unter Berücksichtigung der Versicherungsleistung mehr erhalten, als ihr zustehe. Tatsächlich erhalten habe die Beklagte 88.973,90 €, bestehend aus der Leasing-Sonderzahlung von 20.000 €, elf Leasingraten für die Zeit von November 2002 bis September 2003 von 11.739,20 €, der Kaskoversicherungsleistung von 36.718,32 € und dem Verkaufserlös von 20.516,38 €. Dies sei weitaus mehr als der Beklagten bei vorzeitiger Vertragsbeendigung als – von der Beklagten abzurechnender – Schadensersatz wegen Nichterfüllung zustehe. Selbst bei ordnungsgemäßer Vertragsdurchführung hätte die Beklagte nur 68.505,24 € beanspruchen können, weshalb sie zumindest den Differenzbetrag von 20.468,66 € zu erstatten habe.[10] Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Endabrechnung des Leasingvertrages und Auskunftserteilung sowie auf Auszahlung der unter Berücksichtigung der Versicherungsleistung zu Unrecht empfangenen Mehrbeträge in Anspruch.[11] Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Dagegen wendet die Klägerin sich mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, mit der sie ihre Klageanträge weiterverfolgt.[12] Entscheidungsgründe: Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.[13] I. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die Erwägungen des Landgerichts im Wesentlichen ausgeführt:[14] Die Klägerin habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Herausgabe eines Übererlöses und demzufolge auch keinen Anspruch auf Endabrechnung oder Auskunftserteilung. Der Erlös aus der Verwertung des beschädigten Leasinggegenstandes stehe aufgrund des vereinbarten Teilamortisations-Leasingvertrags mit Andienungsrecht ohne Mehrerlösbeteiligung der Beklagten zu. Daraus, dass die Beklagte bei Geltendmachung eines Ausgleichsanspruchs nach § 13 AVB nur das Vollamortisationsinteresse liquidieren könne, folge nicht, dass sie einen bei Vertragsbeendigung erzielten Übererlös an die Klägerin herauszugeben habe. Ein im Vergleich zum Schadensersatzanspruch erzielter Mehrerlös beruhe nicht auf Vorteilen, die die Beklagte durch die vorzeitige Beendigung des Vertrags erlangt habe, sondern auf der Verwertung des Fahrzeugs, die sie auch bei Ablauf der nach dem Vertrag vorausgesetzten Vertragsdauer hätte vornehmen können. Dann wäre die Beklagte zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet gewesen, der Klägerin den Pkw zum kalkulierten Restwert zu verkaufen. Sie hätte stattdessen auch von einer Ausübung des Andienungsrechts absehen und den Pkw zu einem höheren Marktpreis an einen Dritten veräußern können. Der über den kalkulierten Restwert hinausgehende Mehrerlös hätte dabei der Beklagten zugestanden. Auch bei einer vorzeitigen Beendigung des Leasingvertrages bilde die volle Amortisation keine starre Obergrenze, die nicht zugunsten des Leasinggebers überschritten werden könne. Eine Übererlösbeteiligung des Leasingnehmers finde nur in den Fällen statt, in denen die Parteien eine solche Vereinbarung getroffen hätten.[15] II. Diese Beurteilung hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand. Die Revision der Klägerin ist daher zurückzuweisen.[16] Das Berufungsgericht hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin kein Zahlungsanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB) und demzufolge auch kein diesen Zahlungsanspruch vorbereitender Hilfsanspruch auf Endabrechnung des Leasingvertrages oder Auskunftserteilung zusteht. Die Beklagte hat sämtliche von der Klägerin aufgeführten Zahlungen von insgesamt 88.973,90 € mit Rechtsgrund erlangt.[17] Soweit die Klägerin der Beklagten zu Vertragsbeginn eine Mietsonderzahlung von 20.000 € und während der Vertragslaufzeit von November 2002 bis September 2003 elf Leasingraten von insgesamt 11.739,20 € gezahlt hat, haben diese Zahlungen ihren Rechtsgrund in dem von den Parteien geschlossenen Leasingvertrag. Hinsichtlich der Zahlung des Kaufpreises von 20.516,38 € für das beschädigte Fahrzeug bildet der zwischen den Parteien geschlossene Kaufvertrag den Rechtsgrund. Schließlich ist auch für die Leistung des Kaskoversicherers von 36.718,32 € ein Rechtsgrund gegeben.[18] Bei der hier durch die Ausstellung des Sicherungsscheines für die Beklagte begründeten Versicherung für fremde Rechnung nach §§ 74 ff. VVG mag zwar mangels tatrichterlicher Feststellung besonderer Umstände davon auszugehen sein, dass die Beklagte den von dem Versicherer gezahlten Geldbetrag durch Leistung der Klägerin erlangt hat, da der Versicherer diesen seinerseits – ungeachtet der direkten Zahlung an die Beklagte – an die Klägerin als Versicherungsnehmerin geleistet hat (vgl. Senatsurteil vom 27. September 2006 – VIII ZR 217/05, WM 2006, 2378, unter II, m. w. N.). Die Leistung der Klägerin ist jedoch auch insoweit nicht ohne Rechtsgrund erfolgt, als die Beklagte damit insgesamt einen höheren Betrag erhalten haben sollte, als sie bei voller Amortisation ihres Finanzierungsaufwands einschließlich des kalkulierten Gewinns erhalten hätte. Entgegen der Ansicht der Revision ergibt sich aus den Allgemeinen Vertragsbedingungen nicht, dass die Beklagte Anspruch auf die Versicherungsleistung nur hat, soweit diese zur Deckung des Vollamortisationsanspruchs notwendig ist. Die Versicherungsleistung aus der Vollkaskoversicherung steht vielmehr in voller Höhe der Beklagten zu.[19] 1. Die Vollkaskoversicherung, deren Abschluss beim Kfz-Finanzierungsleasing – wie auch hier (§ 11 Ziff. 1 Satz 2 AVB) – üblicherweise dem Leasingnehmer zur Pflicht gemacht wird, greift nach § 12 Abs. 1, § 13 Abs. 1 AKB bei Beschädigung, Zerstörung und Verlust des Fahrzeugs sowie bestimmter mitversicherter Teile bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts ein. Sie ist also eine reine Sachversicherung und deckt als solche nur das Interesse des Eigentümers an der Erhaltung des unter Versicherungsschutz stehenden Fahrzeugs (Senatsurteil vom 8. März 1995 – VIII ZR 313/93, WM 1995, 935, unter B I 1 c; BGHZ 116, 278, 283 m. w. N.). Die Leistungen aus der Vollkaskoversicherung stehen daher grundsätzlich in voller Höhe dem Leasinggeber als dem Eigentümer des Fahrzeugs zu.[20] Dafür spricht auch die Wertung des § 285 Abs. 1 BGB. Nach dieser Bestimmung hat der Schuldner, der infolge eines Umstands, auf Grund dessen er die Leistung nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu erbringen braucht, für den geschuldeten Gegenstand einen Ersatz oder Ersatzanspruch erlangt, dem Gläubiger das als Ersatz Empfangene herauszugeben oder den Ersatzanspruch abzutreten. Diese Bestimmung gilt nicht nur für den Fall, dass dem Schuldner die Leistung – etwa wegen Verlustes des geschuldeten Gegenstandes – vollständig, sondern auch für den Fall, dass ihm die Leistung – beispielsweise wegen Beschädigung des geschuldeten Gegenstandes – "teilweise" unmöglich ist (Emmerich in Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl., § 285 Rdnr. 12 m. w. N.) und der Anspruch auf die Leistung daher (nur) insoweit nach § 275 Abs. 1 BGB ausgeschlossen ist. Danach hätte die Klägerin, die das Fahrzeug infolge der Beschädigung entgegen ihrer vertraglichen Verpflichtung nicht mehr unversehrt zurückgeben kann, der Beklagten die wegen der Beschädigung erlangte Versicherungsleistung – und zwar in voller Höhe (BGH, Urteil vom 10. Februar 1988 – IVa ZR 249/86, WM 1988, 791, unter 2, zu § 281 BGB aF; Emmerich, aaO, Rdnr. 31; jeweils m. w. N.) – herauszugeben.[21] Da die Versicherungsleistung im Streitfall nicht über den Wiederbeschaffungswert hinausgeht, kann offen bleiben, ob eine andere Beurteilung geboten ist, soweit die Versicherungsleistung den Wiederbeschaffungswert übersteigt, weil der Versicherer den Schaden auf Neupreisbasis reguliert (vgl. dazu Reinking/Eggert, Der Autokauf, 9. Aufl., Rdnr. 969; Moseschus, EWiR 2005, 203, 204).[22] 2. Der Leasinggeber ist zwar, soweit der Leasingnehmer wie üblich – und so auch hier (§ 10 Ziff. 1 Satz 1 AVB) – die Sach- und Preisgefahr trägt, grundsätzlich – auch ohne besondere Vereinbarung – verpflichtet, dem Leasingnehmer die Leistung aus einer von diesem für die Leasingsache abgeschlossenen Versicherung zugute kommen zu lassen und erhaltene Versicherungsleistungen für die Reparatur oder die Wiederbeschaffung des Fahrzeugs zu verwenden oder bei Beendigung und Abwicklung des Leasingverhältnisses – ebenso wie in anderen Fällen den Verwertungserlös – auf mögliche Schadensersatz- oder Ausgleichsforderungen anzurechnen; das beruht auf der leasingvertraglichen Zweckbindung der Versicherung, die – im beiderseitigen Interesse – der Absicherung der vom Leasingnehmer übernommenen Sachgefahr des Leasinggebers dient (vgl. Senatsurteil vom 8. Oktober 2003 – VIII ZR 55/03, WM 2004, 1179, unter II 3 a aa; BGHZ 116, 278, 283 f.; jeweils m. w. N.). Daraus folgt jedoch nicht, dass der Leasinggeber einen danach verbleibenden Betrag an den Leasingnehmer auszukehren hätte. Da die Vollkaskoversicherung – wie bereits ausgeführt wurde – ausschließlich das Interesse des Eigentümers an der Erhaltung des Fahrzeugs deckt, bleibt es vielmehr dabei, dass dieser Betrag grundsätzlich allein dem Leasinggeber als dem Eigentümer des Fahrzeugs zusteht.[23] 3. Es kommt nicht darauf an, ob – wie die Revision meint – etwas anderes zu gelten hat, wenn der Leasinggeber in seinen Allgemeinen Vertragsbedingungen zum Ausdruck bringt, dass sein Interesse allein auf die volle Amortisation des Finanzierungsaufwands einschließlich des kalkulierten Gewinns gerichtet ist. So mag es sich verhalten, wenn der Leasingnehmer nach den Allgemeinen Vertragsbedingungen zum Leasingvertrag berechtigt ist, das Leasingobjekt nach ordnungsgemäßer Beendigung des Leasingvertrages zum vertraglich vereinbarten Restwert zu erwerben. Übt der Leasingnehmer in einem solchen Fall sein Erwerbsrecht aus, kann der Leasinggeber lediglich den Restwert beanspruchen, der – zusammen mit den bereits gezahlten Leasingraten – nur seinen Finanzierungsaufwand einschließlich des kalkulierten Gewinns abdeckt, während der Leasingnehmer die Möglichkeit hat, bei der Verwertung des Leasingobjektes einen über dem Restwert liegenden Verkehrswert zu erzielen. Bei dieser – leasinguntypischen – Vertragsgestaltung ist demnach dem Leasingnehmer die Chance der Wertsteigerung zugewiesen, während der Leasinggeber das Risiko des Wertverlusts trägt. Es kann dahinstehen, ob hieraus folgt, dass dem Leasingnehmer auch bei der vorzeitigen Beendigung eines derartigen Leasingvertrages wegen Verlusts oder Beschädigung des Leasinggutes die als Ersatz für den Verlust oder die Beschädigung gewährte Versicherungsleistung gebührt, soweit diese nicht zur Deckung des Vollamortisationsanspruchs des Leasinggebers benötigt wird (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 2003, 775). Denn im Streitfall ist die Vertragsgestaltung eine andere.[24] Entgegen der Ansicht der Revision hat die Beklagte mit § 16 AVB nicht zum Ausdruck gebracht, dass ihr Interesse allein auf die volle Amortisation des Finanzierungsaufwands einschließlich des kalkulierten Gewinns gerichtet ist.[25] Gemäß § 16 Ziff. 2 AVB ist der Leasingnehmer auf Verlangen der Beklagten verpflichtet, nach Ablauf der vereinbarten Vertragsdauer das Leasingobjekt in dem Zustand, in dem es sich bei Vertragsende befindet, zu dem vereinbarten Restwert zuzüglich Mehrwertsteuer käuflich zu erwerben. Da die Beklagte lediglich berechtigt, aber nicht verpflichtet ist, von diesem Andienungsrecht des Leasinggebers Gebrauch zu machen, hätte sie die Möglichkeit gehabt, das Leasingobjekt stattdessen zu einem höheren Wert als dem kalkulierten Restwert an einen Dritten zu veräußern. Weil der von den Parteien geschlossene Leasingvertrag keine Mehrerlösbeteiligung des Leasingnehmers vorsieht, hätte der dabei erzielte Erlös in voller Höhe der Beklagten zugestanden. Die Chance der Wertsteigerung ist bei planmäßiger Beendigung des Leasingvertrages demnach bei der hier gegebenen Vertragsgestaltung ausschließlich dem Leasinggeber zugewiesen. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass die Chance der Wertsteigerung bei vorzeitiger Beendigung des Leasingvertrages dem Leasingnehmer zustünde.[26] Jedenfalls bei der vorzeitigen Beendigung eines Leasingvertrags mit Andienungsrecht und ohne Mehrerlösbeteiligung steht eine wegen der Beschädigung, des Untergangs, des Verlusts oder des Diebstahls des Leasingobjekts gezahlte Versicherungsentschädigung vielmehr auch insoweit dem Leasinggeber zu, als sie seinen zum Zeitpunkt der vorzeitigen Beendigung des Leasingvertrages noch nicht amortisierten Gesamtaufwand einschließlich des kalkulierten Gewinns übersteigt.[27] 4. Anders als die Revision meint, steht dieser Beurteilung nicht entgegen, dass nach dem Senatsurteil vom 26. Juni 2002 (BGHZ 151, 188) für einen Schadensersatzanspruch des Leasinggebers sein Erfüllungsinteresse bei ordnungsgemäßer Vertragsdurchführung die Obergrenze bildet, weil es ein wesentlicher Grundgedanke der gesetzlichen Regelung des Schadensersatzes ist, dass bei einem Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung eines Vertrags der Berechtigte zwar so zu stellen ist, wie er bei ordnungsgemäßer Vertragsdurchführung gestanden hätte, aber auch nicht besser (BGHZ 151, 188, 193 m. w. N.).[28] Die Revision verkennt, dass es im Streitfall nicht um einen Schadensersatzanspruch des Leasinggebers geht. Die Beklagte hat den ihr im Falle der fristlosen Kündigung nach § 13 AVB zustehenden Schadensersatz wegen Nichterfüllung letztlich nicht beansprucht. Sie hat in ihrem Kündigungsschreiben vom 8. September 2003 zwar zunächst eine nicht näher konkretisierte Schadensersatzforderung von 44.000 € genannt und eine Endabrechnung nach Eingang der gesamten Versicherungsleistung angekündigt. Sie hat schließlich aber keinen Schadensersatz gefordert und dementsprechend auch keine Endabrechnung erteilt. Hierzu ist die Beklagte auch nicht verpflichtet. Da die Beklagte keinen Schadensersatz verlangt hat, kommt es auch nicht darauf an, ob sich – wie die Revision geltend macht – dann, wenn die Beklagte einen Schadensersatz von 44.000 € beansprucht hätte, ein Differenzbetrag von zumindest 13.234,70 € zugunsten der Klägerin ergeben hätte, zu dessen Auszahlung die Beklagte jedenfalls verpflichtet gewesen wäre.
bundesgerichtshof
bgh_077-2016
27.04.2016
Verhandlungstermin am 4. Mai 2016, 9.00 Uhr, in Sachen XII ZR 62/15 (Zur außerordentlichen Kündbarkeit von langfristigen Fitness-Studioverträgen) Ausgabejahr 2016 Erscheinungsdatum 27.04.2016 Nr. 077/2016 Der u.a. für das gewerbliche Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs wird sich mit der Frage zu befassen haben, ob der Nutzer eines Fitnessstudios seinen langfristigen Vertrag außerordentlich kündigen kann, wenn er berufsbedingt den Wohnort wechselt. Die Klägerin macht als Betreiberin eines Fitness-Studios gegen den Beklagten restliches Nutzungsentgelt für die Zeit von Oktober 2013 bis einschließlich Juli 2014 geltend. Die Parteien schlossen im Jahr 2010 einen Vertrag über die Nutzung des Fitness-Studios in Hannover für einen Zeitraum von 24 Monaten (Fitness-Studiovertrag). Sie vereinbarten ein monatliches Nutzungsentgelt von 65 Euro zuzüglich einer – zweimal im Jahr fälligen – Pauschale von 69,90 Euro für ein "Trainingspaket". Ferner enthält der Vertrag eine Verlängerungsklausel um zwölf Monate für den Fall, dass er nicht bis zu drei Monate vor Ablauf gekündigt wird. Der Vertrag verlängerte sich entsprechend bis zum 31. Juli 2014. Im Oktober 2013 wurde der bis dahin in Hannover lebende Beklagte zum Soldaten auf Zeit ernannt. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er in andere Städte abkommandiert; seit Juni 2014 ist er in Rostock stationiert. Am 5. November 2013 kündigte er den Fitness-Studiovertrag, zuvor hatte er die Zahlung der Mitgliedsbeiträge eingestellt. Das Amtsgericht hat die Klage, mit der die Klägerin ein restliches Nutzungsentgelt von 719,90 € begehrt hat, im Wesentlichen abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landgericht der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom Landgericht zugelassenen Revision. Der Senat wird die Frage zu beantworten haben, ob ein berufsbedingter Wohnortwechsel den Nutzer zur außerordentlichen Kündigung eines Fitness-Studiovertrages i.S.v. §§ 314 Abs. 1*, 543 Abs. 1**, 626 Abs. 1*** BGB berechtigt. Für deren Beantwortung könnte relevant sein, ob der Nutzer den Ortswechsel zu verantworten hat. Dabei wird der Senat auch die vom Landgericht aufgeworfene Frage zu klären haben, ob die Vorschrift des § 46 Abs. 8 Satz 3 TKG****, die dem Nutzer einer Telekommunikations-Leistung (etwa DSL) ein Sonderkündigungsrecht unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten einräumt, wenn die Leistung am neuen Wohnsitz nicht angeboten wird, entsprechend auf die Kündigung eines Fitness-Studiovertrages anzuwenden ist. * § 314 Abs. 1 BGB Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. ** § 543 Abs. 1 BGB Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. *** § 626 Abs. 1 BGB Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann. **** § 46 Abs. 8 TKG Der Anbieter von öffentlich zugänglichen Telekommunikationsdiensten, der mit einem Verbraucher einen Vertrag über öffentlich zugängliche Telekommunikationsdienste geschlossen hat, ist verpflichtet, wenn der Verbraucher seinen Wohnsitz wechselt, die vertraglich geschuldete Leistung an dem neuen Wohnsitz des Verbrauchers ohne Änderung der vereinbarten Vertragslaufzeit und der sonstigen Vertragsinhalte zu erbringen, soweit diese dort angeboten wird. Der Anbieter kann ein angemessenes Entgelt für den durch den Umzug entstandenen Aufwand verlangen, das jedoch nicht höher sein darf als das für die Schaltung eines Neuanschlusses vorgesehene Entgelt. Wird die Leistung am neuen Wohnsitz nicht angeboten, ist der Verbraucher zur Kündigung des Vertrages unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende eines Kalendermonats berechtigt… Vorinstanzen: AG Hannover – Urteil vom 28. Oktober 2014 – 538 C 4326/14 LG Hannover – Urteil vom 27. April 2015 – 12 S 89/14 Karlsruhe, den 27. April 2016 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des XII. Zivilsenats vom 4.5.2016 - XII ZR 62/15 -
Tenor Die Revision gegen das Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 27. April 2015 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Klägerin verlangt als Betreiberin eines Fitnessstudios von dem Beklagten restliches Nutzungsentgelt für die Zeit von Oktober 2013 bis einschließlich Juli 2014.Die Parteien schlossen im Jahr 2010 einen Vertrag über die Nutzung eines in Hannover gelegenen Fitnessstudios für einen Zeitraum von 24 Monaten (Fitnessstudiovertrag). Sie vereinbarten ein monatliches Nutzungsentgelt von 65 € zuzüglich einer - zweimal im Jahr fälligen - Pauschale von 69,90 € für ein "Trainingspaket". Ferner enthält der Vertrag in Ziffer 4 eine Verlängerungsklausel um jeweils zwölf Monate für den Fall, dass er nicht mindestens drei Monate vor Ablauf gekündigt wird, und in Ziffer 8 eine Vorfälligkeitsklausel, wonach bei einem Zahlungsverzug von mehr als zwei Monatsraten sämtliche Entgelte für die Restlaufzeit sofort zur Zahlung fällig werden. Der Vertrag verlängerte sich mangels Kündigung bis zum 31. Juli 2014.Im Oktober 2013 wurde der - bis dahin in Hannover lebende - Beklagte zum Soldaten auf Zeit ernannt; gleichzeitig stellte er die Zahlung der Mitgliedsbeiträge ein. Anschließend wurde er für die Zeit von Oktober bis Dezember 2013 nach Köln und für die Zeit von Januar bis Mai 2014 nach Kiel abkommandiert. Seit Juni 2014 ist der Beklagte in Rostock stationiert. Am 5. November 2013 kündigte der Beklagte seine Mitgliedschaft bei der Klägerin.Das Amtsgericht hat die Klage, mit der die Klägerin ein restliches Nutzungsentgelt von 719,90 € nebst Zinsen sowie die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten begehrt hat, im Wesentlichen abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landgericht der Klage in der Hauptsache in vollem Umfang stattgegeben. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom Landgericht zugelassenen Revision. Gründe Die Revision ist unbegründet.I.Das Landgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass der Fitnessstudiovertrag durch die Kündigung des Beklagten nicht mit sofortiger Wirkung beendet worden sei. Der vom Beklagten vorgetragene Wohnortwechsel stelle keinen außerordentlichen Kündigungsgrund dar. Ein wichtiger Grund zur Kündigung des Rechtsverhältnisses liege nach den §§ 314 Abs. 1, 626 Abs. 1 BGB im Allgemeinen nur dann vor, wenn die Gründe, auf die eine Kündigung gestützt würden, im Risikobereich des Kündigungsgegners lägen. Werde der Kündigungsgrund dagegen aus Vorgängen hergeleitet, die dem Einfluss des Kündigungsgegners entzogen seien und aus der eigenen Interessensphäre des kündigenden Vertragsteils herrührten, rechtfertige dies nur in Ausnahmefällen die fristlose Kündigung.Ein mit einem Umzug einhergehender Wohnortwechsel - sei es auch aus beruflicher Veranlassung - sei allein der Risikosphäre des Beklagten zuzuordnen. Er sei ausschließlich von diesem und nicht von der Klägerin beeinflussbar. Auch wenn die Abkommandierung fremdbestimmt durch die Bundeswehr erfolgt sei, habe letztlich allein der Beklagte mit seinem Umzug die Entscheidung getroffen, die ihm die Nutzung des Fitnessstudios unmöglich mache. Im Gegenzug dafür, dass der Beklagte im Rahmen des Vertrags das Risiko trage, die Leistung nicht mehr nutzen zu können und trotzdem zahlen zu müssen, sei er während der Vertragslaufzeit in den Genuss geringerer monatlicher Raten gekommen, als wenn er einen monatlich kündbaren Vertrag abgeschlossen hätte. Jedenfalls seien Monatsraten der Jahres- und Zweijahresverträge in Fitnessstudios nach allgemeiner Lebenserfahrung erheblich geringer als die von monatlich kündbaren Verträgen.Die Regelung des § 46 Abs. 8 Satz 3 TKG, die ein Sonderkündigungsrecht mit einer Frist von drei Monaten vorsieht, sei auf den hiesigen Fall nicht übertragbar. Es handele sich bei dieser Norm vielmehr um eine spezialgesetzliche Regelung für den Bereich von Telekommunikationsverträgen, die nicht ohne Weiteres auf andere Verbraucherverträge übertragen werden könne. Dies gelte für den streitgegenständlichen Fitnessstudiovertrag insbesondere deshalb, weil dieser, anders als Telekommunikationsverträge, nicht zur Daseinsvorsorge zähle. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber im Bürgerlichen Gesetzbuch gerade keine dem § 46 Abs. 8 Satz 3 TKG vergleichbare Regelung geschaffen habe, so dass im Umkehrschluss davon auszugehen sei, dass auch der Rechtsgedanke dieser Norm nicht verallgemeinernd auf andere Verbraucherverträge anzuwenden sei.II.Das hält rechtlicher Überprüfung stand.Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin gegen den Beklagten aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Fit- nessstudiovertrag einen Anspruch auf Nutzungsentgelt für den hier in Streit stehenden Zeitraum vom 1. Oktober 2013 bis zum 31. Juli 2014 hat, weil der Beklagte den wirksamen Vertrag (vgl. auch Senatsurteil vom 8. Februar 2012 - XII ZR 42/10 - NJW 2012, 1431 Rn. 19 ff. mwN) nicht zu einem früheren Termin kündigen konnte.1. Unabhängig von der rechtlichen Einordnung eines Fitnessstudiovertrags als Miet-, Dienst- oder typengemischter Vertrag handelt es sich dabei allerdings um ein Dauerschuldverhältnis, bei dem dem Kunden ein Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund zusteht. In den Vorschriften der §§ 626 Abs. 1, 543 Abs. 1 und 314 Abs. 1 BGB kommt der von der Rechtsprechung und Lehre entwickelte allgemeine Grundsatz zum Ausdruck, dass den Vertragsparteien eines Dauerschuldverhältnisses stets ein Recht zur außerordentlichen Kündigung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes zusteht (Senatsurteil vom 8. Februar 2012 - XII ZR 42/10 - NJW 2012, 1431 Rn. 27 mwN).a) Ein wichtiger Grund zur Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann (so etwa § 314 Abs. 1 Satz 1 BGB). Dabei trägt allerdings der Kunde, der einen längerfristigen Vertrag über die Erbringung einer Leistung abschließt, grundsätzlich das Risiko, diese aufgrund einer Veränderung seiner persönlichen Verhältnisse nicht mehr nutzen zu können (BGH Urteil vom 11. November 2010 - III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916 Rn. 12; vgl. auch § 537 Abs. 1 BGB). Etwas anderes gilt nur, wenn ihm aus Gründen, die er nicht beeinflussen kann, eine weitere Inanspruchnahme der Leistungen des anderen Vertragspartners nicht mehr zumutbar ist (vgl. Senatsurteile vom 8. Februar 2012 - XII ZR 42/10 - NJW 2012, 1431 Rn. 31 mwN und vom 23. Oktober 1996 - XII ZR 55/95 - NJW 1997, 193, 195 mwN). Bei einem Vertrag über die Nutzung eines Fitnessstudios kann ein solcher - nicht in seinen Verantwortungsbereich fallender - Umstand etwa in einer Erkrankung des Kunden gesehen werden. Ebenso kann eine Schwangerschaft die weitere Nutzung bis zum Ende der vereinbarten Vertragslaufzeit unzumutbar machen; der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG und dessen wertsetzende Bedeutung wirken sich insoweit auch auf die Frage der Zurechenbarkeit des Kündigungsgrundes aus (vgl. BVerfG NJW 2005, 2383; s. auch Senatsurteil vom 8. Februar 2012 - XII ZR 42/10 - NJW 2012, 1431 Rn. 31 mwN).Ein Wohnortwechsel stellt danach grundsätzlich keinen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung eines Fitnessstudiovertrags dar (ebenso LG Bonn Urteil vom 5. August 2014 - 8 S 103/14 - juris Rn. 12; LG Gießen Urteil vom 15. Februar 2012 - 1 S 338/11 - juris Rn. 3; AG Bremen Urteil vom 16. Oktober 2014 - 10 C 47/14 - juris Rn. 20; Diekmann/Lube MDR 2016, 69, 71; aA AG München Urteil vom 17. Dezember 2008 - 212 C 15699/08 - juris Rn. 19). Die Gründe für einen Wohnortwechsel - sei er auch berufsbedingt - liegen in aller Regel allein in der Sphäre des Kunden und sind von ihm - anders als von dem Anbieter der Leistungen - beeinflussbar (vgl. BGH Urteil vom 11. November 2010 - III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916 Rn. 12).b) Dem steht auch die Regelung des § 46 Abs. 8 Satz 3 TKG nicht entgegen. Zwar weist die Revision zutreffend darauf hin, dass der Gesetzgeber als Reaktion auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 11. November 2010 (III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916), wonach ein DSL-Vertrag nicht infolge eines Wohnortwechsels außerordentlich kündbar ist, mit § 46 Abs. 8 Satz 3 TKG ein Sonderkündigungsrecht für den Nutzer unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von drei Monaten geschaffen hat, wenn die Telekommunikations-Leistung am neuen Wohnort nicht angeboten wird (vgl. BT-Drucks. 17/5707 S. 70). Allerdings hat das Landgericht zu Recht eine analoge Anwendung dieser Norm abgelehnt.Eine Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke voraus; zudem muss der zur Beurteilung stehende Sachverhalt mit dem vergleichbar sein, den der Gesetzgeber geregelt hat.aa) Es fehlt schon an einer planwidrigen Regelungslücke. Wie sich aus den §§ 626 Abs. 1, 543 Abs. 1 BGB und 314 Abs. 1 BGB ergibt, stellt sich die Frage der Kündigung wegen eines Wohnortwechsels nicht nur in Fallkonstellationen der vorliegenden Art, in denen es um eine Lösung von einem Fitnessstudiovertrag geht, sondern bei vielen anderen Dauerschuldverhältnissen, etwa bei einem befristeten Wohnraummiet- oder sonstigen Dienstvertrag. Dass der Gesetzgeber die Problematik des Wohnortwechsels für all diese Fälle übersehen hat und bei entsprechender Kenntnis neben den bereits bestehenden Kündigungsvorschriften für alle entsprechenden BGB-Verträge ein Sonderkündigungsrecht i.S.d. § 46 Abs. 8 Satz 3 TKG hätte schaffen wollen, ist nicht ersichtlich. Wie sich der Gesetzesbegründung entnehmen lässt, wollte der Gesetzgeber mit dem Sonderkündigungsrecht vielmehr allein den Verbraucherbeschwerden und den damit einhergehenden wettbewerbsmindernden Effekten im Bereich der Telekommunikation Rechnung tragen (BT-Drucks. 17/5707 S. 70).bb) Für eine Vergleichbarkeit der zu regelnden Sachverhalte reicht es zudem nicht aus, dass bei einem Vertragspartner das gleiche Interesse vorliegt, das der Gesetzgeber in der einen anderen Fall betreffenden Gesetzesvorschrift schützen wollte. Denn bei einer solchen Betrachtungsweise würden die Interessen der anderen Vertragspartei in ungebührlicher Weise vernachlässigt. Vielmehr muss geprüft werden, ob der Gesetzgeber bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie beim Erlass der entsprechend anzuwendenden Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen wäre (BGHZ 105, 140 = NJW 1988, 2734; Senatsbeschluss vom 25. Mai 2011 - XII ZB 625/10 - FamRZ 2011, 1394 Rn. 27).An einer solchen Vergleichbarkeit eines Telekommunikationsvertrags mit einem Fitnessstudiovertrag fehlt es schon deshalb, weil Gegenstand des Telekommunikationsvertrags die Daseinsvorsorge ist; der kündigende Vertragspartner ist regelmäßig darauf angewiesen, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen, um die heute kaum verzichtbare Möglichkeit des Internets nutzen zu können. Eine damit vergleichbare Bedeutung kann dem Fitnessstudiovertrag nicht beigemessen werden.c) Gemessen hieran ist die angegriffene Entscheidung von Rechts wegen nicht zu beanstanden.In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der berufsbedingte Wohnortwechsel, auch wenn er durch die Abkommandierung fremdbestimmt ist, letztlich in die Sphäre des Beklagten fällt. Zutreffend ist auch die - auf der Grundlage der von ihm getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen angestellte - weitere Erwägung des Landgerichts, wonach der Beklagte im Gegenzug für die Übernahme des Verwendungsrisikos während der Vertragslaufzeit in den Genuss geringerer monatlicher Raten gekommen ist, als wenn er einen monatlich kündbaren Vertrag abgeschlossen hätte (vgl. BGH Urteil vom 11. November 2010 - III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916 Rn. 13).Dabei kann die - vom Landgericht nicht aufgeklärte - Frage dahinstehen, ob der Beklagte bei Vertragsschluss bzw. im Zeitpunkt der letztmöglichen ordentlichen Kündigung bereits Kenntnis von seiner (späteren) beruflichen Tätigkeit als Soldat hatte. Wäre dem so gewesen, hätte er das erhöhte Verwendungsrisiko im maßgeblichen Zeitpunkt, in dem er sich vom Vertrag hätte lösen können, bewusst in Kauf genommen. Hätte er die Entscheidung, Soldat zu werden, dagegen erst danach getroffen, so lägen Umstände vor, die er hätte beeinflussen können und die damit in seinen Verantwortungsbereich fielen.Besondere Umstände, die die Übernahme des Verwendungsrisikos für den Beklagten gleichwohl als unzumutbar erscheinen ließen, sind weder festgestellt noch sonst ersichtlich. Diese liegen nicht zuletzt auch deshalb fern, weil der für die Restlaufzeit geschuldete Betrag von insgesamt 719,90 € relativ gering ist, der Vertrag die - von dem Beklagten schon einmal genutzte - Möglichkeit bietet, ihn für eine bestimmte Zeit namentlich wegen einer Tätigkeit bei der Bundeswehr auszusetzen (Ziffer 2) und der Beklagte schließlich - worauf die Revisionserwiderung zu Recht hingewiesen hat - schon nicht hinreichend dargelegt hat, dass er die Angebote der Klägerin überhaupt nicht mehr nutzen könne, obgleich er noch einen Wohnsitz in Hannover hatte.2. Ein Kündigungsrecht des Beklagten ergibt sich auch nicht aus § 313 Abs. 3 Satz 2 BGB wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Bei Anwendung des § 313 BGB ist ebenfalls zu beachten, dass grundsätzlich jede Partei ihre aus dem Vertrag ersichtlichen Risiken selbst zu tragen hat. Grundsätzlich kann derjenige, der die entscheidende Änderung der Verhältnisse, wie hier den Umzug, selbst bewirkt hat, aufgrund dieser Änderung keine Rechte herleiten (BGH Urteil vom 11. November 2010 - III ZR 57/10 - NJW-RR 2011, 916 Rn. 17). Umstände, die ausnahmsweise ein Abweichen von diesen Grundsätzen rechtfertigen könnten, bestehen aus den vorstehenden Gründen nicht.Dose Klinkhammer Schilling Günter Nedden-Boeger Vorinstanzen:AG Hannover, Entscheidung vom 28.10.2014 - 538 C 4326/14 -LG Hannover, Entscheidung vom 27.04.2015 - 12 S 89/14 -
bundesgerichtshof
bgh_052-2006
23.03.2006
Abrechnung von Schönheitsoperationen nach der GOÄ Ausgabejahr 2006 Erscheinungsdatum 23.03.2006 Nr. 052/2006 Abrechnung von Schönheitsoperationen nach der GOÄ Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass ein Arzt auch bei der privaten Abrechnung nicht medizinisch indizierter kosmetischer Operationen an die Bestimmungen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) gebunden ist. In dem zugrunde liegenden Fall hatte ein Chirurg, der eine private Schönheitsklinik betreibt, der Patientin für eine Brustverkleinerung einen Pauschalpreis von 18.500 DM (knapp 9.500 €) genannt. Die Patientin hatte den Betrag gezahlt und forderte nun einen erheblichen Teil der Summe zurück, weil eine Berechnung nach der Regeln der GOÄ zu einem niedrigeren Rechnungsbetrag geführt hätte. Der Bundesgerichtshof ist dem wie die Vorinstanzen gefolgt. Gemäß § 1 GOÄ bestimmen sich die Vergütungen für "die beruflichen Leistungen der Ärzte" nach dieser Verordnung. Hieran sind die Ärzte bei privaten Abrechnungen (nicht bei der Behandlung von Kassenpatienten) daher zwingend gebunden. Abweichungen sind nur in engen Grenzen aufgrund einer besonderen Vereinbarung möglich. Hierdurch soll im Interesse der zahlungspflichtigen Patienten die Transparenz privatärztlicher Liquidationen erhöht und auf diese Weise ein Beitrag zum Verbraucherschutz geleistet werden. Diese Gründe treffen nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auch auf die Berechnung medizinisch nicht notwendiger Schönheitsoperationen zu, ungeachtet dessen, dass der Patient dann in aller Regel keine Erstattung von seiner privaten Krankenversicherung oder bei Beamten - von seiner Beihilfestelle verlangen kann. Das gilt allerdings nur für die Liquidationen durch den Arzt selbst, nicht dagegen, wenn das Krankenhaus wie häufig - in der Form einer selbständigen juristischen Person (z.B. GmbH) geführt wird und der Behandlungsvertrag ausschließlich mit der Klinik abgeschlossen worden ist. Für Krankenhausbehandlungen gelten andere gesetzliche Regelungen, über die der Bundesgerichtshof hier nicht zu entscheiden hatte. Urteil vom 23. März 2006 III ZR 223/05 LG München II - Urteil vom 18. Januar 2005 1 M O 3656/03 ./. OLG München - Urteil vom 8. August 2005 17 U 2179/05 Karlsruhe, den 23. März 2006 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des III. Zivilsenats vom 23.3.2006 - III ZR 223/05 -
Tenor Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 8. August 2005 wird zurückgewiesen.Der Beklagte hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.Von Rechts wegen. Tatbestand Der beklagte Facharzt für Chirurgie/plastische Chirurgie betreibt in G. eine Privatklinik, in der er kosmetische Operationen durchführt. Im Frühjahr 2000 konsultierte ihn die damals 53-jährige Klägerin wegen einer Brustverkleinerung oder Bruststraffung. Hierfür nannte ihr der Beklagte in einer nicht unterschriebenen "Kostenaufstellung", die außerdem die Kosten eines Face-Lift und einer Korrektur der Oberlider betraf, einen unaufgeschlüsselten Gesamtbetrag von 18.500 DM (= 9.458,90 &euro;). Diese Summe wurde von der Klägerin bezahlt. Nach Durchführung des nicht medizinisch indizierten Eingriffs übersandte der Beklagte der Klägerin unter dem 2. Juni 2000 eine Rechnung, in der es auszugsweise heißt: "Für ärztliche Bemühungen erlaube ich mir, den Betrag von 18.500 DM zu berechnen."In der Folgezeit kam es zwischen der Klägerin, die über eine Zusage der Kostenübernahme durch ihre private Krankenversicherung verfügte, und dem Beklagten zu Streitigkeiten über dessen Verpflichtung zur Abrechnung nach den Vorschriften der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Nachdem die Klägerin in einem bei dem Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen geführten Vorprozess eine dahingehende Verurteilung des Beklagten erreicht hatte (8 C 1110/01), erstellte dieser auf der Grundlage der Gebührenordnung eine neue Liquidation, die - ohne eine weitere Rechnung der Anästhesistin über 3.350,60 DM - mit einer Endsumme von 15.095,49 DM abschloss.Im vorliegenden Rechtsstreit hat die Klägerin den Beklagten auf Rückzahlung von 5.716,45 &euro; nebst Zinsen in Anspruch genommen. Der Beklagte hat während des erstinstanzlichen Verfahrens 4.000 &euro; an die Klägerin erstattet; insoweit haben die Parteien den Rechtstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Zwischen ihnen besteht weiter Einigkeit darüber, dass - sollte die Gebührenordnung für Ärzte anwendbar sein - noch ein Betrag von 1.716,45 &euro; zuviel gezahlt worden ist.Das Landgericht hat den Beklagten zur Rückzahlung auch dieser Summe nebst Zinsen verurteilt, das Oberlandesgericht hat dessen Berufung zurückgewiesen. Mit seiner - vom Berufungsgericht zugelassenen - Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter. Gründe Die Revision hat keinen Erfolg.I.Das Berufungsgericht hält die Gebührenordnung für Ärzte auch in Fällen medizinisch nicht notwendiger kosmetischer Operationen für anwendbar. Dabei handele es sich ebenfalls um berufliche Leistungen der Ärzte im Sinne des § 1 Abs. 1 GOÄ. Dasselbe ergebe sich im Rückschluss aus der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 2 GOÄ über die eingeschränkte Möglichkeit zur Berechnung von Leistungen, die über das Maß einer medizinisch notwendigen ärztlichen Versorgung hinaus gingen; hierzu gehöre auch eine kosmetische Operation. Diese Beschränkungen der freien Honorarvereinbarung seien unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 GG durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt. Abweichende Vereinbarungen seien gemäß § 2 GOÄ möglich. Die hier vorliegende Preisabsprache habe aber nicht den Vorgaben dieser Bestimmung entsprochen.II.Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision stand. Der Beklagte ist damit um den von der Klägerin gezahlten und nach den Regelungen der Gebührenordnung für Ärzte nicht gerechtfertigten Honoraranteil ungerechtfertigt bereichert (§ 812 Abs. 1 Satz 1 BGB).1. Die Gebührenordnung für Ärzte ist eine auf der Grundlage von § 11 der Bundesärzteordnung (BÄO) von der Bundesregierung erlassene Rechtsverordnung. § 1 und § 2 GOÄ in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Februar 1996 (BGBl. I S. 210) lauten:"§ 1 Anwendungsbereich(1) Die Vergütungen für die beruflichen Leistungen der Ärzte bestimmen sich nach dieser Verordnung, soweit nicht durch Bundesgesetz etwas anderes bestimmt ist.(2) Vergütungen darf der Arzt nur für Leistungen berechnen, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst für eine medizinisch notwendige ärztliche Versorgung erforderlich sind. Leistungen, die über das Maß einer medizinisch notwendigen ärztlichen Versorgung hinausgehen, darf er nur berechnen, wenn sie auf Verlangen des Zahlungspflichtigen erbracht worden sind.§ 2 Abweichende Vereinbarung(1) Durch Vereinbarung kann eine von dieser Verordnung abweichende Gebührenhöhe festgelegt werden. ... Die Vereinbarung einer abweichenden Punktzahl (§ 5 Abs. 1 Satz 2) oder eines abweichenden Punktwerts (§ 5 Abs. 1 Satz 3) ist nicht zulässig. ...(2) Eine Vereinbarung nach Absatz 1 Satz 1 ist nach persönlicher Absprache im Einzelfall zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem vor Erbringung der Leistung des Arztes in einem Schriftstück zu treffen. Dieses muss neben der Nummer und der Bezeichnung der Leistung, dem Steigerungssatz und dem vereinbarten Betrag auch die Feststellung enthalten, dass eine Erstattung der Vergütung durch Erstattungsstellen möglicherweise nicht in vollem Umfang gewährleistet ist. Weitere Erklärungen darf die Vereinbarung nicht enthalten. ..."In § 11 BÄO heißt es:"Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Entgelte für ärztliche Tätigkeit in einer Gebührenordnung zu regeln. In dieser Gebührenordnung sind Mindest- und Höchstsätze für die ärztlichen Leistungen festzusetzen. Dabei ist den berechtigten Interessen der Ärzte und der zur Zahlung der Entgelte Verpflichteten Rechnung zu tragen."Bei der ärztlichen Gebührenordnung handelt es sich um ein für alle Ärzte geltendes zwingenden Preisrecht. Das ist verfassungsrechtlich unbedenklich, verletzt insbesondere weder die Kompetenzordnung des Grundgesetzes noch die Berufsfreiheit der Ärzte (Art. 12 Abs. 1 GG; BVerfGE 68, 319, 327 ff. = NJW 1985, 2185 ff.; BVerfG NJW 1992, 737; 2005, 1036, 1037).2. Die in der Gebührenordnung für Ärzte enthaltenen Vorschriften beziehen sich, wie das Berufungsgericht mit Recht entschieden hat (ebenso OLG Stuttgart NJW-RR 2002, 1604, 1605), nach Wortlaut und Systematik der Regelungen auch auf kosmetische Operationen unabhängig davon, ob diese medizinisch indiziert oder nicht zur Heilung einer Gesundheitsstörung erforderlich waren.a) Nach ihrem § 1 Abs. 1 ist die Verordnung anwendbar auf alle "beruflichen Leistungen der Ärzte". Dieser weite Begriff geht, ebenso wie das in der Ermächtigungsnorm des § 11 BÄO verwendete gleichbedeutende Merkmal der "ärztlichen Tätigkeit", inhaltlich über den den Ärzten in erster Linie zugewiesenen Dienst an der Gesundheit (§ 1 Abs. 1 BÄO) und die "Ausübung der Heilkunde" (§ 2 Abs. 5 BÄO) hinaus. Es kommt deswegen nicht darauf an, ob sich die ärztliche Heilbehandlung entsprechend der Legaldifinition des § 1 Abs. 2 des Heilpraktikergesetzes begrifflich auf die Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen beschränkt (so die ältere Literatur; Nachweise in Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 44 Rn. 1, § 52 Rn. 2) oder ob sie zumindest sinngemäß auch Maßnahmen am gesunden Menschen umfasst, wenn diese ihrer Methode nach der ärztlichen Krankenbehandlung gleichkommen und ärztliche Fachkenntnisse voraussetzen sowie gesundheitliche Schädigungen verursachen können (vgl. BVerwG NJW 1959, 833, 834; Haage in Rieger, Lexikon des Arztrechts, 2. Aufl. Stand August 2003, "Bundesärzteordnung" Nr. 1172 S. 10 f.); letzteres würde auch auf die hier in Rede stehenden Schönheitskorrekturen zutreffen. Dass "berufliche Leistungen der Ärzte" jedenfalls in einem umfassenderen Sinne zu verstehen sind, ergibt sich schon daraus, dass die Gebührenordnung für Ärzte in den Nummern 80 und 85 des ihr als Anlage beigefügten Gebührenverzeichnisses auch die Vergütung für schriftliche gutachtliche Äußerungen des Arztes regelt, die nur bei einer weiten Auslegung noch zur Ausübung der Heilkunde zu rechnen sind (dafür BVerwG NVwZ-RR 2001, 386, 387; anders Uleer/Miebach/ Patt, Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen, 2. Aufl. 2000, § 1 GOÄ Anm. 1.3). Gleiches gilt für Leistungen in den Fällen eines aus medizinischen Gründen nicht erforderlichen, jedoch straffreien Schwangerschaftsabbruchs (§ 5a GOÄ) oder im Zusammenhang mit künstlichen Befruchtungen.b) Tätigkeiten in der plastischen Chirurgie lediglich zu ästhetischen Zwecken lassen sich ebenso zwanglos unter den Begriff der "beruflichen Leistungen der Ärzte" subsumieren. Dass die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung kein zwingendes Erfordernis für den Anwendungsbereich der Gebührenordnung für Ärzte ist, ergibt sich darüber hinaus aus den Bestimmungen der § 1 Abs. 2 Satz 2 und § 12 Abs. 3 Satz 5 GOÄ, in denen die Möglichkeit zur Berechnung von Leistungen, die über das Maß einer medizinisch notwendigen Versorgung hinausgehen, vorausgesetzt und lediglich an ein Verlangen des Zahlungspflichtigen geknüpft wird. Das bezieht sich nicht allein auf Fälle der Unwirtschaftlichkeit (z.B. bereits vorliegende verwertbare Röntgen- und Laborbefunde), die in der Begründung zu der vorausgegangenen Regelung des § 1 Abs. 3 GOÄ 1982 als Beispiele genannt sind (BR-Drucks. 295/82 S. 12 f.), wie die Revision meint, sondern nach der zutreffenden ganz überwiegenden Auffassung in der Fachliteratur gerade auch auf ärztlich nicht indizierte kosmetische Eingriffe (Brück/Hess/Klakow-Frank/Warlo, GOÄ, 3. Aufl. Stand 1. Juli 2005, § 1 Rn. 8; Hoffmann, GOÄ, 3. Aufl. Stand Oktober 2003, § 1 C I S. 18/9 f.; Uleer/Miebach/Patt, aaO, § 1 GOÄ Anm. 2.3; wohl auch Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, GOÄ, § 1 Rn. 15). Hiervon abgesehen würde eine Unterscheidung zwischen medizinisch notwendigen und nur kosmetisch veranlassten Operationen vermeidbare Unsicherheiten in das Behandlungsverhältnis hineintragen, da die Übergänge unter Berücksichtigung auch der psychischen Befindlichkeit der Patienten fließend sind (vgl. etwa Krieger/Küntzel in Rieger, Lexikon des Arztrechts, Stand September 2001, "Kosmetische Behandlung" Nr. 2990, Rn. 2 f.; Laufs/Uhlenbruck, aaO, § 39 Rn. 29 f.; Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, § 13 Rn. 32) und eine Abgrenzung nicht stets mit vertretbarem Aufwand möglich sein wird. Dass gleichwohl steuerlich allein Leistungen zur Behandlung von Krankheiten oder anderen Gesundheitsstörungen von der Umsatzsteuer nach § 4 Nr. 14 UStG befreit sind, beruht auf europäischem Recht (EuGH Slg. 2000, I - 6795; BFHE 206, 471, 472 ff.) und ist für die zivilrechtliche Leistungsabrechnung nicht maßgebend. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Privatrecht und Steuerrecht tritt im Übrigen bei gutachtlichen Äußerungen auf, die unstreitig auf der Grundlage der Gebührenordnung für Ärzte zu vergüten sind, jedoch als nicht unmittelbar der Krankenbehandlung dienende Leistung der Umsatzsteuer unterliegen (BFHE 206, 471, 473 f.). Schließlich fällt auch der Umstand, dass nach der Darstellung des Beklagten für kosmetische Eingriffe im Gebührenverzeichnis Leistungstatbestände weitgehend fehlen (siehe aber Nummer 2414: Reduktionsplastik der Mamma), nicht entscheidend ins Gewicht. Insofern kann bei Lücken eine Analogbewertung gemäß § 6 Abs. 2 GOÄ erfolgen, wie sie der Beklagte im Streitfall nachträglich auch vorgenommen hat.3. Gegen höherrangiges Recht verstößt eine solche Auslegung der Gebührenordnung für Ärzte nicht. Die Ermächtigungsgrundlage des § 11 BÄO ist nach den obigen Erwägungen in derselben Richtung auszulegen. Auch die Berufsausübungsfreiheit des Arztes wird hierdurch nicht verletzt. Das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG umfasst zwar gleichfalls die Freiheit, das Entgelt für berufliche Leistungen selbst festzusetzen oder es mit denen, die hieran interessiert sind, auszuhandeln. Die durch die Anwendung der Gebührenordnung für Ärzte bewirkte Einschränkung der freien Honorarvereinbarung ist daher nur dann mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt ist (BVerfG NJW 2005, 1036 f.).Diese Voraussetzungen sind indes auch bei kosmetischen Operationen gegeben. Die Abrechnung nach der Gebührenordnung für Ärzte erhöht im Interesse der zahlungspflichtigen Patienten die Transparenz privatärztlicher Liquidationen und zielt auf eine angemessene, leistungsgerechte Vergütung (BR-Drucks. 295/82 S. 9, 11). Sie leistet auf diese Weise einen Beitrag zum Verbraucherschutz und dient damit einem vernünftigen Gemeinwohlgrund in geeigneter Weise (BVerfG NJW 1992, 737). Erstattungsansprüche des Patienten gegen seine private Krankenversicherung oder - bei Beamten und anderen öffentlich Bediensteten - im Wege der Beihilfe gegen seinen Dienstherrn, auf die das Bundesverfassungsgericht (aaO) zusätzlich verweist, spielen bei kosmetischen Eingriffen zwar regelmäßig keine Rolle, weil derartige Leistungen durchweg auf das medizinisch notwendige Maß einer Behandlung begrenzt sind. Selbst in diesem Punkt kann es im Einzelfall jedoch anders liegen, wie der hier zu entscheidende Rechtsstreit belegt. Eine Anwendung der Gebührenordnung für Ärzte belastet den Arzt auch nicht unverhältnismäßig. Ihm steht es frei, im Rahmen des § 2 GOÄ eine abweichende Vereinbarung mit den an seinen Leistungen Interessierten über die Gebührenhöhe zu treffen. Das erlaubt zwar keinen Pauschalpreis, lässt aber Raum insbesondere für eine von § 5 GOÄ abweichende Vervielfachung des Gebührensatzes.4. Nach diesen Grundsätzen war der Beklagte in seiner Abrechnung der an der Klägerin durchgeführten Brustverkleinerung oder Bruststraffung ebenso an die zwingende Gebührenregelung der Gebührenordnung für Ärzte gebunden. Die Revision zweifelt nicht an, dass die von den Parteien getroffene Vereinbarung über die Zahlung eines pauschalen Honorars von 18.500 DM den Anforderungen des § 2 GOÄ nicht genügt. Die Höhe des hieraus folgenden Bereicherungsanspruchs ist zwischen den Parteien nicht streitig. Eine Rückforderung des überzahlten Honoraranteils ist endlich entgegen der Revision auch nichtetwa deswegen treuwidrig, weil die Klägerin sich nach der Operation zufrieden über deren Ergebnisse geäußert haben mag.Schlick Wurm Kapsa Dörr Galke Vorinstanzen:LG München II, Entscheidung vom 18.01.2005 - 1M O 3656/03 -OLG München, Entscheidung vom 08.08.2005 - 17 U 2179/05 -
bundesgerichtshof
bgh_83-2003
26.06.2003
I. Zivilsenat: Schutz für ein Fernsehsendeformat? Ausgabejahr 2003 Erscheinungsdatum 26.06.2003 Nr. 83/2003 Nr. 83/2003 Der u.a. für das Urheber- und Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hatte über eine Unterlassungsklage zu entscheiden, mit der geltend gemacht wurde, das sog. Showformat der Fernsehsendereihe "Kinderquatsch mit Michael" lehne sich unzulässig an das Format der seit 1977 in Frankreich ausgestrahlten Sendereihe "L'école des fans" an. In beiden Fernsehshows werden jeweils mehrere Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren von einem Moderator zu einem kleinen Podest auf der Bühne geführt und mit kurzen kindgerechten Interviews vorgestellt. Danach singen die Kinder unter Musikbegleitung einstudierte einfache Lieder. Während des Auftritts zeigt die Kamera auch die Eltern des Kindes, die im Publikum sitzen. Im Verlauf der Shows treten zudem Gaststars auf. Zum Schluß werden an die Kinder Geschenke verteilt. Der Begriff des Formats bezeichnet - als ein aus der Medienbranche stammender Begriff - bei Fernsehshows deren Konzept. Dieses beinhaltet die Gesamtheit aller ihrer charakteristischen Merkmale, die geeignet sind, auch Folgen der Show trotz ihres jeweils unterschiedlichen Inhalts als Grundstruktur zu prägen und damit zugleich dem Publikum zu ermöglichen, sie ohne weiteres als Teil einer Sendereihe zu erkennen (z.B. Titel, Logo, Grundgedanke der Show, Dauer und Ablauf der Sendung, Art und Weise ihrer Moderation sowie der Fernsehaufzeichnung, Erkennungsmelodien, typische Sätze oder Signalfarben sowie die Ausstattung). Ein Fernsehshowformat dient als Grundlage für immer neue Folgen der Show. Die Klägerin hat vorgebracht, durch die Ausstrahlung der Sendereihe "Kinderquatsch mit Michael" verletze die beklagte Rundfunkanstalt die urheberrechtlichen Nutzungsrechte, die ihr an dem Format der französischen Sendereihe zustünden. Zugleich handele die Beklagte dadurch wettbewerbsrechtlich unlauter. Die Klage blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, daß der Klägerin schon deshalb kein urheberrechtlicher Unterlassungsanspruch zustehe, weil das Format von "L'école des fans" nicht urheberrechtlich schutzfähig sei. Dieses Format gestalte zwar einen einfachen Grundgedanken für eine Veranstaltung vor Publikum als einheitliches Konzept von individueller Eigenart aus, das Urheberrecht schütze aber nicht alle Ergebnisse individueller geistiger Tätigkeit, sondern nur Werke im Sinne des § 2 des Urheberrechtsgesetzes. Ein Werk als Gegenstand des Urheberrechtsschutzes könne nur sein das Ergebnis der schöpferischen Formung eines bestimmten Stoffs, nicht eine vom Inhalt losgelöste Anleitung zur Formgestaltung gleichartiger anderer Stoffe, auch wenn diese ein in ihrer Art besonderes Leistungsergebnis sei. Das Urheberrecht schütze selbst Werke nur gegen ihre unbefugte Verwertung als solche in unveränderter oder unfrei benutzter Form, nicht gegen ihre bloße Benutzung als Vorbild zur Formung anderer Stoffe. Das Sendeformat von "L'école des fans" enthalte aber nicht einmal etwas vom Kern der nach seinen Anleitungen geschaffenen einzelnen Sendungen, sondern sei in seiner Gesamtheit nur ein vorgegebener Rahmen zur Gestaltung gleichartiger Sendungen mit neuen Inhalten als Teil einer Sendereihe. Ein wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch sei hier schon deshalb nicht gegeben, weil die Klägerin nicht in einem Wettbewerbsverhältnis zu der Beklagten stehe. Urteil vom 26. Juni 2003 &#8211; I ZR 176/01 Karlsruhe, den 26. Juni 2003 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des I. Zivilsenats vom 26.6.2003 - I ZR 176/01 -
Tenor Die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 15. Mai 2001 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Sendereihe "L'ecole des fans" wird in Frankreich seit 1977 wöchentlich im Fernsehen ausgestrahlt, seit Mitte 1998 vom Sender "F. 2" (F 2). Im Mittelpunkt der einzelnen Fernsehshows, die stets nach demselben Grundmuster ablaufen, stehen jeweils vier Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren. Der Moderator J. M. stellt die Kinder und als Gast einen bekannten Sänger oder eine bekannte Sängerin vor. Er führt dann das erste Kind zu einem kleinen Podest, vor dem ein Mikrophon aufgebaut ist, und beginnt ein kurzes Interview mit Fragen wie "Was macht Vati, was macht Mutti, wo kommst Du her, wie seid Ihr hergekommen, wer ist gefahren, wer ist noch mitgekommen?". Das Kind singt nun ein Lied, das der eingeladene Künstler für das Kind ausgewählt hat. Der Gesangsvortrag wird am Flügel begleitet und durch einen Kontrabaß unterstützt. Während des Auftritts schwenkt die Kamera auch zu den Eltern des Kindes, die unter den Zuhörern sitzen. Der Beitrag wird später benotet. In einem Schaublock hat der bekannte Gast seinen Gesangsauftritt. Zum Schluß verteilt der Gastsänger an die Kinder Geschenke.Die Klägerin, eine Fernsehproduktionsgesellschaft, bot dieses Sendeformat im Jahr 1990 dem S.funk (S.) an, dessen Rechtsnachfolgerin die Beklagte ist. Der S. lehnte das Angebot jedoch ab.Ab März 1993 strahlte der S. im Fernsehen die Sendereihe "Kinderquatsch mit Michael", deren Koproduzentin die Streithelferin ist, aus.Die einzelnen Sendungen von "Kinderquatsch mit Michael" laufen wie folgt ab: Es treten jeweils drei Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren mit einem Liedbeitrag auf. Eltern, Geschwister und Großeltern sitzen während der Sendung unter den Zuhörern. Nach der Vorstellung führt der Moderator Sch. das erste Kind zu einem kleinen Podest auf der Bühne, vor dem sich ein Mikrophon befindet, und stellt Fragen zu Eltern, Wohnort, Anreise, Kindergarten oder Schule usw. Das Kind trägt dann, begleitet durch einen Pianisten, ein einstudiertes Lied vor. Während des Auftritts zeigt die Kamera auch die Eltern des Kindes. Im Verlauf der Sendung treten ein Gaststar oder eine Musikgruppe mit einem Beitrag auf. Schließlich werden -meist durch den Gast -an die Kinder Geschenke verteilt.Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, das Format der erfolgreichen Sendereihe "L'ecole des fans" sei urheberrechtlich schutzfähig. Sie habe bereits im Januar 1989 die ausschließlichen Rechte daran von der J. M. Production S.A.R.L. erworben. Urheber des Sendeformats sei J. M., der seine Rechte auf die J. M. Production S.A.R.L. übertragen habe. Die Sendereihe "Kinderquatsch mit Michael" sei ein Plagiat des geschützten Sendeformats. Sie habe nicht nur den Typ des Moderators übernommen, sondern auch den Ablauf der Sendungen, die Kameraführung, die Spannungsverläufe und die Positionierung der Kandidaten. In der deutschen Fernsehbranche sei es üblich, fremde Sendeformate nur mit Einwilligung des Berechtigten und gegen Zahlung von Lizenzgebühren zu verwenden.Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, das Sendeformat "Kinderquatsch mit Michael" auszustrahlen.Die Beklagte und ihre Streithelferin haben die urheberrechtliche Schutzfähigkeit des Sendeformats "L'ecole des fans" und eine Nachahmung in Abrede gestellt. Sie haben zudem den behaupteten Rechtserwerb der Klägerin bestritten.Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt. Gründe A. Das Berufungsgericht hat urheberrechtliche Ansprüche der Klägerin schon deshalb verneint, weil weder die einzelnen Sendungen von "L'ecole des fans" noch ihr Format schutzfähige Werke seien.Den Einzelelementen dieser Sendereihe (wie der Moderation und dem Bühnenbild) fehle die erforderliche Gestaltungshöhe. Die Sendungen von "Kinderquatsch mit Michael" hätten zudem solche konkreten Elemente nicht übernommen. Sie würden von einem anderen Moderator geleitet und hätten ein nach Anordnung, Ausstattung und farblicher Gestaltung anderes Bühnenbild.Dem Format der Sendereihe "L'ecole des fans" komme keine Werkqualität im Sinne des § 2 UrhG zu. Es sei im wesentlichen aus gemeinfreien Gestaltungselementen zusammengefügt und unterscheide sich darin nicht von anderen, schon lange bekannten Fernsehsendungen, in denen Kandidaten dem Fernsehpublikum mit Fragen zu ihren Lebensverhältnissen vorgestellt würden und Gelegenheit erhielten, sich mit ihrem Können zu präsentieren. Die Besonderheit von "L'ecole des fans" bestehe lediglich in der nicht schutzfähigen und als solchen banalen Idee, vier-bis sechsjährige Kinder als Mitwirkende auftreten zu lassen. Die für den Erfolg der Sendung maßgebende schöpferische Leistung liege in der ganz eigenen, spontanen Einfällen folgenden Gesprächsführung des Moderators und der stets anderen und unvorhersehbaren Art und Weise, wie die Kinder auf seine Fragen reagierten und ihre Liedbeiträge vortrügen.Auch ein Anspruch aus ergänzendem wettbewerbsrechtlichem Leistungsschutz bestehe nicht. Das abstrakte Konzept der Sendereihe "L'ecole des fans" besitze keine wettbewerbliche Eigenart. Es fehle zudem an einer unlauteren Rufausbeutung; die in französischer Sprache ausgestrahlte Sendung habe im bundesweiten Sendegebiet der Sendereihe "Kinderquatsch mit Michael" wohl nur eine geringe Bekanntheit. Die beiden Sendereihen würden jeweils geprägt durch den einfühlsamen Umgang der Moderatoren mit den Kindern. An den Ruf, den sich J. M. in Frankreich erworben habe, hänge sich die deutsche Sendereihe, die auf den eigenständigen Ruf ihres Moderators Sch. setze, nicht an.B. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben keinen Erfolg.I. Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, daß der Klägerin schon deshalb kein urheberrechtlicher Unterlassungsanspruch aus § 97 Abs. 1 Satz 1 UrhG zusteht, weil sich aus ihrem Vorbringen nicht ergibt, daß die Beklagte in Rechte an einem urheberrechtlich schutzfähigen Werk im Sinne des § 2 UrhG eingegriffen hat.1.Über die Frage, ob die Sendereihe "L'ecole des fans" als solche oder ihr Format im Inland Urheberrechtsschutz genießt, ist nach deutschem Recht zu entscheiden. Gemäß dem deutschen internationalen Privatrecht ist grundsätzlich nach dem Recht des Schutzlandes, d.h. nach dem Recht desjenigen Staates, für dessen Gebiet der Immaterialgüterschutz in Anspruch genommen wird, zu beurteilen, ob Ansprüche aus Urheberrecht bestehen (vgl. BGHZ 118, 394, 397 f. -ALF; BGH, Urt. v. 7.11.2002 -I ZR 175/00, GRUR 2003, 328, 329 -Sender Felsberg, m.w.N. [für BGHZ 152, 316 vorgesehen]). Das Recht des Schutzlandes entscheidet auch über Bestand und Wirkung des Urheberrechts, einschließlich der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Immaterialgut als urheberrechtlich schutzfähiges Werk anerkannt wird (vgl. Schricker/ Katzenberger, Urheberrecht, 2. Aufl., Vor § 120 ff. Rdn. 129; MünchKomm.BGB/Kreuzer, 3. Aufl., Nach Art. 38 EGBGB Anh. II Rdn. 17; Wandtke/Bullinger/von Welser, Urheberrecht, Vor § 120 ff. Rdn. 4, jeweils m.w.N.).2.Eine Verletzung urheberrechtlicher Schutzrechte an einzelnen Sendungen der Sendereihe "L'ecole des fans" oder einzelner Werke, die Bestandteil ihrer Folgen waren, wird von der Klägerin nicht geltend gemacht.3.Die Gesamtheit der Gestaltungselemente, die nach der Behauptung der Klägerin als Format nicht nur der einzelnen Show, sondern allen Folgen der Sendereihe "L'ecole des fans" zugrunde liegen, ist nicht als Werk im Sinne des § 2 UrhG urheberrechtlich schutzfähig.a) Der Begriff des Formats entstammt nicht der Gesetzessprache, sondern hat aus dem Sprachgebrauch der Medienbranche Eingang in die urheberrechtliche Diskussion über den Schutz von Fernsehsendungen gefunden (vgl. dazu z.B. von Have/Eickmeier, ZUM 1994, 269 f.; Lausen, Der Rechtsschutz von Sendeformaten, 1998, S. 14 f.; Litten, Der Schutz von Fernsehshow-und Fernsehserienformaten, 1997, S. 3 f.; ders., MMR 1998, 412; Holzporz, Der rechtliche Schutz des Fernsehshowkonzepts, 2001, S. 22; Pühringer, Der urheberrechtliche Schutz von Werbung, 2002, S. 73; Berking, Die Unterscheidung von Inhalt und Form im Urheberrecht, 2002, S. 213 f.; Degmair, GRUR Int. 2003, 204, 205).Bei Fernsehshows bezeichnet der Begriff des Formats das als Grundlage für eine solche Sendung entwickelte oder darin verwirklichte Konzept. Das Format einer Fernsehshow kann definiert werden als die Gesamtheit aller ihrer charakteristischen Merkmale, die geeignet sind, auch Folgen der Show ungeachtet ihres jeweils unterschiedlichen Inhalts als Grundstruktur zu prägen und damit zugleich dem Publikum zu ermöglichen, sie ohne weiteres als Teil einer Sendereihe zu erkennen. Von Fall zu Fall kann ein Format durch ganz verschiedene Gestaltungselemente gebildet werden. Neben dem Titel und dem Logo einer Sendung können etwa dazu gehören ein den Gesamtablauf bestimmender Grundgedanke, bestimmte Mitwirkende, die Art und Weise einer Moderation, die Benutzung bestimmter auffallender Sprachwendungen oder Sätze, bestimmte Sendeabläufe, der Einsatz von Erkennungsmelodien oder Signalfarben, die Bühnendekoration und sonstige Ausstattung, die Dauer von Sendung und Beiträgen sowie ein bestimmter Stil der Kameraführung, der Beleuchtung und des Schnitts. Das Format einer Fernsehshow, in dem Gestaltungselemente dieser Art miteinander verknüpft und verwoben werden, bildet insofern eine gestaltete Einheit, als damit die Grundlage für immer neue Folgen dieser Show gelegt wird. Es ist in aller Regel nicht selbst Gestaltung eines bestimmten Stoffs, sondern ähnlich einem Plan, einem Bündel von Regieanweisungen oder einem Gestaltungsrahmen darauf angelegt, der Entwicklung jeweils neuer gleichartiger Folgen zu dienen. Die einzelne Fernsehshow, die das Format verwirklicht, kann Muster für weitere Folgen sein.b) Einem Schutz des Formats einer Fernsehshow steht nicht entgegen, daß in § 2 Abs. 1 UrhG das Format von Sendungen nicht als geschützte Werkart aufgeführt ist. Die geschützten Werkarten werden in dieser Vorschrift schon nach deren Wortlaut ("insbesondere") nur beispielhaft aufgezählt. Das in den einzelnen Sendungen der Sendereihe "L'ecole des fans" verwirklichte Format, wie es von der Klägerin durch Vorlage einer Videoaufzeichnung belegt worden ist, genießt jedoch -ebenso wie andere Formate dieser Art -keinen urheberrechtlichen Schutz, weil es kein Werk im Sinne des § 2 UrhG ist.aa) Die Frage, ob das Format einer Fernsehshow im allgemeinen urheberrechtlich schutzfähig sein kann, ist in der Literatur umstritten (bejahend Schwarz, Festschrift Reichardt, 1990, S. 203, 220 f.; von Have/Eickmeier, ZUM 1994, 269, 272 f.; Litten aaO S. 11 ff.; Lausen aaO S. 24 ff.; a.A. Pühringer aaO S. 72 ff.; Berking aaO S. 213 ff.; Holzporz aaO S. 16 ff.; vgl. auch Wandtke/ Bullinger/Manegold aaO § 88 Rdn. 34 ff.; Degmair, GRUR Int. 2003, 204). Sie ist von der Frage des urheberrechtlichen Schutzes von Fernsehserien zu unterscheiden (vgl. Degmair, GRUR Int. 2003, 204, 205 f.). Fernsehserien sind durch ihren fiktiven Inhalt gekennzeichnet. Sie erzählen typischerweise in einzelnen Folgen eine sich fortlaufend entwickelnde Handlung, die maßgeblich von dem Beziehungsgeflecht der auftretenden Personen und dem Milieu, dem diese zugeordnet werden, geprägt ist. Bei der Frage, ob derartige Fernsehserien urheberrechtlich gegen Nachahmungen geschützt sind, geht es regelmäßig darum, ob für Elemente der Serie -wie insbesondere die Fabel -urheberrechtlicher Werkschutz geltend gemacht werden kann. Fernsehshowformate entwerfen dagegen im allgemeinen keine fiktive Welt, aus der heraus die einzelnen Sendungen als Folgen geschaffen werden. Nicht derartige inhaltliche Elemente verbinden die Sendungen einer entsprechenden Fernsehshowreihe, sondern das übereinstimmende Format.bb) Das Fernsehshowformat, für das die Klägerin Schutz begehrt, gestaltet nach den Feststellungen des Berufungsgerichts einen einfachen Grundgedanken für eine Veranstaltung vor Publikum in besonderer Weise aus. Es ist ein einheitliches Konzept von individueller Eigenart. Mehrere Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren werden im Gespräch mit einem männlichen Moderator vorgestellt und tragen danach einfache Lieder vor. Sie müssen dazu einzeln aus dem hinteren Teil der Bühne, in dem sie zu Beginn und während der Sendung sitzen, vor Publikum treten, ein für so kleine Kinder ungewöhnliches Heraustreten an die Öffentlichkeit, das durch das Besteigen eines Podests und die Benutzung eines aufgebauten Mikrophons verdeutlicht wird. Das durch die Kameraführung betonte Beisein der Eltern und anderer naher Verwandter, die teilnehmend und mitfühlend die Darbietung miterleben, vermittelt die Atmosphäre geborgener Kindheit, in der dieser erste Auftritt vorbereitet wurde und in die das Kind danach wieder zurückkehren kann. Durch das Auftreten eines erwachsenen Gaststars werden kindliches Bemühen und Können von Stars, Kindheit und Erwachsensein gegenübergestellt. Dies vermittelt der einzelnen Show in dem Aufeinanderfolgen der Darbietungen einen besonderen Spannungsbogen. In der Harmonie des Verteilens von Geschenken durch den Gaststar an die Kinder endet die Show.cc) Ein solches Sendeformat ist unabhängig von der schöpferischen Leistung, auf der es beruht, nicht urheberrechtlich schutzfähig. Das Urheberrecht schützt nicht alle Ergebnisse individueller geistiger Tätigkeit, sondern nur Werke im Sinne des § 2 UrhG. Das Format von "L'ecole des fans" hat zwar die ihm zugrunde liegende Idee bereits zu einer Konzeption weiterentwickelt und ist mit seinen einzelnen Elementen eine Einheit, die mehr als die Summe seiner Bestandteile darstellt. Ein Werk im Sinne des § 2 UrhG und damit Gegenstand des Urheberrechtsschutzes kann aber nur sein das Ergebnis der schöpferischen Formung eines bestimmten Stoffs. Daran fehlt es bei einer vom Inhalt losgelösten bloßen Anleitung zur Formgestaltung gleichartiger anderer Stoffe, mag diese auch ein individuell erarbeitetes, ins einzelne gehendes und eigenartiges Leistungsergebnis sein (vgl. BGHZ 18, 175, 178 -Werbe-Idee; RGZ 116, 292, 298 -Adreßbuch; vgl. weiter österr. OGH ÖBl. 1954, 18 -Kindercreme; OGH ÖBl. 1997, 199, 203 -AIDS-Kampagne; v. Gamm, Urheberrechtsgesetz, 1968, § 2 Rdn. 10; Hertin, GRUR 1997, 799, 804). Das Urheberrecht schützt selbst Werke nur gegen ihre unbefugte Verwertung als solche in unveränderter oder unfrei benutzter Form, nicht gegen ihre bloße Benutzung als Vorbild zur Formung anderer Stoffe (vgl. dazu auch BGH, Urt. v. 14.1.1958 -I ZR 40/57, GRUR 1958, 351, 352 -Deutschlanddecke). Ein Format wie das Sendeformat von "L'ecole des fans" enthält aber nicht einmal etwas vom Kern der nach seinen Anleitungen geschaffenen einzelnen Sendungen, sondern ist in seiner Gesamtheit nur ein vorgegebener Rahmen zur Gestaltung gleichartiger Sendungen als Teil einer Sendereihe. Ein Schutz eines solchen Formats durch das Urheberrecht gegen die Verwendung als Vorbild für ähnliche Sendeveranstaltungen scheidet danach aus.II. Das Berufungsgericht hat weiter im Ergebnis zu Recht entschieden, daß die Klägerin ihr Unterlassungsbegehren auch nicht auf § 1 UWG unter dem Gesichtspunkt des ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes stützen kann.Es muß hier nicht erörtert werden, unter welchen Voraussetzungen wettbewerbsrechtliche Ansprüche wegen der Nachahmung des Formats einer Fernsehshow geltend gemacht werden können. Für Ansprüche wegen einer Nachahmung des Formats von "L'ecole des fans" wäre die Klägerin jedenfalls nicht aktivlegitimiert, weil sie zu der Beklagten nicht in einem Wettbewerbsverhältnis steht (vgl. dazu BGH, Urt. v. 18.10.1990 -I ZR 283/88, GRUR 1991, 223, 224 -Finnischer Schmuck). Sie hat weder an der Erarbeitung des Sendeformats mitgewirkt noch ist sie an der Ausstrahlung der Sendereihe beteiligt.Sie hat lediglich vorgetragen, sie habe an dem Format der Sendereihe "L'ecole des fans" ausschließliche urheberrechtliche Nutzungsrechte erworben.C. Danach war die Revision gegen das Berufungsurteil auf Kosten der Klägerin zurückzuweisen (§ 97 Abs. 1 ZPO).
bundesgerichtshof
bgh_035-2011
02.03.2011
Zur Mietminderung wegen Flächenunterschreitung bei einer möbliert vermieteten Wohnung Ausgabejahr 2011 Erscheinungsdatum 02.03.2011 Nr. 035/2011 Der Bundesgerichtshof hat heute eine Entscheidung zur Mietminderung wegen Flächenunterschreitung von mehr als 10 % bei einer möbliert vermieteten Wohnung getroffen. Der Kläger ist seit 2006 Mieter einer vollständig möblierten und mit umfassendem Hausrat eingerichteten Wohnung des Beklagten in Berlin. Die monatlich zu zahlende Kaltmiete beträgt 560 €, hinzu kommen ein Heizkostenvorschuss von 15 € und ein Stromkostenvorschuss von 25 €. Im Mietvertrag wurde die Größe der Wohnung mit ca. 50 m² angegeben. Die tatsächliche Wohnfläche beträgt jedoch nur 44,3 m². Der Kläger hält wegen der Flächenabweichung von 11,5 % eine Minderung der Kaltmiete in entsprechender Höhe für berechtigt und forderte mit Schreiben von Mai 2009 eine teilweise Rückzahlung des Mietzinses für die gesamte Mietzeit in Höhe von 1.964,20 €. Der Beklagte meint, in der Kaltmiete sei die Möblierung der Wohnung berücksichtigt worden; deshalb sei die Miete nur um insgesamt 736,58 € gemindert. Diesen Betrag hat er dem Kläger erstattet. Mit seiner Klage hat der Kläger den Beklagten auf Zahlung des Differenzbetrages in Anspruch genommen. Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe von 288,22 € stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Revision des Klägers hatte Erfolg. Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass ein Mangel in Form einer Abweichung der tatsächlichen Wohnfläche von der vertraglich vereinbarten Wohnfläche von mehr als 10 % den Mieter auch bei möbliert vermieteten Wohnungen zu einer Minderung der Miete in dem Verhältnis berechtigt, in dem die tatsächliche Wohnfläche die vereinbarte Wohnfläche unterschreitet. Die von einer Wohnflächenunterschreitung ausgehende Beschränkung der Nutzungsmöglichkeit des vermieteten Wohnraums ist nicht deshalb geringer zu veranschlagen, weil die für eine Haushaltsführung benötigten Einrichtungsgegenstände trotz der geringeren Wohnfläche vollständig in der Wohnung untergebracht werden können. Urteil vom 2. März 2011 – VIII ZR 209/10 AG Charlottenburg – Urteil vom 17. Dezember 2009 – 211 C 334/09 LG Berlin – Urteil vom 13. Juli 2010 – 65 S 28/10 Karlsruhe, den 2. März 2011 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des VIII. Zivilsenats vom 2.3.2011 - VIII ZR 209/10 -
Tenor Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil der Zivilkammer 65 des Landgerichts Berlin vom 13. Juli 2010 - auch im Kostenpunkt - aufgehoben und das Urteil des Amtsgerichts Charlottenburg vom 17. Dezember 2009 abgeändert, soweit zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist.Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 939,40 &euro; nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. September 2009 zu zahlen.Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.Von Rechts wegen. Tatbestand Der Kläger ist seit Oktober 2006 Mieter einer möblierten Wohnung des Beklagten in B. . In dem Mietvertrag vom 11. Oktober 2006 ist die Wohnungsgröße mit 50 qm angegeben; weiter vereinbarten die Parteien eine monatliche Kaltmiete von 560 &euro; sowie pauschalierte Nebenkostenvorauszahlungen für Heizung (15 &euro;) und Strom (25 &euro;). In § 3 Nr. 1 des Mietvertrages ist unter anderem bestimmt, dass sich die Kaltmiete aus einer Kapitalverzinsung, Abschreibung der Möbel, Betriebskosten und Reparaturkosten am Haus und der Wohnung zusammensetzt.Die tatsächliche Wohnfläche der Wohnung des Klägers beträgt 44,30 qm. Wegen der Flächenabweichung von 11,5 % zu der im Mietvertrag angegebenen Wohnungsgröße ist der Kläger der Auffassung, dass die Kaltmiete um 11,5 % gemindert sei und ihm für die vergangene Mietzeit vom 15. Oktober 2006 bis 30. April 2009 (= 30,5 Monate) ein Rückforderungsanspruch in Höhe von 1.964,20 &euro; zustehe; in dieser Höhe habe wegen der Wohnflächenabweichung kein Rechtsgrund für eine Mietzahlung bestanden. Der Beklagte zahlte vorprozessual 736,58 &euro; an den Kläger. Mit seiner Klage macht der Kläger den Differenzbetrag von 1.227,62 &euro; nebst Zinsen geltend.Das Amtsgericht hat den Beklagten zur Zahlung von 288,22 &euro; nebst Zinsen verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter. Gründe Die Revision hat Erfolg.I.Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:Die an den Kläger vermietete Wohnung weise einen Mangel auf, da die tatsächliche Wohnfläche von der vereinbarten Wohnfläche um mehr als 10 % abweiche. Damit stehe dem Kläger grundsätzlich nach § 536 BGB ein Minderungsanspruch zu; die für den streitgegenständlichen Zeitraum 15. Oktober 2006 bis 30. April 2009 aufgrund des Mangels der Mietsache überzahlte Miete könne nach § 812 BGB zurückgefordert werden. Bemessungsgrundlage der Minderung sei die vereinbarte monatliche Kaltmiete in Höhe von 560 &euro; zuzüglich der Heizkostenvorauszahlung in Höhe von 15 &euro;, insgesamt 575 &euro;. Zwar sei bei der Bemessung des Minderungsanspruchs nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich von der Bruttomiete auszugehen. Die nach dem Mietvertrag im Voraus zu zahlende Stromkostenpauschale in Höhe von 25 &euro; gehöre jedoch hierzu nicht, da diese Kosten nicht zu den Betriebskosten in Anlage 3 zu § 27 der II. Berechnungsverordnung zu zählen seien. Die Stromkosten fielen nicht typischerweise beim Vermieter, sondern beim Mieter an.Die damit dem Minderungsanspruch zugrunde zu legende monatliche Bruttomiete in Höhe von 575 &euro; sei vorliegend nicht um den Prozentsatz der Wohnflächenabweichung (11,5 %), sondern - der vom Amtsgericht angenommenen Minderungsquote von 6 % folgend - unter Berücksichtigung der Heizkostenpauschale nur um 5,8 % zu mindern. Bei der vollständig möblierten und auch im Übrigen vollständig mit Hausrat eingerichteten Wohnung sei das Maß der Beeinträchtigung bei einer erheblichen Wohnflächenabweichung nicht identisch mit dem Maß der Wohnflächenabweichung, weil die vollständige Möblierung und Einrichtung einen wesentlichen Teil der Mietsachgesamtheit ausmache. Der Gebrauchswert beziehungsweise die Nutzungsmöglichkeit sei angesichts der Einrichtung nicht so erheblich beeinträchtigt wie bei einer leer vermieteten Wohnung, in der die geringere Wohnfläche auch die Einrichtungsmöglichkeiten beschränken könne und die Bewegungsfläche erheblich gemindert sein könne. Der Vortrag des Klägers, dass die Möblierung und Einrichtung seit Mietbeginn bereits erheblichem Verschleiß unterlegen sei, ändere nichts an dem vertragsgemäßen Zustand. Denn maßgeblich für die Mietminderung sei der Gebrauchswert der Mietsache, nicht ihr finanzieller Wert. Auch ältere Einrichtungsgegenstände könnten einen erheblichen Gebrauchswert haben. Davon sei auch im Streitfall auszugehen, denn der Beklagte habe nicht behauptet, dass Einrichtungsgegenstände nicht mehr zu nutzen seien oder ihre Nutzung durch die Flächenunterschreitung erheblich eingeschränkt sei.II.Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen steht dem Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum 15. Oktober 2006 bis 30. April 2006 aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB ein Rückforderungsanspruch in der eingeklagten Höhe von 1.227,62 &euro; zu, da die vom Kläger geschuldete Miete über die vorprozessual gezahlten 736,58 &euro; hinaus jedenfalls in dieser Höhe gemäß § 536 Abs. 1 Satz 2 BGB gemindert war.1. Nach der Rechtsprechung des Senats - von der im Ansatz auch das Berufungsgericht ausgeht - stellt die Abweichung der tatsächlichen Wohnfläche von der vertraglich vereinbarten Wohnfläche um mehr als 10 % einen Mangel der Mietsache dar, der den Mieter gemäß § 536 Abs. 1 Satz 2 BGB zur Minderung der Miete in dem Verhältnis berechtigt, in dem die tatsächliche Wohnfläche die vereinbarte Wohnfläche unterschreitet (Senatsurteile vom 10. März 2010 - VIII ZR 144/09, NJW 2010, 1745 Rn. 8, 11 f.; vom 10. November 2010 - VIII ZR 306/09, NJW 2011, 220 Rn. 14; jeweils mwN).So liegen die Dinge nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auch im Streitfall, denn die tatsächliche Wohnfläche weicht von der im Mietvertrag vereinbarten Wohnfläche um 11,5 % ab; in dieser Höhe war daher die vertraglich geschuldete Bruttomiete gemäß § 536 Abs. 1 Satz 2 BGB gemindert. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Minderung nicht etwa deshalb geringer, weil die an den Kläger vermietete Wohnung möbliert ist. Der Auffassung des Berufungsgerichts, bei einer vollständig möblierten und auch im Übrigen vollständig mit Hausrat eingerichteten Wohnung sei das Maß der Beeinträchtigung bei einer erheblichen Wohnflächenabweichung nicht mit dem Maß der Wohnflächenabweichung identisch, vermag der Senat nicht zu folgen. Die von einer Wohnflächenabweichung ausgehende Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeit ist nicht deshalb geringer zu veranschlagen, weil trotz der geringeren Fläche die für eine Haushaltsführung benötigten Einrichtungsgegenstände vollständig untergebracht werden können.2. Bemessungsgrundlage der Minderung nach § 536 BGB ist grundsätzlich die Bruttomiete einschließlich einer Nebenkostenpauschale oder einer Vorauszahlung auf die Nebenkosten (Senatsurteil vom 20. Juli 2005 - VIII ZR 347/04, NJW 2005, 2773 unter II 1 a). Daran ändert die Möblierung der Wohnung im Streitfall nichts, denn der Mietwert der Wohnungseinrichtung ist ausweislich § 3 Nr. 1 des Mietvertrags der Parteien vom 11. Oktober 2005 Teil der Kalkulation der Nettokaltmiete gewesen. Ob eine andere Beurteilung gerechtfertigt ist, wenn im Mietvertrag der Tatsache der Möblierung ein gegenüber den übrigen Mietkonditionen eigenständiges Gewicht - etwa durch die Vereinbarung eines Möblierungszuschlags - verliehen wird, bedarf hier keiner Entscheidung.Ob - wie es das Berufungsgericht annimmt - die Stromkostenvorauszahlung zur Bruttomiete zu zählen ist, kann im Streitfall offen bleiben, da der Kläger seine Rückzahlungsforderung auf Basis der Nettokaltmiete errechnet hat. Bei einem geltend gemachten Minderungszeitraum vom 15. Oktober 2006 bis 30. April 2009 (= 30,5 Monate) errechnet sich daher unter Zugrundelegung der Nettokaltmiete ein Minderungsanspruch von 1.964,20 &euro;.III.Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben; es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da keine weiteren tatsächlichen Feststellungen zu treffen sind, hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Wie dargestellt, steht dem Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum ein (weiterer) aufgrund der Minderung gerechtfertigter Rückzahlungsanspruch jedenfalls in Höhe von 939,40 &euro; zu. Der Klage ist daher in vollem Umfang stattzugeben.Ball Dr. Hessel Dr. Achilles Dr. Schneider Dr. Bünger Vorinstanzen:AG Berlin-Charlottenburg, Entscheidung vom 17.12.2009 - 211 C 334/09 -LG Berlin, Entscheidung vom 13.07.2010 - 65 S 28/10 -
bundesgerichtshof
bgh_075-2016
21.04.2016
Keine pauschale Beteiligung von Verlagen an den Einnahmen der VG Wort Ausgabejahr 2016 Erscheinungsdatum 21.04.2016 Nr. 075/2016 Urteil vom 21. April 2016 - I ZR 198/13 – Verlegeranteil Der u.a. für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass die VG Wort nicht berechtigt ist, einen pauschalen Betrag in Höhe von grundsätzlich der Hälfte ihrer Einnahmen an Verlage auszuzahlen. Die Beklagte ist die im Jahr 1958 gegründete Verwertungsgesellschaft Wort. Sie ist ein rechtsfähiger Verein kraft staatlicher Verleihung, in dem sich Wortautoren und deren Verleger zur gemeinsamen Verwertung von Urheberrechten zusammengeschlossen haben. Sie nimmt als einzige Verwertungsgesellschaft in Deutschland die ihr vertraglich anvertrauten urheberrechtlichen Befugnisse von Wortautoren und deren Verlegern wahr. Der Kläger ist Autor wissenschaftlicher Werke. Er hat mit der Beklagten im Jahr 1984 einen Wahrnehmungsvertrag geschlossen. Darin hat er ihr unter anderem die gesetzlichen Vergütungsansprüche für das aufgrund bestimmter Schrankenbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes zulässige Vervielfältigen seiner Werke zum privaten Gebrauch zur Wahrnehmung übertragen. Mit seiner Klage wendet der Kläger sich dagegen, dass die Beklagte die Verleger und bestimmte Urheberorganisationen entsprechend den Bestimmungen ihres Verteilungsplans an ihren Einnahmen beteiligt und dadurch seinen Anteil an diesen Einnahmen schmälert. Das Oberlandesgericht hat der Klage weitgehend stattgegeben. Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie die vollständige Abweisung der Klage erstrebt. Der Kläger hat Anschlussrevision eingelegt, mit der er erreichen möchte, dass seiner Klage in vollem Umfang stattgegeben wird. Der Bundesgerichtshof hat die Rechtsmittel beider Parteien zurückgewiesen. Die Beklagte ist - so der Bundesgerichtshof - nicht berechtigt, einen pauschalen Betrag in Höhe von grundsätzlich der Hälfte ihrer Einnahmen an Verlage auszuschütten. Eine Verwertungsgesellschaft hat die Einnahmen aus der Wahrnehmung der ihr anvertrauten Rechte und Ansprüche ausschließlich an die Inhaber dieser Rechte und Ansprüche auszukehren; dabei muss sie diese Einnahmen in dem Verhältnis an die Berechtigten verteilen, in dem diese Einnahmen auf einer Verwertung der Rechte und Geltendmachung von Ansprüchen der jeweiligen Berechtigten beruhen. Damit ist es nicht zu vereinbaren, dass die Beklagte den Verlegern einen pauschalen Anteil ihrer Einnahmen auszahlt, ohne darauf abzustellen, ob und inwieweit diese Einnahmen auf der Wahrnehmung der ihr von Verlegern eingeräumten Rechte oder übertragenen Ansprüche beruhen. Allein der Umstand, dass die verlegerische Leistung es der Beklagten erst ermöglicht, Einnahmen aus der Verwertung der verlegten Werke der Autoren zu erzielen, rechtfertigt es nicht, einen Teil dieser Einnahmen den Verlegern auszuzahlen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte mit der Wahrnehmung der ihr von Verlegern eingeräumten Rechte oder übertragenen Ansprüche tatsächlich Einnahmen in einem Umfang erzielt, der es rechtfertigt, regelmäßig die Hälfte der Verteilungssumme an die Verleger auszuschütten. Den Verlegern stehen nach dem Urheberrechtsgesetz keine eigenen Rechte oder Ansprüche zu, die von der Beklagten wahrgenommen werden könnten. Verleger sind - von den im Streitfall nicht in Rede stehenden Presseverlegern abgesehen - nicht Inhaber eines Leistungsschutzrechts. Die gesetzlichen Vergütungsansprüche für die Nutzung verlegter Werke stehen kraft Gesetzes originär den Urhebern zu. Die Beklagte nimmt auch keine den Verlegern von den Urhebern eingeräumten Rechte oder abgetretenen Ansprüche in einem Umfang wahr, der eine Beteiligung der Verleger an der Hälfte der Einnahmen der Beklagten begründen könnte. Das Verlagsrecht räumen die Verleger der Beklagten nicht zur Wahrnehmung ein. Gesetzliche Vergütungsansprüche haben die Urheber den Verlegern jedenfalls nicht in einem Umfang wirksam abgetreten, der es rechtfertigen könnte, die Hälfte der Einnahmen an die Verlage auszuschütten. Dagegen durfte die Beklagte - so der Bundesgerichtshof weiter - bestimmte Urheberorganisationen an ihren Einnahmen beteiligen, soweit die Autoren diesen Organisationen ihre bereits entstandenen gesetzlichen Vergütungsansprüche abgetreten hatten. Vorinstanzen: LG München I - Urteil vom 24. Mai 2012 - 7 O 28640/11 OLG München - Urteil vom 17. Oktober 2013 - 6 U 2492/12 Karlsruhe, den 21. April 2016 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des I. Zivilsenats vom 21.4.2016 - I ZR 198/13 -
Tenor Die Nebenintervention wird zugelassen.Die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision des Klägers gegen das Urteil des Oberlandesgerichts München - 6. Zivilsenat - vom 17. Oktober 2013 werden zurückgewiesen.Die Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Beklagte zu 37/40 und der Kläger zu 3/40. Die durch die Nebenintervention verursachten Kosten werden der Streithelferin auferlegt.Von Rechts wegen. Tatbestand Die Beklagte ist die im Jahr 1958 gegründete Verwertungsgesellschaft Wort. Sie ist ein rechtsfähiger Verein kraft staatlicher Verleihung, in dem sich Wortautoren und deren Verleger zur gemeinsamen Verwertung von Urheberrechten zusammengeschlossen haben. Sie nimmt als einzige Verwertungsgesellschaft in Deutschland die ihr vertraglich anvertrauten urheberrechtlichen Befugnisse von Wortautoren und deren Verlegern wahr. Der Kläger ist Autor wissenschaftlicher Werke. Er hat mit der Beklagten am 26. Januar 1984 einen Wahrnehmungsvertrag geschlossen und ist seit dem 13. Mai 1994 Mitglied der Beklagten.Gemäß §§ 1, 2 des Wahrnehmungsvertrags hat der Kläger der Beklagten näher bezeichnete Rechtsbefugnisse aus allen ihm zustehenden oder erwachsenden Urheberrechten an allen bereits geschaffenen oder künftig geschaffenen Sprachwerken zur treuhänderischen Wahrnehmung eingeräumt. Dazu gehören auch die gesetzlichen Vergütungsansprüche wegen aufgrund bestimmter Schrankenbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes zulässiger Nutzungen seiner Werke und insbesondere die Vergütungsansprüche für das Vervielfältigen eines Werkes zum privaten Gebrauch (Gerätevergütung, § 53 Abs. 5 UrhG aF, jetzt § 54 Abs. 1 UrhG) und das Verleihen eines Werkes durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung (Bibliothekstantieme, § 27 Abs. 2 UrhG).Der Kläger hat der Beklagten seit dem 1. Januar 2008 jedenfalls neun Werke gemeldet, die überwiegend von der Streithelferin verlegt werden. Für zwei dieser Werke hat er mit der Streithelferin geschlossene Verlagsverträge aus den Jahren 1985 und 1998 vorgelegt. Mit einem dieser Verträge hat er der Streithelferin gesetzliche Vergütungsansprüche zur Wahrnehmung übertragen und diese sich ihm gegenüber verpflichtet, übertragene Rechte, soweit sie durch eine Verwertungsgesellschaft wahrgenommen werden, in diese Gesellschaft zur Wahrnehmung einzubringen.Mit seiner Klage wendet der Kläger sich dagegen, dass die Beklagte die Verleger und bestimmte Urheberorganisationen entsprechend den Bestimmungen ihres Verteilungsplans an ihren Einnahmen beteiligt und dadurch seinen Anteil an diesen Einnahmen schmälert.Der Kläger hat - soweit in der Revisionsinstanz von Bedeutung - beantragt, 1. festzustellen, dass die Beklagte seit dem Jahr 2008 nicht berechtigt ist, bei ihrer jährlichen Ausschüttung der auf seine verlegten Werke entfallenden Vergütungsanteile diese unter Berücksichtigung folgender Abzüge zu berechnen:a) Abzug eines Verlegeranteils gemäß § 3 Abs. 1 bis 3 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der im Zeitpunkt der jeweiligen Ausschüttung jüngsten Fassung, zuletzt in der Fassung vom 21. Mai 2011; b) Abzüge, die sich aus § 12 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft der in der im Zeitpunkt der jeweiligen Ausschüttung jüngsten Fassung, zuletzt in der Fassung vom 21. Mai 2011, ergeben; 2. die Beklagte zu verurteilen, ihm Auskunft darüber zu erteilen, welche Beträge sie seit dem Jahr 2008 aufgrund der § 3 Abs. 1 bis 3 und § 12 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft von den auf seine verlegten Werke entfallenden Vergütungsanteilen in Abzug gebracht hat.Das Landgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben und den Auskunftsantrag abgewiesen (LG München I, MMR 2012, 618).Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt, mit der sie ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiterverfolgt hat. Der Kläger hat beantragt, die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der dem Feststellungsantrag stattgebende Urteilsausspruch wie folgt gefasst wird:Es wird festgestellt, dass die Beklagte seit dem Jahr 2008 in der Vergangenheit nicht berechtigt war und in der Zukunft nicht berechtigt ist, bei der Ausschüttung der auf seine verlegten Werke entfallenden Vergütungsanteile diese unter Berücksichtigung folgender Abzüge zu berechnen:a) Abzug eines Verlegeranteils gemäß § 3 Abs. 1 bis 3 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der im Zeitpunkt der jeweiligen Ausschüttung jüngsten Fassung, zuletzt in der Fassung vom 21. Mai 2011, ab dem Jahr 2013 gemäß § 3 Abs. 2 Buchst. b ihres Verteilungsplans in der Fassung vom 2. Juni 2012; b) Abzüge, die sich aus § 12 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der im Zeitpunkt der jeweiligen Ausschüttung jüngsten Fassung, zuletzt in der Fassung vom 21. Mai 2011, seit der Ausschüttung 2013 aufgrund § 3 Abs. 2 Buchst. b und § 46 ihres Verteilungsplans in der Fassung vom 2. Juni 2012, ergeben.Ferner hat der Kläger im Wege der Anschlussberufung - soweit noch von Bedeutung - beantragt, unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte zu verurteilen, ihm Auskunft darüber zu erteilen, welche Beträge sie seit dem Jahr 2008 aufgrund der § 3 Abs. 1 bis 3 und § 12 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der Fassung vom 21. Mai 2011, seit der Ausschüttung 2013 aufgrund der § 3 Abs. 2 Buchst. b und § 46 ihres Verteilungsplans in der Fassung vom 2. Juni 2012 von den auf seine verlegten Werke entfallenden Vergütungen in Abzug gebracht hat.Das Berufungsgericht hat unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten und der Anschlussberufung des Klägers im Übrigen das landgerichtliche Urteil abgeändert und wie folgt neu gefasst (OLG München, GRUR 2014, 272):I. Es wird festgestellt, dass die Beklagte seit dem Jahr 2008 in der Vergangenheit nicht berechtigt war und in der Zukunft nicht berechtigt ist, bei der Ausschüttung der auf verlegte Werke des Klägers entfallenden Vergütungsanteile diese unter Berücksichtigung folgender Abzüge zu berechnen:a) Abzug eines Verlegeranteils gemäß § 3 Abs. 1 bis 3 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der im Zeitpunkt der jeweiligen Ausschüttung jüngsten Fassung, zuletzt in der Fassung vom 21. Mai 2011, ab dem Jahr 2013 gemäß § 3 Abs. 2 Buchst. b ihres Verteilungsplans in der Fassung vom 2. Juni 2012; b) Abzüge, die sich aus § 12 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der im Zeitpunkt der jeweiligen Ausschüttung jüngsten Fassung, zuletzt in der Fassung vom 21. Mai 2011, seit der Ausschüttung 2013 aufgrund § 3 Abs. 2 Buchst. b und § 46 ihres Verteilungsplans in der Fassung vom 2. Juni 2012 ergeben, soweit die Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker vorgenommen wurden.II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Auskunft darüber zu erteilen, welche Beträge sie seit dem Jahr 2008 aufgrund der § 3 Abs. 1 bis 3 und § 12 ihrer Verteilungspläne Wissenschaft in der Fassung vom 21. Mai 2011 von auf seine verlegten Werke entfallenden Vergütungen in Abzug gebracht hat, soweit die Ausschüttungen gemäß § 12 der Verteilungspläne Wissenschaft in der Fassung vom 21. Mai 2011 an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker erfolgt sind.Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie weiterhin die vollständige Abweisung der Klage erstrebt. Der Kläger hat Anschlussrevision eingelegt, mit der er seine zuletzt gestellten Anträge weiterverfolgt. Die Parteien beantragen jeweils, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen. Die Streithelferin ist dem Rechtsstreit im Laufe des Revisionsverfahrens auf Seiten der Beklagten beigetreten. Sie erstrebt die vollständige Abweisung der Klage hinsichtlich des Klageantrags zu 1 a und des hierauf bezogenen Klageantrags zu 2 und die Zurückweisung der diese Klageanträge betreffenden Anschlussrevision des Klägers. Der Kläger beantragt, die Nebenintervention zurückzuweisen. Gründe A. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Klage sei mit dem Feststellungsantrag und dem Auskunftsantrag jeweils überwiegend begründet. Dazu hat es ausgeführt:Die Beklagte sei nicht berechtigt, von den auf die Werke des Klägers entfallenden Erlösen einen Verlegeranteil abzuziehen. Die pauschale Beteiligung der Verleger an den Erlösen der Beklagten aus der Verwertung der ihr zur treuhänderischen Wahrnehmung übertragenen gesetzlichen Vergütungsansprüche der Urheber verstoße gegen das Willkürverbot des § 7 Satz 1 UrhWG. Für eine solche Beteiligung habe es im relevanten Zeitraum seit dem Jahr 2008 in Bezug auf die Werke des Klägers keinen sachlichen Grund gegeben. Da Verlage nach dem Urheberrechtsgesetz über kein eigenes Leistungsschutzrecht verfügten, könnten sie bei der Verteilung der von der Beklagten vereinnahmten Erlöse in Bezug auf die Werke des Klägers nur berücksichtigt werden, wenn der Kläger ihnen seine gesetzlichen Vergütungsansprüche abgetreten hätte und sie diese der Beklagten übertragen hätten. Verlage könnten zwar nach § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG gesetzliche Vergütungsansprüche des Urhebers in eine Wahrnehmungsgesellschaft einbringen. Der Kläger habe seine gesetzlichen Vergütungsansprüche jedoch bereits mit dem Wahrnehmungsvertrag im Jahr 1984 an die Beklagte abgetreten und daher später nicht mehr an die Verleger seiner Werke abtreten können.Die Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker seien zu Unrecht erfolgt; dagegen seien die Ausschüttungen an die Deutsche Physikalische Gesellschaft nicht zu beanstanden. Eine Beteiligung von Berufsverbänden an den Einnahmen der Beklagten aus der Verwertung gesetzlicher Vergütungsansprüche der Urheber sei (nur) zulässig, soweit die Berufsverbände über die entsprechenden Ansprüche ihrer Mitglieder verfügten. Die Mitglieder könnten den Verbänden nur bereits entstandene gesetzliche Vergütungsansprüche abtreten. Die Mitglieder der Deutschen Physikalischen Gesellschaft hätten der Gesellschaft ihre aufgrund veröffentlichter Beiträge dem Grunde nach entstandenen Vergütungsansprüche abgetreten. Dagegen könne nicht festgestellt werden, dass die Mitglieder des Deutschen Hochschulverbandes und der Gesellschaft Deutscher Chemiker diesen Verbänden ihre in Bezug auf bestimmte Werke entstandenen Vergütungsansprüche abgetreten hätten.Der Antrag auf Auskunftserteilung sei hinsichtlich der Ausschüttung für die Jahre 2008 bis 2011 begründet, soweit Auskunft über den Abzug des pauschalen Verlagsanteils und die Auszahlungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker begehrt werde. Hinsichtlich der erst im Jahr 2013 erfolgenden Ausschüttung für das Jahr 2012 sei der Antrag dagegen unbegründet.B. Der Antrag des Klägers auf Zurückweisung der Nebenintervention der Streithelferin hat keinen Erfolg. Die Nebenintervention ist zuzulassen.I. Auf Antrag einer Hauptpartei sind die besonderen Voraussetzungen der Nebenintervention und insbesondere das rechtliche Interesse des Nebenintervenienten am Obsiegen der einen Hauptpartei im Verfahren nach § 71 ZPO zu prüfen (BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 - VIII ZB 82/05, BGHZ 165, 358, 363 mwN). Dabei kann das Zwischenurteil über die Nebenintervention mit dem Endurteil verbunden werden (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 1982 - III ZR 184/80, NJW 1982, 2070).II. Wer ein rechtliches Interesse daran hat, dass in einem zwischen anderen Personen anhängigen Rechtsstreit die eine Partei obsiege, kann dieser Partei nach § 66 Abs. 1 ZPO zum Zwecke ihrer Unterstützung beitreten. Die Nebenintervention kann nach § 66 Abs. 2 ZPO in jeder Lage des Rechtsstreits bis zur rechtskräftigen Entscheidung erfolgen. Sie ist daher auch im Laufe des Revisionsverfahrens zulässig (BGH, Urteil vom 17. Februar 1999 - X ZR 8/96, NJW 1999, 2046, 2047).III. Die Streithelferin hat glaubhaft gemacht, ein rechtliches Interesse daran zu haben, dass die Beklagte in dem zwischen den Parteien anhängigen Rechtsstreit obsiegt (§ 71 Abs. 1 Satz 2 ZPO).1. Ein rechtliches Interesse im Sinne von § 66 Abs. 1 ZPO setzt voraus, dass der Nebenintervenient zu der unterstützten Partei oder dem Gegenstand des Rechtsstreits in einem Rechtsverhältnis steht, auf das die Entscheidung des Rechtsstreits durch ihren Inhalt oder ihre Vollstreckung unmittelbar oder auch nur mittelbar rechtlich einwirkt (BGH, Beschluss vom 10. Februar 2011 - I ZB 63/09, GRUR 2011, 557 Rn. 10 = WRP 2011, 900, mwN).2. Der Kläger beantragt die Feststellung, dass die Beklagte seit dem Jahr 2008 nicht berechtigt ist, bei der Ausschüttung die auf verlegte Werke des Klägers entfallenden Vergütungsanteile unter Abzug eines Verlegeranteils zu berechnen. Der Kläger hat der Beklagten seit dem 1. Januar 2008 jedenfalls neun Werke gemeldet, die überwiegend von der Streithelferin verlegt werden. Würde dem Feststellungsantrag des Klägers stattgegeben, könnte die Streithelferin von der Beklagten nur die Auszahlung eines entsprechend geringeren Anteils an der Verteilungssumme beanspruchen und die Beklagte von der Streithelferin grundsätzlich die Rückzahlung überzahlter Beträge wegen ungerechtfertigter Bereicherung verlangen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. August 2004 - I ZR 230/03, ZUM 2004, 921). Das begründet ein rechtliches Interesse der Streithelferin an einem Obsiegen der Beklagten im vorliegenden Rechtsstreit.C. Die Rechtsmittel der Parteien haben keinen Erfolg. Der Feststellungsantrag ist begründet, soweit der Kläger damit die Feststellung der Unzulässigkeit des Abzugs eines pauschalen Verlegeranteils erstrebt (dazu C I). Soweit er die Feststellung der Unzulässigkeit von Abzügen für Urheberorganisationen begehrt, ist der Feststellungsantrag hinsichtlich der Auszahlungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker begründet und hinsichtlich der Ausschüttungen an die Deutsche Physikalische Gesellschaft unbegründet (dazu C II). Der Auskunftsantrag hat Erfolg, soweit er die Ausschüttungen für die Jahre 2008 bis 2012 und den Abzug eines Verlegeranteils sowie die Zahlungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker betrifft; im Übrigen hat dieser Antrag keinen Erfolg (dazu C III).I. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass die Beklagte seit dem Jahr 2008 nicht berechtigt war und ist, den auf verlegte Werke des Klägers entfallenden und an diesen auszuschüttenden Anteil an ihren Erlösen gemäß § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans Wissenschaft in der Fassung vom 21. Mai 2011 (Verteilungsplan 2011) und § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans in der Fassung vom 2. Juni 2012 (Verteilungsplan 2012) unter Abzug eines pauschalen Verlegeranteils von der Verteilungsmasse zu berechnen (Urteilstenor zu I a).1. Der Kläger kann von der Beklagten aufgrund des zwischen den Parteien geschlossenen Wahrnehmungsvertrags verlangen, mit einem Anteil an ihren Einnahmen beteiligt zu werden, der den Erlösen entspricht, die sie durch die Auswertung seiner Rechte erzielt hat (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2005- I ZR 299/02, BGHZ 163, 119, 126 - PRO-Verfahren; Urteil vom 2. Februar 2012 - I ZR 162/09, BGHZ 192, 285 Rn. 11 - Delcantos Hits; Urteil vom 24. September 2013 - I ZR 187/12, GRUR 2014, 479 Rn. 22 = WRP 2014, 568 - Verrechnung von Musik in Werbefilmen). Abrechnung und Auszahlung dieses Anteils richten sich gemäß § 6 des Wahrnehmungsvertrags nach der Satzung und dem Verteilungsplan der Beklagten. Diese bilden gemäß § 3 Satz 1 des Wahrnehmungsvertrags, auch soweit sie künftig geändert werden sollten, dessen Bestandteil.2. Der dem Kläger aufgrund des Wahrnehmungsvertrags zustehende und auszuzahlende Vergütungsanteil ist gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung der Beklagten in Verbindung mit § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans 2011 bzw. § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 unter Abzug eines pauschalen Verlegeranteils von der Verteilungsmasse zu berechnen. § 9 Abs. 1 der Satzung regelt die Grundsätze des Verteilungsplans. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 der Satzung hat jeder Berechtigte, soweit mit angemessenen Mitteln feststellbar, den auf die Nutzung seines Werkes entfallenden Anteil am Ertrag zu erhalten. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung steht den Verlegern ein ihrer verlegerischen Leistung entsprechender Anteil am Ertrag zu. § 3 des Verteilungsplans 2011 konkretisiert die Verteilungsgrundsätze. Gemäß § 3 Abs. 1 des Verteilungsplans 2011 besteht die Verteilungssumme zur gleichen Hälfte aus einem Urheberanteil und einem Verlagsanteil, die gegenüber den Urhebern und den Verlagen jeweils gesondert abgerechnet und verteilt werden. Davon abweichend sehen § 3 Abs. 2 und 3 des Verteilungsplans 2011 für bestimmte Werke und Geschäftsjahre vor, dass der Verlagsanteil etwas geringer ist und der Urheberanteil sich entsprechend erhöht. § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 enthält eine § 3 Abs. 1 des Verteilungsplans 2011 entsprechende Regelung.3. Soweit § 9 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung sowie § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans 2011 und § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 gemäß § 3 Satz 1 des Wahrnehmungsvertrags dessen Bestandteil bilden, sind diese Bestimmungen gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Die Beklagte war und ist daher nicht berechtigt, den auf verlegte Werke des Klägers entfallenden und an den Kläger auszuschüttenden Anteil an ihren Erlösen nach diesen Bestimmungen unter Abzug eines pauschalen Verlegeranteils von der Verteilungsmasse zu berechnen.a) Gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist.b) § 9 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung sowie § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans 2011 und § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 sind Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Bei den Regelungen des Wahrnehmungsvertrags handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen. Gemäß § 3 Satz 1 des Wahrnehmungsvertrags bilden Satzung und Verteilungsplan, auch soweit sie künftig geändert werden sollten, einen Bestandteil des Wahrnehmungsvertrags. Als Bestandteile des Wahrnehmungsvertrags sind sie daher gleichfalls Allgemeine Geschäftsbedingungen (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2012 - I ZR 23/11, GRUR 2013, 375 Rn. 13 = WRP 2013, 518 - Missbrauch des Verteilungsplans, mwN).c) § 9 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung sowie § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans 2011 und § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 sind mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung des § 7 Satz 1 UrhWG, von der sie abweichen, nicht zu vereinbaren.aa) Gemäß § 7 Satz 1 UrhWG hat die Verwertungsgesellschaft die Einnahmen aus ihrer Tätigkeit nach festen Regeln (Verteilungsplan) aufzuteilen, die ein willkürliches Vorgehen bei der Verteilung ausschließen.bb) Diese gesetzliche Regelung beruht auf dem wesentlichen Grundgedanken, dass die Verwertungsgesellschaft als Treuhänderin der Berechtigten die Einnahmen aus ihrer Tätigkeit ausschließlich an die Berechtigten zu verteilen hat, und zwar in dem Verhältnis, in dem diese Einnahmen auf einer Verwertung der Rechte und Geltendmachung von Ansprüchen der jeweiligen Berechtigten beruhen (vgl. BGHZ 192, 285 Rn. 25 - Delcantos Hits; vgl. auch BVerfG, ZUM 1997, 555 f.). Mit diesem Grundgedanken ist es unvereinbar, Nichtberechtigte an diesen Einnahmen zu beteiligen.(1) § 7 Satz 1 UrhWG liegt zunächst der wesentliche Gedanke zugrunde, dass die Verwertungsgesellschaft die Einnahmen aus der Wahrnehmung der sich aus dem Urheberrechtsgesetz ergebenden Nutzungsrechte, Einwilligungsrechte oder Vergütungsansprüche von Urhebern und Inhabern verwandter Schutzrechte ausschließlich an die Inhaber dieser Rechte oder Ansprüche zu verteilen hat (vgl. Loewenheim in Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 4. Aufl., § 63a UrhG Rn. 21).Gemäß § 7 Satz 1 UrhWG hat die Verwertungsgesellschaft die Einnahmen aus ihrer Tätigkeit aufzuteilen. Die Tätigkeit einer Verwertungsgesellschaft besteht darin, die Rechte und Ansprüche von Berechtigten wahrzunehmen (§ 6 UrhWG). Mit diesen Rechten und Ansprüchen sind die sich aus dem Urheberrechtsgesetz ergebenden Nutzungsrechte, Einwilligungsrechte oder Vergütungsansprüche von Urhebern und Inhabern verwandter Schutzrechte gemeint (§ 1 Abs. 1 UrhWG). Aus der Stellung der Verwertungsgesellschaft als Treuhänderin der Berechtigten folgt, dass sie die Erlöse aus der Wahrnehmung dieser Rechte und Ansprüche nicht an Nichtberechtigte auskehren darf (vgl. nunmehr auch Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2014/26/EU über die kollektive Wahrnehmung von Urheber- und verwandten Schutzrechten und die Vergabe von Mehrgebietslizenzen für Rechte an Musikwerken für die Online-Nutzung im Binnenmarkt).Entgegen der Ansicht der Revision kann danach nicht jeder, der mit der Verwertungsgesellschaft einen Wahrnehmungsvertrag geschlossen oder dieser ein Werk gemeldet hat, schon deshalb als Berechtigter angesehen werden, der an den Einnahmen der Verwertungsgesellschaft zu beteiligen ist. Eine Beteiligung von Verlegern an den Einnahmen der Beklagten ist nicht allein deshalb zulässig, weil diese mit ihr Wahrnehmungsverträge geschlossen oder ihr Werke gemeldet haben. Eine Beteiligung von Verlegern setzt vielmehr voraus, dass die Einnahmen der Beklagten auf der Wahrnehmung originärer oder von den Wortautoren abgeleiteter Rechte oder Ansprüche dieser Verleger beruhen.(2) § 7 Satz 1 UrhWG liegt ferner der wesentliche Gedanke zugrunde, dass Verwertungsgesellschaften ihre Einnahmen ohne Willkür an die Berechtigten zu verteilen haben. Danach muss eine Verwertungsgesellschaft bei der Verteilung ihrer Einnahmen maßgeblich berücksichtigen, zu welchem Anteil diese Einnahmen auf einer Verwertung der Rechte und Geltendmachung von Ansprüchen der einzelnen Berechtigten beruhen.Ist der auf die Nutzung eines bestimmten Werkes entfallende Anteil am Ertrag nicht mit angemessenen Mitteln feststellbar (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 1 der Satzung), hat die Beklagte das aus der treuhänderischen Auswertung der Rechte und Geltendmachung von Ansprüchen Erlangte in der Weise an die einzelnen Berechtigten herauszugeben, dass sie nach bestimmten allgemeinen Verteilungsgrundsätzen jeweils einen möglichst leistungsgerechten Anteil an den Einnahmen ausschüttet. Dabei steht der Beklagten wegen der unvermeidbaren Typisierungen und Pauschalierungen und im Blick auf die notwendige Bewertung und Abwägung der Interessen der betroffenen Berechtigten ein zwar außerordentlich weiter, aber durch das Willkürverbot begrenzter Beurteilungsspielraum zu (vgl. BGH, GRUR 2014, 479 Rn. 21 bis 25 - Verrechnung von Musik in Werbefilmen, mwN).Dieser Grundgedanke kommt jedoch allein bei einer Verteilung der Einnahmen an Berechtigte zum Tragen. Eine Ausschüttung der durch die treuhänderische Wahrnehmung von Rechten und Ansprüchen der Berechtigten erzielten Einnahmen an Nichtberechtigte kann nicht mit der Erwägung gerechtfertigt werden, das sei materiell leistungsgerecht, weil die betreffenden Nichtberechtigten schützenswerte Leistungen erbracht hätten. Entgegen der Ansicht der Revision dürfen Verleger nicht allein deshalb an den Einnahmen der Beklagten beteiligt werden, weil ihre verlegerische Leistung eine Voraussetzung für vergütungspflichtige Nutzungen der verlegten Werke schafft. Es ist allein Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob und inwieweit die verlegerische Leistung urheberrechtlichen Schutz genießt und ihre Nutzung gesetzliche Vergütungsansprüche begründet.cc) Mit diesem wesentlichen Grundgedanken des § 7 Satz 1 UrhWG ist es unvereinbar, dass Verlegern gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 3 der Satzung ein ihrer verlegerischen Leistung entsprechender Anteil am Ertrag der Beklagten zusteht und Verlage nach § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans 2011 und § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 einen pauschalen Anteil der Verteilungssumme unabhängig davon erhalten, ob und inwieweit die Einnahmen der Beklagten auf der Wahrnehmung der ihr von Verlegern eingeräumten Rechte oder übertragenen Ansprüche beruhen.dd) Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte mit der Wahrnehmung der ihr von Verlegern eingeräumten Rechte oder übertragenen Ansprüche tatsächlich Einnahmen in einem Umfang erzielt, der es rechtfertigt, regelmäßig die Hälfte der Verteilungssumme an die Verleger auszuschütten.Den Verlegern stehen nach dem Urheberrechtsgesetz keine eigenen Rechte oder Ansprüche zu, die von der Beklagten wahrgenommen werden könnten. Verleger sind - von den hier nicht in Rede stehenden Presseverlegern abgesehen - nicht Inhaber eines Leistungsschutzrechts (dazu C I 4). Die gesetzlichen Vergütungsansprüche für die Nutzung verlegter Werke stehen kraft Gesetzes originär den Urhebern zu (dazu C I 5). Die Bestimmung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG fingiert weder ein Leistungsschutzrecht noch einen Vergütungsanspruch der Verleger (dazu C I 6).Die Beklagte nimmt ferner keine den Verlegern von den Urhebern eingeräumten Rechte oder abgetretenen Ansprüche in einem Umfang wahr, der die hier in Rede stehende Beteiligung der Verleger am Vergütungsaufkommen der Beklagten begründen könnte. Das ihnen von den Urhebern verschaffte Verlagsrecht räumen die Verleger der Beklagten nicht zur Wahrnehmung ein (dazu C I 7). Gesetzliche Vergütungsansprüche haben die Urheber den Verlegern jedenfalls nicht in einem Umfang wirksam abgetreten, der eine pauschale Beteiligung der Verleger am Vergütungsaufkommen der Beklagten in Höhe von regelmäßig der Hälfte der Einnahmen rechtfertigt (dazu C I 8).4. Verleger sind - vom im Streitfall nicht relevanten Ausnahmefall der Presseverleger (§ 87f Abs. 1 Satz 1 UrhG) abgesehen - nicht Inhaber eines urheberrechtlichen Leistungsschutzrechts.5. Verlegern steht kein originärer Anspruch auf Beteiligung an den Einnahmen aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche für nach den Schrankenbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes zulässige Nutzungen verlegter Werke zu. Entgegen der Ansicht der Revision gebietet das Unionsrecht nicht, die Verleger an diesen Einnahmen zu beteiligen. Nach dem Unionsrecht müssen die Einnahmen aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche vielmehr kraft Gesetzes unbedingt den unmittelbar und originär berechtigten Wortautoren zukommen.a) Die Einnahmen aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche wegen des Vervielfältigens eines Sprachwerkes zum Privatgebrauch oder im Wege der Reprographie (Gerätevergütung) müssen nach dem Unionsrecht kraft Gesetzes unbedingt den unmittelbar und originär berechtigten Wortautoren zukommen.aa) Die Mitgliedstaaten können gemäß Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft in näher bezeichneten Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf das in Art. 2 dieser Richtlinie vorgesehene Vervielfältigungsrecht vorsehen. Dazu gehören Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf Vervielfältigungen auf Papier oder einem ähnlichen Träger mittels beliebiger fotomechanischer Verfahren oder anderer Verfahren mit ähnlicher Wirkung (Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG; Reprographieausnahme) und in Bezug auf Vervielfältigungen auf beliebigen Trägern durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch und weder für direkte noch indirekte kommerzielle Zwecke (Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG; Privatkopieausnahme). Beide Ausnahmen oder Beschränkungen stehen unter der Bedingung, dass die Rechtsinhaber einen gerechten Ausgleich erhalten.bb) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union haben die Mitgliedstaaten, die sich für die Aufnahme der Reprographieausnahme nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29/EG oder der Privatkopieausnahme nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG in ihr innerstaatliches Recht entscheiden, die Zahlung des gerechten Ausgleichs an die Inhaber des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts vorzusehen (zur Reprographieausnahme vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2013 - C-457/11 bis C-460/11, GRUR 2013, 812 Rn. 62 = WRP 2013, 1174 - VG Wort/Kyocera u.a.; zur Privatkopieausnahme vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2013 - C-521/11, GRUR 2013, 1025 Rn. 19 = WRP 2013, 1169 - Amazon/Austro-Mechana; Urteil vom 5. März 2015 - C-463/12, GRUR 2015, 478 Rn. 19 = WRP 2015, 706 - Copydan/Nokia).Als Inhaber des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts und unmittelbar und originär Anspruchsberechtigte des im Rahmen der Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG geschuldeten gerechten Ausgleichs sind kraft Gesetzes allein die in Art. 2 der Richtlinie 2001/29/EG genannten Urheber und Leistungsschutzberechtigten anzusehen (zum Hauptregisseur und zum Produzenten eines Filmwerks vgl. EuGH, Urteil vom 9. Februar 2012 - C-277/10, GRUR 2012, 489 Rn. 89 bis 95 = WRP 2012, 806 - Luksan/van der Let; vgl. auch EuGH, Urteil vom 10. April 2014 - C-435/12, GRUR 2014, 546 Rn. 50 = WRP 2014, 682 - ACI Adam u.a./Thuiskopie und SONT). Sie müssen die Zahlung des gerechten Ausgleichs zwar nicht unmittelbar erhalten; es ist zulässig, dass ihnen ein Teil der dem gerechten Ausgleich dienenden Erlöse mittelbar über zu ihren Gunsten geschaffene soziale und kulturelle Einrichtungen ausbezahlt wird (vgl. EuGH, GRUR 2013, 1025 Rn. 46 bis 55 - Amazon/Austro-Mechana). Sie müssen die Zahlung des gerechten Ausgleichs jedoch unbedingt erhalten (vgl. EuGH, GRUR 2012, 489 Rn. 100 und 108 - Luksan/van der Let). Die Mitgliedstaaten dürfen daher weder Rechtsvorschriften schaffen, wonach die Rechtsinhaber auf ihren Anspruch auf gerechten Ausgleich verzichten können, noch eine unwiderlegbare oder abdingbare Vermutung der Abtretung der den Rechtsinhabern zustehenden Vergütungsansprüche an Dritte aufstellen (vgl. EuGH, GRUR 2012, 489 Rn. 96 bis 109 - Luksan/van der Let).Die Verleger gehören nach Art. 2 der Richtlinie 2001/29/EG nicht zu den Inhabern des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts. Sie können daher keinen Ausgleich aufgrund der Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG erhalten, wenn den Inhabern des Vervielfältigungsrechts dadurch der gerechte Ausgleich ganz oder teilweise entzogen wird, auf den sie aufgrund dieser Ausnahmen Anspruch haben. Die Regelungen in Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG stehen nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die es dem Mitgliedstaat gestatten, einen Teil des den Rechtsinhabern zustehenden gerechten Ausgleichs den Verlegern der von den Urhebern geschaffenen Werke zu gewähren, ohne dass die Verleger verpflichtet sind, die Urheber zumindest indirekt in den Genuss des ihnen vorenthaltenen Teils des Ausgleichs kommen zu lassen (EuGH, Urteil vom 12. November 2015 - C-572/13, GRUR 2016, 55 Rn. 46 bis 49 = WRP 2016, 176 - Hewlett-Packard/Reprobel).cc) Die von der Revision aufgeworfene Frage, ob Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaaten gebieten oder jedenfalls ermöglichen, einen Teil des gerechten Ausgleichs für die Rechtsinhaber den Verlegern der von den Urhebern geschaffenen Werke zu gewähren, ist danach eindeutig zu verneinen und erfordert keine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Die Mitgliedstaaten dürfen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union den originär den Urhebern zustehenden gerechten Ausgleich nicht durch eine Beteiligung der Verleger schmälern.dd) Die Streithelferin macht ohne Erfolg geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei eine Beteiligung der Verleger am Vergütungsaufkommen der Beklagten unionsrechtlich zulässig, weil der den Urhebern zustehende gerechte Ausgleich dadurch nicht verkürzt werde.(1) Es kann offenbleiben, ob eine gesetzliche Regelung im nationalen Recht mit der Richtlinie 2001/29/EG vereinbar wäre, die eine Beteiligung von Verlagen am Vergütungsaufkommen einer Verwertungsgesellschaft vorsieht, soweit eine solche Beteiligung den gerechten Ausgleich von Rechtsinhabern im Sinne der Richtlinie 2001/29/EG nicht einschränkt (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 11. Juni 2015 - C-572/13, juris Rn. 132 bis 142 - Hewlett-Packard/Reprobel). Ferner kann offenbleiben, ob die Mitgliedstaaten für Vervielfältigungen im Wege der Reprographie und zu Zwecken des Privatgebrauchs die Zahlung einer Vergütung vorsehen können, die den gerechten Ausgleich im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG übersteigt (bejahend Reinbothe, GRUR-Prax 2015, 454, 455 f.; verneinend Koch/ Druschel, GRUR 2015, 957, 967 f.).(2) Es gibt im geltenden deutschen Recht keine Regelung, die ein eigenes Leistungsschutzrecht oder einen eigenen Vergütungsanspruch für Verleger schafft. Es gibt daher keine Grundlage für eine den Verlegern zustehende Vergütung, die von dem den Urhebern und den übrigen Rechtsinhabern nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG geschuldeten gerechten Ausgleich verschieden ist. Der Beklagten ist es als Treuhänderin nicht gestattet, Nichtberechtigte an dem Vergütungsaufkommen zu beteiligen, das sie mit der Wahrnehmung von Rechten und Ansprüchen der Berechtigten erzielt. Selbst wenn die von der Beklagten für Vervielfältigungen im Wege der Reprographie und zu Zwecken des Privatgebrauchs vereinnahmte "angemessene Vergütung" im Sinne des Urheberechtsgesetzes den an die Rechtsinhaber (mindestens) zu zahlenden "gerechten Ausgleich" im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG überstiege, dürfte die Beklagte den Unterschiedsbetrag nicht Verlegern zukommen lassen, die ihr keine Rechte oder Ansprüche zur Wahrnehmung eingeräumt haben.(3) Die von der Streithelferin aufgeworfene Frage, ob Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG es ausschließt, dass die Verlage einen Teil des Vergütungsaufkommens erhalten, der darauf beruht, dass die im nationalen Recht festgelegte "angemessene Vergütung" über das unionsrechtlich festgelegte (Mindest-)Niveau eines "gerechten Ausgleichs" hinausgeht, stellt sich nicht. Eine Vorlage dieser Frage an den Gerichtshof der Europäischen Union ist nicht veranlasst. Der Beklagten muss entgegen der Ansicht der Streithelferin keine Gelegenheit gegeben werden, ergänzend vorzutragen, ob und inwieweit die von ihr in den fraglichen Jahren vereinnahmte "angemessene Vergütung" im Sinne des Urheberrechtsgesetzes über den "gerechten Ausgleich" im Sinne der Richtlinie 2001/29/EG hinausgeht. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht ist insoweit nicht erforderlich.ee) Die Streithelferin macht weiter geltend, eine Beteiligung der Verleger am Vergütungsaufkommen der Beklagten sei unionsrechtlich zulässig, weil die Verleger die Urheber im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union indirekt in den Genuss dieses Teils des Ausgleichs kommen ließen. Die Verleger erbrächten durch die Auswahl, die Präsentation und das Verfügbarhalten von Werken eine kulturelle Leistung. Die Urheber kämen mittelbar in den Genuss dieser verlegerischen Leistung, da diese erst die Voraussetzung für vergütungspflichtige Nutzungen ihrer Werke schaffe.Damit kann die Streithelferin keinen Erfolg haben. Verleger sind keine zugunsten der Urheber geschaffenen sozialen und kulturellen Einrichtungen im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union; sie sind mit solchen Einrichtungen auch nicht vergleichbar (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 11. Juni 2015 - C-572/13, juris Rn. 130 - Hewlett-Packard/ Reprobel). Es besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass die Verleger die Urheber durch die finanziellen Investitionen im Rahmen der verlegerischen Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes und entsprechende vorbereitende und begleitende Maßnahmen nicht zumindest indirekt im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Genuss des ihnen vorenthaltenen Teils des gerechten Ausgleichs kommen lassen. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union ist insoweit nicht geboten.ff) Der Annahme, dass Verleger nicht originäre Inhaber des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts und originär Anspruchsberechtigte des im Rahmen der Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG geschuldeten gerechten Ausgleichs sind, steht nicht entgegen, dass nach Art. 3 Buchst. c der Richtlinie 2014/26/EU der Ausdruck "Rechtsinhaber" im Sinne dieser Richtlinie auch diejenige natürliche oder juristische Person bezeichnet, die aufgrund eines Rechteverwertungsvertrags Anspruch auf einen Anteil an den Einnahmen aus den Rechten hat.Der Ausdruck "Einnahmen aus den Rechten" bezeichnet nach Art. 3 Buchst. h der Richtlinie 2014/26/EU die von einer Organisation für die kollektive Rechtewahrnehmung für die Rechtsinhaber eingezogenen Beträge aus einem ausschließlichen Recht oder einem Vergütungs- oder Ausgleichsanspruch. Verleger können aufgrund von Rechteverwertungsverträgen allerdings Inhaber des - von den Urhebern abgeleiteten - ausschließlichen Rechts zur Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes und des Anspruchs auf Zahlung des im Rahmen der Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG geschuldeten gerechten Ausgleichs sein (vgl. unten Rn. 75 bis 82). Dem steht aber nicht entgegen, dass entsprechende Rechte und Ansprüche originär allein den Urhebern zustehen. Der Begriff "Rechtsinhaber" im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG bezeichnet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union allein die originären Rechtsinhaber, während der Begriff "Rechtsinhaber" im Sinne der Richtlinie 2014/26/EU nach der Begriffsbestimmung in Art. 3 Buchst. c dieser Richtlinie auch die Inhaber abgeleiteter Rechte umfasst.Deshalb lässt auch der Umstand, dass der Gerichtshof der Europäischen Union den Begriff "Rechtsinhaber" in dem ihm vom Bundesgerichtshof vorgelegten Vorabentscheidungsverfahren betreffend "Elektronische Leseplätze" im Zusammenhang mit Verlegern verwendet hat (vgl. EuGH, Urteil vom 11. September 2014 - C-117/13, GRUR 2014, 1078 = WRP 2014, 1178 - TU Darmstadt/Ulmer), nicht darauf schließen, dass Verleger nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union originäre Inhaber des ausschließlichen Vervielfältigungsrechts und originär Anspruchsberechtigte des im Rahmen der Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG geschuldeten gerechten Ausgleichs sind.b) Einnahmen aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche wegen des Verleihens eines Werkes durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung (Bibliothekstantieme) müssen nach dem Unionsrecht gleichfalls kraft Gesetzes unbedingt den unmittelbar und originär berechtigten Urhebern zukommen.aa) Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums können die Mitgliedstaaten hinsichtlich des öffentlichen Verleihwesens Ausnahmen von dem ausschließlichen Recht nach Art. 1 dieser Richtlinie vorsehen, sofern zumindest die Urheber eine Vergütung für dieses Verleihen erhalten.bb) Danach sind die Mitgliedstaaten, die sich für die Aufnahme einer solchen Ausnahme in ihr innerstaatliches Recht entscheiden, verpflichtet, die Zahlung einer Vergütung für dieses Verleihen zumindest an die Urheber vorzusehen. Entgegen der Ansicht der Revision liegt darin, dass nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG "zumindest die Urheber" eine Vergütung für dieses Verleihen erhalten müssen, keine unionsrechtliche Grundlage für eine Beteiligung der Verleger an den Erlösen der Beklagten aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche wegen des Verleihens eines Werkes durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung. Das ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG, die auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG entsprechend anwendbar ist.Die Verleger gehören nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2006/115/EG nicht zu den Inhabern des ausschließlichen Rechts nach Art. 1 dieser Richtlinie, die Vermietung und das Verleihen zu erlauben oder zu verbieten. Sie können daher keine Vergütung aufgrund der Ausnahme gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG erhalten, wenn dadurch den Urhebern die Vergütung, auf die sie aufgrund dieser Ausnahme Anspruch haben, ganz oder teilweise entzogen wird. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG steht daher nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die es dem Mitgliedstaat gestatten, einen Teil der den Urhebern zustehenden Vergütung den Verlegern der von den Urhebern geschaffenen Werke zu gewähren, ohne dass die Verleger verpflichtet sind, die Urheber auch nur indirekt in den Genuss des ihnen vorenthaltenen Teils des Ausgleichs kommen zu lassen.Es gibt im geltenden deutschen Recht keine Regelung, die eigene Rechte oder Ansprüche der Verleger wegen des Verleihens eines Werkes durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung begründet. Der Beklagten ist es als Treuhänderin nicht gestattet, Nichtberechtigte an dem Vergütungsaufkommen zu beteiligen, das sie mit der Wahrnehmung von Rechten und Ansprüchen der Berechtigten erzielt. Selbst wenn die von der Beklagten für das Verleihen eines Werkes durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung vereinnahmte "angemessene Vergütung" im Sinne des Urheberechtsgesetzes die zumindest an die Urheber als Rechtsinhaber zu zahlende Vergütung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2006/115/EG überstiege, dürfte die Beklagte den Unterschiedsbetrag nicht Verlegern zukommen lassen, die ihr keine Rechte oder Ansprüche zur Wahrnehmung eingeräumt haben (vgl. oben Rn. 43 bis 57).c) Nichts anderes gilt in den Fällen des Art. 5 Abs. 2 Buchst. c und d und Abs. 3 Buchst. a bis o der Richtlinie 2001/29/EG, in denen es den Mitgliedstaaten, die Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf das Vervielfältigungsrecht (Art. 2 der Richtlinie 2001/29/EG) oder das Recht der öffentlichen Wiedergabe (Art. 3 der Richtlinie 2001/29/EG) schaffen, freisteht, einen gerechten Ausgleich für die Rechtsinhaber vorzusehen (vgl. Erwägungsgrund 36 der Richtlinie 2001/29/EG). Auch in diesen Fällen gibt es keine unionsrechtliche Grundlage für eine originäre Beteiligung der Verleger an den Erlösen der Beklagten aus der Wahrnehmung der entsprechenden gesetzlichen Vergütungsansprüche, da die Verleger nach Art. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG nicht zu den originären Inhabern dieser ausschließlichen Rechte gehören. Nach dem nationalen Recht ist es der Beklagten nicht gestattet, die Verleger als Nichtberechtigte an dem Vergütungsaufkommen zu beteiligen, das sie mit der Wahrnehmung der entsprechenden Rechte und Ansprüche der Berechtigten erzielt.6. Entgegen der Ansicht der Revision kann nicht angenommen werden, die Bestimmung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG fingiere ein Leistungsschutzrecht der Verleger oder einen originären Anspruch der Verleger auf pauschale Beteiligung an den Erlösen der Beklagten aus der Wahrnehmung gesetzlicher Vergütungsansprüche.a) Nach § 63a Satz 1 UrhG kann der Urheber auf gesetzliche Vergütungsansprüche nach dem sechsten Abschnitt des Urheberrechtsgesetzes (§§ 44a bis 63a UrhG) im Voraus nicht verzichten. Diese Vergütungsansprüche können nach § 63a Satz 2 UrhG im Voraus nur an eine Verwertungsgesellschaft oder zusammen mit der Einräumung des Verlagsrechts dem Verleger abgetreten werden, wenn dieser sie durch eine Verwertungsgesellschaft wahrnehmen lässt, die Rechte von Verlegern und Urhebern gemeinsam wahrnimmt.b) Es kann offenbleiben, ob die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Regelung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 UrhG auf Vorausabtretungen von Vergütungsansprüchen anwendbar ist, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Vorausabtretungen in vor dem 1. Juli 2002 geschlossenen Verlagsverträgen vereinbart und die Vergütungsansprüche seit dem 1. Juli 2002 entstanden sind (vgl. dazu Flechsig in Loewenheim, Handbuch des Urheberrechts, 2. Aufl., § 85 Rn. 20 bis 23; Schaefer in Fromm/Nordemann, Urheberrecht, 11. Aufl., § 63a UrhG Rn. 3 f.; Loewenheim in Schricker/Loewenheim aaO § 63a UrhG Rn. 11). Diese Bestimmung begründet jedenfalls keine eigenen Rechte oder Ansprüche der Verleger.c) Aus dem Wortlaut des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG folgt lediglich, dass der Urheber dem Verleger seine gesetzlichen Vergütungsansprüche unter bestimmten Voraussetzungen im Voraus abtreten kann. Von einer Begründung eigener Rechte oder Ansprüche des Verlegers ist insoweit keine Rede. Auch soweit § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG von einer Verwertungsgesellschaft spricht, die Rechte von Verlegern und Urhebern gemeinsam wahrnimmt, kann darin keine mittelbare Anerkennung originärer Rechte der Verleger gesehen werden, da mit den Rechten der Verleger von den Urhebern abgeleitete Rechte gemeint sind.d) Der Begründung des Regierungsentwurfs zur Neufassung des § 63a UrhG ist zwar zu entnehmen, dass die Verfasser des Regierungsentwurfs der Ansicht waren, die Regelung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG gewährleiste im Blick auf die verlegerische Leistung eine Beteiligung der Verleger an den Erträgen der Beklagten in Form einer pauschalen Vergütung (BT-Drucks. 16/1828, S. 32). Dazu heißt es in der Begründung:Ein Ausschluss der Verleger von der pauschalen Vergütung wäre angesichts der von ihnen erbrachten erheblichen Leistung auch sachlich nicht hinnehmbar. Dies gilt umso mehr, als den Verlegern im Gegensatz zu anderen Verwertern vom Gesetzgeber bisher keine eigenen Leistungsschutzrechte zugesprochen worden sind. Der neue Satz 2 soll gewährleisten, dass die Verleger auch in Zukunft an den Erträgen der VG Wort angemessen zu beteiligen sind.aa) Darauf kommt es jedoch schon deshalb nicht an, weil diese Erwägung im Gesetz keinen Niederschlag gefunden hat. Für die Auslegung eines Gesetzes ist der darin zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich. Nicht entscheidend ist demgegenüber die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Die vorrangig am objektiven Sinn und Zweck des Gesetzes zu orientierende Auslegung kann nicht durch Motive gebunden werden, die im Gesetzgebungsverfahren dargelegt wurden, im Gesetzeswortlaut aber keinen Ausdruck gefunden haben (vgl. BGH, Beschluss vom 19. April 2012 - I ZB 80/11, GRUR 2012, 1026 Rn. 30 = WRP 2012, 1250 - Alles kann besser werden, mwN; Beschluss vom 5. Dezember 2012 - I ZB 48/12, GRUR 2013, 536 Rn. 21 = WRP 2013, 628 - Die Heiligtümer des Todes).bb) Darüber hinaus widerspräche es dem Unionsrecht, wenn die Bestimmung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG dahin ausgelegt würde, dass sie einen originären Anspruch der Verleger auf pauschale Beteiligung an den Erlösen der Beklagten aus der Wahrnehmung gesetzlicher Vergütungsansprüche begründet (vgl. oben Rn. 43 bis 57).7. Ein Anspruch der Verleger auf pauschale Beteiligung an den Einnahmen der Beklagten folgt auch nicht daraus, dass die Verleger Inhaber des ihnen von den Wortautoren eingeräumten Verlagsrechts - also des ausschließlichen Rechts zur Vervielfältigung und Verbreitung des Sprachwerks (vgl. § 8 VerlG) - sind.a) Die von der Beklagten erzielten Erlöse beruhen nicht auf einer Verwertung des den Verlegern von den Wortautoren eingeräumten ausschließlichen Rechts zur Vervielfältigung und Verbreitung ihrer Sprachwerke. Die Verleger nutzen das ihnen von den Wortautoren verschaffte Verlagsrecht selbst zur Erzielung von Einnahmen und räumen es nicht der Beklagten zur Wahrnehmung ein.b) Den Verlegern steht allein aufgrund ihres Verlagsrechts kein Anspruch auf Beteiligung an gesetzlichen Vergütungsansprüchen zu, den sie der Beklagten zur Wahrnehmung einräumen könnten. Zwar kann der Verleger nach § 9 Abs. 2 VerlG, soweit der Schutz des Verlagsrechts es erfordert, gegen den Verfasser sowie gegen Dritte die Befugnisse ausüben, die zum Schutze des Urheberrechts durch das Gesetz vorgesehen sind. Das aus dem Verlagsrecht folgende Abwehrrecht des Verlegers ist seinem Umfang nach daher nicht durch das dem Verleger eingeräumte Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes begrenzt (vgl. BGH, Urteil vom 9. Februar 1960 - I ZR 142/58, GRUR 1960, 636, 637 f. = Kommentar). Daraus folgt entgegen der Ansicht der Streithelferin jedoch nicht, dass dem Verleger aufgrund des Verlagsrechts ein eigenes Recht auf anteilige Beteiligung an den Erlösen aus gesetzlichen Vergütungsansprüchen zukommt.c) Die Streithelferin macht ohne Erfolg geltend, es sei mit Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) unvereinbar, dass Verlage, denen der Urheber das ausschließliche Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung eingeräumt hat und für die in der Satzung einer Verwertungsgesellschaft eine Beteiligung am Erlösaufkommen vorgesehen ist, von einer Beteiligung an den Erlösen der Verwertungsgesellschaft ausgeschlossen sind. Es kann offenbleiben, inwieweit das dem Verleger vom Urheber eingeräumte Verlagsrecht als (abgeleitetes) ausschließliches Immaterialgüterrecht dem Schutzbereich des Eigentumsrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 17 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta unterfällt (zu vertraglich erworbenen exklusiven Fernsehübertragungsrechten vgl. EuGH, Urteil vom 22. Januar 2013 - C-283/11, GRUR Int. 2013, 288 Rn. 31 bis 40 - Sky/ORF).Das dem Verleger vom Urheber eingeräumte ausschließliche Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung des Werkes ist von vornherein durch die gesetzlichen Schranken des Urheberrechts dinglich beschränkt. Es kann daher durch eine nach den Schrankenbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes zulässige Nutzung des Werkes nicht beeinträchtigt werden. Die von der Streithelferin aufgeworfene Frage, ob es mit Art. 17 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist, dass Verlage, denen der Urheber das ausschließliche Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung eingeräumt hat, von einer Beteiligung an den Erlösen einer Verwertungsgesellschaft ausgeschlossen sind, die der Gewährung eines gerechten Ausgleichs im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG dienen, ist danach zweifellos zu bejahen und muss dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt werden.8. Die Verleger können von der Beklagten allerdings aufgrund von zwischen den Verlegern und der Beklagten abgeschlossenen Wahrnehmungsverträgen beanspruchen, mit einem Anteil an ihren Einnahmen beteiligt zu werden, der den Erlösen entspricht, die sie durch die Wahrnehmung von gesetzlichen Vergütungsansprüchen erzielt, die die Wortautoren den Verlegern nach der Entstehung dieser Ansprüche abgetreten und die Verleger der Beklagten eingeräumt haben. Es ist jedoch weder festgestellt noch sonst ersichtlich, dass die Verleger der Beklagten solche Vergütungsansprüche in einem Umfang zur Wahrnehmung übertragen haben, der es rechtfertigt, die Verleger in Höhe des in den Verteilungsplänen vorgesehenen Verlagsanteils an den Einnahmen der Beklagten zu beteiligen.a) Die Verleger können eine Beteiligung an den Einnahmen der Beklagten allein im Hinblick auf die Einnahmen aus der Geltendmachung von gesetzlichen Vergütungsansprüchen beanspruchen, die ihnen die Wortautoren im Nachhinein - also nach dem Entstehen dieser Ansprüche - abgetreten haben und die sie ihrerseits der Beklagten zur Wahrnehmung übertragen haben.aa) Zwar lässt § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG es zu, dass der Urheber dem Verleger im Voraus seine gesetzlichen Vergütungsansprüche zusammen mit der Einräumung des Verlagsrechts abtritt, wenn dieser sie durch eine Verwertungsgesellschaft wahrnehmen lässt, die Rechte von Verlegern und Urhebern gemeinsam wahrnimmt. Diese Bestimmung ist jedoch im Blick auf Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG richtlinienkonform einschränkend dahin auszulegen, dass sie allein den Fall erfasst, in dem der Verleger die ihm vom Urheber im Voraus abgetretenen Vergütungsansprüche im Interesse des Urhebers von der Verwertungsgesellschaft wahrnehmen lässt.(1) Die Regelung des Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG verlangt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass der Urheber die Vergütung für Vervielfältigungen seiner Werke im Wege der Reprographie und zu Zwecken des Privatgebrauchs kraft Gesetzes unbedingt erhält. Die Mitgliedstaaten dürfen daher weder Rechtsvorschriften schaffen, wonach die Rechtsinhaber auf ihren Anspruch auf gerechten Ausgleich verzichten können, noch eine unwiderlegbare oder abdingbare Vermutung der Abtretung der den Rechtsinhabern zustehenden Vergütungsansprüche an Dritte aufstellen (vgl. oben Rn. 43 bis 57). Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten keine Regelung schaffen dürfen, die es zulässt, dass der Urheber dem Verleger seine gesetzlichen Vergütungsansprüche im Voraus abtritt, wenn dieser sie nicht allein im Interesse des Urhebers, sondern auch oder allein in seinem eigenen Interesse durch eine Verwertungsgesellschaft wahrnehmen lässt (vgl. Flechsig, MMR 2012, 293, 299; ders., ZUM 2012, 855, 865; aA Walter, MuR 2012, 29, 32 f.). Eine solche Vorausabtretung des Vergütungsanspruchs an den Verleger liefe im Ergebnis auf einen Verzicht des Urhebers auf seinen Vergütungsanspruch hinaus.(2) Die von der Streithelferin aufgeworfene Frage, ob Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG auch anwendbar ist, wenn die Verteilung der Vergütungsaufkommen für Reprographie und Privatkopien im Rahmen eines Verlagsvertrags oder einer privatautonomen Beschlussfassung zwischen Urhebern und Verlegern festgelegt ist, ist auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Hinblick auf die Auslegung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG zweifellos zu bejahen. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG erfordert eine Auslegung des § 63a Satz 2 Fall 2 UrhG, wonach Urheber und Verleger keine Vorausabtretung von Vergütungsansprüchen zu Gunsten des Verlegers vereinbaren können.(3) Die Revision und die Streithelferin machen vergeblich geltend, die Abtretung gesetzlicher Vergütungsansprüche sei von der Abtretung der Ansprüche des Urhebers gegen die Verwertungsgesellschaft auf Herausgabe des Erlöses aus der Durchsetzung dieser gesetzlichen Vergütungsansprüche zu unterscheiden. Der Anspruch auf Herausgabe des Erlöses sei abtretbar. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Urheber die Rechte, die ihm aufgrund des mit einer Verwertungsgesellschaft geschlossenen Wahrnehmungsvertrages zustehen, an einen Dritten abtritt (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 1963 - Ib ZR 75/62, GRUR 1964, 326, 332 - Subverleger). Entgegen der Ansicht der Revision und der Streithelferin kann aber nicht angenommen werden, die Parteien hätten im Wahrnehmungsvertrag eine Vorausabtretung des Erlösbeteiligungsanspruchs zugunsten der Verleger im Umfang ihrer nach Satzung und Verteilungsplan vorgesehenen Beteiligung vereinbart. Der Wortlaut des Wahrnehmungsvertrags bietet keinen Anhaltspunkt für die Annahme einer solchen Vorausabtretung. Eine entsprechende Auslegung des Wahrnehmungsvertrags verbietet sich auch deshalb, weil sie im Ergebnis auf eine unzulässige Vorausabtretung von Vergütungsansprüchen hinausliefe und dazu führte, dass der Urheber die Vergütung für Vervielfältigungen seiner Werke im Wege der Reprographie und zu Zwecken des Privatgebrauchs entgegen den Vorgaben des Unionsrechts nicht unbedingt erhielte.bb) Auch im Nachhinein kann der Urheber dem Verleger seine gesetzlichen Vergütungsansprüche nur wirksam abtreten, wenn er sie nicht bereits zuvor an einen Dritten abgetreten hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Urheber einer Verwertungsgesellschaft seine gesetzlichen Vergütungsansprüche nach § 63a Satz 2 Fall 1 UrhG auch im Voraus abtreten kann (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2008 - I ZR 49/06, GRUR 2009, 939 Rn. 29 = WRP 2009, 1008 - Mambo No. 5).b) Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Verleger der Beklagten ihnen von den Urhebern im Nachhinein wirksam abgetretene gesetzliche Vergütungsansprüche in einem Umfang übertragen haben, der die in den Verteilungsplänen vorgesehene Verlagsbeteiligung in Höhe von regelmäßig der Hälfte der Verteilungssumme rechtfertigt. Es kommt nicht darauf an, ob und inwieweit der Kläger seine gesetzlichen Vergütungsansprüche den Verlegern seiner Werke und insbesondere der Streithelferin im Nachhinein wirksam abgetreten hat und diese die Ansprüche ihrerseits der Beklagten zur Wahrnehmung übertragen haben. Die Frage, ob und inwieweit den Verlegern der Werke des Klägers aufgrund nachträglich abgetretener Vergütungsansprüche ein bestimmter Erlösanteil zusteht und der Erlösanteil des Klägers entsprechend zu kürzen ist, ist nicht Gegenstand des Feststellungsantrags. Der Feststellungsantrag betrifft allein die - zu bejahende - Frage, ob die Beklagte nicht berechtigt war und ist, den im Verteilungsplan vorgesehenen pauschalen Verlagsanteil bei der Berechnung des auf die verlegten Werke des Klägers entfallenden und an ihn auszuzahlenden Erlösanteils außer Acht zu lassen. Es ist keine Voraussetzung, sondern eine Rechtsfolge der Begründetheit des Feststellungsantrags, dass die Beklagte von der Streithelferin im Hinblick auf Werke des Klägers grundsätzlich die Rückzahlung überzahlter Beträge wegen ungerechtfertigter Bereicherung verlangen kann.9. Ein Anspruch der Verleger auf pauschale Beteiligung an den Erträgen der Beklagten aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche für Vervielfältigungen zum Privatgebrauch kann entgegen der Ansicht der Revision nicht auf Gewohnheitsrecht gestützt werden.Die Entstehung von Gewohnheitsrecht erfordert eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine tatsächliche Übung, die von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird. Notwendig ist mithin die Überzeugung der beteiligten Verkehrskreise, durch die Einhaltung der Übung bestehendes Recht zu befolgen (vgl. BGH, Urteil vom 19. März 2013 - VI ZR 56/12, BGHZ 197, 1 Rn. 29; Beschluss vom 4. September 2013 - XII ZB 526/12, NJW 2014, 387 Rn. 16, jeweils mwN). Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die beteiligten Verkehrskreise - also nicht nur die Beklagte und die Verleger, sondern auch die Urheber - im hier in Rede stehenden Zeitraum davon überzeugt waren, dass die pauschale Beteiligung der Verleger an den Einnahmen der Beklagten bestehendem Recht entspricht. Es kann offenbleiben, ob das von der Revision als übergangen gerügte Vorbringen der Beklagten die Annahme einer solchen Überzeugung rechtfertigen könnte.Da Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle gleichwertig neben dem Gesetzesrecht steht, ist der Gesetzgeber - wie beim Gesetzesrecht - ohne weiteres befugt, Gewohnheitsrecht durch die Schaffung einer abweichenden Regelung außer Kraft zu setzen (BGH, NJW 2014, 387 Rn. 17 mwN). Eine auf Gewohnheitsrecht beruhende Beteiligung der Verleger an den Einnahmen der Beklagten aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche für Vervielfältigungen im Wege der Reprographie und zum Zwecke des Privatgebrauchs wäre jedenfalls durch die Regelungen des Art. 5 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/29/EG außer Kraft gesetzt worden, die gemäß Art. 10 der Richtlinie 2001/29/EG seit dem 22. Dezember 2002 anwendbar sind (zur zeitlichen Anwendbarkeit vgl. EuGH, GRUR 2013, 812 Rn. 24 bis 29 - VG Wort/ Kyocera u.a). Jedenfalls seit diesem Zeitpunkt müssen die Einnahmen der Beklagten aus der Wahrnehmung der gesetzlichen Vergütungsansprüche für derartige Vervielfältigungen kraft Gesetzes unbedingt den Wortautoren zukommen (vgl. oben Rn. 43 bis 57).10. Der Kläger ist entgegen der Ansicht der Revision nicht deshalb an die Bestimmungen von § 3 Abs. 1 bis 3 des Verteilungsplans 2011 und § 3 Abs. 2 Buchst. b des Verteilungsplans 2012 gebunden, weil er Mitglied der Beklagten ist und die Verteilungspläne in der Mitgliederversammlung beschlossen worden sind. Der Kläger kann von der Beklagten aufgrund des zwischen den Parteien geschlossenen Wahrnehmungsvertrags beanspruchen, mit einem Anteil an ihren Einnahmen beteiligt zu werden, der den Erlösen entspricht, die sie durch die Auswertung seiner Rechte erzielt hat. Die rechtlichen Wirkungen des Wahrnehmungsvertrags ergeben sich - ungeachtet der bei ordentlichen Mitgliedern durch das Vereinsrecht gewährten Möglichkeit der Einflussnahme auf dessen Gestaltung - allein aus dem Wahrnehmungsvertrag (vgl. BGH, GRUR 2013, 375 Rn. 15 - Missbrauch des Verteilungsplans, mwN).11. Der Feststellungsantrag ist auch hinsichtlich des Ausschüttungsjahres 2013 begründet. Soweit es im Berufungsurteil heißt, die Feststellungsklage sei insoweit unbegründet, handelt es sich um eine offenbare Unrichtigkeit. Das Berufungsgericht hat ausdrücklich ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf Feststellung, dass die Beklagte auch im Ausschüttungsjahr 2013 nicht berechtigt sei, den auf verlegte Werke des Klägers entfallenden Vergütungsanteil unter Berücksichtigung der im Urteilstenor zu I a und I b genannten Abzüge - mit Ausnahme der Ausschüttungen an die Deutsche Physikalische Gesellschaft - zu berechnen. Im Urteilstenor zu I a sind der Abzug des Verlegeranteils und das Ausschüttungsjahr 2013 ausdrücklich genannt. Die gegen die vermeintliche Teilabweisung des Feststellungsantrags hinsichtlich des Ausschüttungsjahres 2013 gerichteten Angriffe der Anschlussrevision gehen daher ins Leere.II. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass die Beklagte seit dem Jahr 2008 nicht berechtigt war und ist, den auf die Nutzung der verlegten Werke des Klägers entfallenden Anteil am Ertrag gemäß § 12 des Verteilungsplans 2011 und § 46 des Verteilungsplans 2012 unter Berücksichtigung des Abzugs von Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker zu berechnen (Urteilstenor zu I b); es hat ferner ohne Rechtsfehler angenommen, es könne nicht festgestellt werden, dass die Ausschüttungen an die Deutsche Physikalische Gesellschaft bei dieser Berechnung zu Unrecht abgezogen worden seien.1. Nach § 1 Abs. 3 des Verteilungsplans 2011 sind für Urheber, die noch keinen Wahrnehmungsvertrag abgeschlossen haben, Rückstellungen zu bilden. Gemäß § 12 Abs. 1 des Verteilungsplans 2011 werden die für noch nicht wahrnehmungsberechtigte Urheber zurückgestellten Mittel nach Ablauf von vier Jahren ab dem Jahr, für das Rückstellungen gebildet wurden, an diejenigen Urheberorganisationen ausgeschüttet, denen Berechtigte ihre Ansprüche übertragen haben und welche die Beklagte entsprechend freistellen. Nach § 12 Abs. 2 des Verteilungsplans 2011 sind der Deutsche Hochschulverband, die Gesellschaft Deutscher Chemiker und die Deutsche Physikalische Gesellschaft als Organisationen anerkannt. Der Verteilungsplan 2012 enthält in § 2 Abs. 2 und § 46 Abs. 1 und 2 entsprechende Regelungen.2. Die gemäß § 3 des Wahrnehmungsvertrags in diesen Vertrag einbezogenen Bestimmungen in § 12 des Verteilungsplans 2011 und § 46 des Verteilungsplans 2012 sind nicht nach § 307 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam. Sie verstoßen nicht gegen wesentliche Grundgedanken gesetzlicher Regelungen. Die Beklagte muss die aus der Wahrnehmung von Rechten und Ansprüchen erzielten Erträge nach dem Grundgedanken des § 7 Satz 1 UrhWG zwar an die Inhaber dieser Rechte und Ansprüche ausschütten. Eine Ausschüttung der für noch nicht wahrnehmungsberechtigte Urheber zurückgestellten Mittel an eine Urheberorganisation setzt jedoch nach § 12 Abs. 1 des Verteilungsplans 2011 und § 46 Abs. 1 des Verteilungsplans 2012 voraus, dass die Berechtigten ihre Ansprüche der Urheberorganisation übertragen haben. Eine Ausschüttung an Urheberorganisationen ist danach nur zulässig, wenn diese Inhaber der von den Berechtigten abgeleiteten Ansprüche sind.3. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die Ausschüttungen an den Kläger seit dem Jahr 2008 unter Abzug von Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker zu berechnen. Diesen Organisationen seien von ihren Mitgliedern keine entstandenen Vergütungsansprüche in Bezug auf bestimmte Werke abgetreten worden.a) Die Revision macht ohne Erfolg geltend, das Berufungsgericht habe sich damit, dass es die Beteiligung dieser Organisationen an einer angeblich fehlenden Abtretung der Mitglieder zugunsten der Verbände habe scheitern lassen, über das Vorbringen der Parteien hinweggesetzt. Die Parteien hätten übereinstimmend vorgetragen, dass die Satzung des Deutschen Hochschulverbandes den Rechtsübergang vorsehe. Die Beklagte habe darüber hinaus vorgetragen, dass sich in der Satzung der Gesellschaft Deutscher Chemiker eine vergleichbare Regelung finde.Das Berufungsgericht hat den Übergang der Ansprüche auf die Verbände entgegen der Ansicht der Revision nicht an der fehlenden Abtretung durch die Mitglieder der Verbände, sondern an der fehlenden Wirksamkeit einer solchen Abtretung scheitern lassen. Diese Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Gesetzliche Vergütungsansprüche können gemäß § 63a Satz 2 UrhG im Voraus nur an eine Verwertungsgesellschaft oder - unter bestimmten Voraussetzungen - dem Verleger abgetreten werden. Eine Vorausabtretung von Vergütungsansprüchen an Urheberorganisationen ist danach unzulässig. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts haben die Mitglieder des Deutschen Hochschulverbandes und der Gesellschaft Deutscher Chemiker diesen Verbänden keine bereits entstandenen Vergütungsansprüche abgetreten. Eine Vorausabtretung künftiger Vergütungsansprüche war unwirksam.b) Die Beklagte ist auch im Ausschüttungsjahr 2013 nicht berechtigt, den auf verlegte Werke des Klägers entfallenden Vergütungsanteil unter Berücksichtigung des Abzugs von Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker zu berechnen. Soweit es im Berufungsurteil auch insoweit heißt, die Feststellungsklage sei unbegründet, handelt es sich wiederum um eine offenbare Unrichtigkeit (vgl. oben Rn. 88). Aus den Urteilsgründen und dem Urteilstenor zu I b geht eindeutig hervor, dass das Berufungsgericht den Feststellungsantrag insoweit als begründet erachtet und ihm stattgegeben hat. Die gegen die vermeintliche Teilabweisung des Feststellungsantrags hinsichtlich des Ausschüttungsjahres 2013 gerichteten Angriffe der Anschlussrevision gehen daher auch insoweit ins Leere.4. Das Berufungsgericht hat angenommen, die an die Deutsche Physikalische Gesellschaft vorgenommenen Ausschüttungen seien nicht zu beanstanden. 218 Mitglieder der Gesellschaft hätten ihre aufgrund veröffentlichter Beiträge dem Grunde nach entstandenen Vergütungsansprüche zum Zwecke ihrer Geltendmachung gegenüber der Beklagten an die Gesellschaft abgetreten. Die anschließende Ausschüttung durch die Beklagte an die Gesellschaft sei auf der Grundlage geprüfter Abtretungserklärungen erfolgt.a) Die Anschlussrevision rügt ohne Erfolg, das Berufungsgericht sei damit einseitig dem Vortrag der Beklagten gefolgt und habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger deren Vorbringen zur Abtretung der Ansprüche bestritten habe. Das Berufungsgericht hat das Vorbringen der Beklagten nicht einseitig zugrunde gelegt, sondern dieses durch das Schreiben des Deutschen Patent- und Markenamtes vom 10. Dezember 2010 als erwiesen angesehen. Bei diesem Schreiben handelt es sich um die amtliche Auskunft einer Behörde, die das Berufungsgericht grundsätzlich als Beweismittel verwerten durfte (§ 273 Abs. 2 Nr. 2, § 358a Satz 2 Nr. 2 ZPO). Im Hinblick auf die Vielzahl der Berechtigten, die Ansprüche an Urheberorganisationen abtreten, sind an den Nachweis der Abtretung auch im gerichtlichen Verfahren keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Der Kläger hat keine konkreten Anhaltspunkte dargelegt, die gegen die Richtigkeit der erteilten Auskunft sprechen.b) Das sich aus § 63a Satz 2 UrhG ergebende Verbot von Vorausabtretungen steht, anders als die Anschlussrevision meint, einer Wirksamkeit der Abtretungen nicht entgegen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts haben die Mitglieder der Deutschen Physikalischen Gesellschaft dieser keine künftigen, sondern bereits entstandene Vergütungsansprüche abgetreten.c) Die Anschlussrevision wendet vergeblich ein, die Mitglieder der Deutschen Physikalischen Gesellschaft hätten gegen die Beklagte keine Vergütungsansprüche gehabt. Es sei nicht festgestellt, dass sie ihre Rechte bei der Beklagten eingebracht hätten; vielmehr sei festgestellt, dass sie ihre Ansprüche in individuellen Abtretungserklärungen an die Deutsche Physikalische Gesellschaft abgetreten hätten.Der Umstand, dass die Mitglieder der Deutschen Physikalischen Gesellschaft mit der Beklagten keine Wahrnehmungsverträge geschlossen und gegenüber der Beklagten keine Einzelmeldungen abgegeben haben, steht der Feststellung des Berufungsgerichts nicht entgegen, dass den Mitgliedern gegen die Beklagte dem Grunde nach Ausschüttungsansprüche hinsichtlich ihrer veröffentlichten Werke zustanden, die sie an die Gesellschaft abgetreten haben. Soweit die Verwertungsgesellschaft die - hier in Rede stehenden - gesetzlichen Vergütungsansprüche für das Vervielfältigen eines Werkes zum privaten Gebrauch (§ 54 Abs. 1, § 54c Abs. 1 UrhG) oder das Verleihen eines Werkes durch eine der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung (§ 27 Abs. 2 UrhG) geltend macht und dabei Zahlungen auch für Berechtigte erhält, deren Rechte sie nicht wahrnimmt, hat sie den zur Zahlung Verpflichteten gemäß § 13c Abs. 2 Satz 3 UrhWG von den Vergütungsansprüchen dieser Berechtigten freizustellen. Die Berechtigten können von der Verwertungsgesellschaft in einem solchen Fall nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 BGB die Ausschüttung der vereinnahmten Vergütung beanspruchen. Diesen mit der Vereinnahmung der Vergütung entstandenen Anspruch gegen die Verwertungsgesellschaft können die Berechtigten an Dritte abtreten.d) Die Anschlussrevision macht ohne Erfolg geltend, das Berufungsgericht habe nicht festgestellt, dass die Deutsche Physikalische Gesellschaft der Beklagten konkrete Werke ihrer Mitglieder gemeldet habe. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts lagen den Ausschüttungen der Beklagten an die Deutsche Physikalische Gesellschaft von der Beklagten überprüfte individuelle Abtretungserklärungen der Mitglieder zu Grunde.III. Der mit der Klage geltend gemachte Auskunftsantrag ist nur insoweit begründet, als der Kläger damit Auskunft über die Beträge verlangt, die die Beklagte bei der Berechnung seines Erlösanteils von den in den Geschäftsjahren 2008 bis 2011 erzielten Einnahmen als Verlagsanteil und wegen Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker abgezogen hat (Urteilstenor zu II). Soweit der Kläger damit Auskunft über Beträge begehrt, die die Beklagte bei der Berechnung seines - im Jahr 2013 auszuschüttenden - Erlösanteils von den im Geschäftsjahr 2012 erzielten Einnahmen abgezogen hat, ist der Antrag dagegen unbegründet.1. Der Kläger kann von der Beklagten nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) Auskunft über die Beträge verlangen, die sie bei der Berechnung seines Erlösanteils von den in den Geschäftsjahren 2008 bis 2011 erzielten Einnahmen als Verlagsanteil und wegen Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker abgezogen hat. Der Kläger kann von der Beklagten aufgrund des zwischen den Parteien geschlossenen Wahrnehmungsvertrages verlangen, dass diese die auf seine verlegten Werke entfallenden und an ihn auszuzahlenden Vergütungsanteile berechnet, ohne diese Beträge von der Verteilungssumme abzuziehen. Er kann 1 von ihr daher nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) Auskunftserteilung über diese Beträge verlangen, soweit er in entschuldbarer Weise über deren Höhe im Unklaren ist und sie unschwer Aufklärung geben kann (zum Auskunftsanspruch zur Vorbereitung der Berechnung eines Schadensersatzanspruchs vgl. BGH, Urteil vom 24. September 2014 - I ZR 35/11, GRUR 2015, 264 Rn. 28 = WRP 2015, 347 - Hi Hotel II, mwN).2. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, dass der vom Kläger erhobene Auskunftsanspruch für die Geschäftsjahre 2008 bis 2011 bezüglich des Verlagsanteils und der Ausschüttungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker begründet ist. Die Beklagte hat bei der Berechnung des auf den Kläger entfallenden Anteils an der in den Geschäftsjahren 2008 bis 2011 erzielten Verteilungssumme zu Unrecht den pauschalen Verlagsanteil und die Zahlungen an den Deutschen Hochschulverband und die Gesellschaft Deutscher Chemiker von der Verteilungssumme abgezogen. Diese Beträge sind daher bei einer Neuberechnung des dem Kläger zustehenden Vergütungsanteils der Verteilungssumme wieder hinzuzurechnen. Die Beklagte macht ohne Erfolg geltend, sie könne die begehrte Auskunft über diese Beträge nicht erteilen.a) Für die Auskunftserteilung über den Verlagsanteil kommt es entgegen der Ansicht der Revision nicht darauf an, ob die Verleger der Werke des Klägers bekannt sind oder die Verteilung an die Verleger nach anderen Grundsätzen erfolgt als die Verteilung an die Autoren. Der Kläger begehrt Auskunft über den Gesamtbetrag des an die Verleger für die jeweiligen Geschäftsjahre ausgeschütteten Verlagsanteils, den die Beklagte bei der Berechnung seines Vergütungsanteils zu Unrecht außer Ansatz gelassen hat. Für die Erteilung dieser Auskunft ist es unerheblich, wie der auf die Verleger insgesamt entfallende Verlagsanteil an die einzelnen Verleger oder die Verleger der Werke des Klägers verteilt worden ist. 1 b) Die Revision wendet vergeblich ein, die vom Kläger erstrebte Auskunft über "von dem Erlösanteil des Klägers" in Abzug gebrachte Zahlungen an Urheberorganisationen könne nicht erteilt werden, weil keine Zahlungen an Urheberorganisationen von dem Erlösanteil des Klägers abgezogen worden seien. Der Kläger erstrebt mit seinem Antrag ersichtlich Auskunft über die von der Beklagten bei der Berechnung seines Erlösanteils von der Verteilungssumme abgezogenen Zahlungen an Urheberorganisationen. Diese Beträge kann die Beklagte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ermitteln.3. Das Berufungsgericht hat den Auskunftsantrag ohne Rechtsfehler als unbegründet erachtet, soweit der Kläger damit Auskunft über Beträge begehrt, die die Beklagte bei der Berechnung seines - im Jahr 2013 auszuschüttenden - Erlösanteils von den im Geschäftsjahr 2012 erzielten Einnahmen abgezogen hat. Die Erteilung einer Auskunft über Ausschüttungen ist nur möglich, wenn solche Ausschüttungen bereits erfolgt sind. Die Ausschüttung für das Geschäftsjahr 2012 war zum maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht noch nicht erfolgt. Soweit der Kläger geltend macht, die Ausschüttung sei mittlerweile vorgenommen worden, handelt es sich um neuen Sachvortrag, der in der Revisionsinstanz unzulässig ist (§ 559 Abs. 1 ZPO).D. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 21 = NJW 1983, 1257 - C.I.L.F.I.T.). Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung des Unionsrechts, die nicht bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt ist oder nicht zweifelsfrei zu beantworten ist (vgl. insbesondere Rn. 48, 52, 54, 75 und 80).E. Danach sind die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision des Klägers zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 ZPO.Büscher Schaffert Koch Löffler Schwonke Vorinstanzen:LG München I, Entscheidung vom 24.05.2012 - 7 O 28640/11 -OLG München, Entscheidung vom 17.10.2013 - 6 U 2492/12 - 1
bundesgerichtshof
bgh_62-2003
20.05.2003
5. Strafsenat: Freispruch eines Hamburger Zivildienstleistenden aufgehoben Ausgabejahr 2003 Erscheinungsdatum 20.05.2003 Nr. 62/2003 Das Landgericht Hamburg hatte den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen, einen von ihm im Rahmen seines Zivildienstes betreuten Schwerstbehinderten vorsätzlich getötet zu haben. Nach den Feststellungen des Landgerichts war dem Angeklagten übergangsweise die Tagesbetreuung eines in einem Wohnheim lebenden 28-jährigen Schwerstbehinderten übertragen. Dieser litt an stark ausgeprägter progressiver Muskeldystrophie, war infolge seiner Krankheit nahezu vollständig bewegungsunfähig und in seiner Atmungskapazität stark eingeschränkt; in intellektueller Hinsicht war er jedoch nicht beeinträchtigt. In den Mittagsstunden des 22. Februar 2001 bat er den Angeklagten – ähnliche extreme Vorstellungen hatte er schon Dritten gegenüber geäußert –, in zwei Müllsäcke verpackt und in einen Müllcontainer gelegt zu werden. Auf mehrfaches Nachfragen versicherte ihm der Schwerstbehinderte, es sei dafür Vorsorge getroffen worden, daß andere ihn wieder aus dem Container herausholen würden. Der Angeklagte erklärte sich schließlich zur Mitwirkung bereit. Er verpackte den Patienten nackt in Mülltüten mit einer Öffnung für den Kopf, verklebte fast vollständig dessen Mund und legte ihn bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einen Müllcontainer der Pflegeeinrichtung. Der Angeklagte verließ das Heim im Glauben an die Zusicherung des Schwerstbehinderten, er werde am Nachmittag aus dem Behälter geborgen, was jedoch nicht geschah. Der Patient starb vielmehr infolge Erstickung. Der Leichnam wurde erst am nächsten Tag gefunden. Obwohl der Angeklagte eigenhändig die zum Tode führende Gefährdungshandlung vollzogen habe, liege – so das Landgericht – nach den anzuwendenden Grundsätzen einer Risikoübernahme keine strafbare Tötungshandlung vor. Die dagegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg. Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofs folgte in seinem Urteil vom heutigen Tage der Wertung des Landgerichts nicht. Vielmehr begründe eine eigenhändige Vornahme der zum Tode führenden Handlung grundsätzlich – und auch hier – die Tatherrschaft. Dies schließe eine bloße Förderung einer Selbstgefährdung und damit eine straflose Teilnahme an einem Suizid aus. Zwar habe der Schwerstbehinderte den Angeklagten darüber getäuscht, daß gleiche Gefährdungen bereits folgenlos praktiziert worden seien und auch diesmal für Rettung gesorgt sei. Diese Täuschungen würden aber nicht die konkreten Umstände der extrem lebensgefährdenden, vom Angeklagten bewußt vorgenommenen Handlungen betreffen und könnten deshalb ein seine Täterschaft in Frage stellendes Handeln als ein durch Täuschung des Suizidenten gelenktes Werkzeug nicht begründen. Auch die tragischen Lebensumstände des Schwerstbehinderten, die es ihm weitgehend versagt hätten, ohne strafrechtliche Verwicklung Dritter aus dem Leben zu scheiden, könnten – auch unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen – die Straflosigkeit nicht begründen. Der Angeklagte habe insbesondere nicht in einer Konfliktsituation eines den Sterbewillen seines Patienten respektierenden Arztes oder unter den Voraussetzungen einer indirekten Sterbehilfe straflos gehandelt. Nach Zurückverweisung wird eine andere Jugendkammer des Landgerichts Hamburg über den Fall erneut befinden. Urteil vom 20. Mai 2003 - 5 StR 66/03 Karlsruhe, den 20. Mai 2003 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des 5. Strafsenats vom 20.5.2003 - 5 StR 66/03 - Beschluss des 5. Strafsenats vom 20.5.2003 - 5 StR 66/03 -
Tenor Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 10. Oktober 2002 mit den Feststellungen aufgehoben.Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.- Von Rechts wegen - Gründe Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen, einen Schwerstbehinderten getötet zu haben, den er als Zivildienstleistender betreut hatte. Die dagegen mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.I.Die Jugendkammer hat festgestellt:Der 20 Jahre alte Angeklagte übernahm als Zivildienstleistender am 13. Februar 2001 ohne besondere Vorbereitung für die Dauer von zwei Wochen in der Z in Hamburg die Tagesbetreuung (10.00 bis 16.30 Uhr) des 28 Jahre alten S . Dieser litt an stark ausgeprägter progressiver Muskeldystrophie vom Typus Duchenne und vermochte neben einzelnen Fingern - diese aber ohne Kraft - nur noch Mund und Zunge zu bewegen. Seine Arme und Beine waren in Beugestellung fixiert. Deformationen des Brustkorbes und der Wirbelsäule und eine starke Reduzierung der Atemmuskulatur ließen nur noch eine Atmungskapazität von zehn Prozent eines Gesunden zu. Der Ausstoß von Kohlendioxyd wurde durch ein zeitweise an die Nase angeschlossenes Beatmungsgerät gefördert.S verfügte über einen herausragenden Intellekt. Er konnte seine Vorstellungen genau artikulieren und dank seiner guten Menschenkenntnis einschätzen, an welche der Pflegekräfte er sich zu wenden hatte, um auch ausgefallene Wünsche zu verwirklichen. Schon im Dezember 1999 hatte er in einem elektronischen Brief einer ihm nahe stehenden Pflegehilfe eine Selbsttötungsphantasie mitgeteilt. Er hatte geschildert, dadurch sexuell erregt zu werden, daß er in zwei miteinander verklebten Müllsäcken verpackt mit zugeklebtem Mund in einen Behälter geworfen würde, um sodann - mit weiteren Müllsäcken bedeckt - anschließend durch die Müllabfuhr in die Verbrennungsanlage gebracht und dort verbrannt zu werden.Er griff im Februar 2001 diese Gedanken auf und wollte sie mit Hilfe des Angeklagten verwirklichen. Zunächst hatte er diesen gebeten, ihm statt einer Hose eine Plastiktüte über den Unterleib bis zur Hüfte zu ziehen. Nachdem er dem Angeklagten erläutert hatte, gern Plastik auf der Haut zu spüren, kam der Angeklagte diesem Verlangen nach. Am 22. Februar 2001 gegen 12.15 Uhr äußerte S den Wunsch, ihn in Müllsäcke verpackt in einen Müllcontainer zu legen. Auf Nachfragen des Angeklagten versicherte er, dies schon öfter gemacht zu haben, und daß seine Bergung aus dem Container am Nachmittag sicher sei. Der Angeklagte erfüllte in dem Bestreben, dem ihm anvertrauten Schwerstbehinderten so gut wie möglich zu helfen, alle bestimmt vorgebrachten Anweisungen, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Er packte S nackt in zwei Müllsäcke, schnitt eine Öffnung für den Kopf in den oberen Müllsack und verklebte beide Säcke. Bis auf eine kleine Öffnung verschloß er ferner - auf besonderen Wunsch S - dessen Mund mit Klebeband und legte ihn bei Außentemperaturen um den Gefrierpunkt in einen teilweise gefüllten Container. Weisungsgemäß stellte der Angeklagte den Rollstuhl in den Abstellraum, räumte die Wohnung auf und verließ die Pflegeeinrichtung durch einen Seiteneingang. Diese Maßnahmen hatte S angeordnet, um eine gegenüber anderen Pflegekräften wahrheitswidrig mitgeteilte Abwesenheit zu belegen. Eine deshalb erst am Abend erfolgte Suche nach ihm blieb ergebnislos. Am nächsten Morgen wurde sein Leichnam im Container entdeckt. Der Tod war durch Ersticken, möglicherweise in Kombination mit Unterkühlung eingetreten. Entweder hatte der obere Müllsack die Atemwege verlegt oder die ohnehin nur flache Atmung war durch einen auf den Brustkorb gelangten weiteren Müllsack unmöglich geworden.II.In der rechtlichen Würdigung führt die Jugendkammer aus:Das zu Tode führende Geschehen sei wegen der gemeinschaftlichen Tatherrschaft des Angeklagten und des Opfers nicht mehr als Beteiligung an einer Selbstgefährdung, sondern als einverständliche Fremdgefährdung zu werten. Die Gefährdung sei ausschließlich von dem Angeklagten, wenn auch auf alleinige Veranlassung des Geschädigten, ausgegangen, der sich dieser im Ergebnis lediglich ausgesetzt habe. Allerdings ergebe eine wertende Betrachtung aller Umstände, daß die einverständliche Fremdgefährdung entsprechend der Auffassung von Roxin (NStZ 1984, 411, 412) "unter allen relevanten Aspekten" einer Selbstgefährdung gleichstehe. Dafür spreche die umfassende und sorgsame Planung des Geschehens durch das Opfer, die besondere, von Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender Vorbereitung geprägte Situation des Angeklagten und dessen vorherrschendes Bestreben, alle Wünsche des Schwerstbehinderten zu erfüllen. Der Angeklagte sei letztendlich dazu benutzt worden, den Selbsttötungsplan zu verwirklichen, ohne darüber informiert gewesen zu sein. Damit sei die Zurechnung des Handelns des Angeklagten zum objektiven Tatbestand ausgeschlossen.III.Der Freispruch hält der sachlichrechtlichen Prüfung nicht stand. Die Feststellungen des Landgerichts tragen nicht dessen Wertung, der Angeklagte habe im Ergebnis an einer straflosen Selbstgefährdung teilgenommen.1.In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist als Folge des Grundsatzes der Selbstverantwortung des sich selbst eigenverantwortlich gefährdenden Tatopfers anerkannt, daß gewollte und verwirklichte Selbstgefährdungen nicht dem Tatbestand eines Körperverletzungs-oder Tötungsdelikts unterfallen, wenn das mit der Gefährlichkeit bewußt eingegangene Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche Selbstgefährdung veranlaßt, ermöglicht oder fördert, macht sich nicht wegen eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzungs-oder Tötungsdelikts strafbar (BGHSt 32, 262, 263 f.; BGH NStZ 1985, 25, 26 und 319, 320; 1986, 266, 267; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 288). Diese Rechtsprechung gründet in erster Linie auf Sachverhalte, denen gemein ist, daß die den Verletzungs-oder Tötungserfolg verursachende schädigende Handlung - die Einnahme von Betäubungsmitteln (BGHSt 32, 262 f.; BGH NStZ 1985, 319; BGH NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 283), Stechapfeltee (BGH NStZ 1985, 25) oder Alkohol (BGH NStZ 1986, 266; 1987, 406) - durch das Opfer selbst erfolgt und erfährt dann eine Ausnahme, wenn der sich Beteiligende etwa kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (BGHSt 32, 262, 265; BGH NStZ 1985, 25 f.; 1986, 266; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286; vgl. auch BayObLG JZ 1997, 521). Maßgebendes Kriterium zur Abgrenzung strafloser Selbstgefährdung ist in diesen Fällen somit - wie auch bei der Anwendung des § 216 StGB anerkannt (vgl. BGHSt 19, 135, 139 f.; BGH, Beschl. vom 25. November 1986 - 1 StR 613/86 insoweit nicht in NStZ 1987, 365 f. abgedruckt; Eser in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 216 Rdn. 11) - der Sache nach die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. Vor § 211 Rdn. 22; ders. aaO § 216 Rdn. 11; ders. aaO § 222 Rdn. 21 sub Selbstgefährdung; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211 bis 216 Rdn. 10; Neumann in NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn. 45). Deren Grundsätze werden von der Rechtsprechung auch herangezogen, soweit eine ausschließlich von dem Beteiligten ausgehende Gefährdung, wie sie etwa bei einer durch Täuschung bewogenen Vornahme der Tötungshandlung (vgl. BGHSt 32, 38, 41 f.) oder beim Geschlechtsverkehr eines HIV-Infizierten mit einem gesunden Menschen entsteht, zu beurteilen ist (vgl. BGHSt 36, 1, 17 f.; BayObLG NStZ 1990, 81 f.).2.Diese Grundsätze sind auch bei dem hier vorliegenden Fall eines vom Angeklagten verursachten Tötungserfolges bei eigenverantwortlicher Planung und Durchführung nach den Wünschen des sich selbst Gefährdenden zugrundezulegen. Danach ist in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob der Angeklagte im Vollzug des Gesamtplans des zum Tode führenden Geschehens über die Gefährdungsherrschaft verfügte oder als Werkzeug des Suizidenten handelte (vgl. BGHSt 19, 135, 140; Jähnke aaO § 216 Rdn. 11; Roxin NStZ 1987, 345, 347; Neumann aaO Rdn. 51). Letzteres wäre angesichts der eigenhändigen Ausführung der Gefährdungshandlungen durch den Angeklagten nur anzunehmen, falls der Lebensmüde den Angeklagten über das zum Tode führende Geschehen getäuscht und ihn mit Hilfe des hervorgerufenen Irrtums zum Werkzeug gegen sich selbst gemacht hätte (vgl. BGHSt 32, 38, 41 zur spiegelbildlichen Situation einer Täuschung des sich selbst Tötenden; vgl. auch OLG Nürnberg NJW 2003, 454 f.).So liegt es hier aber nicht. Der Angeklagte wurde über die konkreten Umstände der von ihm allein verursachten extremen Gefährdung nicht getäuscht. Zwar hatte der Suizident erklärt, er habe solches Tun schon öfter veranlaßt. Diese Äußerung begründete aber keinen Irrtum des Angeklagten hinsichtlich der konkreten Tatumstände. Der Angeklagte hat seine Gefährdungshandlungen bewußt vorgenommen und dabei in extremer Weise im Widerspruch zu jedem medizinischen Alltagswissen gehandelt, indem er die wesentlich reduzierten Atmungsmöglichkeiten weiter verringerte und das spätere Opfer lediglich mit Plastik eingekleidet gefährlicher Kälte preisgab. Auch die Vorspiegelung des Lebensmüden, von einem (unbekannten) Dritten am Nachmittag gerettet zu werden, begründet keinen die Tatherrschaft des Angeklagten in Frage stellenden Irrtum. Die darin enthaltene Aussicht, es werde alles gut gehen, beseitigt nicht das Bewußtsein von den über Stunden wirksam werdenden Gefährdungen, zu denen der fehlende Einsatz des Beatmungsgeräts und die naheliegende Gefahr einer weiteren Verringerung der Atmungskapazität durch einen auf die Brust des Lebensmüden auftreffenden Müllsack zu zählen waren, auch vor dem Hintergrund eines bewußt herbeigeführten verringerten Entdeckungsrisikos.3. Allerdings werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mit den Lehren der Risikoübernahme (vgl. Roxin, Strafrecht AT Bd. 1 3. Aufl.S. 343 f.), der Anerkennung einer "quasi mittäterschaftlichen Herrschaft" (vgl. Neumann in NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn. 56; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. Vorbemerkung §§ 32 ff. Rdn. 52a und 107 m. w. N. aus der Literatur; BayObLG NStZ 1990, 81, 82; vgl. auch Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 222 Rdn. 3) und des Vorrangs des Willens zur Selbstgefährdung (vgl. Otto in FS für Tröndle S. 157, 171, 175) Auffassungen vertreten, die in einem weiteren Umfang zu einer straflosen Mitwirkung an einem Selbsttötungsgeschehen führen. Indes bestehen hier schon Bedenken, begrifflich noch eine Selbsttötung anzunehmen, falls die Tatherrschaft nicht uneingeschränkt beim Suizidenten verbleibt. Einer Anerkennung strafloser aktiver Sterbehilfe stünde zudem der sich aus der Werteordnung des Grundgesetzes ergebende vorrangige Schutz menschlichen Lebens entgegen (vgl. BGHSt 46, 279, 285 f.), der auch die sich aus § 216 StGB ergebende Einwilligungssperre legitimiert (vgl. BGHSt aaO S. 286). Änderungen des Rechtsgüterschutzes bleiben vor diesem Hintergrund allenfalls dem Gesetzgeber vorbehalten.Der Senat verkennt nicht, daß die bestehende Rechtslage es einem vollständig bewegungsunfähigen, aber bewußtseinsklaren moribunden Schwerstbehinderten - wie hier - weitgehend verwehrt, ohne strafrechtliche Verstrickung Dritter aus dem Leben zu scheiden, und für ihn dadurch das Lebensrecht zur schwer erträglichen Lebenspflicht werden kann. Dieser Umstand kann aber nicht ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht auf ein Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen begründen (vgl. BGHSt aaO, 285; BGHSt 42, 301, 305). Die dafür erforderlichen Voraussetzungen einer indirekten Sterbehilfe (vgl. BGHSt 42 aaO; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211 bis 216 Rdn. 18) sind vorliegend nicht gegeben. Ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf aktive Sterbehilfe, der eine Straflosigkeit des die Tötung Ausführenden zur Folge haben könnte, ist dagegen nicht anerkannt (vgl. BVerfGE 76, 248, 252; Tröndle/Fischer aaO Rdn. 17 m. w. N.).IV.Der Freispruch kann danach keinen Bestand haben. Sollte der neue Tatrichter zu den gleichen Feststellungen gelangen, werden diese in erster Linie hinsichtlich einer fahrlässigen Todesverursachung gemäß § 222 StGB zu würdigen sein (vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NStZ 2002, 315, 316 f.). Bei etwaiger Feststellung eines Körperverletzungs-oder Aussetzungsvorsatzes kämen die Vorschriften der §§ 221, 223 ff. StGB in Betracht. Die besondere, von Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender Vorbereitung geprägte Tatsituation des Angeklagten wird der neue Tatrichter bei der Beurteilung der Gleichstellung des heranwachsenden Angeklagten miteinem Jugendlichen nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG im Hinblick darauf zu würdigen haben, ob in dem Angeklagten noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam waren (vgl. BGHSt 36, 37, 40).
bundesgerichtshof
bgh_148-2012
13.09.2012
Mutmaßliches "NSU"-Mitglied Beate Zschäpe bleibt in Untersuchungshaft Ausgabejahr 2012 Erscheinungsdatum 13.09.2012 Nr. 148/2012 Der für Staatsschutzsachen zuständige 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Fortdauer der gegen das mutmaßliche "NSU"-Mitglied Beate Zschäpe vollzogenen Untersuchungshaft angeordnet. Die Beschuldigte befindet sich seit dem 8. November 2011 in Untersuchungshaft. Ihr wird in dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zur Last gelegt, im Jahre 1998 zusammen mit den zwischenzeitlich verstorbenen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die rechtsterroristische Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)" gegründet und ihr bis zum Tod von Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 angehört zu haben. Darüber hinaus soll sie an diesem Tage zum Zwecke der Vernichtung von Beweismitteln die von der Gruppierung genutzte Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt haben. Dem "Nationalsozialistischen Untergrund" sind nach derzeitigem Ermittlungsstand unter anderem neun Morde an Gewerbetreibenden türkischer und griechischer Herkunft in mehreren deutschen Städten zwischen 2000 und 2006, Mord bzw. versuchter Mord an zwei Polizeibeamten sowie zwei Sprengstoffanschläge zuzurechnen. Nicht Gegenstand des Haftbefehls und damit auch des Haftprüfungsverfahrens ist die Frage, ob die Beschuldigte sich an diesen konkreten Taten in strafbarer Weise beteiligt hat. Der 3. Strafsenat hatte bereits mit Beschlüssen vom 28. Februar und 18. Mai 2012 eine Haftbeschwerde der Beschuldigten verworfen sowie die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet. Nach seiner Auffassung ist auch die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft gerechtfertigt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, bezüglich der Mitwirkung der Beschuldigten an dem "Nationalsozialistischen Untergrund" sowie der Inbrandsetzung der Wohnung bestehe weiterhin dringender Tatverdacht. Da der Generalbundesanwalt die Fertigstellung der Anklageschrift mit hoher Priorität vorantreibe, so dass mit der Erhebung der öffentlichen Klage deutlich innerhalb der nächsten drei Monate gerechnet werden könne, sei das Verfahren ausreichend gefördert worden. Angesichts der Schwere der Tatvorwürfe und der insoweit bestehenden Straferwartung sei der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch verhältnismäßig. Soweit erforderlich wird die nächste Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof in drei Monaten stattfinden. AK 27/12 – Beschluss vom 12. September 2012 Karlsruhe, den 13. September 2012 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 12.9.2012 - AK 27/12 -
Tenor Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.Eine etwa weiter erforderliche Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen. Gründe Aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Zwickau vom 7. November 2011 (Gs 1009/11) - nachfolgend ersetzt durch den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 13. November 2011 (3 BGs 6/11) - wurde die Beschuldigte am 8. November 2011 festgenommen. Sie befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs ist der Vorwurf, die Beschuldigte habe im Januar 1998 in Zwickau mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos eine Vereinigung ("Nationalsozialistischer Untergrund") gegründet, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet waren, Mord (§ 211 StGB) zu begehen, und sich in der Folge bis zum 4. November 2011 hieran beteiligt. In der Absicht, diese ihr zur Last fallende Straftat zu verdecken, namentlich das Auffinden von Beweismitteln zu vereiteln, habe sie am 4. November 2011 in Zwickau ein der 1 Wohnung von Menschen dienendes Gebäude durch Brandlegung zerstört. Sie habe sich daher der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB) und der besonders schweren Brandstiftung (§ 306b Abs. 2 Nr. 2, § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB) schuldig gemacht.Die Beschwerde der Beschuldigten gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs hat der Senat mit Beschluss vom 28. Februar 2012 (StB 1/12) verworfen. Am 18. Mai 2012 hat der Senat die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet (AK 13/12).Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft auch über neun Monate hinaus liegen vor.1. Hinsichtlich der Einzelheiten des Tatvorwurfs, der den dringenden Tatverdacht begründenden Umstände und des Haftgrundes verweist der Senat weiterhin auf die Gründe seiner Beschwerdeentscheidung vom 28. Februar 2012, an deren Gültigkeit auch die weiteren Ermittlungen nichts geändert haben. Der Senat nimmt insoweit Bezug auf die ausführliche Darstellung des Ermittlungsstandes in den Berichten des Bundeskriminalamts vom 2. August 2012 (Erkenntnisse zu der mutmaßlichen terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund") und vom 13. August 2012 (Zusammenfassung der Tatvorwürfe zu Beate Zschäpe) sowie auf die darin jeweils bezeichneten Beweismittel. Da die im Haftbefehl erhobenen Vorwürfe die Anordnung der Untersuchungshaft nach wie vor tragen, kann der Senat offen lassen, ob die Beschuldigte im Zusammenhang mit der Inbrandsetzung des Gebäudes F. straße in Zwickau auch eines tateinheitlich hinzutretenden versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil der Zeugin E. dringend verdächtig ist 2(vgl. hierzu die Berichte des Bundeskriminalamts vom 2. August 2012, S. 23 f., und vom 13. August 2012, S. 47).2. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen.Unmittelbar nach der Anordnung der Haftfortdauer über sechs Monate hinaus durch den Beschluss des Senats vom 18. Mai 2012 hat der Generalbundesanwalt mit der Erstellung der Anklageschrift begonnen, zu diesem Zweck sieben Staatsanwälte von der Tätigkeit in anderen Verfahren entbunden und ausgeführt, die Anklage voraussichtlich noch deutlich vor Ablauf weiterer drei Monate zu erheben. Damit wird den im genannten Beschluss dargelegten, bei der Behandlung von Haftsachen zu beachtenden rechtlichen Maßstäben entgegen der Ansicht der Verteidiger in noch ausreichender Weise Rechnung getragen. Insbesondere ist der für die Fertigung der Anklageschrift insgesamt veranschlagte Zeitraum nicht als unangemessen anzusehen. Dass mit Blick vor allem auf den Bestand von mittlerweile 600 Bänden Ermittlungsakten und 780 Beiakten einer früheren Anklageerhebung tatsächliche Hindernisse entgegenstehen, liegt bei objektiver Betrachtung nahe.Das Verfahren wird danach auch seit der letzten Haftprüfung mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt. Hieran ändert es im Ergebnis nichts, dass der Generalbundesanwalt neben der Verfolgung einzelner Ermittlungsansätze, von denen er sich eine weitere Klärung des Schuldumfangs verspricht, die Ermittlungen gegen die Beschuldigte wegen des Verdachts der Beteiligung an den mutmaßlich von Mitgliedern des "Nationalsozialistischen Un-5 tergrunds" begangenen konkreten Ausführungstaten ebenfalls fortsetzt. Die Ermittlungen zu diesen schweren Kapitalverbrechen neben den Arbeiten an der Anklageschrift fortzuführen, ist den Strafverfolgungsbehörden von Rechts wegen nicht verwehrt. Im Anschluss an seine Ausführungen in dem Beschluss vom 18. Mai 2012 bemerkt der Senat jedoch, dass der unverändert gebliebene Haftbefehl, dessen Inhalt die Grundlage der vorzunehmenden Haftprüfung bildet, nicht auf diese Taten gestützt ist. Trotz insoweit bestehender materiellrechtlicher Tateinheit mit der Organisationsstraftat wäre die Strafklage bei einer Verurteilung der Beschuldigten wegen eines Delikts nach § 129a StGB hinsichtlich dieser Taten nicht verbraucht (st. Rspr.; vgl. schon BGH, Urteil vom 11. Juni 1980 - 3 StR 9/80, BGHSt 29, 288, 292 ff.). Diese Ermittlungen sind deshalb für sich genommen nicht geeignet, die Anordnung der Haftfortdauer zu begründen. Der Senat sieht indes derzeit keinen Anhalt für die Annahme, hierdurch werde sich der in Aussicht gestellte Zeitpunkt der Anklageerhebung weiter hinauszögern. Er weist erneut darauf hin, dass nach dem Stand der Ermittlungen die Tatvorwürfe, die den Haftbefehl gegen die Beschuldigte tragen, jedenfalls weitestgehend ausermittelt zu sein scheinen; bei dieser Sachlage ist das Beschleunigungsgebot nur dann auch weiterhin gewahrt, wenn die Arbeiten an der Anklageschrift mit dem gebotenen Nachdruck fortgesetzt und möglichst zeitnah abgeschlossen werden.Vor diesem Hintergrund steht der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe. Schon die besonders schwere Brandstiftung nach § 306b Abs. 2 StGB, deren die Beschuldigte dringend verdächtig ist, ist mit Freiheitsstrafe im Mindestmaß von fünf Jahren bedroht.Schäfer Hubert Mayer
bundesgerichtshof
bgh_147-2015
18.08.2015
Zum Gerichtsstand für Ausgleichsansprüche wegen Flugverspätung Ausgabejahr 2015 Erscheinungsdatum 18.08.2015 Nr. 147/2015 Beschluss vom 18. August 2015 – X ZR 2/15 Der Bundesgerichtshof hat heute dem Gerichtshof der Europäischen Union zwei Fragen zur Auslegung des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b* der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel-I-Verordnung) vorgelegt. Im Ausgangsfall verlangt der Kläger eine Ausgleichszahlung in Höhe von 400 € wegen eines verspäteten Fluges nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b** der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechteverordnung). Der Kläger buchte bei der Fluggesellschaft Air France unter deren Flugnummern eine Flugverbindung von Stuttgart über Paris nach Helsinki. Die Beförderung von Paris nach Helsinki erfolgte im Wege des Code-Sharing durch Finnair, die in Finnland ansässige Beklagte. Der Flug auf dieser zweiten Teilstrecke hatte eine Verspätung von drei Stunden und zwanzig Minuten. Das vom Kläger angerufene Amtsgericht, in dessen Bezirk der Flughafen Stuttgart liegt, hat die Klage mangels Zuständigkeit der deutschen Gerichte abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Das Landgericht hat angenommen, die internationale Zuständigkeit könne sich allenfalls aus Art. 5 Nr. 1 Buchst. b* Brüssel-I-VO ergeben. Indes liege im Inland gerade kein Erfüllungsort. Der gegen die Beklagte geltend gemachte Anspruch knüpfe ausschließlich an den verspäteten Flug der Teilstrecke von Paris nach Helsinki an. Der für das Reise- und Personenbeförderungsrecht zuständige X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs meint demgegenüber, in der vorliegenden Fallgestaltung sei ein Gerichtsstand ebenso am Abflugort der ersten Teilstrecke, also am Flughafen Stuttgart, eröffnet. Dies folgt aus zwei Überlegungen. Zum einen dürfte eine Klage auf Ausgleichszahlung auch dann im Gerichtsstand des der Luftbeförderung zugrundeliegenden Vertrags erhoben werden können, wenn das nach der Fluggastrechteverordnung verpflichtete "ausführende Luftfahrtunternehmen" nicht zugleich der Vertragspartner des Fluggasts ist. Dafür spricht bereits, dass die Ansprüche nach der Fluggastrechteverordnung eine vertragliche Grundlage der Beförderungsleistung voraussetzen. Zum anderen dürfte bei einer nach dem Vertrag mehrgliedrigen Flugverbindung ohne nennenswerten Aufenthalt auf den Umsteigeflughäfen der Abflugort der ersten Teilstrecke auch dann als zuständigkeitsbegründender Erfüllungsort anzusehen sein, wenn die Klageansprüche aus Ereignissen auf einer anderen Teilstrecke resultieren. Dies entspräche einer konsequenten Anknüpfung an die vertragliche Grundlage der Beförderungsleistung. Der Gerichtshof der Europäischen Union hatte sich mit der vorliegenden Fallgestaltung noch nicht zu befassen. In der Rechtssache Rehder (EuGH, Urteil vom 9. Juli 2009 - C-204/08, Slg 2009, I-6073) hat der Unionsgerichtshof zwar entschieden, dass der Kläger bei der Durchsetzung einer Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung zwischen dem Gericht des Ortes des Abflugs und dem des Ortes der Ankunft des Flugzeugs wählen kann. Diese Entscheidung betraf aber eine eingliedrige Flugverbindung, die vom Vertragspartner des Fluggasts selbst durchgeführt wurde. Da sich die Bewertung der vorliegenden Fallkonstellation deshalb nicht hinreichend sicher aus der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs ableiten lässt, hat der Bundesgerichtshof gemäß Art. 267 AEUV*** folgende Fragen vorgelegt: 1.Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Brüssel-I-Verordnung dahin auszulegen, dass der Begriff "Ansprüche aus einem Vertrag" auch einen Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Fluggastrechteverordnung erfasst, der gegenüber einem ausführenden Luftfahrtunternehmen verfolgt wird, welches nicht Vertragspartner des betroffenen Fluggasts ist? 2.Soweit Art. 5 Nr. 1 Brüssel-I-VO Anwendung findet: Ist bei einer Personenbeförderung auf einer aus mehreren Flügen bestehenden Flugverbindung ohne nennenswerten Aufenthalt auf den Umsteigeflughäfen der Abflugort der ersten Teilstrecke als Erfüllungsort gemäß Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich Brüssel-I-VO anzusehen, auch wenn die Flugverbindung von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen durchgeführt worden ist und sich die Klage gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einer anderen Teilstrecke richtet, auf der es zu einer großen Verspätung gekommen ist? AG Nürtingen – Urteil vom 16. Juni 2014 – 11 C 6/14 LG Stuttgart – Urteil vom 10. Dezember 2014 – 13 S 115/14 Karlsruhe, den 18. August 2015 * Art. 5 Nr. 1 EuGVVO Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden: 1. a)wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre; b)im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung –[…] –für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen; c)ist Buchstabe b) nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a); ** Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b Fluggastrechteverordnung Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe: [...] 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km, […] *** Art. 267 AEUV Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung a)[…], b)über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. […] Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des X. Zivilsenats vom 18.8.2015 - X ZR 2/15 -
Tenor Das Verfahren wird ausgesetzt.Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:1. Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen dahin auszulegen, dass der Begriff "Ansprüche aus einem Vertrag" auch einen Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 296/91 erfasst, der gegenüber einem ausführenden Luftfahrtunternehmen verfolgt wird, welches nicht Vertragspartner des betroffenen Fluggasts ist?2. Soweit Art. 5 Nr. 1 VO (EG) Nr. 44/2001 Anwendung findet:Ist bei einer Personenbeförderung auf einer aus mehreren Flügen bestehenden Flugverbindung ohne nennenswerten Aufenthalt auf den Umsteigeflughäfen der Abflugort der ersten Teilstrecke als Erfüllungsort gemäß Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich VO (EG) Nr. 44/2001 anzusehen, auch wenn die Flugverbindung von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen durchgeführt worden ist und sich die Klage gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einer anderen Teilstrecke richtet, auf der es zu einer großen Verspätung gekommen ist? Gründe I. Der Kläger begehrt eine Ausgleichszahlung in Höhe von 400 € nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 296/91 (im Folgenden: FluggastrechteVO) sowie Zahlung von Zinsen ab Rechtshängigkeit.Der Kläger buchte für den 18. Juli 2013 eine Flugverbindung von Stuttgart über Paris nach Helsinki bei Air France, deren Unternehmenssitz in Paris liegt. Air France führte den Flug von Stuttgart nach Paris plangemäß durch (10:05 Uhr bis 11:25 Uhr). Die von 12:20 Uhr bis 16:15 Uhr vorgesehene Beförderung von Paris nach Helsinki übernahm, worauf in der bestätigten Buchung hingewiesen worden war, die Beklagte ... . Das eingesetzte Flugzeug lan- dete erst um 19:35 Uhr in Helsinki.Der Kläger hat vor dem für den Flughafen Stuttgart örtlich zuständigen Amtsgericht Klage erhoben. Dieses hat die Klage als unzulässig abgewiesen, nachdem die Beklagte die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gerügt hat. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.II. Das Berufungsgericht erachtet die deutschen Gerichte für international nicht zuständig und die Klage deshalb als unzulässig. Nach keiner Bestimmung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüssel I-VO) seien deutsche Gerichte zur Entscheidung berufen. Insbesondere liege im Inland kein Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b Brüssel I-VO. Der geltend gemachte Anspruch knüpfe an die Verspätung auf der Teilstrecke von Paris nach Helsinki an, für die die Beklagte zwar ausführendes Luftfahrtunternehmen sei, für die aber nur Paris oder Helsinki als Erfüllungsort infrage komme, zumal die Beklagte auf dem Flughafen Stuttgart keinerlei Tätigkeit habe entfalten müssen. Bei dem Flug von Stuttgart nach Helsinki handle es sich nicht um eine einheitliche Dienstleistung der Beklagten, die die Annahme eines einheitlichen Fluges rechtfertigen könnte. Vielmehr sei die Beklagte lediglich in den Vertrag zwischen dem Kläger und Air France einbezogen worden.III. Der Erfolg der Revision hängt entscheidend davon ab, ob die deutschen Gerichte international zuständig sind. Das ist nach Lage der Dinge nur dann der Fall, wenn der Rechtsstreit Ansprüche aus einem Vertrag zum Gegenstand hat und der Gerichtsstand des Erfüllungsortes in Deutschland liegt. Dies hängt von der Auslegung von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a., Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO ab, die im Streitfall anzuwenden ist (Art. 66 der Verordnung 1215/12 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen).1. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte für eine Klage auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastrechteVO ist nicht nach Art. 19 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28. Mai 1999 (ABl. EG L 194, S. 39 vom 18. Juli 2001) ausgeschlossen, weil für Ansprüche aus der FluggastrechteVO und aus jenem Abkommen unterschiedliche Regelungsrahmen gelten (EuGH, Urteil vom 9. Juli 2009 - C-204/08, Slg. 2009, I-6073 Rn. 27 - Rehder; vom 23. Oktober 2012 - C-581/10 und C-629/10, RRa 2012, 272 Rn. 46, 55, 57 mwN - Nelson u.a.).2. Die Zuständigkeit deutscher Gerichte kann sich, da der geschlossene Vertrag die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand hat, nur aus Art. 5 Nr. 1 Buchst. a, Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO ergeben.a) Die Anknüpfung an den dem Wohnsitz gleichgesetzten Unternehmenssitz (Art. 2, 60 Brüssel I-VO) führt nicht zur Zuständigkeit deutscher Gerichte, weil der Sitz der Beklagten in F. liegt. Der Verbraucherwahlge- richtsstand am Wohnsitz des Klägers in Deutschland (Art. 16 Abs. 1 Brüssel I-VO) ist nicht auf Beförderungsleistungen anzuwenden, die außerhalb von Reiseverträgen mit einem Pauschalpreis für kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen erbracht werden (Art. 15 Abs. 3 Brüssel I-VO). Der Deliktsgerichtsstand läge auch dann nicht in Deutschland, wenn die Beförderung mit einer Verspätung, die einen Anspruch aus Art. 7 FluggastrechteVO auslöst, als schädigendes Ereignis im Sinne von Art. 5 Nr. 3 Brüssel I-VO einzuordnen wäre. Der Ort der unerlaubten Handlung umfasste dann zwar sowohl den Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens als auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2013 - C-147/12, EuZW 2013, 703 Rn. 51 - ÖFAB). Dafür kämen aber lediglich der Ort des Abflugs oder der Ankunft des verspäteten Fluges in Betracht, hier also Paris oder Helsinki.b) Der Senat versteht den Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastrechteVO als einen gesetzlichen Anspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf vertraglicher Grundlage. Der Anspruch folgt zwar nicht unmittelbar aus dem mit einem Luftfahrtunternehmen abgeschlossenen Beförderungsvertrag, setzt aber voraus, dass der Anspruchsteller über eine bestätigte Buchung verfügt, was wiederum regelmäßig vom Bestehen eines Beförderungsvertrages abhängig ist. Der Senat ist bisher davon ausgegangen, dass ein solcher Beförderungsvertrag entweder mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen selbst bestehen kann oder mit einem anderen Unternehmen, für welches das ausführende Luftfahrtunternehmen die Beförderungsleistung erbringt (BGH, Urteil vom 18. Januar 2011 - X ZR 71/10, BGHZ 188, 85 Rn. 26; Urteil vom 12. November 2009 - Xa ZR 76/07, RRa 2010, 34 Rn. 18; Urteil vom 28. Mai 2009 - Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 Rn. 9; Urteil vom 30. April 2009 - Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 Rn. 13). Letztere Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Die Beklagte hat ihre Beförderungsleistung nach den gesamten Umständen in Kooperation mit Air France für diese Luftfahrtgesellschaft erbracht, weil bereits in der bestätigten Buchung darauf hingewiesen war, dass der Flug von Paris nach Helsinki von ihr ausgeführt würde. Der Senat hatte bislang aber noch nicht zu entscheiden, ob in einer solchen Fallgestaltung Ansprüche aus einem Vertrag im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a Brüssel I-VO den Gegenstand des Verfahrens bilden, und die zutreffende Auslegung dieser unionsrechtlichen Norm erscheint weder in dem einen noch in dem anderen Sinne eindeutig. Deshalb ist diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen.Die (vollständige) Verlagerung der im Kommissionsvorschlag (Vorschlag der Kommission vom 21. Dezember 2001 - ABl. EU C 103 E vom 30. April 2002, S. 225 ff.) noch vorgesehenen Haftung des vertraglich gebundenen Luftverkehrs- oder Reiseunternehmens auf das ausführende Luftverkehrsunternehmen beruhte auf der Annahme, dieses sei aufgrund seiner Präsenz auf den Flughäfen in der Regel am besten in der Lage, die Verpflichtungen zu erfüllen (vgl. Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 27/2003 vom 18. März 2003, ABl. EU C 125 E vom 27. Mai 2003, S. 63, 70). Dass sich der Anspruch (nur) deswegen nicht gegen den Vertragspartner des Fluggastes, sondern - vertraglich gesehen - gegen dessen Erfüllungsgehilfen richtet, sollte die Qualifikation als vertraglichen Anspruch nach Auffassung des Senats nicht in Zweifel ziehen.c) Falls die vorstehend aufgeworfene Frage zu bejahen ist, kommt es für die Entscheidung über die Revision des Weiteren darauf an, ob der Abflugort des ersten (Teil-)Flugs, der Flughafen Stuttgart, als Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO anzusehen ist.aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bereits zur Frage des Gerichtsstands im Fall einer Beförderung von Personen im Luftverkehr von einem Mitgliedstaat in einen anderen auf der Grundlage eines mit einer einzigen Luftfahrtgesellschaft, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, geschlossenen Vertrages geäußert. Für eine auf diesen Beförderungsvertrag und die Fluggastrechteverordnung gestützte Klage auf Ausgleichszahlungen ist nach Wahl des Klägers das Gericht des Ortes des Abflugs oder der Ankunft des Flugzeugs entsprechend der Vereinbarung dieser Orte in dem Vertrag nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO zuständig (EuGH, Slg. 2009, I-6073 - Rehder).bb) Der dem Streitfall zugrunde liegende Sachverhalt unterscheidet sich davon in zweierlei Hinsicht. Zum einen wurde der Fluggast zu seinem Endziel mit zwei Flügen - ohne nennenswerten Aufenthalt auf dem Umsteigeflughafen - befördert. Zum anderen ist das in Anspruch genommene ausführende Luftfahrtunternehmen eine andere Luftfahrtgesellschaft als diejenige, mit der allein der Fluggast einen Vertrag geschlossen hatte.Der Senat neigt dazu, den Flughafen Stuttgart jedenfalls auch als vereinbarten Erfüllungsort für Verpflichtungen anzusehen, die aus der Durchführung des Anschlussfluges erwachsen sind, auch wenn dieser nicht von Air France als dem einzigen Vertragspartner des Klägers ausgeführt wurde, sondern von der Beklagten.Hätte Air France auch den Anschlussflug selbst und mit entsprechender Ankunftsverspätung ausgeführt, läge eine Konstellation vor, die mit dem Fall Rehder insofern vergleichbar wäre, als der Vertrag dann ebenfalls mit einer einzigen Luftfahrtgesellschaft, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, geschlossen wäre. Nach Ansicht des Senats spräche dann nichts dagegen, den ersten Abflugort als Erfüllungsort auch für Verpflichtungen anzusehen, die lediglich den Anschlussflug betreffen, und zwar auch dann, wenn die Unterbrechung in Paris nicht als bloße Zwischenlandung einzuordnen wäre (vgl. EuGH, Slg. 2009, I-6073 Rn. 40 - Rehder). Im Streitfall war der Vertrag über die gesamte Beförderungsleistung einheitlich mit Air France geschlossen worden. Der Kläger hatte als Fluggast naturgemäß keinen Einfluss darauf, ob Air France auch den Flug von Paris nach Helsinki selbst ausführen oder sich dazu der Beklagten als Erfüllungsgehilfin bedienen würde. Umgekehrt musste die Beklagte, wenn sie für Air France einen Anschlussflug ausführte, damit rechnen, Personen auch aus Zubringerflügen ihres Kooperationspartners zu befördern und nicht nur von Paris aus startende Fluggäste. Das könnte nach Ansicht des Senats dafür sprechen, den ersten Abflugort auch dann als einen Erfüllungsort anzusehen, wenn die Klage Ansprüche aus der Fluggastrechteverordnung gegen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen betrifft, das selbst nicht Vertragspartner des Fluggastes ist. Hinzu kommt, dass andernfalls der Gerichtsstand des Erfüllungsortes den Fluggästen in Konstellationen der vorliegenden Art gar nicht zur Verfügung stehen könnte. Es ginge dann nicht um eine Verpflichtung des Luftfahrtunternehmens, mit dem ein Vertrag besteht, und mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, gegen das der Anspruch sich richtet, bestünde keine vertragliche Beziehung. In tatsächlicher Hinsicht kommt hinzu, dass am ersten Abflugort Fluggäste mit ihrem Gepäck für die gesamte Beförderung zum Endziel abgefertigt werden.Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union die Zuständigkeit des Gerichts des Abflug- und Ankunftsortes entsprechend der Vereinbarung dieser Orte in dem mit einer einzigen Luftfahrtgesellschaft, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, geschlossenen Vertrages angenommen hat (EuGH, Slg. 2009, I-6073 Rn. 41 - Rehder), lässt sich daraus die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Abflugortes in Bezug auf solche Verpflichtungen, die den zweiten Flug betreffen, nicht eindeutig bejahen.Meier-Beck Gröning Hoffmann Deichfuß Kober-Dehm Vorinstanzen:AG Nürtingen, Entscheidung vom 16.06.2014 - 11 C 6/14 -LG Stuttgart, Entscheidung vom 10.12.2014 - 13 S 115/14 -
bundesgerichtshof
bgh_036-2006
09.03.2006
Urteil gegen fünf Mitglieder des „Freikorps Havelland“ rechtskräftig Ausgabejahr 2006 Erscheinungsdatum 09.03.2006 Nr. 036/2006 Urteil gegen fünf Mitglieder des „Freikorps Havelland“ rechtskräftig Der damals 18-jährige Abiturient H. hatte im Juli 2003 zehn weitere zumeist rechtsextreme und ausländerfeindliche Jugendliche und Heranwachsende zu einem Treffen eingeladen, bei dem unter dem Namen „Freikorps Havelland“ eine Vereinigung gegründet wurde, die sich die Vertreibung der Ausländer zunächst aus dem Havelland und dann auch aus Deutschland zum Ziel gesetzt hatte. Hierzu sollten Brandanschläge gegen geschäftliche Einrichtungen von Ausländern verübt und notfalls auch wiederholt werden, um ihre Existenzgrundlage zu vernichten und sie zu vertreiben. Durch die damit herbeigeführte Verunsicherung sollten auch alle anderen Ausländer eingeschüchtert und zum Verlassen des Landes bewegt werden. Fünf der Mitbeteiligten hatte sich in der Folgezeit unter der Führung von H. an zahlreichen Anschlägen beteiligt, bis die Vereinigung nach einem polizeilichen Zugriff im Juni 2004 aufgelöst wurde. Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat die Gruppe als terroristische Vereinigung eingestuft. Es hat den Anführer H. als Rädelsführer und ihn sowie die fünf an den Anschlägen mitwirkenden Beteiligten als Gründer und Mitglieder der Vereinigung sowie als Mittäter der jeweiligen Anschläge zu Jugendstrafen verurteilt. H. und neun andere Angeklagte haben dagegen Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof hat die Einordnung der Gruppe als terroristische Vereinigung bestätigt und die Rechtsmittel des Rädelsführers H. sowie der vier Angehörigen, die bei den Anschlägen mitgewirkt haben, mit Beschluss vom 10. Januar 2006 als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Er hatte u. a. zu entscheiden, ob angesichts der durch Gesetz vom 22. Dezember 2003 geänderten Fassung des § 129 a Abs. 2 StGB, wonach die Straftaten bestimmt sein müssen, die „Bevölkerung“ auf erhebliche Weise einzuschüchtern, für die Annahme strafbaren Verhaltens eine Einschüchterung der gesamten Bevölkerung erforderlich ist. Er hat diese Frage, die sich insbesondere deshalb stellt, weil andere Strafvorschriften zwischen „Bevölkerung“ und „Teilen der Bevölkerung“ differenzieren, verneint und ausgeführt, dass es ausreicht, wenn nur ein nennenswerter Teil, wie hier die ausländische Bevölkerung, betroffen ist. Über die Rechtsmittel der fünf „Gründungsmitglieder“, die sich an den Anschlägen nicht beteiligt hatten, und die vom Oberlandesgericht nur als Gründer einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden sind, ist noch nicht entschieden. Beschluss vom 10. Januar 2006 – 3 StR 263/05 Brandenburgisches Oberlandesgericht – Entscheidung vom 7.3.2005 - 1-5600 OJs 1/04 (1/04) Karlsruhe, den 9. März 2006 § 129 a Abs. 2 StGB i. d. F. des Gesetzes vom 22. Dezember 2003 lautet: (2) Ebenso wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, 1.einem anderen Menschen schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 bezeichneten Art, zuzufügen, 2.Straftaten nach den §§ 303b, 305, 305a oder gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306 bis 306c oder 307 Abs. 1 bis 3, des § 308 Abs. 1 bis 4, des § 309 Abs. 1 bis 5, der §§ 313, 314 oder 315 Abs. 1, 3 oder 4, des § 316b Abs. 1 oder 3 oder des § 316c Abs. 1 bis 3 oder des § 317 Abs. 1, 3.Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen des § 330a Abs. 1 bis 3, 4.Straftaten nach § 19 Abs. 1 bis 3, § 20 Abs. 1 oder 2, § 20a Abs. 1 bis 3, § 19 Abs. 2 Nr. 2 oder Abs. 3 Nr. 2, § 20 Abs. 1 oder 2 oder § 20a Abs. 1 bis 3, jeweils auch in Verbindung mit § 21, oder nach § 22a Abs. 1 bis 3 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen oder 5.Straftaten nach § 51 Abs. 1 bis 3 des Waffengesetzes zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wenn eine der in den Nummern 1 bis 5 bezeichneten Taten bestimmt ist, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen kann. Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 7.2.2006 - 3 StR 263/05 - Beschluss des 3. Strafsenats vom 10.1.2006 - 3 StR 263/05 -
Tenor Die Revisionen der Angeklagten H. , A. , S. , E. und B. gegen das Urteil des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 7. März 2005 werden verworfen.Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen. Gründe Der Angeklagte H. hat am 3. Juli 2003 die Angeklagten A. , S. , E. und B. sowie die Mitangeklagten Bu. , Be. , P. , W. , R. und V. zu einer Versammlung zusammengerufen, auf der nach seinen Vorschlägen die Vereinigung "Freikorps" gegründet wurde. Ziel der Vereinigung war es, mit Hilfe systematischer und wiederholter Brandanschläge gegen Geschäftsobjekte von Ausländern diese aus der Region ("ausländerfreies Havelland") und letztlich aus Deutschland zu vertreiben. Die Angeklagten A. , S. , E. und B. sowie der Mitangeklagte V. , der keine Revision eingelegt hat, erklärten sich zur Teilnahme an Anschlägen bereit und wirkten in der Folgezeit auch an verschiedenen Taten mit. Sie wurden vom Oberlandesgericht wegen Gründung und Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung (der Angeklagte H. als Rädelsführer), sowie wegen Mitwirkung an den jeweiligen Anschlagstaten zu Jugendstrafen verurteilt. Die Mitangeklagten Bu. , Be. , P. , W. und R. stimmten den Plänen zwar grundsätzlich zu; sie erklärten jedoch, sich selbst nicht unmittelbar an Anschlägen beteiligen zu wollen, sondern lediglich Fahrerdienste zu leisten. Sie wurden vom Oberlandesgericht wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung zu Jugendstrafen verurteilt. Über ihr Rechtsmittel wird gesondert entschieden.Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Rechtsmittelbegründungen der Angeklagten H. , A. , S. , E. und B. hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zu ihrem Nachteil ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:1. Das Oberlandesgericht hat das von den Angeklagten gegründete "Freikorps" ohne Rechtsfehler als terroristische Vereinigung im Sinne des § 129 a Abs. 2 StGB bewertet.a) Bei einer solchen Vereinigung handelt es sich um einen auf eine gewisse Dauer angelegten, freiwilligen organisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame (terroristische) Zwecke verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich als einheitlicher Verband fühlen (s. BGHSt 28, 147; 31, 202, 204 f.; 31, 239 f.; 45, 26, 35; BGH NJW 2005, 1668). Es erscheint fraglich, ob an dieser Definition festgehalten werden kann oder ob nicht im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 Satz 1 des Rahmenbeschlusses des Rates der europäischen Union vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. EG Nr. L 164 S. 3, 4) die Anforderungen an Struktur und Willensbildung solcher Zusammenschlüsse überprüft und herabgesetzt werden müssen (dazu Miebach/Schäfer in MünchKomm § 129 a Rdn. 40 f.; vgl. zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung Tinkl StV 2006, 36, 38). Der Senat neigt zu einer solchen Neubestimmung des Begriffs der terroristischen Vereinigung zumindest für die Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes vom 22. Dezember 2003 zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses (BGBl I 2836). Die Frage braucht indes hier nicht abschließend entschieden zu werden. Denn die von den Angeklagten gegründete Vereinigung erfüllt bereits die Anforderungen nach der bisherigen, engeren Rechtsprechung.b) Das Oberlandesgericht hat auch die weiteren (einschränkenden) Voraussetzungen des § 129 a Abs. 2 StGB zutreffend bejaht.aa) Bei der Prüfung, ob die geplanten kriminellen Aktivitäten der Vereinigung bestimmt waren, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, und ob sie geeignet waren, den Staat erheblich zu schädigen, hat das Oberlandesgericht zu Recht auf die insgesamt vorgesehenen Straftaten abgestellt. Zwar spricht § 129 a Abs. 2 StGB nach seinem Wortlaut nur von einer Tat, die diese Bestimmung und Eignung haben müsse. Doch ergibt eine Auslegung nach Entstehungsgeschichte und Sinn der Vorschrift, dass es ausreicht, wenn eine Tat im Sinne des § 129 a Abs. 2 StGB die erforderliche Bestimmung und Eignung erst im Zusammenhang mit den weiteren von der Vereinigung geplanten Taten aufweist. Der Neufassung dieser Vorschrift durch das Gesetz vom 22. Dezember 2003 liegt die erklärte Absicht zugrunde, die Vorgaben des Rahmenbeschlusses auf nationaler Ebene umzusetzen. Art. 1 des Beschlusses knüpft das Erfordernis der Bestimmung (zur Einschüchterung der Bevölkerung) und Eignung (zur ernsthaften Schädigung eines Landes) jedoch unmissverständlich nicht an die einzelne Straftat. Vielmehr haben die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass die näher bezeichneten Handlungen als terroristische Straftaten eingestuft werden. Diese auf die Gesamtheit aller beabsichtigter Straftaten abstellende Fassung des Bestimmungs-Merkmals ist auch noch in den ursprünglichen Entwurf zur Umsetzung des Beschlusses vom 13. Juni 2002 (BTDrucks. 15/813 S. 3) übernommen worden. Erst bei der Umformulierung des Entwurfs im Rechtsausschuss, durch die eine Angleichung an die Terminologie des Strafgesetzbuches erreicht werden sollte, ist daraus ein Singular geworden, ohne dass den Materialien zu entnehmen wäre, dass eine Einschränkung dahin beabsichtigt war, bereits eine einzige dieser Taten müsse für sich allein die erforderliche Bestimmung und Eignung haben (vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BTDrucks. 15/1730 S. 4, 6, 7).Im Übrigen entspricht diese Auslegung dem Sinn der Vorschrift. Terroristische Vereinigungen sind, wenn nicht sogar typischerweise, so doch jedenfalls häufig so konzipiert, dass sie nach den Vorstellungen ihrer Gründer und Mitglieder erst durch eine Vielzahl von Straftaten ihre politischen Ziele erreichen ("Nadelstich-Taktik").bb) Zutreffend hat es das Oberlandesgericht bei der Prüfung der Frage, ob die Brandstiftungstaten bestimmt waren, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, genügen lassen, dass eine solche Einschüchterung bei der ausländischen Bevölkerung und damit bei einem Teil der Gesamtbevölkerung angestrebt war. Zwar wird in der Vorschrift des § 129 a Abs. 2 StGB der Begriff "Bevölkerung" gebraucht, was bei einer Auslegung nur nach dem Wortlaut als Gesamtbevölkerung, etwa im Gegensatz zu § 130 StGB ("Teile der Bevölkerung"), verstanden werden könnte. Doch kann solchen an den Vorstellungen eines einheitlichen Sprachgebrauchs orientierten Überlegungen schon deswegen wenig Gewicht zukommen, weil bei der Neufassung des § 129 a Abs. 2 StGB insoweit lediglich die Formulierung des Rahmenbeschlusses übernommen worden ist. Entscheidend kommt hinzu, dass eine derart enge Auslegung dem Sinn der Vorschrift nicht gerecht werden würde. Denn die gesamte Bevölkerung eines Staates kann ohnehin kaum gemeint sein, da sie auch die Mitglieder der Vereinigung und ihre Sympathisanten umfassen würde, gegen die sich die Einschüchterungsversuche schwerlich richten. Da sich terroristische Aktivitäten zudem sehr häufig gegen Teile der Bevölkerung richten, die ethnisch, religiös, national oder rassisch bestimmt sind, würde bei einer wörtlichen Auslegung ein sehr erheblicher Teil typischer terroristischer Straftaten nicht erfasst werden können. Daher ist eine sinngemäße Auslegung der Vorschrift geboten, wonach es genügt, wenn die Taten der Vereinigung wenigstens nennenswerte Teile der Bevölkerung auf erhebliche Weise einschüchtern sollen (Rudolphi/Stein in SK-StGB § 129 a Rdn. 10; vgl. auch Fischer/Tröndle, StGB 53. Aufl. § 129 a Rdn. 15; aA Miebach/Schäfer in MünchKomm § 129 a Rdn. 66: "wenigstens überwiegender Teil").cc) Soweit das Oberlandesgericht weiter dargelegt hat, die Taten seien bestimmt gewesen, den öffentlichen Frieden zu stören, zu dem das gewaltfreie und friedliche Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen gehöre (UA S. 140), bleibt unklar, welches Tatbestandsmerkmal damit angesprochen ist. In Betracht käme die Tatbestandsvariante des § 129 a Abs. 2 StGB "bestimmt, die verfassungsrechtlichen Grundstrukturen eines Staates zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen" (vgl. zum Begriff der Untergrabung von Verfassungsgrundsätzen in § 120 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b GVG, zu denen der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft gegenüber Minderheiten gehört, BGHSt 46, 238, 251). Ob dieser Tatbestandsalternative neben derjenigen der Einschüchterung der Bevölkerung hier eine selbständige Bedeutung zukäme, bedarf keiner Entscheidung, weil bereits durch letztere der Tatbestand erfüllt ist.dd) Schließlich ist dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe in ausreichender Weise zu entnehmen, dass die Taten geeignet waren, durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat, die Bundesrepublik Deutschland, erheblich zu schädigen.Das Oberlandesgericht hat bei der rechtlichen Würdigung diese Eignung im Hinblick sowohl auf das Bundesland Brandenburg als auch auf die Bundesrepublik Deutschland bejaht, diese Annahme jedoch nur für das Bundesland Brandenburg näher begründet. Auf dessen Schädigung kommt es indes bei § 129 a Abs. 2 StGB nicht an. Denn diese Vorschrift nennt als Schutzobjekt nur Staaten oder internationale Organisationen. Dabei ergibt sich aus der Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, dass mit Staat nur Staatsgebilde auf der Ebene der Vertragsstaaten, die den EU-Rahmenbeschluss gefasst hatten, nicht aber Gliedstaaten eines Bundesstaates gemeint sind. Daher muss auch auf die Verfahrensrügen nicht mehr eingegangen werden, mit denen die fehlende Einführung einer Verlautbarung des Landes Brandenburg in die Hauptverhandlung beanstandet wird.An der Eignung zur Schädigung der Bundesrepublik Deutschland kann nach den getroffenen Feststellungen aber kein Zweifel bestehen, auch wenn sie im angefochtenen Urteil bei der rechtlichen Würdigung nicht näher begründet wird. Denn danach plante das "Freikorps" so lange systematische und gegebenenfalls wiederholte Brandanschläge gegen Objekte von Ausländern zu begehen, bis diesen ihre Existenzgrundlage entzogen und infolge der damit verbundenen Verunsicherung alle Ausländer "zunächst aus N. , später aus dem Havelland und weiteren Gebieten Deutschlands" vertrieben sind (UA S. 29). Dies hätte nicht nur einschneidende Auswirkungen auf die Gesellschaft und das wirtschaftliche Leben. Es hätte vielmehr eine nachhaltige und tief greifende Schädigung der inneren Sicherheit zur Folge, wenn ausländische Mitbürger allein wegen ihrer Herkunft massiv verfolgt werden und sich nicht mehr sicher und geschützt fühlen können. Es kommt hinzu, dass sich diese Taten in den Zusammenhang einer Vielzahl ähnlicher ausländerfeindlicher Straftaten aus rechtsextremer Gesinnung im gesamten Bundesgebiet einreihen, was ihre schädliche Wirkung zusätzlich erhöht.Für die Eignung zur Schädigung kommt es nach der Fassung des § 129 a Abs. 2 StGB auf den Zeitpunkt der Gründung der Vereinigung und ihrer Ausrichtung auf bestimmte Straftaten an. Unerheblich ist dagegen, ob bei einer rückblickenden Betrachtung nach der Auflösung der Vereinigung, die hier durch einen polizeilichen Zugriff bewirkt worden ist, tatsächlich ein solcher Schaden eingetreten ist. Die darauf gerichteten Einwendungen in den Revisionsbegründungen gehen somit ins Leere.2. Die Angeklagten H. , A. , S. , E. und B. sind weiterhin zu Recht als Gründer einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden.a) Gründer im Sinne der §§ 129, 129 a StGB sind nur solche Personen, die den Gründungsakt "führend und richtungsweisend" bewirken (BGH, Urt. vom 19. Mai 1954 - 6 StR 88/54, in einem redaktionellen Leitsatz in NJW 1954, 1254 abgedruckt und in BGHSt 27, 325, 326 wiedergegeben). Gegen diese - möglicherweise missverständliche - Definition wird der Einwand erhoben, bei einer so engen Auslegung könnten die Strafmilderungsvorschriften der § 129 Abs. 5, § 129 a Abs. 6 StGB bei Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung keine Funktion erlangen (vgl. Rudolphi/Stein in SK-StGB § 129 Rdn. 14; Fischer/Tröndle, StGB 53. Aufl. § 129 Rdn. 23). Dies gibt Anlass zur Klarstellung, dass nicht nur die Gründungsaktivitäten führender Personen erfasst werden sollten; vielmehr wird nur eine wesentliche Förderung der Gründung verlangt, also ein für das Zustandekommen der Vereinigung weiterführender und richtungsweisender Beitrag (vgl. auch Bubnoff in LK 11. Aufl. § 129 Rdn. 43). Dies ergibt sich aus den weiteren Ausführungen in dem insoweit nicht veröffentlichten Beschluss vom 19. Mai 1954. So verstanden kann ein Tatbeitrag durchaus eine weiterführende Wirkung für die Gründung entfalten, auch wenn er im Verhältnis zu den Beiträgen anderer Gründer von lediglich untergeordneter Bedeutung ist.b) Dass der Angeklagte H. Gründer der Vereinigung als Rädelsführer war, steht außer Frage. Einen wesentlichen Beitrag zur Gründung haben aber auch die Angeklagten A. , S. , E. und B. erbracht. Denn letztere haben bei der Gründungsversammlung den Plänen H. s nicht nur zugestimmt, sondern insbesondere durch ihre Bereiterklärung, Brandanschläge durchzuführen, erheblich zum Zustandekommen der Vereinigung beigetragen, zumal andere Anwesende, nämlich Bu. , Be. , P. , W. und R. , sich weigerten, selbst Brände zu legen.3. Der Strafausspruch ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Dabei kann offen bleiben, ob die Annahme schädlicher Neigungen bei allen Angeklagten gerechtfertigt war. Diese erscheint insbesondere bei solchen Angeklagten fraglich, die nur an einem Anschlag beteiligt waren und sich aus eigenem Antrieb frühzeitig von den kriminellen Aktivitäten zurückgezogen hatten (vgl. zu den Anforderungen an die Feststellung von erheblichen Persönlichkeitsmängeln BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 5, 7, 9). Zudem durfte angesichts des Umstandes, dass die Angeklagten A. , S. , E. und B. nach der Zerschlagung der Gruppe eine sehr günstige Entwicklung genommen haben, die bei ihnen zur Bejahung einer positiven Sozialprognose und Strafaussetzung zur Bewährung geführt hat, das Vorliegen schädlicher Neigungen noch im Urteilszeitpunkt nicht ohne nähere, mit Tatsachen untermauerte Begründung allein aus der Tatbegehung abgeleitet werden. Dies wirkt sich jedoch im Ergebnis aufden Strafausspruch nicht aus, da die vergleichsweise mäßigen Jugendstrafen allein wegen der Schwere der Schuld gerechtfertigt sind.Tolksdorf Winkler RiBGH Pfister ist urlaubs- bedingt an der Unter- zeichnung gehindert.Tolksdorfvon Lienen Hubert
bundesgerichtshof
bgh_080-2007
20.06.2007
Niederlage für sog. "Berufsaktionäre": Grundsatz der Kostenparallelität gilt nicht bei streitgenössischer Nebenintervention Ausgabejahr 2007 Erscheinungsdatum 20.06.2007 Nr. 080/2007 Niederlage für sog. "Berufsaktionäre": Grundsatz der Kosten-parallelität gilt nicht bei streitgenössischer Nebenintervention Der Kläger ist Aktionär der beklagten Aktiengesellschaft. Er hat in der Hauptversammlung vom 7. Januar 2005 gefasste Beschlüsse mit der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage angegriffen. Der Nebenintervenient (Streithelfer) – ebenso wie der Kläger ein Aktionär der Beklagten – ist dem Rechtsstreit auf Seiten des Klägers beigetreten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht haben der Kläger und die Beklagte einen Vergleich geschlossen, durch den sich der Kläger zur Rücknahme seiner Klage und die Beklagte im Gegenzug zur Übernahme der dem Kläger entstandenen Gerichts- und Rechtsanwaltskosten verpflichtet hat. Nach Rücknahme der Klage hat der Nebenintervenient beantragt, auch seine Rechtsanwaltskosten der Beklagten aufzuerlegen. Diesem Antrag hat der 21. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M, anders als das Landgericht Frankfurt, stattgegeben. Er hat auch zugunsten des Nebenintervenienten den Grundsatz der Kostenparallelität angewendet, der besagt, dass der Streithelfer kostenrechtlich ebenso zu behandeln ist wie die von ihm unterstützte Hauptpartei. Entsprechend dem für den Kläger günstigen Inhalt des Kostenvergleichs hat er der Beklagten auch die Rechtsanwaltskosten des Nebenintervenienten aufgebürdet und - weil er mit dieser Entscheidung von der gegenteiligen Rechtsprechung des 5. Zivilsenats desselben Gerichts abgewichen ist – die Rechtsbeschwerde zugelassen. Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten hat der II. Zivilsenat die erstinstanzliche, den Antrag des Nebenintervenienten abweisende Entscheidung wieder hergestellt. Das Oberlandesgericht hat den nur für die einfache Streitgenossenschaft anerkannten Grundsatz der Kostenparallelität zu Unrecht auch auf die hier gegebene streitgenössische Nebenintervention angewandt und damit die durch §§ 69, 62 ZPO vorgegebenen grundlegenden Unterschiede dieser beiden Formen der Streithilfe übergangen. Aktionäre, die Hauptversammlungsbeschlüsse gerichtlich angreifen wollen, sind wegen der in diesen Klageverfahren für und gegen alle Mitglieder der Gesellschaft eintretenden Urteilswirkungen notwendige Streitgenossen. Für diese Gruppe von Streithelfern trifft das Gesetz in § 101 Abs. 2 ZPO eine ihrer anders gearteten Funktion im Prozess entsprechende, von der für den einfachen Streitgenossen geltende abweichende Kostenregelung, indem für den Fall des Unterliegens der Hauptpartei auf § 100 ZPO verwiesen wird. Soweit diese Vorschrift nicht greift, weil – wie im entschiedenen Fall sich die Parteien verglichen und der Kläger danach die Klage zurückgenommen hat - § 100 ZPO nicht passt, gelten dann nach dem Beschluß des II. Zivilsenats vom 18. Juni 2007 die allgemeinen Kostenregelungen; im entschiedenen Fall ist dies § 269 ZPO, nach dem die Kosten einer zurückgenommenen Klage von dem Kläger zu tragen sind. Mit dieser, der Linie des 5. Zivilsenats des OLG Frankfurt entsprechenden Entscheidung dürfen die Nebenintervenienten von sog. "Berufsaktionären" – oftmals beschränkt sich ihre Mitwirkung in dem Rechtsstreit auf eine schlichte Bestellung auf Seiten des Klägers und eine Bezugnahme auf dessen Schriftsätze - in Zukunft nicht mehr erwarten, Anwaltshonorare in erheblicher Höhe vereinnahmen zu können, wenn sich Kläger und beklagte Gesellschaft miteinander vergleichen. Beschluss vom 18. Juni 2007 – II ZB 23/06 OLG Frankfurt/M, Beschluss vom 18. September 2006 – 21 W 44/05 ./. LG Frankfurt/M, Beschluss vom 13. Oktober 2005 – 3/10 O 3/05 Karlsruhe, den 20. Juni 2007 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des II. Zivilsenats vom 18.6.2007 - II ZB 23/06 - Beschluss des II. Zivilsenats vom 18.6.2007 - II ZB 23/06 -
Tenor Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 18. September 2006 aufgehoben.Die sofortige Beschwerde des Nebenintervenienten zu 2 gegen den Beschluss der 10. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.Der Nebenintervenient zu 2 trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren.Gegenstandswert: 5.000,00 &euro;. Gründe I. Die Kläger und die Nebenintervenienten sind Aktionäre der Beklagten. Die auf der außerordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 7. Januar 2005 unter den Tagungsordnungspunkten 2 und 3.1 bis 3.11 gefassten Beschlüsse sind von dem Kläger zu 1 und die unter dem Tagungsordnungspunkt 3 gefassten Beschlüsse von den Klägern zu 2 bis 4 mit Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage angegriffen worden. Die Nebenintervenientin zu 1 ist dem Rechtsstreit auf Seiten des Klägers zu 1, der Nebenintervenient zu 2 auf Seiten der Klägerin zu 2 beigetreten.In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht haben die Kläger und die Beklagte einen Vergleich geschlossen, durch den sich die Kläger zur Rücknahme ihrer Klage und die Beklagte im Gegenzug zur Übernahme der den Klägern entstandenen Gerichtskosten sowie der Gebühren und Auslagen ihrer Prozessbevollmächtigten aus einem Streit- bzw. Gegenstandswert i.H.v. 100.000,00 &euro; verpflichtetet haben. Nach Rücknahme der Klage haben die Nebenintervenienten beantragt, ihre außergerichtlichen Kosten der Beklagten aufzuerlegen. Das Landgericht hat den Antrag abgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde des Nebenintervenienten zu 2 hat das Oberlandesgericht die durch seine Nebenintervention verursachten Kosten der Beklagten auferlegt. Dagegen richtet sich die von dem Oberlandesgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Beklagten.II. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) ist begründet und führt unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur Wiederherstellung der Entscheidung des Landgerichts. Der Nebenintervenient zu 2 hat entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts keinen Anspruch auf Erstattung seiner außergerichtlichen Kosten durch die Beklagte.1. Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, aus § 101 Abs. 1 ZPO werde der allgemeine Rechtsgrundsatz hergeleitet, dass der Nebenintervenient hinsichtlich seiner Kosten genauso zu behandeln sei wie die von ihm unterstützte Partei ("Kostenparallelität") und eine von der Hauptpartei durch Vergleich getroffene Regelung auch dann für den Streithelfer maßgeblich sei, wenn er an dem Vergleich nicht teilgenommen habe oder die Kosten der Nebenintervention ausdrücklich ausgenommen worden seien. Es sei entgegen im Schrifttum vertretener Auffassung kein Grund erkennbar und von § 101 Abs. 2 ZPO nicht gefordert, den streitgenössischen Nebenintervenienten dort, wo sich seine gegenüber dem einfachen Nebenintervenienten abweichende Rechtsstellung nicht niederschlage, kostenmäßig anders zu behandeln als den "einfachen" Nebenintervenienten. Dieses Ergebnis stehe nicht in Widerspruch zu der Entscheidung BGH JZ 1985, 853, die maßgeblich auf das dort von der Beklagten erklärte Anerkenntnis gestützt worden sei, das, weil ein Fall des § 93 ZPO offenbar nicht vorgelegen habe, ohne die eingetretene Erledigung und die damit nach § 91 a ZPO zu treffende Kostenentscheidung zur Kostentragung der Beklagten nach § 91 ZPO geführt hätte.2. Dies begegnet, wie die Rechtsbeschwerde mit Recht geltend macht, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.a) § 101 Abs. 1 ZPO regelt die Frage, wer für die durch eine unselbständige Nebenintervention (§ 67 ZPO) verursachten Kosten aufzukommen hat, in der Weise, dass sie dem Gegner der unterstützten Hauptpartei aufzuerlegen sind, soweit er nach §§ 91 bis 98 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat. Wegen des danach maßgeblichen Grundsatzes der Kostenparallelität entspricht der Kostenerstattungsanspruch des Nebenintervenienten inhaltlich dem Kostenerstattungsanspruch, den die von ihm unterstützte Hauptpartei gegen den Gegner hat (BGHZ 154, 351, 354; Sen.Beschl. v. 14. Juli 2003 - II ZB 15/02, NJW 2003, 3354). Übernimmt der Gegner durch einen Vergleich die Kosten der Hauptpartei, kann auch der unselbständige Nebenintervenient von ihm Erstattung seiner Kosten verlangen (BGH, Beschl. v. 23. Januar 1967 - III ZR 15/64, NJW 1967, 983 f.).b) Diese Kostengrundsätze finden jedoch - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht beanstandet - im Streitfall keine Anwendung, weil es sich wegen der durch §§ 248, 249 AktG angeordneten Rechtskrafterstreckung (Sen.Urt. v. 1. März 1999 - II ZR 305/97, ZIP 1999, 580 f.) um eine streitgenössische Nebenintervention (§ 69 ZPO) handelt und mithin nicht § 101 Abs. 1, sondern § 101 Abs. 2 ZPO einschlägig ist, so dass über die außergerichtlichen Kosten der Partei und ihres streitgenössischen Nebenintervenienten eine jeweils eigenständige Entscheidung zu ergehen hat. Dem Nebenintervenienten zu 2 steht nach Rücknahme der Klage durch die von ihm unterstützte Klägerin zu 2 wegen der Kostenvorschrift des § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO ein Erstattungsanspruch gegen die Beklagte nicht zu.aa) Für die streitgenössische Nebenintervention gilt "ausschließlich" die Kostenregelung des § 101 Abs. 2, § 100 ZPO (Musielak/Wolst, ZPO 5. Aufl. § 101 Rdn. 1; MünchKommZPO/Belz, 2. Aufl. § 101 Rdn. 2; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO 27. Aufl. § 101 Rdn. 9; HK-ZPO/Gierl § 101 Rdn. 15; Andreas Sturm, NZG 2006, 921, 924), die den streitgenössischen Nebenintervenienten - wie es bereits dem Willen des historischen Gesetzgebers entsprach (Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen Band 2, 2. Aufl., Nachdruck der Ausgabe Berlin 1981, 1983, S. 202) - kostenrechtlich uneingeschränkt einem Streitgenossen der Hauptpartei gleichstellt. Die in der Verweisung des § 101 Abs. 2 ZPO auf § 100 ZPO zum Ausdruck kommende Unanwendbarkeit des Grundsatzes der Kostenparallelität im Verhältnis zwischen Hauptpartei und streitgenössischem Nebenintervenienten beruht auf dessen im Vergleich zu einem einfachen Streitgenossen rechtlich selbständigeren Stellung (Sen. Beschl. v. 3. Juni 1985 - II ZR 284/84, JZ 1985, 853 f.). Der von dem Oberlandesgericht und der Rechtsbeschwerdeerwiderung befürwortete ergänzende Rückgriff auf § 101 Abs. 1, § 98 ZPO ist daher mit der eindeutigen Gesetzeslage nicht zu vereinbaren (Stein/Jonas/Bork, ZPO 22. Aufl. § 101 Rdn. 8). Der Kostenerstattungsanspruch des einzelnen Streitgenossen bestimmt sich entsprechend den aus § 100 ZPO hergeleiteten Kostengrundsätzen nach seinem persönlichen Obsiegen und Unterliegen im Verhältnis zu dem Gegner. Daran anknüpfend ist auch über die Kosten eines streitgenössischen Nebenintervenienten eigenständig und unabhängig von der für die unterstützte Hauptpartei getroffenen Kostenentscheidung auf der Grundlage der für ihn maßgeblichen Umstände zu befinden. Aus dieser Erwägung hat der Senat im Rahmen einer nach § 91 a ZPO ergangenen Kostentscheidung das von der unterstützten Hauptpartei abgegebene Anerkenntnis bei der ihr gegenüber zu treffenden Kostenentscheidung berücksichtigt, es aber - was das Oberlandesgericht verkannt hat - nicht zum Nachteil des streitgenössischen Nebenintervenienten gewertet, sondern insoweit auf die mutmaßlichen Erfolgsaussichten der Klage abgestellt (Beschl. v. 3. Juni 1985 aaO).bb) Über die außergerichtlichen Kosten des Nebenintervenienten zu 2 ist danach ohne Rückgriff auf den zwischen den Parteien geschlossenen Vergleich, der hierfür keine Regelung enthält, gesondert zu entscheiden. Infolge der Rücknahme der Klage durch die von ihm unterstützte Klägerin zu 2 hat der Nebenintervenient zu 2 gemäß § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO seine außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen (OLG Köln MDR 1986, 503; Zöller/Greger, ZPO 25. Aufl. § 269 Rdn. 18 a).Goette Kurzwelly Gehrlein Caliebe Reichart Vorinstanzen:LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 13.10.2005 - 3/10 O 3/05 -OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 18.09.2006 - 21 W 44/05 -
bundesgerichtshof
bgh_148-2005
25.10.2005
Anspruch auf Rückzahlung einer 1925 emittierten Teilschuldverschreibung der damaligen Stadt Dresden wegen Zeitablaufs erloschen Ausgabejahr 2005 Erscheinungsdatum 25.10.2005 Nr. 148/2005 Anspruch auf Rückzahlung einer 1925 emittierten Teilschuldverschreibung der damaligen Stadt Dresden wegen Zeitablaufs erloschen Der für das Bank- und Börsenrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte über eine Klage auf Rückzahlung einer 1925 emittierten Teilschuldverschreibung der damaligen Stadt Dresden nebst Zinscoupons zu entscheiden. Der Kläger, ein US-amerikanischer Staatsbürger, ist Inhaber einer Teilschuldverschreibung über 1.000 US-Dollar nebst Zinscoupons. Diese ist Teil einer von der damaligen Stadt Dresden (Emittentin) im Jahr 1925 begebenen, am 1. November 1945 fälligen Golddollaranleihe über insgesamt 5 Millionen US-Dollar, von der 3,75 Millionen in New York und 1,25 Millionen US-Dollar in den Niederlanden vertrieben wurden. Die erlösten Geldmittel in Höhe von umgerechnet 18,4 Millionen Reichsmark wurden für den Ausbau des städtischen Elektrizitätswerks und der Straßenbahn verwendet. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Der Bundesgerichtshof hat die vom Berufungsgericht zugelassene Revision zurückgewiesen. Nach dem maßgebenden deutschen Recht war die dreißigjährige Frist zur Einlösung für die Teilschuldverschreibung (§ 801 Abs.1 Satz 1 BGB) am 01. November 1975 und die vierjährige Frist für die Vorlegung der Zinscoupons (§ 801 Abs.2 BGB) spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 1949 verstrichen. Damit waren die vom Kläger geltend gemachten Forderungen erloschen. Die Wirkungen des Zeitablaufs auf das Erlöschen des Anspruchs aus der Teilschuldverschreibung sind nach dem damals maßgeblichen Kollisionsrecht nach deutschem Recht zu beurteilen. Der Ablauf der Vorlegungsfrist ist weder unterbrochen noch gehemmt worden. Eine analoge Anwendung der Hemmungsvorschriften auf die Ausschlussfrist des § 801 Abs.1 Satz 1 BGB scheidet aus. Es fehlt an einer planwidrigen Gesetzeslücke. Der Beklagten ist es auch nicht gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auf den Ablauf der Vorlegungsfrist zu berufen. Die mehr als elf Jahre nach der Wiedervereinigung erfolgte Geltendmachung des klägerischen Anspruchs vermag den Einwand unzulässiger Rechtsausübung nicht mehr zu rechtfertigen. Im Übrigen ist der Anspruch des Klägers auch wegen der fehlenden Passivlegitimation der Beklagten zu verneinen. Die beklagte heutige Landeshauptstadt Dresden ist weder mit der Emittentin identisch noch deren Gesamtrechtsnachfolgerin geworden. Die früheren Gemeinden in der DDR existierten seit der Schaffung des sozialistischen Einheitsstaates nicht mehr als rechtlich selbständige Gebietskörperschaften, die als eigene Rechtssubjekte am Rechtsverkehr teilnehmen konnten. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatsregimes ist die Beklagte als Gebietskörperschaft originär neu errichtet worden. Auch eine Gesamtrechtsnachfolge hinsichtlich der früheren, vor dem sozialistischen Staatsumbau in der ehemaligen DDR bestehenden Gemeinden ist nicht eingetreten. Ebenso wenig hat eine Einzelrechtsnachfolge der Beklagten hinsichtlich der streitgegenständlichen Verbindlichkeiten stattgefunden. Urteil vom 25. Oktober 2005 – XI ZR 353/04 LG Dresden – Entscheidung vom 13.5.2003 – 5 O 683/02 ./. OLG Dresden – Entscheidung vom 24.9.2004 – 3 U 1049/03 Karlsruhe, denn 25. Oktober 2005 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Urteil des XI. Zivilsenats vom 25.10.2005 - XI ZR 353/04 -
Tenor Die Revision gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 24. September 2004 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.Von Rechts wegen. Tatbestand 1 Der Kläger nimmt die beklagte Landeshauptstadt D. aus einer 1925 von der damaligen Stadt D. emittierten Teilschuldverschreibung nebst Zinscoupons in Anspruch.2 Der Kläger, ein US-amerikanischer Staatsbürger, ist Inhaber einer Teilschuldverschreibung über 1.000 US-Dollar nebst Zinscoupons in Höhe von jeweils 35 US-Dollar für die Zeit von November 1934 bis November 1945. Diese ist Teil einer von der damaligen Stadt D. (im Folgenden: Emittentin) im Jahre 1925 begebenen, am 1. November 1945 fälligen Golddollaranleihe über insgesamt 5 Millionen US-Dollar, von der 3,75 Millionen in New York und 1,25 Millionen in den Niederlanden -zu Nennwerten in Höhe von 500 US-Dollar und 1.000 US-Dollar -vertrieben wurden. Die Emittentin hatte sich verpflichtet, den Nennwert in Goldmünzen der Vereinigten Staaten von Amerika oder den Gegenwert in Gold entsprechend dem am 1. November 1925 bestehenden Gewicht und Feingehalt zu zahlen. Von den erlösten Geldmitteln in Höhe von umgerechnet 18,4 Millionen Reichsmark wurden 9 Millionen Reichsmark für den Ausbau des dem Betriebsamt zugehörigen städtischen Elektrizitätswerks und 9,4 Millionen Reichsmark für den Ausbau der Straßenbahn verwendet.3 Der Kläger meint, die Beklagte sei Schuldnerin seines Zahlungsanspruchs, da sie mit der Emittentin identisch oder zumindest deren Rechtsnachfolgerin sei. Sein Anspruch sei weder verjährt noch erloschen. § 801 Abs. 1 BGB sei nicht anwendbar, da die Anleihe amerikanischem Recht unterliege.4 Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche weiter. Gründe 5 Die Revision ist unbegründet.I.6 Das Berufungsgericht (WM 2005, 1837) hat zur Begründung seines Urteils im Wesentlichen ausgeführt:7 Die Beklagte sei nicht passiv legitimiert. Sie sei zwar tatsächlich, aber nicht rechtlich mit der Emittentin der Teilschuldverschreibung identisch. Die frühere Stadt D. als Rechtsperson sei in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Zuge der Neuorganisation des Staatsaufbaus der DDR, in der es keine rechtsfähigen Gebietskörperschaften gegeben habe, untergegangen. Dementsprechend sei der Gesetzgeber der DDR beim Erlass des Kommunalverfassungsund des Kommunalvermögensgesetzes im Jahr 1990 nicht von einer neben der Staatsmacht existierenden Rechtspersönlichkeit der nachgeordneten Staatsverwaltungseinheiten ausgegangen, sondern habe die Beklagte originär geschaffen. Die Rechtfertigung der Zuordnung von Vermögenswerten liege in der tatsächlichen, nicht in der rechtlichen Identität der früheren und der neuen Gebietskörperschaften. Dementsprechend sei der Begriff der Rechtsnachfolge in Art. 21 Abs. 3 des Einigungsvertrages, wie sich auch aus der Begründung zu § 11 VZOG ergebe, nicht im rechtlichen Sinne zu verstehen. Die Beklagte sei daher nicht Gesamtrechtsnachfolgerin der Emittentin der Schuldverschreibung.8 Eine Eintrittspflicht der Beklagten lasse sich ferner nicht damit begründen, dass sie in Form von Anteilen an den durch Umwandlung der früheren volkseigenen Verkehrsund Versorgungsbetriebe entstandenen Kapitalgesellschaften Vermögen übernommen habe, auf dem die Rückzahlungsverpflichtung aus der Anleihe gelastet habe. Die bei der Emission der Anleihe als Eigenbetriebe der Emittentin geführten Wirtschaftseinheiten, in die die Mittel aus der Anleihe investiert worden seien, hätten bei ihrer rechtlichen Verselbständigung in Aktiengesellschaften im Jahr 1930 lediglich eine Darlehensverpflichtung gegenüber der Emittentin, nicht aber deren Rückzahlungsverpflichtung gegenüber den Inhabern der Teilschuldverschreibung übernommen. Die Schuld aus der Anleihe sei bei der Emittentin verblieben und nach deren Auflösung -sofern nicht erloschen -auf die DDR übergegangen. Im Übrigen fehle es am unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Vermögensgegenständen dieser Betriebe und der Anleiheschuld, da der Anleiheerlös keinen Vermögenswert darstelle, der unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben gedient habe.In jedem Fall sei der Rückzahlungsanspruch aus der Teilschuldverschreibung nach § 801 Abs. 1 Satz 1 BGB mit Ablauf der 30-jährigen Vorlegungsfrist am 1. November 1975 und aus den zwischen 1934 bis 1945 fällig gewordenen Zinscoupons nach Ablauf einer Vorlegungsfrist von jeweils vier Jahren erloschen. Obwohl der Anspruch nach dem Rechtsverständnis in der SBZ und der DDR nicht durchsetzbar gewesen sei, scheide eine analoge Anwendung des lediglich für Verjährungsfristen geltenden Hemmungstatbestandes des § 202 Abs. 1 BGB a.F. aus. Der Beklagten sei auch nicht gemäß § 242 BGB verwehrt, sich auf § 801 Abs. 1 BGB zu berufen, da sie nicht verantwortlich dafür sei, dass die Urkunde nicht innerhalb der Einlösungsfrist vorgelegt werden konnte, und beim Fortbestand der Verpflichtung ihre öffentlichen Aufgaben nur unter schwierigsten Bedingungen erfüllen könne. Jedenfalls habe der mit der Einlösungsfrist bezweckte Schutz des Ausstellers an einer verlässlichen zeitlichen Einschränkung seiner Leistungspflicht eine alsbaldige Vorlage nach der Wiedervereinigung, spätestens bis zum 31. Dezember 1993, erfordert.10 Ob die Frage, welchen Einfluss der Zeitablauf bis zur Vorlage der Urkunde auf das Bestehen der Forderung hat, nach dem Recht des Bundesstaates New York anders zu beurteilen wäre, könne dahinstehen. Maßgebend sei deutsches Recht und dort die Regelung des § 801 BGB. Nach der damaligen Rechtsprechung und Literatur sei davon auszugehen, dass weder ein Staat noch eine Stadtgemeinde die schuldrechtlichen Beziehungen zu ihren Anleihegläubigern einem anderen Recht habe unterwerfen wollen, als dem des eigenen Landes. Zwar stelle die Wahl der Zahlstelle New York neben der Abfassung der Urkunde in englischer Sprache, der Vereinbarung der ausländischen Währung und dem Zuschnitt der Anleihebedingungen auf den amerikanischen Kapitalmarkt ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass die Emittentin sich stillschweigend dem amerikanischen Recht habe unterwerfen wollen. Dieser Wille habe sich jedoch nach dem objektiv zu bestimmenden Anliegen der Emittentin nur auf die Bestimmungen der Anleihe bezogen, die das Zahlungsgeschäft, nicht jedoch die Substanz der Forderung betrafen. Die sich daraus ergebende Teilverweisung sei nach der damaligen Rechtsauffassung möglich und zulässig gewesen.II.11 Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung stand.12 1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Anspruch des Klägers aus § 793 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Rückzahlung des sich aus der Teilschuldverschreibung ergebenden Betrages gemäß § 801 Abs. 1 Satz 1 BGB sowie der aus den vorgelegten Coupons folgenden Zinsen gemäß § 801 Abs. 2 BGB erloschen ist.13 a) Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht das Erlöschen des Anspruchs aus der Teilschuldverschreibung durch Zeitablauf zutreffend nach deutschem Recht beurteilt.14 aa) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass auf das streitige Rechtsverhältnis die erst 1986 in das EGBGB eingefügten Vorschriften der Art. 27 ff. EGBGB keine Anwendung finden (Art. 220 Abs. 1 EGBGB) und sich die Frage des anwendbaren Rechts nach den richterund gewohnheitsrechtlich maßgeblichen Grundsätzen zum Zeitpunkt der Begebung der Anleihe bestimmt (Spickhoff, in: Bamberger/Roth, EGBGB Vor Art. 27 Rdn. 2; MünchKommBGB/Martiny, 3. Aufl. EGBGB Vor Art. 27 Rdn. 29 ff.). Soweit eine ausdrückliche oder stillschweigende Rechtswahl der Parteien (dazu RGZ 103, 259, 261; 126, 196, 200 f.; 145, 121, 122 ff.) nicht vorliegt, kommt es darauf an, was die Vertragsparteien bei vernünftiger und billiger Berücksichtigung aller Umstände mutmaßlich über das anzuwendende Recht bestimmt hätten (RGZ 68, 203, 205 ff.; 126, 196, 206 f.; 161, 296, 298).15 bb) Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht eine nach der damaligen Rechtsauffassung mögliche und zulässige (RGZ 118, 370, 371; 126, 196, 206) begrenzte Teilverweisung auf das amerikanische Recht nur hinsichtlich des Zahlungsgeschäfts, nicht jedoch hinsichtlich der Substanz der Forderungen und der damit zusammenhängenden Erlöschenstatbestände angenommen.16 (1) Die Rechtswahlvereinbarung unterliegt uneingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfung, da es um die Auslegung von Anleihebedingungen geht, diese nur einheitlich erfolgen kann (RGZ 152, 166, 169) und die Revision gegen Urteile verschiedener Berufungsgerichte eröffnet ist (Senat BGHZ 144, 245, 248; BGH, Urteil vom 5. Juli 2005 -X ZR 60/04, WM 2005, 1768, 1769, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen).17 (2) Den Anleihebedingungen ist, anders als die Revision meint, keine vollständige, auch die Substanz der Forderung erfassende Unterwerfung unter das amerikanische Recht zu entnehmen. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass die für eine Anwendung des amerikanischen Rechts sprechenden Indizien wie die Wahl der Zahlstelle New York, die Abfassung der Urkunde in englischer Sprache, die Vereinbarung der US-amerikanischen Währung und der Zuschnitt der Anleihebedingungen auf den amerikanischen Kapitalmarkt lediglich das Zahlungsgeschäft, nicht hingegen die schuldrechtliche Begründung und Existenz der Forderung selbst betreffen. Insoweit heißt es in der Schuldverschreibung vielmehr, dass alle Handlungen, die zur Gültigkeit der Obligation notwendig sind, in Beachtung der Verfassung und der Gesetze des Deutschen Reiches erfolgt sind.18 Der Einwand der Revision, dass die gesamten Anleihebedingungen nur vor dem Hintergrund der Usancen verständlich sind, die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für den Bankenplatz New York gegolten und ausschließlich auf dem damaligen Recht des Staates New York oder dem damaligen Bundesrecht der Vereinigten Staaten beruht hätten, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Allein der Umstand, dass der Schuldner den Gläubigern in verschiedenen Punkten (Währung, Zahlstelle, Sprache, Vertragstechnik) entgegengekommen ist und sich ihren Wünschen und Gepflogenheiten angepasst hat, vermag zumindest bei öffentlichrechtlichen Schuldnern keine allgemeine Unterwerfungsvermutung zu begründen. Denn nach dem damaligen Verständnis in Rechtsprechung und Literatur war grundsätzlich davon auszugehen, dass weder der Staat noch eine öffentlichrechtliche Körperschaft den Inhalt der Schuld und die Gültigkeit der deswegen übernommenen Verpflichtung einem anderen als dem Recht des eigenen Landes unterwerfen wollte (RGZ 126, 196, 207; Ständiger Internationaler Gerichtshof im Haag, Urteil vom 12. Juli 1929, Teilabdruck in: Plesch, Die Goldklausel, 1936, S. 8, 11; im Ergebnis auch RGZ 118, 370, 371; Duden RabelsZ 1936, 615, 631; kritisch: Rabel RabelsZ 1936, 492, 498). Es kann dahinstehen, ob etwas anderes gelten würde, wenn die Banken dem Schuldner die Anleihebedingungen bis in die kleinsten Einzelheiten diktiert hätten und die Anleihe lediglich in einem Gläubigerland herausgegeben worden wäre (vgl. dazu Lochner, Darlehen und Anleihe im internationalen Privatrecht, 1954, S. 46 f.). Das ist für die einheitliche, in den Vereinigten Staaten von Amerika und den Niederlanden platzierte Anleihe der Emittentin weder vom Berufungsgericht festgestellt noch von dem Kläger vorgetragen worden.Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Revision herausgestellten Verpflichtung, während der gesamten Laufzeit der Anleihe einen Finanzvertreter in New York zu unterhalten. Diese Regelung sollte lediglich die reibungslose Abwicklung des dem amerikanischen Recht unterfallenden Zahlungsverkehrs durch den von der Emittentin damit beauftragten Zahlungsagenten gewährleisten. Dass dieser die Rechte und Pflichten aus der Anleihe nach eigenem Ermessen wahrzunehmen hatte, ist entgegen der Ansicht der Revision den Anleihebedingungen nicht zu entnehmen. In der Klausel 1 ist lediglich vorgesehen, dass die Auslosung der vorzeitig zurückzuzahlenden Schuldverschreibungen durch die Zahlungsagentur in handelsüblicher Art in deren eigenem Ermessen durchgeführt werden soll.20 b) Nach dem danach maßgeblichen deutschen Recht war die dreißigjährige Frist zur Einlösung für die Teilschuldverschreibung (§ 801 Abs. 1 Satz 1 BGB) am 1. November 1975 und die vierjährige Frist für die Vorlegung der Zinscoupons (§ 801 Abs. 2 BGB) spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 1949 verstrichen.21 aa) Der Ablauf der Vorlegungsfristen ist weder unterbrochen noch gehemmt worden. Dabei kann dahinstehen, ob die Rechtsverfolgung der Klageforderung in der DDR, die unstreitig nicht versucht worden ist (siehe allgemein zur Unterlassung eines solchen Versuchs: Sayatz, Das Schicksal der Reichsmark-Wertpapiere und auf ausländische Währungen lautenden Deutschen Schuldverschreibungen nach 1945 S. 225 Fn. 134), unmöglich gewesen wäre (vgl. dazu: Staudinger/Peters, BGB Neubearbeitung 2004 § 206 Rdn. 8, 12; siehe auch OG, Neue Justiz 1952, 222, 224 und 552 f.) und ob die Unmöglichkeit als Hemmungsgrund nach §§ 202, 203 BGB a.F. angesehen werden könnte. Denn eine analoge Anwendung der Hemmungsvorschriften auf die Ausschlussfrist des § 801 Abs. 1 Satz 1 BGB scheidet mangels planwidriger Gesetzeslücke aus. Der Gesetzgeber hat das Erlöschen des verbrieften Anspruchs ausdrücklich mit dem Ziel angeordnet, im Interesse des Ausstellers die Anwendbarkeit von Hemmungsund Unterbrechungstatbeständen auszuschließen (Motive Bd. II S. 704; Gehrlein, in: Bamberger/Roth, BGB § 801 Rdn. 2; MünchKommBGB/Hüffer, 4. Aufl. § 801 Rdn. 3).22 bb) Zutreffend hat das Berufungsgericht auch ausgeführt, dass es der Beklagten nicht verwehrt ist, sich auf den Ablauf der Vorlegungsfrist zu berufen. Für den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) ist bei der gesetzlichen Ausschlussfrist des § 801 BGB nur ausnahmsweise in engen Grenzen Raum, wenn das Erlöschen des Anspruchs mit Treu und Glauben schlechthin nicht vereinbar ist und der Aussteller durch den Fortbestand des Anspruchs nicht unbillig belastet wird (RGRK/Steffen, 12. Aufl. § 801 BGB Rdn. 8; Palandt/Sprau, BGB 64. Aufl. § 801 Rdn. 4; differenzierend nach dem Zweck der Ausschlussfrist: BGH, Urteil vom 5. Juni 1975 -II ZR 131/73, NJW 1975, 793, 794). Ob diese Voraussetzungen angesichts des Umstandes, dass die Beklagte für die nicht erfolgte Vorlage der Urkunde nicht verantwortlich ist und der Fortbestand sämtlicher noch offener Ansprüche aus der Anleihe, die mit insgesamt etwa 800 Millionen &euro; zu beziffern sind, die Beklagte hinsichtlich der von ihr wahrzunehmenden öffentlichen Aufgaben unbillig belasten würde, gegeben sind, erscheint zweifelhaft, bedarf aber keiner Entscheidung.23 Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht nämlich ausgeführt, dass die Schuldurkunde alsbald nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vorzulegen war. Nach dem Wegfall der die Unzulässigkeit der Rechtsausübung begründenden Umstände bestimmt sich die Frist für die Geltendmachung des Anspruchs nach den Anforderungen des redlichen Geschäftsverkehrs und den Umständen des einzelnen Falles, wobei die dem Gläubiger zuzubilligende Frist im Hinblick auf den Zweck der Vorlegungsfrist knapp zu bemessen ist (vgl. BGH, Urteile vom 14. Oktober 1958 -VI ZR 183/57, NJW 1959, 96, vom 5. Juni 1975 -II ZR 131/73, WM 1975, 793, 794, vom 14. Februar 1978 -VI ZR 78/77, WM 1978, 415, 416 und vom 6. Dezember 1990 -VII ZR 126/90, WM 1991, 738, 739). Die erst mehr als elf Jahre nach der Wiedervereinigung erfolgte Geltendmachung des klägerischen Anspruchs vermag den Einwand unzulässiger Rechtsausübung jedenfalls nicht mehr zu rechtfertigen.24 2. Rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auch wegen der fehlenden Passivlegitimation der Beklagten verneint hat.25 a) Entgegen der Auffassung der Revision haben die Vorinstanzen zutreffend dargelegt, dass die beklagte Landeshauptstadt D. nicht mit der Emittentin identisch ist.26 aa) Die früheren Gemeinden der DDR existierten spätestens seit dem Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 18. Januar 1957 (GBl. I S. 65) nicht mehr als rechtlich selbständige Gebietskörperschaften, die als eigene Rechtssubjekte am Rechtsverkehr teilnehmen konnten (OLG Dresden VIZ 2003, 585, 586). Die ehemals kommunalen Aufgaben wurden gemäß § 4 dieses Gesetzes durch die jeweiligen Räte der Gemeinden als vollziehende und verfügende Organe der örtlichen Volksvertretung wahrgenommen. Diese Räte waren keine Organe der Gemeinden, sondern örtliche Organe der zentralen Staatsgewalt. Die DDR war ein Einheitsstaat, dessen Aufbau keinen Platz für selbständige Träger öffentlicher Verwaltung ließ. Das System der eigenverantwortlichen kommunalen Selbstverwaltung durch entsprechende Gebietskörperschaften war aufgelöst und der Staatsrechtslehre der DDR völlig fremd (BGHZ 127, 285, 288 f.; OLG Rostock DtZ 1993, 376; Autorenkollektiv, Staatsrecht der DDR 2. Aufl. S. 258 f. und 268; Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR 2. Aufl. Präambel Rdn. 47, Art. 2 Rdn. 7, Art. 41 Rdn. 2, Art. 43 Rdn. 10 und Art. 81 Rdn. 3, 7; Roggemann, Die DDR-Verfassungen 4. Aufl. S. 215 f.).27 bb) Die Beklagte ist nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatsregimes der DDR durch § 1 Abs. 3 des Gesetzes über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung) vom 17. Mai 1990 (GBl. I S. 255) als Gebietskörperschaft originär neu errichtet worden (BGH, Urteil vom 6. Mai 2004 -III ZR 248/03, VIZ 2004, 492, 493). Gleichzeitig wurde durch die Aufhebung der Art. 41, 43 sowie 81 bis 85 der DDR-Verfassung sowie des Gesetzes über die örtlichen Volksvertretungen der DDR vom 4. Juli 1985 (GBl. I S. 213) das gesamte System der örtlichen Staatsorgane beseitigt und die Kommunalverfassung auf eine völlig neue Grundlage gestellt (BGHZ 127, 285, 289; 127, 297, 301; BGH, Urteile vom 28. Juni 1995 -VIII ZR 250/94, WM 1995, 1724, 1725).28 cc) In Anbetracht der grundlegenden Wesensunterschiede zwischen dem früheren System der Räte als unselbständige Teile der zentralen Staatsgewalt und den mit dem kommunalen Selbstverwaltungsrecht ausgestatteten neuen Gebietskörperschaften kann von einer rechtlichen Identität der Beklagten mit der Emittentin der streitigen Schuldverschreibung keine Rede sein (BGHZ 127, 285, 289; 132, 245, 249 f.). Das belegen auch die Regelungen des Gesetzes über das Vermögen der Gemeinden, Städte und Landkreise (Kommunalvermögensgesetz -KVG) vom 6. Juli 1990 (GBl. I S. 660), durch das die kommunalen Körperschaften nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems in der DDR mit eigenem Vermögen ausgestattet worden sind (BGH, Urteil vom 6. Mai 2004 -III ZR 248/03, VIZ 2004, 492, 493).29 b) Das Berufungsgericht hat auch zu Recht angenommen, dass die Beklagte nicht Gesamtrechtsnachfolgerin der Emittentin geworden ist.30 aa) Gegen eine Gesamtrechtsnachfolge spricht entscheidend die Existenz des Kommunalvermögensgesetzes, das weitgehend nicht erforderlich gewesen wäre, wenn sich der Kommunalverfassung eine Gesamtrechtsnachfolge entnehmen ließe (BGHZ 127, 285, 290). Zudem wird in der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren ausdrücklich ausgeführt, dass im Zusammenhang mit dem Umbau der Staatsstruktur in den Neuen Bundesländern die öffentlichen Körperschaften neu gegründet und nicht als Rechtsnachfolger im wörtlichtechnischen Sinne des Wortes eingerichtet worden seien (BT-Drucks. 12/6228 S. 110; BGH, Urteil vom 6. Mai 2004 -III ZR 248/03, VIZ 2004, 492, 493).31 bb) Eine Gesamtrechtsnachfolge lässt sich entgegen der Auffassung der Revision auch nicht aus Art. 21 Abs. 3 des Einigungsvertrages entnehmen. Der dort normierte Restitutionsanspruch korrigiert die nach Art. 21 Abs. 1 und 2, Art. 22 Abs. 1 des Einigungsvertrages gesetzlich vorgenommene Zuordnung des Verwaltungsund Finanzvermögens, um unrechtmäßige Vermögensveränderungen zwischen öffentlichrechtlichen Körperschaften nach dem 8. Mai 1945 rückgängig zu machen (Denkschrift zum Einigungsvertrag BT-Drucks. 11/7760 S. 355, 365; Schmidt/Leitschuh, in: RVI Stand Juni 2005 B 20 Einigungsvertrag Art. 21 Rdn. 29; Schmitt-Habersack, in: Kimme, Offene Vermögensfragen Stand November 2004 Einigungsvertrag Art. 21 Rdn. 23). Die Restitution gemäß Art. 21 Abs. 3 des Einigungsvertrages sieht dabei allenfalls eine gegenständlich beschränkte Rechtsnachfolge, nicht aber eine Gesamtrechtsnachfolge vor (Bundesministerium der Justiz, in: Infodienst Kommunal Nr. 65 S. 17 ff.; OLG Dresden VIZ 2003, 585, 587).32 c) Auch eine Einzelrechtsnachfolge der Beklagten hinsichtlich der streitgegenständlichen Verbindlichkeiten hat nicht stattgefunden. Art. 21 und 22 Einigungsvertrag, die den Übergang von Verwaltungsund Finanzvermögen der DDR regeln, bilden keine Grundlage für die Einstandspflicht gegenüber dem Kläger, weil die Beklagte nicht Inhaberin von Vermögenswerten geworden ist, die mit einer Verbindlichkeit in Form des vom Kläger geltend gemachten Rückzahlungsanspruchs aus der Teilschuldverschreibung belastet sind.33 aa) Entgegen der Auffassung der Revision gehören das städtische Elektrizitätswerk und die Straßenbahn, zu deren Ausbau der Anleiheerlös eingesetzt wurde, nicht zum Vermögen der Beklagten. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts sind aus den ehemaligen volkseigenen Verkehrsund Versorgungsbetrieben privatrechtliche Kapitalgesellschaften hervorgegangen. Lediglich die von der Beklagten an diesen Gesellschaften gehaltenen Anteile sind ihrem Finanzvermögen zuzurechnen. Da sich der Rückzahlungsanspruch des Klägers aus der Teilschuldverschreibung nur gegen denjenigen richten kann, dem der damit verbundene Vermögenswert zugewiesen ist (BGHZ 145, 145, 148), scheidet eine Rückzahlungsverpflichtung der Beklagten aus der Anleihe aus.34 bb) Eine Haftung der Beklagten wäre auch dann nicht gegeben, wenn auf ihren Vermögensstatus vor der von ihr durchgeführten Privatisierung abgestellt würde. Auch zu diesem Zeitpunkt lastete auf den ehemaligen volkseigenen Verkehrsund Versorgungsbetrieben keine Verbindlichkeit aus den 1925 emittierten Teilschuldverschreibungen nebst Zinscoupons.35 (1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehören zum Vermögen i.S. des Art. 21 Einigungsvertrag nur die Passiva, die mit dem übergegangenen Aktivvermögen in einem engen, unmittelbaren Zusammenhang stehen (BGHZ 128, 393, 399; 145, 145, 148; BGH, Urteil vom 6. Mai 2004 -III ZR 248/03, VIZ 2004, 492, 493). Das ist nur der Fall, wenn die Verbindlichkeit aus einem Vertrag resultierte, der sich auf den Erwerb, die Erstellung oder die Nutzung eines konkreten, einer bestimmten Verwaltungsaufgabe dienenden Vermögensgegenstandes richtete (vgl. BGHZ 128, 393, 399 f.; 137, 350, 363; BGH, Urteil vom 5. Dezember 1996 -VII ZR 21/96, WM 1997, 792, 793).36 (2) Eine solche enge unmittelbare Verknüpfung zwischen der Rückzahlungsverpflichtung aus den Teilschuldverschreibungen und mit dem Anleiheerlös finanzierten Vermögenswerten war hier nie gegeben.Der Anleiheerlös wurde dem allgemeinen Finanzvermögen der Emittentin zugeführt und stand ihr zur freien Verfügung. Ob etwas anderes gelten würde, wenn die Emittentin sich gegenüber den Erwerbern der Teilschuldverschreibungen zu einer bestimmten Verwendung des Anleiheerlöses zur Schaffung eines konkreten Vermögenswertes verpflichtet hätte, braucht nicht entschieden zu werden. Denn dem Text der Teilschuldverschreibung sowie den dazugehörigen Anleihebedingungen lässt sich eine solche Zweckbindung nicht entnehmen.37 Im Übrigen wäre der nach Auffassung der Revision gegebene Zusammenhang zwischen der Rückzahlungspflicht aus der Teilschuldverschreibung und dem mit dem Anleiheerlös erfolgten Ausbau des Elektrizitätswerks und der Straßenbahn durch die Gründung der D. Gas-, Wasserund Elektrizitätswerke AG und der D. Straßenbahn AG zum 1. Januar 1930 aufgehoben worden. Damit gingen nämlich die mit Hilfe des Anleiheerlöses geschaffenen Vermögenswerte auf die beiden neu gegründeten juristischen Personen des Privatrechts über, während die Rückzahlungsverpflichtung aus der Anleihe bei der Emittentin verblieb. Der streitgegenständliche Klageanspruch stellte somit keine Verbindlichkeit der im Jahr 1930 gegründeten Aktiengesellschaften dar. Deren weiteres rechtliches Schicksal ist deshalb für die Entscheidung der Klage bedeutungslos.38 c) Entgegen der Ansicht der Revision besteht auch keine Haftung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Funktionsnachfolge, weil diese Rechtsfigur eine Hilfskonstruktion mit subsidiärem Charakter darstellt, die dazu dienen soll dringende Ansprüche durchzusetzen, deren Befriedigung wegen ihres öffentlichrechtlichen Charakters nicht bis zum Erlass eines Gesetzes aufgeschoben werden kann, ohne dass der Berechtigte oder die Rechtsordnung Schaden erleiden (BGHZ 8, 169, 177 ff.; 16, 184, 188; 128, 140, 147; BGH, Urteil vom 28. Juni 1995 -VIII ZR 250/94, WM 1995, 1724, 1726). Davon kann bei einem Anspruch aus einer Schuldverschreibung aus dem Jahre 1925 schon wegen seines zivilrechtlichen Charakters keine Rede sein (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 1995 -VIII ZR 165/94, WM 1996, 267, 269). Außerdem enthält der Einigungsvertrag eine abschließende Regelung, welche Verpflichtungen der ehemaligen DDR übernommen werden sollten (BGHZ 128, 140, 148).39 d) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, die Auffassung des Berufungsgerichts führe zu einer systemwidrigen Besserstellung der Inhaber von Restitutionsansprüchen in Grundstücke und grundstücksgleiche Rechte gegenüber den Inhabern von Forderungen. Beide Sachverhalte sind nicht miteinander vergleichbar. Während der frühere Eigentümer eines Grundstücks zu Zeiten der DDR durch Enteignung aus seiner Eigentumsposition verdrängt wurde, hat sich die rechtliche Zuordnung der aus der Teilschuldverschreibung folgenden Ansprüche nicht geändert. Der Kläger ist weiterhin Gläubiger der Teilschuldverschreibung und Inhaber der daraus resultierenden Rechte geblieben. Im Gegensatz zu dem enteigneten Grundstückseigentümer stand ihm auch zu Zeiten der DDR die rechtliche Befugnis zu, über die Teilschuldverschreibung zu verfügen.40 e) Auch mit den von der Revision angeführten völkerrechtlichen Erwägungen lässt sich eine Passivlegitimation der Beklagten nicht begründen.41 aa) Das Londoner Abkommen über deutsche Auslandsschulden vom 27. Februar 1953 (BGBl. II 333), das die vor dem 8. Mai 1945 begründeten Auslandsverbindlichkeiten unter anderem auch der Gebietskörperschaften der Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung regelte, ist, wie auch die Revision nicht verkennt, auf Auslandsschulden der Gebietskörperschaften aus den Neuen Bundesländern nicht unmittelbar anwendbar. Eine entsprechende Anwendung des völkerrechtlichen Vertrages auf solche Schulden überschreitet die Befugnisse der Rechtsprechung. Außerdem könnte sie die Passivlegitimation der nach 1990 entstandenen Beklagten nicht begründen. Nach Art. 6 b i.V. mit Anlage I B 7 des Abkommens waren die sich nach den dortigen Rückzahlungsmodalitäten ergebenden Beträge für von Gebietskörperschaften ausgegebenen Auslandsschuldverschreibungen von der Bundesregierung zu transferieren.42 bb) Entgegen der Auffassung der Revision vermag auch das von ihr unter Berufung auf Art. 25 GG angeführte völkerrechtliche Verbot einer entschädigungslosen Enteignung von Ausländern eine Haftung der Beklagten nicht zu rechtfertigen. Dabei kann dahinstehen, ob der durch das sozialistische Regime der DDR durchgeführte Systemwandel, der zum Wegfall der Emittentin als Rechtspersönlichkeit und damit als Schuldnerin führte, als eine völkerrechtlich unzulässige Enteignung der ausländischen Anleihegläubiger angesehen werden könnte. Es ist nicht ersichtlich und wird von der Revision nicht aufzeigt, aus welchem Grund die erst nach der Wiedervereinigung neu geschaffene Beklagte für einen völkerrechtlichen Verstoß der früheren DDR haften sollte.III. Nach alledem war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Nobbe Joeres Mayen Ellenberger Schmitt Vorinstanzen: LG Dresden, Entscheidung vom 13.05.2003 -5 O 683/02 -OLG Dresden, Entscheidung vom 24.09.2004 -3 U 1049/03
bundesgerichtshof
bgh_224-2010
19.11.2010
Urteil gegen Mitglied von Al Qaida rechtskräftig Ausgabejahr 2010 Erscheinungsdatum 19.11.2010 Nr. 224/2010 Das Oberlandesgericht Koblenz hat den Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit mehreren Verstößen gegen das gegen Al Qaida verhängte Wirtschafts-Embargo zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Der für Staatsschutzstrafsachen zuständige 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Zustimmung des Generalbundesanwalts die Embargoverstöße von der Strafverfolgung ausgenommen, im Übrigen jedoch die Revision des Angeklagten verworfen. Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts war der Angeklagte - ein 1962 in Pakistan geborener und 1992 in Deutschland eingebürgerter sunnitischer Muslim - spätestens ab Sommer 2004 bis zu seiner Verhaftung im Februar 2008 Mitglied in der ausländischen terroristischen Vereinigung Al Qaida. In dieser Eigenschaft brachte er Ausrüstungsgegenstände und Geld für Al Qaida von Deutschland in das pakistanisch-afghanische Grenzgebiet, bemühte sich um die Rekrutierung von Kämpfern, warb Unterstützer, nahm selbst an Ausbildungen der Al Qaida teil und stellte sich als Kämpfer zur Verfügung. Kenntnis von diesen Taten erlangten die deutschen Ermittlungsbehörden, nachdem der Angeklagte in Pakistan festgenommen worden war. Bei Vernehmungen durch den pakistanischen Geheimdienst ISI, bei denen er zum Teil geschlagen worden war, hatte er die Taten zugegeben. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hatte der Angeklagte die Tatvorwürfe bestritten und seine Angaben in Pakistan als durch Folter erzwungene unwahre Geständnisse bezeichnet hat. Das Oberlandesgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten unter anderem auch auf die Bekundungen eines Mitarbeiters der deutschen Botschaft in Islamabad gestützt. Dieser hatte den Angeklagten im Gewahrsam des ISI aufgesucht. Dabei war ihm vom Angeklagten sowohl von den Misshandlungen als auch von den Straftaten berichtet worden. Der Bundesgerichtshof hat die Verwertung der Aussage des Botschaftsangehörigen über das ihm gegenüber abgegebene Geständnis des Angeklagten gebilligt. Dessen Anhörung war keine Vernehmung im Sinne von § 136a StPO, sondern diente der Fürsorge für im Ausland in Haft genommene deutsche Staatsangehörige. Das Gespräch war von der durch die Mitarbeiter des ISI in der Zeit davor ausgeübten Gewalt auch nicht mehr beeinflusst. Eine Fernwirkung der vom Angeklagten erlittenen Misshandlungen in der Form, alles, was er während seiner Inhaftierung durch den ISI auch Dritten gegenüber geäußert hat, mit einem Verwertungsverbot zu belegen, hat der Bundesgerichtshof nicht angenommen. Obwohl der Vorwurf, durch den mehrfachen Transfer von Geld an andere Mitglieder der Al Qaida auch gegen das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen zu haben, im Revisionsverfahren von der Verfolgung ausgenommen worden ist, hat der Bundesgerichtshof die vom Oberlandesgericht verhängte Strafe bestehen lassen; denn das Oberlandesgericht hat diese Verstöße bei der Strafzumessung ausdrücklich nicht zu Lasten des Angeklagten strafschärfend verwertet. Beschluss vom 14. September 2010 – 3 StR 573/09 OLG Koblenz - Urteil vom 13. Juli 2009 - 2 StE 6/08 - 8 Karlsruhe, den 19. November 2010 Pressestelle des Bundesgerichtshofs 76125 Karlsruhe Telefon (0721) 159-5013 Telefax (0721) 159-5501 Ergänzende Dokumente Beschluss des 3. Strafsenats vom 14.9.2010 - 3 StR 573/09 -
Tenor 1. Auf die Revision des Angeklagten wirda) die Strafverfolgung auf den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung beschränkt, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 13. Juli 2009 im Schuldspruch dahin geändert, dass die Verurteilung wegen der "vorsätzlichen nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbaren Zuwiderhandlung gegen ein EG-Embargo" in acht tateinheitlichen Fällen entfällt.2. Die weitergehende Revision wird verworfen.3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen. Gründe Das Oberlandesgericht hat den Angeklagten wegen "mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Tateinheit mit acht Fällen der vorsätzlichen nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbaren Zuwiderhandlung gegen ein EG-Embargo" zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit mehreren verfahrensrechtlichen Beanstandungen und der allgemeinen Sachbeschwerde.Mit Zustimmung des Generalbundesanwalts hat der Senat gemäß § 154a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO die Verfolgung auf den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung beschränkt und die Vorwürfe tateinheitlich begangener Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz von der Strafverfolgung ausgenommen. Dies führt zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Änderung des Schuldspruchs. Im verbleibenden Umfang hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).1. Der Schuldspruch nach § 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB hält rechtlicher Nachprüfung stand. Näherer Erörterung bedarf nur die im Zusammenhang mit der Verwertung der Aussage des Zeugen M. erhobene Verfahrensbeanstandung. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts beteiligte sich der in Pakistan geborene und 1992 in Deutschland eingebürgerte Angeklagte ab spätestens Sommer 2004 bis zum Februar 2008 als Mitglied in der ausländischen terroristischen Vereinigung Al Qaida. Er beschaffte in Deutschland Ausrüstungsgegenstände sowie größere Geldbeträge und verbrachte diese bei insgesamt acht Reisen in das pakistanischafghanische Grenzgebiet, wo er sie an andere Mitglieder der Organisation weitergab. Darüber hinaus bemühte er sich - teils erfolgreich - um die Rekrutierung von Kämpfern, warb um Unterstützer für Al Qaida, nahm an Ausbildungen der Vereinigung teil und stellte sich auch selbst als Kämpfer zur Verfügung. Am 18. Juni 2007 wurde er in Lahore vom pakistanischen Geheimdienst ISI festgenommen und an diesem sowie am Folgetag mehrfach vernommen. Er machte dabei auch Angaben zu seiner Tätigkeit in der Al Qaida. Bei diesen Verhören wurde der Angeklagte auf nicht näher feststellbare Weise - wahrscheinlich mit einem Schlaginstrument, das aus einem etwa 1 cm dicken, oval zugeschnittenen Gummistück aus einem Reifen mit Holzgriff bestand - geschlagen, als er danach befragt wurde, ob er in Pakistan oder in Deutschland Anschläge plane. Während das Oberlandesgericht insoweit von einer Misshandlung des Angeklagten durch die pakistanischen Behörden ausgeht, hat es hinsichtlich weiterer Verhöre in der Folgezeit nur nicht ausschließen können, dass der Angeklagte dabei erneut geschlagen worden ist.Mitarbeiter des ISI unterrichteten den Verbindungsbeamten des Bundeskriminalamts in Islamabad am 19. Juni 2007 von den Angaben des Angeklagten und boten an, diesen über den ISI befragen zu lassen. Hiervon machte der Verbindungsbeamte keinen Gebrauch. Er teilte dem ISI auch keine Erkenntnisse über den Angeklagten mit, sondern unterrichtete die Deutsche Botschaft von dessen Verhaftung. Am 18. Juli 2007 konnte der Zeuge M. , Leiter der Rechts- und Konsularabteilung der Deutschen Botschaft in Islamabad, den Angeklagten besuchen. Alleiniger Grund für das Gespräch war die konsularische Betreuung des Gefangenen. Dem Zeugen war zuvor vom ISI mitgeteilt worden, dass dem Anklagten Kontakte zu Al Qaida angelastet würden und er sich beim Bombenbau am Arm verletzt habe. Weder der Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamts noch andere Mitarbeiter deutscher Ermittlungs- oder Sicherheitsbehörden oder Mitarbeiter des ISI waren an ihn mit dem Anliegen herangetreten, den Angeklagten über seine Betätigung für Al Qaida zu befragen oder auch nur das Gespräch in diese Richtung zu lenken. Das Treffen fand in einer Villa statt. Es wurde in entspannter Atmosphäre in deutscher Sprache und teilweise unter vier Augen geführt. Der Zeuge wollte abklären, ob der Angeklagte die Vermittlung eines Rechtsanwalts durch die deutsche Auslandsvertretung wünsche. Er fragte deshalb, seiner üblichen Vorgehensweise in solchen Fällen entsprechend, ob der Angeklagte wisse, was ihm vorgeworfen werde und ob die Vorwürfe stimmten. Dies bejahte der Angeklagte und erzählte nunmehr von sich aus von seiner langjährigen Tätigkeit für Al Qaida und von seiner Verletzung beim Versuch, in einem Trainingslager der Organisation einen Sprengkörper herzustellen. Er berichtete auch davon, in der Haft mehrmals gefragt worden zu sein, ob er Anschläge geplant habe; dies seien die einzigen Gelegenheiten gewesen, bei denen er geschlagen worden sei. Ansonsten sei er relativ vernünftig behandelt und nicht geschlagen worden.Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache eingelassen. Seinen Erklärungen, die er nach einzelnen Beweiserhebungen abgegeben hat, hat das Oberlandesgericht entnommen, dass er den Tatvorwurf bestreite. Es hat Aussagen, die der Angeklagte bei seinen Vernehmungen durch den ISI getätigt hatte, nicht verwertet. Seine der Verurteilung zugrundeliegende Überzeugung beruht indes unter anderem auf den Bekundungen des Zeugen M. über die Angaben, die der Angeklagte ihm gegenüber bei dem Gespräch am 18. Juli 2007 über seine Tätigkeit für Al Qaida gemacht hatte. Diese Angaben sind - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - verwertbar.a) Das Verbot des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO steht einer Verwertung der Aussage des Zeugen M. nicht entgegen.aa) Die Anhörung des Angeklagten durch den Zeugen M. war keine Vernehmung im Sinne von § 136a StPO. Der Zeuge M. ist erkennbar in Erfüllung seiner Pflichten aus dem Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (Konsulargesetz - KonsG) tätig geworden. Danach sind die Konsularbeamten u.a. dazu berufen, Deutschen nach pflichtgemäßem Ermessen Rat und Beistand zu gewähren (§ 1 KonsG; vgl. auch Art. 5 Buchst. e Wiener Übereinkommen über Konsularische Beziehungen - WÜK). Sie sollen in ihrem Konsularbezirk deutsche Untersuchungs- und Strafgefangene auf deren Verlangen betreuen und ihnen insbesondere Rechtsschutz vermitteln (§ 7 KonsG; vgl. auch Art. 36 Abs. 1 Buchst. c WÜK). Bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem Inhaftierten soll der Konsularbeamte auch den Grund der Inhaftierung zu klären versuchen (vgl. Hoffmann, Konsularrecht, Band I, Stand: 1. April 1995, § 7 KonsG, Rn. 7.3.2). Damit er einen geeigneten Anwalt empfehlen kann, ist es erforderlich, dass er sich mit dem Inhaftierten auch über die ihm zur Last gelegten Straftaten unterhält (Wagner/Raasch/Pröpstl, WÜK, Kommentar für die Praxis, 2007, S. 261). Sowohl das Konsulargesetz als auch das Wiener Übereinkommen unterscheiden zwischen der Beistandsleistung, die der Konsularbeamte gegenüber einem deutschen Staatsbürger in seinem Zuständigkeitsbereich erbringt, und den Vernehmungen und Anhörungen, die er auf Ersuchen der Gerichte und Behörden des Entsendestaates durchführt (§ 15 KonsG; Art. 5 Buchst. j WÜK). Nur bei letzteren hat er die für die jeweilige Vernehmung geltenden deutschen verfahrensrechtlichen Vorschriften sinngemäß anzuwenden (§ 15 Abs. 3 KonsG).Die Befragung hat aus Anlass der Beistandsleistung für den Inhaftierten stattgefunden. Sie war keine amtliche Befragung eines Beschuldigten in Bezug auf die "Beschuldigung" (§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO) oder den "Gegenstand der Untersuchung" (§ 69 Abs. 1 Satz 2, § 72 StPO) im Rahmen eines Strafverfahrens (vgl. Löwe/Rosenberg/Gleß, StPO, 26. Aufl., § 136a Rn. 15).bb) Selbst wenn § 136a StPO auf das Gespräch zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen M. zumindest entsprechend Anwendung zu finden hätte, würde sich hieraus kein Verwertungsverbot für die Erklärungen des Angeklagten ergeben.Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts haben die Misshandlungen des Angeklagten bei seinen Vernehmungen durch den ISI keinen Einfluss auf seine Angaben gegenüber dem Zeugen M. gehabt. Der Senat kann erneut offen lassen, ob er an diese - rechtsfehlerfrei getroffenen - Feststellungen gebunden (vgl. insoweit schon BGH, Urteil vom 14. August 2009 - 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 = NJW 2009, 3448, Rn. 73) oder insoweit zu eigener Prüfung im Freibeweisverfahren berufen ist (im letzteren Sinn BGH, Urteil vom 28. Juni 1961 - 2 StR 154/61, BGHSt 16, 164). Denn er kommt auch bei eigener Überprüfung anhand der vom Oberlandesgericht mitgeteilten, von der Revision als solche nicht in Zweifel gezogenen objektiven Umständen der Befragung zu demselben Ergebnis.Gegen eine Fortwirkung spricht die vom Zeugen M. geschilderte Gesprächssituation. Er konnte sich in einer entspannten Atmosphäre durchgängig auf deutsch mit dem Angeklagten unterhalten. Ein - möglicherweise der deutschen Sprache mächtiger - Mitarbeiter des ISI verließ nach einiger Zeit den Raum. Der Angeklagte schilderte dem Zeugen, vereinzelt Schläge erhalten zu haben. Diese deutschem und internationalem Recht zuwiderlaufende Verfahrensweise würde er nicht geschildert haben, wenn er noch unter dem Eindruck von Schlägen gestanden und eine Überwachung des Gespräches befürchtet hätte.cc) Bei dieser Sachlage kommt ein Verwertungsverbot nicht in Betracht; denn es besteht kein Anlass, den Anwendungsbereich von § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO weiter auszudehnen und eine Fernwirkung der vom Angeklagten erlittenen Misshandlungen in der Form anzunehmen, alles, was er während seiner Inhaftierung durch den ISI auch Dritten gegenüber geäußert hat, mit einem Verwertungsverbot zu belegen. Dies gilt auch in Ansehung der Verpflichtungen, die der Bundesrepublik aus Art. 15 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Antifolterkonvention) erwachsen. Danach trägt jeder Vertragsstaat dafür Sorge, dass Aussagen, die nachweislich durch Folter herbeigeführt worden sind, nicht als Beweis in einem Verfahren verwendet werden, es sei denn gegen eine der Folter angeklagte Person als Beweis dafür, dass die Aussage gemacht wurde (Art. 15 UN-Antifolterkonvention). Weder ist der Wortlaut im Sinne einer Fernwirkung auszulegen, noch ist eine entsprechende Praxis der Vertragsstaaten erkennbar, so dass insoweit eine Fernwirkung des Verwertungsverbotes der unter Einsatz unzulässiger Vernehmungsmethoden erlangten Aussage nicht als elementares rechtsstaatliches Gebot des deutschen Strafverfahrensrechts angesehen werden kann (BVerfG [Kammer] Beschluss vom 29. Mai 1996 - 2 BvR 66/96, StV 1997, 361). Gleiches gilt bei Berücksichtigung der Verpflichtung aus Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf (vgl. EGMR, Urteil vom 1. Juni 2010 - Nr. 22978/05, NJW 2010, 3145, Rn. 87 ff., 92).b) Der Senat muss nicht entscheiden, ob einer Verwertung der Aussage des Zeugen M. der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) unter folgendem Gesichtspunkt entgegenstehen könnte: Der Konsularbeamte ist zu Belehrungen entsprechend der StPO nur verpflichtet, wenn er auf Ersuchen deutscher Gerichte und Behörden Vernehmungen oder Anhörungen durchführt (§ 15 Abs. 1, 3, 5 KonsG). In den Fällen konsularischer Betreuung besteht eine solche gesetzliche Verpflichtung nicht. Die im Rahmen dieser Aufgabe notwendigen Erkundigungen des Konsularbeamten nach dem Tatvorwurf sind indes durchaus geeignet, den Gefangenen dazu zu veranlassen, zu dem Tatvorwurf auch inhaltlich, das heißt entweder diesen bestreitend oder in Form eines Geständnisses Stellung zu nehmen. Die spezielle Situation des im Ausland Inhaftierten, der von einem Repräsentanten seines Heimatlandes besucht wird und Hilfe erwartet, mag insbesondere Anlass für eine offene Selbstbelastung geben. Dies gilt generell und ist unabhängig davon, welchen Vernehmungsmethoden und Haftbedingungen der Gefangene bis dahin ausgesetzt war. Es könnte deshalb Anlass bestehen, der besonderen Situation eines Inhaftierten dadurch Rechnung zu tragen, dass ihn der Konsularbeamte auch in den Fällen fürsorglicher Kontaktaufnahme darüber unterrichten muss, dass der Inhalt des nun folgenden Gesprächs regelmäßig innerhalb der Behörde und gegebenenfalls auch bei den Strafverfolgungsbehörden des Heimatlandes bekannt wird.Eine Rüge mit dieser Stoßrichtung hat der Angeklagte indes nicht erhoben.Die Revisionsbegründung durch Rechtsanwalt H. rügt ein "Beweisverwertungsverbot wegen Fortwirkung der Folter" und trägt vor, entgegen den Feststellungen des Oberlandesgerichts hätten die Misshandlungen bis zu dem Gespräch des Angeklagten mit dem Zeugen M. fortgewirkt. Sie hält § 136a StPO für verletzt. Die Frage, ob unabhängig von den Haft- und Vernehmungsbedingungen ein Hinweis des Konsularbeamten auf die mit einer Selbstbelastung bei dem Gespräch verbundenen Gefahren notwendig gewesen wäre, wird von der Revision nicht angesprochen. Selbst der von Rechtsanwalt H. in der Hauptverhandlung erklärte Widerspruch gegen eine Vernehmung des Zeugen M. , "da bei der Vernehmung des Zeugen" (gemeint ist erkennbar: bei der Vernehmung des Angeklagten durch den Zeugen) "kein Hinweis auf ein bestehendes Aussageverweigerungsrecht erteilt wurde" knüpft an das behauptete "Beweisverwertungsverbot gemäß § 136a StPO" an.Gleiches gilt für die Revisionsbegründung von Rechtsanwalt N. . Auch sie stellt die Verletzung von § 136a StPO in den Vordergrund. Sie hält die Norm mangels einer Vernehmung des Angeklagten durch den Zeugen M. zwar nicht für direkt anwendbar, knüpft aber die Unverwertbarkeit, soweit sie aus dem Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird, an die erfolgten Misshandlungen.2. Auch der Strafausspruch hat Bestand. Das Oberlandesgericht hat die Strafe aus dem Rahmen des § 129b in Verbindung mit § 129a Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zehn Jahre) entnommen und strafschärfend unter anderem die besondere Gefährlichkeit der Vereinigung Al Qaida, die mehrjährige Dauer der mitgliedschaftlichen Beteiligung und die Intensität der Beteiligungsakte gewertet, bei denen der Angeklagte insgesamt ca. 80.000 &euro; sowie eine große Anzahl teilweise hochwertiger Ausrüstungsgegenstände an andere Mitglieder der Vereinigung weitergegeben hatte. Den Schuldgehalt der Weitergabe von Spendengeldern, durch die das Geld für Zwecke und die Tätigkeit von Al Qaida nutzbar wurde, hat das Oberlandesgericht vollständig in den mitgliedschaftlichen Betätigungsakten und demnach in der mitgliedschaftlichen Beteiligung in der terroristischen Vereinigung erfasst. Es hat deshalb den Unrechtsgehalt der Zuwiderhandlungen gegen ein EG-Embargo als reine Formalverstöße gewertet und diese bei der Strafzumessung nicht gesondert zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt. Der Senat schließt deshalb aus, dass sich die nunmehr vorgenommene Verfolgungsbeschränkung auf den Strafausspruch ausgewirkt hätte, wenn sie bereits im Verfahren vor dem Oberlandesgericht vorgenommen worden wäre.3. Der allein in der Änderung des Schuldspruchs bestehende Erfolg des Rechtsmittels ist nicht derartig bedeutend, dass es unbillig wäre, den Angeklagten mit den vollen Kosten seines Rechtsmittels zu belasten, § 473 Abs. 4 StPO.Becker Pfister von Lienen Schäfer RiBGH Mayer befindet sichim Urlaub und ist dahergehindert zu unterschreiben.Becker
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bag_20-20
07.07.2020
07.07.2020 20/20 - Verfall des Urlaubs bei Krankheit - Gilt die 15-Monatsfrist auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers? Zur Klärung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmerin bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen kann, hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.* Die bei der Beklagten beschäftigte Klägerin ist seit ihrer Erkrankung im Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Von ihrem Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie 14 Urlaubstage nicht in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit der Klage begehrt die Klägerin festzustellen, dass ihr die restlichen 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 weiterhin zustehen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Urlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die Beklagte hat geltend gemacht, der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 sei spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Für die Entscheidung, ob der Urlaub der Klägerin aus dem Jahr 2017 am 31. März 2019 oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen ist, kommt es für den Neunten Senat auf die Auslegung von Unionsrecht an, die dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten ist. Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf die ersten drei Monate des folgenden Kalenderjahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Diese Bestimmung hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts verschiedentlich unionsrechtskonform ausgelegt. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat der Neunte Senat erkannt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann nach § 7 Abs. 3 BUrlG am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, und ihn darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 9/19 vom 19. Februar 2019). Für den Fall, dass der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war, versteht der Neunte Senat § 7 Abs. 3 BUrlG nach Maßgabe der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) außerdem dahin, dass gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 56/12 vom 7. August 2012). Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es nunmehr einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 24. Juli 2019 – 5 Sa 676/19 – *Der genaue Wortlaut der Frage kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden.
Tenor I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht: 1. Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben? 2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen? II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsverfahren ausgesetzt. Leitsatz Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV über die Frage, ob das Unionsrecht das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Entscheidungsgründe 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta). 2 A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens 3 Die Parteien streiten über das Bestehen von Urlaubsansprüchen der Klägerin aus dem Jahr 2017. 4 Die bei der Beklagten beschäftigte Klägerin ist seit ihrer Erkrankung im Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Ihren gesetzlichen Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie nicht vollständig in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit der Klage begehrt die Klägerin festzustellen, dass ihr die restlichen 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 weiterhin zustehen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Urlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die Beklagte hat geltend gemacht, der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 sei spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen. 5 Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter. 6 B. Das einschlägige nationale Recht 7 Im Bundesurlaubsgesetz, das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet, heißt es ua.:          „§ 7             Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs          (1)      Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.          (2)      Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub aus diesen Gründen nicht zusammenhängend gewährt werden, und hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaub von mehr als zwölf Werktagen, so muss einer der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfolgende Werktage umfassen.          (3)      Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.          (4)      Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“ 8 C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts 9 Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:          „Artikel 7          Jahresurlaub          (1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.                   (2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“          10 In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:          „Artikel 31          Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen          …                 (2)      Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“ 11 D. Nationale Rechtsprechung 12 I. Der gesetzliche Mindesturlaub entsteht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG für das Kalenderjahr als Urlaubsjahr und muss nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden; andernfalls erlischt er nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Bestimmungen unter Beachtung der Entscheidungen des Gerichtshofs unter zwei Aspekten richtlinienkonform ausgelegt: 13 1. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta hat das Bundesarbeitsgericht erkannt, dass bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG) erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. 14 a) In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376). Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsobliegenheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern, den Urlaub in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 37 ff. mwN, 65; sh. auch 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 41 f.; BAG 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376). 15 b) Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums (grundl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376). Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bezogen sich jeweils auf Sachverhalte, in denen die Arbeitnehmer nicht langzeiterkrankt waren. 16 2. Das Bundesarbeitsgericht hat außerdem unter Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom 20. Januar 2009 (- C-350/06 und C-520/06 – [Schultz-Hoff] Rn. 43, 49) und vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; bestätigt durch EuGH 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff. und zuletzt 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.) entschieden, dass der gesetzliche Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen. Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt in diesem Fall zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist damit erneut nach § 7 Abs. 3 BUrlG befristet. Er erlischt allerdings bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres (grundl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 23, 32 ff., BAGE 142, 371; vgl. auch 16. Oktober 2012 – 9 AZR 63/11 – Rn. 9; 18. März 2014 – 9 AZR 669/12 – Rn. 14). 17 II. Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) bedurfte es bisher noch keiner Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darüber, ob und in welchen Fällen Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 23; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 15, BAGE 165, 376). Mit dem Gerichtshof geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass ein Erlöschen von Urlaubsansprüchen in Fällen, in denen es dem Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen, nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 73 ff.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Solche besonderen Umstände bestehen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich nicht, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, weil der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376), oder weil er den Arbeitnehmer in sonstiger Weise daran gehindert hat, seinen Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. im Einzelnen BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 55 ff.; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50; 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 28). Die vom Senat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Rechtsgrundsätze zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers sind jedoch in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeitnehmern weiter aufeinander abzustimmen. In den folgenden Fallkonstellationen ist – nach dem Verständnis des Senats – eine mit dem Unionsrecht in Einklang stehende Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG möglich, ohne dass es insoweit einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf. 18 1. Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig erfüllt, ist § 7 Abs. 3 BUrlG unverändert richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt. Besteht die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubsanspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitgebers vor dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen. Dies ist durch das Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juni 2020 (- C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.) geklärt (vgl. hierzu auch EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff.). 19 2. Hat der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt und war es dem Arbeitnehmer bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres allein aufgrund durchgehend bestehender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht möglich, den Urlaub zu nehmen, ist § 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Dies betrifft den Urlaub für Urlaubsjahre, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig krank war und deshalb – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat – überhaupt keinen Urlaub nehmen konnte. Auch in diesem Fall ist von besonderen Umständen auszugehen, die den Verfall des Urlaubsanspruchs rechtfertigen. 20 a) Allerdings bestehen – anders als von den Vorinstanzen im vorliegenden Rechtsstreit angenommen – die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers regelmäßig auch, wenn und solange der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist. Sie können ihren Zweck erfüllen, weil sich die Dauer der Erkrankung nicht von vornherein absehen lässt. 21 aa) Dem Arbeitgeber ist es möglich, den arbeitsunfähigen Arbeitnehmer entsprechend den gesetzlichen Vorgaben (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 41, 43, BAGE 165, 376) rechtzeitig und zutreffend über den Umfang und die Befristung des Urlaubsanspruchs unter Berücksichtigung des bei einer langandauernden Erkrankung geltenden Übertragungszeitraums zu unterrichten. Der Arbeitgeber ist nicht gehindert, den Arbeitnehmer rechtzeitig aufzufordern, den Urlaub bei Wiedergenesung vor Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann. 22 bb) Die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers sind auch nicht entbehrlich. Das Bundesurlaubsgesetz ermöglicht es dem Arbeitnehmer mit den Regelungen in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 BUrlG, durch seine Urlaubswünsche, die sich auf das gesamte Urlaubsjahr bzw. ggf. den zulässigen Übertragungszeitraum beziehen können, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant werden können (vgl. zum Urlaub im Übertragungszeitraum EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 38). Die rechtzeitige Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten stellt sicher, dass der Arbeitnehmer die durch das Bundesurlaubsgesetz mit § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG intendierte Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Zeitraums der Inanspruchnahme des Urlaubs nutzen und ab dem ersten Arbeitstag nach seiner Wiedergenesung Urlaub in Anspruch nehmen kann, sofern der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, die Gewährung von Urlaub nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BUrlG abzulehnen. 23 b) Jedoch ist die Befristung des Urlaubsanspruchs bei einem richtlinienkonformen Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es – was erst im Nachhinein feststellbar ist – objektiv unmöglich gewesen wäre, den Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren. 24 aa) Der Zweck der aus § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG abgeleiteten Obliegenheiten, zu verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert, weil er ihn in Unkenntnis der Befristung und des damit einhergehenden Risikos des Erlöschens nicht rechtzeitig gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 25, BAGE 165, 376), bestimmt nicht nur den Inhalt der rechtlich gebotenen Aufforderungen und Hinweise (vgl. hierzu BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40 f., aaO), sondern ist auch auf der Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen. 25 (1) Regelmäßig ist dem Arbeitgeber die Berufung auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat, denn ein verständiger Arbeitnehmer hätte bei gebotener Aufforderung und Unterrichtung seinen Urlaub typischerweise rechtzeitig vor dem Verfall beantragt (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 16, 25, BAGE 165, 376). 26 (2) Anders verhält es sich, wenn auch bei Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten deren Zweck nicht hätte erreicht werden können, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40, BAGE 165, 376). Unter diesen Umständen ist es dem Arbeitgeber, der seinen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist, nicht verwehrt, sich auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zu berufen. War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig oder trat die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende Arbeitsunfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahres ein, ohne dass dem Arbeitnehmer vor deren Beginn (weiterer) Urlaub hätte gewährt werden können, sind nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal. Der Urlaubsanspruch ist auf eine bezahlte Befreiung von der Arbeitspflicht gerichtet (st. Rspr., vgl. BAG 24. September 2019 – 9 AZR 481/18 – Rn. 50; 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 17). Kann der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung krankheitsbedingt nicht erbringen, wird ihm die Arbeitsleistung unmöglich. Er wird nach § 275 Abs. 1 BGB von der Pflicht zur Arbeitsleistung frei. Eine Befreiung von der Arbeitspflicht durch Urlaubsgewährung ist deshalb rechtlich unmöglich (BAG 18. März 2014 – 9 AZR 669/12 – Rn. 16). 27 bb) Dieses Ergebnis steht nach Überzeugung des Senats im Einklang mit der durch den Gerichtshof gefundenen Auslegung des Unionsrechts. Die gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta bestehende Obliegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer ua. erforderlichenfalls mittels entsprechender Aufforderungen und Hinweise in die Lage zu versetzen, den Urlaub wahrzunehmen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45 f.), dient nach Feststellung des Gerichtshofs der Vermeidung einer Situation, in der die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert würde, während der Arbeitgeber die Möglichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seinen eigenen Pflichten zu entziehen (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 43). Ein Arbeitnehmer, der während des Bezugs- und/oder Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, kann seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben (st. Rspr. des EuGH, vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 24; 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 27). Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist – ohne dass es auf die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers ankäme – von vornherein ausgeschlossen, weil die Arbeitsunfähigkeit auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist (st. Rspr., vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 66; 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 32, 33 mwN). 28 E. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Erläuterung der Vorlagefragen 29 Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es einer Klärung durch den Gerichtshof, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat und der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest noch teilweise hätte nehmen können. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 ist das Unionsrecht bei der Auslegung und Anwendung des § 7 Abs. 3 BUrlG zu berücksichtigen (vgl. BAG 23. März 2010 – 9 AZR 128/09 – Rn. 101 ff., BAGE 134, 1; 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 25, BAGE 142, 371; 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 18, BAGE 165, 376). Für das Verständnis der Bestimmung kommt es daher auf die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie von Art. 31 Abs. 2 der Charta an. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne den Gerichtshof anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist. 30 I. Erläuterung der ersten Vorlagefrage 31 1. Nach Erkenntnis des Gerichtshofs ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Urlaub erlischt (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 28, 38, 44; zuletzt EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 71 ff.; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 55 ff.). Ein Zeitraum von 15 Monaten, in dem die Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub möglich ist, entspricht nach der Feststellung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Anforderungen der Richtlinie 2003/88/EG und läuft dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwider, weil er dessen positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit gewährleistet (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 43). 32 a) Gestattete es das Unionsrecht, diese Grundsätze auch im Fall einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden Erkrankung anzuwenden, obwohl der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben und der Urlaub vor der Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte genommen werden können, wäre die Revision der Klägerin unbegründet. Ihr Urlaubsanspruch für das Jahr 2017 wäre gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen (st. Rspr., vgl. grundl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 353/10 – Rn. 32, BAGE 142, 371). 33 b) Demgegenüber wäre die Revision der Klägerin im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht begründet, wenn das Unionsrecht unter den genannten Umständen bei unterlassenen Aufforderungen und Hinweisen des Arbeitgebers eine Auslegung von § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nicht zuließe, der zufolge der aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllbare gesetzliche Urlaubsanspruch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers mit Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten untergeht. Über das Bestehen des Urlaubsanspruchs der Klägerin wäre unter Beachtung der unionsrechtlichen Grundsätze erneut zu befinden. 34 2. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bislang – soweit ersichtlich – nicht zweifelsfrei geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Für diesen Fall stellt sich mit Blick – einerseits – auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) und – andererseits – ua. die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) die Frage, ob mit Rücksicht auf den Erholungszweck des Urlaubs der Grundsatz, dass das Erlöschen des Anspruchs von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängt, nur eingeschränkt gilt. 35 a) Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Gerichtshof vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]), dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines gemäß diesen Bestimmungen erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, automatisch, ohne vorherige Prüfung, ob der Arbeitgeber ihn tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, am Ende des Bezugszeitraums die ihm für diesen Zeitraum zustehenden Urlaubstage verliert(EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 55). 36 aa) In diesem Urteil hat der Gerichtshof betont, dass jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 42; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 39). Der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, habe die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen (EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 77; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 63). 37 bb) Gölten diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers eingetreten ist, träte ein Verfall des Urlaubs auch 15 Monate nach Ablauf dieses Urlaubsjahres insoweit nicht ein, als der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkrankung noch hätte in Anspruch nehmen können. Der Arbeitgeber hätte bei Unterlassen der gebotenen Aufforderung und Hinweise das Risiko zu tragen, dass der Urlaubsanspruch nicht vollständig verfällt, auch wenn der Arbeitnehmer über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Urlaubsjahres hinaus arbeitsunfähig ist. Er könnte dieses Risiko faktisch nur dann ausschließen, wenn er seinen Obliegenheiten bereits zu Beginn des Kalenderjahres nachkäme. Der Arbeitnehmer hätte unter den genannten Voraussetzungen (nur dann) das Risiko zu tragen, den Urlaubsanspruch wegen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden, unter Umständen langandauernden Arbeitsunfähigkeit nicht mehr in vollem Umfang realisieren zu können, wenn der Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheiten – in diesem Sinne – rechtzeitig erfüllt und damit die Voraussetzungen der Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG geschaffen hat. 38 b) Demgegenüber hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) erkannt, dass mit dem in Art. 31 Abs. 2 der Charta und in Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Ein Recht auf ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, entspräche nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 30 f.). Dessen positive Wirkung für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers verliere zwar nicht an Bedeutung, wenn der Urlaub zu einer späteren Zeit genommen werde. Der Urlaub könne seiner Zweckbestimmung jedoch nur insoweit entsprechen, als der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreite. Über eine solche Grenze hinaus fehle dem Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit; erhalten bleibe ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 33). 39 aa) Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeitnehmern einen auf 15 Monate begrenzten Übertragungszeitraum vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 43 f.). 40 bb) Fänden diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr Anwendung, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers eingetreten ist, könnte dieser Urlaub 15 Monate nach Ablauf dieses Urlaubsjahres auch dann verfallen, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Vor der Erkrankung liegende Ansprüche aus dem Urlaubsjahr würden dann erlöschen, auch soweit der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkrankung noch hätte in Anspruch nehmen können. 41 c) Die Bewertung, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta im Hinblick auf den Erholungszweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub eine Einschränkung des Grundsatzes, demzufolge die Befristung des Urlaubsanspruchs die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten voraussetzt, zulassen, wenn Arbeitnehmer aus Krankheitsgründen daran gehindert waren, den Urlaub zu nehmen, sie den Urlaubsanspruch aber vor Eintritt ihrer Arbeitsunfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahres bei Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch hätten realisieren können, hat der Gerichtshof bisher nicht vorgenommen; die unter Rn. 35 f. genannten Entscheidungen betrafen nicht den Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern, die – wie die Klägerin – langzeiterkrankt waren. Die mit den Vorabentscheidungsersuchen gestellte erste Frage ist daher aus Sicht des Senats bisher durch den Gerichtshof nicht geklärt. Ebenso ist durch den Gerichtshof bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einen Zeitpunkt im Urlaubsjahr vorgeben, bis zu dem der Arbeitgeber spätestens seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nachzukommen hat, um den Anforderungen an deren „Rechtzeitigkeit“ im Sinne des Unionsrechts zu genügen, was für die unter Rn. 37 dargestellte und ggf. – unter Beachtung der Beantwortung des Vorlageersuchens durch den Gerichtshof – vorzunehmende Risikoverteilung von Bedeutung ist. 42 3. Der Senat kann erst nach der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof beurteilen, ob und inwieweit § 7 Abs. 3 BUrlG – unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungsmethoden – so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet wird, ohne eine Auslegung contra legem zu erfordern (vgl. EuGH 19. April 2016 – C-441/14 – [Dansk Industri] Rn. 31; BVerfG 17. November 2017 – 2 BvR 1131/16 – Rn. 37; BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 19, BAGE 165, 376; 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 39 f., BAGE 164, 117). Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Recht – wo dies nötig und möglich ist – das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung ein (BAG 28. Juli 2016 – 2 AZR 746/14 (A) – Rn. 35, BAGE 156, 23; 17. März 2016 – 8 AZR 501/14 (A) – Rn. 51 mwN, BAGE 154, 285). 43 4. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) ausgeführt, dass eine nationale Regelung über den Verfall des Urlaubs nicht anzuwenden sei, wenn sie nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe aber auch dann dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen könne, dass er ihn tatsächlich in die Lage versetzt habe, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht verliere (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 81). Stehe dem Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit ein staatlicher Arbeitgeber gegenüber, ergebe sich dieses Ergebnis aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 der Charta. Stehe ihm ein privater Arbeitgeber gegenüber, folge dies aus Art. 31 Abs. 2 der Charta (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 63 f., 74 ff.). Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), dh. ein privater Arbeitgeber. Sollte § 7 Abs. 3 BUrlG einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sein, was allerdings erst auf der Grundlage der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof festgestellt werden könnte, stellte sich die Frage, ob § 7 Abs. 3 BUrlG – ggf. teilweise – unangewendet zu lassen wäre. 44 II. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage 45 Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, ist es für den Rechtsstreit entscheidungserheblich, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta unter den in der Frage zu 1. genannten Umständen der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegensteht der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn die Arbeitsunfähigkeit – wie bei der Klägerin – über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres hinaus ununterbrochen fortbesteht. Auch diese Frage ist bislang – soweit ersichtlich – durch die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) nicht zweifelsfrei geklärt, denn der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) erkannt, dass ein unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entspricht (EuGH 22. November 2011 – C-214/10 – [KHS] Rn. 30 f.). 46 1. Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) tritt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der infolge unterlassener Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG (BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 44, BAGE 165, 376; seither st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19 – Rn. 16). 47 2. Aus Sicht des Senats ist – bejahte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage – durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta es zuließen, dass der ggf. wegen unterlassener Aufforderung und Hinweise nicht verfallene Urlaubsanspruch aus dem fraglichen Urlaubsjahr – im Streitfall das Urlaubsjahr 2017 – bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit uneingeschränkt das Schicksal des im ersten Folgejahr – hier das Urlaubsjahr 2018 – entstehenden Urlaubsanspruchs teilt. Der Urlaub aus dem ersten Folgejahr wäre unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat, nach Ablauf von 15 Monaten verfallen, weil es objektiv unmöglich gewesen wäre, den schon zu Beginn des ersten Folgeurlaubsjahres weiterhin durchgehend krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren (vgl. die Ausführungen unter Rn. 26 f.). Ließe das Unionsrecht diese zeitliche Begrenzung der Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu, wäre der Urlaubsanspruch der Klägerin aus dem Jahr 2017 aufgrund fortbestehender Arbeitsunfähigkeit spätestens 15 Monate nach Ablauf des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres 2018 erloschen, dh. am 31. März 2020. 48 3. Ebenfalls ungeklärt ist aus Sicht des Senats, ob der Arbeitgeber auch nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten noch erfüllen und so die Befristung des Urlaubsanspruchs und dessen Erlöschen zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres herbeiführen kann, wenn der Arbeitnehmer während der gesamten Zeit fortdauernd arbeitsunfähig krank bleibt und deshalb seinen Urlaubsanspruch nicht realisieren kann.              Kiel                  Weber                  Zimmermann                                    G. Müller                  Lipphaus
bundesarbeitsgericht
bag_5-20
23.01.2020
23.01.2020 5/20 - Benachteiligung schwerbehinderter Bewerber Geht dem öffentlichen Arbeitgeber die Bewerbung einer fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten schwerbehinderten oder dieser gleichgestellten Person zu, muss er diese nach § 82 Satz 2 SGB IX aF* zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Unterlässt er dies, ist er dem/der erfolglosen Bewerber/in allerdings nicht bereits aus diesem Grund zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet. Das Unterlassen einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch ist lediglich ein Indiz iSv. § 22 AGG**, das die Vermutung begründet, dass der/die Bewerber/in wegen seiner/ihrer Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung nicht eingestellt wurde. Diese Vermutung kann der Arbeitgeber nach § 22 AGG widerlegen. Der Kläger bewarb sich Anfang August 2015 mit einer E-Mail auf eine für den Oberlandesgerichtsbezirk Köln ausgeschriebene Stelle als Quereinsteiger für den Gerichtsvollzieherdienst. Die Bewerbung war mit dem deutlichen Hinweis auf seinen Grad der Behinderung von 30 und seine Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen versehen. Der Kläger wurde, obwohl er fachlich für die Stelle nicht offensichtlich ungeeignet war, nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Der Kläger hat mit seiner Klage vom beklagten Land eine Entschädigung iHv. 7.434,39 Euro verlangt. Das beklagte Land hat demgegenüber geltend gemacht, die Bewerbung des Klägers sei aufgrund eines schnell überlaufenden Outlook-Postfachs und wegen ungenauer Absprachen unter den befassten Mitarbeitern nicht in den Geschäftsgang gelangt. Schon aus diesem Grund sei der Kläger nicht wegen der (Schwer)Behinderung bzw. Gleichstellung benachteiligt worden. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr teilweise stattgegeben und dem Kläger eine Entschädigung iHv. 3.717,30 Euro zugesprochen. Die Revision des beklagten Landes blieb im Ergebnis erfolglos. Der Kläger hat Anspruch auf eine Entschädigung aus § 15 Abs. 2 AGG in der zugesprochenen Höhe. Das beklagte Land hätte den Kläger, dessen Bewerbung ihm zugegangen war, nach § 82 Satz 2 SGB IX aF zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen. Die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch begründete die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner Gleichstellung mit einer schwerbehinderten Person benachteiligt wurde. Das beklagte Land hat diese Vermutung nicht widerlegt. Insoweit konnte das beklagte Land sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Bewerbung sei nicht in den Geschäftsgang gelangt. Dass ihm trotz Zugangs der Bewerbung ausnahmsweise eine tatsächliche Kenntnisnahme nicht möglich war, hat das beklagte Land nicht vorgetragen. Auch die Höhe der Entschädigung war im Ergebnis nicht zu beanstanden. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 23. August 2018 – 6 Sa 147/18   *§ 82 SGB IX aF Besondere Pflichten der öffentlichen Arbeitgeber 1Die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber melden den Agenturen für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze (§ 73). 2Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. 3Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. … **§ 22 AGG Beweislast Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.
Tenor Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 23. August 2018 – 6 Sa 147/18 – wird zurückgewiesen. Das beklagte Land hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen. Leitsatz 1. Bewerber iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG ist, wer eine Bewerbung beim Arbeitgeber eingereicht hat. Eingereicht ist eine Bewerbung dann, wenn sie dem Arbeitgeber zugegangen ist iSv. § 130 BGB. 2. Verstößt der öffentliche Arbeitgeber gegen seine Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF), einen schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, kann dies lediglich die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose Bewerber die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren hat. Tatbestand 1 Die Parteien streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, dem Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen. 2 Das beklagte Land schrieb Anfang August 2015 Stellen für „Quereinsteiger (m/w) für den Gerichtsvollzieherdienst“ in seinen Oberlandesgerichtsbezirken aus. In der Ausschreibung heißt es ua.:          „Wir bieten Ihnen:          •        …                 •        eine spezifische Ausbildung über 26 Monate, während der Sie ein monatliches Entgelt in Höhe von rd. 2.400 € brutto erhalten; die Probezeit beträgt sechs Monate          •        nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung die Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe und die Ernennung zum Gerichtsvollzieher (Besoldungsgruppe A 8)          •        …                 Ist Ihr Interesse geweckt?          Bewerben Sie sich bis zum 15. August 2015 um Zulassung zur Gerichtsvollzieherausbildung, die am 01.01.2016 startet, bei folgenden Gerichten:          ˃        …                 ˃        …                 ˃        für den Oberlandesgerichtsbezirk K                   mit den Landgerichtsbezirken A, B und K          Präsident des Oberlandesgerichts          Postfach          K                 Ansprechpartnerin:          B                 Telefon:          E-Mail: ausbildung@olg-k          …                 Die Bewerbung von Menschen mit Schwerbehinderung und Menschen mit Migrationshintergrund ist ausdrücklich erwünscht.“ 3 Der Kläger bewarb sich mit einer an die in der Ausschreibung genannte E-Mail-Adresse der Ausbildungsabteilung des Oberlandesgerichts K adressierten E-Mail vom 3. August 2015 auf eine der für den Oberlandesgerichtsbezirk Kn ausgeschriebenen Stellen. Seine der E-Mail im Anhang beigefügten Bewerbungsunterlagen waren mit einem deutlichen Hinweis darauf versehen, dass er – was unstreitig ist – mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sei. Die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle fehlte dem Kläger nicht offensichtlich. 4 Noch am 3. August 2015 erhielt der Kläger vom Oberlandesgericht K die folgende E-Mail:          „Von:  R.P@olg-k          An:      p@arcor.de          Gesendet: Montag, 3. August 2015 09:36          Betreff: Gelesen: Bewerbung als Gerichtsvollzieher / Quereinstieg                   Stellenausschreibung          Ihre Nachricht wurde gelesen am Montag, 3. August 2015 07:35:53 UTC.“ 5 Bei P handelt es sich um den Sachgebietsleiter in der Verwaltung des Oberlandesgerichts K, der damit befasst war, in einem späteren Stadium des Bewerbungsverfahrens zu prüfen, ob ein(e) Bewerber(in) zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen war. Er hatte Zugang zu dem elektronischen Postfach der Ausbildungsabteilung. 6 Der Kläger wurde nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Er erhielt auch keine Absage. Unter dem 14. Dezember 2015 forderte er das beklagte Land auf, ihm wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot wegen der (Schwer)Behinderung eine Entschädigung iHv. 7.434,39 Euro zu zahlen. Dieser Betrag entspricht der dreifachen Monatsbesoldung nach der Besoldungsgruppe A8. 7 Nachdem der Präsident des Oberlandesgerichts K das Entschädigungsverlangen des Klägers mit Schreiben vom 22. Dezember 2015 zurückgewiesen hatte, hat der Kläger mit der am 11. März 2016 beim Verwaltungsgericht A eingegangenen und dem beklagten Land am 15. März 2016 zugestellten Klage sein Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiterverfolgt. Das Verwaltungsgericht A hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. Januar 2017 an das Arbeitsgericht K verwiesen. 8 Der Kläger hatte sich auch auf eine für den Oberlandesgerichtsbezirk D für den Quereinstieg in den Gerichtsvollzieherdienst ausgeschriebene Stelle beworben und, nachdem ihm eine Absage erteilt worden war, das beklagte Land ebenso gerichtlich auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 7.434,39 Euro in Anspruch genommen. Dieses, beim Arbeitsgericht D geführte Verfahren wurde vergleichsweise durch Zahlung einer Entschädigung durch das beklagte Land iHv. 3.975,00 Euro beendet. 9 Der Kläger hat die Auffassung vertreten, das beklagte Land sei ihm nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, da es ihn wegen seiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen und damit wegen der (Schwer)Behinderung benachteiligt habe. Das beklagte Land habe ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden SGB IX aF) nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Aus den Darlegungen des beklagten Landes ergebe sich nicht, dass er im Stellenbesetzungsverfahren nur „aus Versehen“ nicht berücksichtigt worden sei. Er habe eine Lesebestätigung seiner E-Mail erhalten und daher davon ausgehen können, alles gehe seinen geordneten Gang. 10 Der Kläger hat beantragt,          das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 7.434,39 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 5. Januar 2016 zu zahlen. 11 Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat die Auffassung vertreten, dem Kläger keine Entschädigung zu schulden. Man habe von der Bewerbung des Klägers keine Kenntnis nehmen können, deshalb nichts von seiner Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gewusst und ihn aus diesem Grund auch nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligen können. Durch ein schnell überlaufendes E-Mail-Postfach und durch ungenaue Absprachen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Bearbeitung der Bewerbungen befasst gewesen seien, sei die Bewerbung des Klägers nicht – wie eigentlich vorgesehen – ausgedruckt worden; es sei auch kein Vorgang angelegt und in den Geschäftsgang gegeben worden. Es stehe zu vermuten, dass die E-Mail mit der Bewerbung des Klägers unter den E-Mails gewesen sei, die Oberregierungsrat P geöffnet habe, um sich einen Einblick in das Bewerberfeld zu verschaffen. Da geöffnete E-Mails automatisch als „gelesen“ markiert worden seien, sei die zuständige Mitarbeiterin G wohl davon ausgegangen, die Bewerbung des Klägers sei ausgedruckt, erfasst und in den Geschäftsgang gegeben worden. Sie habe die Bewerbungs-E-Mail des Klägers dann – weisungsgemäß – in den dafür vorgesehenen Ablage-Ordner verschoben. Im Übrigen treffe den Kläger ein Mitverschulden, da er sich nicht zeitnah nach dem Absenden seiner Bewerbung nach dem Stand der Bearbeitung erkundigt, sondern vier Monate zugewartet habe, um dann eine Entschädigung zu verlangen. 12 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger eine Entschädigung iHv. 3.717,20 Euro nebst Zinsen zugesprochen. Hiergegen wendet sich das beklagte Land mit der Revision. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision. Entscheidungsgründe 13 Die zulässige Revision des beklagten Landes ist unbegründet. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, der Berufung des Klägers teilweise stattzugeben und diesem eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 3.717,20 Euro nebst Zinsen zuzusprechen, hält im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Die Bemessung der Höhe der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. 14 A. Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat – einen Anspruch gegen das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das beklagte Land hat den Kläger entgegen den Vorgaben des AGG sowie des § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF iVm. § 68 Abs. 1 SG IX aF wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt. 15 I. Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet. 16 1. Für den Kläger ergibt sich dies aus § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Diese Bestimmung enthält einen formalen Bewerberbegriff, wonach derjenige Bewerber ist, der eine Bewerbung eingereicht hat (zum formalen Bewerberbegriff vgl. etwa: BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 32, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 62, BAGE 155, 149). 17 a) Danach ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Bewerbung dem Arbeitgeber entsprechend § 130 BGB zugegangen ist. 18 aa) Zugegangen iSv. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB ist eine Willenserklärung, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören von ihm vorgehaltene Empfangseinrichtungen. Ob die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist nach den „gewöhnlichen Verhältnissen“ und den „Gepflogenheiten des Verkehrs“ zu beurteilen. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten. Wenn für den Empfänger unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit der Kenntnisnahme bestand, ist es unerheblich, ob er daran durch Krankheit, zeitweilige Abwesenheit oder andere besondere Umstände einige Zeit gehindert war. Ihn trifft die Obliegenheit, die nötigen Vorkehrungen für eine tatsächliche Kenntnisnahme zu treffen. Unterlässt er dies, wird der Zugang durch solche – allein in seiner Person liegenden – Gründe nicht ausgeschlossen (st. Rspr., vgl. BAG 22. August 2019 – 2 AZR 111/19 – Rn. 12 mwN). 19 bb) Um den Bewerberbegriff des § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG zu erfüllen, ist es hingegen nicht notwendig, dass der Arbeitgeber bzw. die bei diesem über die Bewerbung entscheidenden Personen tatsächlich Kenntnis von einer zugegangenen Bewerbung nehmen. Eine solche Voraussetzung ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Bestimmung, dem durch ihn vermittelten Wortsinn noch aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung oder ihrem Sinn und Zweck. Vielmehr liefe eine solche Anforderung dem Zweck ua. der Richtlinie 2000/78/EG und dem des AGG, Diskriminierungen nicht nur im laufenden Arbeitsverhältnis, sondern ua. auch im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren zu verhindern, zuwider. Ein effektiver Schutz vor Diskriminierungen von Bewerbern würde nicht erreicht, wenn der Arbeitgeber sich nach Zugang einer Bewerbung darauf berufen könnte, er bzw. die im Einzelfall mit der Personalauswahl betrauten Mitarbeiter hätten eine zugegangene Bewerbung nicht zur Kenntnis genommen (zum Gebot der vollen und praktischen Wirksamkeit, das dem Unionsrecht innewohnt vgl. etwa EuGH 24. Oktober 2018 – C-234/17 – [XC ua.] Rn. 36 bis 44). 20 b) Die Bewerbung des Klägers ist dem beklagten Land zugegangen. 21 Der Kläger hatte sich mit E-Mail vom 3. August 2015 unter Verwendung der vom beklagten Land angegebenen E-Mail-Adresse der Ausbildungsabteilung beim Oberlandesgericht K beworben. Diese E-Mail ist dem beklagten Land am 3. August 2015 zugegangen. Hierüber streiten die Parteien auch nicht. Im Übrigen belegt der Umstand, dass dem Kläger am selben Tag per E-Mail eine „Lesebestätigung“ erteilt wurde, dass seine Bewerbungs-E-Mail am 3. August 2015 jedenfalls in dem vom beklagten Land dafür vorgesehenen Postfach abrufbar gespeichert war, sie mithin am 3. August 2015 so in den Machtbereich des beklagten Landes gelangt war, dass dieses unter gewöhnlichen Verhältnissen davon Kenntnis nehmen konnte. 22 c) Darauf, ob die Bewerbung des Klägers – wie das beklagte Land vorgetragen hat – durch ein schnell überlaufendes E-Mail-Postfach und durch ungenaue Absprachen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit der Bearbeitung der Bewerbungen befasst waren, entgegen den bestehenden Weisungen weder ausgedruckt noch erfasst und demnach auch nicht in den Geschäftsgang gegeben wurde, kommt es nach alledem für die Frage, ob der Kläger Bewerber iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG ist, nicht an. 23 Davon zu unterscheiden ist allerdings die Frage, ob das beklagte Land eine ggf. nach § 22 AGG durch Indizien begründete Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung im Einzelfall mit der Begründung widerlegen könnte, es sei aus nicht in seiner Person liegenden Gründen gehindert gewesen, die zugegangene Bewerbung tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen. 24 2. Für das beklagte Land ist der persönliche Anwendungsbereich des AGG durch § 6 Abs. 2 Satz 1 AGG eröffnet. 25 II. Der Kläger hat seinen Entschädigungsanspruch den Vorgaben von § 15 Abs. 4 AGG sowie § 61b Abs. 1 ArbGG entsprechend geltend gemacht und eingeklagt. 26 1. Der Kläger hat den Entschädigungsanspruch mit Schreiben vom 14. Dezember 2015 formgerecht geltend gemacht. Die in § 15 Abs. 4 AGG bestimmte Frist zur Geltendmachung von zwei Monaten hatte im Fall des Klägers nicht zu laufen begonnen. Das beklagte Land hatte dem Kläger auf seine Bewerbung hin keine Absage erteilt. Ein Schweigen oder Untätigbleiben des Arbeitgebers reicht aber grundsätzlich nicht aus, um die Frist des § 15 Abs. 4 AGG in Lauf zu setzen (vgl. BAG 29. Juni 2017 – 8 AZR 402/15 – Rn. 20, BAGE 159, 334). Besondere Umstände, weshalb die Ablehnung im vorliegenden Fall ausnahmsweise entbehrlich gewesen wäre, sind nicht ersichtlich. Entgegen der Rechtsauffassung des beklagten Landes traf den Kläger auch keine Verpflichtung, sich vor der Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs beim beklagten Land nach dem Stand der Bearbeitung seiner Bewerbung zu erkundigen. Eine solche Pflicht kennt § 15 Abs. 4 AGG nicht. 27 2. Mit der am 11. März 2016 beim Verwaltungsgericht eingegangenen und dem beklagten Land am 15. März 2016 zugestellten Klage hat der Kläger auch die dreimonatige Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt. 28 Nach § 61b Abs. 1 ArbGG muss eine Klage auf Entschädigung innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden. Das Geltendmachungsschreiben des Klägers datiert vom 14. Dezember 2015. Dass dieses vor dem 15. Dezember 2015 beim beklagten Land eingegangen war, haben weder das beklagte Land noch der Kläger behauptet. Im Übrigen folgt aus § 167 ZPO, dass, sofern durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden soll, diese Wirkung bereits mit Eingang des Antrags eintritt, wenn – wie hier – die Zustellung demnächst erfolgt. Damit ist die Frist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt. Der Umstand, dass die Entschädigungsklage beim Verwaltungsgericht und nicht beim Arbeitsgericht eingereicht und durch das Verwaltungsgericht erst mit Beschluss vom 19. Januar 2017 an das zuständige Arbeitsgericht verwiesen wurde, steht der Wahrung der Klagefrist nach § 61b Abs. 1 ArbGG nicht entgegen. Dies folgt aus § 17b Abs. 1 Satz 2 GVG, wonach bei einer Verweisung die Wirkungen der Rechtshängigkeit bestehen bleiben. § 17b GVG findet nach der in § 48 Abs. 1 ArbGG getroffenen Regelung auch auf die Klage wegen Benachteiligung nach § 61b ArbGG Anwendung. 29 III. Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat – einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das beklagte Land hat den Kläger entgegen den Vorgaben des § 7 AGG sowie des § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt. Die Benachteiligung war auch nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. 30 1. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus und ist verschuldensunabhängig. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Diese Bestimmung findet – ebenso wie alle anderen Bestimmungen des Teils 2 des SGB IX aF – nach § 68 Abs. 1 SGB IX aF auch auf gleichgestellte behinderte Menschen Anwendung. Im Einzelnen gelten im Hinblick auf das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF die Regelungen des AGG (vgl. BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 16 – 18, BAGE 156, 107). 31 2. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts folgt ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG allerdings nicht unmittelbar aus dem Umstand, dass das beklagte Land den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat. Zwar hätte das beklagte Land als öffentlicher Arbeitgeber den Kläger, der einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt war und dem die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle nicht offensichtlich fehlte (§ 82 Satz 3 SGB IX aF), nach § 82 Satz 2 SGB IX aF zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen. Allein in dem Verstoß des beklagten Landes gegen die in § 82 Satz 2 SGB IX aF getroffene Regelung liegt allerdings keine einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösende Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung iSv. § 7 AGG und iSv. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF. Vielmehr stellt die in § 82 Satz 2 SGB IX aF normierte Verpflichtung, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, eine Verfahrenspflicht öffentlicher Arbeitgeber zugunsten schwerbehinderter Menschen dar, die lediglich eine – von diesen widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung begründen kann. 32 a) Das Benachteiligungsverbot nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF erfasst – ebenso wie das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG – nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines speziellen Grundes. Zwischen der Benachteiligung und dem Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen. 33 aa) Soweit es um eine – hier allein in Betracht kommende – unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an den Grund anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN). 34 bb) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51, BAGE 164, 117). 35 (1) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 52 mwN, BAGE 164, 117). 36 (2) Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist (vgl. EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaƫia Accept] Rn. 55 mwN; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32; BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 24 mwN, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 54 mwN, BAGE 155, 149). Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN). 37 b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen aufstellen, grundsätzlich „nur“ die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose schwerbehinderte Bewerber die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG – nur eine solche kommt in derartigen Fällen in Betracht – wegen der (Schwer)Behinderung erfahren hat (st. Rspr., vgl. etwa BAG 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 22; 28. September 2017 – 8 AZR 492/16 – Rn. 26 mwN). Dies gilt beispielsweise nicht nur in dem Fall, dass der Arbeitgeber es entgegen § 81 Abs. 1, § 95 Abs. 2 SGB IX aF unterlässt, die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen (vgl. etwa BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 40 mwN), sondern auch dann, wenn der Arbeitgeber – wie hier – seiner Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht nachkommt, den schwerbehinderten oder diesem gleichgestellten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 25 mwN, BAGE 156, 107). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. 38 aa) Dass allein ein Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 82 Satz 2 SGB IX aF normierte Verpflichtung keine einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösende Benachteiligung iSv. § 7 AGG und § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF darstellt, sondern lediglich eine – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung begründen kann, entspricht dem gesetzgeberischen Willen, wie er insbesondere in der Entstehungsgeschichte des § 82 Satz 2 SGB IX aF zum Ausdruck gekommen ist. 39 (1) Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wurde zum 1. Oktober 2000 als weitere Pflicht für Bundesbehörden in § 14a SchwbG (BGBl. I S. 1394) eingeführt. Einen Entschädigungsanspruch kannte das SchwbG nicht. In der Gesetzesbegründung heißt es lediglich, dass die öffentlichen Arbeitgeber des Bundes in Erweiterung der allgemeinen Arbeitgeberpflichten in § 13 und § 14 SchwbG den Arbeitsämtern frühzeitig freiwerdende oder neue Arbeitsplätze zu melden hätten; darüber hinaus seien die schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn sie nicht offensichtlich für die zu besetzende Stelle fachlich ungeeignet seien (BT-Drs. 14/3372 S. 18). 40 (2) Bei der Schaffung des SGB IX (im Folgenden SGB IX 2001) hat der Gesetzgeber zwar in § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX 2001 das Verbot der Benachteiligung wegen der Behinderung, in § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX 2001 eine „Beweislastregel“ und in § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB IX 2001 eine Entschädigungspflicht geregelt. Allerdings besteht die Pflicht zur Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB IX 2001 nur bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot des § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX 2001. Demgegenüber hat der Gesetzgeber Verfahrens- bzw. Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen nicht im Rahmen der Bestimmung über das Benachteiligungsverbot in § 81 Abs. 2 SGB IX 2001, sondern in eigenständigen Bestimmungen geregelt. So finden sich bestimmte Pflichten beispielsweise in § 81 Abs. 1 SGB IX 2001. Die zuvor in § 14a SchwbG enthaltene Pflicht der öffentlichen Arbeitgeber des Bundes, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wurde – nunmehr auf alle öffentlichen Arbeitgeber erweitert – in § 82 Satz 2 SGB IX 2001 normiert. Dies lässt nur den Schluss zu, dass der Gesetzgeber in dem Verstoß des Arbeitgebers gegen zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehende Verfahrens- und/oder Förderpflichten – für sich betrachtet – keine entschädigungspflichtige Benachteiligung gesehen hat. Dass derartige Verstöße schon damals grundsätzlich „nur“ die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX 2001 begründen konnten, dass der erfolglose schwerbehinderte Bewerber die Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung erfahren hatte, legt auch die Entstehungsgeschichte von § 81 SGB IX 2001 nahe. So ist in der Begründung des Gesetzesentwurfs zu § 81 SGB IX 2001 ausgeführt, dass die Regelung inhaltsgleich den bisherigen § 14 SchwbG übertrage. Ergänzend hierzu enthalte Abs. 2 die notwendigen Regelungen, um die Benachteiligung schwerbehinderter Menschen im Arbeitsverhältnis zu verhindern, sowie – entsprechend § 611a BGB – ggf. eine Entschädigung bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot zu erhalten (BT-Drs. 14/5074 S. 113). Zu § 611a BGB war indes stets anerkannt, dass eine geschlechtsdiskriminierende Stellenausschreibung für sich betrachtet keinen Entschädigungsanspruch auslösen, sondern nur die Vermutung begründen konnte, dass der erfolglose Bewerber die Benachteiligung wegen seines Geschlechts erfahren hatte (vgl. zur alten Rechtslage: etwa BAG 14. März 1989 – 8 AZR 351/86 – zu A I 1 und 2 der Gründe, BAGE 61, 219; 14. März 1989 – 8 AZR 447/87 – zu A I 1 und 2 der Gründe, BAGE 61, 209; BVerfG 16. November 1993 – 1 BvR 258/86 – zu C I 2 b der Gründe, BVerfGE 89, 276; ErfK/Schlachter 4. Aufl. § 611b BGB Rn. 4). 41 (3) Der Gesetzgeber hat schließlich mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2016 in Kenntnis der unter Rn. 37 dargestellten ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die zuvor in § 82 Satz 2 SGB IX aF enthaltene Verpflichtung öffentlicher Arbeitgeber, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, ohne jede Änderung in § 165 Satz 3 SGB IX überführt. Auch dies belegt, dass der Gesetzgeber allein in einem Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Pflicht aus § 165 Satz 3 SGB IX nach wie vor keine entschädigungspflichtige Benachteiligung sieht. 42 bb) Dafür, dass ein Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nur die – von diesem widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen kann, dass der schwerbehinderte Bewerber wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde, spricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber an einen Verstoß gegen § 11 AGG, mit dem ein diskriminierungsfreies Bewerbungsverfahren sichergestellt werden soll, nicht die Zahlung einer Entschädigung geknüpft hat. 43 Nach § 11 AGG darf ein Arbeitsplatz nicht unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG ausgeschrieben werden. Hierdurch soll einer ungerechtfertigten Benachteiligung bestimmter Arbeitnehmergruppen vorgebeugt bzw. entgegengewirkt werden (vgl. etwa BAG 24. April 2008 – 8 AZR 257/07 – Rn. 33 f.). Allerdings schuldet der Arbeitgeber einem abgelehnten Bewerber eine Entschädigung nicht bereits deshalb, weil die Stelle unter Verstoß gegen § 11 AGG ausgeschrieben wurde. Das Gesetz knüpft an einen Verstoß gegen § 11 AGG keine unmittelbaren Rechtsfolgen (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 30; 19. Mai 2016 – 8 AZR 477/14 – Rn. 41; 19. Mai 2016 – 8 AZR 583/14 – Rn. 38). Schreibt der Arbeitgeber eine Stelle unter Verstoß gegen § 11 AGG aus, so kann dies nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose Bewerber im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 61; 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 64, BAGE 156, 71; 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 31). 44 cc) § 15 Abs. 2 AGG iVm. § 7 AGG sowie iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF ist auch nicht mit Blick auf Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie Art. 5 Abs. 3 UN-BRK und Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) UN-BRK unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF für sich betrachtet eine Entschädigungspflicht auslöst. 45 (1) Nach Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG haben die Mitgliedstaaten angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, was nach Art. 5 Satz 2 der Richtlinie 2000/78/EG bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um Menschen mit Behinderung ua. den Zugang zur Beschäftigung zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten (dazu, dass Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG im AGG keine wortgleiche Umsetzung erfahren hat: vgl. EuGH 17. Juli 2008 – C-303/06 – [Coleman] Rn. 39; BAG 22. Mai 2014 – 8 AZR 662/13 – Rn. 42, BAGE 148, 158). 46 Art. 5 Abs. 3 UN-BRK bestimmt, dass die Vertragsstaaten zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierungen alle geeigneten Schritte unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) UN-BRK sichern und fördern die Vertragsstaaten die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um ua. „Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten“. Zudem bestimmt Art. 2 Unterabs. 3 UN-BRK, dass von der „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ alle Formen der Diskriminierung erfasst sind, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen, wobei nach der Legaldefinition in Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK „angemessene Vorkehrungen“ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen sind, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Die Bestimmungen der UN-BRK sind Bestandteil der Unionsrechtsordnung (vgl. EuGH 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 ff.) und damit zugleich Bestandteil des – unionsrechtskonform auszulegenden – deutschen Rechts (BAG 4. November 2015 – 7 ABR 62/13 – Rn. 27, BAGE 153, 187; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 53, BAGE 147, 60). Der Umstand, dass die UN-BRK seit ihrem Inkrafttreten integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, führt darüber hinaus dazu, dass auch die Richtlinie 2000/78/EG ihrerseits nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen ist (vgl. EuGH 11. April 2013 – C-335/11 ua. – [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 bis 32). 47 (2) Danach ist eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 15 Abs. 2 AGG iVm. § 7 AGG sowie iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF dahin, dass bereits der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF für sich betrachtet eine entschädigungspflichtige Diskriminierung darstellt, nicht geboten. 48 Der Gesetzgeber ist seiner Verpflichtung, Diskriminierungen aufgrund der Behinderung beim Zugang zur Beschäftigung zu verbieten, mit der in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG zum Anwendungsbereich getroffenen Regelung iVm. dem in § 7 AGG bestimmten Verbot der Diskriminierung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG, darunter die Behinderung sowie iVm. dem Verbot der Diskriminierung wegen der (Schwer)Behinderung in § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF nachgekommen. Er hat zudem ua. mit der Regelung in § 82 Satz 2 SGB IX aF, wonach der öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen hat, eine Bestimmung getroffen, die den schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Menschen eine besondere Chance einräumt, Zugang zu einer Beschäftigung zu finden. Dabei muss ein schwerbehinderter Bewerber diese Chance schon dann bekommen, wenn seine fachliche Eignung zwar zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Der schwerbehinderte Bewerber soll den öffentlichen Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen können (vgl. etwa BAG 21. Juli 2009 – 9 AZR 431/08 – Rn. 22 mwN, BAGE 131, 232). Insoweit ist der schwerbehinderte bzw. diesem gleichgestellte Bewerber im Bewerbungsverfahren besser gestellt als nicht schwerbehinderte Konkurrenten (vgl. etwa BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 32). 49 Der Verstoß des Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF bleibt auch nicht sanktionslos. Lädt der öffentliche Arbeitgeber den schwerbehinderten Bewerber entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein, so begründet dies – wie unter Rn. 37 dargelegt – die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass der erfolglose Bewerber wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt wurde. Kann der Arbeitgeber diese Vermutung nicht widerlegen, und ist die Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung auch nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig, kann der erfolglose Bewerber vom Arbeitgeber die Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangen. 50 Diese Sanktion ist auch ausreichend, insbesondere ist es zur Förderung des Zugangs schwerbehinderter Menschen zur Beschäftigung nicht erforderlich, die Entschädigungspflicht bereits unmittelbar an den Verstoß des Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF zu knüpfen. Hierdurch würde dieser Verstoß vielmehr unangemessen sanktioniert. Es würde nicht berücksichtigt, dass die mit einer Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch verbundene Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Bewerbers in der Regel in der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts aufgeht, die der erfolglose Bewerber durch die Ablehnung bzw. Nichtberücksichtigung seiner Bewerbung erfährt. Im letzteren Fall hätte der Arbeitgeber allerdings nach § 22 AGG die Möglichkeit, eine durch Indizien begründete Vermutung einer Benachteiligung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG – darunter auch die Behinderung – und damit auch eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Bewerbers zu widerlegen. 51 dd) Aus vorangegangenen Entscheidungen des erkennenden Senats sowie des Neunten Senats des Bundesarbeitsgerichts folgt ebenfalls nichts Abweichendes. 52 (1) Zwar hat der erkennende Senat beispielsweise in seinem Urteil vom 20. Januar 2016 (- 8 AZR 194/14 – Rn. 23 mwN) ausgeführt, dass eine Benachteiligung im Rahmen einer Auswahlentscheidung, insbesondere bei einer Einstellung oder Beförderung, bereits dann vorliege, wenn der Beschäftigte nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgeschieden werde. Insoweit liege die Benachteiligung in der Versagung einer Chance. Bewerber hätten Anspruch auf ein diskriminierungsfreies Bewerbungs-/Stellenbesetzungsverfahren. Seien bereits die Chancen eines Bewerbers durch ein diskriminierendes Verfahren beeinträchtigt worden, komme es regelmäßig nicht mehr darauf an, ob eine nach § 1 AGG verbotene Anknüpfung bei der sich an das Auswahlverfahren anschließenden Einstellungsentscheidung noch eine nachweisbare Rolle gespielt habe. 53 (2) Auch hat der erkennende Senat beispielsweise in seiner Entscheidung vom 16. Februar 2012 (- 8 AZR 697/10 – Rn. 48) darauf hingewiesen, dass ein schwerbehinderter Bewerber nach der Regelung in § 82 Satz 2 SGB IX aF bei einem öffentlichen Arbeitgeber die Chance eines Vorstellungsgesprächs bekommen müsse, wenn seine fachliche Eignung zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen sei. Der schwerbehinderte Bewerber solle den öffentlichen Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch von seiner Eignung überzeugen können. Werde ihm diese Möglichkeit genommen, liege darin eine weniger günstige Behandlung als sie das Gesetz zur Herstellung gleicher Bewerbungschancen gegenüber anderen Bewerbern für erforderlich halte. 54 (3) Es kann dahinstehen, ob an dieser Rechtsprechung überhaupt festzuhalten ist. Insoweit spricht aus Sicht des Senats einiges dafür, die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG des erfolglosen schwerbehinderten Bewerbers, der entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde – ebenso wie die unmittelbare Benachteiligung eines nicht schwerbehinderten erfolglosen Bewerbers – ausschließlich in dem Umstand zu sehen, dass dieser nicht eingestellt wurde. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt eine unmittelbare Benachteiligung nämlich vor, wenn eine Person (wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes) eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Wie der Begriff „erfahren würde“ verdeutlicht, muss nach dieser Bestimmung die Vergleichsperson nicht eine reale, sondern kann auch eine fiktive bzw. hypothetische sein. Allein aus diesem Grund kommt es weder darauf an, ob der letztlich erfolglose Bewerber bereits vorab aus dem Stellenbesetzungs-/Auswahlverfahren ausgeschieden wurde, noch, ob es andere Bewerber für die Stelle gab und eine andere Bewerbung Erfolg hatte, und ob die ausgeschriebene Stelle überhaupt besetzt wurde. 55 (4) Zwar mag der Senat in vorangegangenen Entscheidungen angenommen haben, dass der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen seine Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, eine unmittelbare Benachteiligung des Bewerbers iSv. § 3 Abs. 1 AGG bewirkt; allerdings hat er in keiner seiner früheren Entscheidungen angenommen, dass allein dieser Verstoß eine entschädigungspflichtige Benachteiligung iSv. § 15 Abs. 2 AGG iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF bzw. iVm. § 7 AGG darstellen könne. Vielmehr war dieser Verstoß stets nur ein Indiz, das die Vermutung begründen konnte, dass der erfolglose Bewerber wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt worden war. 56 So hat der erkennende Senat etwa in seinem Urteil vom 16. Februar 2012 (- 8 AZR 697/10 – Rn. 45 f.) ausdrücklich betont, das Landesarbeitsgericht habe rechtsfehlerfrei angenommen, dass sich die unterlassene Einladung zum Vorstellungsgespräch als ein Indiz für einen Kausalzusammenhang darstelle. Unterlasse es der öffentliche Arbeitgeber entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF, den schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, so sei dies eine geeignete Hilfstatsache nach § 22 AGG. Und in seinem Urteil vom 20. Januar 2016 (- 8 AZR 194/14 – Rn. 34 mwN) heißt es unter Bezugnahme auf seine Entscheidung vom 26. Juni 2014 (- 8 AZR 547/13 – Rn. 45 mwN): „Die Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, eine/n schwerbehinderten Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet grundsätzlich die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Diese Pflichtverletzung ist nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein“. 57 (5) Auch der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ist sowohl in seinem Urteil vom 21. Juli 2009 (- 9 AZR 431/08 – Rn. 21, BAGE 131, 232), als auch beispielsweise in seiner Entscheidung vom 12. September 2006 (- 9 AZR 807/05 – Rn. 27 f., BAGE 119, 262) davon ausgegangen, dass eine Verletzung der Pflichten eines öffentlichen Arbeitgebers nach § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX aF und § 82 SGB IX aF lediglich die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung begründen könne, der Arbeitgeber benachteilige schwerbehinderte Beschäftigte wegen ihrer Behinderung iSv. § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX 2001. 58 ee) Auch aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2011 (- 5 C 16.10 – BVerwGE 139, 135) ergibt sich nicht, dass bereits allein der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslöst. 59 (1) Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung angenommen, dass eine unmittelbare Benachteiligung durch Unterlassen insbesondere dann gegeben sei, wenn ein (künftiger) Arbeitgeber einer gesetzlich auferlegten Handlungspflicht nicht nachkomme, durch die iSv. § 5 AGG eine bisher in Beschäftigung und Beruf benachteiligte Gruppe gezielt gefördert werden solle. Die Benachteiligung liege dabei in der Vorenthaltung eines gesetzlich eingeräumten Vorteils, dessen Ziel es sei, bestehende Nachteile zu beseitigen oder zu verhindern. Die betreffende Person werde weniger günstig behandelt, als es das Gesetz zur Herstellung gleicher Chancen für erforderlich halte. Eine positive Maßnahme iSv. § 5 AGG sei angesichts ihres drittschützenden Charakters nicht neutral, so dass die in den Schutzbereich der betreffenden Vorschrift fallenden Personen im Falle ihres Unterlassens unmittelbar benachteiligt würden (BVerwG 3. März 2011 – 5 C 16.10 – Rn. 17 f., BVerwGE 139, 135). 60 (2) Allerdings heißt es an anderer Stelle der Entscheidung, dass die Vorenthaltung des gesetzlich eingeräumten Chancenvorteils eine doppelte Bedeutung habe. In ihr liege einerseits die weniger günstige Behandlung (iSv. § 3 Abs. 1 AGG), andererseits sei sie Vermutungstatsache für die Kausalität. Dabei ergebe sich die Indizwirkung daraus, dass der in Bezug auf das Bewerbungsverfahren gesetzlich eingeräumte Chancenvorteil seine entscheidende Rechtfertigung in der Schwerbehinderung oder einer ihr gleichgestellten Behinderung finde. Werde der oder dem Beschäftigten die gerade wegen einer Behinderung zu gewährende verfahrensrechtliche Besserstellung pflichtwidrig vorenthalten, spreche zumindest der erste Anschein dafür, dass dieses Verhalten des öffentlichen Arbeitgebers gleichfalls seinen Grund in der Behinderung habe. Andernfalls würde der durch besondere verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu gewährende Schutz vor einer Benachteiligung weitgehend leerlaufen. 61 (3) Damit hat aber auch das Bundesverwaltungsgericht einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG nicht unmittelbar an den Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF geknüpft. 62 3. Das Landesarbeitsgericht hat allerdings im Ergebnis zutreffend angenommen, dass der Kläger gegen das beklagte Land einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat, weil er im Stellenbesetzungsverfahren wegen seiner (Schwer)Behinderung nicht berücksichtigt wurde und die Benachteiligung nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig war. 63 a) Der Kläger hat dadurch, dass er nicht eingestellt wurde, eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Wie unter Rn. 54 ausgeführt, erfährt der erfolglose Bewerber stets eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG, wobei unerheblich ist, ob er bereits vorab aus dem Stellenbesetzungs-/Auswahlverfahren ausgeschieden wurde, ob es andere Bewerber für die Stelle gab und eine andere Bewerbung Erfolg hatte. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob die ausgeschriebene Stelle überhaupt besetzt wurde. Die Vergleichsperson nach § 3 Abs. 1 AGG muss – wie der Begriff „erfahren würde“ verdeutlicht – nicht eine reale, sondern kann auch eine fiktive bzw. hypothetische sein. 64 b) Der Kläger hat die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG auch wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Der Umstand, dass das beklagte Land ihn entgegen den Vorgaben des § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hat, begründet die Vermutung iSv. § 22 AGG, dass der Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde. Dies gilt unabhängig davon, ob die für das beklagte Land handelnden Personen – wie dieses geltend macht – von der zugegangenen Bewerbung des Klägers tatsächlich keine Kenntnis nehmen konnten. Ein fehlendes Bewusstsein, den Kläger wegen seiner Behinderung zu benachteiligen, stünde nach der Konzeption des § 22 AGG unter Beachtung der Vorgaben der Richtlinien, wonach der Bewerber lediglich den „Anschein einer Diskriminierung“ beweisen muss (vgl. etwa Erwägungsgrund 21 der Richtlinie 2000/43/EG, Erwägungsgrund 31 der Richtlinie 2000/78/EG und Erwägungsgrund 30 der Richtlinie 2006/54/EG) der Annahme des erforderlichen Kausalzusammenhangs zwischen der Benachteiligung und dem Grund nicht entgegen. 65 c) Das beklagte Land hat – wie das Landesarbeitsgericht zwar nicht in der Begründung, aber im Ergebnis zutreffend angenommen hat – diese Vermutung nicht widerlegt. 66 aa) Das Landesarbeitsgericht hat seine Annahme wie folgt begründet: Zur Auslegung von § 22 AGG seien insoweit die Formulierungen der Vorgängernormen, mithin von § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB aF sowie von § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX 2001 heranzuziehen. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei mit der Neufassung des Wortlauts in § 22 AGG lediglich eine Klarstellung, nicht aber eine inhaltliche Änderung beabsichtigt gewesen. Danach hätte das beklagte Land beweisen müssen, dass bei der Nichtberücksichtigung des Klägers ausschließlich nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe vorgelegen hätten. Dies sei dem beklagten Land nicht gelungen. Das Übersehen oder Verlieren einer Bewerbungsmappe oder einer Bewerbungs-E-Mail sei kein sachlicher Grund. Ein sachlicher Grund könne nur bewerber- und verfahrensbezogen sein, andernfalls habe er nicht mit „der Sache“ zu tun. Der sachliche Grund müsse einen Bezug zum Abwägungsvorgang bei der Auswahlentscheidung haben. Das alles treffe auf das versehentliche oder gar völlig schuldlose Nichtbeachten einer Bewerbung nicht zu. Hinsichtlich der Behandlung der Bewerbung des Klägers habe es gar kein „Motivbündel“ und damit auch keinen Teil desselben gegeben, der diskriminierend oder nicht diskriminierend hätte sein können. 67 (1) Zwar ist nicht nur die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen Tatsachen eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten lassen, sondern auch die Würdigung, ob die von dem Arbeitgeber vorgebrachten Tatsachen den Schluss darauf zulassen, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligungen vorgelegen hat, nur eingeschränkt revisibel. In beiden Fällen beschränkt sich die revisionsgerichtliche Kontrolle darauf, ob die Würdigung der Tatsachengerichte möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. zu den Überprüfungsgrundsätzen BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 48 mwN, BAGE 156, 107). 68 (2) Die Würdigung des Berufungsgerichts hält indes selbst einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle nicht stand. Zum einen legt das Landesarbeitsgericht seiner Würdigung die falschen rechtlichen Vorgaben zugrunde, zum anderen ist seine Würdigung auch nach seiner eigenen Argumentationslinie nicht in sich widerspruchsfrei. 69 (a) Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts muss das beklagte Land nach § 22 AGG zur Widerlegung der Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung nicht beweisen, dass bei dessen Nichtberücksichtigung ausschließlich nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe vorgelegen haben, sondern es muss – wie unter Rn. 36 ausgeführt – Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe – hier – die (Schwer)Behinderung – zu einer ungünstigeren Behandlung des Klägers geführt haben (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN). Darüber hinaus dürfen diese Gründe nicht die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren. Diese zusätzliche Anforderung folgt aus der in § 82 Satz 3 SGB IX aF getroffenen Bestimmung, wonach eine Einladung des schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch nur dann entbehrlich ist, wenn diesem die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. § 82 Satz 3 SGB IX aF enthält insoweit eine abschließende Regelung, die bewirkt, dass sich der (potentielle) Arbeitgeber zur Widerlegung der infolge der Verletzung des § 82 Satz 2 SGB IX aF vermuteten Kausalität nicht auf Umstände berufen kann, die die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren. Die Widerlegung dieser Vermutung setzt daher den Nachweis voraus, dass die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch aufgrund von Umständen unterblieben ist, die weder einen Bezug zur Behinderung aufweisen noch die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berühren (vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 50 mwN, BAGE 156,107). 70 § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF verweist ausdrücklich auf das AGG und damit auch auf § 22 AGG. Für die Auslegung dieser Bestimmung sind – anders als das Landesarbeitsgericht meint – allerdings nicht die Formulierungen der „Vorgängernormen“, dh. von § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB aF sowie insbesondere von § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX 2001 heranzuziehen, wonach der Arbeitgeber die Beweislast dafür trägt, dass nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen oder eine bestimmte körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für diese Tätigkeit ist. Dies folgt bereits daraus, dass § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX (in seinen bis zum 17. August 2006 geltenden Fassungen) die Unterscheidung zwischen der Widerlegung der Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung und der Rechtfertigung bzw. ausnahmsweisen Zulässigkeit einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung, wie sie nunmehr für die mittelbare Benachteiligung in § 3 Abs. 2 AGG und für die unmittelbare Benachteiligung in § 8 Abs. 1 AGG geregelt sind, nicht kannte (vgl. hierzu etwa BAG 20. Januar 2016 – 8 AZR 194/14 – Rn. 50 mwN). Im Übrigen geht der Hinweis des Berufungsgerichts auf die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses zu § 22 AGG (vgl. BT-Drs. 16/2022 S. 13) fehl, da dieser sich insoweit allein zum Begriff der Vermutung iSv. § 22 AGG in der Entwurfsfassung bzw. zur Glaubhaftmachung – auch iSd. Richtlinie 2000/78/EG – verhält, nicht aber zum Verhältnis von § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX 2001 zur später Gesetz gewordenen Fassung des § 22 AGG. 71 (b) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, das beklagte Land habe die Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner Behinderung nicht widerlegt, ist auch – nach seiner eigenen Argumentationslinie – nicht in sich widerspruchsfrei. Hat der öffentliche Arbeitgeber die – ihm entsprechend § 130 BGB zugegangene – Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen nicht tatsächlich zur Kenntnis nehmen können, kann es – wie das Landesarbeitsgericht selbst ausführt – bei der Behandlung der Bewerbung gar kein „Motivbündel“ und damit auch keinen Teil desselben gegeben haben, der diskriminierend oder nicht diskriminierend hätte sein können. Dann ist es aber widersprüchlich, wenn das Landesarbeitsgericht auf der anderen Seite annimmt, dem beklagten Land sei es nicht gelungen, die Vermutung zu widerlegen, dass der Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde. 72 bb) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, das beklagte Land habe die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt worden sei, nicht widerlegt, erweist sich jedoch im Ergebnis als zutreffend. Das beklagte Land, das – wie unter Rn. 36 ausgeführt – insoweit die Darlegungs- und Beweislast traf, hat schon keine Tatsachen vorgetragen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere Gründe als solche iSv. § 1 AGG sowie iSv. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF zu einer ungünstigeren Behandlung des Klägers geführt haben. 73 (1) Das beklagte Land kann sich zur Widerlegung der Vermutung iSv. § 22 AGG, dass es den Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt hat, nicht mit Erfolg darauf berufen, die bei ihm über die Bewerbung entscheidenden Personen hätten keine Kenntnis von der Bewerbung des Klägers nehmen können, da diese nicht ausgedruckt und kein Vorgang angelegt worden sei, weshalb diese Bewerbung nicht in den Geschäftsgang gelangt sei. 74 (a) Zwar kann der Arbeitgeber die Vermutung, er habe die klagende Partei wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt, dadurch widerlegen, dass er substantiiert vorträgt und im Bestreitensfall beweist, dass er – bzw. die bei ihm über die Einstellung entscheidenden Personen – aufgrund besonderer, ihm nicht zurechenbarer Umstände des Einzelfalls nicht die Möglichkeit hatte(n), eine entsprechend § 130 BGB zugegangene Bewerbung tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen. In einem solchen Fall ist es nämlich ausgeschlossen, dass ein Grund iSv. § 1 AGG und damit auch die Behinderung iSv. § 81 Abs. 2 SGB IX aF in einem Motivbündel des Arbeitgebers – positiv oder negativ – eine Rolle gespielt haben. 75 (b) Allerdings hat das beklagte Land einen solchen Vortrag nicht geleistet. 76 Zum einen war es nach dem eigenen Vorbringen des beklagten Landes nicht ausgeschlossen, dass sich die Bewerbung des Klägers unter den Bewerbungen befand, die Oberregierungsrat P geöffnet hatte, um sich einen Überblick über die Bewerberlage zu verschaffen. Damit hatte für Oberregierungsrat P, der den Zugriff auf das elektronische Postfach der Ausbildungsabteilung hatte, die Möglichkeit bestanden, von der Bewerbung Kenntnis zu nehmen. Dass er die Bewerbung des Klägers ggf. nur überflogen hat und ihm deshalb dessen Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen ggf. nicht aufgefallen ist, ändert daran nichts. Mit dem Argument, die Bewerbung nicht vollständig zur Kenntnis genommen zu haben, kann der Arbeitgeber die Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen der Behinderung iSv. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF nicht widerlegen. Zum anderen wurden nach dem Vorbringen des beklagten Landes die als „gelesen“ markierten Bewerbungs-E-Mails – und damit auch die Bewerbungs-E-Mail des Klägers – von der zuständigen Mitarbeiterin weisungsgemäß in den dafür vorgesehenen Ablage-Ordner verschoben. Dort konnten sie jederzeit aufgefunden und zur Kenntnis genommen werden. Dass die Bewerbung des Klägers nicht ausgedruckt wurde und demzufolge nicht als Vorgang in den üblichen Geschäftsgang gelangt ist, ist deshalb unerheblich. Im Übrigen hätte das beklagte Land es unschwer in der Hand gehabt, durch eine bessere Organisation des Bewerbungsverfahrens auch die Bewerbung des Klägers in den Geschäftsgang zu bringen. Den Verantwortlichen des beklagten Landes war bewusst, dass es bei der Bearbeitung der in großer Zahl im E-Mail-Postfach der Ausbildungsabteilung eingegangenen Bewerbungs-E-Mails zu Problemen gekommen war. Vor diesem Hintergrund hätte das beklagte Land, um etwaige Diskrepanzen zu ermitteln, einen Abgleich der ausgedruckten und in den regulären Geschäftsgang gelangten Bewerbungen und der im Ablage-Ordner befindlichen Bewerbungs-E-Mails veranlassen müssen. 77 (2) Weitere Umstände, mit denen es die Vermutung der Benachteiligung des Klägers wegen seiner Behinderung hätte widerlegen können, hat das beklagte Land nicht dargetan. Insbesondere hat es weder vorgetragen, dass das Auswahlverfahren aus sachlichen und nachvollziehbaren Gründen abgebrochen wurde, bevor die Bewerbung des Klägers bei ihm eingegangen ist (zu dieser Möglichkeit der Widerlegung der Kausalitätsvermutung und ihren Voraussetzungen im Einzelnen vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 89, BAGE 156, 71), noch hat es sich darauf berufen, das Auswahlverfahren sei bereits abgeschlossen gewesen, bevor die Bewerbung des Klägers bei ihm eingegangen ist (zu dieser Möglichkeit der Widerlegung der Kausalitätsvermutung und ihren Voraussetzungen im Einzelnen vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 90, aaO). Ebenso wenig hat es dargelegt, dass es bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, hier der (Schwer)Behinderung ausschließt (zu dieser Möglichkeit der Widerlegung der Kausalitätsvermutung und ihren Voraussetzungen im Einzelnen vgl. etwa BAG 11. August 2016 – 8 AZR 4/15 – Rn. 92, aaO). 78 d) Die Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung war auch nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Dies macht das beklagte Land, das insoweit die Darlegungs- und Beweislast trifft, auch nicht geltend. 79 B. Der Kläger kann vom beklagten Land die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in der vom Berufungsgericht ausgeurteilten Höhe von 3.717,20 Euro nebst Zinsen verlangen. Die Bemessung der Höhe der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. 80 I. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG kann der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG darf die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. 81 II. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG muss einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz gewährleisten. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere des Verstoßes entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (vgl. etwa EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 63 mwN; BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 848/13 – Rn. 161). Sie muss auf jeden Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen. Eine rein symbolische Entschädigung wird den Erfordernissen einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht gerecht (EuGH 22. April 1997 – C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 25; 10. April 1984 – 14/83 – [von Colson und Kamann] Rn. 23 f.; BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 111, BAGE 164, 117). 82 III. Geeigneter Anknüpfungspunkt für die Bemessung der Entschädigung ist der Bruttomonatsverdienst, den der erfolglose Bewerber – ungefähr – erzielt hätte, wenn er die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Dies folgt aus § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, was vom Arbeitgeber darzulegen und ggf. zu beweisen wäre (vgl. zur Darlegungs- und Beweislast BAG 11. August 2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 102). 83 1. Bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG bestimmten Grenze von drei Bruttomonatsverdiensten handelt es sich allerdings nicht um eine Obergrenze in dem Sinne, dass sich die geschuldete Entschädigung – sofern der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre – von vornherein nur innerhalb eines Rahmens von „null“ und „drei“ auf der ausgeschriebenen Stelle ungefähr erzielbaren Bruttomonatsverdiensten bewegen dürfte. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor, vielmehr handelt es sich bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG um eine Kappungsgrenze (vgl. BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 110, BAGE 164, 117; 19. August 2010 – 8 AZR 530/09 – Rn. 66 mwN). Das bedeutet, dass zunächst – ohne Rücksicht auf irgendeine Begrenzung – die Höhe der angemessenen Entschädigung zu ermitteln und diese sodann, wenn sie drei Bruttomonatsverdienste übersteigen sollte, zu kappen ist. 84 2. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die auf der ausgeschriebenen Stelle ungefähr erzielbare Bruttomonatsvergütung Einfluss auf die Höhe des immateriellen Schadens hat, den der erfolglose Bewerber durch die verbotene Benachteiligung erleidet. Soweit es um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich nicht nur eine Sanktion dafür, dass der Beschäftigte insoweit in seinem Persönlichkeitsrecht betroffen wird, als er an der Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit durch Beschäftigung gehindert wird, sondern auch dafür, dass er insoweit in seinem Persönlichkeitsrecht betroffen wird, als er seine wirtschaftliche Existenzgrundlage nicht durch Arbeitseinkommen sicherstellen kann. Die Anknüpfung an die auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbare Bruttomonatsvergütung steht auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 22. April 1997 (- C-180/95 – [Draehmpaehl] Rn. 35) diese Anknüpfung grundsätzlich gebilligt. 85 IV. Bei der Bemessung der angemessenen Entschädigung iSv. § 15 Abs. 2 AGG steht den Tatsachengerichten ein Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falles zu berücksichtigen haben. § 15 Abs. 2 AGG entspricht insoweit der Regelung zur billigen Entschädigung in § 253 BGB. Hängt die Höhe des Entschädigungsanspruchs von einem Beurteilungsspielraum ab, dann ist die Bemessung des Anspruchs grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters. Die Festsetzung der angemessenen Entschädigung unterliegt deshalb nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht. Das Berufungsurteil muss das Bemühen um eine angemessene Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände erkennen lassen und darf nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen haben (vgl. etwa BAG 16. Februar 2012 – 8 AZR 697/10 – Rn. 69; 18. März 2010 – 8 AZR 1044/08 – Rn. 39). 86 V. Die Bemessung der Höhe der Entschädigung durch das Landesarbeitsgericht ist jedenfalls im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. 87 1. Das Berufungsgericht ist bei der Bemessung der Entschädigung allerdings rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass es sich bei der in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG genannten Grenze um einen Höchstbetrag handelt, und hat deshalb rechtsfehlerhaft angenommen, dass es eine Entschädigung von vornherein nur in einem Rahmen von bis zu drei Monatsgehältern festsetzen dürfe. Es hat verkannt, dass es sich bei der Grenze in § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG um eine Kappungsgrenze handelt, weshalb – wie unter Rn. 83 ausgeführt – zunächst die Höhe der angemessenen Entschädigung zu ermitteln und diese erst dann, wenn sie drei Bruttomonatsverdienste übersteigen sollte, zu kappen wäre. Es könnte zudem einiges dafür sprechen, dass das Landesarbeitsgericht darüber hinaus verkannt hat, dass der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für das Eingreifen der Kappungsgrenze hat. 88 2. Zudem hat das Landesarbeitsgericht zu Unrecht zulasten des beklagten Landes berücksichtigt, dass der Kläger bei diesem auch mit einer Bewerbung auf eine Stelle für „Quereinsteiger (w/m) für den Gerichtsvollzieherdienst“ für den Bezirk des Oberlandesgerichts D gescheitert war. Insoweit lässt das Urteil des Landesarbeitsgerichts zum einen schon nicht erkennen, ob der Kläger durch diese ablehnende Entscheidung überhaupt wegen seiner Behinderung bzw. eines anderen Grundes iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde. Zum anderen hat das Berufungsgericht nicht beachtet, dass das vor dem Arbeitsgericht D über eine Entschädigung geführte Verfahren vergleichsweise durch Zahlung eines Betrages iHv. 3.975,00 Euro durch das beklagte Land beendet worden war, der Kläger mithin insoweit Genugtuung erfahren hatte. Schließlich ist die vom Berufungsgericht bemühte „Vorbildfunktion“ des öffentlichen Arbeitgebers kein die Entschädigungshöhe beeinflussender Umstand. Nur den öffentlichen Arbeitgeber trifft die Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, einen schwerbehinderten Bewerber, der nicht offensichtlich fachlich ungeeignet ist, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Verstößt der öffentliche Arbeitgeber gegen diese Pflicht, begründet dies die Vermutung für dessen Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung. Gelingt es dem öffentlichen Arbeitgeber nicht, diese Vermutung zu widerlegen, und ist die unmittelbare Benachteiligung nicht ausnahmsweise nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig, so löst dies eine Entschädigungspflicht aus. Dafür, dass diese Entschädigung wegen einer Vorbildfunktion des öffentlichen Arbeitgebers von vornherein höher zu bemessen wäre, bietet das Gesetz – auch unter Berücksichtigung der Vorgaben der UN-BRK (vgl. Ausführungen unter Rn. 46) – keinerlei Anhaltspunkt. 89 3. Der Senat hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Entschädigung iHv. 3.717,20 Euro – wie vom Landesarbeitsgericht zugesprochen – für angemessen. Mit diesem Betrag wird der Kläger angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung wegen der Behinderung erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zugleich erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. 90 4. Der Entschädigungsanspruch ist – anders als das beklagte Land meint – auch nicht durch ein Mitverschulden des Klägers nach § 254 Abs. 1 BGB gemindert. Dies folgt – unabhängig von der Frage, ob ein Mitverschulden bei der Festsetzung der Entschädigung überhaupt berücksichtigt werden dürfte, was zweifelhaft ist – bereits daraus, dass den Kläger kein Mitverschulden trifft, denn er war, schon weil er am 3. August 2015 eine Lesebestätigung erhalten hatte, nicht gehalten, sich nach dem Stand der Bearbeitung seiner Bewerbung zu erkundigen.             Schlewing                 Vogelsang                  Roloff                                   R. Kandler                 F. Avenarius
bundesarbeitsgericht
bag_23-19
16.05.2019
16.05.2019 23/19 - Die Fraktionen des bayerischen Landtags sind keine öffentlichen Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF) Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung zu zahlen. Die Beklagte ist eine Fraktion des Bayerischen Landtags. Im November 2016 schrieb sie zwei Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter aus. Der Kläger bewarb sich auf beide Stellen mit dem Hinweis auf seine Schwerbehinderung. Die Beklagte lud ihn nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein und teilte ihm mit, sie habe sich für andere Bewerber entschieden. Der Kläger hat die Beklagte mit seiner Klage auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genommen. Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Dies folge aus einer Reihe von Verstößen der Beklagten gegen die zum Schutz und zur Förderung von Schwerbehinderten im SGB IX getroffenen Bestimmungen, insbesondere daraus, dass die Beklagte ihn entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen habe. Die Beklagte sei ein öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte hat den Kläger nicht wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Sie hat keine zu Gunsten schwerbehinderter Menschen getroffenen Verfahrens- und/oder Förderpflichten verletzt, insbesondere war sie nicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Eine solche Pflicht trifft nur öffentliche Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Um einen solchen Arbeitgeber handelt es sich bei der Beklagten nicht, insbesondere ist diese keine sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts iSv. § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF, da ihr ein solcher Status nicht verliehen wurde. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 11. April 2018 – 10 Sa 820/17 –
Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 11. April 2018 – 10 Sa 820/17 – wird zurückgewiesen. Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen. Leitsatz Die besondere Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (aF), schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, trifft nur öffentliche Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Hierzu zählt nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF auch jede sonstige Körperschaft, Anstalt und Stiftung des öffentlichen Rechts. Die besondere rechtliche Stellung der Körperschaft des öffentlichen Rechts iSv. § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF setzt einen entsprechenden staatlichen Hoheitsakt, nämlich die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts voraus. Tatbestand 1 Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen. 2 Die Beklagte ist eine Fraktion des Bayerischen Landtags. Im November 2016 stellte sie in das Stellenportal des öffentlichen Dienstes (Interamt.de) zwei Stellenangebote ein. Mit einem dieser Stellenangebote suchte sie eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in für die Fachgebiete Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Baurecht. Mit dem weiteren Stellenangebot suchte sie eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in für die Fachgebiete Schulische und Berufliche Bildung sowie Sport. Die Beklagte hatte wegen der zu besetzenden Stellen mit der Bundesagentur für Arbeit Verbindung aufgenommen und die Stellenausschreibungen auch bei dieser veröffentlicht. 3 Der Kläger, der zunächst eine Ausbildung zum Industriekaufmann sowie später ein Studium der Rechtswissenschaft mit Erfolg abgeschlossen und den Hochschulgrad „Diplomjurist“ erworben hatte, bewarb sich mit zwei Schreiben vom 13. November 2016 auf die beiden Stellenangebote der Beklagten. Im jeweils letzten Satz seiner Bewerbungsschreiben wies er darauf hin, dass er mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert sei und einen entsprechenden Schwerbehindertenausweis habe. 4 Mit E-Mails vom 28. November 2016 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie sich wegen der im Fachgebiet Kommunale Fragen, Innere Sicherheit und Baurecht zu besetzenden Stelle für einen anderen Bewerber entschieden habe. Nachdem der Kläger die Beklagte unter dem 6. Dezember 2016 darüber informiert hatte, dass er am 5. Dezember 2016 das 2. Juristische Staatsexamen bestanden hatte, teilte die Beklagte ihm mit E-Mail vom 19. Dezember 2016 mit, dass auch die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters für die Fachgebiete Schulische und Berufliche Bildung sowie Sport mit einem anderen Bewerber besetzt worden sei. 5 Die Beklagte erfüllte zum damaligen Zeitpunkt die in § 71 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Folgenden SGB IX aF) bestimmte Beschäftigungspflichtquote nicht, sondern leistete Ausgleichszahlungen nach § 77 SGB IX aF. 6 Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 20. Dezember 2016 gegenüber der Beklagten erfolglos „einen Schadensersatzanspruch nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG wegen Diskriminierung als Schwerbehinderter“ geltend gemacht hatte, hat er mit seiner am 10. Januar 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage sein Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiterverfolgt. 7 Er hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verpflichtet, da sie ihn im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Letzteres ergebe sich aus den folgenden Umständen: Die Beklagte habe die Schwerbehindertenvertretung und den Personalrat entgegen § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX aF nicht über seine Bewerbungen unterrichtet. Sie habe zudem die Schwerbehindertenvertretung bei der Prüfung gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 und Satz 6 SGB IX aF, ob der Arbeitsplatz für Schwerbehinderte geeignet sei, nicht beteiligt und seine Bewerbungen auch nicht an die Schwerbehindertenvertretung weitergeleitet. Dass bei der Beklagten weder ein Personal- oder Betriebsrat noch eine Schwerbehindertenvertretung eingerichtet seien, bestreite er. Insoweit sei die Beklagte beweispflichtig. Ein weiteres Indiz für seine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung sei der Umstand, dass die Beklagte ihn entgegen § 81 Abs. 1 Satz 8 SGB IX aF nicht angehört habe. Darüber hinaus habe die Beklagte ihn den Vorgaben von § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF zuwider nicht unverzüglich über ihre Entscheidung unterrichtet und die Gründe dafür in ihren Absageschreiben nicht dargelegt. Zudem wirke sich aus, dass er entgegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden sei. Die Beklagte sei als Landtagsfraktion Teil des Landtags und damit ein öffentlicher Arbeitgeber iSd. § 82 iVm. § 71 Abs. 3 Nr. 2 oder Nr. 4 SGB IX aF. Eine genaue Zuordnung zu den in § 71 Abs. 3 SGB IX aF unter den Nummern 1 bis 4 aufgeführten öffentlichen Arbeitgebern sei nicht erforderlich, da der Gesetzgeber mit § 71 Abs. 3 SGB IX aF alle öffentlichen Arbeitgeber erfasst habe. Letztlich sei zu berücksichtigen, dass die Beklagte die Beschäftigungspflichtquote nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF nicht erfülle, sondern Ausgleichszahlungen nach § 77 SGB IX aF leiste. Auch hierdurch habe sie zum Ausdruck gebracht, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht interessiert zu sein. Vor dem Hintergrund, dass er in zwei Bewerbungsverfahren wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert worden sei, schulde ihm die Beklagte für jeden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des AGG die Zahlung einer Entschädigung iHv. mindestens einem halben, auf der jeweiligen Stelle erzielbaren Bruttomonatsverdienst. 8 Der Kläger hat zuletzt beantragt,          die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädigung, jedoch mindestens 3.663,91 Euro zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 4. Januar 2017 zu zahlen. 9 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. 10 Sie hat die Auffassung vertreten, den Kläger nicht wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert zu haben. Ein Verstoß gegen § 81 Abs. 1 Satz 4 bis Satz 6 SGB IX aF scheide schon deshalb aus, da bei ihr weder eine Schwerbehindertenvertretung noch ein Personalrat oder ein Betriebsrat gebildet worden seien. Sie habe auch nicht gegen § 81 Abs. 1 Satz 7 und Satz 8 SGB IX aF verstoßen, da eine Erörterungs- und Anhörungspflicht ebenfalls nur dann bestünde, wenn eine Schwerbehindertenvertretung oder sonstige relevante Vertretung existiere. Auch eine Unterrichtungs- und Begründungspflicht nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF komme nur in Betracht, wenn zuvor eine Erörterung mit einer bestehenden Schwerbehindertenvertretung habe erfolgen können. Der Umstand, dass sie den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen habe, sei kein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, da sie kein öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF sei. Insbesondere sei sie kein öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF. Diese Vorschrift erfasse nur diejenigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, denen hoheitliche Befugnisse übertragen worden seien und die öffentliche Aufgaben erfüllten. Dies sei bei ihr nicht der Fall. 11 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision. Entscheidungsgründe 12 Die zulässige Revision hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. 13 A. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wobei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF die Regelungen des AGG. 14 B. Die Beklagte hat den Kläger – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt. 15 I. Zwar wurde der Kläger dadurch, dass er von der Beklagten nicht eingestellt wurde, unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, denn er hat eine ungünstigere Behandlung erfahren als die letztlich eingestellten Personen. 16 II. Der Kläger hat diese unmittelbare Benachteiligung jedoch nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass keine Indizien iSv. § 22 AGG vorliegen, die für sich allein betrachtet oder in der Gesamtschau aller Umstände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass zwischen der benachteiligenden Behandlung und einem Grund iSv. § 1 AGG, hier der (Schwer)Behinderung, der nach § 7 Abs. 1 AGG erforderliche Kausalzusammenhang bestand. 17 1. Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen. 18 a) Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv. § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund iSv. § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt(BAG 23. November 2017 – 8 AZR 372/16 – Rn. 20 mwN). 19 b) § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51). 20 aa) Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann, wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 52 mwN). 21 bb) Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist (vgl. EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaƫia Accept] Rn. 55 mwN; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 32; BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 24 mwN, BAGE 156, 107; 19. Mai 2016 – 8 AZR 470/14 – Rn. 54 mwN, BAGE 155, 149). Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (vgl. etwa BAG 26. Januar 2017 – 8 AZR 73/16 – Rn. 26 mwN). 22 2. Danach hat der Kläger die unmittelbare Benachteiligung nicht wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Es liegen keine Indizien iSv. § 22 AGG vor, die für sich allein betrachtet oder in der Gesamtschau aller Umstände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass zwischen der benachteiligenden Behandlung und der (Schwer)Behinderung des Klägers der erforderliche Kausalzusammenhang bestand. Zwar kann aus einem Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, grundsätzlich die Vermutung iSv. § 22 AGG einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung abgeleitet werden (BAG 28. September 2017 – 8 AZR 492/16 – Rn. 26 mwN). Die Beklagte hat jedoch – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – nicht gegen derartige, zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehende Bestimmungen verstoßen. 23 a) Die Beklagte hat weder gegen die in § 81 Abs. 1 Satz 4 SGB IX aF bestimmte Verpflichtung verstoßen, wonach die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen über Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten haben, noch liegt ein Verstoß der Beklagten gegen § 81 Abs. 1 Satz 6 SGB IX aF vor, wonach die Arbeitgeber bei der Prüfung nach § 81 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF die Schwerbehindertenvertretung nach § 95 Abs. 2 SGB IX aF zu beteiligen und die in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen anzuhören haben. Die Beklagte hat auch nicht gegen die sich aus § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF ergebende Verpflichtung verstoßen, wonach der Arbeitgeber, der seine Beschäftigungspflicht nicht erfüllt, seine beabsichtigte Entscheidung unter Darlegung der Gründe mit der Schwerbehindertenvertretung und einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung zu erörtern hat, wenn die Schwerbehindertenvertretung oder eine in § 93 SGB IX aF genannte Vertretung mit der beabsichtigten Entscheidung des Arbeitgebers nicht einverstanden ist. Die Verpflichtungen aus § 81 Abs. 1 Satz 4, Satz 6 und Satz 7 SGB IX aF hätten die Beklagte nur getroffen, wenn bei ihr eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine der in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen bestanden hätte(n). Das Landesarbeitsgericht hat allerdings das Bestehen einer solchen Vertretung nicht feststellen können. Zwar liegt – anders als das Landesarbeitsgericht angenommen hat – in dem klägerseitigen Bestreiten des Vorbringens der Beklagten, bei ihr sei weder eine Schwerbehindertenvertretung noch eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF gebildet, zugleich die Behauptung des Klägers, dass bei der Beklagten sowohl eine Schwerbehindertenvertretung als auch eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF bestanden habe, weshalb das Landesarbeitsgericht einen Verstoß der Beklagten gegen die in § 81 Abs. 1 Satz 4, Satz 6 und Satz 7 SGB IX aF bestimmten Verpflichtungen nicht mit der Begründung verneinen durfte, der Kläger habe die Existenz einer solchen Vertretung nicht (substantiiert) dargetan. Allerdings hat der Kläger – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – das Bestehen einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung nicht bewiesen. Der insoweit beweispflichtige Kläger hatte, obgleich ihm dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre, keinen Beweis für seine Behauptung angetreten, dass bei der Beklagten eine Schwerbehindertenvertretung und/oder ein Personalrat bestanden. 24 aa) Entgegen der Auffassung des Klägers traf diesen die Beweislast für die Existenz einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer der in § 93 SGB IX aF genannten Vertretungen. 25 (1) Nach den im deutschen Zivilprozessrecht geltenden Grundsätzen, die auch im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren nach dem ArbGG Anwendung finden, trifft denjenigen, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen. Zu diesen anspruchsbegründenden Tatsachen gehören im Fall der Geltendmachung eines Anspruchs auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG auch die tatsächlichen Umstände, die die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen sollen, dass die klagende Partei die ungünstigere Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes erfahren hat. Ob die tatsächlichen Umstände die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines Grundes iSv. § 1 AGG begründen, ist dann eine Frage der richterlichen Würdigung (vgl. BAG 25. April 2013 – 8 AZR 287/08 – Rn. 35). 26 (2) Aus § 22 AGG ergibt sich insoweit nichts Abweichendes. § 22 AGG sieht in Übereinstimmung mit Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union(vgl. EuGH 16. Juli 2015 – C-83/14 – [CHEZ Razpredelenie Bulgaria] Rn. 85; 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaƫia Accept] Rn. 55 mwN; 10. Juli 2008 – C-54/07 – [Feryn] Rn. 30 f.) eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast – wie unter Rn. 21 ausgeführt – erst für den Fall vor, dass die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes besteht. 27 (3) Da die in § 81 Abs. 1 Satz 4, Satz 6 und Satz 7 SGB IX aF bestimmten Verpflichtungen den Arbeitgeber nur dann treffen können, wenn bei ihm eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF eingerichtet ist, gehört das Bestehen solcher Vertretungen zu den den Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG begründenden Tatsachen, für die den Kläger die Darlegungs- und Beweislast traf. 28 bb) Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – die Existenz einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung bei der Beklagten nicht bewiesen. Der insoweit beweispflichtige Kläger ist beweisfällig geblieben. Er hat für seine Behauptung, bei der Beklagten sei eine Schwerbehindertenvertretung und/oder ein Personalrat eingerichtet, keinen Beweis angeboten, obgleich ihm ein entsprechender Beweisantritt ohne Weiteres möglich gewesen wäre. 29 (1) Zwar handelt es sich bei der Frage, ob bei dem Arbeitgeber eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF besteht, um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Prozessgegners, in die ein externer Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis als Außenstehender regelmäßig keinen Einblick hat. Es kann dahinstehen, ob und ggf. unter welchen weitergehenden Voraussetzungen aus diesem Umstand eine Verpflichtung des Arbeitgebers folgen kann, den Bewerber in die Lage zu versetzen, insoweit Beweis anzubieten, etwa indem er diesem im Prozess die Personen benennt, die über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Schwerbehindertenvertretung und/oder einer Vertretung nach § 93 SGB IX aF Auskunft geben können. Für eine derartige Auskunftspflicht könnte sprechen, dass nach den unionsrechtlichen Vorgaben im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, sicherzustellen ist, dass eine Verweigerung von Informationen durch die beklagte Partei nicht die Verwirklichung der mit den Richtlinien 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2006/54/EG verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht (vgl. EuGH 19. April 2012 – C-415/10 – [Meister] Rn. 40). 30 (2) Dem Kläger waren hinreichend Personen bekannt, die zu der Frage, ob bei der Beklagten eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine andere Vertretung bestand, etwas aussagen konnten. Der Kläger kannte die Namen der mit den Aufgaben im Zusammenhang mit der Stellenausschreibung von der Beklagten betrauten Personen. So war die Mitarbeiterin der Fraktionsgeschäftsstelle, Frau N in den Stellenausschreibungen als Ansprechpartnerin benannt, diese hatte auch die an den Kläger gerichteten E-Mails verfasst. Zudem hatte sich der Kläger mit seinem Schreiben vom 20. Dezember 2016 unmittelbar an den Fraktionsvorsitzenden sowie an die Fraktionsgeschäftsführerin R gewandt, die daraufhin unter dem 9. Januar 2017 ein Antwortschreiben an den Kläger gerichtet hatte. Sowohl Frau R als auch Frau N waren darüber hinaus von der Beklagten im vorliegenden Verfahren mit Schriftsatz vom 12. Mai 2017 unter Angabe der ladungsfähigen Anschrift als Zeuginnen benannt. Danach wäre es dem Kläger ohne Weiteres möglich gewesen, für seine Behauptung, bei der Beklagten bestehe eine Schwerbehindertenvertretung und/oder eine Vertretung nach § 93 SGB IX aF Beweis anzutreten. 31 b) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers ergibt sich ein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers wegen der (Schwer)Behinderung auch nicht aus einem Verstoß der Beklagten gegen die in § 81 Abs. 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX aF bestimmten Verpflichtungen. Die Beklagte war weder nach § 81 Abs. 1 Satz 8 SGB IX aF verpflichtet, den Kläger anzuhören, noch traf sie nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF die Pflicht, diesen unverzüglich unter Darlegung der Gründe über die von ihr über die Besetzung der ausgeschriebenen Stellen getroffene Entscheidung zu unterrichten. 32 aa) Die Verpflichtungen aus § 81 Abs. 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX aF treffen den Arbeitgeber nur dann, wenn er nach § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF verpflichtet ist, seine beabsichtigte Entscheidung mit der Schwerbehindertenvertretung und/oder einer in § 93 SGB IX aF genannten Vertretung unter Darlegung der Gründe zu erörtern. Die Auslegung der in § 81 Abs. 1 Satz 7 bis Satz 9 SGB IX aF getroffenen Bestimmungen nach ihrem Wortlaut und ihrer inneren Systematik ergibt, dass diese ein in sich geschlossenes Erörterungsverfahren vorsehen. Dies hat zur Folge, dass eine Verpflichtung nach § 81 Abs. 1 Satz 8 und Satz 9 SGB IX aF dann nicht besteht, wenn den Arbeitgeber keine Pflicht nach § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF trifft. Dies hat der Senat bereits mit Urteil vom 28. September 2017 (- 8 AZR 492/16 – Rn. 29 ff. mwN) entschieden und ausführlich begründet. Hieran hält der Senat fest. 33 bb) Danach musste die Beklagte den Kläger nicht nach § 81 Abs. 1 Satz 8 SGB IX aF anhören und ihn auch nicht nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX aF über die von ihr getroffene Entscheidung, die im November 2016 ausgeschriebenen Stellen eines wissenschaftlichen Mitarbeiters/einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin mit einem anderen Bewerber zu besetzen, unter Darlegung der Gründe unverzüglich unterrichten. Die Voraussetzungen des § 81 Abs. 1 Satz 7 SGB IX aF sind nicht erfüllt. Dies folgt im vorliegenden Verfahren bereits daraus, dass der Kläger – wie unter Rn. 28 ff. ausgeführt – für das Bestehen einer der in dieser Bestimmung genannten Vertretungen beweisfällig geblieben ist. 34 c) Ein Indiz nach § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner (Schwer)Behinderung folgt auch nicht aus dem Umstand, dass die Beklagte den Kläger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte. Die Beklagte war zu einer solchen Einladung nicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet. Die besondere Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, trifft nur öffentliche Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF. Die Beklagte ist indes – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat – kein öffentlicher Arbeitgeber nach dieser Bestimmung. 35 aa) § 71 Abs. 3 SGB IX aF enthält mit seinen Nummern 1 bis 4 eine abschließende Aufzählung der Einheiten, die als öffentliche Arbeitgeber iSd. Teils 2 des SGB IX aF gelten. Nur diese trifft die besondere Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Darauf, ob Arbeitgeber ggf. nach anderen Regelungen öffentliche Arbeitgeber sind oder als solche gelten, kommt es demnach nicht an. 36 bb) Die Beklagte gehört nicht zu den Stellen, die durch § 71 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB IX aF als öffentliche Arbeitgeber bestimmt sind. 37 (1) Da § 71 Abs. 3 Nr. 1 SGB IX aF ausschließlich Einheiten auf Bundesebene betrifft, scheidet die Eigenschaft der Beklagten als öffentlicher Arbeitgeber nach dieser Bestimmung von vornherein aus. 38 (2) Die Beklagte ist – entgegen der Rechtsauffassung des Klägers – auch nicht öffentlicher Arbeitgeber nach § 71 Abs. 3 Nr. 2 SGB IX aF. Sie fällt nicht unter die dort aufgezählten Einheiten, insbesondere gehört sie nicht zur Verwaltung des Landtags und ist auch keine „sonstige Landesbehörde“. Unter einer „Behörde“ wird allgemein eine Stelle verstanden, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt (vgl. auch § 1 Abs. 2 SGB X und § 1 Abs. 4 VwVfG). Derartige Aufgaben hat die Beklagte indes nicht wahrgenommen. Im Gegenteil, in Art. 1 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes zur Rechtsstellung und Finanzierung der Fraktionen im Bayerischen Landtag (im Folgenden BayFraktG) ist ausdrücklich bestimmt, dass die Fraktionen des Bayerischen Landtags nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind und keine öffentliche Gewalt ausüben (zur Frage, ob eine Bundestagsfraktion öffentlicher Arbeitgeber iSv. § 71 Abs. 3 SGB IX aF ist vgl. LSG Berlin-Brandenburg 22. Mai 2014 – L 8 AL 62/13 – Rn. 25). 39 (3) Da es sich bei der Beklagten nicht um eine Gebietskörperschaft bzw. einen Verband von Gebietskörperschaften nach § 71 Abs. 3 Nr. 3 SGB IX aF handelt, und sie auch keine Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF ist, könnte sie die besondere Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch nach § 82 Satz 2 SGB IX aF nur treffen, wenn sie eine sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF oder in analoger Anwendung dieser Bestimmung wäre. Beides ist jedoch – wie das Landesarbeitsgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat – nicht der Fall. 40 (a) Die Beklagte ist keine Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF. 41 (aa) § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF knüpft – mangels abweichender Anhaltspunkte – mit den Begriffen „Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts“ an das allgemeine verwaltungsrechtliche Begriffsverständnis an. Danach sind Körperschaften des öffentlichen Rechts durch staatlichen Hoheitsakt geschaffene, rechtsfähige, mitgliedschaftlich verfasste Organisationen des öffentlichen Rechts, die regelmäßig staatliche Aufgaben mit idR hoheitlichen Mitteln unter staatlicher Aufsicht wahrnehmen (Maurer/Waldhoff Allgemeines Verwaltungsrecht 19. Aufl. § 23 Rn. 43; Forsthoff Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd. I Allgemeiner Teil 10. Aufl. S. 491; vgl. auch BayVGH 9. März 1988 – 4 B 86.03226 – zu 3 a der Gründe). Es kann vorliegend dahinstehen, was unter „staatlichen Aufgaben“ im Einzelfall zu verstehen ist; jedenfalls setzt die besondere rechtliche Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts einen entsprechenden staatlichen Hoheitsakt, die Verleihung des Körperschaftsstatus, voraus. Dadurch wird nach außen hin für jedermann erkennbar dokumentiert, welchen Einheiten ein solcher Status zukommt. Dies ist bei der Prüfung, ob ein Arbeitgeber ein öffentlicher Arbeitgeber nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF ist, von besonderer Bedeutung. Sowohl der Arbeitgeber als auch der Beschäftigte bzw. Bewerber müssen ohne Schwierigkeiten erkennen können, ob den Arbeitgeber die besonderen Pflichten eines öffentlichen Arbeitgebers nach § 82 Satz 2 SGB IX aF treffen. 42 (bb) Danach handelt es sich bei der Beklagten nicht um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts nach § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF. Zwar könnenFraktionen nach Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayFraktG am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen und unter ihrem Namen klagen und verklagt werden. Ihnen wurde allerdings nicht durch Hoheitsakt der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen. Im Hinblick auf den Status von Fraktionen bestimmt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayFraktG vielmehr lediglich, dass diesemit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattete Vereinigungen im Bayerischen Landtag sind, zu denen sich Mitglieder des Bayerischen Landtags zusammengeschlossen haben, wobei Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayFraktG – wie unter Rn. 38 ausgeführt – zudem negativ hervorhebt, dass die Fraktionen des Bayerischen Landtags gerade nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind und keine öffentliche Gewalt ausüben. 43 (b) § 71 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX aF ist auf die Beklagte als Fraktion des bayerischen Landtags auch nicht analog anwendbar. 44 (aa) Eine Analogie ist nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält. Die Lücke muss sich demnach aus dem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem, dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergeben. Dabei muss die Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden können. Andernfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden. Darüber hinaus muss der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand vergleichbar sein, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie beim Erlass der herangezogenen Norm, zum gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vgl. etwa BAG 25. Januar 2018 – 8 AZR 309/16 – Rn. 64 mwN, BAGE 161, 378). 45 (bb)Daran gemessen kommt eine analoge Anwendung von § 71 Abs. 3 SGB IX aF auf Landtagsfraktionen wie die Beklagte nicht in Betracht. Hierfür fehlt es bereits an der erforderlichen, positiv festzustellenden planwidrigen Regelungslücke. Die Aufzählung in § 71 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB IX aF ist abschließend. Das Gesetz enthält keine Formulierung wie „insbesondere“, „beispielsweise“ oder „etwa“, die auf eine nur beispielhafte und damit nicht abschließende Aufzählung hinweisen würde. Der Gesetzgeber hat mit dieser Bestimmung vielmehr neben der Zusammenfassung von Dienststellen erkennbar konkret regeln wollen, welche Arbeitgeber von Teil 2 des SGB IX aF erfasst werden sollen; er hat keine generalisierende Regelung unter Verwendung von Oberbegriffen getroffen und ist auch nicht von einem allgemeinen Begriffsverständnis des öffentlichen Arbeitgebers ausgegangen, sondern hat ganz bestimmte Einheiten – hiervon unabhängig – ausdrücklich als öffentliche Arbeitgeber iSd. Teils 2 des SGB IX aF bestimmt. 46 d) Entgegen der Auffassung des Klägers folgt ein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung auch nicht daraus, dass die Beklagte nicht die nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen beschäftigte. Dieser Umstand stellt für sich genommen kein Indiz für eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung dar. Zwar kann – wie unter Rn. 22 ausgeführt – aus einem Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, grundsätzlich die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung abgeleitet werden. § 71 Abs. 1 SGB IX aF bestimmt jedoch keine Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen in diesem Sinne. Rechtsfolge der Nichterfüllung der Beschäftigungspflichtquote nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF ist lediglich die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe gemäß § 77 SGB IX aF, die von der Beklagten unstreitig erfüllt wird. Bei der Verpflichtung nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF handelt es sich nur um eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers gegenüber dem Staat mit dem Inhalt, im Rahmen der festgelegten Pflichtzahl Schwerbehinderte auf einem entsprechenden Arbeitsplatz einzustellen und zu beschäftigen. Diese Verpflichtung besteht hingegen nicht den einzelnen Schwerbehinderten gegenüber (vgl. BAG 1. August 1985 – 2 AZR 101/83 – zu II 3 c der Gründe, BAGE 49, 214 zur Vorgängerregelung des § 5 SchwbG). Darüber hinaus kann das Nichterfüllen der Quote auf den unterschiedlichsten Gründen beruhen, darunter auch auf solchen, auf die der Arbeitgeber keinen Einfluss hatte und die daher keinen Rückschluss auf eine etwaige ablehnende Haltung des Arbeitgebers gegenüber der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen zulassen. So kann der Umstand, dass der Arbeitgeber die Beschäftigungspflichtquote nicht erfüllt, beispielsweise darauf zurückzuführen sein, dass sich auf vorhandene Stellen keine schwerbehinderten Menschen beworben haben oder dass bisher beschäftigte schwerbehinderte Menschen die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses erklärt haben oder in den Ruhestand getreten sind. Soweit das Gesetz an anderer Stelle – wie beispielsweise in § 81 Abs. 1 Satz 7 bis Satz 9 SGB IX aF – an das Nichterfüllen der Beschäftigungspflichtquote nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF besondere arbeitsrechtliche Pflichten des Arbeitgebers knüpft, führt dies zu keiner anderen Bewertung. Erst wenn der Arbeitgeber gegen diese Verpflichtungen verstößt, kann sich hieraus ein Indiz iSv. § 22 AGG für eine Benachteiligung des Bewerbers wegen seiner (Schwer)Behinderung ergeben.              Schlewing                  Winter                  Der Richter am BundesarbeitsgerichtDr. Vogelsang ist an derUnterschriftsleistung verhindert.Schlewing                                    Wein                  Leitz
bundesarbeitsgericht
bag_8-18
20.02.2018
20.02.2018 8/18 - Pensionskassenrente - Leistungskürzung - Insolvenz des Arbeitgebers -Eintrittspflicht des Pensions-Sicherungs-Vereins Der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um eine Vorabentscheidung zur Auslegung und unmittelbaren Geltung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG* ersucht. Der Kläger bezieht ua. eine Pensionskassenrente, die von der Pensionskasse auf-grund wirtschaftlicher Schwierigkeiten gekürzt wird. In der Vergangenheit hat die frühere Arbeitgeberin des Klägers diese Leistungskürzungen aufgrund ihrer gesetzlichen Einstandspflicht ausgeglichen. Nachdem die Arbeitgeberin zahlungsunfähig geworden ist, fordert der Kläger, dass der Pensions-Sicherungs-Verein (PSV) als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung für die Leistungskürzungen der Pensionskasse eintritt. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr statt-gegeben. Der Dritte Senat geht davon aus, dass das nationale Recht keine Eintrittspflicht des PSV für Kürzungen von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung vorsieht, wenn die Leistungen im Durchführungsweg Pensionskasse erbracht werden. Eine Haftung des PSV kann sich daher allenfalls aus Art. 8 der Richtlinie ergeben. Dies setzt voraus, dass die Norm auch auf Sachverhalte anwendbar ist, in denen – wie vorliegend – ein Arbeitgeber aufgrund eigener Zahlungsunfähigkeit die Kürzungen der Pensionskassenrente nicht ausgleichen kann. Entscheidungserheblich für den Senat ist zudem, unter welchen Voraussetzungen nach Art. 8 der Richtlinie ein staatlicher Insolvenzschutz gewährleistet ist. Weiter kommt es darauf an, ob die Richtlinienvorschrift unmittelbare Geltung entfaltet und ob sich der Arbeitnehmer deshalb auch gegenüber dem PSV auf sie berufen kann.** Für die Beantwortung der Fragen ist der EuGH zuständig.   Bundesarbeitsgericht Beschluss vom 20. Februar 2018 – 3 AZR 142/16 (A) – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln Urteil vom 2. Oktober 2015 – 10 Sa 4/15 –   * Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG hat folgenden Wortlaut: „Die Mitgliedstaaten vergewissern sich, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus dessen Unternehmen oder Betrieb bereits ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer erworbenen Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit getroffen werden.“ ** Der genaue Wortlaut der Fragen kann unter www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden.
Tenor I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht: 1. Ist Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers anwendbar, wenn Leistungen der betrieblichen Altersversorgung über eine der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegenden überbetriebliche Versorgungseinrichtung erbracht werden, diese aus finanziellen Gründen ihre Leistungen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde berechtigt kürzt und der Arbeitgeber nach nationalem Recht zwar für die Kürzungen gegenüber den ehemaligen Arbeitnehmern einzustehen hat, seine Zahlungsunfähigkeit jedoch dazu führt, dass er seine Verpflichtung, diese Leistungskürzungen auszugleichen, nicht erfüllen kann? 2. Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird: Unter welchen Umständen können die durch die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlittenen Verluste des ehemaligen Arbeitnehmers bei den Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen werden und damit die Mitgliedstaaten verpflichten, hiergegen einen Mindestschutz zu gewährleisten, obwohl der ehemalige Arbeitnehmer mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben? 3. Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird: Entfaltet Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG unmittelbare Wirkung und verleiht die Bestimmung, wenn ein Mitgliedstaat diese Richtlinie nicht oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat, dem Einzelnen Rechte, die dieser vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Mitgliedstaat geltend machen kann? 4. Falls die dritte Vorlagefrage bejaht wird: Ist eine privatrechtlich organisierte Einrichtung, die von dem Mitgliedstaat – für die Arbeitgeber verpflichtend – als Träger der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung bestimmt ist, der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegt sowie die für die Insolvenzsicherung erforderlichen Beiträge kraft öffentlichen Rechts von den Arbeitgebern erhebt und wie eine Behörde die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung durch Verwaltungsakt herstellen kann, eine öffentliche Stelle des Mitgliedstaates? II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt. Leitsatz Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht: 1. Ist Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers anwendbar, wenn Leistungen der betrieblichen Altersversorgung über eine der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegenden überbetriebliche Versorgungseinrichtung erbracht werden, diese aus finanziellen Gründen ihre Leistungen mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde berechtigt kürzt und der Arbeitgeber nach nationalem Recht zwar für die Kürzungen gegenüber den ehemaligen Arbeitnehmern einzustehen hat, seine Zahlungsunfähigkeit jedoch dazu führt, dass er seine Verpflichtung, diese Leistungskürzungen auszugleichen, nicht erfüllen kann? 2. Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird: Unter welchen Umständen können die durch die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers erlittenen Verluste des ehemaligen Arbeitnehmers bei den Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen werden und damit die Mitgliedstaaten verpflichten, hiergegen einen Mindestschutz zu gewährleisten, obwohl der ehemalige Arbeitnehmer mindestens die Hälfte der Leistungen erhält, die sich aus seinen erworbenen Rentenansprüchen ergeben? 3. Falls die erste Vorlagefrage bejaht wird: Entfaltet Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG unmittelbare Wirkung und verleiht die Bestimmung, wenn ein Mitgliedstaat diese Richtlinie nicht oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat, dem Einzelnen Rechte, die dieser vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Mitgliedstaat geltend machen kann? 4. Falls die dritte Vorlagefrage bejaht wird: Ist eine privatrechtlich organisierte Einrichtung, die von dem Mitgliedstaat – für die Arbeitgeber verpflichtend – als Träger der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung bestimmt ist, der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht unterliegt sowie die für die Insolvenzsicherung erforderlichen Beiträge kraft öffentlichen Rechts von den Arbeitgebern erhebt und wie eine Behörde die Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung durch Verwaltungsakt herstellen kann, eine öffentliche Stelle des Mitgliedstaates? Entscheidungsgründe 1 A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens 2 Die Parteien streiten – soweit für das Vorabentscheidungsverfahren von Bedeutung – darüber, ob der beklagte Pensions-Sicherungs-Verein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit für einen Anspruch des Klägers gegen seine ehemalige Arbeitgeberin eintreten muss, weil diese zahlungsunfähig ist und deshalb ihrer Verpflichtung, für eine Leistungskürzung einer Pensionskasse einzustehen, nicht nachkommen kann. 3 Der Beklagte ist der gesetzlich bestimmte Träger der Insolvenzsicherung für die betriebliche Altersversorgung. Sein Zweck ist es, die Zahlung der betrieblichen Altersversorgung im Fall der Insolvenz eines Arbeitgebers in der Bundesrepublik Deutschland und im Großherzogtum Luxemburg zu gewährleisten. 4 Dem Kläger wurden von seiner damaligen Arbeitgeberin Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zugesagt. Diese setzen sich aus einer – im Wege der Direktzusage versprochenen – monatlichen Pensionszulage und einem jährlichen Weihnachtsgeld für Pensionäre sowie einer über den Durchführungsweg Pensionskasse zugesagten Pensionskassenrente zusammen. Die Pensionskassenrente ist betriebliche Altersversorgung im Sinne des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz), soweit sie auf Beiträgen der ehemaligen Arbeitgeberin des Klägers beruht. Insoweit finden die Vorschriften des Betriebsrentengesetzes Anwendung. Zusätzlich hat der Kläger durch eigene Beiträge die Pensionskassenrente erhöht; dieser Teil der Pensionskassenrente ist jedoch nicht Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens. 5 Ab dem 1. Dezember 2000 bezog der Kläger von seiner ehemaligen Arbeitgeberin die Pensionszulage und das Weihnachtsgeld. Die Pensionskassenrente wird ihm ab diesem Zeitpunkt von der Pensionskasse für die Deutsche Wirtschaft Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit gezahlt. Bei dieser handelt es sich um eine rechtsfähige überbetriebliche Einrichtung, die den Arbeitnehmern einen Rechtsanspruch auf ihre Leistungen gewährt. 6 Die Pensionskasse geriet Mitte 2003 in eine wirtschaftliche Krise und kürzt seitdem die Pensionskassenrenten. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, bei der es sich um die gesetzlich bestimmte staatliche Aufsichtsbehörde handelt, erteilte hierzu ihre Zustimmung. Der arbeitgeberfinanzierte Teil der Pensionskassenrente des Klägers betrug bei Rentenbeginn 585,21 Euro brutto und belief sich im Juni 2003 auf 599,49 Euro brutto. Die Pensionskassenrente wurde zunächst ab dem 1. Juli 2003 um 1,4 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2004 um weitere 1,4 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2005 um weitere 1,4 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2006 um weitere 1,4 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2007 um weitere 1,38 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2008 um weitere 1,36 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2009 um weitere 1,34 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2010 um weitere 1,26 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2011 um weitere 1,26 vom Hundert, ab dem 1. Juli 2012 um weitere 1,25 vom Hundert und ab dem 1. Juli 2013 um weitere 1,25 vom Hundert gekürzt. Die ehemalige Arbeitgeberin des Klägers glich diese Leistungskürzungen der Pensionskasse aufgrund ihrer im nationalen Recht vorgesehenen Einstandspflicht zunächst aus. Eine Verpflichtung, die ungekürzten Leistungen der Pensionskassen anderweitig abzusichern, sieht das nationale Recht nicht vor. 7 Am 30. Januar 2012 wurde über das Vermögen der ehemaligen Arbeitgeberin des Klägers das Insolvenzverfahren eröffnet. Mit Bescheid vom 12. September 2012 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass er die Zahlung der Pensionszulage iHv. 398,90 Euro monatlich und des Weihnachtsgeldes iHv. 1.451,05 Euro jährlich übernehme. Einen Ausgleich der Leistungskürzungen bei der Pensionskassenrente lehnte der Beklagte ab. Die Pensionskasse zahlt an den Kläger die – gekürzte – Pensionskassenrente weiter, da sein Anspruch gegen die Pensionskasse von der Zahlungsunfähigkeit seiner ehemaligen Arbeitgeberin nach dem nationalen Recht nicht berührt wird. 8 Der Kläger hat im Ausgangsverfahren geltend gemacht, der Beklagte müsse aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen seiner ehemaligen Arbeitgeberin für die Leistungskürzungen der Pensionskasse einstehen. Der Beklagte hat hierzu die Auffassung vertreten, ihn treffe nach nationalem Recht keine Eintrittspflicht für Versorgungsansprüche, die im Durchführungsweg Pensionskasse geleistet werden, wenn der Arbeitgeber seiner gesetzlich vorgesehenen Einstandspflicht infolge einer eigenen Zahlungsunfähigkeit nicht nachkommen könne. 9 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. 10 B. Rechtlicher Rahmen 11 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Anwendbarkeit und die Auslegung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (ABl. EU L 283 vom 28. Oktober 2008 Seite 36), geändert durch Art. 1 ÄndRL (EU) 2015/1794 vom 6. Oktober 2015 (ABl. EU L 263 vom 8. Oktober 2015 Seite 1). 12 I. Das einschlägige nationale Recht 13 Das Recht der betrieblichen Altersversorgung ist im Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz) vom 19. Dezember 1974 (BGBl. I Seite 3610), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl. I Seite 3214), geregelt. Das Gesetz lautet auszugsweise:          „§ 1 Zusage des Arbeitgebers auf betriebliche          Altersversorgung          (1) Werden einem Arbeitnehmer Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversorgung aus Anlass seines Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber zugesagt (betriebliche Altersversorgung), gelten die Vorschriften dieses Gesetzes. Die Durchführung der betrieblichen Altersversorgung kann unmittelbar über den Arbeitgeber oder über einen der in § 1b Abs. 2 bis 4 genannten Versorgungsträger erfolgen. Der Arbeitgeber steht für die Erfüllung der von ihm zugesagten Leistungen auch dann ein, wenn die Durchführung nicht unmittelbar über ihn erfolgt.          …                 § 1b Unverfallbarkeit und Durchführung der          betrieblichen Altersversorgung          …                 (2) 1Wird für die betriebliche Altersversorgung eine Lebensversicherung auf das Leben des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber abgeschlossen und sind der Arbeitnehmer oder seine Hinterbliebenen hinsichtlich der Leistungen des Versicherers ganz oder teilweise bezugsberechtigt (Direktversicherung), so ist der Arbeitgeber verpflichtet, wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Erfüllung der in Absatz 1 Satz 1 und 2 genannten Voraussetzungen das Bezugsrecht nicht mehr zu widerrufen. […] 3Hat der Arbeitgeber die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag abgetreten oder beliehen, so ist er verpflichtet, den Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis nach Erfüllung der in Absatz 1 Satz 1 und 2 genannten Voraussetzungen geendet hat, bei Eintritt des Versicherungsfalles so zu stellen, als ob die Abtretung oder Beleihung nicht erfolgt wäre. …          (3) Wird die betriebliche Altersversorgung von einer rechtsfähigen Versorgungseinrichtung durchgeführt, die dem Arbeitnehmer oder seinen Hinterbliebenen auf ihre Leistungen einen Rechtsanspruch gewährt (Pensionskasse und Pensionsfonds), so gilt Absatz 1 entsprechend. …          (4) Wird die betriebliche Altersversorgung von einer rechtsfähigen Versorgungseinrichtung durchgeführt, die auf ihre Leistungen keinen Rechtsanspruch gewährt (Unterstützungskasse), so sind die nach Erfüllung der in Absatz 1 Satz 1 und 2 genannten Voraussetzungen und vor Eintritt des Versorgungsfalles aus dem Unternehmen ausgeschiedenen Arbeitnehmer und ihre Hinterbliebenen den bis zum Eintritt des Versorgungsfalles dem Unternehmen angehörenden Arbeitnehmern und deren Hinterbliebenen gleichgestellt. …          …                 § 7 Umfang des Versicherungsschutzes          (1) Versorgungsempfänger, deren Ansprüche aus einer unmittelbaren Versorgungszusage des Arbeitgebers nicht erfüllt werden, weil über das Vermögen des Arbeitgebers oder über seinen Nachlaß das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, und ihre Hinterbliebenen haben gegen den Träger der Insolvenzsicherung einen Anspruch in Höhe der Leistung, die der Arbeitgeber aufgrund der Versorgungszusage zu erbringen hätte, wenn das Insolvenzverfahren nicht eröffnet worden wäre. Satz 1 gilt entsprechend,          1.     wenn Leistungen aus einer Direktversicherung aufgrund der in § 1b Abs. 2 Satz 3 genannten Tatbestände nicht gezahlt werden und der Arbeitgeber seiner Verpflichtung nach § 1b Abs. 2 Satz 3 wegen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht nachkommt,          2.     wenn eine Unterstützungskasse oder ein Pensionsfonds die nach ihrer Versorgungsregelung vorgesehene Versorgung nicht erbringt, weil über das Vermögen oder den Nachlass eines Arbeitgebers, der der Unterstützungskasse oder dem Pensionsfonds Zuwendungen leistet (Trägerunternehmen), das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.                   …                 § 10 Beitragspflicht und Beitragsbemessung          (1) Die Mittel für die Durchführung der Insolvenzsicherung werden auf Grund öffentlich-rechtlicher Verpflichtung durch Beiträge aller Arbeitgeber aufgebracht, die Leistungen der betrieblichen Altersversorgung unmittelbar zugesagt haben oder eine betriebliche Altersversorgung über eine Unterstützungskasse, eine Direktversicherung der in § 7 Abs. 1 Satz 2 und Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 bezeichneten Art oder einen Pensionsfonds durchführen.          …                 (4) Aus den Beitragsbescheiden des Trägers der Insolvenzsicherung findet die Zwangsvollstreckung in entsprechender Anwendung der Vorschriften der Zivilprozeßordnung statt. Die vollstreckbare Ausfertigung erteilt der Träger der Insolvenzsicherung.          …                 § 14 Träger der Insolvenzsicherung          (1) Träger der Insolvenzsicherung ist der Pensions-Sicherungs-Verein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Er ist zugleich Träger der Insolvenzsicherung von Versorgungszusagen Luxemburger Unternehmen nach Maßgabe des Abkommens vom 22. September 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über Zusammenarbeit im Bereich der Insolvenzsicherung betrieblicher Altersversorgung.          (2) Der Pensions-Sicherungs-Verein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit unterliegt der Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. …“ 14 § 3 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz vom 27. April 1953 (BGBl. I Seite 157) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 201-4, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Juni 2017 (BGBl. I Seite 2094) hat folgenden Wortlaut:          „(1) Die Vollstreckung wird gegen den Vollstreckungsschuldner durch Vollstreckungsanordnung eingeleitet; eines vollstreckbaren Titels bedarf es nicht.          (2) Voraussetzungen für die Einleitung der Vollstreckung sind:          a) der Leistungsbescheid, durch den der Schuldner zur Leistung aufgefordert worden ist;          b) die Fälligkeit der Leistung;          c) der Ablauf einer Frist von einer Woche seit Bekanntgabe des Leistungsbescheides oder, wenn die Leistung erst danach fällig wird, der Ablauf einer Frist von einer Woche nach Eintritt der Fälligkeit.          (3) Vor Anordnung der Vollstreckung soll der Schuldner ferner mit einer Zahlungsfrist von einer weiteren Woche besonders gemahnt werden.          (4) Die Vollstreckungsanordnung wird von der Behörde erlassen, die den Anspruch geltend machen darf.“ 15 II. Das einschlägige Unionsrecht          „RICHTLINIE 2008/94/EG DES EUROPÄISCHEN          PARLAMENTS UND DES RATES vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei          Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers          Artikel 1          (1) Diese Richtlinie gilt für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 sind.          (2) Die Mitgliedstaaten können die Ansprüche bestimmter Gruppen von Arbeitnehmern wegen des Bestehens anderer Garantieformen ausnahmsweise vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließen, wenn diese den Betroffenen nachweislich einen Schutz gewährleisten, der dem sich aus dieser Richtlinie ergebenden Schutz gleichwertig ist.          …                 Artikel 2          (1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt ein Arbeitgeber als zahlungsunfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestellung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn die aufgrund der genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften zuständige Behörde          a)     die Eröffnung des Verfahrens beschlossen hat; …          …                 Artikel 8          Die Mitgliedstaaten vergewissern sich, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus dessen Unternehmen oder Betrieb bereits ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer erworbenen Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit getroffen werden.“ 16 C. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörterung der Vorlagefragen 17 I. Erläuterung zur ersten Vorlagefrage 18 In der Bundesrepublik Deutschland kann ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern Leistungen der betrieblichen Altersversorgung entweder unmittelbar (Direktzusage) oder über externe Versorgungseinrichtungen zusagen. Bei einer Direktzusage hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmern die Versorgungsleistungen unmittelbar selbst zu gewähren. Betraut der Arbeitgeber eine externe Versorgungseinrichtung mit der Durchführung der Betriebsrentenzusagen, erfüllt er seine Leistungspflicht mittelbar entweder über eine Direktversicherung – also eine vom Arbeitgeber zugunsten des Arbeitnehmers abgeschlossene Lebensversicherung – oder durch eine Unterstützungskasse, einen Pensionsfonds oder eine Pensionskasse (vgl. hierzu EuGH 9. Oktober 2001 – C-379/99 – [Menauer] Rn. 5 f.). 19 Sagt der Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu, die über eine externe Versorgungseinrichtung – wie im Ausgangsverfahren eine Pensionskasse – erbracht werden sollen, und bleiben deren Leistungen an den Arbeitnehmer hinter dem zurück, was der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aus dem arbeitsrechtlichen Grundverhältnis an Versorgung schuldet, ist der Arbeitgeber nach dem nationalen Recht verpflichtet, diese Lücke zu schließen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 3 des Betriebsrentengesetzes hat er gegenüber dem Arbeitnehmer für die zugesagten Leistungen einzustehen und ihm diese im Versorgungsfall aus seinem eigenen Vermögen zu erbringen. Wird der Arbeitgeber – wie im Fall des Klägers – in einer solchen Situation zahlungsunfähig, sieht das nationale Recht keine Eintrittspflicht des Beklagten oder einer anderen Sicherungseinrichtung für die vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer aufgrund seiner gesetzlichen Einstandspflicht zu erbringenden Leistungen vor, wenn diese Einstandspflicht besteht, weil eine Pensionskasse die Pensionskassenrente kürzt. 20 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts findet Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers auch dann Anwendung, wenn die Pensionskasse – ohne selbst zahlungsunfähig gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG zu sein – Leistungskürzungen mit Zustimmung der staatlichen Finanzdienstleistungsaufsicht vornimmt, der Arbeitgeber diese Kürzungen aber nicht ausgleichen kann, weil er selbst zahlungsunfähig ist. Bei der gesetzlichen Einstandspflicht handelt es sich um einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber aus dem Arbeitsverhältnis im Sinne des Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG, da sie auf der Versorgungszusage des Arbeitgebers beruht. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Pensionskasse verpflichtet ist, den Teil der Pensionskassenrente, der nach der Kürzung verbleibt, unabhängig von der Insolvenz des ehemaligen Arbeitgebers weiter an den ehemaligen Arbeitnehmer zu zahlen und dadurch dieser Teil des Versorgungsanspruchs trotz der Zahlungsunfähigkeit des ehemaligen Arbeitgebers geschützt ist. 21 Die zu 1. gestellte Frage ist vom Gerichtshof noch nicht so eindeutig beantwortet worden, dass keine Zweifel an ihrer Beantwortung bestehen. Die Antwort ist auch nicht eindeutig. 22 II. Erläuterungen zur zweiten Vorlagefrage 23 Der Gerichtshof hat in den Rechtssachen Robins ua. (25. Januar 2007 – C-278/05 – Rn. 57 zum wortidentischen Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980) und Hogan ua. (25. April 2013 – C-398/11 – Rn. 51) bislang entschieden, eine ordnungsgemäße Umsetzung von Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG erfordere, dass ein Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers mindestens die Hälfte der Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung erhalte, die sich aus seinen erworbenen Rechten ergeben. Hieran hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 24. November 2016 (- C-454/15 – [Webb-Sämann] Rn. 35) zwar im Grundsatz festgehalten. Allerdings hat er weiter ausgeführt, es sei nicht ausgeschlossen, dass unter anderen Umständen die erlittenen Verluste, auch wenn ihr Prozentsatz ein anderer sei, als offensichtlich unverhältnismäßig angesehen werden könnten. Der Gerichtshof hat bislang nicht konkretisiert, welcher Art diese „anderen Umstände“ sein können und nach welchen Kriterien sich beurteilt, ob Verluste offensichtlich unverhältnismäßig sind. 24 Danach vermag der Senat nicht mit der für ein letztinstanzliches Gericht gebotenen Sicherheit zu beurteilen, ob nach dem festgestellten Sachverhalt des Ausgangsverfahrens der nach Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG vorgesehene Mindestschutz gewährt wird, obwohl der Kläger durch die Kürzung der Pensionskassenrente zwar keine Verluste erleidet, die die Hälfte seiner erworbenen Rentenansprüche übersteigen. Die Leistungskürzung beträgt bezogen auf den arbeitgeberfinanzierten Teil der Pensionskassenrente des Klägers bislang zwar nur etwa 13,8 vom Hundert und bezogen auf die gesamten ihm gewährten Leistungen der betrieblichen Altersversorgung einschließlich der Pensionszulage und des Weihnachtsgeldes nur etwa 7,4 vom Hundert. Insgesamt beläuft sich der vom Arbeitnehmer infolge der Zahlungsunfähigkeit seiner ehemaligen Arbeitgeberin erlittene Verlust jedoch zurzeit auf 82,74 Euro brutto monatlich und ist damit deutlich höher, als der Verlust von 7,00 Euro, den der Gerichtshof in der Rechtssache Webb-Sämann (EuGH 24. November 2016 – C-454/15 – [Webb-Sämann] Rn. 36) als nicht erheblich angesehen hat. 25 III. Erläuterungen zur dritten Vorlagefrage 26 Sollte Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG im Ausgangsverfahren eine Absicherung der Ansprüche des Klägers durch den Mitgliedstaat erfordern, wäre das vorlegende Gericht gehindert, dieses Ergebnis durch eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung des Betriebsrentengesetzes zu erreichen. Ansprüche des Klägers könnten dann nur unmittelbar aus Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG folgen. Ob dies der Fall ist, ist unklar und daher durch den Gerichtshof zu klären. 27 1. Die nationalen Gerichte sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gehalten, bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen; das darf aber nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. etwa EuGH 24. Januar 2012 – C-282/10 – [Dominguez] Rn. 25 mwN). 28 Eine Auslegung des Betriebsrentengesetzes oder eine Rechtsfortbildung dahin, dass der Beklagte haftet, wenn ein ehemaliger Arbeitgeber seiner gesetzlichen Einstandspflicht für eine von der Pensionskasse berechtigt gekürzte Pensionskassenrente nicht nachkommen kann, weil er zahlungsunfähig geworden ist, ist contra legem. Das Betriebsrentengesetz enthält ein ausdifferenziertes Regelwerk für die Absicherung von Betriebsrentenansprüchen und Betriebsrentenanwartschaften, wenn der Arbeitgeber zahlungsunfähig ist. Eine Absicherung der Einstandspflicht des zahlungsunfähigen Arbeitgebers bei Kürzungen von Pensionskassenrenten sieht das Betriebsrentengesetz nicht vor. Hierbei handelt es sich um eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers. Er hielt Ansprüche der ehemaligen Arbeitnehmer gegen Pensionskassen durch die Versicherungsaufsicht und die Vorschriften zur Anlage des Sicherungsvermögens der Pensionskassen für ausreichend gesichert (vgl. Bundestags-Drucksache 7/2843 Seite 9; sowie die entsprechenden Erörterungen im Plenum des Deutschen Bundestages, 7. Legislaturperiode, 134. Sitzung, Stenografische Berichte Seite 9060). 29 2. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne jedoch in den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Mitgliedstaat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (vgl. etwa EuGH 1. Juli 2010 – C-194/08 – [Gassmayr] Rn. 44 mwN). Der Gerichtshof hat angenommen, eine Unionsvorschrift sei unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung normiere, die an keine Bedingung geknüpft sei und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedürfe. Sie sei hinreichend genau, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt werden zu können, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlege (vgl. etwa EuGH 1. Juli 2010 – C-194/08 – [Gassmayr] Rn. 45 mwN). Dabei erstrecke sich die Prüfung, ob eine Richtlinienbestimmung diese Kriterien erfüllt, auf drei Gesichtspunkte, nämlich die Bestimmung des Personenkreises, dem der vorgesehene Mindestschutz zugutekommen soll, den Inhalt dieses Mindestschutzes und die Person, die den Mindestschutz schuldet (vgl. EuGH 19. November 1991 – C-6/90 und C-9/90 – [Pretura Vicenza und Pretura Bassano del Grappa] Rn. 12). 30 Für das vorlegende Gericht steht vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. EuGH 25. Januar 2007 – C-278/05 – [Robins ua.] zum wortidentischen Art. 8 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980; 25. April 2013 – C-398/11 – [Hogan ua.]; 24. November 2016 – C-454/15 – [Webb-Sämann]) nicht zweifelsfrei fest, ob diese Regelung insgesamt – möglicherweise auch nach Beantwortung der durch die zweite Vorlagefrage erfolgten weiteren Konkretisierung – die Anforderungen an eine unmittelbar wirkende und damit inhaltlich unbedingt und hinreichend genaue Richtlinienbestimmung erfüllt. 31 IV. Erläuterungen zur vierten Vorlagefrage 32 Sollte der Gerichtshof die dritte Vorlagefrage bejahen, kann das vorlegende Gericht nicht mit der für ein letztentscheidendes Gericht gebotenen Sicherheit beurteilen, ob der Beklagte zu den Rechtssubjekten gehört, denen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe hierzu etwa EuGH 12. Dezember 2013 – C-361/12 – [Carratù] Rn. 29; 12. September 2013 – C-614/11 – [Kuso] Rn. 32; 12. Juli 1990 – C-188/89 – [Foster ua.] Rn. 22) der unmittelbar anwendbare Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG entgegengehalten werden könnte. 33 Der Beklagte ist nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Betriebsrentengesetz der gesetzlich bestimmte Träger der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung in der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg. Er ist von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dem Verband der Lebensversicherungs-Unternehmen und dem Bundesverband der Deutschen Industrie, eingetragenen Vereinen, gegründet worden. Der Beklagte hat die Rechtsform eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit, das heißt einer juristischen Person des Privatrechts. Ihm obliegt die Erfüllung von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, wenn bei einem Arbeitgeber ein in § 7 Abs. 1 Betriebsrentengesetz vorgesehener Sicherungsfall, wie die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, eingetreten ist. 34 Der Beklagte unterliegt nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Betriebsrentengesetz der Aufsicht durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Diese Aufsicht entspricht im Wesentlichen der Aufsicht für private sogenannte kleine Versicherungsunternehmen nach dem Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz). 35 Arbeitgeber, die eine sicherungspflichtige betriebliche Altersversorgung durchführen, sind nach § 10 Abs. 1 Betriebsrentengesetz verpflichtet, Beiträge zur Durchführung der Insolvenzsicherung an den Beklagten zu entrichten. Hierbei handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung. Damit besteht eine Zwangsversicherungspflicht für diese Arbeitgeber. 36 Für die Rechtsbeziehungen zwischen dem Beklagten und dem Arbeitgeber als Versicherungsnehmer sind nach nationalem Recht zwar die zivilrechtlichen Regelungen anwendbar. Dies gilt jedoch nicht für die Beitragspflicht des Arbeitgebers. Insoweit stehen dem Beklagten aufgrund öffentlichen Rechts hoheitliche Befugnisse zu (vgl. etwa BAG 29. September 2010 – 3 AZR 546/08 – Rn. 15 mwN). Hinsichtlich seiner Berechtigung, Beiträge zu erheben, ist er ein mit Aufgaben und Befugnissen der öffentlichen Verwaltung beliehenes Unternehmen (Bundestags-Drucksache 7/2843 Seite 10). Er hat damit das Recht, die von ihm erteilten Beitragsbescheide als Verwaltungsakte zu erlassen. Allerdings ist er – anders als eine Behörde – nicht ermächtigt, verwaltungsrechtliche Zwangsvollstreckungsmaßnahmen anzuordnen. Vielmehr findet die Zwangsvollstreckung aus diesen Verwaltungsakten nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung statt, die nach § 10 Abs. 4 Satz 1 Betriebsrentengesetz entsprechend anwendbar sind. Für das Zwangsvollstreckungsverfahren nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung bedarf es eines Vollstreckungstitels und einer vollstreckbaren Ausfertigung. Diese Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung schafft der Beklagte nach § 10 Abs. 4 Betriebsrentengesetz aufgrund seiner hoheitlichen Befugnis selbst. Das unterscheidet ihn von Privatpersonen, die eine Zwangsvollstreckung betreiben. Denn diese müssen regelmäßig einen Vollstreckungstitel im gerichtlichen Verfahren erwirken und eine vollstreckbare Ausfertigung des Vollstreckungstitels über die gesetzlich hierfür bestimmten Organe der Rechtspflege beantragen. Die Befugnisse des Beklagten ähneln daher insoweit denjenigen der Verwaltungsbehörden, die nach § 3 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz berechtigt sind, aufgrund ihrer Leistungsbescheide eine Vollstreckungsanordnung zu erlassen und damit die Zwangsvollstreckung einzuleiten.              Zwanziger                  Spinner                  Wemheuer                                    S. Hopfner                  Becker
bundesarbeitsgericht
bag_21-19
16.05.2019
16.05.2019 21/19 - Verhältnis des Beschäftigungsanspruchs schwerbehinderter Menschen zur unternehmerischen Organisationsfreiheit Im bestehenden Arbeitsverhältnis können Schwerbehinderte nach § 164 Abs. 4 SGB IX (bis 31. Dezember 2017: § 81 Abs. 4 SGB IX aF) von ihrem Arbeitgeber bis zur Grenze der Zumutbarkeit die Durchführung des Arbeitsverhältnisses entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation verlangen. Dies gibt schwerbehinderten Menschen jedoch keine Beschäftigungsgarantie. Der Arbeitgeber kann eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz des Schwerbehinderten durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Dessen besonderer Beschäftigungsanspruch ist dann erst bei der Prüfung etwaiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen freien Arbeitsplatz zu berücksichtigen. Der schwerbehinderte Kläger war langjährig bei der insolventen Arbeitgeberin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterfiel einem tariflichen Sonderkündigungsschutz. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt im Rahmen des zunächst in Eigenverwaltung betriebenen Insolvenzverfahrens, nachdem sie mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste iSd. § 125 Abs. 1 InsO geschlossen hatte. Die Namensliste enthält den Namen des Klägers, dessen Arbeitsplatz wegen Umverteilung der noch verbliebenen Aufgaben nicht mehr besetzt werden muss. Die Hilfstätigkeiten, die er verrichtete, werden nunmehr von den verbliebenen Fachkräften miterledigt. Andere Tätigkeiten kann der Kläger nicht ausüben. Er hält die Kündigung dennoch für unwirksam und beruft sich auf den tariflichen Sonderkündigungsschutz sowie den Beschäftigungsanspruch aus § 81 Abs. 4 SGB IX aF. Die Vorinstanzen haben seine Kündigungsschutzklage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die streitgegenständliche Kündigung hat das Arbeitsverhältnis beendet. Der tarifliche Sonderkündigungsschutz zeigt gemäß § 113 Satz 1 InsO keine Wirkung. Hiergegen bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Beschäftigungsanspruch aus § 81 Abs. 4 SGB IX aF kommt mangels geeigneter Weiterbeschäftigungsmöglichkeit nicht zum Tragen. Die Arbeitgeberin war nicht verpflichtet, für den Kläger einen Arbeitsplatz zu schaffen oder zu erhalten, den sie nach ihrem Organisationskonzept nicht mehr benötigt. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Mai 2019 – 6 AZR 329/18 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 5. Januar 2018 – 16 Sa 1410/16 –
Tenor 1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 5. Januar 2018 – 16 Sa 1410/16 – wird zurückgewiesen. 2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen. Leitsatz Der Arbeitgeber darf bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz eines schwerbehinderten Menschen durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Die in § 164 Abs. 4 SGB IX (bis 31. Dezember 2017: § 81 Abs. 4 SGB IX aF) vorgesehenen Ansprüche schwerbehinderter Menschen sind lediglich bei der Prüfung einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit zu berücksichtigen. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. 2 Der 1961 geborene Kläger ist von Geburt an in seinen geistigen Erkenntnis- und Steuerungsmöglichkeiten eingeschränkt und deshalb als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt. Seit 1982 war er bei der G GmbH & Co. KG (im Folgenden Schuldnerin) beschäftigt. Die Schuldnerin betreibt eine Stahlgießerei. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen Anwendung. Gemäß § 20 Nr. 4 des Manteltarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen (MTV) vom 18. Dezember 2003 kann Beschäftigten, die das 55., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb/Unternehmen zehn Jahre angehören, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Dies gilt jedoch ua. nicht für betriebsbedingte Kündigungen aufgrund von Betriebsänderungen, wenn ein anderer zumutbarer Arbeitsplatz nicht vorhanden ist. 3 Der Kläger wurde laut arbeitsvertraglicher Vereinbarung als „Kernmacher – Anlernling“ angestellt. Dementsprechend führte der Kläger in der sog. Kernmacherei im Wesentlichen einfache Hilfstätigkeiten aus. An Maschinen und Anlagen in anderen Abteilungen wurde er nicht eingesetzt. Zur Übernahme höherwertiger Tätigkeiten war und ist er wegen seiner Behinderung nicht imstande. In der Kernmacherei waren neben dem Kläger vier Kernmacher beschäftigt. 4 Bereits seit dem Jahr 2012 verzeichnete die Schuldnerin erhebliche Umsatzrückgänge und Verluste. Während im Geschäftsjahr 2013 noch 915 Tonnen Fertigguss bearbeitet wurden, wurde im Jahr 2015 eine Tonnage von lediglich 596 Tonnen erreicht. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 29. März 2016 (- 100 IN 8/16 -) wurde über das Vermögen der Schuldnerin auf ihren Antrag hin das Insolvenzverfahren eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Noch am selben Tag vereinbarten die Schuldnerin und der bei ihr gebildete Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, der die betriebsbedingte Kündigung von 17 der damals 73 Mitarbeiter vorsieht, darunter die des Klägers. Für die Kernmacherei ist aufgrund der reduzierten Tonnage der Abbau eines Arbeitsplatzes vorgesehen. Die bislang vom Kläger durchgeführten Hilfstätigkeiten werden von den Kernmachern mitübernommen, die aufgrund der zurückgegangenen Auftragsmenge hierzu in der Lage sind. Hinsichtlich der Sozialauswahl enthält der Interessausgleich ein Punkteschema, welches Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung berücksichtigt. Der Betriebsrat bestätigt im Interessenausgleich, die entsprechenden Sozialdaten erhalten zu haben und das bezüglich der beabsichtigten Kündigungen nach § 102 BetrVG eingeleitete Anhörungsverfahren als abgeschlossen anzusehen. Nach § 5 des Interessenausgleichs sind sich die Betriebsparteien zudem darüber einig, dass mit dem Interessenausgleich zugleich die Auskunftserteilung und Unterrichtung gegenüber dem Betriebsrat gemäß § 17 Abs. 2 KSchG erfolgte und dessen Stellungnahme zur geplanten Massenentlassung gemäß § 125 Abs. 2 InsO iVm. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG ersetzt wird. 5 Am 30. März 2016 erstattete die Schuldnerin bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine auf den 29. März 2016 datierte Massenentlassungsanzeige. Ebenfalls am 30. März 2016 zeigte der Sachwalter beim Insolvenzgericht die drohende Masseunzulänglichkeit an. 6 Nachdem das Integrationsamt mit Schreiben vom 26. April 2016 die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung erteilt hatte, kündigte die Schuldnerin das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27. April 2016 zum 31. Juli 2016. 7 Mit seiner am 18. Mai 2016 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat er die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Sie verstoße gegen den tariflichen Sonderkündigungsschutz. Zudem sei kein hinreichender Kündigungsgrund gegeben. Die von ihm erbrachten Tätigkeiten seien auch künftig zu verrichten. Einer Übertragung seiner Aufgaben auf andere Mitarbeiter stehe sein gesetzlicher Beschäftigungsanspruch als schwerbehinderter Mensch entgegen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung; ab 1. Januar 2018: § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX). Zudem sei die getroffene Sozialauswahl grob fehlerhaft. Die Mitarbeiter F und M hätten nicht als sog. Leistungsträger aus der Sozialauswahl herausgenommen werden dürfen. In der sog. Waschkaue werde ein ebenfalls ungelernter Mitarbeiter weiterbeschäftigt. 8 Der Kläger hat vor dem Landesarbeitsgericht beantragt          1.     festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27. April 2016 nicht beendet worden ist,          2.     die Beklagte im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Kernmacher/Former weiterzubeschäftigen. 9 Die Schuldnerin hat die Abweisung der Klage beantragt. Die Kündigung sei rechtswirksam. Auf den tariflichen Sonderkündigungsschutz könne sich der Kläger gemäß § 113 Satz 1 InsO nicht berufen. Aufgrund des formgerecht zustande gekommenen Interessenausgleichs mit Namensliste greife die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 InsO. Diese habe der Kläger nicht widerlegt. Sein Arbeitsplatz sei durch die Umorganisation der Hilfstätigkeiten in der Kernmacherei entfallen. Angesichts der drohenden Masseunzulänglichkeit habe kein Handlungsspielraum bestanden, einen zusätzlichen Arbeitsplatz im bisherigen „einfachen“ Zuschnitt beizubehalten. 10 Die Sozialauswahl, die ohnehin nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen sei, sei nicht zu beanstanden. Der in der Waschkaue weiterbeschäftigte Mitarbeiter habe nach dem im Interessenausgleich vereinbarten Punkteschema 128,5 Punkte erreicht, der Kläger nur 127,5 Punkte. Die Mitarbeiter F und M seien in einer anderen Betriebsabteilung mit Aufgaben betraut, die der Kläger nicht beherrschen könne. 11 Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageziele weiter. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 5. Juli 2018 wurde die Anordnung der Eigenverwaltung aufgehoben und der nunmehrige Beklagte zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin bestimmt. Der Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt. Entscheidungsgründe 12 Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die Kündigungsschutzklage ist unbegründet. Der für den Fall des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag gestellte Weiterbeschäftigungsantrag ist daher nicht zur Entscheidung angefallen. 13 I. Die Revision ist zulässig. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist sie ausreichend begründet. 14 1. Zur ordnungsgemäßen Begründung der Revision müssen nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO die Revisionsgründe angegeben werden. Die Revisionsbegründung muss die Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts so aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revisionsangriffs erkennbar sind. Daher muss die Revisionsbegründung eine Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen des angefochtenen Urteils enthalten (BAG 6. September 2018 – 6 AZR 836/16 – Rn. 11, BAGE 163, 257; 29. August 2018 – 7 AZR 144/17 – Rn. 11). 15 2. Die hier vorliegende Revisionsbegründung genügt diesen Anforderungen. 16 a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger habe die nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO bestehende Vermutung des Vorliegens dringender betrieblicher Erfordernisse, die seiner Weiterbeschäftigung entgegenstehen, nicht widerlegt. Auch bei Berücksichtigung der Schwerbehinderung des Klägers sei die Schuldnerin nicht verpflichtet gewesen, die beabsichtigte Umverteilung der Arbeitsaufgaben in der sog. Kernmacherei zu unterlassen bzw. wieder rückgängig zu machen. Sie sei auch nicht verpflichtet gewesen, für den Kläger einen anderen, zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten. Die damit verbundenen Aufwendungen seien angesichts der masseunzulänglichen Insolvenz nicht zumutbar gewesen. Die Kündigung sei auch nicht wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam. Sowohl die Betriebsratsanhörung als auch das Massenentlassungsverfahren seien ordnungsgemäß durchgeführt worden. Schließlich scheitere die Wirksamkeit der Kündigung auch nicht am Eingreifen des tariflichen Sonderkündigungsschutzes. Dieser gelte nicht, falls kein anderer zumutbarer Arbeitsplatz vorhanden sei. Zudem nehme § 113 Satz 1 InsO dem tariflichen Sonderkündigungsschutz die Wirkung. 17 b) Die Revision führt hiergegen an, die Schuldnerin habe dem gesetzlichen Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Klägers nicht dadurch „entgehen“ können, dass sie seine Tätigkeiten aufgrund einer unternehmerischen Entscheidung von anderen Arbeitnehmern miterledigen lasse. Die Organisationsänderung sei rückgängig zu machen oder ein anderer Arbeitsplatz für den Kläger zu schaffen. Der gesetzliche Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Menschen werde durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht eingeschränkt. Hinsichtlich der angeblichen Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung fehle hinreichender Sachvortrag. Die Insolvenz bewirke für sich genommen auch bei Masseunzulänglichkeit nicht die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung. Zudem könne eine Masseunzulänglichkeit im Laufe des Insolvenzverfahrens wieder entfallen. Das Fehlen eines zumutbaren Arbeitsplatzes stehe dem Eingreifen des tariflichen Sonderkündigungsschutzes daher nicht entgegen. Dieser könne auch nicht gemäß § 113 Satz 1 InsO unbeachtet bleiben. Dem stünden mit Blick auf Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. 18 c) Die Revision stützt sich damit hinsichtlich der Reichweite des Beschäftigungsanspruchs schwerbehinderter Menschen und der Verfassungskonformität des § 113 Satz 1 InsO auf Rechtsauffassungen, die zu einer anderen Entscheidung führen würden. Die Revisionsangriffe sind klar erkennbar. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist deshalb unerheblich, dass die Revisionsbegründung sich zu etwaigen weiteren Rechtsfragen nicht verhält. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere ohne Belang, dass das Landesarbeitsgericht die Revision „im Hinblick auf die entscheidungserhebliche Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Pflichten des Arbeitgebers aus § 164 Abs. 3 und 4 SGB IX dem Wegfall eines leidensgerechten Arbeitsplatzes durch Umverteilung der Aufgaben entgegenstehen“, zugelassen hat und die Revisionsbegründung sich mit § 164 Abs. 3 SGB IX nicht befasst. Das Landesarbeitsgericht hat mit seinen Ausführungen dazu, warum es die Revision zugelassen hat, nur verdeutlicht, inwieweit es dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat. Dies hat keine Auswirkungen auf die Begründungsanforderungen der Revision. Die Revision kann ohne Rücksicht auf den aus Sicht des Berufungsgerichts maßgeblichen Zulassungsgrund in zulässiger Weise begründet werden (vgl. GK-ArbGG/Mikosch Stand September 2017 § 72 Rn. 54; GWBG/Benecke ArbGG 8. Aufl. § 72 Rn. 51). 19 II. Die Revision ist jedoch unbegründet. Die streitgegenständliche Kündigung vom 27. April 2016 hat das Arbeitsverhältnis unter Wahrung der Kündigungsfrist des § 113 Satz 2 InsO zum 31. Juli 2016 aufgelöst. 20 1. Die Kündigung ist nicht wegen eines Verstoßes gegen den tariflichen Sonderkündigungsschutz unwirksam. 21 a) Nach § 20 Nr. 4 MTV kann Beschäftigten, die das 55., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben und dem Betrieb/Unternehmen zehn Jahre angehören, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung erfüllte der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für das Eingreifen des tariflichen Sonderkündigungsschutzes. 22 b) Dieser kommt jedoch gemäß § 113 Satz 1 InsO nicht zur Anwendung. 23 aa) Nach § 113 Satz 1 InsO kann ein Dienstverhältnis, bei dem der Schuldner der Dienstberechtigte ist, vom Insolvenzverwalter und vom anderen Teil ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden. Die Norm findet gemäß § 279 Satz 1 InsO auch in Fällen der Eigenverwaltung Anwendung (BAG 23. Februar 2017 – 6 AZR 665/15 – Rn. 29, BAGE 158, 214). Das Kündigungsrecht kann nicht durch einzelvertragliche, tarifvertragliche oder sonstige kollektivrechtliche Vereinbarung ausgeschlossen werden (BAG 17. November 2005 – 6 AZR 107/05 – Rn. 17, BAGE 116, 213). Tarifvertraglich unkündbare Arbeitsverhältnisse sind daher im Insolvenzverfahren ordentlich kündbar (BAG 20. September 2006 – 6 AZR 249/05 – Rn. 18 f.; 19. Januar 2000 – 4 AZR 70/99 – zu II 2 der Gründe). 24 bb) Dies stellt keinen ungerechtfertigten Eingriff in die nach Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie dar (MüKoInsO/Caspers 3. Aufl. § 113 Rn. 15; FK-InsO/Eisenbeis 9. Aufl. § 113 Rn. 29 f.; Giesen in Jaeger InsO § 113 Rn. 14 ff.; Röger/Hützen Insolvenzarbeitsrecht § 5 Rn. 45; APS/Künzl 5. Aufl. InsO § 113 Rn. 6; MHdB ArbR/Krumbiegel 4. Aufl. Bd. 2 § 122 Rn. 11; HK-InsO/Linck 9. Aufl. § 113 Rn. 16; Graf-Schlicker/Pöhlmann/Kubusch InsO 4. Aufl. § 113 Rn. 19; KPB/Moll InsO Stand September 2017 § 113 Rn. 124 ff.; kritisch Däubler/Deinert/Zwanziger/Däubler KSchR 10. Aufl. § 113 InsO Rn. 29 ff.; Zwanziger Arbeitsrecht der Insolvenzordnung 5. Aufl. § 113 Rn. 29 mwN). 25 (1) Der Kläger hat bereits nicht vorgetragen, dass der MTV auf das Arbeitsverhältnis mit der Schuldnerin kraft beiderseitiger Tarifbindung Anwendung fand. Nur in einem solchen Fall kommt jedoch eine Verletzung der Tarifautonomie überhaupt in Betracht. Bei bloßer Inbezugnahme gilt der tarifliche Kündigungsausschluss nur auf vertraglicher Grundlage und wird als Vertragsrecht ohne Weiteres von § 113 Satz 1 InsO verdrängt (Zwanziger Arbeitsrecht der Insolvenzordnung 5. Aufl. § 113 Rn. 33). 26 (2) Auch wenn zugunsten des Klägers unterstellt wird, dass beiderseitige Tarifbindung bestand, ist die Tarifautonomie durch § 113 Satz 1 InsO nicht verletzt. Zwar liegt dann ein Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vor. Gesetzliche Regelungen, die eine Beeinträchtigung des Art. 9 Abs. 3 GG bewirken, können jedoch zugunsten der Grundrechte Dritter sowie sonstiger mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte und Gemeinwohlbelange gerechtfertigt werden (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 ua. – Rn. 143, BVerfGE 146, 71). Das Bundesverfassungsgericht hat es als naheliegend angesehen, dass der Eingriff in die Tarifautonomie durch das vom Gesetzgeber mit § 113 InsO verfolgte Ziel gerechtfertigt sein könnte (BVerfG 8. Februar 1999 – 1 BvL 25/97 – zu II 2 b der Gründe; vgl. auch BVerfG 21. Mai 1999 – 1 BvL 22/98 – zu II 2 b bb der Gründe; KR/Spelge 12. Aufl. § 113 InsO Rn. 19). 27 (3) Dies ist der Fall. In der Insolvenzsituation ist die Unwirksamkeit eines tariflichen Sonderkündigungsschutzes gerechtfertigt. § 113 InsO dient dem Ausgleich zwischen den sozialen Belangen der Arbeitnehmer des insolventen Unternehmens auf der einen und den Interessen der Insolvenzgläubiger am Erhalt der Masse als Grundlage ihrer Befriedigung auf der anderen Seite (BAG 23. Februar 2017 – 6 AZR 665/15 – Rn. 50, BAGE 158, 214; 19. November 2015 – 6 AZR 559/14 – Rn. 39, BAGE 153, 271). Das Entstehen von Masseschulden durch fortbestehende Arbeitsverhältnisse soll begrenzt werden, da der Insolvenzverwalter in der Regel keinen Beschäftigungsbedarf mehr hat und zulasten der anderen Gläubiger Ansprüche ohne eine Gegenleistung entstünden, wodurch diese wiederum in ihrem Grundrecht nach Art. 14 Abs. 1 GG beeinträchtigt würden. Eine allzu lange Bindung an nicht mehr sinnvolle Arbeitsverhältnisse soll daher verhindert werden (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 148). Dem widersprechen (tarifvertragliche) Unkündbarkeitsklauseln (BAG 20. September 2006 – 6 AZR 249/05 – Rn. 19; 22. September 2005 – 6 AZR 526/04 – zu II 1 a der Gründe, BAGE 116, 19; 16. Juni 1999 – 4 AZR 191/98 – zu II 2 a der Gründe, BAGE 92, 41). Neben einer übermäßigen Belastung der Masse könnte eine Fortgeltung tariflicher Bestandsschutzregelungen zudem eine mögliche Sanierung gefährden. Insbesondere würde die zu diesem Zweck durch § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 InsO ermöglichte Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur konterkariert, wenn eine bestimmte Beschäftigtengruppe ordentlich unkündbar wäre (vgl. BAG 19. Januar 2000 – 4 AZR 70/99 – zu II 4 der Gründe; Nerlich/Römermann/Hamacher InsO Stand November 2011 § 113 Rn. 50; Uhlenbruck/Zobel 15. Aufl. § 113 InsO Rn. 69). Eine solche Einschränkung der Sanierungsfähigkeit würde Gemeinwohlbelange missachten (vgl. zum Interesse der Allgemeinheit an Sanierungen BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 27, BAGE 147, 89). Die mit § 113 Satz 1 InsO verbundene Beeinträchtigung der Tarifautonomie steht auch nicht außer Verhältnis zu den dargestellten Zwecken dieser Norm. Zwar weist die Revision zu Recht darauf hin, dass die Durchbrechung des tariflichen Schutzes vor ordentlichen Kündigungen die betroffenen Arbeitnehmer erheblich und uU stärker als andere Insolvenzgläubiger belastet. Ohne die Möglichkeit des Insolvenzverwalters, sinnentleerte Arbeitsverhältnisse beenden zu können, lässt sich jedoch die Funktionsfähigkeit des Insolvenzverfahrens nicht sichern. Der Gesetzgeber hat die Schwere der Belastung der betroffenen Arbeitnehmer zudem dadurch gemildert, dass er keine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern eine Kündigungsfrist von drei Monaten vorgesehen hat. Darüber hinaus hat er in § 113 Satz 3 InsO eine – wenn auch lediglich im Range einer Insolvenzforderung stehende – finanzielle Entschädigung in Form des Anspruchs auf verschuldensunabhängigen Ersatz des sog. Verfrühungsschadens geschaffen. In der Gesamtschau ist die Durchbrechung tariflichen Sonderkündigungsschutzes durch § 113 InsO deshalb verhältnismäßig im engeren Sinn (vgl. KPB/Moll InsO Stand September 2017 § 113 Rn. 126; vgl. zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn BVerfG 21. März 2018 – 1 BvF 1/13 – Rn. 49, BVerfGE 148, 40). 28 2. Dessen ungeachtet würde der tarifliche Kündigungsschutz nach § 20 Nr. 4 MTV hier nicht eingreifen, da eine Betriebsänderung zum Wegfall des bisherigen Arbeitsplatzes des Klägers geführt hat und ein anderer zumutbarer Arbeitsplatz nicht vorhanden ist. Die Kündigung vom 27. April 2016 ist durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 Var. 3 KSchG bedingt, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen. Das Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die diesbezügliche Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht widerlegt ist. 29 a) Es liegt ein formwirksamer Interessenausgleich mit Namensliste vor, der bei unveränderter Sachlage (§ 125 Abs. 1 Satz 2 InsO) die Rechtsfolgen des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO auslöst. Die Schuldnerin war gemäß § 279 Satz 1 InsO im Rahmen der Eigenverwaltung berechtigt, einen solchen Interessenausgleich abzuschließen. Eine Betriebsänderung iSv. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG war gegeben. Um eine Betriebsänderung handelt es sich auch bei einem bloßen Personalabbau, wenn die Zahlen und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG erreicht sind (st. Rspr., vgl. zB BAG 20. September 2012 – 6 AZR 155/11 – Rn. 17, BAGE 143, 150; 19. Juli 2012 – 2 AZR 352/11 – Rn. 17, BAGE 142, 339). Der Personalabbau überschritt hier die Zahlenwerte des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG. Von 73 Arbeitnehmern sollten 17 gekündigt werden. Dies sind mehr als zehn vom Hundert der Belegschaft. Insoweit besteht zwischen den Parteien kein Streit. 30 b) Aufgrund der namentlichen Benennung des Klägers in der Namensliste des Interessenausgleichs wird nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung vom 27. April 2016 durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen, bedingt ist. Diese Vermutung wäre widerlegt, wenn der Kläger substantiiert dargelegt und im Bestreitensfall bewiesen hätte, dass der nach dem Interessenausgleich in Betracht kommende betriebliche Grund in Wirklichkeit nicht besteht (BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 19, BAGE 147, 89) oder die beabsichtigte Änderung der betrieblichen Aufgabenverteilung aus rechtlichen Gründen nicht umgesetzt werden darf. 31 c) Dies ist dem Kläger nicht gelungen. 32 aa) Er bestreitet die Umverteilung seiner bisherigen Aufgaben auf die anderen in der Kernmacherei tätigen Mitarbeiter nicht und behauptet auch nicht, diese würden hierdurch übermäßig belastet (vgl. hierzu BAG 12. März 2009 – 2 AZR 418/07 – Rn. 24; ErfK/Gallner 19. Aufl. InsO § 125 Rn. 8). Insoweit greift er die gesetzliche Vermutung nicht an. Damit steht fest, dass nach dem neuen Organisationskonzept das Beschäftigungsbedürfnis für den Kläger auf seinem bisherigen Arbeitsplatz entfallen ist, auch wenn die von ihm bislang verrichteten Tätigkeiten – in geringerem Umfang – noch zu erledigen sind. 33 bb) Der Kläger verlangt jedoch unter Berufung auf seinen gesetzlichen Beschäftigungsanspruch als schwerbehinderter Mensch die Rückgängigmachung der Organisationsänderung, die zum Wegfall seines bisherigen Arbeitsplatzes geführt hat, oder die Schaffung eines zusätzlichen, auf ihn zugeschnittenen Arbeitsplatzes. Hierauf hat er keinen Anspruch. Der Arbeitgeber darf eine unternehmerische Entscheidung treffen, welche den bisherigen Arbeitsplatz des schwerbehinderten Menschen durch eine Organisationsänderung entfallen lässt. Dessen Beschäftigungsanspruch ist dann erst bei der Prüfung etwaiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf einem anderen freien Arbeitsplatz zu berücksichtigen. Ist eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auch unter Beachtung dieses besonderen Anspruchs nicht vorhanden, kann eine betriebsbedingte Kündigung nach den kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften sozial gerechtfertigt sein. 34 (1) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist dem Senat eine Prüfung der Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung unter dem Gesichtspunkt der im SGB IX kodifizierten Beschäftigungspflicht nicht verwehrt, weil das Verwaltungsgericht Arnsberg mit Urteil vom 21. November 2017 – 11 K 5022/16 – bereits rechtskräftig entschieden hat, dass die Zustimmung des Integrationsamts zur ordentlichen Kündigung des Klägers zu Recht erteilt wurde. Das Verwaltungsgericht hat zwar ebenso wie das Integrationsamt die §§ 85 ff. SGB IX aF bezogen auf die beabsichtigte Kündigung des Klägers geprüft. Bei Berücksichtigung des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Gerichtszweige hindert dies die Gerichte für Arbeitssachen aber nicht an einer Prüfung der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften, auch wenn diese im Kontext zu Normen des SGB IX stehen, welche ebenso im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu beachten sind (vgl. BAG 23. Mai 2013 – 2 AZR 991/11 – Rn. 28, BAGE 145, 199). 35 (2) Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen gegenüber ihrem Arbeitgeber einen Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Dieser wird flankiert durch Ansprüche auf behinderungsgerechte Arbeitsstätten und Arbeitsplätze einschließlich der Arbeitsorganisation (vgl. § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX). Solche Ansprüche bestehen allerdings nicht, soweit ihre Erfüllung für den Arbeitgeber nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre (§ 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 3 SGB IX). Im bestehenden Arbeitsverhältnis können schwerbehinderte Menschen daher bis zur Grenze der Zumutbarkeit die Durchführung des Arbeitsverhältnisses entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation verlangen. Dies führt zu einer Einschränkung der Organisationsfreiheit des Arbeitgebers, denn dieser ist zu einer behinderungsgerechten (Um-)Gestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet, um den Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen zu erfüllen. Gegebenenfalls hat er eine diesem entgegenstehende betriebliche Umstrukturierung sogar rückgängig zu machen (vgl. BAG 14. März 2006 – 9 AZR 411/05 – Rn. 26; zur Einschränkung der unternehmerischen Freiheit vgl. auch Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 164 Rn. 178; Gutzler in Hauck/Noftz SGB IX Stand November 2017 K § 164 Rn. 38). Kann ein schwerbehinderter Arbeitnehmer die vertraglich geschuldeten Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dies nicht ohne Weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs. Er kann dann vielmehr einen Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht erfasst, eine entsprechende Vertragsänderung verlangen (BAG 15. Oktober 2013 – 1 ABR 25/12 – Rn. 24). Dabei ist er nicht verpflichtet, den Arbeitgeber vorab auf Zustimmung zur Vertragsänderung zu verklagen. Der Anspruch auf eine den Kenntnissen und Fähigkeiten des schwerbehinderten Menschen angepasste Beschäftigung (Neumann in Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben SGB IX 13. Aufl. § 164 Rn. 25) besteht vielmehr unmittelbar kraft Gesetzes (BAG 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – zu B II 1 der Gründe, BAGE 114, 299; insoweit kritisch Boecken RdA 2012, 210, 213). Der schwerbehinderte Mensch kann zudem beanspruchen, in einem seiner Behinderung Rechnung tragenden zeitlichen Umfang eingesetzt zu werden, wenn die verlangte Beschäftigung dem Arbeitgeber zumutbar ist (vgl. BAG 17. März 2016 – 6 AZR 221/15 – Rn. 43, BAGE 154, 268). 36 (3) § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX geben dem schwerbehinderten Menschen jedoch keine Beschäftigungsgarantie. Diese Vorgaben des SGB IX betreffen ausgehend von dem konkreten Gesundheitszustand des einzelnen schwerbehinderten Menschen nur die Durchführung des Arbeitsverhältnisses. Die unternehmerische Entscheidungsfreiheit bezüglich der Organisation des Betriebs bleibt im Übrigen unberührt. Der Arbeitgeber ist durch die gesetzliche Regelung nicht gehindert, eine Organisationsentscheidung zu treffen, die zum Entfall des Arbeitsplatzes eines schwerbehinderten Menschen führt. Die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung hängt dann bezogen auf das Beschäftigungsbedürfnis allein von der Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz ab. Ist eine Beschäftigung auf dem bisherigen oder einem anderen freien Arbeitsplatz nicht möglich, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, für den schwerbehinderten Menschen einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten (vgl. BAG 14. März 2006 – 9 AZR 411/05 – Rn. 19; 22. November 2005 – 1 ABR 49/04 – Rn. 33, BAGE 116, 223; 4. Oktober 2005 – 9 AZR 632/04 – Rn. 23, BAGE 116, 121; 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – zu B II 1 der Gründe, BAGE 114, 299; Neumann in Neumann/Pahlen/Winkler/Jabben SGB IX 13. Aufl. § 164 Rn. 25; MHdB ArbR/Zimmermann 4. Aufl. Bd. 2 § 198 Rn. 61). Das SGB IX verlangt zudem nicht die Entlassung anderer Arbeitnehmer, um den Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Menschen verwirklichen zu können. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorhandensein freier Arbeitsplätze. Danach scheidet eine Pflicht des Arbeitgebers zur „Freikündigung“ jedenfalls dann aus, wenn der Inhaber der infrage kommenden Stelle den allgemeinen Kündigungsschutz genießt (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 664/13 – Rn. 32 ff. mwN). 37 (4) § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX verbieten dem Arbeitgeber dementsprechend nicht, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, welche das Beschäftigungsbedürfnis für einen schwerbehinderten Menschen entfallen lässt. Die Norm gewährt keinen absoluten Schutz vor einer betriebsbedingten Kündigung, wie der Kläger annimmt. Der gesetzliche Beschäftigungsanspruch hat vielmehr nur Bedeutung für die im Rahmen der allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzvorschriften zu prüfenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten. 38 (a) Findet der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz (noch) keine Anwendung auf ein Arbeitsverhältnis, ist eine ordentliche Kündigung, die einen Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung diskriminiert, nach § 134 BGB iVm. § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG unwirksam (vgl. BAG 23. Juli 2015 – 6 AZR 457/14 – Rn. 23, BAGE 152, 134; 19. Dezember 2013 – 6 AZR 190/12 – Rn. 14 ff., BAGE 147, 60). Bei der Prüfung von Kündigungen, die dem Kündigungsschutzgesetz unterfallen, sind die Diskriminierungsverbote des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als Konkretisierungen der Sozialwidrigkeit zu beachten (vgl. BAG 20. Juni 2013 – 2 AZR 295/12 – Rn. 36, BAGE 145, 296; 6. November 2008 – 2 AZR 523/07 – Rn. 34 ff., BAGE 128, 238). Auch einem schwerbehinderten Menschen kann daher wirksam gekündigt werden, wenn die Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse, die seiner Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. 39 (aa) Dringende betriebliche Erfordernisse liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen Entscheidung spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Ein kündigungsrechtlich relevanter Rückgang des Arbeitskräftebedarfs kann auch aus einer organisatorischen Maßnahme des Arbeitgebers folgen, die ökonomisch nicht zwingend geboten war. Eine solche unternehmerische Entscheidung ist gerichtlich nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur daraufhin, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist (vgl. BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 32 f.). Im Insolvenzfall kommt bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO zum Tragen. 40 (bb) Dies gilt auch bei der Kündigung schwerbehinderter Menschen. Im Hinblick auf eine etwaige Sozialauswahl verschlechtert § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO die Rechtsposition dieser sogar, denn die Schwerbehinderung ist – anders als bei § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG – nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kein Kriterium bei der ohnehin eingeschränkten Nachprüfung der sozialen Auswahl (vgl. BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 22, BAGE 147, 89). Hinsichtlich des besonderen Kündigungsschutzes beschränkte sich das SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung darauf, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen nach § 85 SGB IX aF von der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts abhängig zu machen. Dieses sollte jedoch bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers unter den Voraussetzungen des § 89 Abs. 3 SGB IX aF seine Zustimmung erteilen. Hieran hat die Neufassung des SGB IX nichts geändert (vgl. §§ 168, 172 Abs. 3 SGB IX). Seit dem 1. Januar 2018 ist allerdings zudem die Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zu beteiligen, anderenfalls ist die Kündigung unwirksam (§ 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX). 41 (b) Der Gesetzgeber hat damit sowohl den allgemeinen als auch den besonderen Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen differenziert ausgestaltet. § 81 Abs. 4 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 SGB IX sind keine Bestandteile dieses Regelungssystems. Die Vorschriften beziehen sich auf die Durchführung, nicht auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen. Dementsprechend knüpfen § 81 Abs. 4 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 SGB IX jeweils an die konkrete Situation des schwerbehinderten Menschen in Bezug auf seinen Gesundheitszustand, seinen Bedarf an beruflicher Bildung sowie sein Arbeitsumfeld an. Der im SGB IX kodifizierte Beschäftigungsanspruch des schwerbehinderten Menschen geht von der Durchführung, dh. dem Fortbestand, des Arbeitsverhältnisses aus. 42 (5) Auch wenn § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX damit einer unternehmerischen Entscheidung, welche den Beschäftigungsbedarf durch eine Umverteilung der bisher von dem betroffenen schwerbehinderten Menschen ausgeübten Tätigkeiten entfallen lässt, nicht entgegenstehen, ist diese Entscheidung nicht gänzlich unangreifbar. 43 (a) In Fällen, in denen die Organisationsentscheidung des Arbeitgebers und sein Kündigungsentschluss praktisch deckungsgleich sind, muss der Arbeitgeber seine Entscheidung hinsichtlich ihrer organisatorischen Durchführbarkeit und zeitlichen Nachhaltigkeit verdeutlichen (BAG 22. Oktober 2015 – 2 AZR 650/14 – Rn. 34 mwN; 24. Mai 2012 – 2 AZR 124/11 – Rn. 23). Es sollen Kündigungen vermieden werden, die zu einer rechtswidrigen Überforderung oder Benachteiligung des im Betrieb verbleibenden Personals führen. Außerdem soll verhindert werden, dass die unternehmerische Entscheidung lediglich als Vorwand benutzt wird, um Arbeitnehmer aus dem Betrieb zu drängen, obwohl Beschäftigungsbedarf und Beschäftigungsmöglichkeit fortbestehen und lediglich die Arbeitsvertragsinhalte und die gesetzlichen Kündigungsschutzbestimmungen als zu belastend angesehen werden (BAG 27. April 2017 – 2 AZR 67/16 – Rn. 34, BAGE 159, 82; vgl. auch BAG 18. Juni 2015 – 2 AZR 480/14 – Rn. 34, BAGE 152, 47). Diese gesteigerte Darlegungslast des Arbeitgebers schützt auch schwerbehinderte Arbeitnehmer. Eine Verschlechterung ihrer Position im Kündigungsschutzprozess müssen sie ebenso wie nicht behinderte Arbeitnehmer allenfalls durch § 1 Abs. 5 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO hinnehmen. 44 (b) Selbst wenn der Arbeitgeber die organisatorische Durchführbarkeit seiner Organisationsentscheidung dargelegt hat oder diese nach § 1 Abs. 5 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO vermutet wird, unterliegt seine unternehmerische Entscheidung noch einer Missbrauchskontrolle. Diese soll Verstöße gegen gesetzliche und tarifliche Normen genauso verhindern wie Diskriminierung und Umgehungsfälle (vgl. BAG 27. Januar 2011 – 2 AZR 9/10 – Rn. 18; 21. September 2006 – 2 AZR 607/05 – Rn. 31). Inhaltlich kommt die Missbrauchskontrolle dann einer echten Rechtskontrolle gleich (vgl. hierzu APS/Kiel 5. Aufl. KSchG § 1 Rn. 458; ErfK/Oetker 19. Aufl. KSchG § 1 Rn. 240; Däubler/Deinert/Zwanziger/Deinert KSchR 10. Aufl. § 1 KSchG Rn. 270). Einer solchen Kontrolle hält die Organisationsentscheidung nicht stand, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer beweisen kann, dass sie getroffen wurde, um sich den Belastungen zu entziehen, welche aus den besonderen Rechten schwerbehinderter Menschen folgen. Dies wäre eine nach § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG verbotene Diskriminierung wegen der Behinderung. 45 (6) Ist eine solch gesetzwidrige Zielsetzung nicht feststellbar und hält die unternehmerische Entscheidung auch sonst einer gerichtlichen Kontrolle stand, so kann die betriebsbedingte Kündigung eines schwerbehinderten Menschen bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen sozial gerechtfertigt sein, wenn für ihn im Kündigungszeitpunkt keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit besteht (vgl. hierzu BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 476/16 – Rn. 26, 31 mwN). Bei der Prüfung der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit sind allerdings die in § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 4 Satz 1 SGB IX vorgesehenen Ansprüche schwerbehinderter Menschen zu berücksichtigen (siehe oben Rn. 37 ff., vgl. auch KR/Rachor 12. Aufl. § 1 KSchG Rn. 244). Dies hat zur Folge, dass der Arbeitgeber, soweit zumutbar, einem spezifischen Umschulungs- und Fortbildungsbedarf nachkommen muss und gegebenenfalls eine behinderungsgerechte Einrichtung des freien Arbeitsplatzes vorzunehmen hat. 46 (7) Im vorliegenden Fall ist die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO nicht widerlegt. Ausgehend vom Sachvortrag des Klägers sind keine Anzeichen dafür ersichtlich, dass die Schuldnerin im Rahmen der Eigenverwaltung den vom Kläger besetzten Arbeitsplatz hat entfallen lassen, um ihren besonderen Verpflichtungen gegenüber dem schwerbehinderten Kläger zu „entgehen“. Der Kläger hat auch keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem freien Arbeitsplatz aufgezeigt, weder zu unveränderten noch zu veränderten Bedingungen. Er hat nur die Rückgängigmachung der Organisationsänderung oder die Schaffung eines neuen Arbeitsplatzes gefordert. Hierauf hat er – ohne dass es auf Zumutbarkeitserwägungen ankäme – aus den dargelegten Gründen keinen Anspruch. 47 (8) Die Schuldnerin erfüllte auch nach den auf der Grundlage des Interessenausgleichs mit Namensliste erfolgten Kündigungen noch die Mindestbeschäftigungsquote des § 71 Abs. 1 SGB IX aF bzw. § 154 Abs. 1 SGB IX. Dessen ungeachtet hätte ein Unterschreiten dieser Quote die unternehmerische Entscheidungsfreiheit der Schuldnerin bezogen auf die Anzahl der zu besetzenden Arbeitsplätze nicht nach § 81 Abs. 3 SGB IX aF bzw. § 164 Abs. 3 SGB IX eingeschränkt. Diese Vorschriften knüpfen zwar an die Beschäftigungspflicht nach § 71 Abs. 1 SGB IX aF bzw. § 154 Abs. 1 SGB IX an und verpflichten den Arbeitgeber zur Schaffung der tatsächlichen Voraussetzungen dafür, dass im Rahmen der von ihm vorgegebenen Belegschaftsstärke wenigstens die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen eine möglichst dauerhafte behinderungsgerechte Beschäftigung finden kann. Sie begründen jedoch nur eine Organisationspflicht des Arbeitgebers, ohne Individualansprüche des schwerbehinderten Menschen zu schaffen (FKS-SGB IX/Faber/Rabe-Rosendahl 4. Aufl. § 164 Rn. 27 ff., 32; Kohte in KKW 6. Aufl. SGB IX §§ 164, 165 Rn. 10). Eine Pflicht zur Schaffung oder Erhaltung nicht benötigter Arbeitsplätze besteht deshalb nach diesen Vorschriften nicht (vgl. ErfK/Rolfs 19. Aufl. SGB IX § 164 Rn. 8; MHdB ArbR/Zimmermann 4. Aufl. Bd. 2 § 198 Rn. 58; aA Fabricius in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX Stand 4. Februar 2019 § 164 Rn. 63 f.; Kossens in Kossens/von der Heide/Maaß SGB IX 4. Aufl. § 71 Rn. 6; für eine Verpflichtung, bei Reorganisationsmaßnahmen bereits beschäftigten schwerbehinderten Menschen Ersatzarbeitsplätze zur Verfügung zu stellen: Düwell in LPK-SGB IX 5. Aufl. § 164 Rn. 175). 48 3. Die streitgegenständliche Kündigung ist nicht wegen grober Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO(vgl. hierzu BAG 19. Dezember 2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 21 ff., BAGE 147, 89). Das Landesarbeitsgericht hat die Sozialauswahl ohne revisiblen Rechtsfehler auf grobe Fehler überprüft. Es hat dabei insbesondere eine fehlende Vergleichbarkeit des Klägers mit den Kollegen F und M festgestellt. Gegenüber dem Mitarbeiter in der Waschkaue bestehe keine höhere soziale Schutzbedürftigkeit des Klägers. Die Revision hat diese Beurteilung nicht angegriffen. 49 4. Die Kündigung ist auch weder gemäß § 17 KSchG iVm. § 134 BGB noch gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Entsprechende Verfahrensfehler sind nicht ersichtlich und werden von der Revision nicht gerügt. 50 III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.              Spelge                  Heinkel                   Krumbiegel                                     Wollensak                  Kreis
bundesarbeitsgericht
bag_6-18
31.01.2018
31.01.2018 6/18 - Ausbildungskostenausgleichskasse im Schornsteinfegerhandwerk - Zweifel an der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit des Zentralverbands Deutscher Schornsteinfeger e. V. (ZDS) - Beitragspflicht für Betriebe ohne Arbeitnehmer Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat ernsthafte Zweifel an der Tariffähigkeit und der Tarifzuständigkeit des am Abschluss der Tarifverträge über die Förderung der beruflichen Ausbildung im Schornsteinfegerhandwerk vom 24. September 2012 (TV AKS 2012) und vom 1. Juli 2014 (TV AKS 2014) beteiligten ZDS. § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 ist unwirksam, soweit Betriebe ohne Arbeitnehmer (sog. Soloselbständige) Beiträge an die Ausbildungskostenausgleichskasse im Schornsteinfegerhandwerk zahlen müssen. Bei der Klägerin handelt es sich um die vom Bundesverband des Schornsteinfegerhandwerks – Zentralinnungsverband (ZIV) – und dem ZDS als Gemeinsame Einrichtung gegründete Ausbildungskostenausgleichskasse im Schornsteinfegerhandwerk (AKS). Nach der Satzung des ZDS kann „jede/r nicht selbständige Schornsteinfeger/in …, der/die Gesellenprüfung im Schornsteinfegerhandwerk bestanden hat“, Mitglied werden. Selbständige Schornsteinfeger können beitragspflichtige „Fördermitglieder“ des ZDS sein. Der ZDS und der ZIV haben den TV AKS 2012 und den TV AKS 2014 abgeschlossen. Die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung beider Tarifverträge hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg rechtskräftig festgestellt. Zweck der AKS ist die Förderung der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen und die Sicherstellung einer qualifizierten Berufsausbildung im Schornsteinfegerhandwerk. Die Tarifverträge regeln die Höhe der Ausbildungsvergütung. Betriebe, die Schornsteinfeger ausbilden, haben Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich gegen die AKS. Die Tarifverträge regeln ferner die Beitrags- und Auskunftspflichten der Betriebe gegenüber der AKS. Nach § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 beträgt der an die AKS abzuführende Mindestbeitrag 800,00 Euro pro Kalenderjahr. Die Beklagten sind selbständige Schornsteinfeger und wehren sich dagegen, Beiträge an die AKS zu leisten. Sie halten die Tarifverträge für unwirksam. Das Landesarbeitsgericht hat den Klagen der AKS stattgegeben. Die Revisionen der Beklagten in den Verfahren – 10 AZR 60/16, 10 AZR 695/16 und 10 AZR 722/16 -, die im Streitzeitraum jeweils mindestens einen Arbeitnehmer beschäftigten, haben zur Aussetzung der Rechtsstreitigkeiten nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG* geführt. Die Tarifverträge begegnen keinen materiellrechtlichen Bedenken, soweit Arbeitgebern Beitrags- und Auskunftspflichten gegenüber der AKS auferlegt werden. Der Senat hat jedoch ernsthafte Zweifel daran, ob der ZDS tariffähig und tarifzuständig für den Abschluss der Tarifverträge war. Aufgrund der in der Satzung vorgesehenen „Fördermitgliedschaft“ von selbständigen Schornsteinfegern bestehen Bedenken daran, dass der ZDS bei Tarifabschluss gegnerfrei war. Die Tarifzuständigkeit ist zweifelhaft, weil die Satzung keine Mitgliedschaft für Auszubildende vorsieht. Diese entscheidungserheblichen Fragen sind in einem gesonderten Beschlussverfahren zu klären. Die Revision des Beklagten in der Sache – 10 AZR 279/16 -, der keine Arbeitnehmer beschäftigt, hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 ist unwirksam, soweit Betriebe ohne Arbeitnehmer Beiträge an die AKS zahlen müssen. Durch diese Regelung haben die Tarifvertragsparteien ihre tarifliche Regelungsmacht überschritten.   Bundesarbeitsgericht Beschlüsse vom 31. Januar 2018 – 10 AZR 60/16 (A), 10 AZR 695/16 (A), 10 AZR 722/16 (A) – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln Urteile vom 23. Oktober 2015 – 9 Sa 395/15 -, vom 22. Juli 2016 – 9 Sa 132/16 und 9 Sa 118/16 – Bundesarbeitsgericht Urteil vom 31. Januar 2018 – 10 AZR 279/16 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln Urteil vom 18. März 2016 – 9 Sa 392/15 –   *§ 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits davon ab, ob eine Vereinigung tariffähig oder ob die Tarifzuständigkeit der Vereinigung gegeben ist, so hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung des Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 auszusetzen.
Tenor Der Rechtsstreit wird nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Tariffähigkeit des Zentralverbands Deutscher Schornsteinfeger e. V. – Gewerkschaftlicher Fachverband – bei Abschluss des Tarifvertrags über die Förderung der beruflichen Ausbildung im Schornsteinfegerhandwerk vom 24. September 2012 und des Tarifvertrags über die Förderung der beruflichen Ausbildung im Schornsteinfegerhandwerk vom 1. Juli 2014 sowie über seine Tarifzuständigkeit in Bezug auf diese Tarifverträge ausgesetzt. Entscheidungsgründe 1 A. Die Parteien streiten über die Zahlung von Mindestbeiträgen nach dem Tarifvertrag über die Förderung der beruflichen Ausbildung im Schornsteinfegerhandwerk vom 24. September 2012 (TV AKS 2012) und die Erteilung einer Auskunft nach dem Tarifvertrag über die Förderung der beruflichen Ausbildung im Schornsteinfegerhandwerk vom 1. Juli 2014 (TV AKS 2014). 2 Der Beklagte unterhält einen Schornsteinfegermeisterbetrieb und ist Mitglied der Schornsteinfegerinnung. Er bildete im Streitzeitraum Schornsteinfeger aus und beschäftigte mindestens einen mit Schornsteinfegerarbeiten betrauten Arbeitnehmer. Bei der Klägerin handelt es sich um die von dem Bundesverband des Schornsteinfegerhandwerks – Zentralinnungsverband (ZIV) – und dem Zentralverband Deutscher Schornsteinfeger e. V. – Gewerkschaftlicher Fachverband – (ZDS) am 3. Dezember 2012 gegründete Ausbildungskostenausgleichskasse. Der ZDS ist dem Rechtsstreit als Nebenintervenient zur Unterstützung der Klägerin beigetreten. 3 Der zwischen dem ZIV und dem ZDS am 24. September 2012 geschlossene TV AKS 2012 lautet auszugsweise:          „§ 1 Geltungsbereich          Der Tarifvertrag gilt          Räumlich: für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland          Fachlich: für alle Betriebe des Schornsteinfegerhandwerks. Das sind alle Betriebe, die zulassungspflichtige Tätigkeiten nach § 1 Abs. 2 in Verbindung mit Anlage A Nr. 12 HwO ausüben.          Persönlich: für alle Auszubildenden, die in dem anerkannten Ausbildungsberuf Schornsteinfeger nach der Verordnung über die Berufsausbildung zum Schornsteinfeger und zur Schornsteinfegerin ausgebildet werden und eine nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) versicherungspflichtige Tätigkeit ausüben.                            § 2 Förderung der beruflichen Ausbildung          Zur Förderung der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen und um die Durchführung einer qualifizierten, den besonderen Anforderungen des Wirtschaftszweiges gerecht werdenden Berufsbildung der Auszubildenden im Schornsteinfegerhandwerk zu sichern, gründen die Tarifvertragsparteien eine Ausbildungskostenausgleichskasse. Die Ausbildungskostenausgleichskasse wird als nicht gewinnorientierte Gesellschaft in der Rechtsform einer GmbH gegründet. Diese Gesellschaft wird ermächtigt, von den Betrieben Beiträge im eigenen Namen einzuziehen und entsprechend dem Gesellschaftszweck einen Zuschuss zu den Ausbildungskosten an die ausbildenden Betriebe auszuzahlen.                            § 3 Ausbildungskostenausgleich          (1) Jeder Betrieb, der einen Auszubildenden zum Schornsteinfeger ausbildet, hat ab dem 01.01.2013 gegenüber der Ausbildungskostenausgleichskasse unter den Voraussetzungen der Einhaltung der §§ 5 bis 7 einen Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich:          a)     im ersten Ausbildungsjahr: 6.400,00 € brutto          b)     im zweiten Ausbildungsjahr: 5.100,00 € brutto          c)     im dritten Ausbildungsjahr: 3.400,00 € brutto          Der Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich erfolgt maximal für eine Ausbildungsdauer von 36 Monaten.          …                 (4) Der kalenderjährliche Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich wird in 4 Raten fällig. Der Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich für das 1. Quartal des Kalenderjahres wird am 15.07. des Kalenderjahres fällig, der Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich für das 2. Quartal des Kalenderjahres wird am 15.10. des Kalenderjahres fällig, der Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich für das 3. Quartal wird am 15.01. des darauf folgenden Kalenderjahres fällig und der Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich für das 4. Quartal wird am 15.04. des darauf folgenden Kalenderjahres fällig.                            § 4 Ausbildungsvergütung          Auszubildende zum Schornsteinfeger erhalten eine monatliche Ausbildungsvergütung für das erste Lehrjahr in Höhe von mindestens 419,- € brutto, für das zweite Lehrjahr in Höhe von mindestens 476,- € brutto und für das dritte Lehrjahr in Höhe von mindestens 557,- € brutto.                            § 5 Stammdaten          (1) Vor Aufnahme einer Tätigkeit im Schornsteinfegerhandwerk ist jeder Betrieb verpflichtet, sich bei der Ausbildungskostenausgleichskasse zu melden und dieser folgende Stammdaten mitzuteilen:          1.     Name, Rechtsform und gesetzliche Vertreter des Unternehmens          2.     Anschrift am Hauptbetriebssitz, ggf. davon abweichende inländische Zustellungsadresse, Telefonnummer, Telefaxnummer, E-Mail-Adresse          3.     inländische oder, soweit nicht vorhanden, ausländische Bankverbindung          (2) Das Meldeformular, das von der Ausbildungskostenausgleichskasse zur Verfügung gestellt wird, ist zu unterschreiben. Durch die Unterschrift bestätigt der Betriebsinhaber oder Betriebsleiter die Vollständigkeit und Richtigkeit der Meldungen. Änderungen sind der Ausbildungskostenausgleichskasse innerhalb von zwei Wochen in schriftlicher Form mitzuteilen. Erst mit der vollständigen und richtigen Erteilung der in Absatz 1 geforderten Auskünfte hat der Betrieb seine Verpflichtung zur Meldung erfüllt.          (3) Die bereits bestehenden Betriebe haben der Ausbildungskostenausgleichskasse die in Abs. 1 geforderten Auskünfte bis zum 30.11.2012 mitzuteilen.          …                 § 7 Beiträge          (1) Die Mittel für die Ausgleichszahlungen und die Kosten für die Verwaltung der Ausbildungskostenausgleichskasse werden von den Betrieben durch Beiträge aufgebracht. Beitragspflichtig sind die in § 1 des Tarifvertrages genannten Betriebe.          (2) Ab dem 01.01.2013 hat jeder Betrieb kalenderjährlich einen Beitrag von 4,4 % der Summe der Bruttolöhne aller in seinem Betrieb beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer, die nach Schornsteinfegerhandwerksgesetz mit der Ausübung von Schornsteinfegertätigkeiten betraut sind, als Beitrag an die Ausbildungskostenausgleichskasse abzuführen. Unabhängig hiervon beträgt der Mindestbeitrag je Betrieb 800,00 € brutto pro Kalenderjahr.          …                 (5) Der Betrieb hat den Beitrag in vier gleichen Raten zu zahlen. Der Beitrag wird jeweils fällig zum 20. Kalendertag des 1. Monats im Kalendervierteljahr.          …                 (7) Der Betrieb hat der Ausbildungskostenausgleichskasse über ein von ihr zur Verfügung gestelltes Formular die gezahlten Bruttolohnsummen des abgelaufenen Geschäftsjahres bis zum 30. April des Folgejahres nachzuweisen. …          (8) Stellt sich nach Ablauf eines Kalenderjahres heraus, dass der Beitrag zu hoch oder zu niedrig war, um die tarifvertraglich festgelegten Leistungen zu decken, so hat auf Antrag einer der Tarifvertragsparteien für das folgende Kalenderjahr eine entsprechende Anpassung zu erfolgen.“ 4 Die Regelungen in § 1 (Geltungsbereich), § 2 (Förderung der beruflichen Ausbildung), § 5 Abs. 1 und Abs. 2 (Stammdaten), § 6 (Verfahren bei der Gewährung des Ausbildungskostenausgleichs) und § 7 Abs. 1, Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 und Abs. 8 TV AKS 2014 stimmen weitestgehend mit den jeweiligen Regelungen im TV AKS 2012 überein. Die jährlichen Ausgleichsbeträge (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a bis Buchst. c TV AKS 2014) wurden um jeweils 150,00 Euro und die monatliche Ausbildungsvergütung (§ 4 TV AKS 2014) um jeweils 10,00 Euro angehoben. Der Beitragssatz blieb unverändert (§ 7 Abs. 2 Satz 1 TV AKS 2014). Der Mindestbeitrag wurde auf 400,00 Euro reduziert (§ 7 Abs. 2 Satz 3 TV AKS 2014). 5 Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erklärte den TV AKS 2012 durch Bekanntmachung vom 26. März 2013 mit Wirkung zum 1. November 2012 für allgemeinverbindlich (BAnz AT 4. April 2013 B1). Der TV AKS 2014 wurde durch Bekanntmachung vom 27. November 2014 mit Wirkung vom 1. Januar 2015 für allgemeinverbindlich erklärt (BAnz AT 3. Dezember 2014 B4). Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wies den Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit dieser Allgemeinverbindlicherklärungen mit Beschluss vom 20. September 2017 (- 17 BVL 5001/17, 17 BVL 5002/17 -) zurück. Der Beschluss ist rechtskräftig. 6 Die Klägerin hat gemeint, der Beklagte sei zur Zahlung der Mindestbeiträge nach § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 verpflichtet. Er habe ihr nach § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 die Bruttolohnsumme des Kalenderjahrs 2014 mitzuteilen. 7 Die Klägerin hat beantragt,          den Beklagten zu verurteilen, ihr          1.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. Januar 2013 zu zahlen;          2.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. April 2013 zu zahlen;          3.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. Juli 2013 zu zahlen;          4.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. Oktober 2013 zu zahlen;          5.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. Januar 2014 zu zahlen;          6.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. April 2014 zu zahlen;          7.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. Juli 2014 zu zahlen;          8.     200,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21. Oktober 2014 zu zahlen;          9.     die Bruttolohnsumme der mit Schornsteinfegerarbeiten betrauten gewerblichen Mitarbeiter für das Jahr 2014 anzugeben. 8 Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat gemeint, die Tarifvertragsparteien hätten in Bezug auf die Festlegung der Beitragshöhe die Grenzen ihrer Regelungsmacht überschritten. Die an die Ausbildungskostenausgleichskasse gezahlten Beiträge dienten nicht der Erfüllung von Arbeitnehmeransprüchen. Vielmehr profitierten andere Arbeitgeber davon, die Auszubildende einstellten. Die Beitragspflicht beschränke die Berufsausübungsfreiheit und bewirke zudem eine unzulässige Ungleichbehandlung von Kleinstbetrieben ohne oder mit nur geringem Bedarf an Auszubildenden. 9 Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiterhin das Ziel der Klageabweisung. Aufgrund der ihr zwischenzeitlich erteilten Auskunft über die Bruttolohnsumme des Kalenderjahrs 2014 hat die Klägerin die Hauptsache im Revisionsrechtszug hinsichtlich des Auskunftsantrags (Klageantrag zu 9.) für erledigt erklärt. 10 B. Das Verfahren ist bis zur Rechtskraft einer Entscheidung über die Tariffähigkeit und die Tarifzuständigkeit des ZDS bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 für diese Tarifverträge auszusetzen (§ 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG). Der Ausgang des Rechtsstreits hängt von dieser Entscheidung ab. 11 I. Nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG auszusetzen, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Vereinigung tariffähig oder ob die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung gegeben ist. Über die Eigenschaft der Tariffähigkeit und -zuständigkeit einer Vereinigung soll in einem objektivierten Verfahren, in dem die jeweils beteiligten Personen und Stellen anzuhören sind (§ 97 Abs. 2a iVm. § 83 Abs. 3 ArbGG), einheitlich mit Wirkung gegenüber jedermann entschieden werden. Zu den formellen Voraussetzungen eines Aussetzungsbeschlusses nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG gehört neben der Darlegung vernünftiger Zweifel am Fehlen mindestens einer der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften auch die Begründung ihrer Entscheidungserheblichkeit (vgl. BAG 22. März 2017 – 1 AZB 55/16 – Rn. 16 mwN, BAGE 158, 315). 12 II. Die formellen Voraussetzungen eines Aussetzungsbeschlusses, der die Grundlage für das nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG einzuleitende Beschlussverfahren bildet (vgl. dazu BAG 22. März 2017 – 1 AZB 55/16 – Rn. 16, BAGE 158, 315), sind im Streitfall erfüllt. Es bestehen vernünftige Zweifel daran, dass der ZDS bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 tariffähig war. Darüber hinaus bestehen vernünftige Zweifel daran, dass er für diese Tarifverträge bei deren Abschluss tarifzuständig war. Diese Zweifel sind entscheidungserheblich. 13 1. Der Beklagte stellt allein die materielle Wirksamkeit des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 infrage, auf die die Klägerin ihre Ansprüche stützt. Der Senat muss nach § 557 Abs. 3 Satz 1 ZPO dennoch prüfen, ob vernünftige Zweifel an der Tariffähigkeit und der Tarifzuständigkeit des ZDS bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 bestehen. 14 a) Die Tariffähigkeit und die Tarifzuständigkeit der Tarifvertragsparteien sind Wirksamkeitsvoraussetzungen für den jeweils abgeschlossenen Tarifvertrag als statutarisches Recht (vgl. BAG 21. September 2016 – 10 ABR 33/15 – Rn. 118, BAGE 156, 213; ErfK/Franzen 18. Aufl. § 5 TVG Rn. 7; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 5 Rn. 88). Hierbei handelt es sich nicht um einen Verfahrensmangel iSv. § 557 Abs. 3 Satz 2 ZPO. 15 b) Die Tariffähigkeit und die Tarifzuständigkeit der Tarifvertragsparteien müssen bei Abschluss des jeweiligen Tarifvertrags vorgelegen haben (für die Tarifzuständigkeit BAG 14. Januar 2014 – 1 ABR 66/12 – Rn. 50, BAGE 147, 113). Zur Prüfung der Tariffähigkeit und der Tarifzuständigkeit des ZDS bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 hatte der Senat die im Handelsregister veröffentlichte Satzung des ZDS vom 29. Juni 2012 (Satzung) heranzuziehen, die bei Abschluss der beiden Tarifverträge in Kraft war. 16 aa) Ergibt sich aus dem Vortrag der Parteien im Rechtsstreit, dass die normative Wirkung eines Tarifvertrags nach § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 4 TVG in Betracht kommt, muss das Gericht diese Normen nach § 293 ZPO von Amts wegen ermitteln (BAG 25. Januar 2017 – 4 AZR 520/15 – Rn. 29 mwN). Die Ermittlungspflicht trifft in erster Linie den Tatrichter (BAG 15. April 2008 – 9 AZR 159/07 – Rn. 42). Zu ihr gehört auch die Prüfung der Wirksamkeit der Norm (BAG 7. Juli 2010 – 4 AZR 1023/08 – Rn. 16). Wie sich der Tatrichter die erforderliche Kenntnis verschafft, steht in seinem Ermessen (für ausländisches Recht BGH 6. Oktober 2016 – I ZB 13/15 – Rn. 66). Das ermittelnde Gericht ist nicht an Beweisangebote gebunden, sondern darf auch andere Erkenntnisquellen einschließlich des Freibeweises nutzen (BAG 15. April 2008 – 9 AZR 159/07 – Rn. 41). 17 bb) Auch für das Revisionsgericht gilt § 293 ZPO. Es darf die Wirksamkeit der entscheidungserheblichen Tarifverträge überprüfen, wenn es sich die erforderliche Kenntnis – etwa durch Einblick in die im Handelsregister veröffentlichte Satzung eines wirtschaftlichen Vereins – selbst verschaffen kann und keine weiteren tatsächlichen Feststellungen zu treffen sind (vgl. BAG 15. April 2008 – 9 AZR 159/07 – Rn. 41 f.). 18 2. An der Tariffähigkeit des ZDS bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 bestehen vernünftige Zweifel. 19 a) Unter der Tariffähigkeit ist die Fähigkeit zu verstehen, durch Vereinbarung mit dem sozialen Gegenspieler ua. die Arbeitsbedingungen des Einzelarbeitsvertrags mit der Wirkung zu regeln, dass sie für die tarifgebundenen Personen unmittelbar und unabdingbar wie Rechtsnormen gelten (BVerfG 19. Oktober 1966 – 1 BvL 24/65 – zu A I der Gründe, BVerfGE 20, 312). Die Tariffähigkeit ist Voraussetzung, um einen wirksamen Tarifvertrag iSd. § 1 Abs. 1 TVG abschließen zu können (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 64, BAGE 136, 302). 20 b) Eine Arbeitnehmervereinigung ist tariffähig, wenn sie sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt hat und willens ist, Tarifverträge abzuschließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen. Zudem ist erforderlich, dass die Arbeitnehmervereinigung ihre Aufgabe als Tarifpartnerin sinnvoll erfüllen kann. Dazu gehören die durch ihre Mitglieder vermittelte Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler und eine leistungsfähige Organisation (vgl. BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 67 mwN, BAGE 136, 302). 21 c) Nach der bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 geltenden Satzung des ZDS bestehen vernünftige Zweifel an dessen Tariffähigkeit im Hinblick auf die Gegnerunabhängigkeit. 22 aa) Das Erfordernis der Gegnerunabhängigkeit soll sicherstellen, dass die Vereinigung durch ihre koalitionsmäßige Betätigung zu einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens beitragen kann (BVerfG 10. Dezember 1985 – 1 BvR 1724/83 – zu 2 b bb der Gründe). Die Gegnerunabhängigkeit fehlt (erst), wenn die Abhängigkeit vom sozialen Gegenspieler in der Struktur der Arbeitnehmervereinigung angelegt und verstetigt und die eigenständige Interessenwahrnehmung der Tarifvertragspartei durch personelle Verflechtungen, auf organisatorischem Weg oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft gefährdet ist. Daran ist insbesondere zu denken, wenn sie sich im Wesentlichen nicht aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert und deshalb zu befürchten ist, dass die Arbeitgeberseite durch Androhung der Zahlungseinstellung die Willensbildung auf Arbeitnehmerseite beeinflussen kann (BAG 5. Oktober 2010 – 1 ABR 88/09 – Rn. 31 mwN, BAGE 136, 1). 23 bb) Aufgrund der in der Satzung des ZDS enthaltenen Regelungen über die „Fördermitgliedschaft“ selbständiger Schornsteinfeger im ZDS bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass es sich dabei um mehr als eine „formale“ Mitgliedschaft handelt, die nach einer in der Literatur geäußerten Auffassung hinsichtlich der Gegnerfreiheit unbedenklich ist (vgl. Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 2 Rn. 68). Vielmehr könnte der soziale Gegenspieler als Fördermitglied die eigenständige Interessenwahrnehmung und die tarifliche Willensbildung des ZDS aufgrund personeller Verflechtungen, auf organisatorischem Weg oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft beeinflussen. 24 (1) Nach § 3 Nr. 2 der Satzung vertritt der ZDS die Arbeitnehmer/innen im Schornsteinfegerhandwerk in der Bundesrepublik Deutschland. Mitglied kann nach § 4 Nr. 1 Satz 1 der Satzung „jede/r nicht selbständige Schornsteinfeger/in werden, der/die die Gesellenprüfung … bestanden hat“. Aus den Regelungen in § 4 Nr. 1 Satz 3 und Satz 4 der Satzung geht hervor, dass selbständige bevollmächtigte Bezirksschornsteinfeger „Fördermitglied“ des ZDS werden können. Nach § 5 Nr. 10 der Satzung „wandelt sich“ die Mitgliedschaft im ZDS „am Tag der Bestellung bzw. am Tag des Wechsels in die Selbständigkeit in eine Fördermitgliedschaft“. Damit erlaubt die Satzung nicht nur Schornsteinfegern, die selbst Arbeitgeber sind, Mitglied im ZDS zu werden. Sie sieht anstelle der Beendigung einer nach § 4 der Satzung bestehenden Mitgliedschaft infolge des Wechsels in die Selbständigkeit sogar den „automatischen“ Erwerb einer Fördermitgliedschaft im ZDS vor. Anders als bei einer Mitgliedschaft nach § 4 Nr. 1 Satz 1 der Satzung wird weder ein Antrag noch eine Entscheidung des ZDS über die Aufnahme eines Fördermitglieds vorausgesetzt. 25 (2) Fördermitglieder schulden dem ZDS nach § 12 Nr. 1 Satz 2 der Satzung Beiträge. Deren Höhe können sie „frei wählen“, sie müssen jedoch mindestens „50 % des Beitrags gemäß Satz 1“, dh. des monatlichen Beitrags eines Mitglieds im ZDS, leisten. Damit erlaubt die Satzung den Fördermitgliedern finanzielle Zuwendungen an den ZDS, die nicht nach oben „gedeckelt“ sind. Die Leistungen, die nach § 7 Nr. 2 Buchst. a bis Buchst. l der Satzung ausschließlich für Fördermitglieder vorgesehen sind, stellen einen Anreiz zur Begründung bzw. Beibehaltung einer nach § 5 Nr. 10 der Satzung erworbenen Fördermitgliedschaft für selbständige Schornsteinfeger dar. Dabei sind die „Unterstützung bei der Mitarbeitersuche“ (Buchst. g) und die „Beratung bei Gehaltsabrechnungen“ (Buchst. h) besonders interessant für Schornsteinfeger, die ihrerseits Arbeitnehmer beschäftigen. Nach Angaben des ZDS steigt die Anzahl der Arbeitgeber, die die Vorteile der Mitgliedschaft nutzt, stetig. Viele von ihnen blieben dem ZDS als Fördermitglied treu und nutzten das auf dem Weg in die Selbständigkeit. Vor diesem Hintergrund bestehen gewichtige Anhaltspunkte für die Befürchtung, dass der ZDS sich nicht unwesentlich aus den Beiträgen von Fördermitgliedern finanziert. Dadurch könnte eine Einflussnahme des sozialen Gegenspielers auf die Willensbildung auf Arbeitnehmerseite möglich und die eigenständige Interessenwahrnehmung des ZDS ernstlich gefährdet sein. 26 (3) Da die Satzung des ZDS in Bezug auf die Rechte und Pflichten von Fördermitgliedern und Mitgliedern nicht hinreichend differenziert, bestehen überdies vernünftige Zweifel daran, dass der ZDS seine Interessen eigenständig verfolgen und seinen tariflichen Willen bilden kann, ohne dabei einem wesentlichen Einfluss der Fördermitglieder ausgesetzt zu sein. 27 (a) § 7 Nr. 2 der Satzung zählt zwar die Fördermitgliedern zustehenden Leistungen auf. Es liegt jedoch nahe, dass die Bestimmung in § 7 Nr. 3 der Satzung, wonach die Leistungen nur gewährt werden, wenn „das Mitglied“ die satzungsgemäßen Pflichten erfüllt hat, in gleicher Weise für Fördermitglieder gilt. Dies ist auch für andere Regelungen wie etwa die in § 4 Nr. 4, § 5 Nr. 3 und § 11 Nr. 1 bis Nr. 3 der Satzung anzunehmen, wonach „das Mitglied“ die Satzung des ZDS anerkennt, „ein Mitglied“ unter bestimmten Voraussetzungen aus dem ZDS ausgeschlossen werden kann und „jedes Mitglied“ ua. zur regelmäßigen Entrichtung seiner Beiträge verpflichtet ist. 28 (b) Die Satzung kennt auch Regelungen, die sich auf die Rechte und Pflichten von Fördermitgliedern beschränken. So gilt nach § 10 Nr. 11 der Satzung der „Rechtsbeistand gemäß § 10 Nr. 2 … nicht für Fördermitglieder“. § 15 Nr. 3 der Satzung bestimmt, dass „Fördermitglieder … keine Wahlberechtigung (haben) und … in kein Vorstandsamt des ZDS gewählt werden (dürfen)“. Diese Bestimmungen reichen jedoch nicht aus, um mit der erforderlichen Sicherheit auszuschließen, dass Fördermitglieder in den Organen des ZDS wesentlichen Einfluss auf die eigenständige Interessenwahrnehmung des ZDS nehmen können. 29 (aa) Die Satzung untersagt den Fördermitgliedern nicht, das Stimmrecht bei der Mitgliederversammlung auszuüben. Diese beschließt mit einfacher Stimmenmehrheit (§ 24 Nr. 5 der Satzung) ua. die Entlastung des Vorstands (§ 24 Nr. 3 Buchst. b der Satzung) und die Verabschiedung des Haushaltsplans (§ 24 Nr. 3 Buchst. c der Satzung). 30 (bb) Nach der Satzung ist es ferner nicht ausgeschlossen, dass Fördermitglieder den Gremien des ZDS angehören können, die ua. über die personelle Besetzung seiner Organe entscheiden. So verbietet die Satzung weder die Wahl von Fördermitgliedern zu Delegierten und Ersatzdelegierten für Zentralverbands- und Regionalverbandstage (§ 24 Nr. 3 Buchst. e der Satzung), zu Mitgliedern der Schlichtungsausschüsse (§ 25 der Satzung) noch zu Obleuten oder Beisitzern der Revisionskommission (§ 26 der Satzung). Die Delegierten des Zentralverbandstags wählen nach § 17 Nr. 1 der Satzung einen Vorstand, der den ZDS „nach innen und außen“ vertritt (§ 17 Nr. 5 Satz 1 der Satzung) und ua. für die Aufstellung von Haushaltsplänen sorgt (§ 17 Nr. 5 Satz 2 Buchst. b der Satzung). Zu den Aufgaben des Zentralverbandstags gehören nach § 22 Nr. 2 der Satzung ua. die endgültige Regelung von Verbandsangelegenheiten (Buchst. g), die Änderung der Satzung (Buchst. i) und die Beschlussfassung über die Richtlinie zur Durchführung von Arbeitskämpfen (Streikrichtlinie) (Buchst. j). Nach § 34 der Satzung kann der Zentralverbandstag auch die Auflösung des ZDS beschließen (Nr. 1 und Nr. 2) und über die Verwendung des Vermögens entscheiden (Nr. 3). Die Delegierten des Regionalverbandstags wählen nach § 19 Nr. 3 der Satzung ebenfalls einen Vorstand, der ua. den Regionalverband „gegenüber Behörden und Arbeitgeberverbänden“ vertritt und für die Aufstellung von Haushaltsplänen zu sorgen hat (§ 19 Nr. 8 Satz 2 Buchst. a und Buchst. b der Satzung). Der Regionalverbandstag hat nach § 23 Nr. 8 der Satzung zB die Aufgabe, den Haushaltsplan zu verabschieden (Buchst. b), den Vorstand zu entlasten (Buchst. c) und „Anträge und Entschließungen“ zu behandeln (Buchst. e). Er ist bereits beschlussfähig, wenn die Hälfte der gewählten Delegierten anwesend ist (§ 23 Nr. 9 Satz 1 der Satzung). Die Schlichtungsausschüsse stellen auf Antrag ua. die Satzungsmäßigkeit von Vorstandsentscheidungen fest (§ 25 Nr. 6 Buchst. a der Satzung). 31 3. Dass der ZDS für den Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 tarifzuständig war, begegnet ebenfalls vernünftigen Zweifeln. 32 a) Die Tarifzuständigkeit einer Arbeitnehmervereinigung richtet sich nach dem in ihrer Satzung autonom festgelegten Organisationsbereich. Dies ist Ausdruck der in Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierten Vereins- und Koalitionsfreiheit. Dementsprechend kann eine Gewerkschaft ihren Organisationsbereich betriebs- oder unternehmensbezogen, branchen- oder berufsbezogen, regional- oder personenbezogen festlegen. Ebenso gut kann sie eine Kombination mehrerer Kriterien wählen oder die Tarifzuständigkeit für die Arbeitnehmer bestimmter, konkret bezeichneter Unternehmen beanspruchen (BAG 22. Februar 2017 – 5 AZR 252/16 – Rn. 33 mwN, BAGE 158, 205). Die äußerste Grenze der Tarifzuständigkeit in subjektiver Hinsicht ist gesetzlich durch § 3 Abs. 1 und Abs. 2 TVG beschrieben. Ein Verband kann einen Tarifvertrag daher nicht mit einem solchen betrieblichen Geltungsbereich abschließen, der über den Bereich hinausgeht, aus dem der Verband nach seiner Satzung Mitglieder aufnehmen kann (so bereits BAG 19. Dezember 1958 – 1 AZR 109/58 – zu 1 der Gründe, BAGE 7, 153; Wiedemann/Oetker 7. Aufl. § 2 TVG Rn. 56, 58). Die Tarifzuständigkeit besteht nur für Personengruppen, die wirklich Mitglieder stellen (Wiedemann/Oetker aaO Rn. 77). Sie fehlt für Personen, die mangels Mitgliedschaft nicht tarifgebunden sein können (Wiedemann/Oetker aaO Rn. 56). 33 b) Für die Bestimmung des Organisationsbereichs einer Tarifvertragspartei ist deren Satzung gegebenenfalls auszulegen. Maßgeblich ist der objektivierte Wille des Satzungsgebers. Wegen der normähnlichen Wirkung der Satzung körperschaftlich strukturierter Vereinigungen gelten die Grundsätze der Gesetzesauslegung. Danach sind maßgeblich zunächst der Wortlaut und der durch ihn vermittelte Wortsinn, ferner der Gesamtzusammenhang, der Sinn und Zweck und die Entstehungsgeschichte der Satzung. Umstände außerhalb der Satzung, die sich in ihr nicht niederschlagen, sind nicht berücksichtigungsfähig. Das gebietet die Rechtssicherheit (BAG 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – Rn. 55 mwN, BAGE 141, 110). 34 c) Aufgrund seiner bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 geltenden Satzung bestehen an der Tarifzuständigkeit des ZDS für diese Tarifverträge vernünftige Zweifel. 35 aa) Der persönliche Geltungsbereich des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 erstreckt sich nach § 1 Unterabs. 3 der beiden Tarifverträge auf „alle Auszubildenden“. § 4 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 regeln die Höhe der Ausbildungsvergütung. 36 bb) Der satzungsgemäße Organisationsbereich des ZDS erstreckt sich nicht auf Auszubildende. 37 (1) Nach § 3 Nr. 2 der Satzung vertritt der ZDS die Arbeitnehmer/innen im Schornsteinfegerhandwerk in der Bundesrepublik Deutschland. § 3 Nr. 3 der Satzung bestimmt, dass der ZDS „für den Zusammenschluss der nicht selbständigen Schornsteinfeger/innen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (eintritt)“. Als Aufgaben sind in § 3 Nr. 5 Buchst. b der Satzung die „Verbesserung von Einkommen und Arbeitsbedingungen durch Abschluss von Tarifverträgen und Einwirkung auf die Gesetzgebung und Behörden“ genannt. Nach § 3 Nr. 5 Buchst. f der Satzung ist auch die „Bildungs- und Schulungsarbeit für Mitglieder für die Bereiche Aus-, Weiter- und Fortbildung“ Aufgabe des ZDS. 38 (2) § 4 Nr. 1 Satz 1 der Satzung sieht vor, dass Mitglied im ZDS „jede/r nicht selbständige Schornsteinfeger/in werden (kann), der/die Gesellenprüfung im Schornsteinfegerhandwerk bestanden hat“. Diese Voraussetzung erfüllen Auszubildende nicht. 39 (3) Nach § 4 Nr. 1 Satz 2 der Satzung sind „weitere Arten der Mitgliedschaft und deren Ausgestaltung … auf Beschluss des Zentralverbandstags möglich“. 40 (a) Dass und gegebenenfalls wann der Zentralverbandstag einen Beschluss gefasst hat, aufgrund dessen Auszubildende Mitglieder des ZDS werden können, ist der Satzung nicht zu entnehmen. 41 (b) Soweit der ZDS auf den Beschluss des 33. Zentralverbandstags 2006 zum Sachantrag A9 verweist, wonach „alle Auszubildenden im Schornsteinfegerhandwerk Servicemitglied (sind)“, „der Umfang des Service … den zuständigen Bezirks- oder Landesgruppen bzw. dem Regionalverband (obliegt)“ und „die Mindestinhalte der Servicemitgliedschaft … vom erweiterten Zentralverbandsvorstand festgelegt (werden)“, wurde dieser nicht im Handelsregister veröffentlicht. Da sich diese „Servicemitgliedschaft“ auch nicht in der Satzung niedergeschlagen hat, kann sie aus Gründen der Rechtssicherheit nicht bei der Feststellung des Organisationsbereichs des ZDS berücksichtigt werden (vgl. BAG 17. April 2012 – 1 ABR 5/11 – Rn. 55, BAGE 141, 110). 42 (c) Der Umstand, dass Auszubildenden nach Angaben des ZDS eine kostenfreie „Servicemitgliedschaft“ angeboten wird, die automatisch mit der bestandenen Gesellenprüfung endet, kann die Zweifel an der Tarifzuständigkeit des ZDS für Auszubildende ebenfalls nicht beseitigen. Selbst unter Berücksichtigung dessen ist nicht ansatzweise erkennbar, dass es sich bei der Servicemitgliedschaft um eine Vollmitgliedschaft im ZDS oder zumindest um eine Mitgliedschaftsform handeln könnte, die der ordentlichen Mitgliedschaft hinsichtlich des Einflusses auf die Willensbildung des ZDS gleichgestellt ist. Dagegen spricht wesentlich, dass die Servicemitgliedschaft nach dem Beschluss des 33. Zentralverbandstags „vom jeweiligen Vorstand ausgesprochen (wird) und … ohne Aufnahmeantrag des Mitglieds möglich (ist)“. Überdies decken sich die auf dem Zentralverbandstag vom 29. Juni 2012 zum Initiativantrag I 1 beschlossenen „Mindeststandards“ für die Servicemitgliedschaft nicht mit den satzungsgemäßen Rechten der Mitglieder des ZDS. 43 d) Die vernünftigen Zweifel an der Tarifzuständigkeit des ZDS für Auszubildende erstrecken sich aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs der Regelungen über den persönlichen Geltungsbereich in § 1 Unterabs. 3 und die Ausbildungsvergütung in § 4 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 auch auf die übrigen Regelungen des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014. 44 aa) Die Unwirksamkeit einzelner Tarifnormen führt grundsätzlich entgegen der Auslegungsregel des § 139 BGB nicht zur Gesamtnichtigkeit des Tarifvertrags, sondern nur zur Unwirksamkeit dieser Bestimmungen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Tarifvertrag ohne die unwirksame Regelung noch eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung bildet (vgl. BAG 16. November 2011 – 4 AZR 856/09 – Rn. 27; 9. Mai 2007 – 4 AZR 275/06 – Rn. 37 mwN). 45 bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze könnten der TV AKS 2012 und der TV AKS 2014 nicht bestehen bleiben, wenn sich die Unzuständigkeit des ZDS für Auszubildende herausstellte. Ohne die Regelungen des persönlichen Geltungsbereichs (§ 1 Unterabs. 3) und der Höhe der Ausbildungsvergütung (§ 4) stellen die Tarifverträge keine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung mehr dar. 46 (1) Die Gründung der Klägerin dient nach § 2 Satz 1 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 zur „Förderung der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen“ und dazu, „die Durchführung einer … Berufsbildung der Auszubildenden im Schornsteinfegerhandwerk zu sichern“. § 3 TV AKS 2012/TV AKS 2014 regelt den Ausbildungskostenausgleichsanspruch für die ausbildenden Betriebe. Im unmittelbar nachfolgenden § 4 TV AKS 2012/TV AKS 2014 ist die Höhe der Ausbildungsvergütung geregelt. 47 (2) Die Gesamtschau der tariflichen Regelungen zeigt deutlich, dass die Verteilung der durch die Beschäftigung eines Auszubildenden im Schornsteinfegerhandwerk entstehenden Kosten umfassend geregelt werden sollte. Dieses ersichtlich in sich geschlossene System erlaubt es nicht, bei Unwirksamkeit der Regelungen über den persönlichen Geltungsbereich (§ 1 Unterabs. 3) und die Ausbildungsvergütung (§ 4) die übrigen Bestimmungen des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 bestehen zu lassen. Insbesondere die Regelungen über die gegenüber der Klägerin bestehenden Erstattungs- und Beitragsleistungen haben keinen Sinn, wenn es keine Regelung über die Höhe der Ausbildungsvergütung gibt, die der rechnerische Anknüpfungspunkt für diese Leistungen ist. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifvertragsparteien, hätten sie die Unwirksamkeit der Regelungen über die Höhe der Ausbildungsvergütung erkannt, die übrigen Bestimmungen, insbesondere zur Erstattungs- und Beitragspflicht, gleichwohl getroffen hätten. 48 4. Der Erfolg der Zahlungsklage hängt allein davon ab, ob der ZDS bei Abschluss des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 tariffähig und für diese Tarifverträge tarifzuständig war. Anderenfalls wäre die Klage abzuweisen, weil es sich bei dem TV AKS 2012 und dem TV AKS 2014 nicht um Tarifverträge iSd. § 1 Abs. 1 TVG, sondern lediglich um Kollektivvereinbarungen ohne normative Wirkung handelte (vgl. BAG 22. Februar 2017 – 5 AZR 252/16 – Rn. 31, BAGE 158, 205). Von der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit des ZDS hängt auch die Entscheidung über den Klageantrag zu 9. ab, der sich auf der Grundlage von § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 auf Auskunft richtet. Die Klägerin hat diesen Antrag einseitig für erledigt erklärt. Diese Erklärung enthält den Antrag festzustellen, dass die zulässige und begründete Klage erst durch das erledigende Ereignis unzulässig oder unbegründet geworden ist. War die Klage dagegen vor Eintritt des erledigenden Ereignisses unzulässig oder unbegründet, ist sie abzuweisen. Die Frage des erledigenden Ereignisses stellt sich nicht mehr (vgl. BAG 16. April 2013 – 9 AZR 535/11 – Rn. 10; 27. Juli 2005 – 7 AZR 508/04 – zu I der Gründe mwN, BAGE 115, 296; zu dem hierfür gegebenen Feststellungsinteresse BGH 21. September 2017 – I ZR 58/16 – Rn. 48). 49 a) Als Anspruchsgrundlage für die gegen den Beklagten geltend gemachten Beitragsforderungen kommt allein § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 in Betracht. Der Auskunftsanspruch kann sich nur aus § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 ergeben. 50 aa) Der Beklagte fällt in den von § 1 Unterabs. 2 Satz 1 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 beschriebenen fachlichen Geltungsbereich der Tarifverträge. Er unterhält einen Betrieb des Schornsteinfegerhandwerks iSv. § 1 Unterabs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 und TV AKS 2014. 51 bb) Beitragspflichtig sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 TV AKS 2012 „die in § 1 des Tarifvertrags genannten Betriebe“. Die Auskunftspflicht gegenüber der Klägerin trifft nach § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 den „Betrieb“. Obwohl die Regelung im Unterschied zu § 7 Abs. 1 Satz 2 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 nicht ausdrücklich auf „die in § 1 des Tarifvertrags genannten Betriebe“ verweist, kann damit ebenfalls nur ein Betrieb des Schornsteinfegerhandwerks gemeint sein, der dem in § 1 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 gleichlautend definierten fachlichen Geltungsbereich unterfällt. 52 b) Die Regelungen in § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 und § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 stehen, soweit sie Beitrags- und Auskunftspflichten für Betriebe begründen, die – wie der Beklagte – Arbeitnehmer beschäftigen, mit dem höherrangigen materiellen Recht im Einklang. Sie verstoßen auch nicht gegen Art. 20 Abs. 3 GG. 53 aa) Der Senat ist durch den rechtskräftigen Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. September 2017 (- 17 BVL 5001/17, 17 BVL 5002/17 -) nicht daran gehindert, die Vereinbarkeit der tariflichen Regelungen mit höherrangigem Recht im vorliegenden Rechtsstreit zu prüfen, obwohl es sich dabei um auch für das Verfahren nach § 98 ArbGG bedeutsame Vorfragen handelt. Dies gilt ebenso für die Frage der Tariffähigkeit und der Tarifzuständigkeit der tarifvertragschließenden Parteien. Präjudizielle Rechtsverhältnisse und Vorfragen werden nur dann iSv. § 322 Abs. 1 ZPO rechtskräftig festgestellt, wenn sie selbst Streitgegenstand waren. Es genügt nicht, dass über sie lediglich als Vorfragen zu entscheiden war (BAG 25. September 2013 – 10 AZR 454/12 – Rn. 18, BAGE 146, 123). 54 bb) Bei der nach § 2 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 von den Tarifvertragsparteien gegründeten Klägerin handelt es sich um eine gemeinsame Einrichtung iSv. § 4 Abs. 2 TVG. Gemeinsame Einrichtungen sind nach allgemeiner Ansicht von den Tarifvertragsparteien geschaffene und von ihnen abhängige Organisationen, deren Zweck und Organisationsstruktur durch Tarifvertrag festgelegt wird (BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu A I 2 der Gründe, BVerfGE 55, 7; BAG 25. Januar 1989 – 5 AZR 43/88 – zu II der Gründe, BAGE 61, 29). Für gemeinsame Einrichtungen bestehen bestimmte Mindestanforderungen, um die in § 4 Abs. 2 TVG genannten Rechtsfolgen herbeizuführen (JKOS/Krause 2. Aufl. § 4 Rn. 80 ff.; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4 Rn. 349 ff.). Diesen Erfordernissen genügt die Klägerin. 55 (1) Die Klägerin wurde als „nicht gewinnorientierte Gesellschaft in der Rechtsform einer GmbH“ gegründet und ist damit rechtsfähig (§ 13 Abs. 1 GmbHG). An ihrer organisatorischen Verselbständigung gegenüber den Tarifvertragsparteien bestehen ebenso wenig Zweifel wie daran, dass sie eine gemeinsame Angelegenheit der Tarifvertragsparteien ist und nur diese Aufsichts- und Weisungsrechte der Klägerin gegenüber haben. Die paritätische Trägerschaft beider Tarifvertragsparteien wird ebenfalls nicht infrage gestellt. 56 (2) Der in § 2 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 festgelegte Zweck der Klägerin, die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen zu fördern und die Durchführung einer qualifizierten, den besonderen Anforderungen des Wirtschaftszweigs gerecht werdenden Berufsbildung der Auszubildenden im Schornsteinfegerhandwerk zu sichern, fällt in den Rahmen der tariflichen Regelungsmacht von Tarifvertragsparteien. Diese wird auch mit Blick auf die Gründung und tarifvertragliche Ausgestaltung der Befugnisse von gemeinsamen Einrichtungen durch den in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Begriff der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen begrenzt (vgl. BVerfG 15. Juli 1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79 – zu B II 2 b der Gründe, BVerfGE 55, 7; BAG 22. Oktober 2003 – 10 AZR 13/03 – zu II 1 der Gründe, BAGE 108, 155). 57 (3) Die in § 3 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 vorgesehene Erstattung von Ausbildungskosten an ausbildende Betriebe, die in § 7 Abs. 2 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 geregelte Beitragspflicht und die damit korrespondierende Auskunftspflicht nach § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 sind von der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien gedeckt. Die rechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern, gemeinsamer Einrichtung und Arbeitnehmern können so ausgestaltet sein, dass der Arbeitgeber alleiniger Schuldner der Arbeitnehmeransprüche bleibt und die gemeinsame Einrichtung aus den Beiträgen Rückstellungen bildet, die die Grundlage für Erstattungsleistungen an den Arbeitgeber bilden (vgl. zum Urlaubskassenverfahren im Baugewerbe BAG 25. Oktober 1984 – 6 AZR 35/82 – zu II 2 b aa der Gründe, BAGE 47, 114; vgl. auch § 9 Abs. 2 AltersteilzeitG, wonach gemeinsame Einrichtungen als Ausgleichskassen zur Erstattung der vom Arbeitgeber geleisteten Aufstockungsbeträge errichtet werden können). 58 (4) Die Tarifvertragsparteien können in einem solchen Zusammenhang auch die Höhe der Ausbildungsvergütung regeln (vgl. § 4 TV AKS 2012 und TV AKS 2014). Da nach § 10 Abs. 2 BBiG auf den Berufsausbildungsvertrag, soweit sich aus seinem Wesen und Zweck nichts anderes ergibt, „die für den Arbeitsvertrag geltenden Rechtsvorschriften und Rechtsgrundsätze anzuwenden (sind)“, bezieht sich die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien grundsätzlich auch auf Auszubildende (Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 1 Rn. 181). Wegen § 25 BBiG sind die Tarifvertragsparteien an die zwingenden Mindestbedingungen des Berufsbildungsrechts gebunden (Wiedemann/Thüsing 7. Aufl. § 1 TVG Rn. 395). Anhaltspunkte dafür, dass die in § 4 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 vorgesehenen Ausbildungsvergütungen nicht angemessen iSv. § 17 Abs. 1 BBiG sein könnten, sind nicht ersichtlich (zur Vermutung der Angemessenheit von tarifvertraglichen Ausbildungsvergütungen BAG 16. Mai 2017 – 9 AZR 377/16 – Rn. 18 mwN). 59 cc) Die Beitragspflicht nach § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 verletzt den Beklagten insbesondere nicht in seinen Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Dies gilt auch für die Auskunftspflicht nach § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014. 60 (1) Die Tarifvertragsparteien unterliegen beim Abschluss von Tarifverträgen keiner unmittelbaren Grundrechtsbindung. Als selbständigen Grundrechtsträgern kommt ihnen aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Wie weit dieser Spielraum reicht, hängt von den Differenzierungsmerkmalen im Einzelfall ab. Die Tarifvertragsparteien haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 856/15 – Rn. 28 mwN). Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte jedoch, Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb Art. 3 Abs. 1 GG verletzen. Sie haben auch die Freiheitsgrundrechte wie zum Beispiel Art. 12 GG zu beachten (BAG 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 31 mwN). Bei der Regelung von Massenerscheinungen liegt es in der Natur der Sache, dass es zu Randunschärfen kommt und die von den Tarifvertragsparteien gefundene Lösung nicht jedem Einzelfall gerecht werden kann (BAG 20. September 2017 – 6 AZR 143/16 – Rn. 43 mwN). 61 (2) Gemessen an diesen Maßstäben sind die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestbeitrags nach § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 sowie die Auskunftspflicht nach § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 mit Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar. 62 (a) Die Festsetzung des jährlichen Mindestbeitrags auf 800,00 Euro für die Jahre 2013 und 2014 begegnet im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG keinen Bedenken. 63 (aa) Bezüglich der Beitragsbemessung steht den Tarifvertragsparteien ein erheblicher Freiraum zu. Die abzuführenden Beiträge müssen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den ausgeschütteten Leistungen stehen. Mit der Anknüpfung an die Bruttolohnsumme und der damit korrespondierenden Auskunftspflicht haben die Tarifvertragsparteien eine praktikable, weil rechnerisch leicht nachvollziehbare und im Streitfall einfach beweisbare Grundlage für die Berechnung der Beitragsschuld der tarifunterworfenen Betriebe gewählt (vgl. schon BAG 20. Oktober 1982 – 4 AZR 1211/79 – BAGE 40, 262 zum VTV im Baugewerbe vom 12. November 1960). 64 (bb) Die in § 7 Abs. 2 Satz 1 TV AKS 2012 geregelte Abhängigkeit der Beitragslast von der für die gewerblichen Schornsteinfeger gezahlten Bruttolohnsumme berücksichtigt, dass größere Betriebe regelmäßig nicht nur wirtschaftlich leistungsfähiger sind, sondern auch mehr Bedarf an ausgebildeten Schornsteinfegern haben als kleinere. Die Beitragsschuld relativiert sich durch die Erstattungsleistungen, die proportional zur Anzahl der im Betrieb zum Schornsteinfeger ausgebildeten Personen steigen und von denen größere Betriebe eher profitieren als kleinere, weil sie in der Regel über höhere Ausbildungskapazitäten verfügen. 65 (cc) Der jährliche Mindestbeitrag trifft auch Schornsteinfegerbetriebe, die keine oder nur in geringem Umfang – wie der Beklagte – Arbeitnehmer beschäftigen, die Schornsteinfegerarbeiten ausführen. Die „Beteiligung“ solcher Betriebe an der Finanzierung der Klägerin ist gleichwohl mit den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Die Teilnahme aller Betriebe an der Finanzierung der Klägerin sorgt für die finanzielle Basis, die es ihr ermöglicht, ihrem in § 2 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 definierten Gesellschaftszweck entsprechend Zuschüsse an die ausbildenden Betriebe zu zahlen. Auf diesem Weg fördert sie die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen und die Qualität der beruflichen Ausbildung im Schornsteinfegerhandwerk. Die Höhe des ratierlich fälligen Mindestbeitrags von 800,00 Euro für die Jahre 2013 und 2014 trägt der Wirtschaftskraft kleinerer Betriebe und dem Umstand hinreichend Rechnung, dass sie in der Regel einen geringeren Bedarf an ausgebildeten Schornsteinfegern haben als mittlere und größere Betriebe. 66 (dd) Dass nach § 7 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 auch Betriebe beitrags- und auskunftspflichtig sind, die nicht ausbilden oder nicht zur Ausbildung berechtigt sind und deswegen nicht in den Genuss des Ausbildungskostenausgleichs kommen können, stellt keine mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbare Schlechterstellung dieser Betriebe dar. Zum einen ist der Ausbildungskostenausgleich nach der Systematik des TV AKS 2012 und des TV AKS 2014 keine Gegenleistung für die gezahlten Beiträge. Er setzt vielmehr nach § 3 Abs. 1 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 voraus, dass der Betrieb einen Schornsteinfeger ausbildet. Dadurch entstehen ihm ua. aufgrund der Regelung der Ausbildungsvergütung in § 4 TV AKS 2012 und TV AKS 2014 auch Kosten. Zum anderen profitiert ein Betrieb, der nicht selbst ausbildet, bei der Einstellung eines Schornsteinfegergesellen zumindest mittelbar von dem Ausbildungskostenausgleich (ebenso LAG Köln 7. Oktober 2011 – 4 Sa 778/11 – zu B II der Gründe zum Tarifvertrag über die Berufsbildung im Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau vom 11. März 1991 in den neuen Bundesländern und Ostberlin idF des Änderungstarifvertrags vom 7. Juni 1991). 67 (b) Die Beitragspflicht nach § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 sowie die Auskunftspflicht nach § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 verstoßen nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG. 68 (aa) Die Normen enthalten keine Berufszugangsregeln. Voraussetzung dafür wäre, dass die Berufsaufnahme an persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Leistungsnachweise gebunden würde (vgl. BVerfG 20. Dezember 2017 – 1 BvR 2233/17 – Rn. 10). Dies trifft für die streitgegenständlichen Beitrags- und Auskunftspflichten nicht zu. 69 (bb) Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Erwerbszwecken dienende Tätigkeit vor staatlichen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind (BVerfG 20. März 2007 – 1 BvR 1047/05 – Rn. 33, BVerfGK 10, 450). Indem der TV AKS 2012 und der TV AKS 2014 den Betrieben des Schornsteinfegerhandwerks Zahlungspflichten auferlegen, greifen sie als Berufsausübungsregelungen in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte unternehmerische Betätigungsfreiheit der Schornsteinfeger ein. Regelungen, die lediglich die Berufsausübung betreffen, sind mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls sie als zweckmäßig erscheinen lassen und das Grundrecht nicht unverhältnismäßig eingeschränkt wird (BVerfG 20. Dezember 2017 – 1 BvR 2233/17 – Rn. 11). Bei der durch die Beitragspflicht zur Klägerin bezweckten Förderung der Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen und der Sicherstellung einer qualifizierten Berufsausbildung im Schornsteinfegerhandwerk handelt es sich um spezifische berufsbezogene Gemeinwohlgründe. Das in beiden Tarifverträgen vorgesehene System der Finanzierung der Berufsausbildung im Schornsteinfegerhandwerk ist vor dem Hintergrund des den Tarifvertragsparteien zukommenden erheblichen Gestaltungsspielraums geeignet, erforderlich und auch verhältnismäßig im engeren Sinn (vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG 20. März 2007 – 1 BvR 1047/05 – Rn. 39 ff., aaO). 70 (cc) Der beitragsfinanzierte Anspruch auf Ausbildungskostenausgleich erhöht die Ausbildungsbereitschaft der einzelnen Betriebe. Mildere Maßnahmen sind weder vom Beklagten aufgezeigt worden noch ersichtlich. Die Festsetzung eines Mindestbeitrags und die Anknüpfung der Beitragshöhe an die Bruttolohnsumme der im Betrieb beschäftigten Schornsteinfeger halten sich innerhalb des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien. 71 (dd) Die Beteiligung aller Schornsteinfegerbetriebe an der Finanzierung der Klägerin ohne Rücksicht auf deren Ausbildungsbereitschaft und -fähigkeit ist erforderlich, um die ausreichende Finanzierung der Klägerin sicherzustellen. Durch die Beitragsstruktur wird die überproportionale Belastung kleinerer Schornsteinfegerbetriebe verhindert. 72 (ee) Die Beitragszahlung ist den betroffenen Betrieben zuzumuten. Dass die Festsetzung der Beitragshöhe mit 4,4 % der Bruttolohnsumme eine übermäßige Belastung mit sich bringt, ist nicht ersichtlich. Der jährliche Mindestbeitrag unterschritt in den Jahren 2013 und 2014 mit 800,00 Euro zwei Bruttomonatsvergütungen für einen Auszubildenden im ersten Ausbildungsjahr. Er ist daher aus der notwendig verallgemeinernden Perspektive der Tarifvertragsparteien auch von einem kleineren Schornsteinfegerbetrieb zu verkraften, zumal der Beitrag in vier Raten zu zahlen ist. 73 (c) Eine eigentumsfähige Position, die dem Schutz des Art. 14 GG unterfallen könnte, ist nicht erkennbar. In der Auferlegung von Geldleistungsverpflichtungen durch einen Tarifvertrag sieht das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG 29. Februar 2012 – 1 BvR 2378/10 – Rn. 40 f.; ebenso BAG 19. Februar 2014 – 10 AZR 428/13 – Rn. 27). Sie erfasst nur anerkannte einzelne Vermögensrechte, nicht das Vermögen als solches (BVerfG 1. Oktober 2012 – 1 BvR 3046/11 – Rn. 5). 74 (d) Die Beitragspflicht nach § 7 Abs. 2 Satz 2 TV AKS 2012 und die Auskunftspflicht aus § 7 Abs. 7 Satz 1 TV AKS 2014 sind nicht wegen eines Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 GG unwirksam. 75 (aa) Der aus dieser Norm hergeleitete Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes verpflichtet den parlamentarischen Gesetzgeber, wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und sie nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen (vgl. BVerfG 19. Dezember 2017 – 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14 – Rn. 116 mwN; BAG 23. Juli 2015 – 6 AZR 490/14 – Rn. 33, BAGE 152, 147). 76 (bb) Dass Regelungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen jedenfalls nicht ohne Weiteres zu den iSv. Art. 20 Abs. 3 GG „wesentlichen Entscheidungen“ gehören, folgt aus der durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie, deren Kerninstrumente das Aushandeln und der Abschluss von Tarifverträgen sind (BVerfG 27. April 1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95 – zu B II 1 a der Gründe, BVerfGE 100, 271). In diesem Bereich enthält sich der Staat grundsätzlich einer Einflussnahme und überlässt die autonome Vereinbarung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in erster Linie den Koalitionen. Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 – Rn. 146). Der Gesetzgeber darf auch die Ordnungsfunktion der Tarifverträge unterstützen, indem er Regelungen schafft, die bewirken, dass die von den Tarifvertragsparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder zur Anwendung kommen (BVerfG 20. März 2007 – 1 BvR 1047/05 – Rn. 38, BVerfGK 10, 450). Er ist allerdings nicht gehindert, Rahmenbedingungen für das Handeln der Koalitionen zu ändern; er ist sogar verpflichtet einzugreifen, wenn nachhaltige Störungen der Funktionsfähigkeit des Systems vorliegen (BVerfG 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16 – Rn. 147). 77 (cc) Danach scheidet ein Verstoß der tarifvertraglichen Beitrags- und Auskunftspflichten gegen Art. 20 Abs. 3 GG aus. 78 (aaa) Die Tarifvertragsparteien dürfen Arbeitgebern im Rahmen der ihnen nach Art. 9 Abs. 3 GG zukommenden Tarifautonomie Pflichten auferlegen, soweit dies – wie es beim TV AKS 2012 und beim TV AKS 2014 der Fall ist – der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dient. 79 (bbb) Anhaltspunkte für eine nachhaltige Störung der Funktionsfähigkeit des Systems, die den Gesetzgeber zum Eingreifen gezwungen hätten, sind nicht ersichtlich. Sie können insbesondere nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass die nach § 16 Abs. 2 des Gesetzes über das Schornsteinfegerwesen (Schornsteinfegergesetz – SchfG) vom 15. September 1969, gültig ab dem 1. Januar 1970 (zuletzt idF der Bekanntmachung vom 10. August 1998), gebildete Schornsteinfegerausgleichskasse nicht in das Gesetz zur Neuregelung des Schornsteinfegerwesens vom 26. November 2008 (BGBl. I S. 2242) aufgenommen wurde. Die Ausgleichskasse war geschaffen worden, weil die durch die Ausbildung eines Lehrlings entstehenden Kosten bei der alle fünf Jahre erfolgenden Neueinteilung der Kehrbezirke nicht berücksichtigt werden konnten (vgl. den Bericht des Abgeordneten Burgemeister zum Entwurf des § 16 SchfG im Ausschuss für Wirtschaft und Mittelstandsfragen [zu Drucksache V/4282 S. 5]). Dieser Grund war mit der Neuordnung des Schornsteinfegerhandwerks durch das SchfHwG entfallen. Das hinderte die Tarifvertragsparteien jedoch nicht, ihrerseits eine Ausbildungskostenausgleichskasse zu schaffen, wenn sie darin eine sinnvolle Möglichkeit zur Schaffung einer ausreichenden Anzahl von Ausbildungsplätzen und zur Durchführung einer qualifizierten Schornsteinfegerausbildung sahen. Eine nachhaltige, die Funktionsfähigkeit des Systems beeinträchtigende Störung, die den Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet hätte, ist nicht erkennbar.              Gallner                  Schlünder                  Brune                                    Fieback                   Merkel
bundesarbeitsgericht
bag_11-18
22.02.2018
22.02.2018 11/18 - Annahmeverzugsvergütung als Neumasseverbindlichkeit wegen fehlender bzw. unwirksamer Kündigung des Arbeitsverhältnisses Kündigt der Insolvenzverwalter in einer masseunzulänglichen Insolvenz das Arbeitsverhältnis rechtzeitig, dh. spätestens zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit, gelten Annahmeverzugsansprüche, die im Fall der Unwirksamkeit der Kündigung für die Zeit nach diesem Termin entstehen, gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2, § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten. Die Klägerin war seit 1996 bei dem Schuldner, der bundesweit zahlreiche Drogeriegeschäfte betrieb, zuletzt als Filialleiterin mit einem Entgelt von 2.680,60 Euro brutto beschäftigt. Am 28. März 2012 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Am 31. August 2012 zeigte dieser die drohende Masseunzulänglichkeit an. Bereits zuvor war das Arbeitsverhältnis vom Beklagten am 28. März zum 30. Juni 2012 sowie am 23. August zum 30. November 2012 gekündigt worden. Diese Kündigungen wurden durch arbeitsgerichtliche Urteile, die nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ergingen, rechtskräftig für unwirksam erklärt. Nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hätte das Arbeitsverhältnis rechtswirksam frühestens zum 31. Dezember 2012 gekündigt werden können. Das Arbeitsverhältnis endete tatsächlich erst nach einer weiteren Kündigung des Beklagten vom 16. Mai 2013 durch einen arbeitsgerichtlichen Vergleich mit dem 31. August 2013. Die Klägerin begehrt die Zahlung der Annahmeverzugsvergütung für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 2013. Sie hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei verpflichtet gewesen, das Arbeitsverhältnis nach der Anzeige durch eine weitere, spätestens zum 31. Dezember 2012 wirkende Kündigung zu beenden. Weil er eine solche Kündigung unterlassen habe, seien die eingeklagten Entgeltansprüche Neumasseverbindlichkeiten. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision des Beklagten hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO legt den Termin fest, bis zu dem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis spätestens beendet haben muss, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. Dafür ist nicht zwingend erforderlich, dass er nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigt. Er kann auch an einer bereits zuvor erklärten Kündigung festhalten, die das Arbeitsverhältnis im Falle ihrer Wirksamkeit spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorgegebenen Termin beendet. Er trägt dann jedoch das Risiko, dass sich diese Kündigung als unwirksam erweist und folglich Neumasseverbindlichkeiten begründet werden. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter erstmals nach der Anzeige rechtzeitig kündigt und diese Kündigung unwirksam ist. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. Februar 2018 – 6 AZR 868/16 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. Juli 2016 – 6 Sa 23/16 – Der Sechste Senat hat im Parallelverfahren – 6 AZR 95/17 – die Revision des Beklagten ebenfalls zurückgewiesen.
Tenor 1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Juli 2016 – 6 Sa 23/16 – wird zurückgewiesen. 2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen. Leitsatz Erweist sich eine Kündigung, die das Arbeitsverhältnis spätestens zum ersten Termin beenden würde, zu dem der Verwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, als rechtsunwirksam, gelten die Ansprüche aus Annahmeverzug für die Zeit nach diesem Termin gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die insolvenzrechtliche Einordnung von Annahmeverzugsansprüchen. 2 Die Klägerin war seit 1996 bei dem späteren Schuldner, der bundesweit zahlreiche Drogeriegeschäfte betrieb, zuletzt als Filialleiterin zu einem Bruttomonatsentgelt von 2.680,60 Euro beschäftigt. Über das Vermögen des Schuldners wurde am 28. März 2012 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser stellte die Klägerin spätestens am 1. Juli 2012 von der Arbeitsleistung frei. 3 Der Beklagte zeigte am 31. August 2012 die drohende Masseunzulänglichkeit an. Bereits zuvor hatte er das Arbeitsverhältnis der Klägerin ordentlich mit Schreiben vom 28. März zum 30. Juni 2012 und ein weiteres Mal mit Schreiben vom 23. August zum 30. November 2012 gekündigt. Diese Kündigungen wurden ebenso wie eine noch vom Schuldner erklärte Kündigung vom 25. November 2011 zum 31. Mai 2012 rechtskräftig für unwirksam erklärt. Die Rechtskraft der die Kündigungen vom 28. März und 23. August 2012 betreffenden Urteile trat nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ein. Das Arbeitsverhältnis endete am 31. August 2013 nach einer weiteren, am 16. Mai zum 31. August 2013 erklärten Kündigung des Beklagten aufgrund eines im dagegen angestrengten Kündigungsschutzprozess geschlossenen Vergleichs. 4 Mit ihrer am 1. Juni 2015 erhobenen Klage verlangt die Klägerin Vergütung wegen Annahmeverzugs für die Zeit vom 1. Januar bis 31. August 2013 abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds in rechnerisch unstreitiger Höhe. 5 Sie hat die Ansicht vertreten, der Beklagte sei rechtlich nicht gehindert gewesen, nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit bis Mitte September 2012 die formalen Voraussetzungen für eine wirksame Kündigung, die zum 31. Dezember 2012 hätte erklärt werden können, herbeizuführen. Er habe diese Möglichkeit versäumt, so dass die vom 1. Januar 2013 an bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstandenen Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO seien. 6 Die Klägerin hat zuletzt beantragt,          den Beklagten zu verurteilen, an sie 21.444,80 Euro brutto abzüglich auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangener Ansprüche iHv. 8.620,80 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. 7 Der Beklagte hat zur Begründung seines Klageabweisungsantrags geltend gemacht, § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO zwinge den Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten nur, ein zum erstmöglichen Termin nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige noch nicht gekündigtes Arbeitsverhältnis zu diesem Termin zu kündigen. Eine rechtzeitige Kündigung könne bereits vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit erfolgen. Es bestehe dann kein ungekündigtes Arbeitsverhältnis mehr. Auf die Wirksamkeit dieser Kündigung könne sich der Insolvenzverwalter verlassen. 8 Die Vorinstanzen haben der Zahlungsklage stattgegeben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Beklagte unter Vertiefung seiner rechtlichen Argumentation weiterhin Klageabweisung. Entscheidungsgründe 9 Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben mit Recht angenommen, dass die geltend gemachten Annahmeverzugsansprüche als Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO zu berichtigen sind. 10 I. Die Klage ist zulässig. Ihr liegt die Annahme zugrunde, die streitbefangenen Ansprüche seien Neumasseverbindlichkeiten iSv. §§ 53, 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO, die nicht den Vollstreckungsverboten des § 210 InsO und des § 123 Abs. 3 Satz 2 InsO unterfallen. Ergibt die rechtliche Prüfung, dass die erhobene Forderung tatsächlich im Rang einer Altmasseverbindlichkeit steht, ist die Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet (zuletzt BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 13 mwN, BAGE 158, 376). Auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis besteht. Der Beklagte hat den Einwand der Neumasseunzulänglichkeit, bei dem auch die Neumassegläubiger ihre Ansprüche nur noch im Weg der Feststellungsklage verfolgen können, nicht erhoben (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – aaO). 11 II. Die Klage ist begründet. Die streitbefangenen, rechnerisch unstreitigen Ansprüche auf Zahlung des Entgelts vom 1. Januar bis 31. August 2013 aus §§ 611, 615 BGB sind für die Zeit nach dem 31. Dezember 2012 als dem ersten Termin, zu dem der Beklagte nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, entstanden. Sie sind daher so zu behandeln, als wären sie vom Beklagten nach der Anzeige neu begründet worden. Unerheblich ist, dass der Beklagte mit den Kündigungen vom 28. März und 23. August 2012 vergeblich versucht hat, das Arbeitsverhältnis vor dem Ablauf des 31. Dezember 2012 zu beenden. Diese Kündigungen waren zwar rechtzeitig iSv. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO erklärt. Gleichwohl gelten die Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach diesem Termin bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstanden sind, gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO, weil die Kündigungen unwirksam waren. 12 1. Ungeachtet der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hat der Insolvenzverwalter gemäß § 208 Abs. 3 InsO die noch vorhandene Masse weiter zu verwalten und zu verwerten. Er muss darum die Möglichkeit haben, Ansprüche von Gläubigern, deren Leistung für die Fortführung des Verfahrens unerlässlich ist, auch dann in vollem Umfang zu erfüllen, wenn diese Ansprüche von ihm erst nach der Anzeige begründet worden sind. Anderenfalls würden diese Geschäfte nicht zustande kommen. Die Masse dient darum nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit vorrangig der Befriedigung der vom Insolvenzverwalter eingegangenen neuen Verbindlichkeiten (MüKoInsO/Hefermehl 3. Aufl. § 209 Rn. 3), die er benötigt, um die Masse weiter zu verwalten. Darum hat sich der Gesetzgeber für die Einführung einer in Alt- und Neumasseverbindlichkeit „gespaltenen“ Rangordnung entschieden (KPB/Pape InsO Stand März 2004 § 209 Rn. 3a; MüKoInsO/Hefermehl aaO). Die Anzeige führt danach zu einer Neuordnung der insolvenzrechtlichen Rangfolge der Masseverbindlichkeiten. Die bereits vor der Anzeige begründeten, „drängenden“ Masseverbindlichkeiten werden auf den Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO zurückgestuft. Dem Verwalter wird so der Handlungsspielraum gegeben, den er benötigt, um die Verwertung auch bei Masseunzulänglichkeit zum Abschluss zu bringen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 23, 37, BAGE 158, 376). 13 2. Nach der Grundregel des § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO sind Neumasseverbindlichkeiten die Verbindlichkeiten, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet worden sind, aber nicht zu den Kosten des Verfahrens gehören. Es handelt sich dabei um Ansprüche, die dem Verwalter nicht aufgezwungen (oktroyiert) worden sind (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 264/16 – Rn. 37, BAGE 158, 376), sondern die die Fortführung der Verwaltung der Masse mit sich bringt und zu denen sich der Verwalter deshalb noch nach der Anzeige „bekannt“ hat (vgl. Windel in Jaeger InsO § 209 Rn. 34; HK-InsO/Landfermann 8. Aufl. § 209 Rn. 16). Für Dauerschuldverhältnisse wie das Arbeitsverhältnis, bei denen keine Erfüllungswahl nach § 103 InsO möglich ist, sondern die nach § 108 InsO zu Lasten der Masse fortbestehen und die zu ihrer Beendigung einer Kündigung bedürfen, präzisieren und konkretisieren § 209 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 InsO die Abgrenzung zwischen Alt- und Neumasseverbindlichkeiten (vgl. BT-Drs. 12/2443 S. 220; Windel aaO Rn. 35): Leistet der Gläubiger zur Neumasse, weil der Insolvenzverwalter ihn zur Leistung herangezogen hat, sind die dadurch entstandenen, vom Insolvenzverwalter begründeten Entgeltansprüche Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO. Unterbleibt die Gegenleistung, zB weil ein Arbeitnehmer vom Insolvenzverwalter freigestellt worden ist, bestimmt § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO, welche Verbindlichkeiten aus dem ohne Gegenleistung fortbestehenden Dauerschuldverhältnis im Rang einer Altmasseverbindlichkeit und welche im Rang einer Neumasseverbindlichkeit stehen. Aus dem Dauerschuldverhältnis entstehende Verbindlichkeiten sollen nach dem Willen des Gesetzgebers den vom Insolvenzverwalter nach der Anzeige neu begründeten Verbindlichkeiten nur und so lange gleichstehen, wie er das Dauerschuldverhältnis trotz der erkannten und angezeigten Masseunzulänglichkeit aufrechterhält. Ist wie vorliegend im Arbeitsverhältnis monatliche Entgeltzahlung vereinbart und kündigt der Insolvenzverwalter rechtzeitig, dh. zum ersten Termin, zu dem er nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit „kündigen konnte“, ist das Entgelt für die Monate bis zum Ablauf der Kündigungsfrist Altmasseverbindlichkeit. Kündigt er nicht rechtzeitig, sind die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten. Der Insolvenzverwalter hat die rechtliche Möglichkeit nicht genutzt, durch eine rechtzeitige Kündigung diese Ansprüche zu verhindern. Sie sind deshalb wie von ihm neu begründete Ansprüche zu behandeln (BAG 30. Mai 2006 – 1 AZR 25/05 – Rn. 12, BAGE 118, 222; 21. Juli 2005 – 6 AZR 592/04 – zu II 2 b der Gründe, BAGE 115, 225; BT-Drs. 12/2443 S. 220). 14 3. Die Revision nimmt im Ausgangspunkt zutreffend an, dass nach diesen Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO (zu dieser Begrifflichkeit Windel in Jaeger InsO § 209 Rn. 50) der Insolvenzverwalter nicht gezwungen ist, zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten stets auch dann nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit noch eine weitere (vorsorgliche) Kündigung zum erstmöglichen Kündigungstermin zu erklären, wenn er oder der Schuldner das Arbeitsverhältnis bereits vor der Anzeige zum selben oder einem früheren Beendigungszeitpunkt gekündigt hat (vorzeitige Kündigung). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die frühere Kündigung bereits rechtskräftig für wirksam erklärt worden ist, ob die Frist des § 4 KSchG bereits verstrichen ist oder ob kein Bestandsschutz besteht. In den letztgenannten Fällen wird der Insolvenzverwalter allerdings schon im Interesse der Masseschonung idR von einer erneuten Kündigung absehen müssen. Auch wenn wie hier materieller Kündigungsschutz nach § 1 KSchG oder formeller Bestandsschutz, etwa nach § 102 BetrVG oder § 168 SGB IX, besteht und ein Kündigungsschutzprozess noch möglich oder bereits rechtshängig ist, kann der Insolvenzverwalter von einer weiteren Kündigung absehen, wenn er davon ausgeht, die bereits erklärte Kündigung werde das Arbeitsverhältnis zum selben oder einem früheren Zeitpunkt beenden, als es eine nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erstmögliche Kündigung könnte. 15 4. Die Revision berücksichtigt jedoch nicht, dass der Insolvenzverwalter bei einem solchen Vorgehen das Risiko trägt, dass die vorzeitige Kündigung unwirksam ist. Dann sind die Annahmeverzugsansprüche, die nach Ablauf der Kündigungsfrist der erstmöglichen Kündigung entstanden sind, die nach der Anzeige hätte erklärt werden können, Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO. Dieses Risiko hat sich vorliegend verwirklicht. 16 a) § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO legt nur den Termin fest, bis zu dem das Arbeitsverhältnis spätestens beendet worden sein muss, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. Dieser Termin berechnet sich nach dem fiktiven Ablauf der Frist der erstmöglichen Kündigung nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit. Nach dieser gesetzlichen Ausgestaltung ist es nicht zwingend erforderlich, dass der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigt. Ist bereits eine wirksame vorzeitige Kündigung erklärt worden, kommen die Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO nicht zum Tragen, weil diese Kündigung das Arbeitsverhältnis spätestens zum Zeitpunkt des fiktiven Ablaufs der Kündigungsfrist einer rechtzeitig nach der Anzeige erklärten Kündigung beendet. Der Anwendungsbereich des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist in dieser Konstellation nicht eröffnet. Die bis zum fiktiven Ablauf der Kündigungsfrist entstehenden Annahmeverzugsansprüche sind nach der Verteilungsordnung des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO Altmasseverbindlichkeiten (vgl. ohne weitere Problematisierung für den Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubsentgelt BAG 15. Juni 2004 – 9 AZR 431/03 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 111, 80; für die Kündigung eines gewerblichen Mietverhältnisses BGH 3. April 2003 – IX ZR 101/02 – zu III 1 c der Gründe, BGHZ 154, 358). Gleiches gilt, wenn ein befristetes Arbeitsverhältnis vor oder mit dem Zeitpunkt des fiktiven Ablaufs der Kündigungsfrist ausläuft. Der Insolvenzverwalter ist durch § 90 Abs. 2 Nr. 2 InsO bzw. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur gehalten, Dauerschuldverhältnisse, die bereits vor der Eröffnung bzw. Anzeige der Masseunzulänglichkeit gekündigt worden sind, ein weiteres Mal zu kündigen, wenn dies wegen der kurzen Kündigungsfrist des § 113 InsO eine frühere Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Folge hat (vgl. Breitenbücher in Graf-Schlicker InsO 4. Aufl. § 90 Rn. 2). 17 b) Ist die vorzeitige Kündigung dagegen unwirksam, sind nach den Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach dem Termin entstehen, zu dem das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit frühestmöglich hätte beendet werden können, Neumasseverbindlichkeiten. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter erstmals nach der Anzeige rechtzeitig kündigt und diese Kündigung unwirksam ist. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO fingiert für Annahmeverzugsansprüche, die für die Zeit nach dem ersten Termin entstehen, zu dem der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit „kündigen konnte“, den Rang einer Neumasseverbindlichkeit. Aus dieser gesetzlichen Formulierung folgt, dass der Insolvenzverwalter zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten Dauerschuldverhältnisse, die er für die weitere Verwertung und Verwaltung der Masse nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit nicht mehr benötigt, frühestmöglich beenden muss (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (1) der Gründe). Zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten genügt es darum nicht, dass eine Kündigung zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit erklärt wird. Die Kündigung muss auch wirksam sein. Das Arbeitsverhältnis muss spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegten Termin tatsächlich beendet sein (Ries NZI 2002, 521, 523; Ries/Berscheid ZInsO 2008, 1233, 1238 f.; Uhlenbruck/Ries 14. Aufl. § 209 InsO Rn. 24, 32). 18 aa) Der Gesetzgeber hat bereits dadurch, dass er eine Kündigung verlangt, sobald der Insolvenzverwalter kündigen „kann“, deutlich gemacht, dass Neumasseverbindlichkeiten nur ausgeschlossen sind, wenn das Dauerschuldverhältnis spätestens zum ersten Termin, zu dem der Insolvenzverwalter nach der Masseunzulänglichkeitsanzeige kündigen konnte, rechtswirksam beendet worden ist. 19 (1) Mit dem Begriff des „Könnens“ stellt § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO auf das rechtliche Können ab (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – zu II 2 b bb (2) der Gründe). Der Insolvenzverwalter darf – und muss – deshalb zunächst die formellen Voraussetzungen für die Kündigungserklärung schaffen. Vorher „kann“ er nicht kündigen. Insbesondere darf er rechtliche Hindernisse, die wie das Erfordernis der Anhörung des Betriebsrats (vgl. BAG 4. Juni 2003 – 10 AZR 586/02 – aaO) oder eine erforderliche behördliche Zustimmung (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 114, 13) einer wirksamen Kündigung entgegenstehen, beseitigen. Der dafür erforderliche Zeitaufwand hindert ihn rechtlich an der Kündigung des Arbeitsverhältnisses und schiebt den Termin der erstmöglichen Kündigung hinaus. 20 (2) Dagegen begründet der Insolvenzverwalter nach der gesetzgeberischen Wertung des § 209 InsO Neumasseverbindlichkeiten, wenn er nach der Beseitigung der formalen Hindernisse noch keine Kündigung erklärt, weil er die Voraussetzungen für eine materiell-rechtlich wirksame Kündigung noch nicht geschaffen hat. Der von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegte Termin wird dadurch nicht hinausgeschoben. Verhandelt er zum Beispiel noch mit einem potentiellen Betriebserwerber und sieht vorerst von einer Kündigung ab, weil es noch an einem Kündigungsgrund nach § 1 KSchG fehlt, besteht kein originär rechtliches Hindernis für die Kündigung mehr. Der Umstand, dass noch keine materiell-rechtlich wirksame Kündigung möglich ist, ist allein Folge des Willens des Insolvenzverwalters, noch nicht zu entscheiden, ob er auf die Arbeitskraft des Arbeitnehmers endgültig verzichten will. In einem solchen Schwebezustand kann er Neumasseverbindlichkeiten nicht vermeiden. Nach der gesetzlichen Wertung des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO hätte er kündigen „können“ (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 114, 13). Tut er das nicht, entstehen Neumasseverbindlichkeiten, weil er nicht gekündigt hat. Kündigt er, wird eine dagegen erhobene Kündigungsschutzklage regelmäßig Erfolg haben. Die dann für die Zeit nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche sind Neumasseverbindlichkeiten (BAG 31. März 2004 – 10 AZR 253/03 – zu B III 1 d cc der Gründe, BAGE 110, 135). 21 (3) Der Insolvenzverwalter begründet auch dann Neumasseverbindlichkeiten, wenn sich seine Einschätzung, er habe die formellen und materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die wirksame Kündigung eines von der Masse nicht mehr benötigten Arbeitsverhältnisses herbeigeführt, im Kündigungsschutzprozess als unzutreffend erweist. Das Arbeitsverhältnis besteht dann über den ersten Termin, zu dem es der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit hätte kündigen „können“, fort. Damit sind die für die Zeit nach diesem Termin entstehenden Annahmeverzugsansprüche nach den Qualifikationsregeln des § 209 Abs. 2 InsO Neumasseverbindlichkeiten. Konsequenz der gesetzlichen Verteilungsordnung ist es, dass der Insolvenzverwalter, der kündigen „kann“, auch dafür zu sorgen hat, dies rechtswirksam zu tun. Es fällt in seinen Verantwortungsbereich, für eine wirksame Umsetzung der Vorgaben des gesetzlichen Kündigungsschutzes zu sorgen (vgl. BAG 21. Juli 2005 – 6 AZR 592/04 – zu II 2 e der Gründe, BAGE 115, 225). Die Neumasse trägt das Risiko, dass ihm das nicht gelingt. 22 bb) Der Gesetzgeber hat darüber hinaus für die Abgrenzung von Alt- und Neumasseverbindlichkeiten an die „Kündigung“ des Dauerschuldverhältnisses angeknüpft. Auch damit hat er deutlich gemacht, dass eine wirksame Kündigung Voraussetzung ist, um Neumasseverbindlichkeiten zu vermeiden. 23 (1) Nach dem juristischen Sprachgebrauch ist die Kündigung eine einseitige rechtsgeschäftliche empfangsbedürftige Willenserklärung, durch die ein Dauerschuldverhältnis nach dem Willen des Kündigenden mit Wirkung für die Zukunft beendet wird (Staudinger/Oetker (2016) Vorbem zu §§ 620 ff. Rn. 100; MüKoBGB/Hesse 7. Aufl. Vor § 620 Rn. 1; Tilch/Arloth Deutsches Rechts-Lexikon 3. Aufl. Stichwort: Kündigung eines Arbeitsverhältnisses; für das Arbeitsverhältnis: BAG 17. Dezember 2015 – 6 AZR 709/14 – Rn. 31, BAGE 154, 40; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 123 Rn. 1; KR/Griebeling/Rachor 11. Aufl. § 1 KSchG Rn. 151). Die Kündigung hat rechtsvernichtenden Charakter (BAG 21. März 2013 – 6 AZR 618/11 – Rn. 15; APS/Preis 5. Aufl. Grundlagen D. Rn. 3). Dieses Begriffsverständnis deckt sich mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, wonach die Kündigung die Lösung eines Vertrags ist (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Stichwort: Kündigung). 24 (2) Nach dem Wortsinn des Begriffs der „Kündigung“ und der Gesetzessystematik genügt es zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten nicht, nur eine Kündigung zu erklären. Voraussetzung für die Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten ist vielmehr auch der Erfolg dieser Kündigungserklärung und damit die Beendigung des Dauerschuldverhältnisses spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO festgelegten Termin. Der Insolvenzverwalter muss sich deshalb nicht nur entscheiden, ob er das Dauerschuldverhältnis mit Wirkung für die Neumasse fortsetzen will. Es muss ihm auch gelingen, diese Entscheidung durch eine wirksame Kündigung oder einen anderen Beendigungstatbestand spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gesetzten Termin umzusetzen. Anderenfalls tritt die von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorausgesetzte Beendigung des Dauerschuldverhältnisses nicht ein. Das hat die Begründung von Neumasseverbindlichkeiten zur Folge. 25 (a) Bei Dauerschuldverhältnissen, die wie zum Beispiel Mietverhältnisse über Gewerberäume (vgl. dazu BGH 3. April 2003 – IX ZR 101/02 – BGHZ 154, 358) keinen Bestandsschutz aufweisen, hat die Kündigung regelhaft den vom Gesetzgeber vorausgesetzten Beendigungserfolg. 26 (b) Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber im Rahmen des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO dem Begriff der Kündigung für bestandsgeschützte Dauerschuldverhältnisse, wie es das Arbeitsverhältnis ist, einen von dieser Grundregel abweichenden Bedeutungsgehalt geben und den durch die Kündigungserklärung dokumentierten bloßen Beendigungswillen zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten genügen lassen wollte. Im Gegenteil hat er in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO jegliche Differenzierung nach der Art der Dauerschuldverhältnisse unterlassen, obwohl er den besonderen arbeitsrechtlichen Bestandsschutz erkannt hat und diesem in §§ 113 und 125 ff. InsO Rechnung getragen hat (vgl. BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 c der Gründe, BAGE 114, 13). 27 cc) Dieses Auslegungsergebnis wird dadurch bestätigt, dass sich die Rechtsfolgen einer Kündigung, die der Insolvenzverwalter zum erstmöglichen Termin nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit unterlassen, also nicht erklärt hat, und einer von ihm zum erstmöglichen Termin erklärten, aber unwirksamen Kündigung nicht unterscheiden. In beiden Fällen besteht das Arbeitsverhältnis aufgrund eines Verhaltens des Insolvenzverwalters über den erstmöglichen Kündigungstermin hinaus zu Lasten der Neumasse fort (vgl. Ries NZI 2002, 521, 523). Sie hat daher in beiden Fällen gleichermaßen für die nach dem erstmöglichen Kündigungstermin entstehenden Annahmeverzugsansprüche einzustehen. 28 c) Nach dem Willen des Gesetzgebers ist damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses spätestens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gesetzten Beendigungstermin Voraussetzung für die Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten. Eine Kündigung, die nach § 1 KSchG oder nach § 134 BGB unwirksam ist, verhindert auch im Fall ihrer Rechtzeitigkeit die Einordnung von Annahmeverzugsansprüchen für die Zeit nach diesem Beendigungstermin als Neumasseverbindlichkeiten nicht. 29 5. Der Beklagte hätte deshalb das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis spätestens zum 31. Dezember 2012 wirksam kündigen müssen, um zu vermeiden, dass für die Folgezeit Neumasseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO entstehen. Dies ist ihm nicht gelungen. Die Unwirksamkeit der Kündigungen vom 25. November 2011, 28. März und 23. August 2012 ist rechtskräftig festgestellt. Ob das Urteil vom 7. März 2013 (- 4 Ca 1304/12 -), mit dem das Arbeitsgericht Trier die Kündigung vom 23. August 2012 für unwirksam erklärt hat, inhaltlich grob falsch ist, wie der Beklagte vorgetragen hat, ist für die insolvenzrechtliche Verteilungsordnung in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ebenso unerheblich wie der Umstand, dass dieses Urteil rechtskräftig geworden ist, weil der Beklagte die Berufungsfrist versäumt hat. 30 6. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht die Freistellung der Klägerin der Einordnung der streitbefangenen Annahmeverzugsansprüche als Neumasseverbindlichkeiten nicht entgegen. Hat wie hier der Insolvenzverwalter nicht rechtzeitig (wirksam) gekündigt, gelten die Annahmeverzugsansprüche aus der Zeit nach dem ersten möglichen Kündigungstermin auch dann als Neumasseverbindlichkeiten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO, wenn der Verwalter den Arbeitnehmer freigestellt hat. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO wäre überflüssig, wenn Neumasseverbindlichkeiten in einem Dauerschuldverhältnis nur entstehen sollten, soweit der Verwalter gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO die Gegenleistung in Anspruch nimmt (BAG 23. Februar 2005 – 10 AZR 602/03 – zu II 4 c der Gründe, BAGE 114, 13). 31 III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.              Fischermeier                  Spelge                  Heinkel                                    D. Knauß                  Augat
bundesarbeitsgericht
bag_18-18
11.04.2018
11.04.2018 18/18 - Dynamische Bezugnahmeklausel - Änderung durch Betriebsvereinbarung Eine individualvertraglich vereinbarte Vergütung nach tariflichen Grundsätzen kann durch eine Betriebsvereinbarung nicht zu Lasten des Arbeitnehmers abgeändert werden. Der Kläger ist seit 1991 bei der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin als Masseur in einem Senioren- und Pflegezentrum beschäftigt. In einer Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag von Dezember 1992 verständigte sich die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit dem Kläger auf eine Reduzierung der Arbeitszeit. In der Vereinbarung heißt es, die Vergütung betrage „monatlich in der Gruppe BAT Vc/3 = DM 2.527,80 brutto“. Im Februar 1993 schlossen die Rechtsvorgängerin der Beklagten und der bei ihr gebildete Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung. Danach sollten in ihrem Anwendungsbereich „analog die für die Angestellten des Bundes und der Länder vereinbarten Bestimmungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrages – BAT vom 11. Januar 1961″ gelten. Ihre Bestimmungen sollten automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen werden, die vor Februar 1993 geschlossen worden waren. Die betroffenen Arbeitnehmer sollten einen entsprechenden Nachtrag zum Arbeitsvertrag erhalten. Einen solchen Nachtrag unterzeichneten die Rechtsvorgängerin der Beklagten und der Kläger im März 1993. Die Beklagte kündigte die Betriebsvereinbarung zum 31. Dezember 2001. Im März 2006 vereinbarten die Parteien im Zusammenhang mit einer Arbeitszeiterhöhung, dass das Gehalt „entsprechend der 0,78 Stelle auf 1.933,90 Euro erhöht“ werde und „alle übrigen Bestandteile des bestehenden Arbeitsvertrages … unverändert gültig“ blieben. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme Vergütung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für die kommunalen Arbeitgeber geltenden Fassung (TVöD/VKA) bzw. dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) zu. Die Beklagte meint, eine dynamische Bezugnahme auf die vom Kläger herangezogenen Tarifwerke liege nicht vor. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers vor dem Vierten Senat des Bundesarbeitsgerichts war erfolgreich. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger nach der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten. Der Kläger und die Rechtsvorgängerin der Beklagten haben die Vergütung nach den jeweils geltenden Regelungen des BAT und nachfolgend des TVöD/VKA arbeitsvertraglich vereinbart. Die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1993 vermochte diese Vereinbarung nicht abzuändern. Ungeachtet der Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung unterlag die arbeitsvertragliche Vergütungsabrede bereits deshalb nicht der Abänderung durch eine kollektivrechtliche Regelung, weil es sich bei der Vereinbarung der Vergütung nicht um eine allgemeine Geschäftsbedingung, sondern um eine individuell vereinbarte, nicht der AGB-Kontrolle unterworfene Regelung der Hauptleistungspflicht handelte. Die vom Landesarbeitsgericht aufgeworfene Frage der – generellen – Betriebsvereinbarungsoffenheit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Arbeitsverträgen bedurfte deshalb keiner Entscheidung. Bundesarbeitsgericht Urteil vom 11. April 2018 – 4 AZR 119/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf Urteil vom 25. Oktober 2016 – 8 Sa 500/16 –
Tenor I. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 25. Oktober 2016 – 8 Sa 500/16 – aufgehoben. II. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 25. Mai 2016 – 6 Ca 541/16 – abgeändert: 1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 22.435,42 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 5.485,32 Euro seit dem 1. Februar 2016 sowie aus 16.950,10 Euro seit dem 15. April 2016 zu zahlen. 2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten. III. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Leitsatz In einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag geregelte Arbeitsbedingungen sind schon dann nicht – konkludent – „betriebsvereinbarungsoffen“ ausgestaltet, wenn und soweit die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbart haben, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen. Das ist bei einer einzelvertraglich vereinbarten – dynamischen – Verweisung auf einen Tarifvertrag stets der Fall. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die Anwendung des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TVöD/VKA), hilfsweise des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) und sich daraus ergebende Entgeltansprüche. 2 Der im Jahr 1966 geborene Kläger ist seit dem 1. September 1991 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgänger als Masseur beschäftigt. Im Arbeitsvertrag vom 30. September 1991 (im Folgenden Arbeitsvertrag 1991) heißt es ua.:          „§ 2 Vergütung          Der Arbeitnehmer erhält          eine monatliche Vergütung von DM 3.151,02 brutto                   …                          § 7 Arbeitsordnung                   Die als Anlage beigefügte Arbeitsordnung ist Bestandteil des Arbeitsvertrages. Darüber hinaus gelten alle betrieblichen Regelungen, sofern in diesem Arbeitsvertrag keine andere Vereinbarung getroffen ist, sowie die Bestimmungen des allgemeinen Arbeitsrechts.                   § 8 Ausschluß- und Einspruchsfristen                   Alle Ansprüche, die sich aus diesem Vertrag ergeben, erlöschen 3 Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sofern sie nicht vorher schriftlich geltend gemacht worden sind.“          3 Am 16. Dezember 1992 schlossen die Arbeitsvertragsparteien eine Zusatzvereinbarung (im Folgenden Zusatzvereinbarung 1992), die auszugsweise wie folgt lautet:          „… wird mit Wirkung zum 01.01.1993 in gegenseitigen Einvernehmen folgende Vereinbarung getroffen:          1.     Die wöchentliche Arbeitszeit in der 4,5-Tage-Woche beträgt 30 Stunden und setzt sich wie folgt zusammen:                   …                 2.     Die Vergütung für die vereinbarte Tätigkeit beträgt monatlich in der Gruppe BAT Vc / 3 = DM 2.527,80 brutto.          …“              4 Am 17. Februar 1993 schloss der Rechtsvorgänger der Beklagten mit dem bei ihm für den Betrieb gebildeten Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur Regelung der arbeitsrechtlichen Verhältnisse für die Angestellten, Arbeiter/-innen und Auszubildenden der Einzelfirma S (im Folgenden Betriebsvereinbarung 1993). Diese lautet auszugsweise:          „§ 1 Geltungsbereich          Diese Betriebsvereinbarung gilt für alle Angestellten, Arbeiter/-innen und Auszubildenden des S, mit Ausnahme der geringfügig Beschäftigten.                            § 2 Lohn- und Vergütungsrichtlinien          1. Für die Angestellten nach § 1 dieser Betriebsvereinbarung gelten analog die für die Angestellten des Bundes und der Länder vereinbarten Bestimmungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrages – BAT – vom 11. Januar 1961.          …                 4. Änderungen beziehungsweise Ergänzungen der Bestimmungen der Absätze 1 … treten zu dem Zeitpunkt in Kraft, in denen die Änderungen beziehungsweise Ergänzungen für Angestellte … des Bundes und der Länder wirksam werden.          5. Absatz 4 gilt sinngemäß für die in den Absätzen 1 … genannten Bestimmungen, die außer Kraft treten.                            § 3 Sonderregelungen          1. Anwendung des Rahmentarifvertrages BAT (und die diesen ändernden Vorschriften) mit Ausnahme folgender Paragraphen:          § 3, § 6, § 15a, § 16, § 17, § 25, § 35, § 36, § 37, § 39, § 40, § 41, § 42, § 43, § 44, § 46, § 49, § 55, § 56, § 62, § 63, § 64, § 65, § 69 und § 74.          …                 § 4 Inkrafttreten und Laufzeit          1. Diese Betriebsvereinbarung ist unbefristet und tritt am 01.01.1993 rückwirkend in Kraft.          2. Die Betriebsvereinbarung kann mit einer Frist von 3 Monaten zum Quartalsende, frühestens zum 31.12.1993 gekündigt werden.                            § 5 Schlußbestimmungen          Die Bestimmungen dieser Betriebsvereinbarung werden automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen, die vor dem Abschlußdatum dieser Vereinbarung geschlossen worden sind.          Die betroffenen Arbeitnehmer/innen erhalten einen entsprechenden Nachtrag zum Arbeitsvertrag.“ 5 Im März 1993 erhielt der Kläger ein Schreiben des Rechtsvorgängers der Beklagten, das er unterzeichnete (im Folgenden Nachtrag 1993 AV). Dort heißt es ua.:          „Betr.: Betriebsvereinbarung vom Februar 1993                   Nachtrag zum Arbeitsvertrag                                       Die Bestimmungen der o.g. Betriebsvereinbarung wurden mit deren Inkrafttreten automatisch Bestandteil Ihres Arbeitsvertrages.          Alle in der Betriebsvereinbarung getroffenen Bestimmungen setzen die entsprechenden Regelungen des Arbeitsvertrages außer Kraft. Alle Vertragsbestimmungen, die durch diese Betriebsvereinbarung nicht geregelt sind, werden durch diesen Nachtrag nicht berührt und behalten ihre Gültigkeit.          Die Betriebsvereinbarung hängt zur Zeit noch am Schwarzen Brett aus und kann später in der Personalabteilung eingesehen werden.          Zum Zeichen der Kenntnisnahme und Ihres Einverständnisses bitten wir Sie, die beigefügte Kopie unterschrieben an uns zurückzugeben.“ 6 Am 22. März 1995 schlossen der Rechtsvorgänger der Beklagten und der Kläger eine weitere Zusatzvereinbarung (im Folgenden Zusatzvereinbarung 1995), in der es ua. heißt:          „1. Wöchentliche Arbeitszeit von 23 Stunden in der 5-Tage-Woche: …          …                 2. Die Vergütung für die vereinbarte Tätigkeit beträgt monatlich in der Gruppe BAT Vc 2.150,27 DM brutto.          3. Der Urlaub beträgt in der 5-Tage-Woche 26 Urlaubstage im Kalenderjahr.          4. Die Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag vom 16.12.1992 wird mit in Kraft treten dieser Zusatzvereinbarung unwirksam.          5. Alle anderen Vertragsbestandteile bleiben von dieser Zusatzvereinbarung unberührt und behalten ihre Gültigkeit.“ 7 Die Betriebsvereinbarung 1993 wurde mit Schreiben vom 27. September 2001 zum 31. Dezember 2001 gekündigt. 8 Am 23. März 2006 vereinbarten die Parteien erneut eine Änderung zum Arbeitsvertrag. Dort heißt es ua.:          „1. Ab dem 01.06.2006 beträgt der Stellenanteil 0,78 VK, das entspricht einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden in der 5 Tage/Woche.          2. Das Gehalt wird entsprechend der 0,78 Stelle auf 1.933,90 € erhöht.          3. Die Zusatzvereinbarung vom 22.03.1995 wird mit dieser Änderung unwirksam.          4. Alle übrigen Bestandteile des bestehenden Arbeitsvertrages bleiben unverändert gültig.“ 9 Von 2005 bis 2010 enthielten die Entgeltabrechnungen des Klägers einen Hinweis auf „Vb Stufe 09“. Seit Juni 2006 erhält der Kläger monatlich 1.933,90 Euro brutto, weitere Gehaltserhöhungen gab es nicht. Zudem gewährte die Beklagte Nachtzuschläge iHv. 1,28 Euro, Samstagszuschläge von 0,64 Euro, Sonntagszuschläge von 3,71 Euro und Feiertagszuschläge von 5,19 Euro je Stunde. 10 Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 25. November 2015 machte der Kläger gegenüber der Beklagten Vergütung nach dem TVöD für den Zeitraum ab Mai 2015 geltend und bezifferte den monatlichen Mehrbetrag zunächst mit 479,55 Euro. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2015 wies die Beklagte die Ansprüche zurück. 11 Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst Entgeltansprüche iHv. 5.903,76 Euro brutto sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Vergütung nach Entgeltgruppe 9 TV-L und hilfsweise Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA begehrt. Im weiteren Verlauf des Rechtsstreits hat er nach teilweiser Klagerücknahme und weiteren Klageerweiterungen für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Juli 2015 auf der Grundlage der Differenz zwischen dem monatlich gezahlten und dem tariflichen Entgelt in monatlich unterschiedlicher, aber rechnerisch unstreitiger Höhe die Zahlung von insgesamt 22.435,42 Euro brutto sowie – unter Austausch von Haupt- und Hilfsantrag in der Revision – die Feststellung der Vergütungsverpflichtung der Beklagten nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA, hilfsweise der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TV-L geltend gemacht. 12 Der Kläger hat – zuletzt – die Auffassung vertreten, er habe Anspruch auf Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA, hilfsweise der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TV-L. Die Zusatzvereinbarungen 1992 und 1995 zu seinem Arbeitsvertrag enthielten mit ihrer dynamischen Bezugnahme eine Verweisung auf die Vergütungsordnung des Bundes-Angestelltentarifvertrags (BAT) und nach deren Ablösung auf die des TVöD/VKA, dessen Tabelle die Beklagte auch zuletzt ihren Abrechnungen zugrunde gelegt habe, hilfsweise auf die des TV-L. Die dynamische Anwendung der Tarifwerke des öffentlichen Dienstes sei weder durch die Betriebsvereinbarung 1993 noch durch den Nachtrag 1993 AV beendet worden. Die freiwillige Betriebsvereinbarung 1993 sei unwirksam, da es im Pflegebereich tarifvertragliche Arbeitsbedingungen sowie mittlerweile die Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche gebe. Zudem habe sie zum 31. Dezember 2001 aufgrund der Kündigung ohne Nachwirkung geendet. Der Nachtrag 1993 AV habe keine konstitutive vertragliche Wirkung. Ausschlussfristen fänden keine Anwendung. 13 Der Kläger hat zuletzt beantragt,          1.     die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 22.435,42 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 5.485,32 Euro seit dem 1. Februar 2016 sowie aus 16.950,10 Euro seit dem 15. April 2016 zu zahlen;          2.     festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten, hilfsweise                   festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab dem 1. Februar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TV-L Tarifgebiet West zu vergüten. 14 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat – zuletzt – die Auffassung vertreten, weder der Arbeitsvertrag 1991 noch die Zusatzvereinbarungen 1992 und 1995 enthielten eine dynamische Bezugnahme auf die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes. Diese Zusatzvereinbarungen seien aufgehoben und spätestens durch die Änderung des Arbeitsvertrags von März 2006 ersetzt worden, nach der der Kläger für seine Tätigkeit ein festes Bruttomonatsgehalt erhalten sollte. Die Erhöhungen in der Vergangenheit seien aufgrund der von der Beklagten eingegangenen Verpflichtungen nach der Betriebsvereinbarung 1993 und nicht freiwillig erfolgt. Im Übrigen habe die Betriebsvereinbarung 1993 mögliche einzelvertragliche Regelungen dauerhaft verdrängt und zulässigerweise die – vertraglich vereinbarte – Vergütung abgeändert, womit der Kläger auch durch Unterzeichnung des Nachtrags 1993 AV sein Einverständnis erklärt habe. Ferner seien etwaige Ansprüche des Klägers verfallen. 15 Das Arbeitsgericht hat die Klage – auch hinsichtlich der erstinstanzlich zurückgenommenen Feststellungsanträge – abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren unter Austausch von – bisherigem – Haupt- und Hilfsfeststellungsantrag weiter. Entscheidungsgründe 16 Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Vorinstanzen haben die zulässige Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung und die geltend gemachte Zahlung einschließlich der Zinsen. 17 A. Die Klage ist hinsichtlich des zuletzt gestellten Haupt- und Hilfsfeststellungsantrags als sog. Elementenfeststellungsklage (sh. nur BAG 1. Juli 2009 – 4 AZR 261/08 – Rn. 26 ff., BAGE 131, 176; 22. Oktober 2008 – 4 AZR 784/07 – Rn. 11 mwN, BAGE 128, 165) zulässig. 18 I. Die Feststellungsanträge betreffen vorrangig die Vergütungsverpflichtung der Beklagten nach den jeweiligen Entgelttabellen des TVöD/VKA bzw. TV-L und nicht die – im Anwendungsfall nicht umstrittene – Zuordnung der Tätigkeit des Klägers zu einem bestimmten Tätigkeitsmerkmal der jeweiligen Vergütungsordnung. Auch die Anwendung eines Teils eines Tarifvertrags, wie hier der Vergütungsordnung, kann Gegenstand eines Feststellungsantrags sein (vgl. zB zur Anwendung einer Arbeitszeitregelung eines Tarifvertrags BAG 1. Juli 2009 – 4 AZR 261/08 – Rn. 26 ff., BAGE 131, 176). 19 II. Die Umstellung von Haupt- und Hilfsantrag in der Revisionsinstanz steht der Zulässigkeit der Feststellungsanträge nicht entgegen. 20 1. Zwar ist eine Antragsänderung in der Revisionsinstanz grundsätzlich ausgeschlossen. Antragsänderungen können aber aus prozessökonomischen Gründen zugelassen werden, wenn es sich dabei um Fälle des § 264 Nr. 2 ZPO handelt und der neue Sachantrag sich auf den in der Berufungsinstanz festgestellten Sachverhalt und auf den unstreitigen Parteivortrag stützt. Dies trifft bei einem Wechsel von Haupt- und Hilfsantrag regelmäßig zu (BAG 19. September 2006 – 1 ABR 58/05 – Rn. 11; 11. Februar 1992 – 1 ABR 49/91 – zu B I der Gründe, BAGE 69, 302). Mit ihm ist jedenfalls dann keine Erweiterung des bisherigen Prüfprogramms verbunden, wenn über den bisherigen Hilfsantrag in der Vorinstanz bereits entschieden worden ist (BAG 17. November 2010 – 4 AZR 118/09 – Rn. 12 mwN). 21 2. Etwas anderes gilt im Streitfall auch nicht deshalb, weil das Arbeitsgericht dem Kläger die Feststellungsansprüche unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO aberkannt hatte. 22 a) Nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist ein Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. Entsprechendes gilt, wenn das Gericht dem Kläger einen Anspruch abspricht, den dieser nicht erhoben hat (BAG 15. April 2015 – 4 AZR 796/13 – Rn. 21, BAGE 151, 235). 23 b) Der Kläger hat die Feststellungsanträge in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht wirksam zurückgenommen. Dadurch entfiel deren Rechtshängigkeit rückwirkend (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Die gleichwohl erfolgte Abweisung der Anträge durch das Arbeitsgericht stellt daher einen Verstoß gegen § 308 ZPO dar. 24 c) Die Erweiterung der Klage um die Feststellungsanträge in der Berufungsinstanz war zulässig. Zwar hat das Landesarbeitsgericht in seiner Entscheidung übersehen, dass es sich bei den Feststellungsanträgen um eine Klageerweiterung handelt und entsprechend deren Zulässigkeit nicht geprüft. Über die Zulässigkeit der Klageänderung in der Berufungsinstanz ist jedoch auch im Revisionsverfahren nach dem Maßstab des § 533 ZPO zu entscheiden (BAG 14. Juni 2017 – 10 AZR 308/15 – Rn. 38; 12. Juli 2016 – 9 AZR 51/15 – Rn. 44). 25 aa) Nach § 533 ZPO ist eine Klageänderung nur zulässig, wenn der Gegner einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält und diese auf Tatsachen gestützt werden kann, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat. 26 bb) Die Einwilligung der Beklagten iSv. § 533 Nr. 1 ZPO zur Klageerweiterung liegt gem. § 525 Satz 1, § 267 ZPO vor, da sie sich rügelos auf die Klageerweiterung eingelassen hat. 27 cc) Die Klageerweiterung wird iSv. § 533 Nr. 2 ZPO auf Tatsachen gestützt, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hatte. Für den Erfolg des Leistungsantrags waren dieselben Tatsachen maßgebend wie für den Erfolg der Feststellungsanträge. 28 B. Die – zuletzt nur noch auf arbeitsvertragliche Ansprüche gestützte – Klage ist hinsichtlich des als Hauptantrag gestellten Feststellungsantrags begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA zu vergüten. Der Hilfsantrag fällt deshalb nicht mehr zur Entscheidung an. 29 I. Im Ausgangspunkt hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen, Ziff. 2 der Zusatzvereinbarung 1992, nach der „die Vergütung … monatlich in der Gruppe BAT Vc / 3 = DM 2.527,80 brutto“ beträgt, sei als eine zeitdynamische Bezugnahme auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT zu verstehen. 30 1. Die Zusatzvereinbarung 1992 ist – ebenso wie der Arbeitsvertrag 1991 – ein Formularvertrag, dessen Bestimmungen nach den Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen auszulegen sind (zu den Maßstäben sh. nur BAG 14. Dezember 2011 – 4 AZR 28/10 – Rn. 29 mwN). Die Auslegung von typischen Vertragsklauseln ist der uneingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich (st. Rspr. des BAG, zB BAG 7. Dezember 2016 – 4 AZR 414/14 – Rn. 21; 19. März 2003 – 4 AZR 331/02 – zu I 2 a der Gründe, BAGE 105, 284). 31 2. Bei Anwendung dieser Auslegungsregeln ergibt sich aus der vertraglichen Vereinbarung eine dynamische Verweisung auf die entsprechenden Bestimmungen des BAT. 32 a) Die pauschale Bezugnahme im Arbeitsvertrag auf tarifliche Vergütungsbestimmungen ohne Angabe einer konkret nach Datum festgelegten Fassung des in Bezug genommenen Tarifvertrags ist regelmäßig dynamisch zu verstehen. Ein zusätzliches Indiz hierfür kann sein, wenn im Arbeitsvertrag der Entgeltbetrag aufgeführt wird, der dem Tarifgehalt bei Abschluss des Arbeitsvertrags im Wesentlichen entspricht. Nur wenn es eindeutige Hinweise für eine statische Bezugnahme gibt, kann von dieser Auslegungsregel abgewichen werden (st. Rspr., vgl. nur BAG 7. Dezember 2016 – 4 AZR 414/14 – Rn. 25; 25. Februar 2015 – 5 AZR 481/13 – Rn. 15, jeweils mwN). 33 b) Danach haben die Parteien in Ziff. 2 der Zusatzvereinbarung 1992 die Vergütung zeitdynamisch, orientiert an den Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des BAT vereinbart. Dazu gehört auch die Tarifautomatik, §§ 22, 23 BAT. 34 aa) Die Arbeitsvertragsparteien haben in der Zusatzvereinbarung 1992 die Vergütungsgruppe ausdrücklich bezeichnet und überdies – ohne dass dies entscheidend wäre – eine konkrete Summe genannt, die nach dem unbestrittenen Vortrag des Klägers dem Tabellenentgelt der angegebenen Vergütungsgruppe des BAT entsprach. 35 bb) Die Bezugnahmeklausel enthält nicht nur einen Verweis auf die ausdrücklich genannte VergGr. Vc BAT, sondern zugleich auf die gesamte Vergütungsordnung einschließlich der Tarifautomatik. Anhaltspunkte dafür, die Arbeitsvertragsparteien hätten dauerhaft eine Vergütung nach der VergGr. Vc BAT unabhängig von der konkreten Tätigkeit und gar ohne die tariflich vorgesehene Möglichkeit des Bewährungsaufstiegs vereinbaren wollen, sind nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Beklagte den Kläger ausweislich der Entgeltbescheinigungen zumindest in den Jahren 2005 bis 2010, dh. auch noch lange nach Kündigung der Betriebsvereinbarung sogar nach der von ihm durch Bewährungsaufstieg erfüllten VergGr. Vb BAT vergütet. 36 II. Die dynamische Bezugnahme auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT aus der Zusatzvereinbarung 1992 ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts in der Folgezeit weder durch die Betriebsvereinbarung 1993 noch durch individuelle Vereinbarungen zwischen den Parteien abgelöst oder verdrängt worden. 37 1. Aus einer normativen Wirkung der Betriebsvereinbarung 1993 ergibt sich für den Streitzeitraum keine Änderung der vertraglichen Bezugnahmeregelung. 38 a) Die Betriebsvereinbarung 1993 war zum 31. Dezember 2001 gekündigt worden. Ihre unmittelbare und zwingende Wirkung (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) endete zu diesem Zeitpunkt. Auf die Frage ihrer Wirksamkeit kommt es daher in diesem Zusammenhang nicht an. 39 b) Die beendete Betriebsvereinbarung entfaltete im Arbeitsverhältnis der Parteien auch keine Nachwirkung, die eine solche Änderung hätte bewirken können. 40 aa) Betriebsvereinbarungen wirken nach ihrem Ablauf nach, soweit sie Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung betreffen (§ 77 Abs. 6 BetrVG). Freiwillige Betriebsvereinbarungen wirken nicht nach. Bei einer Betriebsvereinbarung mit teilweise mitbestimmten Regelungen sind die einzelnen Regelungskomplexe getrennt zu behandeln. Eine Nachwirkung erfolgt dann nur hinsichtlich der Angelegenheiten, die der zwingenden Mitbestimmung unterliegen (BAG 10. Dezember 2013 – 1 ABR 39/12 – Rn. 17 mwN, BAGE 147, 19). Sinn der Nachwirkung nach § 77 Abs. 6 BetrVG ist – zumindest auch – die kontinuierliche Wahrung betriebsverfassungsrechtlicher Mitbestimmungsrechte. Sind solche nicht betroffen, bedarf es der Nachwirkung nicht (BAG 26. August 2008 – 1 AZR 354/07 – Rn. 16, BAGE 127, 297). 41 bb) Soweit hier überhaupt eine zwingende Wirkung der Betriebsvereinbarung auf die vertragliche Abrede bzgl. der Anwendung der Vergütungsordnung des BAT in Betracht kommt, wäre sie als die Höhe des vertraglichen Entgelts unmittelbar bestimmende Regelung nicht einem Tatbestand des Katalogs von § 87 Abs. 1 BetrVG, insbesondere der Nr. 10, zuzuordnen (bspw. BAG 21. Februar 2017 – 1 ABR 12/15 – Rn. 23; 5. Mai 2015 – 1 AZR 435/13 – Rn. 15, jeweils mwN). 42 2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die vertragliche Verweisung auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT auch nicht durch eine auf vertraglicher Ebene wirkende Einbeziehung der Betriebsvereinbarung 1993 abgelöst oder abgeändert worden. 43 a) Das Landesarbeitsgericht ist zum einen davon ausgegangen, die Betriebsvereinbarung 1993 habe den Arbeitsvertrag der Parteien dahin geändert, dass die bis dahin geltende dynamische Verweisung auf die Vergütungsordnung des BAT durch die in der Betriebsvereinbarung 1993 enthaltene eigenständige betriebliche Vergütungsordnung abgelöst worden sei. Zum anderen hat es angenommen, mit dem Nachtrag 1993 AV hätten die Parteien sich rechtsgeschäftlich ausdrücklich auf die Anwendung der Betriebsvereinbarung 1993 auf ihr Arbeitsverhältnis geeinigt. 44 aa) Das Landesarbeitsgericht hat den Arbeitsvertrag dahingehend ausgelegt, dass die Parteien mit der Regelung in Ziff. 2 der Zusatzvereinbarung 1992 konkludent vereinbart hätten, die dynamische Anwendung des BAT solle grundsätzlich einer Änderung durch Betriebsvereinbarung unterliegen (UA S. 10 f., unter b aa). Es hat sich hierfür auf „Grundsätze nach BAG“ (BAG 5. März 2013 – 1 AZR 417/12 – Rn. 60) gestützt. Danach mache der Arbeitgeber mit der Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollten. Der Abschluss von „betriebsvereinbarungsfesten Abreden“ schränke den Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien für zukünftige Anpassungen von Arbeitsbedingungen mit kollektivem Bezug ein. Deshalb sei für einen „verständigen und redlichen Arbeitnehmer“ nicht zweifelhaft, dass die vom Arbeitgeber vertraglich gestellten Arbeitsbedingungen einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich seien. Etwas anderes gelte lediglich dann, wenn die Arbeitsvertragsparteien ausdrücklich Bedingungen vereinbarten, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollten. Dies sei hier nicht geschehen. Die „Angleichung und Synchronisierung“ der betrieblichen mit einer tariflich vereinbarten, für den Betrieb aber nicht einschlägigen Vergütungsordnung besitze geradezu exemplarisch kollektiven Charakter. 45 bb) In der Sache hat das Berufungsgericht sich dann weiter auf eine rechtsgeschäftlich ausdrücklich vereinbarte Anwendung der Betriebsvereinbarung 1993 berufen, nachdem der Kläger mit der Unterzeichnung des Nachtrags 1993 AV sein Einverständnis hiermit erklärt habe. Dabei stützt sich das Landesarbeitsgericht in erster Linie auf den Wortlaut des Schreibens, wonach alle in der Betriebsvereinbarung 1993 getroffenen Bestimmungen die entsprechenden Regelungen des Arbeitsvertrags „außer Kraft“ setzten (UA S. 12, unter b cc). Auch sei die Vereinbarung nicht unklar iSv. § 305c Abs. 2 BGB, weshalb für die dort bestimmte Auslegungsregel kein Raum sei. 46 b) Beide Annahmen des Landesarbeitsgerichts sind rechtsfehlerhaft. 47 aa) Dies gilt zunächst für die Annahme, der Arbeitsvertrag der Parteien sei allein durch die gewählte Form eines Formulararbeitsvertrags „betriebsvereinbarungsoffen“, weshalb die vertragliche Verweisung auf die Vergütungsordnung des BAT durch die Betriebsvereinbarung 1993 abgelöst worden sei. 48 (1) Der Senat hat bereits grundsätzlich erhebliche Bedenken, in den Erklärungen und dem Verhalten der Parteien zwei sich auch hinsichtlich der vom Landesarbeitsgericht angenommenen konkludent vereinbarten „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ deckende Willenserklärungen zu erkennen. 49 (a) Rechtsgeschäftliche Willenserklärungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts grundsätzlich nach einem objektivierten Empfängerhorizont auszulegen. Dabei haben die Motive des Erklärenden, soweit sie nicht in dem Wortlaut der Erklärung oder in sonstiger, für die Gegenseite hinreichend deutlich erkennbarer Weise ihren Niederschlag finden, außer Betracht zu bleiben. Es besteht keine Verpflichtung des Erklärungsempfängers, den Inhalt oder den Hintergrund des ihm regelmäßig formularmäßig gemachten Angebots durch Nachfragen aufzuklären. Kommt der Wille des Erklärenden nicht oder nicht vollständig zum Ausdruck, gehört dies zu dessen Risikobereich. Die Regelung eines Vertrags über eine entgeltliche Leistung beschränkt sich im Allgemeinen auf die Bestimmung von Leistung und Gegenleistung. Die Motive, aus denen jeder der Partner den Vertrag schließt, sind für die Rechtsfolgen des Vertrags grundsätzlich unbeachtlich, weil sie nicht Teil der vertraglichen Vereinbarung selbst sind (BAG 25. Oktober 2017 – 4 AZR 375/16 – Rn. 35; 18. April 2007 – 4 AZR 652/05 – Rn. 30 mwN, BAGE 122, 74). 50 (b) In Anwendung dieser Grundsätze hat der erkennende Senat die frühere Rechtsprechung zur Auslegung von Verweisungsklauseln als sog. „Gleichstellungsabrede“ verworfen. Nach dieser – aufgegebenen – Rechtsprechung bedingte die „soziotypische Situation“ eines Arbeitnehmers bei Vertragsschluss mit einem tarifgebundenen Arbeitgeber das „Wissen“ darum, dass eine im Vertrag enthaltene dynamische Verweisung auf einen Tarifvertrag notwendig – konkludent – die auflösende Bedingung beinhaltete, diese Dynamik solle im Fall des Wegfalls der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers enden. Dieses „Wissen“ sei dann auch Inhalt der mit der Unterschrift von ihm selbst abgegebenen Willenserklärung. Diese Rechtsprechung hat der Senat mit der Begründung aufgegeben, dass der Bedeutungsinhalt von arbeitsvertraglichen Erklärungen in erster Linie anhand des Wortlauts zu ermitteln ist, und es bei dessen Eindeutigkeit im Grundsatz keiner weiteren Heranziehung von Auslegungsfaktoren bedarf (BAG 18. April 2007 – 4 AZR 652/05 – Rn. 31, BAGE 122, 74; sh. auch Thüsing/Lambrich RdA 2002, 193, 198 f.; Annuß ZfA 2005, 405, 423; Bayreuther DB 2007, 166). Insbesondere kann aus der „soziotypischen Situation“ allein kein den Erklärungsinhalt bedingender Vorbehalt geschlossen werden, wenn er sich nicht auch im Wortlaut niedergeschlagen hat. Nur bei Vorliegen konkreter Tatsachen, die im Einzelfall Zweifel an der wortgetreuen Auslegung der getroffenen Vereinbarung begründen können, weil sie für beide Seiten erkennbar den Inhalt der jeweils abgegebenen Willenserklärungen in einer sich im Wortlaut nicht niederschlagenden Weise beeinflusst haben, könnte ein Anlass bestehen, die Wortlautauslegung in Frage zu stellen. Die möglichen Motive der Erklärung des Antragenden können – gerade bei vom Arbeitgeber gestellten Formularverträgen – nur dann zur Auslegung der Annahmeerklärung herangezogen werden, wenn sie zweifelsfrei und unmissverständlich für den Arbeitnehmer erkennbar sind und als Bestandteil seiner eigenen zustimmenden Erklärung angesehen werden müssen. Gerade im Licht der AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB) ist für die Auslegung nicht der jeweilige – unterstellte – Wille der am Rechtsgeschäft beteiligten Vertragspartner, sondern in erster Linie der Vertragswortlaut entscheidend (Preis Der Arbeitsvertrag 5. Aufl. I C Rn. 30a mwN). 51 (c) Für die Annahme, ein („redlicher und verständiger“) Arbeitnehmer müsse auch ohne irgendeinen Hinweis in einem ihm vorgelegten Arbeitsvertragsentwurf davon ausgehen, das Vertragsangebot des Arbeitgebers stünde in jeder Hinsicht unter dem Vorbehalt einer Abänderbarkeit – insbesondere auch einer Verschlechterungsmöglichkeit – durch eine Betriebsvereinbarung, weil er nicht damit rechnen könne, dass ihm andere Arbeitsbedingungen zugestanden würden, als sie im Betrieb „gelten“, gibt es keine Anhaltspunkte. Ein Arbeitnehmer, der einen vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag als Antrag iSv. § 145 BGB vorgelegt bekommt, kann zwar ggf. noch erkennen, dass es sich um einen Formularvertrag handelt. Dabei ist für ihn aber schon nicht mehr erkennbar, ob das vom Arbeitgeber verwandte Vertragsexemplar nur für ihn entworfen ist oder ob es den betriebsüblichen Vertragsformulierungen entspricht, die der Arbeitgeber in der Gegenwart oder Vergangenheit für andere und ggf. wieviele Arbeitsverhältnisse mit welchem Anteil an der gesamten Belegschaft oder eines Teils davon verwandt hat. Allein hieraus auf eine Vereinheitlichungsabsicht des Arbeitgebers schließen zu müssen, ist nicht einmal naheliegend, erst recht weder zwingend noch durch die Gesamtumstände geboten, zumal schon völlig unklar ist, ob und warum ein Arbeitgeber überhaupt eine eventuelle Vereinheitlichungsabsicht hat und diese allein durch die Verwendung von von ihm vorformulierten Arbeitsbedingungen zum – erkennbaren – Ausdruck bringen wollte, obwohl ihm als Verwender jede andere Möglichkeit offen gestanden hätte. Die Annahme, der Arbeitnehmer müsse davon ausgehen, ein ihm gegenüber nicht mitgeteilter, aber konkreter und im Ergebnis außerordentlich bedeutungsvoller „Vertragsinhalt“ sei Gegenstand seiner eigenen Willensbildung und durch die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags auch Inhalt der von ihm selbst abgegebenen Willenserklärung, ist eine bloße Fiktion. Eine solche hätte überdies die paradoxe Folge, dass allein durch die Verwendung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, deren gesetzliche Kontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB dem schwächeren Vertragspartner gerade zusätzlichen Schutz gewähren soll, die ausdrücklich vereinbarten einzelnen Vertragsbedingungen konkludent zur Disposition der Betriebsparteien gestellt würden. Dass ein Arbeitnehmer dies – ggf. sogar hinsichtlich der Höhe der ihm versprochenen Vergütung und des Inhalts der von ihm zugesicherten Arbeitspflicht – allein durch die Entgegennahme und Unterzeichnung des vorformulierten Arbeitsvertrags und ohne jede Erwähnung bei den Vertragsverhandlungen oder schriftliche Aufnahme in den Arbeitsvertrag erklären will, erscheint dem erkennenden Senat nicht nachvollziehbar. 52 (d) Angesichts der mit dem Schutz der Betroffenen begründeten hohen Anforderungen an eine Individualabrede iSv. § 305b BGB (vgl. dazu nur HWK/Roloff 8. Aufl. § 305b BGB Rn. 1: „Dies ist dann der Fall, wenn sie zu den AGB in unmittelbarem oder direktem Widerspruch stehen“, mwN) fällt praktisch jeder Arbeitsvertrag als Allgemeine Geschäftsbedingung unter die Kontrolle der §§ 305 ff. BGB und erfüllt damit die Voraussetzungen der „soziotypischen Situation“ der Annahme einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“. Soweit nur Arbeitsbedingungen „mit kollektivem Bezug“ von der Veränderbarkeit durch Betriebsvereinbarungen erfasst sein sollen, ist diese Bedingung per definitionem auf der Vertragsseite bereits durch die Annahme der Bedeutung und Wirkungsweise Allgemeiner Geschäftsbedingungen erfüllt und ausdrückliche Voraussetzung für die Anknüpfung an eine Vereinheitlichungsabsicht des Arbeitgebers. Auf der anderen Seite müssen die die Vertragslage unmittelbar ändernden Betriebsvereinbarungen ohnehin kollektiven Charakter haben. Da nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts außerhalb von § 77 Abs. 3 BetrVG Arbeitsbedingungen aller Art, auch solche, die die Hauptleistungspflicht unmittelbar bestimmen, durch Betriebsvereinbarungen nach § 88 BetrVG festgelegt werden können (BAG 12. Dezember 2006 – 1 AZR 96/06 – Rn. 14 ff., BAGE 120, 308; Fitting 29. Aufl. § 77 Rn. 45 ff.; krit. Richardi BetrVG 16. Aufl. § 77 Rn. 74; Preis in Wlotzke/Preis/Kreft BetrVG 4. Aufl. § 77 Rn. 18), kann die grundsätzliche Annahme einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ in diesem Rahmen zu dem Ergebnis führen, dass sämtliche im Arbeitsvertrag ausdrücklich vereinbarten Abreden der Parteien durch die Betriebsparteien abgeändert werden könnten. Das wiederum würde bedeuten, dass aus kollektiven Mindestarbeitsbedingungen im Ergebnis Höchstarbeitsbedingungen würden, die, soweit sie Hauptleistungspflichten betreffen, noch nicht einmal der Inhaltskontrolle ieS unterworfen wären (arg. § 307 Abs. 3 BGB; Art. 4 Abs. 2 RL 93/13/EWG). 53 (e) Auch mit Blick auf das Recht der AGB-Kontrolle unterliegt diese Sichtweise nach Auffassung des Senats erheblichen Bedenken. 54 (aa) Die „konkludente“ Vereinbarung einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ – ihr Vorliegen unterstellt – wäre ihrerseits selbst eine Allgemeine Geschäftsbedingung iSv. §§ 305 ff. BGB. Der Arbeitgeber legte danach dem Arbeitnehmer nicht nur die ausdrücklichen Arbeitsbedingungen in vorformulierter Form zur Unterzeichnung vor, sondern zusätzlich regelmäßig den in dieser Form enthaltenen, allerdings ungeschriebenen Vorbehalt einer Verschlechterung der ausdrücklich formulierten Arbeitsbedingungen durch eine Betriebsvereinbarung. Damit wäre auch die bei einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ angenommene konkludente Vertragsklausel vom Arbeitgeber gestellt. Mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitnehmer würde sie zunächst – als ungeschriebene Klausel – Bestandteil jedes in der Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarten Arbeitsvertrags. Sie unterläge damit der gesetzlich vorgesehenen Kontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB, wie es auch für eine mündlich vereinbarte Allgemeine Geschäftsbedingung allgemein angenommen worden ist (zB BAG 16. Mai 2012 – 5 AZR 331/11 – Rn. 12 ff., BAGE 141, 324; 27. August 2008 – 5 AZR 820/07 – Rn. 20 ff., BAGE 127, 319; Clemenz in Clemenz/Kreft/Krause AGB-Arbeitsrecht § 305 BGB Rn. 20; vgl. für weitere Privatrechtsbereiche Ulmer/Habersack in Ulmer/Brandner/Hensen AGB-Recht 12. Aufl. § 305 BGB Rn. 36, mit zahlr. Nachw. aus der Rspr. des BGH). 55 (bb) Ob diese ungeschriebene und unerwähnt gebliebene Vertragsklausel einer Überprüfung nach Maßgabe des § 305c Abs. 2 BGB (Unklarheitenregel) und des § 305c Abs. 1 BGB (Verbot überraschender Klauseln) standhielte, kann vorliegend offenbleiben. Jedenfalls würden sich im Hinblick auf die Anwendung der Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ganz erhebliche Bedenken ergeben. Das Transparenzgebot schließt das Bestimmtheitsgebot ein und verlangt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschrieben werden, dass der Vertragspartner des Klauselverwenders klar und deutlich erkennen kann, welche Rechte und Pflichten er hat. Das Bestimmtheitsgebot ist verletzt, wenn eine Klausel vermeidbare Unklarheiten und Spielräume für den Verwender enthält (BAG 23. Januar 2014 – 8 AZR 130/13 – Rn. 23; 1. September 2010 – 5 AZR 517/09 – Rn. 14, BAGE 135, 250; BGH 3. März 2004 – VIII ZR 151/03 – zu II 2 a bb der Gründe). Voraussetzungen und Umfang der Leistungspflicht müssen so bestimmt oder zumindest so bestimmbar sein, dass der Vertragspartner des Verwenders bereits bei Vertragsschluss erkennen kann, „was auf ihn zukommt“ (BAG 21. Januar 2015 – 10 AZR 84/14 – Rn. 33, BAGE 150, 286; 21. August 2012 – 3 AZR 698/10 – Rn. 18, BAGE 143, 30; vgl. allg. dazu Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 35 Rn. 54 mit zahlr. weiteren Nachw. aus der Rspr.). Dies dürfte bei einem ungeschriebenen und lediglich aus den äußeren Umständen gefolgerten Verzicht auf das Günstigkeitsprinzip als tragendem Rechtsgrundsatz kaum gegeben sein. Der Vorbehalt einer ablösenden „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ kann vielmehr nur dann in Betracht kommen, wenn der Arbeitgeber als Verwender der AGB einen solchen hinreichend klar und verständlich zum Ausdruck gebracht hat. Die Annahme, ein verständiger Arbeitnehmer müsse auch ohne einen entsprechenden ausdrücklichen Vorbehalt des Arbeitgebers von einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ ausgehen, dürfte dem nicht genügen (für den Fall der Ablösbarkeit einer Sonderzahlung BAG 5. August 2009 – 10 AZR 483/08 – Rn. 15). 56 (2) Einer abschließenden Entscheidung über diese Fragen bedarf es im Streitfall nicht. Ginge man – entgegen den oa. Bedenken – davon aus, es liege grundsätzlich eine konkludente Einigung der Parteien über eine „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ ihrer Arbeitsbedingungen vor, erfasste diese jedenfalls nicht die ausdrückliche Vereinbarung der Parteien über die Anwendbarkeit der Vergütungsordnung des BAT auf ihr Arbeitsverhältnis. 57 (a) Von einer konkludent vereinbarten „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ individualvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen ist schon dann nicht auszugehen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbaren, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollen (BAG 5. März 2013 – 1 AZR 417/12 – Rn. 60, aE). 58 (aa) Dies ist bei einer im Wortlaut zum Ausdruck kommenden einzelvertraglich vereinbarten dynamischen Verweisung auf einen Tarifvertrag stets der Fall. Die dynamische Verweisung auf einen Tarifvertrag in einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag hat immer einen „kollektiven Bezug“. Sollte sich tatsächlich allein aus der Formenwahl des Arbeitgebers das erkennbare Ziel einer Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen ergeben, wäre jedenfalls die Bezugnahme auf einen ausdrücklich genannten Tarifvertrag in der Regel so zu verstehen, dass dessen Regelungen im Rahmen ihrer vertraglichen Inbezugnahme die vom Arbeitgeber – unter der oa. Annahme – angestrebte und erreichbare kollektive Vereinheitlichung realisieren und gewährleisten. Von einer nur konkludenten Vereinbarung über einen bestimmten dynamischen Vertragsinhalt könnte deshalb bereits dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn es für denselben Regelungsbereich eine sich aus dem Text des Vertrags ergebende dynamische Verweisung gibt, die ein gegenüber der Betriebsvereinbarung höherrangiges Regelungssystem in Bezug nimmt. Zwar bliebe auch einer solchen individualvertraglichen Bezugnahme die Betriebsvereinbarung im Rang übergeordnet, jedoch ausschließlich in ihrer normativen Wirkung bei gleichzeitiger Anwendung des Günstigkeitsprinzips (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG). Für eine – ohnehin unter problematischen Prämissen angenommene – konkludent vereinbarte vertragliche „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ mit der Folge einer ansonsten nicht bestehenden Verschlechterungsmöglichkeit hinsichtlich konkret vereinbarter Vertragsbedingungen fehlt es an jedem Anhaltspunkt, wenn die Vertragsparteien den Inhalt ihres Arbeitsverhältnisses ausdrücklich (und gerade nicht nur konkludent) den tariflichen Vereinbarungen konkreter Tarifvertragsparteien anvertrauen. Hier ergibt sich die Nachrangigkeit einer solchen – konkludent getroffenen – Betriebsvereinbarungsoffenheitsabrede sowohl aus dem Vorrang der Vereinbarungsform als auch aus dem Vorrang der in Bezug genommenen dynamischen Rechtsquelle des Tarifvertrags gegenüber der Betriebsvereinbarung. Mit dem Zweck einer solchen dynamischen Bezugnahme auf Vergütungsregelungen des öffentlichen Dienstes, nach dem bei der Vergütung eine Gleichstellung mit den in diesem Bereich beschäftigten Arbeitnehmern erreicht werden soll, wäre eine Anwendung der allein für den Bereich der Beklagten maßgeblichen betrieblichen Regelungen nicht vereinbar (so auch BAG 21. August 2013 – 5 AZR 581/11 – Rn. 48). 59 (bb) Eine der konkludenten Vereinbarung einer „Betriebsvereinbarungsoffenheit“ widersprechende und sie damit ausschließende ausdrückliche Vertragsregelung kann auch darin bestehen, dass dem Wortlaut des Vertrags nach betriebliche Regelungen zwar grundsätzlich Anwendung finden sollen, aber nur nachrangig, also „im Übrigen“ oder nur „soweit keine anderen Vereinbarungen getroffen worden sind“. In diesem Fall haben die Arbeitsvertragsparteien ihren Willen im Wortlaut des Vertrags zum Ausdruck gebracht, dass sie den arbeitsvertraglichen Regelungen den Vorrang einräumen wollten, sofern die Betriebsvereinbarung hinsichtlich günstigerer Arbeitsbedingungen nicht ohnehin normativ gilt; insoweit gölten die günstigeren Regelungen unmittelbar und zwingend und unterlägen in ihrer Wirkungsweise nicht der Regelungsbefugnis der Arbeitsvertragsparteien (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG). 60 (b) Nach diesen Maßstäben haben die Parteien im Streitfall eine – konkludente – Betriebsvereinbarungsoffenheit vertraglich ausgeschlossen. 61 (aa) Die Parteien haben in ihrem Arbeitsvertrag in der Fassung der Zusatzvereinbarung 1992 auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT Bezug genommen, sie als vertragliche Grundlage vereinbart (vgl. oben unter B I 2) und damit eine vertragliche Einbeziehung – der ggf. normativ geltenden Betriebsvereinbarung – ausgeschlossen. 62 (bb) Dagegen spricht nicht die in § 7 des Arbeitsvertrags 1991 getroffene Bestimmung, nach der alle betrieblichen Regelungen gelten sollten. Diese Einbeziehung sollte nach dem ausdrücklichen Willen der Arbeitsvertragsparteien nur insoweit greifen, als in dem Arbeitsvertrag keine andere Vereinbarung getroffen worden ist. Das ist aber durch die Verweisung auf die Eingruppierungs- und Vergütungsregelungen des BAT geschehen. Damit haben die Parteien auch hier über die „Rangfolge“ von evtl. mehreren – dynamisch – in Bezug genommenen Rechtsquellen für ihr Arbeitsverhältnis eine ausdrückliche Vereinbarung zugunsten der Individualabrede getroffen. 63 bb) Auch die weitere Begründung des Landesarbeitsgerichts, die Unterzeichnung des von dem Rechtsvorgänger der Beklagten verfassten Nachtrags 1993 AV stelle eine ausdrückliche Abänderung des Arbeitsvertrags dahingehend dar, dass nunmehr die eigenständige Vergütungsordnung der Betriebsvereinbarung 1993 an die Stelle der bisher vereinbarten Vergütungsordnung des BAT treten solle, ist unzutreffend. Bei dem Nachtrag 1993 AV handelt es sich nicht um ein Vertragsangebot des Arbeitgebers, sondern lediglich um eine Information über die seiner Auffassung nach durch die Betriebsvereinbarung 1993 eingetretene Änderung der objektiven Rechtslage. 64 (1) Als von dem Rechtsvorgänger der Beklagten vorformulierte und damit typische Erklärung unterliegt die Auslegung des Schreibens der uneingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht (st. Rspr. des BAG, zB BAG 7. Dezember 2016 – 4 AZR 414/14 – Rn. 21; 19. März 2003 – 4 AZR 331/02 – zu I 2 a der Gründe, BAGE 105, 284). 65 (2) Diesem Maßstab hält das Berufungsurteil nicht stand. Bei dem Nachtrag 1993 AV handelt es sich ungeachtet der Unterschrift des Klägers nicht um eine Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag, sondern um eine bloße Mitteilung des Rechtsvorgängers der Beklagten in Folge und Umsetzung der Betriebsvereinbarung 1993 (vgl. § 5 Abs. 2 Betriebsvereinbarung 1993). Die Annahme einer konstitutiven individualvertraglichen Vereinbarung der Parteien wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es sich bei dem Nachtrag 1993 AV um einen Antrag des Rechtsvorgängers der Beklagten iSv. §§ 145 ff. BGB handelte, der zur Entfaltung der beabsichtigten Rechtsfolgen der Annahme durch den Kläger bedurft hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Rechtsvorgänger der Beklagten hat den Kläger vielmehr mit dem Nachtrag 1993 AV in Umsetzung der Betriebsvereinbarung 1993 lediglich von seiner Auffassung in Kenntnis gesetzt, dass diese Betriebsvereinbarung kraft Gesetzes normative Wirkung entfalte und deshalb auch für das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam sei. 66 (a) Das ergibt sich bereits aus der Eingangsformulierung. Danach wurden „die Bestimmungen der o.g. Betriebsvereinbarung … mit deren Inkrafttreten automatisch Bestandteil Ihres Arbeitsvertrages“. Diese Formulierung beinhaltet zunächst den – von dem Rechtsvorgänger der Beklagten angenommenen – Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Bestimmungen der Betriebsvereinbarung 1993, nämlich „deren Inkrafttreten“. Dies sollte nach § 4 Abs. 1 Betriebsvereinbarung 1993 rückwirkend zum 1. Januar 1993 geschehen. Von der rechtlichen Notwendigkeit einer Zustimmung des Klägers ist im Nachtrag 1993 AV insoweit keine Rede. 67 (b) Ferner wird der bloße Informationscharakter des Nachtrags 1993 AV aus der weiteren Formulierung im ersten Absatz deutlich. Dort wird darauf hingewiesen, dass die Betriebsvereinbarung „automatisch“, dh. gerade ohne eine entsprechende Willenserklärung der Parteien, Bestandteil des Arbeitsvertrags „geworden sei“. 68 (c) Dem entspricht auch der Betreff, der das Schreiben als „Nachtrag“ zum Arbeitsvertrag und gerade nicht als „Zusatzvereinbarung“ (so die Vertragsänderungen aus den Jahren 1992 und 1995) oder als „Änderung zum Arbeitsvertrag“ (so das Schreiben vom 23. März 2006) bezeichnet. Den daher anzunehmenden bloßen Verweis auf die bestehende Rechtslage darf und kann ein Arbeitnehmer dahin verstehen, es bleibe insoweit im Übrigen bei der gesetzlichen Regelung, insbesondere dem Günstigkeitsprinzip als Kollisionsregelung zwischen der normativen Wirkung einer Betriebsvereinbarung und der individuellen Vertragsabrede, das sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 77 Abs. 4 BetrVG, unbestritten aber aus dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzprinzip ergibt (BAG 16. September 1986 – GS 1/82 – zu C II 3 der Gründe, BAGE 53, 42; 7. November 1989 – GS 3/85 – zu C II 1 der Gründe, BAGE 63, 211; Fitting 29. Aufl. § 77 Rn. 196; Richardi BetrVG 16. Aufl. § 77 Rn. 165, jeweils mwN). 69 (d) Im Übrigen hat die Arbeitgeberin mit dem Nachtrag 1993 AV lediglich die bereits in der Betriebsvereinbarung 1993 selbst vorgesehene Vorgehensweise umgesetzt. Dort ist nach dem erneuten Hinweis in § 5, wonach die Bestimmungen der Betriebsvereinbarung „automatisch Bestandteil von Arbeitsverträgen“ werden, aufgenommen, dass der Arbeitgeber den betroffenen Arbeitnehmer/-innen einen „entsprechenden Nachtrag“ übersendet. 70 (e) Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts kann diese Information über die nach Ansicht der Arbeitgeberin bereits durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung 1993 herbeigeführte Rechtslage auch nicht deshalb als Vertragsangebot gewertet werden, weil der Kläger sie unterzeichnet hat. Das „Einverständnis“ bezieht sich allenfalls auf die mitgeteilte Rechtsauffassung des Arbeitgebers, ohne dass darin eine eigene Willenserklärung zur Abänderung des Arbeitsvertrags liegt. 71 (3) Soweit im zweiten Absatz des Nachtrags 1993 AV ausgeführt wird, dass „alle in der Betriebsvereinbarung getroffenen Bestimmungen … die entsprechenden Regelungen des Arbeitsvertrages außer Kraft“ setzen, wird daraus jedenfalls nicht hinreichend deutlich, dass damit – abweichend vom ersten Absatz des Schreibens – ein Vorrang der Betriebsvereinbarung unter Verzicht auf das gesetzlich vorgesehene Günstigkeitsprinzip ausdrücklich individualvertraglich vereinbart werden sollte. Ein solcher Verzicht in einer vorformulierten Vertragsbestimmung muss klar und verständlich iSd. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB formuliert sein. Das wäre hier selbst dann nicht der Fall, wenn es eine derartige Absicht des Arbeitgebers gegeben hätte. Der erste Absatz des Schreibens sowie der Betreff suggerieren, dass es lediglich eine Mitteilung über die gesetzlich angeordnete normative Wirkung einer Betriebsvereinbarung enthält. Diese beschränkt sich jedoch auf die Verdrängung schlechterer einzelvertraglicher Arbeitsbedingungen; bessere bleiben bestehen. Hätte der Rechtsvorgänger der Beklagten dem Schreiben eine weiter gehende Bedeutung beimessen wollen, hätte er dies eindeutig formulieren müssen. 72 (4) Dafür, dass die Arbeitsvertragsparteien das Schreiben von März 1993 nicht als Vertragsänderung angesehen haben, spricht auch, dass sie jeweils mit dem Abschluss einer neuen Zusatz- oder Änderungsvereinbarung die vorherige Zusatzvereinbarung außer Kraft gesetzt haben. Die Zusatzvereinbarung 1995 nimmt dabei in Ziff. 4 die Zusatzvereinbarung 1992 und gerade nicht das Schreiben von März 1993 in Bezug. 73 cc) Auf eine mögliche Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung 1993 kommt es danach auch hier nicht mehr an. 74 c) Die vertragliche dynamische Verweisung auf die Vergütungs- und Eingruppierungsbestimmungen des BAT ist auch nicht durch eine andere Vereinbarung der Parteien abgeändert oder abgelöst worden. 75 aa) Selbst wenn die Zusatzvereinbarung 1995 die Zusatzvereinbarung 1992 „außer Kraft gesetzt“ haben sollte, enthält sie jedenfalls in Ziff. 2 ihrerseits eine entsprechende dynamische Bezugnahme und ändert damit an der grundlegenden Vertragssituation der Parteien im Hinblick auf die vorliegenden Streitgegenstände nichts. 76 bb) Die dynamische Bezugnahmeklausel ist schließlich nicht durch die Änderung des Arbeitsvertrags vom 23. März 2006 entfallen. Die Vereinbarung war ersichtlich durch eine Änderung der Arbeitszeit veranlasst. Das Arbeitsentgelt des Klägers wurde deshalb „entsprechend der 0,78 Stelle“ erhöht. Bereits dem Wortlaut nach liegt darin nur eine – relative – Anpassung des Arbeitsentgelts ohne eine grundlegende Änderung der bisherigen Entgeltvereinbarungen. Dieses Verständnis wird durch Ziff. 4 der Arbeitsvertragsänderung bestätigt, wonach alle übrigen Bestandteile des bestehenden Arbeitsvertrags – und damit insbesondere die Inbezugnahme der Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des öffentlichen Dienstes – unverändert gültig bleiben. Für dieses Auslegungsergebnis und gegen die Vereinbarung eines künftig festen Arbeitsentgelts unabhängig von den über Jahre in Bezug genommenen tarifvertraglichen Regelungen spricht zudem der Umstand, dass auch in den weiteren Entgeltabrechnungen bis 2010 ein Hinweis auf „Vb Stufe 09“ enthalten war, was der Vergütungsgruppe und -stufe bei der Eingruppierung nach der Vergütungsordnung des BAT entsprach. Der Nennung des nunmehr zu zahlenden Arbeitsentgelts kommt daher – wie auch schon in der Zusatzvereinbarung 1992 – lediglich eine klarstellende Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist auch Ziff. 3 der Vereinbarung, nach der die Zusatzvereinbarung 1995 mit dieser Vereinbarung unwirksam wird, beschränkt auf die Arbeitszeit zu verstehen. 77 cc) Allein der Umstand, dass die Beklagte anschließend das Arbeitsentgelt des Klägers nicht mehr erhöht hat, rechtfertigt nicht die Annahme, die Parteien hätten – entgegen den bisherigen Regelungen und der praktischen Vertragsdurchführung – eine lediglich statische Entgeltvereinbarung treffen wollen. Die tatsächliche Praxis des Vollzugs einer vertraglichen Regelung durch die Arbeitsvertragsparteien kann Anhaltspunkte für den tatsächlichen Willen der Vertragsparteien enthalten und somit für die Auslegung von Bedeutung sein. Der bei Vertragsschluss zum Ausdruck gebrachte objektive Gehalt der wechselseitigen Willenserklärungen kann aber durch die spätere tatsächliche Handhabung nicht mehr beeinflusst werden (vgl. BAG 24. Februar 2016 – 4 AZR 991/13 – Rn. 33 mwN). Es handelte sich vielmehr um die schlichte Nichterfüllung der arbeitgeberseitig vertraglich geschuldeten Leistung. 78 III. Die so verstandene arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des BAT ist zwar zeitdynamisch, aber nicht inhaltsdynamisch ausgestaltet. Sie ist deshalb mit der Ablösung des BAT durch den TVöD und den TV-L lückenhaft geworden. Die mit der Ersetzung des BAT entstandene nachträgliche Regelungslücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen. Dies führt zur Anwendbarkeit der Entgeltordnung des TVöD/VKA auf das Arbeitsverhältnis der Parteien. 79 1. Die im Arbeitsvertrag enthaltene zeitdynamisch ausgestaltete Verweisung auf die Vergütungsordnung des BAT ist infolge der Ablösung dieses tariflichen Regelungswerks zu einer statischen geworden, weil das Bezugnahmeobjekt von den Tarifvertragsparteien nicht mehr weiterentwickelt wird. Ein damit verbundenes „Einfrieren“ der Vergütung auf diesem Stand entsprach jedoch nicht dem Willen der Parteien. Der Vertrag ist nachträglich lückenhaft geworden, weil die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf der Dynamik der tarifvertraglichen Vergütungsregelungen aufbaute (st. Rspr., vgl. nur BAG 19. Mai 2010 – 4 AZR 796/08 – Rn. 25 ff., BAGE 134, 283; 18. Mai 2011 – 5 AZR 213/09 – Rn. 16). 80 2. Diese nachträglich entstandene Regelungslücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen. Dabei tritt an die Stelle der lückenhaften Klausel diejenige Gestaltung, die die Parteien bei einer angemessenen Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragsparteien vereinbart hätten, wenn ihnen die Unwirksamkeit der Geschäftsbedingung bekannt gewesen wäre. Die Vertragsergänzung muss deshalb für den betroffenen Vertragstyp als allgemeine Lösung eines stets wiederkehrenden Interessengegensatzes angemessen sein. Maßgebender Zeitpunkt für die Feststellung und Bewertung des mutmaßlichen typisierten Parteiwillens und der Interessenlage ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses, da die ergänzende Vertragsauslegung eine anfängliche Regelungslücke rückwirkend schließt. Das gilt auch, wenn eine Lücke sich erst nachträglich als Folge des weiteren Verlaufs der Dinge ergeben hat (st. Rspr., BAG 18. April 2012 – 4 AZR 392/10 – Rn. 20, BAGE 141, 150; 19. Mai 2010 – 4 AZR 796/08 – Rn. 31 mwN, BAGE 134, 283). 81 3. In Anwendung dieser Grundsätze ist für das Arbeitsverhältnis der Parteien seit dem 1. Oktober 2005 die Entgeltordnung des TVöD/VKA maßgebend. 82 a) Die ergänzende Vertragsauslegung bedeutet vorliegend in einem ersten Schritt, dass die Parteien redlicherweise für den Fall der hier vorliegenden Tarifsukzession des im Arbeitsvertrag benannten tariflichen Regelungswerks das nachfolgende Regelungswerk des öffentlichen Dienstes vereinbart hätten, weil eine statische Regelung der Arbeitsbedingungen auf den Zeitpunkt der bestehenden Tarifsukzession nicht ihren Interessen entsprach. Die Parteien haben mit der dynamischen Ausgestaltung der Bezugnahme auf das Tarifwerk des BAT die Regelungen der Arbeitsbedingungen für die Zukunft der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes anvertraut. 83 b) Wegen der Aufspaltung der bis zum 30. September 2005 gleichlautenden Regelungen für die Angestellten des öffentlichen Dienstes bei Bund, Ländern und Kommunen ist in einem weiteren Schritt zu bestimmen, welche Nachfolgeregelung für die Vergütung des Klägers maßgebend sein soll. Dabei ist zu ermitteln, welches der dem BAT nachfolgenden Tarifwerke die Parteien in Bezug genommen hätten, wenn sie eine Tarifsukzession bedacht hätten. Dies ist im Streitfall der TVöD in der im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) geltenden Fassung, weil die Beklagte aufgrund ihrer Aufgaben am ehesten dem öffentlichen Dienst der Kommunen zuzurechnen ist (vgl. BAG 25. Februar 2015 – 5 AZR 481/13 – Rn. 18 ff., BAGE 151, 56). Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Unternehmensgruppe, der die Beklagte angehört, bundesweit tätig ist. Mehrere Unternehmen eigener Rechtspersönlichkeit einer Unternehmensgruppe bilden keine dem Bund als oberster territorialer Körperschaft des öffentlichen Rechts vergleichbare Einheit. Entscheidend ist vielmehr, welche Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts die Aufgaben wahrnehmen würde, also die Zuordnung der Aufgaben innerhalb der Gebietskörperschaften des öffentlichen Dienstes und nicht, dass die Beklagte Schwesterunternehmen in anderen Kommunen oder Ländern hat, die sich derselben Aufgabe widmen. Vorliegend sind das die Kommunen als Körperschaften des öffentlichen Rechts für Selbstverwaltungsangelegenheiten. 84 IV. Unter Zugrundelegung der so verstandenen Bezugnahmeklausel hat der Kläger einen Anspruch auf Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 TVöD/VKA. 85 1. Gem. § 17 Abs. 1 TVÜ-VKA aF galten dabei die §§ 22, 23 BAT einschließlich der Vergütungsordnung bis zum Inkrafttreten entsprechender Regelungen des TVöD/VKA fort. Für die Überleitung in die neue Entgeltordnung von bereits vor dem 1. Oktober 2005 beschäftigten Arbeitnehmern wurden die Vergütungsgruppen der Vergütungsordnung (Anlage 1a zum BAT) den Entgeltgruppen des TVöD zugeordnet (§ 17 Abs. 7 TVÜ-VKA iVm. Anlage 1). 86 2. Danach ist die Beklagte verpflichtet, den Kläger nach der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA zu vergüten. Der Kläger war zunächst in der VergGr. Vc BAT und sodann aufgrund Bewährungsaufstiegs in der VergGr. Vb BAT eingruppiert. Dies führt nach § 17 Abs. 7 TVÜ-VKA idF des ÄndTV Nr. 10 iVm. Anlage 1 für die Zeit bis zum 31. Dezember 2016 zu einer Überleitung in die Entgeltgruppe 9 TVöD/VKA. Darüber besteht zwischen den Parteien kein Streit. Die Zuordnung zur Stufe 4 der Entgeltgruppe hat die Beklagte ebenfalls zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. 87 C. Die Klage ist auch hinsichtlich des Zahlungsantrags begründet. 88 I. Die sich aus der Entgeltgruppe 9 Stufe 4 TVöD/VKA ergebenden Einzelbeträge sowie die Gesamtsumme für den Streitzeitraum ist zwischen den Parteien nicht streitig. Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB iVm. § 24 Abs. 1 Satz 2 TVöD. 89 II. Die Zahlungsansprüche des Klägers sind auch nicht – teilweise – verfallen. Eine einzelvertragliche oder tarifliche Ausschlussfrist kommt für das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zur Anwendung. 90 1. Die einzelvertraglich in § 8 Arbeitsvertrag 1991 vereinbarte Ausschlussfrist erfasst die geltend gemachten Zahlungsansprüche nicht. Dabei kann dahinstehen, ob die Vereinbarung überhaupt wirksam ist, wofür angesichts der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu einzelvertraglichen Ausschlussfristen (zB BAG 1. März 2006 – 5 AZR 511/05 – Rn. 14, BAGE 117, 165) wenig spricht. Die Ausschlussfristenregelung verlangt keine Geltendmachung von Ansprüchen während des laufenden Arbeitsverhältnisses, sondern nur für den Fall von dessen Beendigung. 91 2. Die tariflichen Ausschlussfristen des § 37 TVöD und des § 70 BAT kommen nicht zur Anwendung. 92 a) § 37 TVöD ist auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbar. Die Parteien haben lediglich die Eingruppierungs- und Vergütungsbestimmungen des BAT und des diesen ersetzenden TVöD in Bezug genommen. Dazu gehört im Streitfall nicht die tarifliche Regelung der Ausschlussfristen. Insoweit hatten die Arbeitsvertragsparteien im Übrigen ausdrücklich eine eigenständige vertragliche Regelung vorgesehen. 93 b) § 70 BAT findet nicht aufgrund einer ursprünglich normativ wirkenden Betriebsvereinbarung 1993 im Wege der Nachwirkung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Dabei kann auch hier dahinstehen, ob die Betriebsvereinbarung überhaupt wirksam war. Die in ihr als Verweisung ggf. enthaltene Ausschlussfristenregelung des § 70 BAT wäre von der Nachwirkungsanordnung des § 77 Abs. 6 BetrVG nicht erfasst. Als in einer allenfalls teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung enthaltene Regelung ist die Ausschlussfristenbestimmung keinem der Tatbestände des § 87 Abs. 1 BetrVG zuzuordnen und auch nicht zwingend mit einer entsprechenden Regelung verbunden, sondern unterfällt dem Bereich der freiwilligen Mitbestimmung gem. § 88 BetrVG (BAG 5. Mai 2015 – 1 AZR 435/13 – Rn. 20). Sie wirkt damit nicht nach (vgl. oben B II 1 b). 94 D. Die Beklagte hat gem. § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.              Eylert                  Creutzfeldt                  Rinck                                     Steding                   H. Klotz
bundesarbeitsgericht
bag_51-18
17.10.2018
17.10.2018 51/18 - Vergütung von Reisezeiten bei Auslandsentsendung Entsendet der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vorübergehend zur Arbeit ins Ausland, sind die für Hin- und Rückreise erforderlichen Zeiten wie Arbeit zu vergüten. Der Kläger ist bei dem beklagten Bauunternehmen als technischer Mitarbeiter beschäftigt und arbeitsvertraglich verpflichtet, auf wechselnden Baustellen im In- und Ausland zu arbeiten. Vom 10. August bis zum 30. Oktober 2015 war der Kläger auf eine Baustelle nach China entsandt. Auf seinen Wunsch buchte die Beklagte für die Hin- und Rückreise statt eines Direktflugs in der Economy-Class einen Flug in der Business-Class mit Zwischenstopp in Dubai. Für die vier Reisetage zahlte die Beklagte dem Kläger die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung für jeweils acht Stunden, insgesamt 1.149,44 Euro brutto. Mit seiner Klage verlangt der Kläger Vergütung für weitere 37 Stunden mit der Begründung, die gesamte Reisezeit von seiner Wohnung bis zur auswärtigen Arbeitsstelle und zurück sei wie Arbeit zu vergüten. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers der Klage stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Entsendet der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer vorübergehend ins Ausland, erfolgen die Reisen zur auswärtigen Arbeitsstelle und von dort zurück ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers und sind deshalb in der Regel wie Arbeit zu vergüten. Erforderlich ist dabei grundsätzlich die Reisezeit, die bei einem Flug in der Economy-Class anfällt. Mangels ausreichender Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zum Umfang der tatsächlich erforderlichen Reisezeiten des Klägers konnte der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden und hat sie deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13. Juli 2017 – 2 Sa 468/16 –
Tenor 1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Juli 2017 – 2 Sa 468/16 – aufgehoben, soweit es der Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen am Rhein vom 7. Juli 2016 – 1 Ca 4/16 – stattgegeben hat. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Leitsatz Entsendet der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vorübergehend zur Arbeit ins Ausland, sind die für Hin- und Rückreise erforderlichen Zeiten wie Arbeit zu vergüten. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über Vergütung von Reisezeiten. 2 Der Kläger ist seit 1988 bei der Beklagten, einem Bauunternehmen, als technischer Mitarbeiter mit Dienstsitz in L beschäftigt und arbeitsvertraglich verpflichtet, auf wechselnden Baustellen im In- und Ausland zu arbeiten. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Rahmentarifvertrag für die Angestellten und Poliere des Baugewerbes (iF RTV-Bau) Anwendung. Dieser regelt idF vom 5. Juni 2014 ua.:          „§ 7             Fahrtkostenabgeltung,          Verpflegungszuschuss und Auslösung          …                          4.     Arbeitsstellen ohne tägliche Heimfahrt                   …                          4.3      An- und Abreise                            Der Arbeitgeber hat den Angestellten kostenlos zur Arbeitsstelle zu befördern oder ihm die Fahrtkosten in Höhe von 0,20 € je gefahrenem Kilometer ohne Begrenzung zu erstatten. Das gilt auch für den unmittelbaren Wechsel zu einer anderen Arbeitsstelle und für die Rückfahrt zu seiner Wohnung nach Beendigung der Tätigkeit auf der Arbeitsstelle. Im Übrigen gilt Nr. 3.1.                            In diesen Fällen hat der Angestellte für die erforderliche Zeit Anspruch auf Fortzahlung seines Gehalts ohne jeden Zuschlag.          …                                   § 13             Ausschlussfristen          1.     Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden; …          2.     Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird. …“ 3 Für die Zeit vom 10. August bis zum 30. Oktober 2015 wurde der Kläger von der Beklagten auf eine Baustelle nach Bengbu, China, entsandt. Der aus diesem Anlass ergänzend zum Arbeitsvertrag geschlossene Entsendevertrag vom 7. August 2015 enthält Regelungen ua. zur Vergütung während der Dauer des Einsatzes, zu Verpflegungsmehraufwand, Unterkunfts- und Reisekosten, jedoch nicht zur Vergütung von Reisezeiten. Auf Wunsch des Klägers buchte die Beklagte für die Hin- und Rückreise statt eines Direktflugs in der Economy-Class einen Flug in der Business-Class mit Zwischenstopp in Dubai. Die Differenzflugkosten sollte – vorbehaltlich einer gerichtlichen Klärung – der Kläger tragen. 4 Nachdem der Kläger am 10. August 2015 noch gearbeitet hatte, flog er abends von Frankfurt am Main mit Zwischenstopp in Dubai nach Shanghai. Nach restlicher Arbeit auf der Baustelle trat er am Nachmittag des 29. Oktober 2015 die Rückreise an. Für vier Reisetage zahlte die Beklagte dem Kläger die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung für jeweils acht Stunden, insgesamt 1.149,44 Euro brutto. 5 Nach erfolgloser Geltendmachung mit Schreiben vom 10. November und 10. Dezember 2015 hat der Kläger mit seiner am 4. Januar 2016 anhängig gemachten und am 8. Februar 2016 erweiterten Klage Vergütung für weitere 37 Stunden Reisezeit verlangt und gemeint, die gesamte Reisezeit von seiner Wohnung bis zur auswärtigen Arbeitsstelle und zurück sei wie Arbeit zu vergüten. 6 Der Kläger hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,          die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.661,30 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 673,50 Euro seit dem 16. September 2015 und aus weiteren 987,80 Euro seit dem 16. November 2015 zu zahlen. 7 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat gemeint, die tariflichen Bestimmungen zur Vergütung von An- und Abreise bei Arbeitsstellen ohne tägliche Heimfahrt seien nicht auf Auslandsentsendungen anwendbar. Jedenfalls sei die Verlängerung der Reisezeiten durch die Zwischenlandungen in Dubai nicht erforderlich gewesen. 8 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte zur Zahlung von 1.329,04 Euro brutto nebst Zinsen als Vergütung für weitere 37 Reisestunden verurteilt und die Berufung im Übrigen hinsichtlich vom Kläger verlangter Überstundenzuschläge rechtskräftig zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht nur für die Beklagte zugelassenen Revision verfolgt diese ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter. Entscheidungsgründe 9 Die Revision der Beklagten ist teilweise begründet und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht, § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Der Kläger hat Anspruch auf Vergütung der für die vorübergehende Entsendung ins Ausland erforderlichen Reisezeiten als Arbeit. In welcher Höhe die Klage begründet ist, kann der Senat jedoch aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht entscheiden. 10 I. Die Klage ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger begehrt Vergütung für Reisezeiten im Umfang von weiteren insgesamt 37 Stunden für den 10./11. August und den 29./30. Oktober 2015 iHv. jeweils 35,92 Euro brutto. Damit ist der Antrag für den streitbefangenen Zeitraum als abschließende Gesamtklage zu verstehen (vgl. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 245/17 – Rn. 39). 11 II. Der Kläger hat Anspruch auf Vergütung der für Hin- und Rückreise zur auswärtigen Arbeitsstelle erforderlichen Zeiten als Arbeit, § 611 Abs. 1 BGB (seit 1. April 2017: § 611a Abs. 2 BGB). 12 1. Die gesetzliche Vergütungspflicht des Arbeitgebers knüpft nach § 611 Abs. 1 BGB an die Leistung der versprochenen Dienste an. 13 a) Zu den „versprochenen Diensten“ iSd. § 611 Abs. 1 BGB zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Synallagma verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. „Arbeit“ als Leistung der versprochenen Dienste iSd. § 611 Abs. 1 BGB ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient (st. Rspr., vgl. nur BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 17 mwN). 14 b) Grundsätzlich erbringt der Arbeitnehmer mit dem – eigennützigen – Zurücklegen des Wegs von der Wohnung zur Arbeitsstelle und zurück keine Arbeit für den Arbeitgeber. Anders ist es jedoch, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Betriebs zu erbringen hat. In diesem Falle gehört das Fahren zur auswärtigen Arbeitsstelle zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten, weil das wirtschaftliche Ziel der Gesamttätigkeit darauf gerichtet ist, Kunden aufzusuchen – sei es, um dort Dienstleistungen zu erbringen, sei es, um Geschäfte für den Arbeitgeber zu vermitteln oder abzuschließen. Dazu gehört zwingend die jeweilige An- und Abreise, unabhängig davon, ob Fahrtantritt und -ende vom Betrieb des Arbeitgebers oder von der Wohnung des Arbeitnehmers aus erfolgen (BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 18 mwN; im Ergebnis ebenso ErfK/Preis 18. Aufl. § 611a BGB Rn. 516a ff.; MHdB ArbR/Krause 4. Aufl. § 60 Rn. 19; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 45 Rn. 55; Baeck/Deutsch ArbZG 3. Aufl. § 2 Rn. 83). 15 c) Dasselbe gilt für Reisen, die wegen einer vorübergehenden Entsendung zur Arbeit ins Ausland erforderlich sind. Diese sind fremdnützig und damit jedenfalls dann Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinn, wenn sie – wie im Streitfall – ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgen und in untrennbarem Zusammenhang mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung stehen. In diesem Fall gehören – wie die Fahrt des Arbeitnehmers zu und von einer (inländischen) auswärtigen Arbeitsstelle – Hin- und Rückreise bei der vorübergehenden Entsendung ins Ausland zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten. 16 2. Unerheblich für die Vergütungspflicht von Reisezeiten ist deren arbeitszeitrechtliche Einordnung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 ArbZG (vgl. dazu etwa ErfK/Wank 18. Aufl. § 2 ArbZG Rn. 17 u. ErfK/Preis § 611a BGB Rn. 516g f.; Baeck/Deutsch ArbZG 3. Aufl. § 2 Rn. 72 ff.; Schliemann ArbZG 3. Aufl. § 2 Rn. 41 ff., jeweils mwN). Denn die Qualifikation einer bestimmten Zeitspanne als Arbeitszeit im Sinne des gesetzlichen Arbeitszeitschutzrechts führt nicht zwingend zu einer Vergütungspflicht, wie umgekehrt die Herausnahme bestimmter Zeiten aus der Arbeitszeit nicht die Vergütungspflicht ausschließen muss (BAG 12. Dezember 2012 – 5 AZR 355/12 – Rn. 16 mwN; 21. Dezember 2016 – 5 AZR 362/16 – Rn. 30, BAGE 157, 347). Auch der Gerichtshof der Europäischen Union nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 Abs. 1 geregelten besonderen Falls des bezahlten Jahresurlaubs keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet (EuGH 21. Februar 2018 – C-518/15 – [Matzak] Rn. 49 ff. mwN). 17 3. Erforderliche Reisezeiten sind mit der für die eigentliche Tätigkeit vereinbarten Vergütung zu bezahlen, sofern nicht durch Arbeits- oder Tarifvertrag eine gesonderte Vergütungsregelung hierfür eingreift. Das ist vorliegend nicht der Fall. 18 a) Mit der Einordnung des Reisens als Arbeit und damit Teil der iSv. § 611 Abs. 1 BGB „versprochenen Dienste“ ist noch nicht geklärt, wie die dafür vom Arbeitnehmer aufgewendete Zeit zu vergüten ist. Durch Arbeits- oder Tarifvertrag kann eine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit und damit auch für Reisezeiten getroffen werden (zu Fahrten zur auswärtigen Arbeitsstelle sh. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 19 mwN; zu Umkleidezeiten BAG 25. April 2018 – 5 AZR 245/17 – Rn. 31 mwN). Dabei kann eine Vergütung für Reisezeiten auch ganz ausgeschlossen werden, sofern mit der getroffenen Vereinbarung nicht der jedem Arbeitnehmer für tatsächlich geleistete vergütungspflichtige Arbeit nach § 1 Abs. 1 MiLoG zustehende Anspruch auf den Mindestlohn unterschritten wird (vgl. BAG 25. April 2018 – 5 AZR 424/17 – Rn. 30 ff.). 19 b) Eine ausdrückliche Vergütungsvereinbarung für Reisezeiten enthalten weder der Arbeits- noch der Entsendevertrag. Das bloße Schweigen der individualrechtlichen Vereinbarungen der Parteien hierzu vermag die gesetzliche Vergütungspflicht der erforderlichen Reisezeiten nicht auszuschließen. 20 c) Auch § 7 Nr. 4.3 Abs. 2 RTV-Bau enthält keine von der gesetzlichen Vergütungspflicht für Reisezeiten abweichende Regelung. Nach der Tarifnorm haben Angestellte für die erforderliche Zeit der An- und Abreise zur und von der auswärtigen Arbeitsstelle Anspruch auf Fortzahlung ihres individuellen Gehalts ohne Zuschlag. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob § 7 Nr. 4.3 Abs. 2 RTV-Bau auch für Reisen bei der vorübergehenden Entsendung zur Arbeit ins Ausland Anwendung findet oder er sich – wie die Beklagte meint – auf Fahrten zu inländischen Arbeitsstellen beschränkt. 21 III. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die vom Kläger angegebenen Reisezeiten seien durchgängig erforderlich gewesen, ist nicht frei von Rechtsfehlern. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht endentscheiden. Daher ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). 22 1. Für die Erforderlichkeit von Reisezeiten gelten folgende Grundsätze: 23 a) Gibt der Arbeitgeber Reisemittel und -verlauf vor, ist diejenige Reisezeit erforderlich, die der Arbeitnehmer benötigt, um entsprechend dieser Vorgaben des Arbeitgebers das Reiseziel zu erreichen. 24 b) Überlässt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Wahl von Reisemittel und/oder Reiseverlauf, ist der Arbeitnehmer aufgrund seiner Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Vertragsteils (§ 241 Abs. 2 BGB) im Rahmen des ihm Zumutbaren verpflichtet, das kostengünstigste Verkehrsmittel bzw. den kostengünstigsten Reiseverlauf zu wählen. Bei einer Flugreise ist deshalb grundsätzlich die Reisezeit erforderlich, die bei einem Direktflug in der Economy-Class anfällt, es sei denn, ein solcher wäre wegen besonderer Umstände dem Arbeitnehmer nicht zumutbar. 25 c) Im Streitfall hat die Beklagte die Wahl des Reiseverlaufs hinsichtlich des Flugs dem Kläger überlassen. Aus den bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ergeben sich indes keine Anhaltspunkte für die Annahme, dem Kläger wäre ein Direktflug nach China in der Economy-Class nicht zumutbar gewesen. Der zusätzliche Zeitaufwand des Umwegs über Dubai samt Zwischenlandung war auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht erforderlich und deshalb nicht vergütungspflichtig. 26 d) Der Umstand, dass die Beklagte die Flüge selbst gebucht hat, macht die zusätzliche Reisezeit entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht erforderlich. Die Flugverbindungen wurden dem Wunsch des Klägers entsprechend gewählt. Mit der Buchung hat die Beklagte kein schützenswertes Vertrauen geschaffen, sie werde die hierdurch anfallenden zusätzlichen Reisezeiten vergüten, zumal der Kläger nach dem Entsendevertrag – vorbehaltlich einer gerichtlichen Klärung – die Mehrkosten für das Flugticket tragen sollte. 27 2. Neben den eigentlichen Beförderungszeiten gehört zur erforderlichen Reisezeit auch der mit der Beförderung zwingend einhergehende weitere Zeitaufwand. Bei Flugreisen sind das etwa die Wegezeiten zum und vom Flughafen sowie die Zeiten für Einchecken und Gepäckausgabe. Ob und inwieweit im Einzelfall auf solche Wegezeiten die Zeiten anzurechnen sind, die der Kläger erspart hat, weil er ohne die Reise nicht vergütungspflichtige Wege von der Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück hätte zurücklegen müssen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hat. 28 3. Nicht zur erforderlichen Reisezeit zählt hingegen rein eigennütziger Zeitaufwand des Arbeitnehmers im Zusammenhang mit der Reise. Dazu gehört zB das vom Kläger in seine Berechnung einbezogene Kofferpacken und Duschen. 29 4. Die Darlegungs- und Beweislast für die Erforderlichkeit von Reisezeiten als Voraussetzung des Vergütungsanspruchs trägt der Arbeitnehmer (vgl. – allgemein zur Darlegungs- und Beweislast im Vergütungsprozess – BAG 18. April 2012 – 5 AZR 248/11 – Rn. 12 ff., BAGE 141, 144). 30 a) Gibt der Arbeitgeber Reisemittel und -verlauf vor, genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast, indem er vorträgt, welcher Zeitaufwand ihm im Einzelnen durch die Vorgaben entstanden ist. Es ist sodann Sache des Arbeitgebers, die Tatsachen vorzubringen, aus denen sich ergeben soll, dass der vom Arbeitnehmer behauptete Zeitaufwand zur Einhaltung der Vorgaben nicht erforderlich war. Soweit der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer hinsichtlich Reisemittel und/oder Reiseverlauf Wahlmöglichkeiten lässt, muss der Arbeitnehmer die Umstände darlegen, aus denen sich ergeben soll, dass er sich für den kostengünstigsten Reiseverlauf entschieden hat oder aufgrund welcher persönlichen Umstände dieser nicht zumutbar war. 31 b) Davon ausgehend wird das Landesarbeitsgericht im fortgesetzten Berufungsverfahren – ggf. nach weiterem Sachvortrag der Parteien – insbesondere der streitig gebliebenen Frage nachgehen müssen, ob der Kläger zu den vorgegebenen Reisetagen einen kostengünstigeren Direktflug hätte nutzen können und – wenn ja – ob in der Person des Klägers Umstände vorgelegen haben, die ihm einen solchen unzumutbar machten. Außerdem sind die Dauer des vom Kläger in seine Berechnung einbezogenen Duschens und Kofferpackens festzustellen und unberücksichtigt zu lassen. Darüber hinaus erschließt sich aus dem bisherigen Vortrag des Klägers nicht, aus welchen Gründen ein Umweg mit dem Mietwagen zum Ausladen des Fahrzeugs erforderlich war. 32 IV. Soweit der Kläger danach Anspruch auf Vergütung von Reisezeiten hat, ist dieser nicht nach § 13 RTV-Bau verfallen. Davon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen. Nach seinen nicht angegriffenen Feststellungen ist die Vergütung für Reisezeiten jeweils am 15. des Folgemonats zur Zahlung fällig. Mit den beiden Geltendmachungsschreiben (zu den Anforderungen vgl. BAG 16. Januar 2013 – 10 AZR 863/11 – Rn. 24, BAGE 144, 210) hat der Kläger die erste Stufe, mit Klage und Klageerweiterung die zweite Stufe der Ausschlussfristenregelung des § 13 RTV-Bau gewahrt. Insoweit hat die Revision auch keine Angriffe erhoben.              Biebl                  Berger                  Volk                                    Menssen                  Rahmstorf
bundesarbeitsgericht
bag_12-19
12.03.2019
12.03.2019 12/19 - Unterrichtung des Betriebsrats über Arbeitsunfälle von Fremdpersonal Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber verlangen, über Arbeitsunfälle unterrichtet zu werden, die Beschäftigte eines anderen Unternehmens im Zusammenhang mit der Nutzung der betrieblichen Infrastruktur des Arbeitgebers erleiden. Die Arbeitgeberin erbringt Zustelldienste. Auf ihrem Betriebsgelände sind im Rahmen von Werkverträgen auch Arbeitnehmer anderer Unternehmen tätig. Nachdem sich zwei dieser Beschäftigten bei der Beladung von Paletten infolge wegrutschender Überladebleche verletzten, hat der Betriebsrat von der Arbeitgeberin die Vorlage von Kopien der Unfallanzeigen erbeten. Zudem will er künftig über entsprechende Arbeitsunfälle des Fremdpersonals informiert werden. Außerdem verlangt er, ihm jeweils die Unfallanzeigen zur Gegenzeichnung vorzulegen und in Kopie auszuhändigen. Die Vorinstanzen haben die darauf gerichteten Anträge des Betriebsrats abgewiesen. Seine Rechtsbeschwerde hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Nach § 89 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz muss der Betriebsrat vom Arbeitgeber bei allen im Zusammenhang mit dem Arbeitsschutz und der Unfallverhütung stehenden Fragen hinzugezogen werden. Hiermit korrespondiert ein entsprechender Auskunftsanspruch des Betriebsrats. Dieser umfasst im Streitfall auch Unfälle, die Arbeitnehmer erleiden, die weder bei der Arbeitgeberin angestellt noch deren Leiharbeitnehmer sind. Aus den Arbeitsunfällen des Fremdpersonals können arbeitsschutzrelevante Erkenntnisse für die betriebszugehörigen Arbeitnehmer, für die der Betriebsrat zuständig ist, gewonnen werden. Die auf die Unfallanzeigen bezogenen Begehren des Betriebsrats waren dagegen nicht erfolgreich. Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 12. März 2019 – 1 ABR 48/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juli 2017 – 21 TaBV 15/16 –
Tenor Auf die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats wird – unter ihrer Zurückweisung im Übrigen – der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juli 2017 – 21 TaBV 15/16 – teilweise aufgehoben und zur Klarstellung insgesamt wie folgt neu gefasst: Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird – unter ihrer Zurückweisung im Übrigen – der Beschluss des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 6. Dezember 2016 – 7 BV 206/16 – teilweise abgeändert. Der Arbeitgeberin wird aufgegeben, den Betriebsrat unverzüglich über jeden Arbeitsunfall eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma der Arbeitgeberin (Kurierfahrer oder Hallendienst) im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin zu unterrichten unter Angabe des Datums, der Uhrzeit des Unfalls, der Unfallstelle, des Unfallhergangs sowie über erlittene Verletzungen. Leitsatz Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber verlangen, über Arbeitsunfälle unterrichtet zu werden, welche Beschäftigte eines anderen Unternehmens im Zusammenhang mit der Nutzung der betrieblichen Infrastruktur des Arbeitgebers erleiden. Entscheidungsgründe 1 A. Die Beteiligten streiten über Unterrichtungs- und Vorlageansprüche des Betriebsrats im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen von Fremdpersonal. 2 Die Arbeitgeberin erbringt deutschlandweit an mehreren Standorten Kurier- und Expressdienste. Für ihre Niederlassungen in S, N und H (bei F) – der sog. Area S – ist auf der Grundlage eines Zuordnungstarifvertrags der antragstellende Betriebsrat gebildet. Dieser schloss im Juli 2007 mit der Arbeitgeberin die Betriebsvereinbarung „Regelung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes“ (BV Gesundheitsschutz). Nach deren Nr. 1 umfasst ihr „Geltungsbereich … alle Betriebe und Betriebsteile, einschließlich der ‚Inhouser‘, der Area S der DHL und gilt für alle Beschäftigten, einschließlich aller dort beschäftigten Leiharbeitnehmer, ausgenommen der leitenden Angestellten, gemäß § 5 Abs. 3, 4 BetrVG“. 3 Auf den Betriebsgeländen und in den Betriebsgebäuden der Arbeitgeberin arbeiten neben ca. 1.300 bei ihr angestellten Arbeitnehmern etwa 2.500 Beschäftigte anderer Unternehmen, im Wesentlichen als Kurierfahrer und im Hallendienst (sog. Fremdpersonal). Mit diesen Unternehmen hat die Arbeitgeberin Servicepartnerverträge geschlossen. 4 Auf dem Betriebsgelände der Niederlassung H kam es am 25. Januar 2016 und am 18. Februar 2016 zu Arbeitsunfällen von Arbeitnehmern eines Servicepartnerunternehmens. Die betroffenen Beschäftigten arbeiteten in der Halle und nutzten Betriebsmittel der Arbeitgeberin. Beim Beladen von Paletten mit einem Handhubwagen rutschte das Überladeblech weg; ein Arbeitnehmer geriet dadurch in den entstehenden Spalt zwischen Halle und Transporter und schlug sich das Schienbein auf (Unfall am 25. Januar 2016), ein anderer zog sich einen Muskelfaserriss zu (Unfall am 18. Februar 2016). Nachdem der Betriebsrat die Arbeitgeberin aufgefordert hatte, ihm die entsprechenden Unfallanzeigen vorzulegen, teilte diese ihm mit, dass sie die Unfälle nicht angezeigt habe, hierfür unfallversicherungsrechtlich nicht zuständig sei und ihr Servicepartnerunternehmen solche Anzeigen nicht zur Verfügung stelle. 5 Der Betriebsrat hat daraufhin von der Arbeitgeberin die Vorlage von Kopien der die beiden Unfälle betreffenden Anzeigen verlangt. Daneben hat er geltend gemacht, künftig über Arbeitsunfälle des Fremdpersonals auf dem Betriebsgelände oder in der Betriebshalle unter Angaben näherer Daten unterrichtet zu werden und die entsprechenden Unfallanzeigen zur Gegenzeichnung vorgelegt sowie in Kopie ausgehändigt zu bekommen. 6 Der Betriebsrat hat zuletzt sinngemäß beantragt,          1.     der Arbeitgeberin aufzugeben, ihm die Unfallanzeigen gem. § 193 SGB VII an die zuständige Berufsgenossenschaft betreffend die beiden Arbeitsunfälle auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin am 25. Januar 2016 und 18. Februar 2016 betreffend die Arbeitnehmer B und C, beide im Arbeitsverhältnis zur Fa. W GmbH („Servicepartnerfirma“ der Arbeitgeberin), diese vertreten durch ihren Geschäftsführer Herrn D, in Kopie vorzulegen,          2.     der Arbeitgeberin aufzugeben, ihn unverzüglich über jeden Arbeitsunfall mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma der Arbeitgeberin (Kurierfahrer oder Hallendienst) im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin zu unterrichten unter Angabe mindestens des Namens des betroffenen Arbeitnehmers und der Servicepartnerfirma, bei der er beschäftigt ist, und deren Anschrift, des Datums und der Uhrzeit des Unfalls, des genauen Orts des Unfalls im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände, des Unfallhergangs, der ggf. erlittenen Verletzungen und ggf. des Eintritts von Arbeitsunfähigkeit und der Namen von Unfallzeugen und dem Betriebsrat unverzüglich die zum Unfall ggf. erstellten Unterlagen vorzulegen, insbesondere bei Unfällen gem. § 6 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz die diesbezüglichen Dokumentationen zu übermitteln, sowie Kopien der Unfallanzeigen an die zuständige Berufsgenossenschaft gem. § 193 SGB VII zu übersenden bzw. auszuhändigen,          3.     der Arbeitgeberin aufzugeben, ihm bei jedem gegenüber der zuständigen Berufsgenossenschaft meldepflichtigen Arbeitsunfall mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma der Arbeitgeberin im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H (Station F) der Arbeitgeberin unverzüglich die jeweiligen Arbeitsunfallanzeigen an die zuständige Berufsgenossenschaft vor deren Erstattung zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung vorzulegen. 7 Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Bei Arbeitsunfällen von Mitarbeitern eines Servicepartnerunternehmens sei sie weder verpflichtet, eine Unfallanzeige zu erstatten, noch sich diese in Kopie vom anzeigepflichtigen Unternehmen zu beschaffen. Ebenso bestehe der geltend gemachte Unterrichtungsanspruch nicht. 8 Das Arbeitsgericht hat die Anträge abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat die Anträge weiter. 9 B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie die Abweisung der Anträge zu 1. und zu 3. betrifft. Hinsichtlich des Antrags zu 2. ist sie begründet, soweit die Vorinstanzen das Unterrichtungsverlangen vollumfänglich abgewiesen haben. Der Betriebsrat hat einen Anspruch, über Arbeitsunfälle von Beschäftigten der Servicepartnerunternehmen unterrichtet zu werden, die diese im Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände des Standorts H erleiden. Der Informationsanspruch umfasst allerdings nicht alle Daten, auf die sich der Antrag zu 2. bezieht. Die Rechtsbeschwerde war deshalb auch insoweit zurückzuweisen. Das betrifft gleichfalls die mit dem Antrag zu 2. geltend gemachten Vorlageansprüche. 10 I. Der – in der gebotenen Auslegung – zulässige Antrag zu 1. ist unbegründet. 11 1. Mit ihm begehrt der Betriebsrat die Vorlage von Kopien der Unfallanzeigen iSv. § 193 SGB VII, welche zwei in der Vergangenheit liegende, konkrete Unfallereignisse betreffen. In der Beschwerdeinstanz hat der Betriebsrat klargestellt, dass es ihm um Unfallanzeigen eines namentlich benannten Servicepartnerunternehmens geht, deren Vorlage in Kopie er von der Arbeitgeberin verlangt. Mit diesem Inhalt ist der Antrag zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. 12 2. Der Betriebsrat hat keinen Anspruch gegen die Arbeitgeberin auf Vorlage von (Kopie-)Exemplaren der die Unfallereignisse am 25. Januar 2016 und am 18. Februar 2016 betreffenden Anzeigen. 13 a) Ein solcher Anspruch folgt nicht aus § 89 Abs. 6 BetrVG. 14 aa) Nach § 89 Abs. 6 BetrVG hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat eine Durchschrift der von diesem nach § 193 Abs. 5 SGB VII zu unterschreibenden Unfallanzeige auszuhändigen. § 193 Abs. 5 Satz 1 SGB VII legt fest, dass die Unfallanzeige vom Betriebsrat mit zu unterzeichnen ist. Wird die Anzeige mittels Datenübertragung erstattet, ist anzugeben, welches Mitglied des Betriebsrats vor der Absendung von ihr Kenntnis genommen hat. Sowohl die unfallversicherungsrechtliche Mitunterzeichnungspflicht durch den Betriebsrat als auch die ihm gegenüber betriebsverfassungsrechtlich bestehende Aushändigungsverpflichtung der unterschriebenen Anzeige knüpfen an die Pflicht des Arbeitgebers iSv. § 193 Abs. 1 SGB VII an. Nach dessen Satz 1 haben „die Unternehmer … Unfälle von Versicherten in ihren Unternehmen dem Unfallversicherungsträger anzuzeigen, wenn Versicherte getötet oder so verletzt sind, dass sie mehr als drei Tage arbeitsunfähig werden“. Die Verpflichtung des § 89 Abs. 6 BetrVG bezieht sich damit auf erstattete Unfallanzeigen; sie ist nicht auf die Durchsetzung der – ausschließlich unfallversicherungsrechtlich festgelegten – Pflicht zur Anzeigenerstattung gerichtet. Bei deren Verletzung greifen ausschließlich die Bußgeldvorschriften des SGB VII ein. Das vorsätzliche oder fahrlässige Unterlassen einer Unfallanzeige nach § 193 Abs. 1 Satz 1 (oder Satz 2 iVm. Satz 1) SGB VII stellt eine Ordnungswidrigkeit iSd. § 209 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 3 SGB VII dar, deren Verfolgung und Ahndung gemäß § 210 SGB VII in der Verantwortung des örtlich zuständigen Unfallversicherungsträgers liegt. 15 bb) Hiervon ausgehend trägt § 89 Abs. 6 BetrVG den streitbefangenen Anspruch nicht. Die Arbeitgeberin hat keine diese Unfälle betreffenden Anzeigen erstattet. Es kann auch offenbleiben, ob die Arbeitgeberin von ihrem Servicepartnerunternehmen Kopien der Anzeigen zu den im Antrag zu 1. angeführten Unfällen – sollte dieses die Unfälle gemeldet haben – verlangen kann. Selbst wenn die Arbeitgeberin hierzu berechtigt wäre – was vor dem Hintergrund des Servicepartnervertrags zweifelhaft ist -, bezöge sich ihre Aushändigungsverpflichtung nach § 89 Abs. 6 BetrVG nicht auf diese, von ihr nicht erstellten Unfallanzeigen. 16 b) Die erstrebte Vorlageverpflichtung ergibt sich auch nicht aus § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG iVm. § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 9, § 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. Das Begehren des Betriebsrats ist auf etwas Unmögliches gerichtet. Die Arbeitgeberin hat beide Unfälle unstreitig weder angezeigt noch sind ihr Kopien entsprechender Anzeigen ihres Servicepartnerunternehmens zur Verfügung gestellt worden. 17 c) Der zur Entscheidung gestellte Anspruch folgt auch nicht aus der BV Gesundheitsschutz. Ungeachtet ihres Geltungsbereichs und der Frage einer Regelungskompetenz des Betriebsrats für das auf dem Betriebsgelände und in den -gebäuden tätige Fremdpersonal enthält die BV Gesundheitsschutz keine Festlegungen zu Unfallanzeigen nach § 193 SGB VII und deren Vorlage. 18 II. Der – auslegungsbedürftige – zulässige Antrag zu 2. ist dagegen teilweise begründet; zum Teil haben ihn die Vorinstanzen zu Recht abgewiesen. 19 1. Der Antrag ist zulässig. 20 a) Er umfasst drei Verfahrensgegenstände. Ausgehend vom Wortlaut des Antrags und unter Hinzuziehung seiner Begründung geht es dem Betriebsrat zunächst um die Unterrichtung über Arbeitsunfälle „mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma“ im Betriebsgebäude und in dem örtlich näher benannten Betriebsgelände unter Angabe näher bezeichneter Daten („Antrag 2a“). Zudem begehrt er die Vorlage „ggf.“ hierzu erstellter Unterlagen und die Übermittlung „insbesondere“ der Dokumentation bei einem Unfall nach § 6 Abs. 2 ArbSchG („Antrag 2b“) sowie die „Übersendung bzw. Aushändigung“ von Kopien der Unfallanzeigen iSv. § 193 SGB VII („Antrag 2c“). Beim letztgenannten Verfahrensgegenstand kann zwar dem Wortlaut des Antrags nicht entnommen werden, ob sich das Verlangen des Betriebsrats auf von der Arbeitgeberin oder von den Servicepartnerunternehmen erstellten Unfallanzeigen bezieht. Seine Ausführungen in der Beschwerde zeigen aber, dass er die von den Fremdfirmen erstatteten Unfallanzeigen meint. Er hat sein Begehren ausdrücklich damit begründet, dieses setze keine eigene Pflicht der Arbeitgeberin zur Erstattung von Anzeigen nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGB VII voraus, sondern konkretisiere ihre Pflicht zur Unterrichtung über alle Arbeitsunfälle mit Beteiligung von Arbeitnehmern eines Servicepartners. 21 b) Die Antrag zu 2. begegnet trotz seiner ausfüllungsbedürftigen Begrifflichkeiten keinen Zulässigkeitsbedenken. Sein Inhalt ist hinsichtlich aller Verfahrensgegenstände hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Passus „mit Beteiligung eines Arbeitnehmers einer Servicepartnerfirma“ beschreibt ausreichend klar, dass ausschließlich solche Arbeitsunfälle gemeint sind, die das im Betriebsgebäude und auf dem Betriebsgelände tätige Fremdpersonal erleidet. Das Verständnis der im „Antrag 2a“ verwendeten Rechtsbegriffe „Arbeitsunfall“ und „unverzüglich“ steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Der im „Antrag 2b“ enthaltene Zusatz „ggf.“ verdeutlicht, dass alle Unterlagen, die die Arbeitgeberin für unfallrelevant hält und die ihr vorliegen, auch dem Betriebsrat übermittelt werden sollen. Die „insbesondere“ vorzulegende Unterlage bezeichnet der Betriebsrat – hinreichend klar – mit einer aus seiner Sicht zu erstellenden Dokumentation iSv. § 6 Abs. 2 ArbSchG. 22 2. Dem Betriebsrat steht der mit dem „Antrag 2a“ geltend gemachte Unterrichtungsanspruch zu, allerdings nicht in dem geforderten Umfang. 23 a) Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu unterrichten. Anspruchsvoraussetzung ist zum einen, dass überhaupt eine Aufgabe des Betriebsrats gegeben ist, und zum anderen, dass die begehrte Information zur Wahrnehmung dieser Aufgabe im Einzelfall erforderlich ist. Dies hat der Betriebsrat darzulegen (vgl. BAG 8. November 2016 – 1 ABR 64/14 – Rn. 19). 24 b) Die mit dem „Antrag 2a“ beanspruchten Auskünfte haben einen hinreichenden Bezug zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Aufgabe des Betriebsrats und sind – soweit sie sachbezogene Daten betreffen – auch erforderlich. Das hat der Betriebsrat hinsichtlich seiner den Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitsunfällen betreffenden Aufgaben ausreichend aufgezeigt. 25 aa) Allerdings kann der Betriebsrat sein Begehren nicht mit Erfolg aus dem von ihm herangezogenen § 8 Abs. 1 und Abs. 2 ArbSchG – der die Zusammenarbeit mehrerer Arbeitgeber bei der Durchführung von Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen betrifft – ableiten. Zwar gehören zu seinen Aufgaben die in § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG aufgezeigten Überwachungspflichten (BAG 20. März 2018 – 1 ABR 15/17 – Rn. 16 mwN), die sich auf die Durchführung ua. der zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze iSv. konkreten Ge- oder Verboten beziehen. Ob es sich bei dieser Vorschrift um solche handelt, bedarf keiner Entscheidung. Die vom Betriebsrat von der Arbeitgeberin geforderten Angaben zu Arbeitsunfällen des Fremdpersonals lassen keinen Rückschluss auf eine Einhaltung sich ggf. aus § 8 Abs. 1 und Abs. 2 ArbSchG ergebender Pflichten der Arbeitgeberin zu. 26 bb) Hingegen hat der Betriebsrat zutreffend auf seine ua. Maßnahmen des Arbeitsschutzes betreffende Förderpflicht des § 80 Abs. 1 Nr. 9 BetrVG sowie seine – diese Aufgabe verstärkende (vgl. BAG 3. Juni 2003 – 1 ABR 19/02 – zu B II 2 a aa der Gründe, BAGE 106, 188) – besondere Pflicht gemäß § 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, sich für die Durchführung ua. der Vorschriften über die Unfallverhütung im Betrieb einzusetzen, verwiesen. Außerdem kommt ihm nach § 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG eine – mit der dort geregelten Verpflichtung des Arbeitgebers korrespondierende – Berechtigung zu, bei allen im Zusammenhang mit der Unfallverhütung stehenden Fragen hinzugezogen zu werden. 27 (1) Diese Aufgaben stellen sich für den Betriebsrat nicht (auch) in Bezug auf die Arbeitnehmer der Servicepartnerunternehmen. Etwas anders folgt – entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde – nicht aus § 80 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BetrVG, wonach die Unterrichtung des Arbeitgebers sich auf die Beschäftigung von Personen erstreckt, die nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen, und diesbezüglich „insbesondere den zeitlichen Umfang des Einsatzes, den Einsatzort und die Arbeitsaufgaben dieser Personen“ umfasst. 28 (a) § 80 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 BetrVG erfasst zwar jegliches Fremdpersonal, also auch im Betrieb eingesetzte Erfüllungsgehilfen von Werk- und Dienstleistungsunternehmen (Fitting 29. Aufl. § 80 Rn. 49 mwN). Die Vorschrift dient aber allein der Klarstellung des Personenkreises, auf den sich die Unterrichtungsverpflichtung bezieht. Mit ihr werden weder die Voraussetzungen für den allgemeinen Auskunftsanspruch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BetrVG relativiert noch die Zuständigkeit des Betriebsrats auf das im Betrieb eingesetzte Fremdpersonal erweitert. Das folgt nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus der Gesetzesbegründung. Sie stellt ausdrücklich klar, dass sich lediglich die Unterrichtungspflicht des Betriebsarbeitgebers auf das im Betrieb eingesetzte Fremdpersonal erstrecken soll. Dazu wird auf die st. Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 15. Dezember 1998 – 1 ABR 9/98 -) verwiesen, wonach ein Betriebsrat im Stande sein muss zu prüfen, ob die in Bezug auf Fremdpersonal zu erteilenden Auskünfte erforderlich sind, um betriebsverfassungsrechtliche Beteiligungsrechte hinsichtlich der von ihm repräsentierten betriebszugehörigen Arbeitnehmer ausüben zu können (BT-Drs. 14/5741 S. 46). Damit verlangt auch der auf Fremdpersonal bezogene Unterrichtungsanspruch, dass ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats hinsichtlich der betriebszugehörigen Arbeitnehmer in Betracht kommt. 29 (b) Für die betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben des Betriebsrats im Bereich des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung gilt nichts anderes (aA Julius Arbeitsschutz und Fremdfirmenbeschäftigung Diss. S. 174; diff. Karthaus/Klebe NZA 2012, 417 ff.; Schulze-Doll/Paschke Arbeitsschutz für Fremdpersonal im Rahmen von Werkverträgen und unter besonderer Berücksichtigung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in: Gesellschaftliche Bewegungen – Recht unter Beobachtung und in Aktion, S. 506 ff.; DKKW-Buschmann 16. Aufl. § 80 Rn. 7). Diese Aufgaben beziehen sich auf die betriebszugehörigen Arbeitnehmer. Damit erstrecken sie sich zwar regelmäßig auch auf in den Betrieb eingegliederte Leiharbeitnehmer. So obliegt etwa die Wahrnehmung allgemeiner arbeitsplatzbezogener Überwachungsaufgaben nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG dem Betriebsrat des Entleiherbetriebs (dazu BAG 15. Oktober 2014 – 7 ABR 74/12 – Rn. 29, BAGE 149, 286). Ähnliches gilt für den Mitbestimmungstatbestand des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (dazu BAG 7. Juni 2016 – 1 ABR 25/14 – Rn. 10 ff., BAGE 155, 215). Für einen nicht auf Arbeitnehmerüberlassung gründenden Drittpersonaleinsatz gilt das aber nicht. Für diesen greift gerade nicht die explizit geregelte Verantwortlichkeit hinsichtlich des Arbeitsschutzes gemäß § 11 Abs. 6 AÜG, nach dessen Satz 1 die Tätigkeit des Leiharbeitnehmers bei dem Entleiher den für den Betrieb des Entleihers geltenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Arbeitsschutzrechts unterliegt und die sich hieraus ergebenden Pflichten für den Arbeitgeber dem Entleiher unbeschadet der Pflichten des Verleihers obliegen. 30 (c) Die auf die Richtlinie des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (Richtlinie 89/391/EWG) gestützten unionsrechtlichen Erwägungen des Betriebsrats tragen keine andere Sichtweise. Für die Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG kommt es nicht auf den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 89/391/EWG an. Entscheidend ist der Bezug zu Aufgaben des Betriebsrats. Dessen spezifische Unfallverhütungsaufgaben sind auf den Betrieb und die von ihm repräsentierten Beschäftigten begrenzt. 31 (2) Hingegen bedingen die auf die betriebszugehörigen Arbeitnehmer bezogenen gesetzlichen Aufgaben des Betriebsrats zum Unfallschutz und zur Unfallverhütung nach § 80 Abs. 1 Nr. 9, § 89 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BetrVG vor dem Hintergrund der Zusammenarbeit der Arbeitgeberin mit den Servicepartnerunternehmen dessen Unterrichtung über Arbeitsunfälle von auf dem Betriebsgelände und im Betriebsgebäude tätigen Arbeitnehmern, welche weder bei der Arbeitgeberin angestellt noch ihr zur Arbeitsleistung überlassen sind. 32 (a) Der Betriebsrat hat sich ua. für die Durchführung der Vorschriften über den Arbeitsschutz und die Unfallverhütung im Betrieb „einzusetzen“ (§ 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Entsprechend ist sein Hinzuziehungsrecht nach § 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG umfassend ausgestaltet; es bezieht sich – neben den Unfalluntersuchungen – auf „allen im Zusammenhang mit … der Unfallverhütung“ stehende „Besichtigungen“ und „Fragen“. Die letztgenannte Formulierung zeigt, dass unabhängig von konkreten Besichtigungen und Unfalluntersuchungen die Beteiligung des Betriebsrats im Bereich der Unfallverhütung weitreichend gewährleistet sein soll. 33 (b) Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben einschließlich des spezifischen Konsultationsrechts sind in Anbetracht der vorliegenden Gegebenheiten Informationen des Betriebsrats über Arbeitsunfälle des Fremdpersonals auf dem Betriebsgelände oder in der Betriebshalle unerlässlich. Hieraus können unfallverhütungsrelevante Erkenntnisse für die betriebszugehörigen Arbeitnehmer gewonnen werden. Die bei Servicepartnerunternehmen beschäftigten Arbeitnehmer nutzen mit der Betriebshalle und dem Betriebsgelände dieselbe betriebliche Infrastruktur, innerhalb derer sich Unfallgefahren verwirklichen können und bereits verwirklicht haben. Sie setzen überdies dieselben sächlichen Betriebsmittel (etwa Überladebleche) ein wie die vom Betriebsrat repräsentierten betriebszugehörigen Arbeitnehmer. Auf deren Zusammenarbeit oder Zusammenwirken mit dem Fremdpersonal kommt es nicht an. Die von der Rechtsbeschwerde gegen die entsprechenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts erhobenen Rügen sind deshalb nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist, dass die Arbeitnehmer der Servicepartner ihre Arbeitsleistung in den Räumlichkeiten und mit den Arbeitsmitteln erbringen wie auch die Arbeitnehmer der Arbeitgeberin. Kommt es dabei zu Arbeitsunfällen, sind das Unfallgeschehen und die Ursachensuche Angelegenheiten der Unfallverhütung („Lernen aus dem Unfall“) auch für die „eigenen“ Arbeitnehmer der Arbeitgeberin. 34 (c) Zur Aufgabenwahrnehmung sind aber nicht sämtliche vom Betriebsrat beanspruchte Angaben erforderlich. 35 (aa) Die verlangten sachbezogenen Daten (Angabe des Datums, der Uhrzeit des Unfalls, der Unfallstelle, des Unfallhergangs sowie über erlittene Verletzungen) lassen ohne weiteres unfallverhütungsrelevante Rückschlüsse zu. So vermögen Unfallzeitpunkt und Unfallstelle besondere Gefahrenquellen – wie etwa Lichtverhältnisse oder Witterungseinflüsse – erkennen zu lassen. Der Unfallhergang kann ebenso wie erlittene Verletzungen Aufschlüsse über technische, organisatorische und verhaltensbedingte Unfallursachen geben, die für die Unfallverhütung von Belang sind. 36 (bb) Das gilt aber nicht für die weitergehend verlangten Daten (Name des betroffenen Arbeitnehmers und der Servicepartnerfirma, bei der er beschäftigt ist, sowie deren Anschrift; Eintritt von Arbeitsunfähigkeit und Namen von Unfallzeugen). Anhand des Vorbringens des Betriebsrats sind deren Erforderlichkeit für die Aufgabenwahrnehmung nicht ersichtlich. Soweit er annimmt, er müsse auch eigenständige Aufklärungsmaßnahmen wie die Befragung der verunfallten Arbeitnehmer sowie von Zeugen ergreifen, verkennt er, dass er nach § 89 Abs. 2 Satz 1 BetrVG bei Unfalluntersuchungen „hinzuzuziehen“ ist. Das betrifft zwar die Konsultation bei allen – vom Betriebsrat ggf. auch anzuregenden – Aufklärungsmaßnahmen, also etwa bei der Befragung des Verunfallten, bei Zeugenvernehmungen, bei der Anhörung von Sachverständigen und bei einer Begehung des Unfallorts (ErfK/Kania 19. Aufl. § 89 BetrVG Rn. 7). Die Hinzuziehungsberechtigung begründet aber – ebenso wenig wie § 80 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 9 und § 89 Abs. 1 Satz 1 BetrVG – keine autarke und separierte Ermittlungsobliegenheit des Betriebsrats. 37 c) Einen weitergehenden Informationsanspruch vermag der Betriebsrat nicht auf die von ihm herangezogene Aufgabe der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG oder auf die BV Gesundheitsschutz zu stützen. Der Betriebsrat übersieht, dass allgemeine Verweise auf Mitbestimmungsrechte oder auf gesetzliche bzw. aus einer Betriebsvereinbarung folgende Aufgaben und Rechte untauglich sind, die Erforderlichkeit der beanspruchten Auskünfte zu begründen. Es muss sich aus seinem Vorbringen vielmehr ergeben, aus welchen Gründen er die verlangten Angaben und Daten zur Erfüllung einer sich stellenden Aufgabe benötigt (vgl. dazu auch BAG 20. März 2018 – 1 ABR 11/17 – Rn. 39, BAGE 162, 115). 38 3. Der mit dem Antrag zu 2. auf „ggf.“ erstellte Unterlagen und „insbesondere“ die Dokumentation iSv. § 6 Abs. 2 ArbSchG bezogene Vorlageanspruch besteht nicht. Der Betriebsrat kann nicht „ins Blaue hinein“ eine Vorlage von Unterlagen beanspruchen, von denen er selbst nicht behauptet, dass sie die Arbeitgeberin erstellt. Außerdem lässt er jeglichen Vortrag dahingehend vermissen, inwieweit es sich – neben der geltend gemachten Unterrichtung – um ein auf erforderliche Unterlagen gerichtetes Verlangen handeln soll (vgl. zu diesem Erfordernis etwa BAG 20. März 2018 – 1 ABR 74/16 – Rn. 30). 39 4. Der auf Kopien der Unfallanzeigen nach § 193 SGB VII bezogene Antrag zu 2. ist gleichfalls unbegründet. Der Aushändigungsanspruch nach § 89 Abs. 6 BetrVG besteht für von der Arbeitgeberin und nicht für von deren Servicepartnerunternehmen erstatte Unfallanzeigen. Für einen auf § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG gestützten Vorlageanspruch fehlt es an Vorbringen zur Erforderlichkeit der begehrten Kopien für die Aufgabendurchführung. Ungeachtet dessen hat der Betriebsrat nicht einmal behauptet, die Servicepartnerunternehmen würden die von ihnen gefertigten Unfallanzeigen der Arbeitgeberin im Abdruck überlassen oder zur Verfügung stellen. 40 III. Schließlich ist auch der Antrag zu 3. zulässig, aber unbegründet. 41 1. Mit diesem Antrag fordert der Betriebsrat für alle bei der zuständigen Berufsgenossenschaft meldepflichtigen Arbeitsunfälle des Fremdpersonals im Betriebsgebäude oder auf dem näher bezeichneten Betriebsgelände die Vorlage einer Unfallanzeige zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung. Dieses Begehren bezieht sich – anders als bei den Anträgen zu 1. und zu 2. – nicht auf die Kopien, sondern die Originale von unfallversicherungsrechtlichen Unfallanzeigen. Zwar kann dem Antragswortlaut nicht entnommen werden, wessen Unfallanzeige der Betriebsrat zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung vorgelegt verlangt. Aus seinem Vorbringen ergibt sich jedoch, dass er sein Begehren auf Unfallanzeigen „der Arbeitgeberin“ bezieht. 42 2. Der so verstandene Antrag ist zulässig. Es genügt den Bestimmtheitserfordernissen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Über die inhaltliche Reichweite der verwandten Rechtsbegriffe („zuständige Berufsgenossenschaft“; „meldepflichtiger Arbeitsunfall“; „unverzüglich“) bestehen keine Meinungsverschiedenheiten der Beteiligten. 43 3. Der erstrebte Anspruch besteht nicht. Ein solcher käme allein nach § 193 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VII in Betracht, wonach eine Unfallanzeige vom Betriebsrat mit zu unterzeichnen ist. Das gilt aber nur für Anzeigen, die nach § 193 Abs. 1 bis Abs. 3 SGB VII erstattet werden. Die Arbeitgeberin zeigt Unfälle des Fremdpersonals in ihrem Betriebsgebäude oder auf dem Betriebsgelände nicht an. Entsprechend kann und muss sie auch dem Betriebsrat keine Unfallanzeige „zur Überprüfung, Kenntnisnahme und Mitunterzeichnung“ vorlegen. Sollte sie in Verkennung einer unfallversicherungsrechtlichen Pflichtenlage die Unfallanzeigen unterlassen, handelte sie ggf. ordnungswidrig. Der Betriebsrat vermag die Arbeitgeberin aber nicht durch die Geltendmachung einer Unterzeichnungsberechtigung bei der Unfallanzeige zur Erstellung einer solchen anzuhalten.              Schmidt                  Ahrendt                  K. Schmidt                                    Dr. Klebe                  Benrath
bundesarbeitsgericht
bag_24-20
28.07.2020
28.07.2020 24/20 - Entgelttransparenzgesetz - Anspruch des Betriebsrats im Hinblick auf Bruttoentgeltlisten Nach den Vorgaben im Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) ist der Betriebsrat in das individuelle Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit durch die Beantwortung von Auskunftsverlangen der Beschäftigten eingebunden. Zu diesem Zweck ist ein von ihm gebildeter Betriebsausschuss berechtigt, Bruttoentgeltlisten des Arbeitgebers einzusehen und auszuwerten (§ 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG)*. Dieses Einsichts- und Auswertungsrecht besteht daher nicht, wenn der Arbeitgeber die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung berechtigterweise an sich gezogen hat. Die Arbeitgeberin ist ein Telekommunikationsunternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten. Nach Inkrafttreten des EntgTranspG machte sie von der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, die Verpflichtung zur Erfüllung von Auskunftsverlangen der Beschäftigten generell zu übernehmen. Über die in der ersten Jahreshälfte 2018 geltend gemachten Auskunftsverlangen informierte sie den Betriebsrat und gewährte ihm Einblick in spezifisch aufbereitete Bruttoentgeltlisten. Diese waren nach Geschlecht aufgeschlüsselt und wiesen sämtliche Entgeltbestandteile auf. Der Betriebsrat hat unter Hinweis auf § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG verlangt, die Listen dem Betriebsausschuss in bestimmten elektronischen Dateiformaten zur Auswertung zu überlassen. Die Vorinstanzen haben das Begehren abgewiesen. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das Einsichts- und Auswertungsrecht in § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG korrespondiert mit der nach der Grundkonzeption des EntgTranspG dem Betriebsrat zugewiesenen Aufgabe, individuelle Auskunftsansprüche von Beschäftigten zu beantworten. Es besteht daher nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Arbeitgeber diese Aufgabe selbst erfüllt. Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 28. Juli 2020 – 1 ABR 6/19 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 8 TaBV 42/18 – Die maßgeblichen Vorschriften des Entgelttransparenzgesetzes lauten wie folgt: „§ 13 (1)1Im Rahmen seiner Aufgabe nach § 80 Absatz 1 Nummer 2a des Betriebsverfassungsgesetzes fördert der Betriebsrat die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Betrieb. 2Dabei nimmt der Betriebsrat insbesondere die Aufgaben nach § 14 Absatz 1 und § 15 Absatz 2 wahr. … (2)1Der Betriebsausschuss nach § 27 des Betriebsverfassungsgesetzes oder ein nach § 28 Absatz 1 Satz 3 des Betriebsverfassungsgesetzes beauftragter Ausschuss hat für die Erfüllung seiner Aufgaben nach Absatz 1 das Recht, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter im Sinne des § 80 Absatz 2 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes einzusehen und auszuwerten. …“
Tenor Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 23. Oktober 2018 – 8 TaBV 42/18 – wird zurückgewiesen. Leitsatz Das entgeltlistenbezogene Einsichts- und Auswertungsrecht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG ist an die Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung individueller Auskunftsverlangen nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG gebunden. Es besteht nicht, wenn der Arbeitgeber die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung berechtigterweise an sich gezogen hat. Entscheidungsgründe 1 A. Die Beteiligten streiten über die Übergabe von Bruttoentgeltlisten. 2 Die Zentralverwaltung der Arbeitgeberin ist ein Betrieb mit mehr als 4.000 Beschäftigten. Dort ist ein 27-köpfiger Betriebsrat gewählt. Dieser hat einen Betriebsausschuss gebildet. 3 Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern (Entgelttransparenzgesetz – EntgTranspG -) hat die Arbeitgeberin von der dort vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Verpflichtung zur Erfüllung individueller Auskunftsverlangen von Beschäftigten generell zu übernehmen. Sie unterrichtet den Betriebsrat regelmäßig über konkrete Auskunftsverlangen und deren Beantwortung. In diesem Zusammenhang gewährt sie Einblick in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter, welche nach Geschlecht aufgeschlüsselt die Entgeltbestandteile einschließlich übertariflicher Zulagen und individuell ausgehandelter Zahlungen enthalten. Die Listen können entweder auf einem zur Verfügung gestellten Rechner als PDF-Datei oder als Ausdruck eingesehen werden. Es besteht die Möglichkeit, sich Notizen zu machen und Berechnungen anzustellen. 4 Der Betriebsrat hat in dem von ihm eingeleiteten Verfahren die Übergabe dieser Entgeltlisten an den Betriebsausschuss geltend gemacht. § 13 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG weise ihm die Aufgabe zu, die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Betrieb zu fördern. Dazu sei der Betriebsausschuss nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG berechtigt, die Bruttoentgeltlisten einzusehen und auszuwerten. Das Auswertungsrecht umfasse auch die Herausgabe der Listen in bearbeitungsfähigen Dateiformaten, hilfsweise in einer anderen auswertbaren (Papier-)Form. 5 Der Betriebsrat hat – soweit für die Rechtsbeschwerde noch von Interesse – zuletzt sinngemäß beantragt,          die Arbeitgeberin zu verpflichten, dem Betriebsausschuss für die nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG vorzunehmende Auswertung Listen über die Bruttoentgelte aller betriebsangehörigen Arbeitnehmer mit Ausnahme der leitenden Angestellten elektronisch im Format *.xls oder *.txt zu übergeben, die nach Geschlecht aufgeschlüsselt alle Entgeltbestandteile aller Arbeitnehmer des Betriebs enthalten, einschließlich übertariflicher Zulagen und solcher Zahlungen, die individuell ausgehandelt und gezahlt werden;          hilfsweise die Arbeitgeberin zu verpflichten, dem Betriebsausschuss die im Hauptantrag genannte Liste zu diesem Zweck in gedruckter Papierform zu übergeben, die geeignet ist, den Inhalt der Liste mittels elektronischer Zeichenerkennung (OCR) in elektronisches Format umzuwandeln. 6 Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Einsichts- und Auswertungsberechtigung nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG erweitere nicht den allgemeinen betriebsverfassungsrechtlichen Anspruch aus § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG um ein Recht auf Überlassung der Listen über die Bruttolöhne und -gehälter. 7 Das Arbeitsgericht hat die Anträge abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat sein Begehren weiter. 8 B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen dem in der Rechtsbeschwerde noch anfallenden Begehren des Betriebsrats nicht entsprochen. Der zulässige Hauptantrag ist unbegründet. Der Hilfsantrag fällt nicht zur Entscheidung an. 9 I. Der hauptsächlich gestellte Antrag ist – entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin – zulässig. 10 1. Er bedarf allerdings der Auslegung. 11 a) Der Betriebsrat bezieht die begehrte Übergabeverpflichtung nach ihrer sprachlichen Fassung auf Listen über Bruttoentgelte mit einem näher beschriebenen Inhalt. Damit sind die Listen bezeichnet, die von der Arbeitgeberin nach Maßgabe des § 13 Abs. 3 Satz 1 EntgTranspG aufbereitet werden und in die sie Einsicht gewährt. Es fehlt an jeglichem Anhaltspunkt, dass der Betriebsrat die Übergabe inhaltlich anderer – von der Arbeitgeberin noch herzustellender – Listen erstrebt. 12 b) Die Übergabe der bei der Arbeitgeberin bereits vorgehaltenen Listen soll in spezifischen Dokument-Dateitypen („elektronisch im Format *.xls oder *.txt“) erfolgen. Diese entsprechen nicht dem Dateiformat bei der gewährten Einsichtnahme (PDF-Datei oder Ausdruck). Damit sind sie Bestandteil der beanspruchten Verpflichtung. 13 c) Die – ausdrücklich erst in der Beschwerdeinstanz formulierte – Herausnahme der leitenden Angestellten bei der Listenbeschreibung hat lediglich klarstellenden Charakter. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Betriebsrat ein Rechtsschutzziel verfolgt, das über seinen Zuständigkeitsbereich hinausginge. 14 d) Soweit im Antrag der Übergabezweck angeführt ist, handelt es sich um ein bloßes Element der Antragsbegründung. Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass die streitbefangenen Entgeltlisten mit keiner anderen Intention als der ihrer Auswertung unter den Gesichtspunkten des EntgTranspG übergeben werden sollen. Streitig ist nach ihrem Vorbringen vielmehr, ob das Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG eine Pflicht der Arbeitgeberin zur Listenübergabe an den Betriebsausschuss begründet. Zwar „übermittelt“ die Arbeitgeberin die Entgeltlisten bereits in dem Sinn, als sie im PDF-Format eingesehen werden können und Gelegenheit besteht, Notizen zu fertigen und Berechnungen anzustellen. Es geht dem Betriebsrat aber um die Weitergabe der die Bruttoentgeltlisten darstellenden Daten in den bezeichneten Dateiformaten an den Betriebsausschuss zu dessen Verfügung. 15 2. In diesem Verständnis ist der Antrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Anders als die Arbeitgeberin eingewandt hat, ist das Übergabeverlangen nicht deshalb unzulänglich beschrieben, weil hinsichtlich der Entgeltlisten der Zeitpunkt des dort abzubildenden Personalbestands unklar wäre. Es geht dem Betriebsrat um keine anderen Listen als die, in welche die Arbeitgeberin – auch nach ihrem eigenen Vortrag – Einsicht gewährt. 16 II. Der Hauptantrag ist unbegründet. 17 1. Die Arbeitgeberin ist nicht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG zur Übergabe der Bruttoentgeltlisten verpflichtet. Dabei kann offenbleiben, ob das nach dieser Vorschrift bestehende Recht, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter iSd. § 80 Abs. 2 Satz 2 BetrVG einzusehen und auszuwerten, einen Anspruch auf deren Übergabe gewährt. Jedenfalls korrespondiert es mit der Aufgabe des Betriebsrats nach § 14 Abs. 1 Satz 1 bis Satz 3 EntgTranspG (bei tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern) bzw. nach § 15 Abs. 2 iVm. § 14 Abs. 1 Satz 1 bis Satz 3 EntgTranspG (bei nicht tarifgebundenen und nicht tarifanwendenden Arbeitgebern) im Zusammenhang mit der Erfüllung einer Auskunftsverpflichtung nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG. Es besteht daher nicht, wenn es der Arbeitgeber – wie im vorliegenden Fall – nach § 14 Abs. 2 Satz 1 bzw. § 15 Abs. 2 EntgTranspG übernommen hat, die Auskunft selbst zu erteilen. 18 a) Entsprechend dem im Abschnitt 2 des EntgTranspG geregelten individuellen Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit haben Beschäftigte nach §§ 10 ff. EntgTranspG in Betrieben mit in der Regel mehr als 200 Beschäftigten bei demselben Arbeitgeber einen inhaltlich mit näheren Maßgaben versehenen individuellen Auskunftsanspruch. In dieses Verfahren ist der Betriebsrat eingebunden. An ihn wenden sich Beschäftigte tarifgebundener und tarifanwendender Arbeitgeber für ihr Auskunftsverlangen (§ 14 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG). Entsprechendes gilt für Beschäftigte nicht tarifgebundener und nicht tarifanwendender Arbeitgeber (§ 15 Abs. 2 EntgTranspG). Damit ist der Betriebsrat für die Erteilung der Auskunft grundsätzlich zuständig, wobei er die Verpflichtung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 EntgTranspG auf den Arbeitgeber übertragen kann. Der Arbeitgeber seinerseits ist berechtigt, nach Maßgabe von § 14 Abs. 2, § 15 Abs. 2 EntgTranspG die Erfüllung der Auskunftspflicht generell oder im Einzelfall an sich zu ziehen. 19 b) § 13 Abs. 2 und Abs. 3 EntgTranspG flankiert die von § 14 Abs. 1 und § 15 Abs. 2 EntgTranspG vorgesehene Stellung des Betriebsrats als Adressat eines individuellen Auskunftsverlangens nach § 10 Abs. 1 EntgTranspG (BAG 7. Mai 2019 – 1 ABR 53/17 – Rn. 28, BAGE 166, 309). Hat der Arbeitgeber entsprechend der ihm gesetzlich eröffneten Möglichkeit die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung an sich gezogen, besteht das Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG nicht. Dieses ist an die Zuständigkeit des Betriebsrats für die Auskunftserteilung gebunden. Das geben Systematik und der Zweck der Norm vor. 20 aa) Allerdings lässt der Normwortlaut mehrere inhaltliche Deutungen zu. 21 (1) Er ist unmissverständlich dahingehend, dass das Recht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG, die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter iSd. § 80 Abs. 2 Satz 2 BetrVG einzusehen und auszuwerten, aufgabengebunden ist. Das legt bereits die Überschrift von § 13 EntgTranspG nahe, die dessen Regelungsgegenstände mit „Aufgaben und Rechte des Betriebsrates“ zusammenfasst. Den entsprechenden Aufgabenbezug verdeutlicht vor allem die Präposition „für“ im Zusammenhang mit dem textlichen Ausdruck „die Erfüllung seiner Aufgaben“. Das Possessivpronomen „seiner“ bezieht sich zwar grammatikalisch gesehen auf den dort angeführten Betriebsausschuss bzw. den nach § 28 Abs. 1 Satz 3 BetrVG beauftragten Ausschuss; diese werden jedoch insoweit anstelle des Betriebsrats tätig. 22 (2) Die Aufgaben selbst sind mit der inhaltsbezogenen Verweisung „nach Absatz 1“ beschrieben. Allerdings ist der gesamte „Absatz 1“ von § 13 EntgTranspG rechtstechnisch von vornherein ein nur bedingt verweisungstauglicher Text, denn sein Satz 3 beschreibt keine Aufgaben, sondern bestimmt, dass betriebsverfassungsrechtliche, tarifrechtliche oder betrieblich geregelte Verfahren unberührt bleiben. 23 (3) Soweit auf Satz 1 und Satz 2 von § 13 Abs. 1 EntgTranspG Bezug genommen wird, gibt deren Normtext ein bestimmtes inhaltliches Verständnis nicht zwingend vor. Die Formulierung, wonach der Betriebsrat „[i]m Rahmen seiner Aufgabe nach § 80 Absatz 1 Nummer 2a des Betriebsverfassungsgesetzes … die Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Betrieb“ fördert, wobei er „insbesondere die Aufgaben nach § 14 Absatz 1 und § 15 Absatz 2“ EntgTranspG wahrnimmt, deutet zwar darauf hin, dass das Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG unabhängig davon besteht, ob der Betriebsrat die Auskunft zu erteilen hat oder ob – so in Betrieben unterhalb des Schwellenwerts von in der Regel mehr als 200 Beschäftigten – ein individueller Auskunftsanspruch iSv. §§ 10 ff. EntgTranspG überhaupt geltend gemacht werden kann (so MHdB ArbR/Arnold 4. Aufl. § 314 Rn. 34; Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 13 EntgTranspG Rn. 18; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. Juni 2020 EntgTranspG § 13 Rn. 5; DKW/Buschmann 17. Aufl. § 80 Rn. 130a; ErfK/Schlachter 20. Aufl. EntgTranspG § 13 Rn. 3; Weber GK-BetrVG 11. Aufl. § 80 Rn. 130; Günther/Heup/Mayr NZA 2018, 545, 547; HWK/Thies 9. Aufl. § 13 EntgTranspG Rn. 3; Kania NZA 2017, 819, 820; Kocher AuR 2018, 8, 15; Kuhn/Schwindling DB 2018, 509, 515; Oerder/Wenckebach EntgTranspG § 13 Rn. 4). Allerdings verschließt sich diese Aufgabenbeschreibung sprachlich auch keinem Verständnis dahingehend, dass mit Satz 1 von § 13 Abs. 1 EntgTranspG der bereits in § 80 Abs. 1 Nr. 2a BetrVG enthaltene Aspekt der Förderung einer Durchsetzung von Entgeltgleichheit – aus Gründen der Klarstellung – angeführt ist. Denn § 80 Abs. 1 Nr. 2a BetrVG zählt seinerseits bei der dort festgelegten Förderaufgabe des Betriebsrats zur Durchsetzung der tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter die hierfür einschlägigen Bereiche (Einstellung, Beschäftigung, Aus-, Fort- und Weiterbildung und beruflicher Aufstieg) nicht abschließend auf. Mit dem Adverb „insbesondere“ in Satz 2 von § 13 Abs. 1 EntgTranspG können daher auch lediglich die in § 14 Abs. 1 und § 15 Abs. 2 EntgTranspG geregelten spezifischen Zuständigkeitsaufgaben des Betriebsrats besonders betont sein, deren Wahrnehmung das Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG dient. 24 bb) Für letzteres Verständnis spricht die Normsystematik. Nach § 13 Abs. 2 Satz 2 EntgTranspG kann der einsichts- und auswertungsberechtigte Ausschuss „mehrere Auskunftsverlangen bündeln und gemeinsam behandeln“. Die gliederungsmäßige Stellung dieser Berechtigung lässt darauf schließen, das im Satz 1 der Vorschrift geregelte Einsichts- und Auswertungsrecht in Abhängigkeit von der Zuständigkeit des Betriebsrats zur Beantwortung von Auskunftsverlangen zu verstehen. Zudem kann zumindest § 13 Abs. 5 EntgTranspG ein sinnvoller Regelungsgehalt nur dann beigemessen werden, wenn entweder der Arbeitgeber von der ihm möglichen Übernahme der Beantwortung von Auskunftsverlangen keinen Gebrauch gemacht oder der Betriebsrat Entsprechendes nicht verlangt hat. Auch § 13 Abs. 4 EntgTranspG knüpft an Auskunftsverlangen – hier der leitenden Angestellten – an. 25 cc) Gesetzessystematische Überlegungen stützen dieses Verständnis. 26 (1) Die Regelungen des mit „Aufgaben und Rechte des Betriebsrates“ überschriebenen § 13 EntgTranspG finden sich im Gesetzesabschnitt „Individuelle Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit“. In diesem Abschnitt sind der Auskunftsanspruch und hierzu die Anspruchsberechtigung, Formalien, Bezugspunkt, Gegenstand und Reichweite ebenso festgelegt wie ein Verfahren zur Geltendmachung und Behandlung von Auskunftsverlangen mit regelhafter – vom Arbeitgeber sowie Betriebsrat aber auch „verzichtbarer“ – Einbindung des Betriebsrats. Sämtliche Vorschriften des § 13 EntgTranspG dürften damit eher die spezifischen Rechte und Aufgaben des Betriebsrats bei seiner regelhaften Verfahrenseinbindung betreffen. Dies zeigt auch § 10 Abs. 3 EntgTranspG, wonach ein Auskunftsverlangen mit einer Antwort „nach Maßgabe der §§ 11 bis 16“ – was die Regelungen in § 13 EntgTranspG einschließt – erfüllt ist. Ebenso nimmt § 14 Abs. 1 Satz 2 EntgTranspG – im unmittelbaren Anschluss an die in Satz 1 festgelegte Zuständigkeit des Betriebsrats für Auskunftsverlangen im Verfahren bei tarifgebundenen und tarifanwendenden Arbeitgebern – Bezug auf § 13 EntgTranspG. Die dort angesprochenen „Vorgaben … nach § 13“ greifen also im Zusammenhang mit einem Auskunftsverlangen von Beschäftigten. 27 (2) Ein systematischer Normtextvergleich von § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG mit § 15 Abs. 4 Satz 5 EntgTranspG gebietet keine bestimmte Lesart. Die besondere Informationsverpflichtung des nicht tarifgebundenen und nicht tarifanwendenden Arbeitgebers nach § 15 Abs. 4 Satz 5 EntgTranspG knüpft zwar ausdrücklich an die Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung des Auskunftsverlangens an („[s]oweit“). Ein Gegenschluss zu § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG ist aber nicht zwingend, weil Satz 5 von § 15 Abs. 4 EntgTranspG nicht die Entgeltlisteneinsicht und -auswertung betrifft, sondern die Bereitstellung erforderlicher Informationen regelt. 28 (3) Der Umstand, dass die Übergangsbestimmung des § 25 Abs. 1 EntgTranspG allein den Auskunftsanspruch nach § 10 EntgTranspG – und nicht auch § 13 EntgTranspG – in Bezug nimmt, ist nicht aussagekräftig. Versteht man die Einsichts- und Auswertungsberechtigung als ein mit der Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung von Auskunftsverlangen korrespondierendes Recht, wäre eine gesonderte Übergangsbestimmung überflüssig. Aus ihrem Fehlen vermag daher nichts abgeleitet zu werden. 29 (4) Die auf Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 3 von § 13 EntgTranspG bezogene textvergleichende Regelungssystematik führt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Norm des § 13 Abs. 3 Satz 3 EntgTranspG legt die inhaltlichen Anforderungen für die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Aufbereitung der Entgeltlisten fest. Die Formulierung in § 13 Abs. 3 EntgTranspG, die nicht ausdrücklich aufgabenbezogen ist, zwingt jedoch nicht zu dem Gegenschluss, bei den von § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG angesprochenen Aufgaben müsse es sich um weitergehende als die der Auskunftserteilung handeln. 30 dd) Sinn und Zweck des Einsichts- und Auswertungsrechts streiten deutlich dafür, dass es eine Zuständigkeit des Betriebsrats für die Beantwortung individueller Auskunftsverlangen voraussetzt. 31 (1) Damit der Betriebsrat individuelle Auskunftsansprüche der Beschäftigten nach § 10 EntgTranspG ordnungsgemäß erfüllen kann, bedarf es einer Berechtigung, die Entgeltlisten nicht nur einzusehen, sondern auch auszuwerten. Das ist durch den gesetzlichen Mindestinhalt und -umfang der Auskunft vorgegeben (§ 11 EntgTranspG). Die inhaltlichen Anforderungen an die Auskunftserteilung begründen einen spezifischen Informationsbedarf des nach der Regelkonzeption des EntgTranspG für die Beantwortung von Auskunftsverlangen zuständigen Betriebsrats. Im Hinblick darauf ist mit § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG eine über das Einblicksrecht des § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG hinausgehende entgeltlistenbezogene Auswertungsberechtigung festgelegt (vgl. zB ErfK/Schlachter 20. Aufl. EntgTranspG § 13 Rn. 3). Eine solche Notwendigkeit der Entgeltlistenauswertung ist der – genereller verfassten – Aufgabe des Betriebsrats zur Förderung der Durchsetzung der Entgeltgleichheit nicht in vergleichbarer Weise immanent. Hierzu bedarf es vielmehr der Darlegung des Betriebsrats, für welche konkreten Förderungsmaßnahmen bestimmte Auskünfte benötigt werden (vgl. dazu zB BAG 24. April 2018 – 1 ABR 6/16 – Rn. 34). Das gilt auch, wenn die – nach ihrem eindeutigen Wortlaut – auf eine „Förderung“ der Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern gerichtete Aufgabe des Betriebsrats eine solche zur Überwachung der Einhaltung des Entgeltgleichheitsgebots enthielte. Ungeachtet dessen, dass eine entsprechende Überwachungsaufgabe nicht aus § 80 Abs. 1 Nr. 2a BetrVG oder § 13 Abs. 1 Satz 1 EntgTranspG folgte, sondern aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (vgl. zB BAG 26. September 2017 – 1 ABR 27/16 – Rn. 17), stünde auch sie unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit einer Auswertung der Bruttoentgeltlisten. Hierfür reichten weder allgemein gehaltene Hinweise auf gesetzliche Aufgaben unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts aus noch wäre die Erforderlichkeit allein mit dem Bestehen einer Überwachungsaufgabe impliziert (vgl. zB BAG 9. April 2019 – 1 ABR 51/17 – Rn. 16 ff., BAGE 166, 269). 32 (2) Die in den Gesetzesmaterialien verlautbarte Intention des Gesetzgebers zeigt deutlich die Bindung des Einsichts- und Auswertungsrechts an die regelhaft dem Betriebsrat zugewiesene Aufgabe der Erfüllung von Auskunftsverpflichtungen. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bestimmt der in „sechs Absätze gegliedert[e]“ Paragraph des § 13 EntgTranspG „die Aufgaben und Rechte des Betriebsrats und speziell des Betriebsausschusses im Rahmen des Auskunftsanspruchs der Beschäftigten nach § 10“ EntgTranspG (BT-Drs. 18/11133 S. 62). Zu Abs. 2 von § 13 EntgTranspG heißt es ua.:          „Satz 1 regelt, auf welcher Datengrundlage der Betriebsausschuss die Antwort auf das Auskunftsersuchen der Beschäftigten zu erstellen hat und wie er an die erforderlichen Informationen gelangt. Dazu bestimmt Satz 1, dass der Betriebsausschuss … für die Erfüllung seiner Aufgaben nach Absatz 1 das Recht hat, die in § 80 Abs. 2 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes genannten Listen über die Bruttolöhne und -gehälter einzusehen und auszuwerten.“ 33 Damit ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass das entgeltlistenbezogene Einsichts- und Auswertungsrecht der Beantwortung individueller Auskunftsverlangen dienen soll. Nach seinen Vorstellungen ist der Regelungszweck des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG mit der Zuständigkeit des Betriebsrats zur Beantwortung individueller Auskunftsverlangen verknüpft. 34 ee) Ein solches Normverständnis verbietet sich nicht deshalb, weil § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG dann kein anderer Regelungsgehalt zukäme als § 13 Abs. 3 EntgTranspG. Absatz 2 von § 13 EntgTranspG legt als Bezugsobjekt der Einsichts- und Auswertungsberechtigung die in § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG genannten Listen über die Bruttolöhne und -gehälter fest. Das bezieht sich – ggf. in einem für das Auskunftsverlangen relevanten Umfang – auf die vom Arbeitgeber tatsächlich geführten Listen. Demgegenüber verpflichtet Abs. 3 von § 13 EntgTranspG den Arbeitgeber nicht nur dazu, dem Betriebsausschuss Einblick „in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter der Beschäftigten“ zu gewähren, sondern die Listen auch nach näheren Maßgaben aufzubereiten. Das Einblicksrecht nach § 13 Abs. 3 EntgTranspG umfasst also spezifische Listen mit bestimmten Aufschlüsselungen und Angaben, was – anders als beim Einsichts- und Auswertungsrecht nach Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG – den Arbeitgeber verpflichtet, entsprechende Listen ggf. erst herzustellen (ganz hM vgl. zB Bauer/Krieger/Günther AGG/EntgTranspG 5. Aufl. § 13 EntgTranspG Rn. 14; DKW/Buschmann § 80 Rn. 130a; Fitting BetrVG 30. Aufl. § 80 Rn. 111). Beide Vorschriften – das Recht nach § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG und die Verpflichtung nach § 13 Abs. 3 EntgTranspG – sind mit der nach dem EntgTranspG konzeptionell-regelhaften Einbindung des Betriebsrats in das individuelle Verfahren zur Überprüfung von Entgeltgleichheit verknüpft. 35 c) Danach kommt dem Betriebsrat auf der Grundlage der den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts das beanspruchte Einsichts- und Auswertungsrecht des § 13 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG schon dem Grunde nach nicht zu. Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob das in dieser Vorschrift genannte Auswertungsrecht auch ein Recht auf Überlassung der Entgeltlisten zur Verfügung des Betriebsausschusses umfasst. Die Arbeitgeberin hat die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung generell übernommen. Ihre Berechtigung hierzu folgt, sollte sie tarifgebunden oder tarifanwendend sein, aus § 14 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG oder, sollte sie nicht tarifgebunden und nicht tarifanwendend sein, aus § 15 Abs. 2 iVm. § 14 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Übernahme § 14 Abs. 2 Satz 1 bis Satz 3 EntgTranspG entspricht, ohne dass es darauf ankäme, welche Folge eine Verletzung der entsprechenden Vorschriften zur Übernahme zeitigte. Auch der Betriebsrat hat diesbezüglich keine Beanstandungen erhoben und die streitbefangene Listenübergabe nicht auf seine Zuständigkeit für die Erfüllung der Auskunftsverpflichtung gestützt. 36 2. Im Übrigen folgt die mit dem Hauptantrag geltend gemachte Verpflichtung weder aus § 13 Abs. 3 EntgTranspG noch aus § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG oder aus § 80 Abs. 2 Satz 1 iVm. Satz 2 Halbs. 1 BetrVG. 37 a) § 13 Abs. 3 EntgTranspG und § 80 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 BetrVG tragen die streitbefangene Übergabeverpflichtung schon deshalb nicht, weil sie als Einblicksrechte in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter konzipiert sind. Das stellt auch der Betriebsrat nicht in Abrede. Entsprechend hat er sein Begehren im Wesentlichen mit der entgeltlistenbezogenen Auswertungsberechtigung begründet. 38 b) Auch die aus § 80 Abs. 2 Satz 1 iVm. Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BetrVG folgende Verpflichtung des Arbeitgebers, den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend zu unterrichten sowie ihm auf Verlangen jederzeit die zur Durchführung seiner Aufgaben erforderlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, vermag die erstrebte Listenübergabe nicht zu begründen. Dabei kann zugunsten des Betriebsrats eine entgeltgleichheitsbezogene Aufgabe – welche allerdings nicht allein unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts von § 80 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2a BetrVG aufzuzeigen wäre – unterstellt werden. Denn der Auskunftsanspruch des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG wird zwar im Bereich der Löhne und Gehälter nicht durch die Regelung des Satzes 2 Halbs. 2 der Vorschrift verdrängt. Er begründete jedoch keinen entgeltlistenbezogenen Anspruch, der über eine Einblicknahme hinausginge (ausf. zur insoweit gebotenen teleologischen Reduktion von § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG BAG 30. September 2008 – 1 ABR 54/07 – Rn. 31, BAGE 128, 92). 39 III. Der Hilfsantrag fällt nicht zur Entscheidung an. Er steht unter der Bedingung, dass der vom Betriebsrat hauptsächlich erstrebte Anspruch allein daran scheitert, dass eine Übergabe der Listen nicht in den bezeichneten Dateiformaten verlangt werden kann. Wie im Hilfsantrag ausdrücklich formuliert, bezieht er sich auf die Übergabe der „im Hauptantrag genannten Liste“, nur in einer anderen Form (Papierform mit der Eignung zur Umwandlung in elektronisches Format). Die so verstandene Bedingung der Abweisung des Hauptantrags tritt nicht ein.              Schmidt                  Ahrendt                  K. Schmidt                                    Schwitzer                  Rose
bundesarbeitsgericht
bag_70-18
19.12.2018
19.12.2018 70/18 - Mehrarbeitszuschläge bei Teilzeitarbeit Eine Regelung in einem Tarifvertrag kann im Einklang mit § 4 Abs. 1 TzBfG* dahin auszulegen sein, dass Mehrarbeitszuschläge bei Teilzeitbeschäftigten für die Arbeitszeit geschuldet sind, die über die Teilzeitquote hinausgeht, die Arbeitszeit einer Vollzeittätigkeit jedoch nicht überschreitet. Die Klägerin ist bei der Beklagten als stellvertretende Filialleiterin in Teilzeit tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für die Systemgastronomie Anwendung. Er regelt ua. Mehrarbeitszuschläge und erlaubt es, wie im Fall der Klägerin eine Jahresarbeitszeit festzulegen. Für den nach Ablauf des Zwölfmonats¬zeitraums bestehenden Zeitsaldo hat die Beklagte die Grundvergütung geleistet. Sie hat dagegen keine Mehrarbeitszuschläge gewährt, weil die Arbeitszeit der Klägerin nicht die einer Vollzeittätigkeit überschritt. Die Klägerin verlangt Mehrarbeits¬zuschläge für die Arbeitszeit, die über die vereinbarte Arbeitszeit hinausging. Die Vorinstanzen haben der Klage überwiegend stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat mit Blick auf die Mehrarbeitszuschläge keinen Erfolg. Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, dass Teilzeitbeschäftigte mit vereinbarter Jahresarbeitszeit einen Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge für die Arbeitszeit haben, die über ihre individuell festgelegte Arbeitszeit hinausgeht. Diese Auslegung entspricht höherrangigem Recht. Sie ist mit § 4 Abs. 1 TzBfG vereinbar. Zu vergleichen sind die einzelnen Entgeltbestandteile, nicht die Gesamtvergütung. Teilzeitbeschäftigte würden benachteiligt, wenn die Zahl der Arbeitsstunden, von der an ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung entsteht, nicht proportional zu ihrer ver¬einbarten Arbeitszeit vermindert würde. Der Zehnte Senat gibt seine gegenläufige Ansicht auf (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 -). Er schließt sich der Auffassung des Sechsten Senats an (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – BAGE 158, 360). Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2018 – 10 AZR 231/18 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. Januar 2018 – 2 Sa 1365/17 – *§ 4 Abs. 1 TzBfG lautet: 1Ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darf wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. 2Einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeit¬nehmers entspricht. Hinweis: Der Senat hat am 19. Dezember 2018 über vier weitere parallel gelagerte Sachverhalte entschieden (- 10 AZR 617/17, 10 AZR 618/17, 10 AZR 140/18 und 10 AZR 232/18 -). Die auf Mehrarbeitszuschläge gerichteten Klagen hatten Erfolg.
Tenor 1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. Januar 2018 – 2 Sa 1365/17 – unter Zurückweisung der Revision im Übrigen teilweise aufgehoben. 2. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. August 2017 – 39 Ca 4579/17 – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert, soweit die Beklagte zur Zahlung von 40,00 Euro netto verurteilt wurde. Insoweit wird die Klage abgewiesen. 3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 32 % und die Beklagte 68 % zu tragen. Leitsatz Eine tarifvertragliche Bestimmung, nach der ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge erst besteht, wenn die für eine Vollzeittätigkeit maßgebliche Stundenzahl überschritten wird, verstößt gegen § 4 Abs. 1 TzBfG. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über tarifliche Zuschläge für Mehrarbeit und eine Pauschale nach § 288 Abs. 5 BGB. 2 Die Beklagte beschäftigt die Klägerin in Teilzeit als stellvertretende Filialleiterin. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung ua. der zwischen dem Bundesverband der Systemgastronomie e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten abgeschlossene Manteltarifvertrag für die Systemgastronomie vom 17. Dezember 2014 Anwendung (MTV). 3 Der MTV lautet auszugsweise:          „§ 4    Arbeitszeit          1        Regelmäßige Arbeitszeit                   Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt, ausschließlich der Pausen, 39 Stunden pro Woche bzw. 169 Stunden monatlich.                   Die Arbeitszeit wird in der Woche auf 5 Tage verteilt. Soweit durch die Anzahl der Arbeitstage in einem Kalendermonat bedingt eine Unterschreitung von 169 Stunden monatlich eintritt, ist dies im Jahresdurchschnitt wieder auszugleichen.                   …                 3        Jahresarbeitszeit                   Die Arbeitszeit kann einzelvertraglich als Jahresarbeitszeit vereinbart werden. Bezugsgröße ist ein vorher festzulegender Zwölfmonatszeitraum. In diesem Fall beträgt die Jahresarbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit 2028 Stunden, für eine Teilzeittätigkeit entsprechend weniger.                   Bei Ein- beziehungsweise Austritten während des Zwölfmonatszeitraums erfolgt eine Berechnung der anteiligen Jahresarbeitszeit nach vollen Kalendermonaten sowie nach Arbeitstagen in angebrochenen Kalendermonaten. Dies gilt entsprechend für Zeiten, in denen das Arbeitsverhältnis ruht.                   Beschäftigte haben einen Anspruch auf ein gleichbleibendes monatliches Arbeitsentgelt von 100 % der monatlichen regelmäßigen Arbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit. Für eine Teilzeittätigkeit gilt dies entsprechend nach der durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit, die sich aus der vertraglichen Jahresarbeitszeit ergibt.                   Monatlich sind mindestens 85 % der monatlichen regelmäßigen Arbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit abzunehmen. Monatlich ist eine Überschreitung der monatlichen regelmäßigen Arbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit um maximal 15 % zulässig. Für eine Teilzeittätigkeit gilt dies entsprechend.                   …                 4        Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschlag                   Mehrarbeit im Sinne dieses Tarifvertrages ist diejenige Arbeitsleistung, die über die regelmäßige monatliche Arbeitszeit nach Ziff. 1 hinausgeht und ausdrücklich vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet wurde.                   Mehrarbeit ist mit einem Zuschlag von 25 % des Bruttostundenentgelts gemäß den Bestimmungen des Entgelttarifvertrages zu vergüten. Für alle Neueinstellungen mit Beschäftigungsbeginn ab dem 1. Januar 2015 ist ein Mehrarbeitszuschlag in Höhe von 20 % zu gewähren. Ab dem 1. Januar 2018 beträgt er auch für diese Beschäftigten 25 %. Mehrarbeit im Sinne der Jahresarbeitszeit ist mit einem Zuschlag von 33 % zu vergüten.                   Mehrarbeit einschließlich der Zuschläge ist auf Wunsch des/der Beschäftigten durch Freizeit abzugelten, wenn und soweit keine betrieblichen Belange entgegenstehen.                   Es kann einzelvertraglich eine pauschale Abgeltung der Mehrarbeit einschließlich der Zuschläge mit übertariflichen Entgeltbestandteilen vereinbart werden. Diese Regelungen müssen im Jahresdurchschnitt angemessen dotiert sein. Solche Regelungen können arbeitgeberseitig mit einzelnen Beschäftigten oder mit Gruppen von Beschäftigten vereinbart werden. Diese Vereinbarungen müssen die Höchstzahl der erfassten Überstunden und den Bemessungszeitraum beinhalten.                   Bei einer festgelegten Jahresarbeitszeit nach Ziff. 3 ist Mehrarbeit diejenige Arbeitsleistung, die vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet wurde und die am Ende des Zwölfmonatszeitraums über die vereinbarte Jahresarbeitszeit hinausgeht.          5        Sonntagsarbeit                   Arbeitsleistung, die an Sonntagen erbracht wird, ist nicht zuschlagspflichtig. Mindestens zehn Sonntage im Kalenderjahr müssen beschäftigungsfrei bleiben.          …                        8        Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit richten sich ausschließlich nach diesem Tarifvertrag.                   …                 § 5      Teilzeit          1        Bei Beschäftigten in Teilzeit bestimmen sich die Arbeitszeit und die Lage der Arbeitszeit nach der zwischen den Arbeitsvertragsparteien getroffenen Vereinbarung.          2        Bei Teilzeitkräften richtet sich die Höhe des Arbeitsentgelts nach den Bestimmungen des Entgelttarifvertrages und der jeweiligen Teilzeitquote, d. h. dem Verhältnis der vertraglichen Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft.          3        Die sonstigen tariflichen Leistungen stehen Teilzeitkräften anteilig entsprechend dem Verhältnis der von ihnen regelmäßig (für den Zeitraum von zwölf Monaten) erbrachten tatsächlichen Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft zu, sofern in diesem Tarifvertrag nichts anderes bzw. abweichendes geregelt ist.          4        Sofern regelmäßig (über einen Zeitraum von drei Monaten) Arbeit, die über die vereinbarte Wochenarbeitszeit hinausgeht, angeordnet, gebilligt oder geduldet sowie geleistet wird, kann der/die Beschäftigte eine entsprechende Neugestaltung des Arbeitsvertrages verlangen. Dies gilt nicht für Arbeitsverhältnisse mit Jahresarbeitszeitkonten gemäß § 4 Ziff. 3.          5        Bei Teilzeitkräften ist Mehrarbeit nur diejenige Arbeitszeit, die über die regelmäßige monatliche Arbeitszeit einer Vollzeittätigkeit nach § 4 Ziff. 1 hinausgeht.“ 4 Zwischen den Parteien ist eine Jahresarbeitszeit von 1.817,88 Stunden vereinbart. Im Zeitraum von Oktober 2015 bis September 2016 leistete die Klägerin darüber hinaus 19,69 Stunden. Die Beklagte vergütete diese Arbeitszeit mit 13,22 Euro brutto pro Stunde, gewährte der Klägerin jedoch keine Zuschläge für Mehrarbeit. 5 Die Klägerin macht mit ihrer Klage Mehrarbeitszuschläge für 19,69 Stunden von 33 % ihres tariflichen Stundenentgelts nebst Zinsen sowie eine Pauschale nach § 288 Abs. 5 BGB von 40,00 Euro netto geltend. Sie hat die Auffassung vertreten, sie habe nach § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge. Bei vereinbarter Jahresarbeitszeit sei § 5 Nr. 5 MTV nicht anzuwenden. Diese Tarifnorm gelte nur für Teilzeitbeschäftigte mit Monatsarbeitszeit. Die darin zum Ausdruck kommende unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten in verschiedenen Arbeitszeitmodellen sei im MTV angelegt. Es sei zwingend geboten, den MTV so auszulegen, weil nur auf diese Weise eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten vermieden werden könne. 6 Die Klägerin hat – soweit für die Revision von Bedeutung – beantragt,          1.     die Beklagte zu verurteilen, an sie 85,85 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;          2.     die Beklagte zu verurteilen, an sie 40,00 Euro netto zu zahlen. 7 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, dass der Klägerin keine Mehrarbeitszuschläge zustünden. Sie habe die Arbeitszeit einer Vollzeitkraft nicht erreicht. Damit seien die Voraussetzungen von § 5 Nr. 5 MTV nicht erfüllt. Allein nach dieser Tarifnorm richte sich der Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge bei Teilzeitkräften. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut, aber auch aus Sinn und Zweck sowie der Systematik des MTV. Die Bestimmung des § 5 Nr. 5 MTV enthalte als speziellere Vorschrift eine Sonderregelung für Teilzeitkräfte, unabhängig vom jeweiligen Arbeitszeitmodell. Dieses Auslegungsergebnis sei mit höherrangigem Recht vereinbar. Bei einem anderen Verständnis würden Teilzeitbeschäftigte mit vereinbarter Jahresarbeitszeit gegenüber Teilzeitbeschäftigten mit monatlicher Arbeitszeit bessergestellt. 8 Das Arbeitsgericht hat der Klage, soweit für die Revision von Interesse, stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter. Entscheidungsgründe 9 Die Revision der Beklagten hat nur hinsichtlich der Pauschale nach § 288 Abs. 5 BGB Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet. Bei den Stunden, die die Klägerin über die vereinbarte Jahresarbeitszeit hinaus geleistet hat, handelt es sich um zuschlagspflichtige Mehrarbeit. Sie ist nach § 4 Nr. 4 Abs. 5 iVm. § 4 Nr. 4 Abs. 2 Satz 4 MTV mit den klageweise geltend gemachten Zuschlägen zu vergüten. 10 A. Die Klägerin hat als Teilzeitarbeitnehmerin mit vereinbarter Jahresarbeitszeit Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge für die Arbeitsleistung, die sie über ihre einzelvertraglich vereinbarte Jahresarbeitszeit hinaus erbracht hat. Das ergibt die Auslegung des MTV. 11 I. Maßgeblich für die Definition von Mehrarbeit bei Teilzeitkräften mit vereinbarter Jahresarbeitszeit ist § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV. Danach ist Mehrarbeit bei festgelegter Jahresarbeitszeit iSv. § 4 Nr. 3 MTV diejenige Arbeitsleistung, die am Ende des Zwölfmonatszeitraums über die vereinbarte Jahresarbeitszeit hinausgeht. Demgegenüber sieht § 4 Nr. 4 Abs. 1 MTV vor, dass Mehrarbeit iSd. Tarifvertrags diejenige Arbeitsleistung ist, die über die regelmäßige monatliche Arbeitszeit nach Nr. 1 hinausgeht. 12 1. Der zunächst heranzuziehende Wortlaut des § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV stellt auf die nach § 4 Nr. 3 MTV vereinbarte Jahresarbeitszeit ab. Die Regelung in § 4 Nr. 4 Abs. 1 MTV bezieht sich hingegen auf die monatliche Arbeitszeit nach § 4 Nr. 1 MTV. Mit dem Begriff der vereinbarten Jahresarbeitszeit in § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV wird eine andere Anknüpfung für die Definition von Mehrarbeit gewählt als mit dem der regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit in § 4 Nr. 4 Abs. 1 MTV. 13 2. Damit kommt zum Ausdruck, dass der MTV zwei Arbeitszeitmodelle unterscheidet: das der regelmäßigen Monatsarbeitszeit und das der Jahresarbeitszeit. Deutlich wird diese Differenzierung darüber hinaus an den unterschiedlichen Zuschlagssätzen in § 4 Nr. 4 Abs. 2 MTV und an der Regelung in § 5 Nr. 4 Satz 2 MTV, die Arbeitsverhältnisse mit Jahresarbeitszeit von dem Anspruch auf Neugestaltung des Arbeitsvertrags ausnimmt. 14 Dem steht nicht entgegen, dass auch im Regelungsbereich der Jahresarbeitszeit – wie § 4 Nr. 3 Abs. 3 und Abs. 4 MTV zeigen – auf die monatliche regelmäßige Arbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit abgestellt wird. Dabei handelt es sich um Modalitäten der Durchführung innerhalb des Modells der Jahresarbeitszeit. 15 3. Bei der vereinbarten Arbeitszeit iSv. § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV handelt es sich um die individualvertraglich vereinbarte Arbeitszeit. 16 a) Dies gilt unbeschadet des Umstands, dass in § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV im Unterschied zu § 4 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 MTV das Wort „einzelvertraglich“ fehlt. Die Formulierung von § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV kann nicht dahin verstanden werden, dass es nur auf den Akt der einzelvertraglichen Festlegung als solchen ankommt, nicht jedoch auf den konkreten Inhalt der getroffenen Vereinbarung (so LAG Niedersachsen 6. November 2017 – 8 Sa 672/17 – zu II 2 b bb (1) der Gründe; LAG Düsseldorf 11. Juli 2017 – 14 Sa 340/17 – zu III 2 b bb (2) der Gründe). Wäre es nur darum gegangen klarzustellen, dass Mehrarbeit im Jahresarbeitszeitmodell nicht davon abhängt, ob die regelmäßige monatliche Arbeitszeit einer Vollzeittätigkeit, sondern die einer Vollzeitbeschäftigung im Modell der Jahresarbeitszeit überschritten wird, hätte eine andere Formulierung nahegelegen. Die Tarifvertragsparteien hätten wie in § 4 Nr. 3 Abs. 1 Satz 3 MTV statt der Passage „die vereinbarte Jahresarbeitszeit“ eine Formulierung wie „die Jahresarbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit“ verwenden können. 17 b) Zudem nimmt § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV auf § 4 Nr. 3 MTV Bezug. Erfasst wird damit auch die Regelung des § 4 Nr. 3 Abs. 1 Satz 3 MTV, wonach sich die Jahresarbeitszeit bei Teilzeitkräften nicht auf 2.028 Stunden, sondern auf ein entsprechend geringeres Volumen beläuft. Mit der Bezugnahme ist auch der einzelvertraglich vereinbarte Umfang der Teilzeit erfasst. 18 II. Die Regelung des § 5 Nr. 5 MTV steht dem nicht entgegen. 19 1. Mit Blick auf die Überschrift und die Ausnahmeregelung in § 5 Nr. 4 Satz 2 MTV findet § 5 MTV grundsätzlich auf beide Arbeitszeitmodelle Anwendung. Auch kann dem Wortlaut des § 5 Nr. 5 MTV nicht entnommen werden, dass die Vorschrift nicht auf das Jahresarbeitszeitmodell anzuwenden sein soll. Die Regelung stellt zwar auf die monatliche Arbeitszeit einer Vollzeittätigkeit nach § 4 Nr. 1 MTV und nicht auf das Jahresarbeitszeitmodell ab. Der MTV bezieht sich aber auch im Modell der Jahresarbeitszeit verschiedentlich auf die monatliche regelmäßige Arbeitszeit für eine Vollzeittätigkeit. 20 2. Andererseits kann das Wort „nur“ in § 5 Nr. 5 MTV nicht im Sinn einer Ausschließlichkeit dahin verstanden werden, dass Mehrarbeit für Teilzeitkräfte ausschließlich in dieser Vorschrift geregelt werden soll (so aber LAG Niedersachsen 6. November 2017 – 8 Sa 672/17 – zu II 2 b bb (1) der Gründe; LAG Düsseldorf 11. Juli 2017 – 14 Sa 340/17 – zu III 2 b bb (1) der Gründe). Entgegen der Auffassung der Beklagten trägt die Abweichung von § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV, in dem sich das Wort „nur“ nicht findet, diese Annahme nicht. Wäre das beabsichtigt gewesen, hätten die Tarifvertragsparteien auf eine § 4 Nr. 8 MTV entsprechende Formulierung zurückgegriffen, mit der eine Ausschließlichkeit eindeutig zum Ausdruck kommt. 21 3. § 5 Nr. 5 MTV ist nicht als speziellere Vorschrift vorrangig gegenüber § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV. 22 a) Selbst wenn einzelne Regelungen des § 5 MTV – etwa § 5 Nr. 2 MTV – im Verhältnis zu Bestimmungen des § 4 MTV spezieller wären, ließe das nicht darauf schließen, dass § 5 MTV in seiner Gesamtheit gegenüber § 4 MTV vorrangig anzuwenden ist. 23 b) Ebenso wenig lässt die Reihung der Tarifnormen einen Schluss auf ihr Verhältnis zueinander zu. Aus dem Umstand, dass die Regelung über die Jahresarbeitszeit in § 4 Nr. 3 MTV vor den Bestimmungen über die Teilzeit in § 5 MTV steht, kann nicht gefolgert werden, dass es sich bei den Regelungen in § 5 MTV um die spezielleren Vorschriften handelt. Auch in § 4 Nr. 3 MTV haben Regelungen über die Teilzeit Eingang gefunden. 24 4. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Anwendung von § 5 Nr. 5 MTV auf Arbeitsverhältnisse mit vereinbarter Jahresarbeitszeit systematische Erwägungen entgegenstehen. 25 a) Käme die Regelung zur Anwendung, dass zuschlagspflichtige Mehrarbeit bei einem Jahresarbeitszeitkonto anfiele, wenn die regelmäßige Monatsarbeitszeit einer Vollzeitkraft überschritten würde, wären Arbeitgeber auch dann verpflichtet, Mehrarbeitszuschläge zu zahlen, wenn sich die geleistete monatliche Arbeitszeit im zulässigen Schwankungsbereich bis zu 115 % nach § 4 Nr. 3 Abs. 4 MTV bewegte. Dieses Ergebnis liefe der mit der Vereinbarung einer Jahresarbeitszeit verfolgten Flexibilisierung zuwider und kann von den Tarifvertragsparteien nicht beabsichtigt gewesen sein. 26 b) Für die Annahme, dass Mehrarbeitszuschläge nur zu gewähren sind, wenn die Voraussetzungen des § 4 Nr. 4 Abs. 5 MTV und des § 5 Nr. 5 MTV kumulativ vorliegen, gibt es keine Anknüpfungspunkte. Eine solche Doppelschranke ist weder im Wortlaut noch in der Systematik des MTV angelegt. 27 III. Eine daraus folgende unterschiedliche Behandlung von Teilzeitkräften mit regelmäßiger Monatsarbeitszeit und solchen mit Jahresarbeitszeit widerspricht nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien, der im MTV zum Ausdruck kommt. 28 Ein Wille, Teilzeitkräfte beider Arbeitszeitmodelle gleichzubehandeln, ist dem MTV nicht zu entnehmen. Vielmehr ist darin eine unterschiedliche Behandlung angelegt, wie die verschiedenen Zuschlagssätze in § 4 Nr. 4 Abs. 2 MTV ebenso zeigen wie der Umstand, dass in Arbeitsverhältnissen mit vereinbarter Jahresarbeitszeit nach § 5 Nr. 4 MTV kein Anspruch auf Neugestaltung des Arbeitsvertrags besteht. 29 IV. Dass die Tarifvertragsparteien mit dem höheren Zuschlag für Mehrarbeit im Jahresarbeitszeitmodell nach § 4 Nr. 4 Abs. 2 MTV alle damit verbundenen Nachteile und Belastungen zum Ausgleich bringen wollten und deshalb kein Raum für eine Zuschlagspflicht ab Überschreiten der individuell vereinbarten Jahresarbeitszeit ist, kann nicht angenommen werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der höhere Zuschlagssatz allein dem Ausgleich der Nachteile und Belastungen dient, die mit dem längeren Berechnungszeitraum im Jahresarbeitszeitmodell verbunden sind. 30 1. Arbeitnehmer, die im Jahresarbeitszeitmodell Mehrarbeit leisten, gewähren ihren Arbeitgebern wirtschaftlich betrachtet ein Darlehen (vgl. Schaub ArbR-HdB/Vogelsang 17. Aufl. § 160 Rn. 53). Sie müssen bis zum Ende des Berechnungszeitraums und damit länger als Arbeitnehmer mit vereinbarter Monatsarbeitszeit darauf warten, dass die Mehrarbeitsvergütung geleistet wird. 31 Darüber hinaus ermöglicht der Zeitraum von einem Jahr einen besseren Ausgleich geleisteter Mehrarbeit. Er trägt dazu bei, dass zu vergütende Mehrarbeit am Ende des Zwölfmonatszeitraums in geringerem Umfang anfällt als bei vereinbarter Monatsarbeitszeit. Beides trifft Teilzeitbeschäftigte und Vollzeitbeschäftigte in gleicher Weise. Es kommt nicht auf den jeweiligen Arbeitszeitumfang an. 32 2. Anderes gilt für die gezeigte zeitliche Flexibilität. Sie hängt maßgeblich von der individuellen Arbeitszeit ab und rechtfertigt die Leistung von Zuschlägen, sobald die vertraglich geschuldete Jahresarbeitszeit überschritten ist. 33 V. Sinn und Zweck der Regelung stützen die gefundene Auslegung. Im Vordergrund steht der Schutz des individuellen Freizeitbereichs. 34 1. Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich frei darin, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Der Zweck ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder durch Auslegung der Tarifnorm – anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen – zu ermitteln. Es kommt nicht auf die denkbaren Zwecke an, die mit der Leistung verfolgt werden können, sondern auf diejenigen, um die es den Tarifvertragsparteien bei der Leistung nach ihrem im Tarifvertrag selbst zum Ausdruck gekommenen, durch die Tarifautonomie geschützten Willen geht (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 28; 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55 mwN, BAGE 158, 360). 35 2. Das Bundesarbeitsgericht hat mehrfach angenommen, mit einer tarifvertraglichen Bestimmung, die den Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge allein davon abhängig mache, dass über ein bestimmtes Tages- oder Wochenarbeitsvolumen hinaus gearbeitet werde, werde im Wesentlichen der Zweck verfolgt, eine grundsätzlich zu vermeidende besondere Arbeitsbelastung durch ein zusätzliches Entgelt auszugleichen. Ohne Anhaltspunkte im Tarifvertrag könne nicht davon ausgegangen werden, dass es den Tarifvertragsparteien darum gehe, durch Verteuerung der über die individuell geschuldete Arbeitsleistung hinausgehenden Arbeitszeiten den individuellen Freizeitbereich zu schützen (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 28; 14. September 2011 – 10 AZR 358/10 – Rn. 26; 27. August 2008 – 5 AZR 647/07 – Rn. 12 mwN; 16. Juni 2004 – 5 AZR 448/03 – zu 4 c der Gründe; 5. November 2003 – 5 AZR 8/03 – zu III 1 der Gründe; 30. Januar 1996 – 3 AZR 275/94 – zu II 2 a der Gründe; 20. Juni 1995 – 3 AZR 684/93 – zu II 2 b der Gründe, BAGE 80, 173; 21. November 1991 – 6 AZR 551/89 – zu II 4 b der Gründe, BAGE 69, 85). Eine quartalsbezogene Betrachtung und Ausgleichsmöglichkeit mache deutlich, dass nicht der Schutz des individuellen Freizeitbereichs bezweckt werde. Da geleistete Überstunden durch Freizeitausgleich ohne Mehrarbeitszuschläge kompensiert werden könnten, hätten die Tarifvertragsparteien Eingriffe in den individuellen Freizeitbereich hingenommen (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 30). 36 3. Demgegenüber hat das Bundesarbeitsgericht auch entschieden, mit einem Überstundenzuschlag werde allein der Umstand belohnt, dass Arbeitnehmer ohne Freizeitausgleich mehr als vertraglich vereinbart arbeiteten und dadurch planwidrig die Möglichkeit einbüßten, über ihre Zeit frei zu verfügen. Dies sei der Fall, wenn Überstundenzuschläge für die Arbeitsstunden zu bezahlen seien, die über die regelmäßige Arbeitszeit einer Vollzeitkraft in den Grenzen des Arbeitszeitgesetzes hinausgingen und bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche nicht ausgeglichen seien. Die Tarifvertragsparteien hätten die Belastung der zeitweisen Überschreitung der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten nur unter der Voraussetzung eines rechtzeitigen Freizeitausgleichs hingenommen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 59, BAGE 158, 360). 37 4. Die hier maßgebliche tarifvertragliche Bestimmung benennt nicht selbst unmittelbar den Zweck der Mehrarbeitszuschläge. 38 a) Die Regelung der Mehrarbeitszuschläge geht den Regelungen von Zuschlägen für Sonntagsarbeit (§ 4 Nr. 5 MTV), Feiertagsarbeit (§ 4 Nr. 6 MTV) und Nachtarbeit (§ 4 Nr. 7 MTV) voraus. Bei Nachtarbeitszuschlägen, die eine Tätigkeit betreffen, die vom Gesetzgeber als gesundheitlich belastend eingestuft wird (§ 1 Nr. 1 iVm. § 6 ArbZG), geht es um den Gesundheitsschutz, während Sonn- und Feiertagszuschläge die individuelle Freizeit schützen könnten (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 29; vgl. für die Sonntagsarbeit EuGH 12. November 1996 – C-84/94 – [Vereinigtes Königreich/Rat] Rn. 37, Slg. 1996, I-5755). Insgesamt könnte auch der Ausgleich von Erschwernissen für Arbeit zu ungünstigen Zeiten angestrebt sein (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – aaO; 17. Juni 2015 – 10 AZR 518/14 – Rn. 28). 39 b) Die monatsbezogene oder – bei vereinbarter Jahresarbeitszeit – jahresbezogene Betrachtung und Ausgleichsmöglichkeit könnten jedoch gegen den Schutz des individuellen Freizeitbereichs sprechen (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 30). Gleiches gilt für den Umstand, dass zwar die Verlängerung der Arbeitszeit Zuschläge auslösen kann, nicht aber die ebenfalls den Freizeitbereich berührende Veränderung der Lage der Arbeitszeit (vgl. BAG 5. November 2003 – 5 AZR 8/03 – zu III 2 e der Gründe). Darauf könnte auch der geringe Schutz des Sonntags durch § 4 Nr. 5 MTV hindeuten. 40 c) Die Systematik des MTV lässt nicht erkennen, dass die Mehrarbeitszuschläge dem Ausgleich besonderer Belastungen dienen sollen, wenn Arbeitnehmer über die tarifliche Arbeitszeit einer Vollzeitkraft hinaus tätig werden. Im Unterschied zu anderen Tarifverträgen enthält der MTV keinen Programmsatz, wonach Mehrarbeit zu vermeiden ist. Vielmehr ist die Zulässigkeit von Mehrarbeit im MTV angelegt. So erlaubt § 4 Nr. 3 Abs. 4 MTV im Jahresarbeitszeitmodell, dass die jeweils geschuldete monatliche Arbeitszeit um bis zu 15 % überschritten wird. Die damit einhergehenden Belastungen haben die Tarifvertragsparteien hingenommen, zumal ein Ausgleich während des Zwölfmonatszeitraums nicht zwingend vorgesehen ist (vgl. BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 59, BAGE 158, 360). Dass die Höhe der Zuschläge bei Neueinstellungen nach § 4 Nr. 4 Abs. 2 Satz 2 MTV vermindert ist, spricht ferner gegen einen Ausgleich für Belastungen. Die Überschreitung der Arbeitszeit belastet neu eingestellte Arbeitnehmer in gleicher Weise wie Stammkräfte. 41 d) Hinter den Mehrarbeitszuschlägen steht nach der Systematik des MTV das Ziel, den individuellen Freizeitbereich zu schützen und Arbeitnehmer, die Freizeit opfern, zu belohnen. 42 aa) Zwar ermöglicht der MTV mit Blick auf § 4 Nr. 3 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 MTV fakultativ einen Ausgleich der Mehrarbeit im laufenden Zwölfmonatszeitraum. Im Vordergrund steht jedoch der quantitative Schutz der Freizeit. Arbeitgeber sollen durch die Zuschlagspflichtigkeit veranlasst werden, die Arbeitszeit – auch während einer längeren Periode – so zu planen, dass am Ende des Berechnungszeitraums keine Mehrarbeit angefallen ist. Unerheblich ist daher, dass die Zuschlagsregelung nicht an die Veränderung der Lage der Arbeitszeit anknüpft. Eine solche kann im Einzelfall einschneidende Folgen haben. Bei Mehrarbeit am Ende des Ausgleichszeitraums ist es dagegen stets zu einem irreversiblen Eingriff in das individuelle Freizeitvolumen gekommen, das Arbeitnehmer autonom gestalten können. Die durch den Arbeitgeber in Anspruch genommene Freizeit kann nicht mehr zurückgewährt werden. 43 bb) Die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die eigene Freizeit trifft Vollzeit- und Teilzeitkräfte in gleicher Weise. Die geschützte Freizeit ist immer bereits dann betroffen, wenn mehr als die einzelvertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht wird. Der Zweck, die Einbuße an Freizeit zu belohnen, kann nur erreicht werden, wenn jegliche Mehrarbeit – unabhängig davon, ob sie von einer Vollzeit- oder einer Teilzeitkraft erbracht wird – den Zuschlag auslöst. Gleiches gilt für den Zweck, Eingriffe in den Freizeitbereich zu vermeiden. Dieses Ziel wird durch die Zuschlagspflicht gefördert – auch dann, wenn die Höhe der Zuschläge bei einzelnen Arbeitnehmergruppen unterschiedlich ausfällt. 44 B. Ein anderes Auslegungsergebnis, nach dem ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge bei Teilzeitbeschäftigten davon abhängig wäre, dass die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten überschritten würde, wäre mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. 45 I. Tarifnormen sind grundsätzlich so auszulegen, dass sie nicht in Widerspruch zu höherrangigem Recht stehen. Tarifvertragsparteien wollen im Zweifel Regelungen treffen, die mit höherrangigem Recht übereinstimmen. Lässt eine Tarifnorm eine Auslegung zu, die zu einem mit höherrangigem Recht zu vereinbarenden Ergebnis führt, ist sie in diesem Sinn anzuwenden (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 42 mwN, BAGE 158, 360). 46 II. Den Tarifvertragsparteien kann nicht unterstellt werden, dass sie eine gesetzwidrige Regelung schaffen wollten. In der gefundenen Auslegung ist der MTV mit § 4 Abs. 1 TzBfG vereinbar. 47 1. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG dürfen Teilzeitbeschäftigte wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte, es sei denn, sachliche Gründe rechtfertigen eine unterschiedliche Behandlung. Teilzeitbeschäftigten ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil der Arbeitszeit an der Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht. Die Norm des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG konkretisiert das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG für den Bereich des Entgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung. Auch tarifliche Regelungen müssen mit § 4 TzBfG vereinbar sein. Die in dieser Vorschrift geregelten Diskriminierungsverbote stehen nach § 22 TzBfG nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien (vgl. für die st. Rspr. BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 44, BAGE 158, 360; 19. Januar 2016 – 9 AZR 564/14 – Rn. 14; 10. Februar 2015 – 9 AZR 53/14 (F) – Rn. 16 mwN, BAGE 150, 345). 48 2. Teilzeitbeschäftigte werden wegen der Teilzeitarbeit ungleichbehandelt, wenn die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft (vgl. BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 46, BAGE 158, 360; 19. Januar 2016 – 9 AZR 564/14 – Rn. 15; 27. März 2014 – 6 AZR 571/12 – Rn. 32, BAGE 148, 1). § 4 Abs. 1 TzBfG schützt vor einer unmittelbaren Benachteiligung ebenso wie vor einer mittelbaren (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – aaO). 49 Teilzeitbeschäftigten ist Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung daher mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschäftigter entspricht. Eine geringere Arbeitszeit darf grundsätzlich nur quantitativ, nicht qualitativ anders vergütet werden als Vollzeitarbeit (vgl. BVerfG 27. November 1997 – 1 BvL 12/91 – zu B II 2 a aa der Gründe, BVerfGE 97, 35; BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 50 mwN, BAGE 158, 360; 23. Februar 2011 – 10 AZR 299/10 – Rn. 21 mwN). § 4 Abs. 1 TzBfG verbietet eine Abweichung vom Pro-rata-temporis-Grundsatz zum Nachteil Teilzeitbeschäftigter, ohne dass dafür ein sachlicher Grund besteht (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – aaO; vgl. 24. September 2008 – 10 AZR 634/07 – Rn. 21, BAGE 128, 21). 50 3. Nach diesen Grundsätzen verletzte der MTV § 4 Abs. 1 TzBfG, wenn er so zu verstehen wäre, dass Teilzeitbeschäftigte erst dann Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge hätten, wenn sie die für eine Vollzeittätigkeit maßgebliche Stundenzahl überschritten. Für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte würde eine identische Belastungsgrenze festgelegt, die für Teilzeitbeschäftigte jedoch eine höhere individuelle Belastungsgrenze mit sich brächte. Für Teilzeitbeschäftigte würde die Schwelle, von der an ein Anspruch entsteht, nicht proportional zu ihrer individuellen Arbeitszeit abgesenkt. Dadurch käme es für Teilzeitbeschäftigte zu nachteiligen Auswirkungen auf das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung und damit zu einer unmittelbaren Ungleichbehandlung (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 51, 53, BAGE 158, 360). 51 a) Für die Prüfung, ob Teilzeitkräfte benachteiligt werden, muss deshalb auf die einzelnen Entgeltbestandteile abgestellt werden. Eine Gesamtbetrachtung der Vergütung scheidet aus. 52 aa) Mit § 4 Abs. 1 TzBfG wurde § 4 Nr. 1 und Nr. 2 der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 umgesetzt (ABl. EG L 14 vom 20. Januar 1998 S. 9). Für das Verständnis von § 4 Abs. 1 TzBfG ist daher die für das Unionsrecht ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen. 53 (1) In den Sachen Helmig ua. ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass eine Ungleichbehandlung immer dann vorliege, wenn bei gleicher Anzahl von Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet würden, die an Vollzeitbeschäftigte gezahlte Vergütung höher sei als die an Teilzeitbeschäftigte geleistete. Der Gerichtshof hat einen Vergleich der Gesamtvergütung vorgenommen und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Teilzeitbeschäftigte die gleiche Gesamtvergütung wie Vollzeitbeschäftigte erhielten, wenn sie die tarifvertraglich festgesetzte Regelarbeitszeit überschritten und dann ebenfalls Überstundenzuschläge erhielten (EuGH 15. Dezember 1994 – C-399/92, C-409/92, C-425/92, C-34/93, C-50/93, C-78/93 – [Helmig ua.] Rn. 26 ff., Slg. 1994, I-5727). 54 (2) Demgegenüber hat der Gerichtshof im Jahr 2004 – wie schon in früheren Entscheidungen – Entgeltbestandteile isoliert betrachtet. In der Rechtssache Elsner-Lakeberg hat der Gerichtshof als Methode der Prüfung, ob der Grundsatz des gleichen Entgelts für männliche und weibliche Beschäftigte gewahrt ist, verlangt, dass jeder einzelne Entgeltbestandteil isoliert am Maßstab dieses Grundsatzes geprüft werde und nicht nur im Weg einer Gesamtbewertung. Der Gerichtshof hat eine Benachteiligung angenommen, weil bei Teilzeitkräften die Anzahl zusätzlicher Stunden, von der an ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung entstehe, nicht proportional zu ihrer Arbeitszeit vermindert werde (EuGH 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg] Rn. 15, 17, Slg. 2004, I-5861; vgl. auch 26. Juni 2001 – C-381/99 – [Brunnhofer] Rn. 35, Slg. 2001, I-4961; 17. Mai 1990 – C-262/88 – [Barber] Rn. 34 f., Slg. 1990, I-1889). 55 (3) In der Sache Voß ist der Gerichtshof von einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten ausgegangen, wenn sie von einer abgesenkten Stundenvergütung früher betroffen seien als Vollzeitkräfte. Der Gerichtshof hat die Methoden der Gesamt- und der Einzelbetrachtung gegenübergestellt und die Vergütungsbestandteile untersucht, im Einzelfall den negativen Entgeltbestandteil eines Vergütungsabschlags (EuGH 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß] Rn. 36, Slg. 2007, I-10573). 56 bb) Die Rechtsprechung des Dritten, des Fünften, des Zehnten und teilweise auch des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts hat sich auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Sachen Helmig ua. gestützt. Den Entscheidungen lag jeweils ein Vergleich der Gesamtvergütungen zugrunde. Es handle sich um keine Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten, wenn für die gleiche Anzahl von Arbeitsstunden für Vollzeit- und Teilzeitkräfte die gleiche Vergütung geschuldet werde (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 33; 16. Juni 2004 – 5 AZR 448/03 – zu 3 c der Gründe; 5. November 2003 – 5 AZR 8/03 – zu II 2 b aa der Gründe; 21. April 1999 – 5 AZR 200/98 – zu I 3 a der Gründe, BAGE 91, 262; 23. April 1998 – 6 AZR 558/96 – zu II 1 b der Gründe; 25. Juli 1996 – 6 AZR 138/94 – zu II 1 c der Gründe, BAGE 83, 327; 30. Januar 1996 – 3 AZR 275/94 – zu II 1 d der Gründe; 20. Juni 1995 – 3 AZR 684/93 – zu II 1 c der Gründe, BAGE 80, 173; 20. Juni 1995 – 3 AZR 539/93 – zu II 1 c der Gründe; so auch ErfK/Preis 19. Aufl. § 4 TzBfG Rn. 30 ff.; Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath/Ahrendt/Tillmanns ArbR 4. Aufl. § 4 TzBfG Rn. 16; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 4 TzBfG Rn. 22; Joussen in Boecken/Joussen TzBfG 5. Aufl. § 4 Rn. 52; Herms in Meinel/Heyn/Herms TzBfG 5. Aufl. § 4 Rn. 77; Laux in Laux/Schlachter TzBfG 2. Aufl. § 4 Rn. 138 f.). 57 cc) Auf Grundlage der Entscheidung Elsner-Lakeberg hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts dagegen zuletzt angenommen, dass die formale Gleichbehandlung mit Blick auf die Gesamtvergütung zu einer Ungleichbehandlung führe und der Entgeltbestandteil des Überstundenzuschlags isoliert zu betrachten sei. Die Anforderung, dass Teilzeitbeschäftigte erst die gesamte Differenz zur Vollzeitarbeitszeit über ihre Teilzeitquote hinaus arbeiten müssten, um für die nächste Stunde einen Überstundenzuschlag zu erhalten, sei mit einer höheren Belastungsgrenze von Teilzeit- gegenüber Vollzeitbeschäftigten verbunden (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 53, BAGE 158, 360; ebenso HWK/Schmalenberg 8. Aufl. § 4 TzBfG Rn. 9; MHdB ArbR/Schüren 4. Aufl. § 50 Rn. 202). 58 dd) Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts gibt seine bisherige, zuletzt mit Urteil vom 26. April 2017 geäußerte Rechtsprechung auf, wonach für die Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte benachteiligt werden, auf die Gesamtvergütung abzustellen ist (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 589/15 – Rn. 33). Er schließt sich der Rechtsprechung des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts an. Danach führt die formale Gleichbehandlung im Hinblick auf die Gesamtvergütung zu einer Ungleichbehandlung. Der Vergleich von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten ist methodisch für jeden einzelnen Entgeltbestandteil vorzunehmen. Eine Gesamtbewertung der geleisteten Vergütungsbestandteile scheidet aus. Entgelte für die Regelarbeitszeit und für Mehr- oder Überarbeitsvergütungen sind gesondert zu vergleichen (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 45, 53, BAGE 158, 360). 59 Nur auf diese Weise kann dem Pro-rata-temporis-Grundsatz des § 4 Abs. 1 TzBfG genügt werden. Die für den Zuschlag erforderliche Stundenzahl wird proportional zur individuellen Arbeitszeit verringert. 60 Die Betrachtung der einzelnen Entgeltbestandteile entspricht auch dem Ansatz des Gesetzgebers im Bereich der Entgeltdiskriminierung. So verbietet § 3 Abs. 1 EntgTranspG eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts in Bezug auf sämtliche Entgeltbestandteile und Entgeltbedingungen. 61 ee) Eine Vorlage an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts nach § 45 Abs. 2 ArbGG und in deren Vorfeld eine Divergenzanfrage beim Dritten und beim Fünften Senat nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG waren nicht geboten. 62 Die Rechtsfrage, welche Methode für die Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts benachteiligt werden, anzuwenden ist, stellt sich spätestens seit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. Dezember 2007 (- C-300/06 – [Voß] Slg. 2007, I-10573) nicht mehr. Schon die Entscheidung vom 27. Mai 2004 (- C-285/02 – [Elsner-Lakeberg] Slg. 2004, I-5861) markiert eine Zäsur im Verständnis der Vergleichsmethoden. Spätestens nachdem der Gerichtshof in der Entscheidung vom 6. Dezember 2007 wiederholt hatte, dass für die Prüfung einer Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten die Vergütungsbestandteile zu untersuchen sind (EuGH 6. Dezember 2007 – C-300/06 – [Voß] Rn. 36, aaO), war die rechtliche Grundlage der früheren Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts entfallen (vgl. BVerfG 2. Juli 1992 – 2 BvR 972/92 – zu II 1 a der Gründe). Deshalb fehlt die für eine Anrufung des Großen Senats erforderliche Identität der Rechtslage (BAG 28. Juni 2012 – 6 AZR 780/10 – Rn. 81 mwN, BAGE 142, 202; vgl. außerhalb des Unionsrechts auch BAG 24. Oktober 2018 – 10 AZR 285/16 – Rn. 56). 63 Hinzu kommt, dass nur der Sechste und der Zehnte Senat für Zuschläge für unter besonderen Umständen geleistete Arbeit zuständig sind. 64 ff) Ein Tarifverständnis, nach dem ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge erst bestünde, wenn die Arbeitszeit bei Vollzeittätigkeit überschritten wird, führte zu einer unmittelbaren Ungleichbehandlung von Teilzeitkräften. Während Vollzeitkräfte Zuschläge bereits für die erste Stunde Mehrarbeit erhielten, kämen Teilzeitkräfte erst dann in den Genuss von Zuschlägen, wenn sie das Delta zwischen ihrer individuellen Teilzeitquote und der Arbeitszeit bei Vollzeittätigkeit gearbeitet hätten. Damit ginge eine wegen ihrer Teilzeitquote höhere Belastungsgrenze einher (vgl. EuGH 27. Mai 2004 – C-285/02 – [Elsner-Lakeberg] Rn. 17, Slg. 2004, I-5861). Teilzeitkräfte würden damit unmittelbar benachteiligt (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 53, BAGE 158, 360). 65 b) Ein sachlicher Grund iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG, der diese Ungleichbehandlung rechtfertigte, besteht nicht. 66 aa) Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren. Eine unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten kann nur gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt. Es kommt nicht auf die denkbaren Zwecke an, die mit der betreffenden Leistung verfolgt werden können, sondern auf diejenigen, um die es den Tarifvertragsparteien bei der betreffenden Leistung nach ihrem im Tarifvertrag selbst zum Ausdruck gekommenen, durch die Tarifautonomie geschützten Willen geht (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55 mwN, BAGE 158, 360). 67 bb) Der mit den Mehrarbeitszuschlägen des MTV verfolgte Zweck, die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit zu belohnen und Arbeitgeber von Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer abzuhalten, bezieht sich in gleicher Weise auf Teilzeit- und Vollzeitkräfte. Er kann nur erreicht werden, wenn die Zuschläge von der individuell vereinbarten Arbeitszeit abhängen. Ein Abweichen vom Pro-rata-temporis-Grundsatz kann damit nicht gerechtfertigt werden. 68 c) Diese Auslegung verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG (zu der Beachtung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die Tarifvertragsparteien BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 44, BAGE 162, 230; 29. Juni 2017 – 6 AZR 364/16 – Rn. 22, BAGE 159, 294). 69 aa) Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich- und wesentlich Ungleiches ungleichzubehandeln (vgl. nur BVerfG 13. Dezember 2016 – 1 BvR 713/13 – Rn. 18 mwN; BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 44, BAGE 162, 230; 25. Januar 2018 – 6 AZR 791/16 – Rn. 26, BAGE 161, 356). Dabei ist es grundsätzlich dem Normgeber überlassen, die Merkmale zu bestimmen, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BVerfG 7. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 – Rn. 76, BVerfGE 133, 377; BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – aaO; 26. April 2017 – 10 AZR 856/15 – Rn. 31). 70 bb) Danach führt die Leistung von Mehrarbeitszuschlägen ab Überschreiten der individuell vereinbarten Arbeitszeit nicht zu einer ungerechtfertigten Besserstellung von Teilzeit- gegenüber Vollzeitkräften. Beide Gruppen werden gleichbehandelt. Sie erhalten für die gleiche Belastung, die durch die überobligatorische Inanspruchnahme ihrer Arbeitsleistung und den Eingriff in ihre Freizeit eintritt, die gleichen Mehrarbeitszuschläge (BAG 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 61, BAGE 158, 360). 71 cc) Auch im Verhältnis zu Teilzeitkräften mit Monatsarbeitszeit kommt es zu keiner Besserstellung. 72 (1) Ein Tarifverständnis, nach dem diese Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge erst erhielten, wenn sie die Arbeitszeit bei einer Vollzeittätigkeit überschritten, wäre ebenfalls mit § 4 Abs. 1 TzBfG unvereinbar, sodass es sich um keine Ungleichbehandlung handelt. 73 (2) Selbst wenn eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung zulasten der Teilzeitbeschäftigten mit Monatsarbeitszeit anzunehmen wäre, führte dies nicht dazu, dass Teilzeitbeschäftigten mit Jahresarbeitszeit die Mehrarbeitszuschläge nicht bereits ab Überschreiten ihrer individuell vereinbarten Arbeitszeit zustünden. Vielmehr wäre für die hier in der Vergangenheit liegenden Zeiten eine Anpassung „nach oben“ vorzunehmen (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 58, BAGE 162, 230). Den benachteiligten Teilzeitkräften mit Monatsarbeitszeit stünden Mehrarbeitszuschläge ebenfalls bereits dann zu, wenn die individuell vereinbarte Arbeitszeit überschritten würde. 74 C. Die Klägerin hat bei 19,69 Stunden erbrachter Mehrarbeit und einer Bruttostundenvergütung von 13,22 Euro jedenfalls Anspruch auf die geltend gemachten Zuschläge von 85,85 Euro brutto. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. 75 D. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Pauschale von 40,00 Euro nach § 288 Abs. 5 BGB. Die Vorschrift des § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG steht dem Anspruch entgegen (vgl. BAG 25. September 2018 – 8 AZR 26/18 – Rn. 23 ff.). 76 E. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.              Gallner                  Pulz                  Pessinger                                    Petri                  Rudolph
bundesarbeitsgericht
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20.02.2018
20.02.2018 9/18 - Hinterbliebenenversorgung - Altersabstandsklausel - Altersdiskriminierung Sieht eine Regelung in einer Versorgungsordnung vor, dass Ehegatten nur dann eine Hinterbliebenenversorgung erhalten, wenn sie nicht mehr als 15 Jahre jünger als der Versorgungsberechtigte sind, liegt darin keine gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verstoßende Diskriminierung wegen des Alters. Die Klägerin ist 1968 geboren. Sie hat ihren 1950 geborenen und 2011 verstorbenen Ehemann im Jahr 1995 geheiratet. Dem verstorbenen Ehemann der Klägerin war von seinem Arbeitgeber ua. eine Hinterbliebenenversorgung zugesagt worden. Nach der Versorgungsordnung setzt der Anspruch auf Leistungen an die Ehegatten voraus, dass sie nicht mehr als 15 Jahre jünger als der Versorgungsberechtigte sind. Nach Ansicht des Dritten Senats des Bundesarbeitsgerichts ist die durch diese Al-tersabstandsklausel bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters ge-rechtfertigt. Der Arbeitgeber, der eine Hinterbliebenenversorgung zusagt, hat ein legitimes Interesse, das hiermit verbundene finanzielle Risiko zu begrenzen. Die Altersabstandsklausel ist auch erforderlich und angemessen. Sie führt nicht zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen der versorgungsberechtigten Arbeitnehmer, die von der Klausel betroffen sind. Bei einem Altersabstand von mehr als 15 Jahren ist der gemeinsame Lebenszuschnitt der Ehepartner darauf angelegt, dass der Hinterbliebene einen Teil seines Lebens ohne den Versorgungsberechtigten verbringt. Zudem werden wegen des Altersabstands von mehr als 15 Jahren nur solche Ehegatten von dem Ausschluss erfasst, deren Altersabstand zum Ehepartener den üblichen Abstand erheblich übersteigt. Bundesarbeitsgericht Urteil vom 20. Februar 2018 – 3 AZR 43/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln Urteil vom 31. August 2016 – 11 Sa 81/16 –
Tenor Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 31. August 2016 – 11 Sa 81/16 – aufgehoben, soweit der Klage stattgegeben wurde. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 2. Dezember 2015 – 2 Ca 9521/14 – wird insgesamt zurückgewiesen. Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen. Leitsatz Eine Regelung in einer Versorgungsordnung, nach der Ehegatten, die mehr als 15 Jahre jünger als der versorgungsberechtigte Arbeitnehmer sind, von der Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung ausgeschlossen sind, bewirkt keine unzulässige Benachteiligung wegen des Alters nach §§ 1, 3 AGG. Tatbestand 1 Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung verpflichtet ist, der Klägerin eine Ehegattenrente zu gewähren. 2 Die im August 1968 geborene Klägerin ist die Witwe des im Juli 1950 geborenen und im November 2011 verstorbenen S. Die Ehe wurde im Juli 1995 geschlossen. Der verstorbene Ehemann der Klägerin war vom 1. Oktober 1987 bis zum 30. Juni 2011 bei der P GmbH und deren Rechtsvorgängern beschäftigt. Ihm waren Leistungen der betrieblichen Altersversorgung nach der Versorgungsordnung vom 1. Dezember 1990 (im Folgenden VO 1990) zugesagt worden. Die VO 1990 bestimmt auszugsweise:          „§ 2 Versorgungsfall          1)     Als Eintritt des Versorgungsfalles gilt das Ausscheiden des Berechtigten aus dem Betrieb                   a)     nach Erreichen der Altersgrenze,                   …                                 d)     durch Tod.          …                 § 3 Versorgungsleistungen          1)     Nach Eintritt des Versorgungsfalles und nach Erfüllung der jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen werden als Versorgungsleistungen gewährt:                   entweder a)     Altersrenten (§ 8)                    …                                                     oder    d)     Ehegattenrenten (§ 11)          …                 § 11 Ehegattenrente          1)     Beim Tode eines Berechtigten mit Anspruch oder Anwartschaft auf Rente hat sein ihn überlebender Ehegatte Anspruch auf eine Ehegattenrente.          2)     Ein Anspruch auf Ehegattenrente setzt voraus, daß                   a)     die Ehe vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Berechtigten und                            b)     vor Austritt aus dem Betrieb geschlossen wurde und                            c)     bis zum Zeitpunkt des Todes des Berechtigten bestanden hat und                            d)     der Ehegatte nicht um mehr als 15 Jahre jünger ist als der Berechtigte.“          3 Mit Beschluss des Amtsgerichts Mühldorf am Inn vom 1. November 2010 wurde über das Vermögen der P GmbH (im Folgenden Insolvenzschuldnerin) das Insolvenzverfahren eröffnet. 4 Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, der Beklagte müsse ihr ab Dezember 2011 eine Ehegattenrente zahlen. Die Altersabstandsklausel in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 sei unwirksam. Sie bewirke eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters. 5 Die Klägerin hat – soweit für die Revision noch von Interesse – beantragt,          1.     den Beklagten zu verurteilen, an sie eine Hinterbliebenenrente iHv. 13.654,35 Euro für den Zeitraum Dezember 2011 bis einschließlich August 2016 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 239,55 Euro ab dem 31. Dezember 2011 und sodann fortfolgend am letzten des jeweiligen Monats bis einschließlich 31. August 2016 zu zahlen;          2.     festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, an sie in seiner Eigenschaft als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung beginnend mit dem September 2016 am letzten des jeweiligen Monats eine Hinterbliebenenrente iHv. 239,55 Euro zu zahlen. 6 Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. 7 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage – soweit für die Revision noch von Interesse – stattgegeben. Mit seiner Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Klägerin begehrt die Zurückweisung der Revision. Entscheidungsgründe 8 Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die zulässige Klage ist unbegründet. 9 I. Die Klage ist zulässig. Dies gilt auch für den Feststellungsantrag. Der Antrag richtet sich auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO, nämlich die Pflicht des Beklagten, an die Klägerin ab Dezember 2011 eine Ehegattenrente iHv. 239,55 Euro zu zahlen. Da der Beklagte diese Verpflichtung bestreitet, hat die Klägerin ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Der Vorrang der Leistungsklage greift bereits deshalb nicht, weil bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz die Zahlung einer Ehegattenrente für die Zeit ab September 2016 noch nicht fällig war. 10 II. Die Klage ist unbegründet. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin eine Ehegattenrente zu zahlen. Zwar war der verstorbene Ehemann der Klägerin bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin am 1. November 2010 Versorgungsanwärter iSd. § 7 Abs. 2 BetrAVG, da er zu diesem Zeitpunkt über eine nach § 1b Abs. 1 Satz 1 BetrAVG idF vom 10. Dezember 2007 unverfallbare Versorgungsanwartschaft auf Leistungen nach der VO 1990 und damit aus einer unmittelbaren Versorgungszusage der Insolvenzschuldnerin verfügte. Die Klägerin erfüllt jedoch wegen des Ausschlusstatbestandes nach § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 die Voraussetzungen für eine Ehegattenrente nicht. Die im August 1968 geborene Klägerin ist um mehr als 15 Jahre jünger als ihr im Juli 1950 geborener (früherer) Ehemann. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ist die Regelung in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 wirksam. 11 1. Der Ausschluss von Ehegatten, die mehr als 15 Jahre jünger als der versorgungsberechtigte Arbeitnehmer sind, von der Gewährung einer Ehegattenrente bewirkt keine unzulässige Benachteiligung wegen des Alters nach §§ 1, 3 AGG und ist damit nicht nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam (für die Zulässigkeit einer solchen Altersabstandsklausel auch: Däubler/Bertzbach/Schrader/Schubert 3. Aufl. § 2 Rn. 156a; Adomeit/Mohr AGG 2. Aufl. § 10 Rn. 159; Bauer/Krieger NZA 2016, 22, 25; Bauer/Krieger AGG 4. Aufl. § 2 Rn. 49; Höfer/Höfer BetrAVG Stand Januar 2018 Kap. 7 Rn. 117; aA: Preis BetrAV 2010, 513, 515; Preis/Temming NZA 2008, 1209, 1215; Schiek/M. Schmidt AGG § 10 Rn. 25; Meinel/Heyn/Herms AGG 2. Aufl. § 10 Rn. 69a; v. Roetteken AGG Stand Januar 2018 § 10 Rn. 448). 12 a) Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist anwendbar. 13 aa) Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gilt trotz der in § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG enthaltenen Verweisung auf das Betriebsrentengesetz auch für die betriebliche Altersversorgung, soweit das Betriebsrentengesetz nicht vorrangige Sonderregelungen enthält (st. Rspr. seit BAG 11. Dezember 2007 – 3 AZR 249/06 – Rn. 22, BAGE 125, 133; 26. September 2017 – 3 AZR 72/16 – Rn. 30 mwN). Letzteres ist nicht der Fall. 14 bb) Der persönliche Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AGG ebenfalls eröffnet. Zwar unterfällt die Klägerin – im Verhältnis zur Insolvenzschuldnerin – als Hinterbliebene ihres versorgungsberechtigten Ehemanns selbst nicht unmittelbar dem Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, da sie insoweit nicht zu den in § 6 Abs. 1 AGG genannten Personengruppen zählt. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist für die Beurteilung der Frage, ob eine Benachteiligung vorliegt, jedoch auf den versorgungsberechtigten Arbeitnehmer und nicht auf den Hinterbliebenen abzustellen (st. Rspr. vgl. etwa BAG 14. November 2017 – 3 AZR 781/16 – Rn. 17 ff. mwN). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG L 303 vom 2. Dezember 2000 S. 16, im Folgenden Richtlinie 2000/78/EG; EuGH 24. November 2016 – C-443/15 – [Parris] Rn. 67). Der verstorbene Ehemann der Klägerin fiel in den persönlichen Geltungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Dieses gilt nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG auch für Personen, deren Beschäftigungsverhältnis – wie vorliegend – bereits beendet ist. 15 cc) Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist auch in zeitlicher Hinsicht anwendbar. Nach Art. 4 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), das am 17. August 2006 verkündet wurde, trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz am 18. August 2006 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt stand der verstorbene Ehemann der Klägerin in einem Arbeitsverhältnis und damit in einem Rechtsverhältnis mit der Insolvenzschuldnerin; damit ist die zeitliche Anwendbarkeit des Gesetzes gegeben. 16 b) § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 verstößt nicht gegen §§ 1, 3 AGG. Die durch die Regelung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters ist gerechtfertigt. 17 aa) Entgegen der Ansicht des Beklagten führt § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 zu einer unmittelbaren Benachteiligung wegen des Alters iSd. § 3 Abs. 1 AGG. 18 (1) Nach § 7 Abs. 1 Halbs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen der in § 1 AGG genannten Gründe, ua. wegen des Alters, benachteiligt werden. Unzulässig sind unmittelbare und mittelbare Benachteiligungen. Eine unmittelbare Benachteiligung ist nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG gegeben, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation. Nach § 3 Abs. 2 AGG liegt eine mittelbare Benachteiligung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. 19 (2) Die Altersabstandsklausel in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 benachteiligt die von der Regelung erfassten Arbeitnehmer unmittelbar wegen ihres Alters (für eine unmittelbare Benachteiligung auch Preis BetrAV 2010, 513, 515; für eine lediglich mittelbare Benachteiligung dagegen: Bauer/Krieger AGG 4. Aufl. § 2 Rn. 49; Bauer/Krieger NZA 2016, 22, 25; EuArbR/Mohr 2. Aufl. Art. 6 RL 2000/78/EG Rn. 85; Rolfs SR 2013, 41, 46; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. Dezember 2017 AGG § 10 Rn. 18; MüKoBGB/Thüsing 7. Aufl. § 10 AGG Rn. 62; Thüsing BetrAV 2006, 704, 706; wohl auch Meinel/Heyn/Herms AGG 2. Aufl. § 10 Rn. 69a). Die Regelung, die an den Altersabstand zwischen dem Versorgungsberechtigten und seinem Ehepartner und damit an ein Kriterium anknüpft, das in untrennbarem Zusammenhang mit dem in § 1 AGG genannten Merkmal „Alter“ steht, hat zwangsläufig zur Folge, dass nur Arbeitnehmer ab einem bestimmten Alter von § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 nachteilig betroffen sein können. Der durch die Klausel bewirkte Ausschluss von Ehegatten, die mehr als 15 Jahre jünger sind als der versorgungsberechtigte Arbeitnehmer, aus der Hinterbliebenenversorgung, kann – ausgehend von einem Ehemündigkeitsalter von 18 Jahren nach § 1303 Abs. 1 iVm. § 2 BGB – regelmäßig nur solche Arbeitnehmer erfassen, die bei Eheschließung das 33. Lebensjahr vollendet haben. Unerheblich ist, dass nicht alle (verheirateten) Arbeitnehmer dieser Altersgruppe von der Regelung nachteilig betroffen sind, sondern nur solche, deren Ehepartner um mehr als 15 Jahre jünger ist. Eine unmittelbare Benachteiligung dieser Altersgruppe entfällt nicht deshalb, weil nur ein Teil der Merkmalsträger hiervon betroffen wird. Die unmittelbare Anknüpfung einer Regelung an ein Merkmal iSd. § 1 AGG wird durch die Einschränkung des Kreises der nachteilig Betroffenen nicht beseitigt. 20 bb) Ob § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 darüber hinaus auch zu einer mittelbaren Benachteiligung von Männern und damit wegen des Geschlechts nach §§ 1, 3 Abs. 2 AGG führt, hat der Senat nicht zu prüfen. Die Klägerin hat keinen Sachvortrag dazu gehalten, dass bei der Insolvenzschuldnerin typischerweise erheblich mehr Männer jüngere Frauen geheiratet haben und damit von der Klausel nachteilig betroffen waren. 21 cc) Die durch die Altersabstandsklausel in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 bewirkte Benachteiligung wegen des Alters ist nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG sachlich gerechtfertigt. 22 (1) Nach § 10 Satz 1 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen nach § 10 Satz 2 AGG angemessen und erforderlich sein. § 10 Satz 3 AGG enthält eine Aufzählung von Tatbeständen, wonach derartige unterschiedliche Behandlungen insbesondere gerechtfertigt sein können. Nach § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG ist dies der Fall bei der Festsetzung von Altersgrenzen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen von Beschäftigten und die Verwendung von Alterskriterien im Rahmen dieser Systeme für versicherungsmathematische Berechnungen. Indem der Gesetzgeber den in Nr. 4 geregelten Tatbestand in die Rechtfertigungsgründe des § 10 Satz 3 AGG eingeordnet hat, hat er zum Ausdruck gebracht, dass die Festsetzung von Altersgrenzen für den Anspruch auf Leistungen aus den dort aufgeführten betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit grundsätzlich objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel iSv. § 10 Satz 1 AGG gerechtfertigt ist. Da eine solche Altersgrenze in der jeweiligen Versorgungsregelung festzusetzen ist, muss die konkret gewählte Altersgrenze allerdings iSv. § 10 Satz 2 AGG angemessen und erforderlich sein (st. Rspr. vgl. etwa BAG 4. August 2015 – 3 AZR 137/13 – Rn. 43, BAGE 152, 164; 9. Dezember 2014 – 1 AZR 102/13 – Rn. 25, BAGE 150, 136; 18. März 2014 – 3 AZR 69/12 – Rn. 20, BAGE 147, 279; 12. November 2013 – 3 AZR 356/12 – Rn. 22 mwN). Soweit die Voraussetzungen von § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG erfüllt sind, ist eine unterschiedliche Behandlung danach zwar grundsätzlich, aber nicht immer zulässig (BAG 26. September 2017 – 3 AZR 72/16 – Rn. 38). 23 (2) § 10 AGG dient der Umsetzung von Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG L 303 vom 2. Dezember 2000 S. 16, im Folgenden Richtlinie 2000/78/EG) in das nationale Recht. Die Bestimmung ist mit Unionsrecht vereinbar (vgl. bereits BAG 18. März 2014 – 3 AZR 69/12 – Rn. 22 ff. mwN, BAGE 147, 279). Dies gilt auch, soweit die dortigen Anforderungen an die Zulässigkeit von Altersgrenzen iSd. § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG über das nach Unionsrecht Erforderliche hinausgehen (vgl. dazu ausführlich BAG 26. September 2017 – 3 AZR 72/16 – Rn. 40 ff.). 24 (3) Es kann dahinstehen, ob es sich bei der Altersabstandsklausel in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 um eine Altersgrenze iSd. § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG handelt. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin annähme, dass der Tatbestand des § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG im Streitfall nicht erfüllt wäre, wäre die durch die Regelung bewirkte unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG gerechtfertigt. 25 (a) Mit der Ausschlussregelung in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 werden legitime Ziele iSd. § 10 Satz 1 AGG verfolgt. 26 (aa) Legitime Ziele iSv. § 10 Satz 1 AGG sind wegen der in Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2000/78/EG genannten Beispielsfälle „Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung“ sozialpolitische Ziele wie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung (vgl. EuGH 13. September 2011 – C-447/09 – [Prigge] Rn. 81 mwN; vgl. auch BVerfG 24. Oktober 2011 – 1 BvR 1103/11 – Rn. 15). Auch Ziele im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik, die ein Arbeitgeber mit einer im Arbeitsvertrag vorgesehenen betrieblichen Altersversorgung anstrebt, können legitime Ziele im Sinne der unionsrechtlichen Vorgaben sein (vgl. EuGH 26. September 2013 – C-476/11 – [HK Danmark] Rn. 60 ff.). Dementsprechend sind Ziele, die im Rahmen von Anliegen der Beschäftigungspolitik und des Sozialschutzes einen Ausgleich zwischen verschiedenen beteiligten Interessen schaffen sollen, um damit der Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung zu dienen, als legitim iSv. § 10 Satz 1 AGG anzusehen. Dazu gehört auch, den unternehmerischen Belangen einer begrenz- und kalkulierbaren Belastung Rechnung zu tragen (vgl. EuGH 13. Juli 2017 – C-354/16 – [Kleinsteuber] Rn. 62 ff.). Indem § 10 AGG erlaubt, in Versorgungsordnungen die Leistungspflichten des Versorgungsschuldners zu begrenzen und damit für diesen eine verlässliche und überschaubare Kalkulationsgrundlage zu schaffen, verfolgt die gesetzliche Bestimmung das Ziel, die betriebliche Altersversorgung zu verbreiten. Es hält sich demnach im Rahmen dieses legitimen Ziels, wenn in einer Versorgungsordnung von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird (BAG 26. September 2017 – 3 AZR 72/16 – Rn. 49). 27 (bb) Das mit einer Regelung verfolgte Ziel muss dabei nicht ausdrücklich benannt werden. Auch aus dem allgemeinen Kontext der Regelung können sich Anhaltspunkte ergeben, die es ermöglichen, den Zweck der Regelung festzustellen und dadurch Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Bestimmung zu überprüfen (vgl. BAG 26. September 2017 – 3 AZR 72/16 – Rn. 50 mwN). 28 (cc) Danach ist der in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 geregelte Ausschluss von mehr als 15 Jahre jüngeren Ehegatten von der Hinterbliebenenversorgung durch ein legitimes Ziel gedeckt. Der Ausschluss begrenzt die mit der Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung verbundenen finanziellen Risiken. Damit dient die Regelung dem Interesse des Arbeitgebers an einer überschaubaren und kalkulierbaren Versorgungslast. Gerade bei der Hinterbliebenenversorgung hat der Arbeitgeber ein anerkennenswertes Interesse an einer solchen Begrenzung, da ein derartiges Leistungsversprechen zusätzliche Unwägbarkeiten und Risiken nicht nur in Bezug auf den Zeitpunkt des Leistungsfalls, sondern auch hinsichtlich der Dauer der Leistungserbringung mit sich bringt. 29 (b) Der Ausschluss in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 ist auch angemessen und erforderlich iSv. § 10 Satz 2 AGG. 30 (aa) Eine Regelung, die eine Benachteiligung wegen des Alters bewirkt, ist nach § 10 Satz 2 AGG grundsätzlich angemessen, wenn sie erlaubt, das mit ihr verfolgte Ziel iSv. § 10 Satz 1 AGG zu erreichen, ohne zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen derjenigen Arbeitnehmer zu führen, die aufgrund der Klausel benachteiligt werden (vgl. EuGH 26. Februar 2015 – C-515/13 – [Ingeniørforengingen i Danmark] Rn. 25). Sie ist erforderlich iSd. § 10 Satz 2 AGG, wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des angestrebten Ziels notwendig ist (vgl. EuGH 26. September 2013 – C-546/11 – [Dansk Jurist – og Økonomforbund] Rn. 59). 31 (bb) Gemessen daran ist die vorliegend streitbefangene Regelung sowohl angemessen als auch erforderlich. 32 (aaa) § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 ist durch den Ausschluss von Hinterbliebenen, die mehr als 15 Jahre jünger als der Versorgungsberechtigte sind, geeignet, das mit der Bestimmung verfolgte Ziel einer Risikobegrenzung zu erreichen. Die Regelung führt auch nicht zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der berechtigten Interessen derjenigen Arbeitnehmer, die aufgrund der Klausel benachteiligt werden. Zwar haben verheiratete Arbeitnehmer – unabhängig vom Alter ihres Ehegatten – regelmäßig ein Interesse an der Versorgung ihrer Hinterbliebenen. Auch handelt es sich bei der Hinterbliebenenversorgung um Entgelt, das die versorgungsberechtigten Arbeitnehmer als Gegenleistung für ihre im Arbeitsverhältnis erbrachte Betriebszugehörigkeit erhalten. Bei einem Altersabstand von mehr als 15 Jahren ist der – die Ehe prägende – gemeinsame Lebenszuschnitt der Ehepartner allerdings von vornherein darauf angelegt, dass der Hinterbliebene einen Teil seines Lebens ohne den Versorgungsberechtigten verbringt. Einem hohen Altersabstand innerhalb einer Ehe ist es typischerweise immanent, dass der jüngere Ehepartner einen größeren Zeitabschnitt seines Lebens ohne die an die Einkommenssituation des versorgungsberechtigten Arbeitnehmers gekoppelten Versorgungsmöglichkeiten erleben wird. Es ist daher legitim, wenn ein Arbeitgeber dieses bereits strukturell im Lebenszuschnitt des Arbeitnehmers angelegte Risiko nicht durch die Zusage einer Hinterbliebenenversorgung übernimmt. 33 Die Regelung in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 knüpft auch hinreichend an die für eine solche Situation maßgeblichen demographischen Kriterien an. Bei mehr als 80 vH aller Ehepaare beträgt der Altersabstand weniger als sieben Jahre (vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Haushalte und Familien, Ergebnisse des Mikrozensus 2016 S. 80). Bei einem Altersabstand von 15 Jahren und mehr zwischen dem versorgungsberechtigten Arbeitnehmer und seinem Ehegatten liegt daher ein den Ausschluss aus der Hinterbliebenenversorgung tragender Unterschied zum typischen „Normalfall“ vor. Die Bestimmung des § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 schließt nur solche Ehegatten von der Gewährung einer Ehegattenrente aus, deren Altersunterschied zum Ehepartner den üblichen Abstand in erheblichem Maße übersteigt. 34 (bbb) Der durch § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 bewirkte Anspruchsausschluss ist auch erforderlich iSv. § 10 Satz 2 AGG. Die durch die Vorschrift bewirkte Begrenzung lässt sich entgegen der Ansicht der Klägerin mit gleicher Wirksamkeit nicht durch ein milderes Mittel erreichen. Bestimmungen, die eine Staffelung oder Quotelung der Ehegattenrente für mehr als 15 Jahre jüngere Hinterbliebene, ein nach versicherungsmathematischen Grundsätzen berechnetes Abschmelzen der Ehegattenrente oder einen späteren Zahlungsbeginn vorsehen, führen nicht zu einem vollständigen Ausschluss der Hinterbliebenen von der Hinterbliebenenversorgung und sind damit nicht gleich wirksam. Auch durch eine Beschränkung der Bezugsdauer für alle Versorgungsberechtigten oder die Festlegung einer Höchstsumme für die Leistungen an die Hinterbliebenen lässt sich die durch § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 bewirkte Begrenzung der finanziellen Risiken für den Arbeitgeber nicht mit der gleichen Genauigkeit erreichen. 35 2. Die Altersabstandsklausel in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 ist auch nicht deshalb unwirksam, weil sie die früheren Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin entgegen den Geboten von Treu und Glauben nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unangemessen benachteiligt. Zwar dürfte es sich bei den Bestimmungen der VO 1990 um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSd. § 305 Abs. 1 BGB handeln. Soweit die Klausel in § 11 Abs. 2 Buchst. d VO 1990 jedoch zu einer Benachteiligung der rechtlich anerkannten Interessen der Versorgungsberechtigten führt, ist dies durch das begründete und billigenswerte Interesse der Versorgungsschuldnerin an einer Begrenzung der Hinterbliebenenversorgung gerechtfertigt (vgl. allgemein zur unangemessenen Benachteiligung BAG 21. Februar 2017 – 3 AZR 297/15 – Rn. 35 mwN, BAGE 158, 154). Insoweit gilt im Streitfall für die Prüfung nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB nichts Weitergehendes als für die vorliegende Prüfung nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG. 36 III. Ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht geboten. Der vorliegende Fall wirft keine entscheidungserheblichen Fragen des Unionsrechts auf. Ob eine Diskriminierung wegen des Alters iSd. Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG sachlich gerechtfertigt ist, haben die nationalen Gerichte zu prüfen (vgl. EuGH 5. März 2009 – C-388/07 – [Age Concern England] Rn. 47). 37 IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 97 ZPO.              Zwanziger                  Spinner                  Ahrendt                                    Hausmann                  Brunke
bundesarbeitsgericht
bag_4-17
26.01.2017
26.01.2017 4/17 - Massenentlassungsschutz - Benachteiligung von Personen in Elternzeit Massenentlassungen innerhalb von 30 Kalendertagen bedürfen nach Maßgabe von § 17 KSchG zu ihrer Wirksamkeit einer vorherigen ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats und einer vorherigen ordnungsgemäßen Anzeige an die Agentur für Arbeit. Dieser durch § 17 KSchG gewährleistete Schutz ist europarechtlich durch die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) determiniert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk]) ist unter „Entlassung“ die Kündigungserklärung zu verstehen. Hiervon ausgehend hielt der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts die Kündigung gegenüber einer Arbeitnehmerin vom 10. März 2010 für wirksam, die sich zur Zeit der wegen einer Betriebsstilllegung durchgeführten Massenentlassungen in Elternzeit befand und deren Arbeitsverhältnis erst nach Ablauf des Zeitraums von 30 Kalendertagen gekündigt wurde, obwohl sich die Kündigungen der übrigen Arbeitsverhältnisse mangels einer ordnungsgemäßen Konsultation des Betriebsrats gemäß § 17 KSchG als unwirksam erwiesen hatten (BAG 25. April 2013 – 6 AZR 49/12 -). Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – dieses Urteil aufgehoben, weil es die Klägerin in ihren Grundrechten aus Art. 3 iVm. Art. 6 GG verletze. Die Klägerin werde unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen versagt werde, weil das Abwarten der wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt habe, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt wurde. In diesen Fällen gelte der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zu der Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei. An diese nationalrechtliche Erweiterung des Entlassungsbegriffs bei Massenentlassungen durch das Bundesverfassungsgericht ist der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts ungeachtet der Probleme gebunden, die ua. dann entstehen, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG erteilt wird oder wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist. Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat deshalb nun auf die Revision der Klägerin festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 10. März 2010 nicht aufgelöst worden ist. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16 – Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 31. Oktober 2011 – 17 Sa 761/11 –
Tenor 1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 31. Oktober 2011 – 17 Sa 761/11 – im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es die Berufung hinsichtlich der gegen die Beklagte zu 1. gerichteten Kündigungsschutzklage gegen die Wirksamkeit der Kündigung vom 10. März 2010 mit dem Antrag auf Feststellung des unveränderten Fortbestands des Arbeitsverhältnisses bis zum 30. Juni 2013 zurückgewiesen hat. 2. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 6. April 2011- 2 Ca 2422/10 – im Kostenpunkt und insoweit abgeändert, als es die gegen die Beklagte zu 1. gerichtete Kündigungsschutzklage gegen die Wirksamkeit der Kündigung vom 10. März 2010 sowie den gegen die Beklagte zu 1. gerichteten Hilfsantrag auf Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten zu 1. zu unveränderten Bedingungen bis 30. Juni 2013 abgewiesen hat. Insoweit wird das Urteil wie folgt gefasst: Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1. durch die Kündigung der Beklagten zu 1. vom 10. März 2010 nicht aufgelöst worden ist, sondern bis zum 30. Juni 2013 unverändert fortbestanden hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Die Klägerin trägt die Gerichtskosten erster Instanz zu 43 % sowie die Gerichtskosten zweiter Instanz zu 57 %. Die Beklagte zu 1. trägt die Gerichtskosten erster Instanz zu 57 %, die Gerichtskosten zweiter Instanz zu 43 %. Die Gerichtskosten der Revisionsinstanz tragen die Klägerin und die Beklagte zu 1. je zur Hälfte. Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1. erster Instanz zu 43 % und die zweiter Instanz zu 57 %. Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2. voll. Die Beklagte zu 1. trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin der ersten Instanz zu 57 % und die der zweiten Instanz zu 43 %. Ihre außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz tragen die Klägerin und die Beklagte zu 1. je zur Hälfte. Leitsatz Bei Arbeitnehmern in Elternzeit ist Entlassung iSd. § 17 KSchG bereits der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde. Tatbestand 1 Die Parteien streiten nur noch darüber, ob die Klägerin sich auf den Massenentlassungsschutz nach § 17 KSchG berufen kann. 2 Die frühere Beklagte zu 1. (künftig Beklagte) ist die nach Rücknahme der Revision gegen die frühere Beklagte zu 2. mit Schriftsatz vom 23. April 2013 einzig verbliebene Beklagte. Sie ist eine ehemalige Fluggesellschaft, deren Hauptanteilseigner der griechische Staat ist. Sie unterhielt in Deutschland ua. eine Station in F mit 36 Arbeitnehmern. In dieser war die Klägerin, die sich bis zum 26. September 2011 in Elternzeit befand, seit Februar 1992 als Ticketing/Reservation Agent tätig. 3 Die Beklagte ist aufgrund des Beschlusses des Berufungsgerichts Athen (Efeteio) vom 2. Oktober 2009 in Sonderliquidation nach Art. 14 A des Gesetzes 3429/2005. Das führt gemäß Art. 14 A Nr. 4 dieses Gesetzes nicht zur Auflösung des Unternehmens. Der eingesetzte Liquidator führt die Geschäfte des Unternehmens, er verwaltet und vertritt es. Das Gericht setzte zunächst die E S.A., eine Aktiengesellschaft griechischen Rechts mit Sitz in Athen, später mit Wirkung zum 24. März 2015 die E T A.E als Liquidatorin ein. 4 Am 17. Dezember 2009 erstattete die Beklagte Massenentlassungsanzeige zur Beendigung aller 36 Arbeitsverhältnisse in der Station F. Ein Konsultationsverfahren führte sie nicht durch. Auf den am 17. Dezember 2009 eingegangenen Antrag der Beklagten vom 16. Dezember 2009 erklärte die zuständige Behörde die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin mit Bescheid vom 2. März 2010 für zulässig. Daraufhin kündigte Rechtsanwalt G das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 10. März 2010, das dieser am 12. März 2010 zuging, „namens und in Vollmacht des Sonderliquidators“ zum 30. Juni 2010. Zuvor hatte er mit Schreiben vom 24. Dezember 2009 und 15. Januar 2010 die Arbeitsverhältnisse der übrigen Arbeitnehmer der Station in F gekündigt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist zwischenzeitlich durch eine weitere Kündigung der Beklagten zum 30. Juni 2013 beendet. 5 Mit nicht unterzeichnetem Telefax vom 1. April 2010 hat sich die Klägerin gegen die Kündigung gewandt. Das unterschriebene Original der Klageschrift ist erst am 8. April 2010 beim Arbeitsgericht eingegangen. Als Beklagte ist die „E S.A. … als Sonderliquidator über das Vermögen der Firma O S.A.“ angegeben. Die Klägerin hat mit am selben Tag beim Arbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz vom 2. Juli 2010 beantragt, die Klage nachträglich zuzulassen. 6 Die Klägerin begehrt nach verschiedenen Rücknahmen von Anträgen und einer Beschränkung der Revision zuletzt nur noch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten bis zum 30. Juni 2013. Sie hat erstinstanzlich geltend gemacht, hinsichtlich der Kündigung vom 10. März 2010 liege keine wirksame Massenentlassungsanzeige vor. Jedenfalls sei dieser weder eine Unterrichtung des Betriebsrats oder eine Beratung mit demselben vorausgegangen, noch sei eine Stellungnahme des Betriebsrats zu einer eventuellen Massenentlassungsanzeige beigefügt gewesen. 7 Die Klägerin hat zuletzt bezogen auf das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten beantragt          1.     festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung vom 10. März 2010 nicht aufgelöst worden ist, sondern über den 30. Juni 2010 hinaus bis zum 30. Juni 2013 unverändert fortbestanden hat;          2.     festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin auch nicht durch andere Beendigungsgründe aufgelöst worden ist und über den 30. Juni 2010 hinaus bis zum 30. Juni 2013 unverändert fortbestanden hat. 8 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Kündigung nach § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam gelte. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Kündigungsschutzklage nachträglich zugelassen werde. Die dagegen gerichtete Revision hat der Senat mit Urteil vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 -) zurückgewiesen. Er hat angenommen, der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG sei in der maßgeblichen Station in F bei Zugang der Kündigung am 12. März 2010 nicht mehr erreicht gewesen. Der 30-Tage-Zeitraum des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG sei bei Zugang der Kündigungserklärung verstrichen gewesen. Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 8. Juni 2016 (- 1 BvR 3634/13 -) aufgehoben. Entscheidungsgründe 9 Die Revision ist im Umfang der von der Klägerin zuletzt gestellten Anträge begründet, soweit sie sich gegen die Beklagte richtet. Die Kündigung der Beklagten vom 10. März 2010 war gemäß § 17 Abs. 2 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam, weil die Beklagte zuvor kein Konsultationsverfahren durchgeführt hatte. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat daher bis zum 30. Juni 2013 fortbestanden. Hinsichtlich der früheren Beklagten zu 2. ist das Urteil des Landesarbeitsgerichts durch Revisionsrücknahme rechtskräftig geworden. 10 I. Die deutschen Gerichte sind für die Entscheidung des Rechtsstreits international zuständig (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 24, BAGE 144, 125). 11 II. Die Revision der Klägerin ist zulässig. Dafür ist das deutsche Prozessrecht maßgeblich (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 303/12 – Rn. 19). Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin sind unter Beachtung der §§ 25 ff. des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland (EuRAG) postulationsfähig (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 303/12 – Rn. 21 ff.). 12 III. Die O S.A. als Schuldnerin ist, zuletzt vertreten durch die E T A.E als Sonderliquidatorin, passivlegitimiert. Die Auswirkungen der Bestellung der E S.A. bzw. der E T A.E zur Sonderliquidatorin über das Vermögen der Beklagten als Schuldnerin sowie ihre Befugnisse und ihre Rechtsstellung als Liquidatorin beurteilen sich nach griechischem Recht. Dabei ist unerheblich, ob das Sonderliquidationsverfahren ein Insolvenzverfahren iSv. Art. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (EuInsVO) ist (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 24 ff.). Auch der deutsche ordre public steht der Anerkennung der Eröffnung des Sonderliquidationsverfahrens nicht entgegen. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 – Rn. 41 bis 68) ausführlich begründet. Daran hält er fest. Dagegen wendet sich die Klägerin nicht. Der Senat sieht daher davon ab, seine Ausführungen zu wiederholen. 13 IV. Die noch zur Entscheidung des Senats gestellten Anträge bedürfen der Auslegung. Den in der Revision zuletzt zu 2. gestellten Antrag festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungsgründe aufgelöst worden ist, hat die Klägerin in der Berufungsinstanz ausdrücklich gegen die Beklagte zu 2. gerichtet. Das Landesarbeitsgericht hat ihn dementsprechend beschieden. Die Umstellung dieses Antrags auf die Beklagte ist keine in der Revisionsinstanz unzulässige Klageänderung, weil in dem in den Vorinstanzen gegen die Beklagte gestellten Antrag zu 1. bereits der allgemeine Feststellungsantrag enthalten ist, der mit dem Antrag zu 2. lediglich klargestellt worden ist. Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 13. Januar 2017 auf Hinweis des Senats erklärt hat, in den Anträgen zu 1. und 2. könne jeweils der Zusatz „und bis zum 30. Juni 2013“ ergänzt werden, liegt darin eine Beschränkung der Revision. 14 V. Die materiell-rechtliche Wirksamkeit der Kündigung der Beklagten bestimmt sich nach deutschem Arbeitsrecht. Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob das Sonderliquidationsverfahren der EuInsVO unterfällt (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 56 ff., BAGE 144, 125). 15 VI. Die Kündigung der Beklagten gilt nicht bereits nach § 7 Halbs. 1 KSchG als rechtswirksam. 16 1. Die gegen die „E S.A. … als Sonderliquidator über das Vermögen der Firma O S.A.“ gerichtete Kündigungsschutzklage war unabhängig von dieser Bezeichnung aus den in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Dezember 2012 (- 6 AZR 752/11 – Rn. 34 f.) genannten Gründen von vornherein gegen die O S.A. gerichtet. Entsprechendes gilt für den Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage. Der Senat hat darum die ungenaue Parteibezeichnung richtiggestellt und nach der Ernennung der E T A.E zur neuen Sonderliquidatorin das Passivrubrum berichtigt. 17 2. Die Wirksamkeitsfiktion des § 7 Halbs. 1 KSchG ist nicht eingetreten. Die Kündigungsschutzklage ist verspätet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage jedoch zu Recht nachträglich zugelassen. Seine Würdigung hält der revisionsrechtlichen Prüfung stand. Das hat der Senat in der Entscheidung vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 – Rn. 82 bis 105) ausführlich begründet. Daran hält er fest. Gegen diese Würdigung hat die Beklagte nach der Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht keine Rügen erhoben. Der Senat sieht daher davon ab, seine Ausführungen zu wiederholen. 18 VII. Die Beklagte hat vor der Kündigung vom 10. März 2010 das nach § 17 Abs. 2 KSchG auch für die von ihr geplante Betriebsstilllegung erforderliche (BAG in st. Rspr., zuletzt 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 22) Konsultationsverfahren nicht durchgeführt. Sie hat gegenüber dem Gesamtbetriebsrat als zuständigem Gremium nicht deutlich gemacht, dass dieses Verfahren durchgeführt werden sollte und hat ihn auch nicht rechtzeitig unterrichtet. Das hat der Senat in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2012 (- 6 AZR 752/11 – Rn. 44 ff.) ausführlich begründet und verweist darauf. Auf diesen Fehler kann sich die Klägerin berufen. Die Kündigung ist darum gemäß § 134 BGB nichtig (BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 19, BAGE 144, 366). Auf die weiteren, von der Klägerin geltend gemachten Unwirksamkeitsgründe kam es deshalb nicht an. 19 1. Die Klägerin ist mit der Rüge, die Kündigung sei unwirksam, weil das Konsultationsverfahren nicht erfolgt sei, nicht nach § 6 Satz 1 KSchG präkludiert. Sie hat erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 1. April 2011 nicht nur gerügt, es sei keine Massenentlassungsanzeige erfolgt, sondern auch geltend gemacht, es sei keine Unterrichtung des Betriebsrats und keine Beratung mit ihm erfolgt. Darauf hat die Beklagte nicht erwidert. Jedenfalls in einer solchen Prozesssituation genügte es den Anforderungen des § 6 Satz 1 KSchG, dass die Beklagte dem erstinstanzlichen Vortrag der Klägerin die „Stoßrichtung“ der Rüge entnehmen konnte (vgl. BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 13 ff., BAGE 154, 53; vgl. Moll/Katerndahl Anm. AP KSchG 1969 § 17 Nr. 48, die generell davon ausgehen, Sinn und Zweck des § 6 Satz 1 KSchG erforderten keine Substantiierung der Rüge). 20 2. Die Beklagte musste vor der Kündigung der Klägerin das Massenentlassungsverfahren durchführen. Der nach § 17 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 KSchG maßgebliche Schwellenwert war überschritten. 21 a) Für die Berechnung des Schwellenwerts war auf die Station in F, in der die Klägerin eingesetzt war und der sie damit „angehörte“ (vgl. EuGH 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 44 ff.), nicht aber auf die Gesamtheit der von der Beklagten in Deutschland unterhaltenen Stationen abzustellen (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 85, BAGE 144, 125). Ein betriebsverfassungsrechtliches Betriebsverständnis unter Heranziehung der §§ 1, 4 BetrVG führt zu keinem anderen Ergebnis (BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 348/11 – Rn. 84, aaO). 22 b) In der Station F waren 36 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte musste daher gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG das Konsultationsverfahren durchführen, sobald sie beabsichtigte, innerhalb von 30 Tagen mehr als fünf Arbeitnehmer zu entlassen. Angesichts der von ihr geplanten Entlassung aller Arbeitnehmer dieser Station war sie deshalb zur Einleitung des Konsultationsverfahrens verpflichtet. Das galt auch bezüglich der beabsichtigten Kündigung der Klägerin, obwohl diese Kündigungserklärung wegen der erforderlichen behördlichen Zustimmung nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG in der bis zum 31. Dezember 2014 geltenden Fassung vom 5. Dezember 2006 (BEEG aF) möglicherweise erst außerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erfolgen konnte und tatsächlich außerhalb dieses Zeitraums zugegangen ist. 23 aa) Der unionsrechtlich determinierte Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen knüpft an den Zeitpunkt der Entlassung und damit an den Zugang der Kündigungserklärung an (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 39, Slg. 2005, I-885; BAG in st. Rspr. seit 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – Rn. 18, BAGE 117, 281; zuletzt 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 17). Massenentlassungen liegen nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a Ziff. i der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie – MERL -, ABl. EG L 225 vom 12. August 1998 S. 16) nur vor, wenn innerhalb von 30 Tagen eine bestimmte, von der Betriebsgröße abhängige Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird (Schwellenwert). Diese Definition ist vom Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG – mit von Art. 5 MERL gedeckten günstigeren Schwellenwerten (BAG 19. März 2015 – 8 AZR 119/14 – Rn. 42 f.) – in deutsches Recht umgesetzt worden. Maßgeblich für den Massenentlassungsschutz ist also grundsätzlich, ob der Arbeitgeber innerhalb von 30 Tagen mindestens die in § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 KSchG genannte Anzahl von Kündigungen erklärt. 24 bb) Ausgehend von der Systematik der MERL entscheidet sich grundsätzlich erst im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärungen und damit aus der ex-post-Perspektive, ob tatsächlich eine Massenentlassung erfolgt ist und sich der gekündigte Arbeitnehmer auf diesen Schutz berufen kann. 25 (1) Anzahl und Zeitpunkt der Kündigungen stehen allerdings bei Einleitung des dem Anzeigeverfahren vorgelagerten Konsultationsverfahrens regelmäßig noch nicht fest. Das Konsultationsverfahren ist gemäß Art. 2 Abs. 1 MERL und § 17 Abs. 2 KSchG „rechtzeitig“ einzuleiten, dh. zu dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber erwägt, Massenentlassungen vorzunehmen, oder einen Plan für Massenentlassungen aufstellt (EuGH 10. September 2009 – C-44/08 – [Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK ua.] Rn. 41, Slg. 2009, I-8163; BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 25). Der Arbeitgeber darf auch bei einer geplanten Betriebsstilllegung im Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und damit vollendete Tatsachen geschaffen haben (vgl. EUArbR/Spelge RL 98/59/EG Art. 2 Rn. 16; APS/Moll 5. Aufl. KSchG § 17 Rn. 72; vgl. für §§ 111 ff. BetrVG BAG 14. April 2015 – 1 AZR 223/14 – Rn. 21). Anderenfalls kann der Betriebsrat den von Art. 2 MERL und § 17 Abs. 2 KSchG beabsichtigten möglichen Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers nicht (mehr) nehmen. Der Arbeitgeber muss darum regelmäßig das Konsultationsverfahren auf alle für eine Kündigung in Betracht kommenden Arbeitnehmer erstrecken. Das gilt grundsätzlich auch für Arbeitnehmer, deren Kündigung wie im Fall der Klägerin behördlicher Zustimmung bedarf. Nur dann, wenn der Arbeitgeber bei Einleitung des Verfahrens sicher ausschließen kann, dass Arbeitnehmer innerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, etwa weil er ihre Entlassung erst in einer zweiten „Kündigungswelle“ plant (vgl. die der Entscheidung des BAG vom 9. Juni 2016 – 6 AZR 638/15 – zugrunde liegende Konstellation), muss er diese nach der Konzeption der MERL auch dann nicht in das Konsultationsverfahren einbeziehen, wenn ihnen Sonderkündigungsschutz zukommt. 26 (2) Arbeitnehmer, die außerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, können sich jedoch unabhängig davon, ob dies auf ein behördliches Zustimmungserfordernis zurückzuführen ist, nach der unionsrechtlichen Ausgestaltung des Massenentlassungsschutzes auf Fehler im Konsultationsverfahren nicht berufen. Bei einer solchen Kündigung wird der Schutz der MERL nicht ausgelöst, weil keine Massenentlassung vorliegt. Das ist im Hinblick auf die Zielrichtung der Richtlinie auch konsequent, die ausweislich ihres Erwägungsgrundes 2 den Schutz von Arbeitnehmern bei Massenentlassungen verstärken soll. Des verstärkten Schutzes der MERL bedürfen Arbeitnehmer aber nur und insoweit, als die von der Richtlinie vorausgesetzten sozio-ökonomischen Auswirkungen (dazu EuGH 15. Februar 2007 – C-270/05 – [Athinaïki Chartopoiïa] Rn. 28, Slg. 2007, I-1499; BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 27 f., BAGE 154, 53) eintreten können. Arbeitnehmer, denen eine Kündigung außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugeht, sind daher ausgehend vom Zweck der MERL nicht schutzwürdig. Unterfiele die Entlassung einzelner Arbeitnehmer dem Anwendungsbereich der Richtlinie, widerspräche dies zudem dem üblichen Sinn des Begriffs der „Massenentlassung“ (EuGH 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 64). 27 cc) Der deutsche Gesetzgeber hat diese Systematik der MERL in § 17 KSchG übernommen. Die Klägerin hätte darum zwar wie die übrigen Arbeitnehmer der Station F in das von der Beklagten wegen der Ende 2009/Anfang 2010 geplanten Massenentlassung durchzuführende Konsultationsverfahren einbezogen werden müssen. Sie konnte sich nach dieser Systematik aber nicht auf den Massenentlassungsschutz und damit nicht auf Fehler im Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG berufen, weil ihre Kündigung tatsächlich nicht Teil einer Massenentlassung war. Die Klägerin hat nicht dargelegt (zur Darlegungslast für die Überschreitung des Schwellenwerts BAG 18. Oktober 2012 – 6 AZR 41/11 – Rn. 34; vgl. auch 21. März 2012 – 6 AZR 596/10 – Rn. 12 mwN), dass innerhalb von 30 Tagen im zeitlichen Umfeld der ihr am 12. März 2010 zugegangenen Kündigungserklärung noch mindestens fünf Kündigungen anderer Arbeitnehmer der Station F erfolgt sind. 28 dd) Diese Konzeption des deutschen Gesetzgebers ist aber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – mit Art. 3 Abs. 1 iVm. Art. 6 GG sowie mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in seiner Verstärkung durch Art. 3 Abs. 2 GG nicht uneingeschränkt vereinbar. Die Klägerin werde unzulässig wegen der von ihr in Anspruch genommenen Elternzeit und wegen ihres Geschlechts benachteiligt, wenn ihr der Schutz vor Massenentlassungen versagt werde, weil das Abwarten der gemäß § 18 BEEG aF wegen der Elternzeit notwendigen behördlichen Zustimmung zur Kündigung dazu geführt habe, dass die Kündigung erst nach Ablauf des 30-Tage-Zeitraums erklärt wurde. Daher seien Personen mit besonderem Kündigungsschutz, denen Kündigungen allein deshalb außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugingen, weil zuvor ein anderes behördliches Verfahren, das keinen dem Massenentlassungsschutz gleichwertigen Schutz biete, habe durchgeführt werden müssen, so zu behandeln wie Arbeitnehmer, für deren Kündigungen § 17 KSchG gilt. In diesen Fällen gelte deshalb der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung auf Zustimmung der zuständigen Behörde zu der Kündigung innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sei. § 17 KSchG sei einer derartigen verfassungskonformen Auslegung zugänglich (BVerfG 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – Rn. 15 ff. unter Heranziehung der für die Wahrung der Ausschlussfrist nach § 626 Abs. 2 BGB geltenden Grundsätze, vgl. dazu HaKo/Gieseler 5. Aufl. § 626 BGB Rn. 147). 29 ee) Das Bundesverfassungsgericht hat mit diesen Vorgaben zur verfassungskonformen Auslegung des § 17 KSchG, ohne dies ausdrücklich offenzulegen, den nationalrechtlichen Entlassungsbegriff für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz gegenüber den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union erweitert (vgl. Laskawy EWiR 2016, 711, 712). Es hat zwar nur verlangt, dass Kündigungen von Arbeitnehmern, bei denen ein „nicht gleichwertiges behördliches Verfahren“ zur Verzögerung des Kündigungszugangs führt, so behandelt werden, wie Kündigungen, für die die Regeln des Massenentlassungsschutzes gelten. Es hat jedoch dem Senat die verfassungskonforme Auslegung des § 17 KSchG, wonach die 30-Tage-Frist als gewahrt gelte, wenn der Antrag innerhalb von 30 Tagen erfolge, vorgegeben. Das hat zwingend die Neudefinition des Entlassungsbegriffs für Arbeitnehmer mit „nicht gleichwertigem“ Sonderkündigungsschutz zur Folge. Maßgeblich ist für diesen Personenkreis nicht der Zugang der Kündigung, sondern der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der Behörde. Diese Neudefinition ist für den Senat bindend. Nach einer Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht ist das Fachgericht im Umfang der Feststellung nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Die Bindungswirkung erstreckt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch auf die den Tenor tragenden Gründe (vgl. nur BVerfG 8. September 2010 – 2 BvL 3/10 – Rn. 12, BVerfGK 18, 26). Die stattgebende Kammerentscheidung vom 8. Juni 2016 nimmt gemäß § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG teil (BVerfG 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05 – Rn. 74, BVerfGK 7, 21). In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Handhabung des § 17 KSchG entsprechend seinem Wortlaut und Normzweck durch den Senat in seinem Urteil vom 25. April 2013 (- 6 AZR 49/12 -) als unvereinbar mit dem Grundgesetz angesehen. Auch diese Feststellung ist bindend (vgl. BVerfG 6. Mai 1986 – 1 BvR 677/84 – zu II 1 b der Gründe, BVerfGE 72, 119). Die verfassungsrechtlich gebotene Einbeziehung von Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz, die außerhalb des 30-Tage-Zeitraums gekündigt werden, in den Massenentlassungsschutz lässt sich in der Systematik des § 17 KSchG nur durch die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene verfassungskonforme Erweiterung des Entlassungsbegriffs verwirklichen, auch wenn diese Erweiterung die Grenzen der zulässigen richterlichen Rechtsfortbildung (dazu BVerfG 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10 – Rn. 52 ff., BVerfGE 128, 193) wohl überschritten hätte, wenn der Senat sie von sich aus vorgenommen hätte. 30 ff) Mit den Vorgaben zur verfassungskonformen Erweiterung des Entlassungsbegriffs in § 17 KSchG hat das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen nicht überschritten. Der Entlassungsbegriff unterliegt zwar allein der autonomen Interpretation durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH 12. Oktober 2004 – C-55/02 – [Kommission/Portugal] Rn. 45, Slg. 2004, I-9387). Die Erweiterung des nationalrechtlichen Entlassungsbegriffs ist jedoch noch von der Günstigkeitsklausel in Art. 5 MERL gedeckt. Das Unionsrecht belässt insoweit dem nationalen Gesetzgeber einen Spielraum, der die verfassungsgerichtliche Prüfung ermöglicht (BVerfG 4. Oktober 2011 – 1 BvL 3/08 – [Investitionszulagengesetz] Rn. 45 f., BVerfGE 129, 186; BAG 16. Februar 2012 – 6 AZR 553/10 – Rn. 36, BAGE 141, 1). Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, der grundsätzlich gegenüber jeglichem nationalen Recht und damit auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht gilt (dazu EuGH 15. Januar 2013 – C-416/10 – [Križan] Rn. 70; 11. Januar 2000 – C-285/98 – [Kreil] Slg. 2000, I-69 [zur Unvereinbarkeit des Art. 12a GG mit der RL 76/207/EWG]; 9. März 1978 – 106/77 – [Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal] Rn. 17 f., Slg. 1978, 629; BVerfG st. Rspr., zuletzt 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 ua. – [OMT] Rn. 117 ff.) und der auch im Verhältnis zwischen einem Verfassungsgericht und innerstaatlichen Fachgerichten zu berücksichtigen ist (EuGH 15. Januar 2013 – C-416/10 – [Križan] Rn. 70), tritt deshalb zurück, weshalb der Senat keinen Anlass zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV hatte. 31 (1) Die MERL gewährt nur einen Mindestschutz bei Massenentlassungen. Die Mitgliedstaaten können für die Arbeitnehmer günstigere einzelstaatliche Maßnahmen erlassen (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 29, 32). Das stellt Art. 5 MERL klar. Die Mitgliedstaaten sind jedoch ungeachtet dessen an die Auslegung gebunden, die der Gerichtshof der Europäischen Union den von ihm autonom auszulegenden Begriffen gibt (vgl. für den Betriebsbegriff EuGH 30. April 2015 – C-80/14 – [USDAW und Wilson] Rn. 67). Die nationalen Regelungen dürfen darum den Schutzstandard der Arbeitnehmer im Vergleich zu dem Standard, der nach der autonomen Auslegung der MERL durch den Gerichtshof der Europäischen Union besteht, nicht absenken (vgl. EuGH 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Cañas] Rn. 52 ff.). Eine solche Absenkung tritt durch die Erweiterung des Entlassungsbegriffs jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht ein. 32 (2) Auch die den nationalen Gestaltungsmöglichkeiten durch das Gebot des effet utile gezogene immanente Grenze ist nicht überschritten. Nationale Bestimmungen, die dem in Art. 2 bis Art. 4 MERL geregelten Verfahren seine praktische Wirksamkeit nehmen, weil sie dazu führen, dass jede tatsächliche Möglichkeit des Arbeitgebers, Massenentlassungen vorzunehmen, praktisch ausgeschlossen ist, sind von Art. 5 MERL nicht mehr gedeckt. Ob diese Grenzen überschritten sind, haben die nationalen Gerichte zu prüfen (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 37 f., 43). Das vom nationalen Verfassungsrecht geprägte Verständnis des Entlassungsbegriffs macht die Kündigung von Arbeitnehmern, die dem Schutz des § 18 BEEG unterfallen, nicht praktisch unmöglich. 33 3. Unter Zugrundelegung des erweiterten nationalen Entlassungsbegriffs kann sich auch die Klägerin darauf berufen, dass die Beklagte vor der Kündigung vom 10. März 2010 das Konsultationsverfahren nicht durchgeführt hat. 34 a) Die Kündigungserklärung ist der Klägerin allein deshalb später als 30 Tage zugegangen als den Arbeitnehmern, die sich auf den Massenentlassungsschutz auch nach dem Unionsrecht berufen können, weil die Beklagte zunächst die behördliche Zustimmung nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG aF einholen musste. Das Zustimmungsverfahren nach § 18 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 BEEG aF gewährte im Fall der hier vorliegenden Betriebsstilllegung keinen § 17 KSchG gleichwertigen Schutz, weil die Kündigung regelmäßig für zulässig erklärt wird und sich deshalb die unterschiedliche Ausgestaltung des Kündigungsschutzes zu Lasten der Klägerin auswirkte. Dieser wurde die Gestaltungsoption, die dem Betriebsrat vor der Kündigung zukommt, genommen (BVerfG 8. Juni 2016 – 1 BvR 3634/13 – Rn. 18 f., 25). 35 b) Der Antrag der Beklagten auf Zustimmung zur Kündigung der Klägerin nach § 18 Abs. 1 Satz 3 BEEG aF vom 16. Dezember 2009 ist am Folgetag und damit innerhalb von 30 Tagen vor dem Zugang von mindestens fünf Kündigungserklärungen, die die Beklagte mit Schreiben vom 24. Dezember 2009 erklärte (vgl. BAG 13. Dezember 2012 – 6 AZR 752/11 -; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 753/11 -; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 755/11 -; 13. Dezember 2012 – 6 AZR 756/11 – und 13. Dezember 2012 – 6 AZR 6/12 -), bei der zuständigen Behörde eingegangen. 36 VIII. Die vom Bundesverfassungsgericht für erforderlich gehaltene verfassungskonforme Auslegung des Entlassungsbegriffs für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz wirft allerdings zahlreiche Folgeprobleme auf. Dies betrifft ua. die Frage, welche anderen behördlichen Zustimmungserfordernisse ebenso wie § 18 BEEG keinen dem Massenentlassungsschutz vergleichbaren Schutz bieten. Ungeklärt ist auch, ob der verfassungskonforme Entlassungsbegriff für alle Massenentlassungen gilt oder nur bei Betriebsstilllegungen (zweifelnd bereits für § 18 BEEG bei bloßen Betriebsänderungen Hexel DB 2016, 2486, 2487). Offen ist ferner, wie Kündigungen zu behandeln sind, bei denen der Antrag außerhalb des zeitlichen Zusammenhangs von 30 Tagen mit anderen Massenentlassungen erfolgt. Probleme entstehen insbesondere, wenn die behördliche Zustimmung erst außerhalb der 90-tägigen Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG (vgl. dazu BAG 9. Juni 2016 – 6 AZR 638/15 – Rn. 28) erteilt wird, wenn bei einer Arbeitnehmerin in Elternzeit die Kündigung als solche zugleich Teil einer zweiten, § 17 KSchG unterfallenden Welle von Kündigungen ist oder wenn ein Arbeitgeber Kündigungen so staffelt, dass die Schwellenwerte stets (gerade noch) unterschritten werden, um so den Massenentlassungsschutz zu vermeiden. Der vorliegende Fall gibt jedoch keine Veranlassung, diese Fragen näher zu erörtern. 37 IX. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92, 100 ZPO. Dabei war zur Wahrung des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung eine Kostenverteilung auch bezüglich der aus dem Revisionsverfahren ausgeschiedenen Beklagten zu 2. zu treffen (vgl. BAG 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14 – Rn. 106; BGH 14. Juli 1981 – VI ZR 35/79 – zu III der Gründe). Bei der Kostenentscheidung war zu berücksichtigen, dass die Klägerin in den Tatsacheninstanzen unterschiedliche, von den zuletzt in der Revision gestellten abweichende Anträge gestellt hatte.              Fischermeier                  Spelge                  Krumbiegel                                     M. Jostes                   Augat
bundesarbeitsgericht
bag_7-19
12.02.2019
12.02.2019 7/19 - Verrechenbarkeit von Sozialplanabfindung und Nachteilsausgleich Abfindungen aufgrund eines Sozialplans und aufgrund eines gesetzlichen Nachteilsausgleichs sind verrechenbar. Die beklagte Arbeitgeberin beschloss im März 2014, den Beschäftigungsbetrieb des Klägers stillzulegen. Über die damit verbundene Massenentlassung unterrichtete sie den Betriebsrat. Noch bevor die Betriebsparteien in einer Einigungsstelle über einen Interessenausgleich verhandeln konnten, kündigte die Arbeitgeberin allen Arbeitnehmern, so auch dem Kläger. Wegen dieses betriebsverfassungswidrigen Verhaltens erstritt der Kläger vor den Gerichten für Arbeitssachen einen Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 1 und Abs. 3 BetrVG in Höhe von 16.307,20 Euro. Zuvor vereinbarte die Arbeitgeberin mit dem Betriebsrat einen Sozialplan. Danach steht dem Kläger eine Abfindung in Höhe von 9.000 Euro zu. Diesen Betrag zahlte die Arbeitgeberin unter Hinweis auf den von ihr beglichenen Nachteilsausgleich nicht aus. Die auf Zahlung der Sozialplanabfindung gerichtete Klage haben die Vorinstanzen abgewiesen. Mit seiner Revision hatte der Kläger vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Zahlung eines Nachteilsausgleichs erfüllt auch die Sozialplanforderung, da der Zweck beider betriebsverfassungsrechtlicher Leistungen weitgehend deckungsgleich ist. Dem steht die Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG) nicht entgegen. Eine Verletzung der Konsultationspflicht des Arbeitgebers mit dem Betriebsrat vor einer Massenentlassung hat die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge. Eine Sanktionierung im Sinn einer Entschädigungszahlung ist unionsrechtlich nicht geboten. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. Februar 2019 – 1 AZR 279/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. März 2017 – 4 Sa 1619/16 –
Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. März 2017 – 4 Sa 1619/16 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen. Leitsatz Abfindungen aufgrund eines Sozialplans und aufgrund eines gesetzlichen Nachteilsausgleichs sind – im Wege der Erfüllungswirkung gemäß § 362 Abs. 1 BGB – verrechenbar. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die Zahlung einer Sozialplanabfindung. 2 Der Kläger war bei der Beklagten unter Anrechnung einer Vorbeschäftigungszeit seit dem 2. September 1991 beschäftigt. Im März 2014 beschloss die Beklagte, den Beschäftigungsbetrieb in K stillzulegen. Hierüber unterrichtete sie den Betriebsrat und verhandelte mit ihm am 8. April 2014 über einen Interessenausgleich. Mit Schreiben vom 16. April 2014 übermittelte sie dem Betriebsrat eine „Anzeige von beabsichtigten anzeigepflichtigen Entlassungen gem. § 17 Abs. 2 KSchG“. Noch bevor das Arbeitsgericht Berlin auf Antrag der Beklagten mit Beschluss vom 2. Mai 2014 einen Vorsitzenden für eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Interessenausgleich und Sozialplan für die beabsichtigte Stilllegung der Betriebsstätte K“ bestellt hatte, kündigte die Beklagte die Arbeitsverhältnisse aller im Betrieb beschäftigten Mitarbeiter, so auch das des Klägers zum 30. November 2014. Nach Rücknahme der dagegen erhobenen Kündigungsschutzklage verlangte der Kläger die Zahlung eines Nachteilsausgleichs. Daraufhin verurteilte das Arbeitsgericht Berlin die Beklagte mit Urteil vom 2. April 2015 (- 11 Ca 7053/14 -) zur Zahlung einer Abfindung von 12.230,40 Euro brutto. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 8. September 2015 (- 7 Sa 870/15 -) die Beklagte zur Zahlung einer Abfindung iHv. weiteren 4.076,80 Euro brutto. Die Beklagte kehrte an den Kläger – deklariert als „Abschlag“ – 4.000,00 Euro im Mai 2015 sowie – deklariert jeweils als „Abfindung“ – 4.000,00 Euro im Juni 2015, 4.076,80 Euro im September 2015 und 4.230,40 Euro im November 2015, mithin insgesamt den ausgeurteilten Nachteilsausgleich iHv. 16.307,20 Euro, aus. Zuvor – am 13. September 2014 – hatte sie mit dem Betriebsrat einen Sozialplan vereinbart, nach dessen §§ 1, 2 Nr. 1 dem Kläger 9.000,00 Euro brutto als Abfindung für den Verlust seines Arbeitsplatzes zustehen. Deren Zahlung lehnte die Beklagte unter Verweis auf den beglichenen Nachteilsausgleich ab. 3 Der Kläger hat mit seiner Klage die Sozialplanabfindung verlangt und die Auffassung vertreten, auf diese sei die aufgrund der gerichtlichen Festsetzung des Nachteilsausgleichs gezahlte Abfindung schon deshalb nicht anzurechnen, weil das Gericht deren Höhe zu gering bemessen habe. Darüber hinaus verbiete sich eine Anrechnung aus unionsrechtlichen Gründen. 4 Der Kläger beantragt,          die Beklagte zu verurteilen, an ihn 9.000,00 Euro brutto zu zahlen. 5 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. 6 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Dieser verfolgt mit seiner Revision den Zahlungsantrag weiter. Entscheidungsgründe 7 Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Beklagte den Anspruch des Klägers auf Zahlung der Sozialplanabfindung erfüllt hat, § 362 Abs. 1 BGB. 8 I. Der Kläger hat – darüber besteht zwischen den Parteien kein Streit – einen Anspruch auf Abfindung nach dem Sozialplan vom 13. September 2014 iHv. 9.000,00 Euro brutto erworben. 9 II. Dieser Anspruch ist im Hinblick auf die Zahlung von 16.307,20 Euro brutto durch die Beklagte jedoch gemäß § 362 Abs. 1 BGB erloschen. 10 1. Nach § 362 Abs. 1 BGB erlischt ein Schuldverhältnis, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird. Das Bewirken der geschuldeten Leistung besteht in der Herbeiführung des geschuldeten Leistungserfolgs. Bei einer Geldschuld – wie einer Abfindung – wird dieser Erfolg regelmäßig erzielt, wenn der Gläubiger den Geldbetrag, den er beanspruchen kann, endgültig zur freien Verfügung übereignet oder überwiesen erhält (vgl. BGH 27. Juni 2008 – V ZR 83/07 – Rn. 26). 11 2. Die Beklagte hat an den Kläger im Mai 2015, Juni 2015, September 2015 und November 2015 als „Abschlag“ und „Abfindung“ bezeichnete Geldbeträge iHv. insgesamt 16.307,20 Euro brutto geleistet. Diesbezüglich hat sie eine Tilgungsbestimmung für den Sozialplanabfindungsanspruch weder vorgenommen noch behauptet. Aus den Zeitpunkten der Zahlung folgt vielmehr, dass sie damit den vom Kläger erstrittenen Nachteilsausgleich tilgen wollte. Dennoch kommt den Zahlungen materiell-rechtliche Erfüllungswirkung iSv. § 362 Abs. 1 BGB (auch) hinsichtlich der – den Nachteilsausgleich nicht übersteigenden – Sozialplanforderung zu. 12 a) Gemäß § 362 Abs. 1 BGB tritt nach der Theorie der realen Leistungsbewirkung die Erfüllungswirkung als objektive Folge der Leistungsbewirkung ein. Die Erfüllungswirkung ist kraft Gesetzes objektive Tatbestandsfolge der Leistung. Ein zusätzliches subjektives Tatbestandsmerkmal ist grundsätzlich nicht erforderlich. Kann die Leistung des Schuldners einem bestimmten Schuldverhältnis im engeren Sinn, dh. einer bestimmten Leistungspflicht, zugeordnet werden oder reicht sie zur Tilgung aller Verbindlichkeiten aus mehreren Schuldverhältnissen (im engeren Sinn) aus, bedarf es zum Erlöschen der Forderungen keiner Tilgungsbestimmung (vgl. BAG 17. Januar 2018 – 5 AZR 69/17 – Rn. 14 mwN). Erfüllungswirkung – auch ohne ausdrückliche Tilgungsbestimmung – ist daher grundsätzlich anzunehmen bei jeglicher erfüllungsgeeigneter, inhaltlich dem Schuldverhältnis entsprechender Leistung (vgl. zur Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs durch mindestlohnwirksame Leistungen grdl. BAG 25. Mai 2016 – 5 AZR 135/16 – Rn. 20 ff., BAGE 155, 202). Wird im Fall einer Anspruchskonkurrenz – etwa bei einem Zusammentreffen von deliktischen und vertraglichen Schadensersatzansprüchen – der Berechtigte aus einem der beiden Ansprüche befriedigt, erlischt auch der andere Anspruch, soweit und weil er auf dasselbe Interesse gerichtet ist (vgl. bereits BGH 16. Dezember 1968 – III ZR 179/67 – zu 1 der Gründe, BGHZ 51, 226). Demnach erfüllt etwa bei gesetzlichem Mindest- und übergesetzlichem Mehrurlaub der Arbeitgeber mit der Freistellung des Arbeitnehmers auch ohne ausdrückliche oder konkludente Tilgungsbestimmung beide Ansprüche ganz oder teilweise, soweit sie sich decken (grdl. BAG 7. August 2012 – 9 AZR 760/10 – Rn. 10 ff., BAGE 143, 1). Ähnliches gilt bei einer aus Rechtsgründen erfolgenden Anrechen- oder Verrechenbarkeit von geschuldeten Leistungen (vgl. BGH 11. Oktober 1973 – IX ZR 130/70 – zu 3 c der Gründe). Allerdings kann der Schuldner mittels einer negativen Tilgungsbestimmung die durch die Leistungsbewirkung an sich eintretende Erfüllungswirkung ausschließen (vgl. BGH 3. Dezember 1990 – II ZR 215/89 – zu III der Gründe). 13 b) Nach diesen Grundsätzen hat die Beklagte mit der Zahlung von 16.307,20 Euro brutto Nachteilsausgleich an den Kläger auch dessen Anspruch auf Abfindung nach dem Sozialplan iHv. 9.000,00 Euro brutto erfüllt. Der Zahlung eines Nachteilsausgleichs an den Arbeitnehmer kommt von Rechts wegen Erfüllungswirkung auch für einen ihm zustehenden Anspruch auf Sozialplanabfindung zu, da beide betriebsverfassungsrechtlich begründeten Leistungen weitgehend auf dasselbe Interesse gerichtet sind. Eine – hiervon ausnahmsweise abweichende – ausdrückliche negative Tilgungsbestimmung hat die Beklagte bei Bewirkung der Zahlungsbeträge nicht vorgenommen. 14 aa) Der Anspruch auf Zahlung einer Abfindung aus einem Sozialplan nach § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG einerseits und der Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG andererseits stehen nicht beziehungslos nebeneinander und können nicht kumulativ verlangt werden (so bereits BAG 18. Dezember 1984 – 1 AZR 176/82 – BAGE 47, 329 und 13. Juni 1989 – 1 AZR 819/87 – BAGE 62, 88). Zwischen ihnen besteht insoweit Zweckidentität, als sie beide dem Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile dienen. 15 (1) Von den Betriebsparteien geschlossenen Sozialplänen kommt eine zukunftsbezogene Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion zu. Festgelegte Geldleistungen in Form einer Abfindung sind kein zusätzliches Entgelt für die in der Vergangenheit erbrachten Dienste. Vielmehr sollen sie die voraussichtlich entstehenden wirtschaftlichen Nachteile eines Arbeitsplatzverlustes infolge einer Betriebsänderung ausgleichen oder zumindest abmildern (vgl. etwa BAG 8. Dezember 2015 – 1 AZR 595/14 – Rn. 17, BAGE 153, 333). 16 (2) Diesem Zweck dient auch der Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG. Durch die Verpflichtung zur Gewährung eines Nachteilsausgleichs soll zum einen das betriebsverfassungswidrige Verhalten eines Arbeitgebers, der seiner gesetzlichen Beratungspflicht bei Betriebsänderungen nicht genügt hat, sanktioniert werden. Der Anspruch will – präventiv – die vorgeschriebene Beteiligung des Betriebsrats an einer unternehmerischen Maßnahme sicherstellen. Ist diese Beteiligung unzureichend, erhalten die betroffenen Arbeitnehmer einen gesetzlichen Anspruch auf den Ausgleich bestimmter Nachteile. Die Anspruchsnorm schützt die Beachtung der gesetzlichen Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei Betriebsänderungen zum anderen aber nicht ausnahmslos. Sie sanktioniert ein betriebsverfassungswidriges Verhalten nur in den Fällen, in denen die von der unternehmerischen Maßnahme betroffenen Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren oder sonstige wirtschaftliche Nachteile erleiden. Auch wenn das Ausmaß der Verletzung von Beteiligungsrechten des Betriebsrats durch den Arbeitgeber bei der Festsetzung der Höhe des Nachteilsausgleichs Bedeutung zukommt (vgl. BAG 7. November 2017 – 1 AZR 186/16 – Rn. 35 mwN), setzt das Entstehen eines solchen Anspruchs voraus, dass der Arbeitnehmer „infolge“ der ohne Beachtung der Mitbestimmung des Betriebsrats durchgeführten Maßnahme wirtschaftliche Nachteile – entweder in Form einer Entlassung oder in sonstiger Art und Weise – erleidet. Deshalb ist der gesetzliche Nachteilsausgleich keine bußgeldähnliche Verpflichtung mit Strafcharakter. Vielmehr sollen die Arbeitnehmer eine gewisse Entschädigung dafür erhalten, dass eine im Gesetz vorgesehene Beteiligung unterblieben und damit eine Chance nicht genutzt worden ist, einen Interessenausgleich zu finden, der Entlassungen vermeidet oder andere wirtschaftliche Nachteile abmildert (grdl. BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – zu II 1 b der Gründe, BAGE 99, 377; vgl. auch BAG 23. September 2003 – 1 AZR 576/02 – zu II 3 c aa der Gründe, BAGE 107, 347). 17 (3) Diese Zweckidentität hat zur Folge, dass eine gezahlte Sozialplanabfindung auch auf einen Anspruch auf gesetzlichen Nachteilsausgleich anzurechnen ist und ihr insoweit Erfüllungswirkung zukommt. Der insoweit auch von § 113 Abs. 3 BetrVG verfolgte Sanktionszweck wird dadurch nicht aufgehoben (vgl. grdl. BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – zu II 1 b und c der Gründe, BAGE 99, 377; vgl. auch BAG 24. August 2006 – 8 AZR 317/05 – und 16. Mai 2007 – 8 AZR 693/06 -; zust. Annuß in Richardi BetrVG 16. Aufl. § 113 Rn. 65; H/W/G/N/R/H/Hess 10. Aufl. § 112 Rn. 368; krit. DKKW/Däubler 16. Aufl. §§ 112, 112a Rn. 123; ErfK/Kania 19. Aufl. BetrVG § 113 Rn. 2; zT auch Oetker GK-BetrVG 11. Aufl. § 113 Rn. 109 f. mwN; Fitting BetrVG 29. Aufl. § 113 Rn. 32 mwN; HaKo-BetrVG/Steffan 5. Aufl. § 113 Rn. 2). Das gilt ebenso für den – umgekehrten und hier vorliegenden – Fall der Erfüllungswirkung eines gezahlten Nachteilsausgleichs bezüglich des Anspruchs auf Sozialplanabfindung (im Ergebnis ebenso bereits BAG 13. Juni 1989 – 1 AZR 819/87 – zu B III 3 a der Gründe, BAGE 62, 88). 18 bb) Die Verrechnung von Nachteilsausgleich und Sozialplanabfindung – im Wege der Erfüllungswirkung – verbietet sich nicht im Hinblick auf die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL). Deren Art. 6 als Ausprägung des allgemeinen unionsrechtlichen Gebots des effet utile gibt es nicht vor, den Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG auf jeden Fall (in voller Höhe) neben einer Sozialplanabfindung fordern zu können. 19 (1) Art. 2 der ausweislich ihrer Erwägungsgründe 2, 4 und 6 die Verstärkung des Arbeitnehmerschutzes und die Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarktes bezweckenden MERL verlangt im Fall einer Massenentlassung die Durchführung eines Konsultationsverfahrens mit der Arbeitnehmervertretung (vgl. im Einzelnen zB EuArbR/Spelge 2. Aufl. RL 98/59/EG Rn. 5 und Rn. 8 ff.). Nach Art. 2 Abs. 1 MERL hat ein Arbeitgeber, der beabsichtigt, eine Massenentlassung iSd. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie durchzuführen, die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen. Diese Verhandlungen haben sich nach Art. 2 Abs. 2 MERL mindestens darauf zu erstrecken, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken sowie ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen zu mildern. Nach Art. 2 Abs. 3 MERL hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmervertretern – damit sie konstruktive Vorschläge unterbreiten können – rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen zweckdienliche Auskünfte zu erteilen und sie schriftlich über die in Art. 2 Abs. 3 Buchst. b MERL aufgezählten Angaben zu unterrichten. Insgesamt bezweckt die MERL eine Teilharmonisierung und überlässt es dem nationalen Recht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen festzulegen, unter denen der Arbeitgeber ggf. Massenentlassungen vornehmen kann oder nicht (EuGH 21. Dezember 2016 – C-201/15 – [AGET Iraklis] Rn. 29 ff.; BAG 26. Oktober 2017 – 2 AZR 298/16 – Rn. 24). Gemäß Art. 6 MERL müssen die Mitgliedstaaten aber Verfahren einrichten, mit denen die Einhaltung der von der Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen gewährleistet werden kann. Sie haben dabei darauf zu achten, dass die Verstöße gegen das Unionsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht gelten. Die Sanktion muss wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein (vgl. EuGH 8. Juni 1994 – C-383/92 – [Kommission/Vereinigtes Königreich] Rn. 40). Die den Mitgliedstaaten überlassene Umsetzung dieser Maßgabe darf der Richtlinie nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen (vgl. EuGH 16. Juli 2009 – C-12/08 – [Mono Car Styling] Rn. 34, 36). 20 (2) Dem unionsrechtlich determinierten Massenentlassungsschutz und der Konsultationspflicht entspricht das in § 17 Abs. 2 KSchG geregelte Konsultationsverfahren (vgl. BAG 22. September 2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 47, BAGE 157, 1; zu § 17 KSchG insgesamt vgl. auch BAG 26. Januar 2017 – 6 AZR 442/16 – Rn. 23, BAGE 158, 104). Verstößt der Arbeitgeber gegen dessen gesetzliche Anforderungen, ist die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung nach § 134 BGB rechtsunwirksam (BAG 20. Januar 2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 16 mwN, BAGE 154, 53; 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 23 ff., BAGE 144, 366). Diese Rechtsfolge verhindert, dass der Arbeitgeber durch den Ausspruch von Kündigungen unumkehrbare Fakten schafft, bevor das Konsultationsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde (vgl. BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 26, aaO). 21 (3) Damit existiert eine Rechtsfolge, die eine wirksame Sanktion iSv. Art. 6 MERL darstellt (Preis/Sagan/Naber/Sittard EuArbR 2. Aufl. Rn. 14.123). Die Sanktionswirkung einer Geldentschädigung ist weder geboten noch adäquat. Sie ließe unabhängig von der Höhe eines Entschädigungsbetrags den Bestand der Kündigung unberührt und könnte den Ausspruch von Kündigungen vor Abschluss des Konsultationsverfahrens nicht effektiv verhindern (vgl. BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 26 f., BAGE 144, 366). Auch wären unterschiedliche Sanktionen für Konsultations- und Anzeigeverfahren – einerseits Unwirksamkeit der Kündigung bei fehlender oder fehlerhafter Anzeige der Massenentlassung gegenüber der Agentur für Arbeit (dazu vgl. BAG 22. November 2012 – 2 AZR 371/11 – BAGE 144, 47) und andererseits Geldentschädigung für Verstöße gegen die Konsultationspflicht – nach Ziel und Ausgestaltung der MERL nicht zu rechtfertigen (vgl. EuArbR/Spelge 2. Aufl. Art. 6 RL 98/59/EG Rn. 5; Schubert EWiR 2013, 693, 694). 22 (4) Gegenteiliges ergibt sich nicht aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) vom 8. Juni 1994 (- C-383/92 – [Kommission/Vereinigtes Königreich]). Danach ist eine Entschädigung für entlassene Arbeitnehmer, die mit Beträgen verrechenbar ist, deren Zahlung ein Arbeitnehmer ohnehin aufgrund des Arbeitsvertrags oder wegen dessen Bruchs verlangen kann, keine hinreichend abschreckende Sanktion für einen Arbeitgeber, der im Fall einer Massenentlassung seiner Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter nicht nachkommt. Darum geht es vorliegend aber nicht, weil die nach nationalem Recht vorgesehene Sanktionierung eines Verstoßes gegen die unionsrechtlich determinierte Konsultationspflicht in der Unwirksamkeit der Kündigung und nicht in der Zahlung einer Abfindung liegt. Zu dieser Frage ist keine Vorlage nach Art. 267 AEUV veranlasst. Art. 6 MERL verpflichtet nicht zu spezifischen Sanktionen, sondern unterstellt die Regelung der Rechtsfolgen eines unterbliebenen oder nicht hinreichend beachteten Konsultationsverfahrens vor einer Massenentlassung der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Für das darin ausgedrückte allgemeine Gebot des effet utile unterliegt die unionsrechtliche Rechtslage, wonach nationalrechtliche Sanktionen effektiv, abschreckend und verhältnismäßig sein müssen (vgl. EuGH 2. Mai 2018 – C-574/15 [Scialdone] – Rn. 29; 7. März 2018 – C-494/16 – [Santoro] Rn. 28 f.; 7. September 2006 – C-53/04 – [Marrosu und Sardino] Rn. 51), keinen Zweifeln. 23 cc) Sollte die Beklagte vorliegend das Konsultationsverfahren des § 17 Abs. 2 KSchG nicht ordnungsgemäß durchgeführt haben, steht dies der Erfüllungswirkung der Nachteilsausgleichszahlung (auch) für die streitbefangene Sozialplanforderung daher nicht entgegen. Zwar geht der Kläger – in Übereinstimmung mit der Beklagten – hiervon nicht aus, weil nach seiner Ansicht § 17 Abs. 2 KSchG lediglich Anzeige- und Unterrichtungspflichten regele. Diese Auffassung ist aber bereits vor dem Hintergrund des Wortlauts von § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG, wonach Arbeitgeber und Betriebsrat „insbesondere die Möglichkeiten zu beraten“ haben, „Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern“, nicht haltbar. Entsprechend ist das Vorbringen des Klägers widersprüchlich, die Beklagte habe mit dem Unterrichtungsschreiben an den Betriebsrat vom 16. April 2014 der Pflicht des § 17 Abs. 2 KSchG genügt, während eine rechtzeitige und umfassende Unterrichtung des Betriebsrats sowie eine Konsultation und Verhandlung mit ihm zum Zwecke der Abmilderung, Vermeidung und Beschränkung von Folgen der Betriebsstilllegung nicht erfolgt seien. Unterstellte man dennoch, die Beklagte habe das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt, sprächen erst recht keine unionsrechtlichen Gründe gegen die Verrechnung von Nachteilsausgleich und Sozialplanabfindung im Wege einer Erfüllungswirkung. Denn die Beklagte hätte in diesem Fall ihrer Konsultationspflicht in dem von der MERL vorgegebenen Umfang entsprochen. Die Verletzung von Beteiligungsrechten des Betriebsrats im Zusammenhang mit §§ 111 ff. BetrVG, welche über den von der MERL vorgegebenen Schutzstandard hinausgehen – wie die Einschaltung eines unparteiischen Dritten (Einigungsstellenverfahren) im Zusammenhang mit einem Interessenausgleichsversuch (vgl. auch BAG 20. November 2001 – 1 AZR 97/01 – zu II 2 c der Gründe, BAGE 99, 377) – erfordert keine den Vorgaben des Art. 6 MERL entsprechende Sanktion. 24 dd) Schließlich ist die Rüge der Revision unbegründet, im Streitfall bliebe bei der Annahme einer Verrechenbarkeit der Forderungen unberücksichtigt, dass die Beklagte besonders massiv gegen die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 111, 112 BetrVG verstoßen habe. Das Ausmaß des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens eines Arbeitgebers ist ein bei der Bemessung der Abfindungshöhe im Rahmen des § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG durch das Tatsachengericht einzustellendes Moment (vgl. BAG 7. November 2017 – 1 AZR 186/16 – Rn. 36 mwN). Die den Nachteilsausgleich titulierende(n) Entscheidung(en) der Gerichte für Arbeitssachen sind rechtskräftig und nicht – auch nicht mittelbar – Gegenstand der revisionsrechtlichen Überprüfung im hiesigen Rechtsstreit.              Schmidt                  Ahrendt                  K. Schmidt                                    Rose                  Wankel
bundesarbeitsgericht
bag_39-18
14.08.2018
14.08.2018 39/18 - Arbeitskampf - Streikbruchprämie als zulässiges Kampfmittel Ein bestreikter Arbeitgeber ist grundsätzlich berechtigt, zum Streik aufgerufene Arbeitnehmer durch Zusage einer Prämie (Streikbruchprämie) von einer Streikbeteiligung abzuhalten. Der Kläger ist bei dem beklagten Einzelhandelsunternehmen als Verkäufer vollzeitbeschäftigt. In den Jahren 2015 und 2016 wurde der Betrieb, in dem er eingesetzt ist, an mehreren Tagen bestreikt. Dazu hatte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di aufgerufen mit dem Ziel, einen Tarifvertrag zur Anerkennung regionaler Einzelhandelstarifverträge zu schließen. Vor Streikbeginn versprach der Arbeitgeber in einem betrieblichen Aushang allen Arbeitnehmern, die sich nicht am Streik beteiligen und ihrer regulären Tätigkeit nachgehen, die Zahlung einer Streikbruchprämie. Diese war zunächst pro Streiktag in Höhe von 200 Euro brutto (bei einer Teilzeitbeschäftigung entsprechend anteilig) und in einem zweiten betrieblichen Aushang in Höhe von 100 Euro brutto zugesagt. Der Kläger, der ein Bruttomonatseinkommen von 1.480 Euro bezog, folgte dem gewerkschaftlichen Streikaufruf und legte an mehreren Tagen die Arbeit nieder. Mit seiner Klage hat er die Zahlung von Prämien – insgesamt 1.200 Euro brutto – verlangt und sich hierfür vor allem auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. In der Zusage der Prämienzahlung an alle arbeitswilligen Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber liegt zwar eine Ungleichbehandlung der streikenden und der nicht streikenden Beschäftigten. Diese ist aber aus arbeitskampfrechtlichen Gründen gerechtfertigt. Der Arbeitgeber wollte mit der freiwilligen Sonderleistung betrieblichen Ablaufstörungen begegnen und damit dem Streikdruck entgegenwirken. Vor dem Hintergrund der für beide soziale Gegenspieler geltenden Kampfmittelfreiheit handelt es sich um eine grundsätzlich zulässige Maßnahme des Arbeitgebers. Für diese gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Danach war die ausgelobte Streikbruchprämie – auch soweit sie den Tagesverdienst Streikender um ein Mehrfaches überstieg – nicht unangemessen. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. August 2018 – 1 AZR 287/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 18. Mai 2017 – 7 Sa 815/16 –
Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachen vom 18. Mai 2017 – 7 Sa 815/16 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen. Leitsatz Ein bestreikter Arbeitgeber ist grundsätzlich berechtigt, mittels Zahlung einer Streikbruchprämie einem Streikdruck zu begegnen. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die Zahlung einer Streikbruchprämie. 2 Der Kläger ist bei der Beklagten – einem nicht tarifgebundenen Einzelhandelsunternehmen – in deren Betrieb in B als Verkäufer zu einer monatlichen Bruttovergütung iHv. 1.480,00 Euro vollzeitbeschäftigt. Er bekleidet das Amt des dort gewählten einköpfigen Betriebsrats und ist Ersatzmitglied im Personalausschuss des im Unternehmen gebildeten Gesamtbetriebsrats. 3 Der Betrieb wurde am 15. und 16. Oktober 2015, 12. November 2015, 5. Dezember 2015, 19. Dezember 2015, 6. Februar 2016, vom 8. bis 10. Februar 2016 sowie am 1. April 2016 bestreikt. Hierzu hatte die ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) mit dem Ziel aufgerufen, mit der Beklagten einen Tarifvertrag zur Anerkennung einschlägiger Einzelhandelstarifverträge zu schließen. Vor Beginn der von ver.di zunächst für den 15. und 16. Oktober 2015 angekündigten Streikmaßnahmen gab die Beklagte mit einem betrieblichen Aushang Folgendes bekannt:          „STREIKBRUCHPRÄMIE          Liebe Kolleginnen und Kollegen,          wir erwarten, dass die Gewerkschaft ver.di in unserem Markt zum Streik aufrufen wird.          Sollte es in unserem Markt tatsächlich zu einem Streik an einem oder mehreren Tagen kommen und die Verkaufsfähigkeit des Marktes erheblich gefährdet sein, hat T entschieden, allen arbeitswilligen Mitarbeitern und Auszubildenden, die bei einem Streik ihrer regulären Tätigkeit nachgehen und nicht streiken, eine Prämie in Höhe von          200,00 EUR brutto je Streiktag (Vollzeit)          (Teilzeit wird stundenanteilig berechnet)          auszuzahlen.          Ihr Marktleiter wird dokumentieren, dass Sie an Stelle des Streiks gearbeitet haben und meldet dies an die Personalabteilung. Die Streikbruchprämie wird dann im Rahmen der nächsten monatlichen Gehaltsabrechnung ausgezahlt.“ 4 Anfang November 2015 veröffentlichte die Beklagte folgenden Aushang:          „STREIKBRUCHPRÄMIE          Liebe Kolleginnen und Kollegen,          es zeigt sich, dass es in einigen Märkten erneut zu Streikmaßnahmen kam und auch künftig mit weiteren Streiks zu rechnen ist. Wir möchten auch für mögliche neue Streiks eine Streikbruchprämie ausloben gemäß der nachfolgenden Regelung:          Sollte es in einem Markt tatsächlich zu einem Streik an einem oder mehreren Tagen kommen und die Verkaufsfähigkeit des Marktes erheblich gefährdet sein, hat T entschieden, allen arbeitswilligen Mitarbeitern und Auszubildenden, die bei einem Streik ihrer regulären Tätigkeit nachgehen und nicht streiken, eine Prämie in Höhe von          100,00 EUR brutto je Streiktag (Vollzeit)          (Teilzeit wird stundenanteilig berechnet)          auszuzahlen.          Diese Streikbruchprämie wird wieder je Streik und bis zur Mitteilung einer neuen Regelung gezahlt.          Ihr Marktleiter wird dokumentieren, dass Sie an Stelle des Streiks gearbeitet haben und meldet dies an die Personalabteilung. Die Streikbruchprämie wird dann im Rahmen der nächsten monatlichen Gehaltsabrechnung ausgezahlt.“ 5 Am 16. Oktober 2015 nahm der Kläger entsprechend seiner der Beklagten mit Schreiben vom 8. Oktober 2015 mitgeteilten Ankündigung an einer Schulung des Personalausschusses des Gesamtbetriebsrats teil. Sein für diesen Tag fortgezahltes Entgelt umfasste keine Streikbruchprämie. An den anderen Streiktagen folgte er dem gewerkschaftlichen Streikaufruf und legte die Arbeit nieder. 6 Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst für den Tag seiner Schulungsteilnahme und mit späterer Klageerweiterung auch für die Tage, an denen er sich am Streik beteiligt hatte, die den nichtstreikenden Arbeitnehmern versprochenen Prämien iHv. 200,00 Euro (16. Oktober 2015), weiteren 200,00 Euro (15. Oktober 2015) und weiteren 800,00 Euro (12. November 2015, 5. Dezember 2015, 19. Dezember 2015, 6. Februar 2016, 8. bis 10. Februar 2016 sowie 1. April 2016) verlangt. Er hat sich hierbei auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und das Maßregelungsverbot sowie – betreffend den 16. Oktober 2015 – auch auf das betriebsverfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot gestützt. 7 Der Kläger hat zuletzt beantragt,          die Beklagte zu verurteilen, an ihn          1.     200,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Dezember 2015,          2.     1.000,00 Euro brutto nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit,          zu zahlen. 8 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. 9 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Zahlungsbegehren weiter. Entscheidungsgründe 10 Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger kann die begehrten Prämienzahlungen nicht auf eine in den betrieblichen Aushängen zu sehende Gesamtzusage (dazu allg. BAG 22. März 2017 – 5 AZR 424/16 – Rn. 13 mwN) stützen. Er erfüllt nicht deren Voraussetzungen. Eine Rechtsgrundlage für die streitbefangenen Zahlungen ist auch nicht durch die Gesamtzusage iVm. dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz oder durch das Maßregelungsverbot des § 612a BGB oder – was nur die für den 16. Oktober 2015 verfolgte Prämienzahlung betreffen könnte – durch das betriebsratsamtsbezogene Benachteiligungsverbot vermittelt. 11 I. Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen, die sich nach den Bedingungen der in der ausgelobten Streikbruchprämie liegenden Gesamtzusage bestimmen. 12 1. Das folgt für den 15. Oktober 2015, den 12. November 2015, den 5. Dezember 2015, den 19. Dezember 2015, den 6. Februar 2016, die Zeit vom 8. bis 10. Februar 2016 sowie den 1. April 2016 schon daraus, dass er an diesen Tagen dem gewerkschaftlichen Streikaufruf gefolgt ist und seine „reguläre Tätigkeit“ nicht erbracht hat. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob die in den betrieblichen Aushängen verlautbarte „erhebliche Gefährdung der Verkaufsfähigkeit des Marktes“ als ein weiteres – kumulativ zur Nichtteilnahme am Streik gefordertes – anspruchsbegründendes Merkmal zu verstehen ist. 13 2. Auch hinsichtlich des 16. Oktober 2015 liegen die Voraussetzungen der Prämienzahlung nicht vor. 14 a) Der Kläger hat an diesem Tag in Ausübung seines Mandats als Ersatzmitglied des beim Gesamtbetriebsrat gebildeten Personalausschusses an einer Schulung teilgenommen. Hierfür war er nach § 37 Abs. 6 Satz 1 iVm. Abs. 2 BetrVG von seiner beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts befreit und hat Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts nach § 611 Abs. 1 BGB iVm. § 37 Abs. 6 und Abs. 2 BetrVG (vgl. zB BAG 29. April 2015 – 7 AZR 123/13 – Rn. 12 mwN). 15 aa) Dem steht nicht entgegen, dass der Betrieb an diesem Tag bestreikt worden ist. Ein Betriebsratsmitglied, das vor Beginn eines Arbeitskampfes für einen festliegenden Zeitraum von seiner beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts befreit war, verliert den Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts nicht allein deswegen, weil während dieser Zeit der Beschäftigungsbetrieb bestreikt wurde. Ein Arbeitskampf schließt nicht aus, dass während Zeiten einer Arbeitsniederlegung erforderliche Betriebsratstätigkeit zu leisten ist. Das Betriebsverfassungsgesetz ist während eines Arbeitskampfs prinzipiell anzuwenden. Seine Einschränkungen bedürfen einer arbeitskampfrechtlichen Rechtfertigung (vgl. BAG 20. März 2018 – 1 ABR 70/16 – Rn. 35 f. mwN). Verrichtet dementsprechend ein Betriebsratsmitglied erforderliche Betriebsratstätigkeit, ist es grundsätzlich unerheblich, ob es sich am Streik beteiligt hätte, wäre es für diese Zeit nicht von seiner Arbeitspflicht befreit gewesen. Das gilt jedenfalls solange es nicht seine Teilnahme am Streik trotz der Arbeitsbefreiung erklärt oder sich tatsächlich am Streikgeschehen beteiligt (vgl. BAG 15. Januar 1991 – 1 AZR 178/90 – zu II 5 der Gründe, BAGE 67, 50). 16 bb) Soweit die Beklagte die Auffassung vertreten hat, die Schulungsteilnahme sei freiwillig und nicht erforderlich gewesen, schließt das die Annahme eines dem Grunde nach bestehenden Entgeltanspruchs gemäß § 611a Abs. 2 BGB iVm. § 37 Abs. 6 und Abs. 2 BetrVG nicht aus. Nach dem unwidersprochenen schriftsätzlichen Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz hat er als einköpfiger Betriebsrat seine Teilnahme an der Schulung beschlossen und dies vor deren Beginn der Beklagten angezeigt. Diese hat ihm das Entgelt für diesen Tag (fort-)gezahlt. Der Sache nach hat sie damit die vor Beginn des Streiks feststehende Befreiung des Klägers von seiner Arbeitspflicht am 16. Oktober 2015 aufgrund einer erforderlichen amtsbezogenen Schulung und die Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruchs nicht in Abrede gestellt. 17 b) Diesen Anspruch hat die Beklagte vollständig erfüllt. Die dem Kläger für den 16. Oktober 2015 fortzuzahlende Vergütung umfasst nicht die in dem ersten betrieblichen Aushang zugesagte Streikbruchprämie. 18 aa) Arbeitsentgelt iSv. § 37 Abs. 2 BetrVG sind alle Vergütungsbestandteile, nicht dagegen Aufwendungsersatz. Eine dritte Kategorie von Zahlungen, also solche, die weder Aufwendungsersatz noch Arbeitsentgelt darstellt, ist der gesetzlichen Regelung des § 37 Abs. 2 BetrVG fremd (ausf. BAG 13. Juli 1994 – 7 AZR 477/93 – zu 1 b der Gründe, BAGE 77, 195). Entsprechend sind im Rahmen des Lohnausfallprinzips nach § 37 Abs. 2 BetrVG neben der Grundvergütung alle Zuschläge und Zulagen zu zahlen, die das Betriebsratsmitglied ohne Arbeitsbefreiung verdient hätte, insbesondere Zuschläge für Mehr-, Über-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, Erschwernis- und Sozialzulagen. Hierzu zählen, worauf die Revision richtig verweist, grundsätzlich auch Leistungen, die den tatsächlichen Arbeitsantritt voraussetzen (für eine tarifvertragliche sog. Antrittsgebühr BAG 13. Juli 1994 – 7 AZR 477/93 – aaO). 19 bb) Der Kläger unterfällt hingegen nicht dem Kreis der Anspruchsberechtigten, an die sich die ausgelobte Streikbruchprämie richtete. Unter Heranziehung der für eine Gesamtzusage maßgebenden Auslegungsgrundsätze (dazu ausf. zB BAG 24. Januar 2017 – 3 AZR 372/15 – Rn. 33) war die Sonderzahlung nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn ausschließlich denjenigen Arbeitnehmern versprochen, deren Arbeitspflicht an einem Streiktag nicht aus einem anderen Grund als dem der Teilnahme am Streik suspendiert war. 20 (1) Darauf deutet bereits die im jeweiligen betrieblichen Aushang formulierte Beschreibung des Adressatenkreises der „arbeitswilligen Mitarbeiter…, die bei einem Streik ihrer regulären Tätigkeit nachgehen und nicht streiken“ hin. Vor allem aber folgt dies aus dem Charakter der vor Beginn der Streikmaßnahmen zugesicherten Prämie. Sie richtete sich nur an Arbeitnehmer, die – dem erwarteten Streikaufruf nicht Folge leistend – tatsächlich während des Streiks ihre Arbeitsleistung erbringen. Die Beklagte hat sich, erkennbar für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, mit der Prämie keines Mittels allgemeiner Motivationssteigerung bedient, sondern wollte in der spezifischen Situation der Auseinandersetzung um einen Tarifvertragsschluss und eines vor diesem Hintergrund erwarteten Streiks dessen Folgen begrenzen. Eine Aufrechterhaltung des Betriebs trotz des Streiks vermochten nur diejenigen Arbeitnehmer zu gewährleisten, die ihrer Arbeitspflicht tatsächlich nachkommen konnten und hiervon nicht aus anderen Gründen – sei es Urlaub, Arbeitsunfähigkeit oder auch erforderliche Betriebsratstätigkeit – befreit waren. 21 (2) Dieses Verständnis der Streikbruchprämie verbietet sich im Hinblick auf die Freistellung wegen erforderlicher Betriebsratstätigkeit nicht wegen der Schutzbestimmungen des § 78 BetrVG. 22 (a) Nach dessen Satz 1 dürfen ua. die Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert werden. Weiterhin dürfen sie nach Satz 2 wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden. Eine Benachteiligung iSv. § 78 Satz 2 BetrVG ist – ohne dass es auf eine Benachteiligungsabsicht ankäme – jede Schlechterstellung im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern, die nicht auf sachlichen Gründen, sondern auf der Tätigkeit als Betriebsratsmitglied beruht (BAG 25. Juni 2014 – 7 AZR 847/12 – Rn. 29, BAGE 148, 299). 23 (b) Der Kläger wird als Betriebsratsmitglied, dessen Arbeitspflicht an dem Streiktag aus Gründen seiner Mandatstätigkeit suspendiert war, durch die „Vorenthaltung“ der Streikbruchprämie nicht wegen seiner Betriebsratstätigkeit gegenüber anderen Arbeitnehmern benachteiligt. Das Betriebsratsmitglied wird nicht anders behandelt als diejenigen Arbeitnehmer, die aus anderen Gründen von der Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt waren und deshalb ihre „reguläre Tätigkeit“ nicht erbracht haben. 24 II. Ein Anspruch auf die Prämienzahlungen wird nicht durch den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vermittelt. 25 1. Allerdings folgt das nicht aus der Begründung des Landesarbeitsgerichts. Dieses ist davon ausgegangen, die Streikbruchprämie aufgrund des ersten betrieblichen Aushangs sei zwar rechtswidrig; der Kläger habe aber keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht, weshalb er die Prämie nicht verlangen könne. Diese Argumentation vernachlässigt, dass der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zwar für sich gesehen keine Anspruchsgrundlage bildet (ausf. BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 18 ff., BAGE 148, 139). Wendet jedoch ein Arbeitgeber einer nach bestimmten Kriterien definierten Gruppe von Arbeitnehmern eine Leistung zu und nimmt damit andere Arbeitnehmer hiervon aus, kann dies dazu führen, dass er verpflichtet ist, dem (Kreis der) ausgeschlossenen Arbeitnehmer die der Gruppe versprochene Leistung zu gewähren, wenn er bei der Festlegung der zugrunde liegenden Anspruchsvoraussetzungen gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt (vgl. BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 18, aaO). Voraussetzung für die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die Regelbildung des Arbeitgebers ist, dass dieser durch ein eigenes gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk oder eine eigene Ordnung geschaffen hat. Liegen einer Leistung bestimmte Voraussetzungen zugrunde, muss die vom Arbeitgeber damit selbst geschaffene Gruppenbildung gemessen am Zweck der Leistung sachlich gerechtfertigt sein (vgl. etwa BAG 22. Januar 2009 – 8 AZR 808/07 – Rn. 35 mwN). Das ist der Fall, wenn die Differenzierungsgründe unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Leistung auf vernünftigen, einleuchtenden Erwägungen beruhen und nicht gegen verfassungsrechtliche Wertentscheidungen oder gesetzliche Verbote verstoßen. Rechtsfolge einer Verletzung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ist dann die Korrektur der arbeitgeberseitig bestimmten gleichbehandlungswidrigen Voraussetzung. Die sachlich nicht gerechtfertigte Gruppenbildung führt im Ergebnis zu einer Anpassung dieses Merkmals durch ein gleichbehandlungskonformes. Der Arbeitnehmer, der ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt wurde, kann die Leistung, von der er nach der Regelbildung des Arbeitgebers wegen Nichterfüllung des gleichbehandlungswidrigen Tatbestandsmerkmals ausgeschlossen war, von diesem verlangen, wenn es keine weiteren Voraussetzungen gibt oder etwaige weitere Voraussetzungen von ihm erfüllt werden (BAG 21. Mai 2014 – 4 AZR 50/13 – Rn. 22 f. mwN, aaO). 26 2. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Beklagte nicht zu den Prämienzahlungen verpflichtet. 27 a) Für die Prämie ist der Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes eröffnet. Die Beklagte hat diese als freiwillige Leistung nach einem selbstbestimmten generalisierenden Prinzip zugesagt und in zweifacher Hinsicht eine Gruppenbildung vorgenommen. Sie hat zum einen unterschieden zwischen streikenden und nichtstreikenden Arbeitnehmern und zum anderen zwischen denjenigen Arbeitnehmern, deren Arbeitspflicht an einem Streiktag von vornherein aus anderen als streikbedingten Gründen suspendiert war, und denjenigen, bei denen das nicht der Fall war. 28 b) Aus der Ausgestaltung der Prämie ergibt sich deren Zweck. Die Beklagte wollte die zur Arbeitsleistung verpflichteten Arbeitnehmer mittels einer finanziellen Leistung dazu anhalten, sich an einem von ihr aufgrund der Tarifauseinandersetzung mit ver.di konkret erwarteten Streik nicht zu beteiligen, also von der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Möglichkeit zur Teilnahme an dieser Arbeitskampfmaßnahme (zur Beteiligung aller vom Streikaufruf angesprochenen Arbeitnehmer BAG 22. März 1994 – 1 AZR 622/93 – zu II 3 a der Gründe mwN, BAGE 76, 196) keinen Gebrauch zu machen. Mit ihrem Versprechen einer Sonderleistung für diejenigen Arbeitnehmer, die einem gewerkschaftlichen Streikaufruf („Sollte es … tatsächlich zu einem Streik … kommen …“) nicht folgend weiter ihre Arbeitsleistung erbringen, sollte – als Streikabwehrmaßnahme – betrieblichen Ablaufstörungen entgegengewirkt und damit letztlich die Streikwirkung begrenzt werden. 29 c) Gemessen an diesem Zweck sind die Gruppenbildungen aus arbeitskampfrechtlichen Gründen zulässig. Eine Prämie, mit der ein bestreikter Arbeitgeber die zum Arbeitskampf aufgerufenen Arbeitnehmer von der Beteiligung am Streik abzuhalten und seinen Betrieb aufrechtzuerhalten sucht, ist kein generell unzulässiges Kampfmittel. Es erweist sich auch in der hier von der Beklagten ausgelobten Gestaltung nicht als unzulässig. 30 aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats muss der Arbeitgeber die Folgen einer gegen ihn gerichteten arbeitskampfbedingten Arbeitsniederlegung nicht hinnehmen. Er kann vielmehr versuchen, durch Gegenmaßnahmen die Folgen der streikbedingten Betriebsstörung zu begrenzen. Solche Maßnahmen sind durch die Arbeitsniederlegung bedingt und Teil des Systems von Druck und Gegendruck, das den Arbeitskampf kennzeichnet (vgl. BAG 20. März 2018 – 1 ABR 70/16 – Rn. 41 mwN). Das während einer Auseinandersetzung um den Abschluss eines Tarifvertrags erfolgte arbeitgeberseitige Versprechen einer finanziellen Zusatzleistung mit dem Ziel, die zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer von der Beteiligung am Streik abzuhalten („echte“ Streikbruchprämie, vgl. von Hoyningen-Huene in Anm. zu AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 127), stellt eine Arbeitskampfmaßnahme dar. Der Arbeitgeber nimmt Einfluss auf das Arbeitskampfgeschehen, indem er streikbedingte betriebliche Ablaufstörungen zu minimieren und damit die Wirksamkeit des gewerkschaftlichen Arbeitskampfmittels zur Druckausübung abzuschwächen versucht. 31 bb) Aus dem Umstand, dass eine Streikbruchprämie ein in einer kampfweisen Auseinandersetzung um einen Tarifvertrag eingesetztes Mittel der Arbeitgeberseite zur Begrenzung von Folgen eines Streiks ist, folgt nicht zwangsläufig deren Zulässigkeit. 32 (1) Das Arbeitskampfrecht ist weitgehend durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts richterrechtlich – auf der Grundlage des Art. 9 Abs. 3 GG und auf der Ebene einfachen Gesetzesrechts – geregelt (vgl. BVerfG 10. September 2004 – 1 BvR 1191/03 – Rn. 16). Zentraler Maßstab für die Beurteilung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Arbeitskampfs ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinn. Das betrifft nicht nur auf die Erzwingung eines Tarifvertragsabschlusses gerichtete gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen (dazu ausf. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 41 ff. mwN, BAGE 132, 140; 19. Juni 2007 – 1 AZR 396/06 – BAGE 123, 134), sondern ebenso hiergegen gerichtete Kampfmittel der anderen (möglichen) Tarifvertragspartei (dazu zB Greiner NJW 2010, 2977; kritisch Däubler/Rödl Arbeitskampfrecht 4. Aufl. § 21 Rn. 43 ff.). Dabei ist nicht entscheidend, ob es sich um von einem Arbeitgeberverband getragene Abwehr- oder Verteidigungsaktionen gegen einen auf den Abschluss eines Verbandstarifvertrags gerichteten Streik handelt oder um gegen die Erzwingung eines Haustarifvertrags (auch bezeichnet als Firmen- oder Unternehmenstarifvertrag) gerichtete Maßnahmen eines nicht verbandsangehörigen Arbeitgebers. Letzterer kann selbst Tarifvertragspartei sein (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 TVG). Demzufolge gelten die Grundsätze des Arbeitskampfrechts auch für Arbeitskämpfe um den Abschluss eines Tarifvertrags mit einem Außenseiter-Arbeitgeber (vgl. BVerfG 2. März 1999 – 1 BvR 1213/85 – zu C II 2 b der Gründe, BVerfGE 88, 103). 33 (2) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert eine Würdigung, ob ein Kampfmittel zur Erreichung eines rechtmäßigen Kampfziels geeignet und erforderlich ist und bezogen auf das Kampfziel angemessen (proportional) eingesetzt wird (BVerfG 26. März 2014 – 1 BvR 3185/09 – Rn. 25 mwN). 34 (a) Geeignet ist ein Kampfmittel, wenn durch seinen Einsatz die Durchsetzung des Kampfziels, das auf Arbeitgeberseite typischerweise auf den Nichtabschluss des verlangten Tarifvertrags oder auf den Abschluss eines inhaltlich anderen Tarifvertrags gerichtet ist, gefördert werden kann. Dabei kommt den einen Arbeitskampf führenden Koalitionen – und im Fall eines Arbeitskampfes um einen Firmentarifvertrag dem nicht verbandsgebundenen Arbeitgeber – eine Einschätzungsprärogative zu. Diese durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Freiheit in der Wahl der Arbeitskampfmittel (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 42, BAGE 132, 140) steht bei der die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichernden Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts auch dem einzelnen Arbeitgeber zu. 35 (b) Erforderlich ist ein Kampfmittel, wenn mildere Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels nach der Beurteilung der den Arbeitskampf Führenden nicht zur Verfügung stehen. Auch insoweit umfasst Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich deren Einschätzung, ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels das gewählte Mittel für erforderlich oder andere Mittel für ausreichend erachten. Die Grenze bildet der Rechtsmissbrauch (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 43, BAGE 132, 140). 36 (c) Verhältnismäßig im engeren Sinn (proportional) ist ein Arbeitskampfmittel, das sich unter hinreichender Würdigung der grundrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit zur Erreichung des angestrebten Kampfziels unter Berücksichtigung der Rechtspositionen der von der Kampfmaßnahme unmittelbar oder mittelbar Betroffenen als angemessen darstellt. Insoweit steht einer Arbeitskampfpartei zwar keine Einschätzungsprärogative zu. Allerdings ist in die notwendige rechtliche Abwägung einzustellen, dass es gerade Wesen einer Arbeitskampfmaßnahme ist, Druck zur Erreichung eines legitimen Ziels auszuüben. Unverhältnismäßig ist ein Arbeitskampfmittel daher erst, wenn es sich auch unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs als unangemessene Beeinträchtigung gegenläufiger, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen darstellt (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 44, BAGE 132, 140). Bei dieser Beurteilung kann von Bedeutung sein, ob das Kampfmittel mit eigenen Opfern verbunden ist und ob dem Gegner effektive Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ein Arbeitskampfmittel, das frei von eigenen Risiken eingesetzt werden kann und zugleich dem Gegner keine Verteidigungsmöglichkeiten lässt, gefährdet typischerweise die Verhandlungsparität. Nach der Rechtsordnung ist keiner Seite ein so starkes Kampfmittel zugebilligt, dass dem Gegenspieler keine wirksame Reaktionsmöglichkeit bleibt, sondern die Chancen auf die Herbeiführung eines angemessenen Verhandlungsergebnisses zerstört werden (vgl. BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 46, aaO). 37 cc) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist eine Streikbruchprämie kein generell unzulässiges Kampfmittel. 38 (1) Die Prämie ist nicht von vornherein ungeeignet, das von der Arbeitgeberseite verfolgte Ziel – die Abwehr oder Milderung der Folgen eines Streiks – zu erreichen. Der durch eine kollektive Arbeitsniederlegung ausgeübte Druck auf die Arbeitgeberseite als Tarifvertragspartei ist umso geringer, je weniger Arbeitnehmer einem Streikaufruf folgen. Die Wahl des Mittels, welches der Arbeitgeber für diesen Zweck für geeignet hält, unterliegt in der jeweiligen konkreten Arbeitskampfsituation seiner Einschätzungsprärogative. 39 (2) Die Prämie ist kein offensichtlich nicht erforderliches Mittel, um dem Druck, der durch einen Streik ausgeübt werden könnte, entgegenzuwirken. Ein Arbeitgeber, demgegenüber von Seiten der Gewerkschaft Streikmaßnahmen konkret in Aussicht gestellt werden, muss mit der Auslobung der Streikbruchprämie auch nicht warten, bis ein Streik tatsächlich begonnen hat. Soll mit dem Zahlungsversprechen der Druckausübung durch einen Streik begegnet werden, ist es ohnehin kein milderes Mittel, hiermit bis zum Beginn der kollektiven Arbeitsniederlegung zuzuwarten. Zudem ist es den Tarifpartnern grundsätzlich unbenommen, schon vor der kampfweisen Auseinandersetzung ihre Kampfmittel offenzulegen (ErfK/Preis 18. Aufl. § 612a BGB Rn. 16). 40 (3) Eine Streikbruchprämie ist nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne. 41 (a) Mit ihr ist keine unangemessene Beeinträchtigung der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsposition der streikführenden Gewerkschaft verbunden. Der Arbeitgeberstrategie, Streikdruck durch finanzielle Anreize an nichtstreikende Arbeitnehmer zu minimieren, ist die zum Streik aufrufende Gewerkschaft nicht in dem Sinn wehrlos ausgesetzt, dass der von ihr getragene Streik strukturell sinnentleert würde. Sie kann vielmehr – für ihre Forderungen werbend – auf zum Streik aufgerufene Arbeitnehmer einwirken und versuchen, sie trotz zugesagter Streikbruchprämie für eine Teilnahme am gewerkschaftlichen Streik zu gewinnen. Des Weiteren kann sie ihre Kampftaktik auf eine Streikbruchprämienauslobung einstellen und etwa eine gezielte Rotation der tatsächlich die Arbeit niederlegenden Arbeitnehmer organisieren, um die Selbstschädigung der Streikenden zu mildern und eine Abschöpfung der ausgelobten Prämie als Schädigung des Arbeitgebers zu bewirken. Es erscheint im Übrigen nicht ausgeschlossen, dass bei einer solchen in der Belegschaft kommunizierten, solidarischen „Prämienrotation“ der vom Streikaufruf erfassten Arbeitnehmer deren Streikbereitschaft prinzipiell gesteigert werden könnte. Hinzu kommt, dass sich der Arbeitgeber mit der Streikbruchprämie keines Arbeitskampfmittels bedient, welches für ihn ohne Folgewirkungen wäre. Die Prämie ist mit finanziellen Aufwendungen verbunden. Weiterhin besteht das Risiko, im Fall eines Tarifvertragsabschlusses aufgrund einer vereinbarten sog. Maßregelungsklausel die Prämienzahlungen auch streikenden Arbeitnehmern (nachträglich) gewähren zu müssen (vgl. zB BAG 13. Juli 1993 – 1 AZR 676/92 – BAGE 73, 320). 42 (b) Die Höhe der Streikbruchprämie – und deren Verhältnis zum Verdienst der zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer – ist für sich gesehen bei der Angemessenheitsprüfung des Arbeitskampfmittels regelmäßig kein geeignetes Kriterium (im Ergebnis offenlassend – BAG 13. Juli 1993 – 1 AZR 676/92 – zu III 1 d und 2 der Gründe, BAGE 73, 320). Zum einen kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die gegen eine Streikbruchprämie mögliche Abwehrstrategie einer Gewerkschaft umso wirkungsvoller erscheinen dürfte, je höher die Prämie im Verhältnis zum Verdienst ausfällt und sie – wie vorliegend – für jeden einzelnen Streiktag zugesagt ist. Zum anderen unterliegt eine Streikbruchprämie, worauf bereits das Arbeitsgericht verwiesen hat, einem ökonomisch-selbstregulierenden Effekt. Ein Arbeitgeber wird das Streikbruchprämienversprechen typischerweise nicht so ausgestalten, dass ihn die streikbedingten Sonderzahlungen finanziell stärker belasten als ein Nachgeben gegenüber den Forderungen der streikführenden Gewerkschaft. Ungeachtet dessen bewirkt auch eine gegenüber dem Entgeltanspruch der zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer sehr hohe Streikbruchprämie nur einen Anreiz und keinen Zwang, nicht am gewerkschaftlichen Streik teilzunehmen. Insoweit ist die Gewerkschaft dem Arbeitskampfmittel nicht in dem Sinne ausgesetzt, dass ihre Chancen zur Herbeiführung eines angemessenen Verhandlungsergebnisses von vornherein als ausgeschlossen erscheinen. 43 (4) Der Zulässigkeit einer Prämie mit dem Zweck, Arbeitnehmer in einer konkreten Arbeitskampfsituation von Arbeitsniederlegungen abzuhalten oder streikende Arbeitnehmer während des Arbeitskampfes zur Wiederaufnahme der Arbeit zu veranlassen, stehen weder Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG noch § 138 Abs. 1 BGB entgegen (aA Däubler/Rödl Arbeitskampfrecht 4. Aufl. § 21 Rn. 195 ff.). 44 (a) In einem nach Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Verhalten – im Sinn der die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichernden einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts – liegt keine nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtige Abrede oder rechtswidrige Maßnahme (vgl. nur M. Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck GG 7. Aufl. Art. 9 Rn. 185 ff. mwN). Arbeitskampfmaßnahmen ist es immanent, dass sie die durch die Tarifvertragsfreiheit geschützte Entscheidungsfreiheit der Gegenseite durch Zufügung von Schäden oder den Erfolg gegnerischer Kampfmaßnahmen abwehrenden Verhalten zu beeinflussen versuchen. 45 (b) Deshalb folgt die Unzulässigkeit der als Kampfmaßnahme kollektivrechtlich zu beurteilenden Streikbruchprämie nicht aus dem Umstand, dass der individualrechtliche Anspruch des einzelnen Arbeitnehmers auf Prämienzahlung dessen Nichtteilnahme am Streik voraussetzt. Es steht in der Beurteilung des zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmers, ob er sein Recht auf Beteiligung am Arbeitskampf in Anbetracht der zugesagten Streikprämie im Einzelfall nicht ausübt (vgl. Belling NZA 1990, 214, 219). 46 ee) Danach hat sich die Beklagte mit der von ihr zugesagten Streikbruchprämie keines unzulässigen Kampmittels bedient. Die Prämie ist auch im konkreten Arbeitskampf und in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht unverhältnismäßig im engeren Sinn. 47 (1) Das gilt zum einen im Hinblick auf die Höhe der Streikbruchprämie von (bei Vollzeitbeschäftigung) täglich 200,00 Euro und später 100,00 Euro. Selbst wenn man davon ausgeht, dass damit Streikbrucharbeit in starkem Maß gefördert gewesen sein dürfte, ist nicht ersichtlich, dass hiervon ein Zwang auf die zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer ausgeht, dem die streikführende Gewerkschaft wehrlos ausgesetzt gewesen wäre. 48 (2) Es gilt zum anderen im Hinblick auf das von ver.di verfolgte Ziel der Durchsetzung eines Tarifvertragsschlusses mit der nicht verbandsangehörigen Beklagten. Zwar dürfte eine kampfführende Gewerkschaft bei einem Streik mit dem Ziel des Abschlusses eines Haustarifvertrags von einer seitens des einzelnen Arbeitgebers ausgelobten Streikbruchprämie typischerweise stärker betroffen sein als bei einem auf die Erzwingung eines Verbandstarifvertrags gerichteten Streik. Das gilt jedenfalls dann, wenn eine Streikbruchprämie als – verbandsgetragenes – Kampfmittel nicht von allen verbandsorganisierten Arbeitgebern gewährt wird. Auch in der kampfweisen Auseinandersetzung mit dem „Außenseiter-Arbeitgeber“ sind jedoch die Maßnahmen, mit denen dieser dem Streikdruck standhalten oder ihm begegnen will, nicht limitiert. Zudem ist die Prämie mit Aufwendungen des sie als Kampfmittel einsetzenden Außenseiter-Arbeitgebers verbunden und nicht völlig frei von den oben angeführten – dann auch nicht verbandsgetragenen – Risiken. 49 (3) Die selbstschädigende Wirkung der konkret ausgelobten Streikbruchprämie ist schließlich nicht deshalb relativiert, weil sich das Prämienversprechen von vornherein nur an die Arbeitnehmer gewandt hat, deren Arbeitspflicht nicht aus anderen als streikbedingten Gründen suspendiert war. Auch unter Berücksichtigung dieses Umstandes hat sich die Beklagte keines Kampfmittels ohne jegliches Opfer und Risiko bedient. 50 ff) Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung steht einer Streikbruchprämie der hier streitbefangenen Art als zulässiges Kampfmittel nicht Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entgegen. 51 (1) Bei der Anwendung und Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes ist die EMRK als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfG 22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12 – Rn. 128, BVerfGE 137, 273). Auf der Ebene des einfachen Rechts trifft die Fachgerichte die Verpflichtung, deren Gewährleistungen und ihrer Zusatzprotokolle zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung mittels einer konventionsfreundlichen Auslegung einzupassen. In diesem Rahmen sind als Auslegungshilfe auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Dies beruht auf der Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung der EMRK auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt (vgl. BVerfG 18. August 2013 – 2 BvR 1380/08 – Rn. 27 f.; BAG 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14 – Rn. 74, BAGE 155, 347). Eine Heranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung oder vollständige Harmonisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen ihrer Wertungen (vgl. BVerfG 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 – Rn. 126). 52 (2) Vorliegend ist die durch Art. 11 EMRK geschützte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das damit verbundene Streikrecht (vgl. dazu zB EGMR 21. April 2009 – 68959/01 – [Enerji Yapi-Yol Sen]) zu berücksichtigen. Der EGMR hat mit den Entscheidungen zu Art. 11 EMRK verdeutlicht, dass an die Rechtfertigung einer Einschränkung der Vereinigungsfreiheit und des damit verbundenen Streikrechts nicht unerhebliche Anforderungen zu stellen sind (vgl. BAG 20. November 2012 – 1 AZR 179/11 – Rn. 130, BAGE 143, 354). 53 (3) Durch die Zulässigkeit einer Streikbruchprämie als gegen einen Streik gerichtetes arbeitgeberseitiges Kampfmittel wird das Streikrecht nicht unverhältnismäßig beschränkt. Gegenteiliges lässt sich der vom Kläger angeführten Entscheidung des EGMR in der Sache „Wilson, National Union of Journalists u.a. / Großbritannien“ nicht entnehmen. In dieser Rechtssache hat der EGMR in der Rechtsprechung britischer Gerichte, die es gebilligt hat, dass ein Arbeitgeber den Beschäftigten beträchtliche Gehaltserhöhungen dafür anbieten darf, dass diese der Beendigung der Anwendung der bisher geltenden Tarifverträge auf ihr Arbeitsverhältnis sowie des Systems kollektiven Verhandelns und gewerkschaftlicher Vertretung zustimmen, eine Verletzung von Art. 11 EMRK gesehen (EGMR 2. Sektion 2. Juli 2002 – 30668/96, 30671/96, 30678/96 -). Mit einer solchen Sachlage des höheren Entgelts bei einem Gewerkschaftsaustritt oder einem Verzicht auf wesentliche Gewerkschaftsrechte ist die in einer konkreten kampfweisen Auseinandersetzung versprochene Streikbruchprämie nicht vergleichbar. Die Streikbruchprämie – in der hier vorliegenden Gestaltung – bezweckt nicht, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, einer Gewerkschaft beizutreten oder eine solche zu gründen. Ebenso wenig zielt sie darauf, einen Streik zu verbieten oder den Einzelnen auf Dauer von der Teilnahme an einem Streik und damit der Ausübung seines Streikrechts abzuhalten. Im Übrigen sind die Tarifvertragsparteien vorliegend – anders als in der vom EGMR entschiedenen Rechtssache – im Zeitpunkt der Auslobung eines finanziellen Anreizes durch die Beklagte in einer Phase kollektiven Verhandelns gewesen. Der finanzielle Vorteil der Prämie für nichtstreikende Arbeitnehmer war von vornherein auf die Dauer des Streiks begrenzt. Dem Wortlaut des Art. 11 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR lässt sich kein Verbot bestimmter Kampfmittel entnehmen. 54 III. Es kann dahinstehen, inwieweit der von dem Kläger – ergänzend – geltend gemachte Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB eine eigenständige Anspruchsgrundlage für die streitgegenständlichen Forderungen bilden würde. Die Prämiengestaltung der hier streitbefangenen Art mit ihrer zulässigen Differenzierung zwischen streikenden und nichtstreikenden Arbeitnehmern stellt von vornherein keine Maßregelung iSv. § 612a BGB dar (vgl. auch BAG 31. Mai 2005 – 1 AZR 254/04 – zu II 2 c cc der Gründe, BAGE 115, 68; 13. Juli 1993 – 1 AZR 676/92 – zu IV 1 der Gründe, BAGE 73, 320).              Schmidt                  Treber                  K. Schmidt                                    N. Schuster                  Benrath
bundesarbeitsgericht
bag_43-19
28.11.2019
28.11.2019 43/19 - Ersatz eines Personenschadens - Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Zugunsten des Arbeitgebers greift gegenüber dem Schadensersatzverlangen eines Beschäftigten, der infolge eines Versicherungsfalls einen Personenschaden erlitten hat, das Haftungsprivileg nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ein, es sei denn, der Arbeitgeber hat den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg (Wegeunfall). Für die Annahme der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls ist ein „doppelter Vorsatz“ erforderlich. Der Vorsatz des Schädigers muss sich nicht nur auf die Verletzungshandlung, sondern auch auf den Verletzungserfolg beziehen. Die Klägerin ist bei der Beklagten, die ein Seniorenpflegeheim betreibt, langjährig als Pflegefachkraft beschäftigt. Das Gebäude des Seniorenpflegeheims hat zwei Eingänge, einen Haupt- und einen Nebeneingang. An beiden Eingängen befinden sich Arbeitszeiterfassungsgeräte. Der Haupteingang ist beleuchtet, der Nebeneingang nicht. Im Dezember 2016 erlitt die Klägerin kurz vor Arbeitsbeginn um etwa 7:30 Uhr einen Unfall auf einem Weg, der sich auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims befindet und dort zum Nebeneingang führt. Es war noch dunkel, als sie ihr Fahrzeug auf einem Parkplatz außerhalb des Betriebsgeländes abstellte und sich zu Fuß zum Nebeneingang begab. Kurz bevor sie diesen erreichte, rutschte sie auf dem Weg aus. Dabei erlitt sie eine Außenknöchelfraktur. Bei dem Unfall der Klägerin handelte es sich um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII; die Klägerin erhielt Verletztengeld. Die Klägerin hat von der Beklagten Schmerzensgeld und Ersatz materieller Schäden verlangt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte hatte den Versicherungsfall, der kein Wegeunfall war, sondern sich auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims ereignete, nicht vorsätzlich herbeigeführt. Die dahingehende Würdigung des Landesarbeitsgerichts war revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.   Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. November 2019 – 8 AZR 35/19 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht München, Urteil vom 27. November 2018 – 7 Sa 365/18 –
Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 27. November 2018 – 7 Sa 365/18 – wird zurückgewiesen. Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen. Tatbestand 1 Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin zum Ersatz materieller sowie immaterieller Schäden verpflichtet ist. 2 Die Klägerin ist bei der Beklagten, die ein Seniorenpflegeheim betreibt, langjährig als Pflegefachkraft beschäftigt. Das Gebäude des Seniorenpflegeheims hat zwei Eingänge, einen Haupt- und einen Nebeneingang. An beiden Eingängen befinden sich Arbeitszeiterfassungsgeräte. Der Haupteingang ist beleuchtet, der Nebeneingang nicht. Der Weg zum Haupteingang ist geteert, der Weg zum Nebeneingang besteht teilweise aus Kopfsteinpflaster. 3 Am 7. Dezember 2016 erlitt die Klägerin kurz vor Arbeitsbeginn um etwa 07:30 Uhr einen Unfall auf einem Weg, der sich auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims befindet und dort zum Nebeneingang des Gebäudes führt. Es war noch dunkel, als sie ihr Fahrzeug auf einem Parkplatz außerhalb des Betriebsgeländes abstellte und sich zu Fuß zum Nebeneingang begab. Kurz bevor sie diesen erreichte, rutschte sie auf dem Weg auf Kopfsteinpflaster aus. Dabei erlitt sie eine Außenknöchelfraktur, wegen der sie sich wegen einer Operation vom 9. Dezember bis zum 12. Dezember 2016 in stationärer Behandlung befand. In der Folgezeit kam es zu einer Wundheilungsstörung mit einem verzögerten Heilungsverlauf über den Monat Mai 2017 hinaus, verbunden mit einer Beweglichkeitseinschränkung. Bei dem Unfall der Klägerin handelte es sich um einen Arbeitsunfall und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII; die Klägerin erhielt Verletztengeld. 4 Mit ihrer Klage fordert die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von Schmerzensgeld iHv. mindestens 10.000,00 Euro sowie den Ersatz materieller Schäden. Insoweit begehrt sie zum einen den Differenzbetrag zwischen ihrem Arbeitsentgelt und dem von der Krankenkasse für den Zeitraum vom 7. Dezember 2016 bis einschließlich 7. August 2017 gezahlten Verletztengeld, den sie mit insgesamt 5.683,50 Euro beziffert hat. Ferner verlangt sie aus abgetretenem Recht den Ersatz des Verdienstausfalls iHv. insgesamt 21.300,00 Euro, den ihr Ehemann dadurch erlitten habe, dass er an ihrer Stelle den Haushalt geführt, die gemeinsamen Kinder betreut und sie, die Klägerin mit dem PKW zu den Behandlungsterminen gefahren habe. Darüber hinaus fordert die Klägerin von der Beklagten den Ersatz der Kosten der Beförderung zu diesen Behandlungsterminen iHv. insgesamt 750,40 Euro. Zudem begehrt sie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche (weiteren) materiellen Schäden aus dem Unfall vom 7. Dezember 2016 zu ersetzen. 5 Die Klägerin meint, die Beklagte sei ihr zum Ersatz der von ihr geltend gemachten Schäden verpflichtet. Sie könne sich nicht auf das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII berufen. Dieses greife bereits nicht ein, da es sich um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII gehandelt habe. Zudem habe die Beklagte den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt. Sie habe vorsätzlich ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem sie es unterlassen habe, den Weg zum Nebeneingang zum Unfallzeitpunkt mit Salz oder mit Split zu bestreuen. Hierdurch habe sie vorsätzlich ihren Unfall in Kauf genommen. Sie sei infolge von Eisglätte auf dem Weg zum Nebeneingang gestürzt, wobei der Grund für die Eisglätte allerdings im Unklaren bleibe, da es am Unfalltag weder Niederschlag noch Blitzeis gegeben habe. Bei der Beklagten sei es den Beschäftigten überlassen, welchen der beiden Eingänge sie benutzen. Es gebe weder eine Anweisung noch eine Beschilderung für eine bevorzugte Benutzung des Haupteingangs. Im Übrigen bestehe die mündliche Anweisung, die Parkplätze vor dem Haupteingang für den Besucherverkehr freizuhalten. Der Nebeneingang sei von dem von ihr genutzten Parkplatz aus der kürzeste Weg zum Arbeitsplatz. Da der Beklagten bekannt sei, dass der Nebeneingang auch von Beschäftigten – und zwar mitunter weit vor 08:00 Uhr – benutzt werde, hätte sie diesen Eingang auch schon vor Beginn der Lieferungen, also bereits vor 08:00 Uhr sichern müssen. Im Übrigen sei am 7. Dezember 2016 nicht nur der Zugang zum Nebeneingang, sondern auch der zum Haupteingang vor 08:00 Uhr weder geräumt noch gestreut gewesen. Auch die Mitarbeiterin R sei am 7. Dezember 2016 an gleicher Stelle infolge von Glatteis gestürzt. 6 Die Klägerin hat zuletzt sinngemäß beantragt,          1.     die Beklagte zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens aber 10.000,00 Euro zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 8. August 2017 zu zahlen;          2.     festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche materiellen Schäden aus dem Unfall vom 7. Dezember 2016 (Weg zum Seiteneingang des Hauses II des Seniorenpflegeheims B) zu ersetzen, soweit die Schadensersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergehen oder übergegangen sind;          3.     die Beklagte zu verurteilen, an sie 5.683,50 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. August 2017 zu zahlen;          4.     die Beklagte zu verurteilen, an sie 21.300,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. September 2017 zu zahlen;          5.     die Beklagte zu verurteilen, an sie 750,40 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2. September 2017 zu zahlen. 7 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, für den Unfall der Klägerin am 7. Dezember 2016 nicht zu haften. Insbesondere habe sie ihre Verkehrssicherungspflichten nicht verletzt, sondern im Gegenteil alles Zumutbare für einen gefahrlosen Zugang zum Pflegeheim unternommen. Der zuständige Mitarbeiter habe – wie üblich – auch am Unfalltag zunächst den Weg zum Haupteingang und die dortigen Parkplätze, und – da der über den Nebeneingang abgewickelte Lieferverkehr erst um 08:00 Uhr einsetze – erst danach den Weg zum Nebeneingang geräumt. Auch habe im Zeitpunkt des Unfalls keine Eisglätte bestanden, es habe insbesondere weder geschneit noch habe sich durch plötzlich einsetzenden Regen Blitzeis auf dem Gehweg zum Nebeneingang gebildet. Eine Eisglätte könne demnach für den Sturz der Klägerin nicht ursächlich gewesen sein. Als Sturzursache komme vielmehr eine Unachtsamkeit der Klägerin in Frage. Die Klägerin wäre, wenn sie den Haupteingang benutzt hätte, gefahrenfrei in das Gebäude gelangt. Dies sei auch der kürzere Weg gewesen. Die langjährig bei ihr beschäftigte Klägerin habe gewusst, dass der Weg zum Nebeneingang nicht beleuchtet und deshalb im Winter in den Morgenstunden zwischen 07:00 und 08:00 Uhr noch dunkel gewesen, sowie, dass er mit Kopfsteinpflaster versehen sei, von dem generell bei Nässe und Glätte eine höhere Rutschgefahr ausgehe. Auch sei ihr bekannt gewesen, dass der Weg zum Nebeneingang erst nachrangig zu 08:00 Uhr geräumt werde. Damit habe die Klägerin durch die Wahl des Wegs zum Nebeneingang selbst ein höheres Sturzrisiko in Kauf genommen und es habe in ihrer Verantwortung gelegen, sich entsprechend vorsichtig zu verhalten, was sie offenbar nicht getan habe. 8 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision. Entscheidungsgründe 9 Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte weder aus eigenem noch aus abgetretenem Recht einen Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten Schäden. Eine etwaige Ersatzpflicht der Beklagten ist nach § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Die Beklagte hat den Versicherungsfall weder vorsätzlich, noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt. 10 A. Die Klage ist zulässig. 11 I. Die nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erforderliche Bestimmtheit der Leistungsanträge liegt vor. Dies gilt auch für den Leistungsantrag zu 4. Die Klägerin hat den mit diesem Antrag insgesamt geforderten Betrag iHv. 21.300,00 Euro in ihren Schriftsätzen so aufgeschlüsselt, dass sich nachvollziehen lässt, wie sich die Gesamtsumme auf die verschiedenen Einzelansprüche verteilt (zu dieser Anforderung vgl. etwa BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 629/14 – Rn. 22 mwN). 12 II. Auch der auf Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige Schäden gerichtete Klageantrag zu 2. ist zulässig, insbesondere ist das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse gegeben (vgl. zu den Voraussetzungen BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B I 1 der Gründe; BGH 6. März 2001 – KZR 32/98 – zu II 1 der Gründe). Der Eintritt eines Schadens durch (Spät)Folgen der Außenknöchelfraktur der Klägerin erscheint denkbar und möglich. 13 B. Die Klage ist jedoch unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klägerin gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz hat, weil zugunsten der Beklagten die sozialversicherungsrechtliche Haftungsprivilegierung des § 104 Abs. 1 SGB VII eingreift, was die Gerichte – entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin – auf der Grundlage der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen von sich aus zu prüfen haben („iura novit curia“). 14 I. Zwar können sich Schadensersatzansprüche der Klägerin grundsätzlich aus § 280 Abs. 1 BGB iVm. § 241 Abs. 2 BGB oder wegen unerlaubter Handlung aus § 823 Abs. 1 BGB ergeben. Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB gilt dies nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat, wobei der Schuldner nach § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten hat. Nach § 823 Abs. 1 BGB ist dem anderen zum Schadensersatz verpflichtet, wer vorsätzlich oder fahrlässig ua. den Körper oder die Gesundheit eines anderen widerrechtlich verletzt. Dabei kann die Verletzungshandlung auch in einem Unterlassen bestehen, so zB in der Verletzung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, die zwar von den vertraglichen Schutzpflichten zu unterscheiden ist, sich mit ihnen jedoch auch decken kann (vgl. etwa BGH 5. Februar 1992 – IV ZR 94/91 – zu 2 a der Gründe mwN). 15 II. Allerdings ist eine etwaige Ersatzpflicht der Beklagten nach § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen. Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Die Beklagte hat den Versicherungsfall weder vorsätzlich, noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt. 16 1. Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Unternehmer den Versicherten, die – wie die Klägerin – für ihre Unternehmen tätig sind, sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben. Die Norm bezieht sich auf alle Haftungsgründe des bürgerlichen Rechts (BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 a der Gründe). 17 a) Hintergrund dieses Haftungsprivilegs zugunsten des Arbeitgebers gegenüber dem Schadensersatzverlangen eines Beschäftigten ist, dass bei einem Arbeitsunfall die gesetzliche Unfallversicherung eintritt, in die die Unternehmer Beiträge zu zahlen haben und dafür im Gegenzug im Regelfall – außer wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben – von der Haftung befreit sind. 18 aa) Die gesetzliche Unfallversicherung verlagert den Schadensausgleich bei Arbeitsunfällen aus dem individualrechtlichen in den sozialrechtlichen Bereich. Die zivilrechtliche Haftung des Unternehmers für fahrlässiges Verhalten bei Personenschäden gegenüber dem Arbeitnehmer wird nach § 104 SGB VII durch die öffentlich-rechtliche Leistungspflicht der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung abgelöst. Mit dieser Ablösung einher geht nach § 105 SGB VII eine entsprechende Haftungsfreistellung aller Betriebsangehörigen bei Betriebsunfällen (BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 10; vgl. auch BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 1 der Gründe mwN, BAGE 110, 195). 19 bb) Die gesetzliche Regelung dient zum einen dem Schutz des Geschädigten durch Einräumung eines vom Verschulden unabhängigen Anspruchs gegen einen leistungsfähigen Schuldner. Der Geschädigte muss weder ein Verschulden des Schädigers nachweisen noch sich ein eigenes Mitverschulden auf seine Ansprüche anrechnen lassen. Diese werden vielmehr ohne Verzögerung durch langwierige und mit einem Prozessrisiko behaftete Auseinandersetzungen mit dem Schädiger von Amts wegen festgestellt. Zum anderen dienen sowohl die Enthaftung des Unternehmers, der durch seine Beiträge die gesetzliche Unfallversicherung mitträgt und für den dadurch auch das Unfallrisiko kalkulierbar wird, als auch die Enthaftung der Betriebsangehörigen dem Betriebsfrieden. Selbst wenn der Haftungsausschluss, der nicht für Vorsatz und für Sachschäden gilt, nicht schlechthin den Frieden im Betrieb garantieren kann, so ist er doch geeignet, Anlässe zu Konflikten einzuschränken. Dass sich das den §§ 104, 105 SGB VII zugrundeliegende Prinzip einmal zugunsten des Geschädigten, ein anderes Mal zu dessen Nachteil auswirken kann, ist dabei systemimmanent, da die Anspruchsvoraussetzungen und die Leistungen im zivilrechtlichen Schadensersatzrecht und im sozialrechtlichen Unfallversicherungsrecht nicht deckungsgleich sind (BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 10; vgl. zu einigen Aspekten auch BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 1 der Gründe mwN, BAGE 110, 195). 20 cc) § 104 Abs. 1 SGB VII umfasst den Ersatz des Personenschadens insgesamt. 21 (1) Ein Personenschaden ist der Schaden, den der Verletzte in seiner körperlichen oder seelischen Unversehrtheit erleidet und der zu einer zivilrechtlichen Entschädigungspflicht führt; gleichzeitig muss ein Gesundheitsschaden als ein den Versicherungsfall konstituierendes Merkmal eingetreten sein (BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 2 der Gründe mwN, BAGE 110, 195). 22 (2) Ersatzansprüche der in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Art sind alle Ansprüche vertraglicher oder deliktischer Natur, die auf Ersatz des Personenschadens gerichtet sind und auf ein Geschehen gestützt werden, das einen Versicherungsfall darstellen kann (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 14 mwN). 23 (3) Da der Haftungsausschluss bezweckt, den Arbeitgeber (§ 104 SGB VII) – und den Arbeitskollegen (§ 105 SGB VII) – von der Haftung wegen Personenschäden insgesamt freizustellen, fallen unter die Personenschäden nicht nur immaterielle Schäden (Schmerzensgeld), sondern auch Heilbehandlungskosten und Vermögensschäden wegen der Verletzung oder Tötung des Versicherten. Diese Kosten werden durch die Unfallversicherung nach dem Haftungsersetzungsprinzip abgedeckt (BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 2 der Gründe mwN, BAGE 110, 195; vgl. auch 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 c bb (1) der Gründe mwN), unabhängig davon, ob die Leistungen den Personenschaden in jeder Hinsicht kompensieren (vgl. auch BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 12; zum Ausschluss des Schmerzensgelds vgl. BVerfG 7. November 1972 – 1 BvL 4/71, 1 BvL 17/71, 1 BvL 10/72, 1 BvR 355/71 – zu C I 1 der Gründe, BVerfGE 34, 118; vgl. auch von Koppenfels-Spies in KKW 6. Aufl. SGB VII § 104 Rn. 2 f.; Staudinger/Oetker [2019] § 618 Rn. 358; Kranig in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2018 K § 104 Rn. 15). 24 (4) Bei Fahrtkosten für die Wahrnehmung von Arztterminen handelt es sich nicht um unabhängig von dem Haftungsausschluss nach § 104 Abs. 1 SGB VII bzw. § 105 Abs. 1 SGB VII erstattungsfähige „Sachschäden“. Da diese erst und nur durch die Verletzung des Versicherten verursacht worden sind, gehören sie zum Personenschaden (vgl. BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 2 der Gründe, BAGE 110, 195). 25 b) Die Regelung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist verfassungsgemäß (vgl. BVerfG 27. Februar 2009 – 1 BvR 3505/08 – Rn. 11, unter Bezugnahme auf: BVerfG 7. November 1972 – 1 BvL 4/71 ua. – BVerfGE 34, 118, 129 ff.; 8. Februar 1995 – 1 BvR 753/94 -; vgl. auch BAG 22. April 2004 – 8 AZR 159/03 – zu II 1 der Gründe mwN, BAGE 110, 195). Soweit bestimmte Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung nicht übernommen bzw. bestimmte Schadenspositionen durch die gesetzliche Unfallversicherung nicht ausgeglichen werden, ändert dies nichts daran, dass der Haftungsausschluss verfassungskonform ist. Eine Deckungsgleichheit der Leistungen ist nicht erforderlich (BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 12). 26 2. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII steht einer etwaigen Ersatzpflicht der Beklagten entgegen. Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Zudem hat die Beklagte den Versicherungsfall weder vorsätzlich noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt. 27 a) Bei dem Unfall, den die Klägerin am 7. Dezember 2016 auf dem Weg zum Nebeneingang des Pflegeheims erlitten hat, handelt es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 SGB VII und damit um einen Versicherungsfall iSv. § 7 SGB VII. Dies steht mit Bindungswirkung nach § 108 Abs. 1 SGB VII fest, da der Unfall der Klägerin nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts als Arbeitsunfall anerkannt wurde und die Klägerin Verletztengeld erhalten hat. Darauf, ob die Beklagte gemäß § 12 Abs. 2 SGB X in der gebotenen Weise an dem sozialrechtlichen Verfahren beteiligt wurde, kommt es nicht an. 28 aa) Nach § 108 Abs. 1 SGB VII ist ein Gericht, das über Ersatzansprüche der in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Art zu entscheiden hat, an eine unanfechtbare Entscheidung nach dem SGB VII oder nach dem Sozialgerichtsgesetz in der jeweils geltenden Fassung gebunden, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist. Nach § 108 Abs. 2 SGB VII hat das Gericht sein Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Absatz 1 ergangen ist. Falls ein solches Verfahren noch nicht eingeleitet ist, bestimmt das Gericht dafür eine Frist, nach deren Ablauf die Aufnahme des ausgesetzten Verfahrens zulässig ist. 29 (1) § 108 SGB VII verfolgt das Ziel, eine einheitliche Bewertung der unfallversicherungsrechtlichen Kriterien zu gewährleisten und divergierende Beurteilungen zu vermeiden. Für den Geschädigten untragbare Konsequenzen, die eintreten könnten, wenn zwischen den Zivil- bzw. Arbeitsgerichten auf der einen Seite und den Unfallversicherungsträgern bzw. den Sozialgerichten auf der anderen Seite unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird, sollen verhindert werden (st. Rspr., ua. BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 11 mwN; vgl. auch BAG 14. Dezember 2006 – 8 AZR 628/05 – Rn. 27). 30 Aus diesem Grund räumt § 108 SGB VII den Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, also den Unfallversicherungsträgern und den Sozialgerichten, hinsichtlich der Beurteilung bestimmter unfallversicherungsrechtlicher Vorfragen den Vorrang vor den Zivil- und Arbeitsgerichten ein (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 11 mwN). Dabei sind bindend für die Frage, ob ein Versicherungsfall nach den §§ 104 ff. SGB VII vorgelegen hat, sowohl die positive als auch die negative Feststellung des Sozialversicherungsträgers bzw. der Sozialgerichte. Dies gilt unabhängig davon, ob die zur Entscheidung über den privatrechtlichen Schadensersatzanspruch berufenen Gerichte diese Entscheidungen für richtig halten (BGH 19. Mai 2009 – VI ZR 56/08 – Rn. 12, BGHZ 181, 160; vgl. BAG 14. Dezember 2006 – 8 AZR 628/05 – Rn. 27), und auch dann, wenn die Entscheidung im sozialrechtlichen Verfahren auf einer unvollständigen Tatsachengrundlage beruht und das Zivil- bzw. Arbeitsgericht selbst abweichende Feststellungen treffen könnte (BAG 14. Dezember 2006 – 8 AZR 628/05 – aaO). 31 Den Vorrang der Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, haben die Zivil- und Arbeitsgerichte von Amts wegen zu berücksichtigen; er setzt der eigenen Sachprüfung – auch des Revisionsgerichts – Grenzen (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 11 mwN). 32 (2) Der den Unfallversicherungsträgern bzw. Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit in § 108 SGB VII eingeräumte Vorrang bezieht sich nicht nur auf die Entscheidung, ob ein Unfall als Versicherungsfall (§ 7 Abs. 1 SGB VII) zu qualifizieren ist, sondern erstreckt sich auch auf die Beurteilung der Frage, ob der Geschädigte im Unfallzeitpunkt Versicherter der gesetzlichen Unfallversicherung war; denn die Versicherteneigenschaft ist eine notwendige Voraussetzung für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII und damit als Versicherungsfall iSv. § 7 Abs. 1 SGB VII (BGH 30. Mai 2017 – VI ZR 501/16 – Rn. 12 mwN; vgl. auch BAG 30. Oktober 2003 – 8 AZR 548/02 – zu B II 1 b der Gründe, BAGE 108, 206), sowie auf die Frage, welchem Unternehmen der Unfall zuzurechnen ist (vgl. BGH 18. November 2014 – VI ZR 141/13 – Rn. 10 mwN). 33 (3) Fragen, die allein von den Zivil- bzw. Arbeitsgerichten zu entscheiden sind, sind hingegen nicht von der Bindungswirkung des § 108 Abs. 1 SGB VII erfasst. 34 Allein von den Zivil- und Arbeitsgerichten zu entscheiden und damit nicht von der Bindungswirkung erfasst ist ua. nicht nur die Frage, ob ein Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII bzw. § 105 SGB VII aufgrund einer vorsätzlichen Schädigung ausgeschlossen ist, der Versicherungsfall also vorsätzlich herbeigeführt wurde, sondern auch die Frage, ob der Arbeitsunfall und damit der Versicherungsfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg (Wegeunfall) herbeigeführt wurde, da dies für die Beurteilung des Versicherungsfalls irrelevant ist (vgl. auch BAG 30. Oktober 2003 – 8 AZR 548/02 – zu B II 1 b der Gründe, BAGE 108, 206; Landessozialgericht Baden-Württemberg 28. Juli 2017 – L 8 U 4110/16 – Rn. 39 mwN; Thüringer Landessozialgericht 9. Juni 2016 – L 1 U 171/15 – Rn. 24 mwN; ErfK/Rolfs 20. Aufl. SGB VII § 108 Rn. 4 mwN; BeckOK SozR/Stelljes Stand 1. März 2018 SGB VII § 108 Rn. 20; Keller in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2018 K § 8 Rn. 32a; Lemcke R+S 2016, 486, 487 f.; aA Ricke NZV 2017, 559, 560). 35 (a) Gegen eine Bindungswirkung spricht insoweit bereits, dass der Umfang der Bindungswirkung in § 108 Abs. 1 SGB VII ausdrücklich dahin bestimmt ist, dass er die Fragen betrifft, „ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist“, und dass die Frage, ob der Versicherungsfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt wurde, in § 108 Abs. 1 SGB VII nicht aufgeführt ist (so auch Lemcke R+S 2016, 486, 487 f.). 36 (b) Es besteht auch kein Anlass, § 108 Abs. 1 SGB VII über seinen Wortlaut hinaus weit auszulegen und um Elemente anzureichern, die für die von den Unfallversicherungsträgern bzw. Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu treffenden Entscheidungen nicht von Bedeutung sind. 37 (aa) Für Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII oder um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handelt. Welcher spezifischen Art ein Versicherungsfall ist, ist entschädigungsrechtlich bedeutungslos (Landessozialgericht Baden-Württemberg 28. Juli 2017 – L 8 U 4110/16 – Rn. 38). Damit einhergehend nennt der Unfallversicherungsträger bei Anerkennung eines Arbeitsunfalls in der Regel nicht die genaue Rechtsgrundlage, macht also keine Angabe zur Frage, ob es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII oder um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handelt (BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – Rn. 17; Thüringer Landessozialgericht 9. Juni 2016 – L 1 U 171/15 – Rn. 24; Nehls in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2019 K § 108 Rn. 7; Lemcke RuS 2016, 486, 487 mwN; von Koppenfels-Spies in KKW 6. Aufl. SGB VII § 108 Rn. 6 mwN; vgl. auch Ricke NZV 2017, 559, 560). 38 (bb) Da es für Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung – wie unter Rn. 37 ausgeführt – nicht darauf ankommt, ob es sich um einen Arbeitsunfall iSv. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII oder um einen Wegeunfall iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handelt, wird das Erreichen des vom Gesetzgeber mit § 108 SGB VII verfolgten Ziels, divergierende Beurteilungen zu vermeiden und eine einheitliche Bewertung der unfallversicherungsrechtlichen Kriterien zu gewährleisten, durch entsprechende Feststellungen der Zivil- oder Arbeitsgerichte auch nicht gefährdet. Die Gefahr, dass zwischen den Zivil- und Arbeitsgerichten auf der einen Seite und den Unfallversicherungsträgern bzw. den Sozialgerichten auf der anderen Seite unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird, besteht insoweit nicht. 39 (cc) Aus dem Umstand, dass beim Beitragsausgleichsverfahren der gewerblichen Berufsgenossenschaften nach § 162 SGB VII Wegeunfälle iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII unberücksichtigt bleiben, während hingegen Versicherungsfälle auf Betriebswegen grundsätzlich berücksichtigt werden, und damit die versicherungsrechtliche Entscheidung, ob als Versicherungsfall im Einzelfall ein Wegeunfall in og. Sinne oder ein Betriebswegeunfall in og. Sinne vorliegt, insoweit von Bedeutung ist (vgl. Brandenburg/K. Palsherm in Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB VII 2. Aufl. Stand 17. Juli 2017 § 162 SGB VII Rn. 31), folgt für die Frage nach dem Umfang der Bindungswirkung nach § 108 SGB VII nichts Abweichendes. Auch insoweit besteht keine Gefahr, dass zwischen den Zivil- bzw. Arbeitsgerichten auf der einen und den Unfallversicherungsträgern bzw. den Sozialgerichten auf der anderen Seite unterschiedliche Auffassungen über das Vorliegen eines Versicherungsfalls bestehen und dem Geschädigten deshalb weder Schadensersatz noch eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt wird. Die beitragsrechtlichen Folgen betreffen vielmehr allein den Unternehmer, sie haben keine Auswirkung auf den Geschädigten. 40 bb) Allerdings ist dem Berufungsurteil nicht zweifelsfrei zu entnehmen, ob der Bescheid über die Anerkennung des Unfalls der Klägerin als Versicherungsfall auch der Beklagten gegenüber bestandskräftig geworden ist. Das Landesarbeitsgericht hat insbesondere keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob die Beklagte gemäß § 12 Abs. 2 SGB X in der gebotenen Weise an dem Verfahren beteiligt wurde. Ob dies der Fall war, kann vorliegend jedoch dahinstehen. Sollte die Beklagte nicht entsprechend den Vorgaben von § 12 Abs. 2 SGB X beteiligt worden sein, so wäre dies im vorliegenden Verfahren ausnahmsweise unschädlich, da die an sich gebotene Aussetzung des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII im Streitfall eine bloße Förmelei und deshalb ausnahmsweise entbehrlich wäre. 41 (1) Die Bestandskraft der Entscheidung iSv. § 108 SGB VII setzt voraus, dass der jeweils beklagte Unternehmer an dem sozialrechtlichen Verfahren in der gebotenen Weise (§ 12 Abs. 2 SGB X) beteiligt worden ist, denn seine Rechte dürfen durch die Bindungswirkung nach § 108 SGB VII nicht verkürzt werden (ua. BGH 19. Mai 2009 – VI ZR 56/08 – Rn. 22, BGHZ 181, 160). Dazu muss der Unternehmer zumindest in Kenntnis des Verfahrens und dessen Auswirkungen auf seine eigene rechtliche Position darüber entschieden haben können, ob er an dem sozialrechtlichen Verfahren teilnehmen will oder nicht (dazu im Einzelnen BGH 20. November 2007 – VI ZR 244/06 – Rn. 10 ff.). 42 (2) Allerdings wird eine Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall unabhängig von der Notwendigkeit, den Unternehmer nach § 12 Abs. 2 SGB X zu dem Verfahren hinzuzuziehen, auch diesem gegenüber unanfechtbar, wenn er hierdurch in seiner Rechtsstellung nicht nachteilig betroffen wird (BGH 17. Juni 2008 – VI ZR 257/06 – Rn. 9, BGHZ 177, 97; von Koppenfels-Spies in KKW 6. Aufl. SGB VII § 108 Rn. 4; aA Nehls in Hauck/Noftz SGB VII Stand August 2019 K § 112 Rn. 5 bezogen auf Einzelfälle wie zB die Feststellung degenerativer Erkrankungen als Unfallfolgen). In einem solchen Fall stellt sich die an sich gebotene Aussetzung des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII als Förmelei dar und ist deshalb entbehrlich (BGH 30. April 2013 – VI ZR 155/12 – Rn. 10 f.). 43 (3) Das ist hier der Fall, da die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers für die Beklagte insofern günstig ist, als durch die Anerkennung des Unfalls der Klägerin als Versicherungsfall eine wesentliche Voraussetzung für die von ihr geltend gemachte Haftungsprivilegierung nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII geschaffen worden ist. 44 b) Wie das Landesarbeitsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen hat, hat die Beklagte den Versicherungsfall weder vorsätzlich noch auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt. 45 aa) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass die Beklagte den Versicherungsfall nicht vorsätzlich herbeigeführt hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. 46 (1) Der Haftungsausschluss nach § 104 Abs. 1 SGB VII entfällt nicht bereits dann, wenn ein bestimmtes Handeln, das für den Unfall ursächlich gewesen ist, gewollt und gebilligt wurde. Für die Annahme der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls ist vielmehr ein „doppelter Vorsatz“ erforderlich. Der Vorsatz des Schädigers muss nicht nur die Verletzungshandlung, sondern auch den Verletzungserfolg umfassen (vgl. nur BAG 20. Juni 2013 – 8 AZR 471/12 – Rn. 23 mwN; 19. Februar 2009 – 8 AZR 188/08 – Rn. 50, 52 mwN; 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 d aa und bb der Gründe; vgl. auch BGH 8. März 2012 – III ZR 191/11 – Rn. 14 mwN; 11. Februar 2003 – VI ZR 34/02 – zu II 1 der Gründe, BGHZ 154, 11). Daran hält der Senat fest. 47 (2) Das Verschulden und die einzelnen Arten des Verschuldens, dh. des Verschuldensgrades, sind Rechtsbegriffe. Die Feststellung ihrer Voraussetzungen liegt im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet, wobei dem Tatrichter ein erheblicher Beurteilungsspielraum zusteht. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob der Tatrichter von den richtigen rechtlichen Beurteilungsmaßstäben ausgegangen ist, die wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt sowie Denkgesetze, Erfahrungssätze und Verfahrensvorschriften nicht verletzt hat. Eine Aufhebung des Berufungsurteils darf nur erfolgen, wenn eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums durch den Tatsachenrichter festzustellen ist. Dagegen genügt es für eine Aufhebung des landesarbeitsgerichtlichen Urteils nicht, dass im Streitfall auch eine andere Beurteilung als die des Landesarbeitsgerichts möglich ist und dass das Revisionsgericht, hätte es die Beurteilung des Verschuldensgrades selbst vorzunehmen, zu dem Ergebnis gekommen wäre, es liege ein anderer Verschuldensgrad als der vom Berufungsgericht angenommene vor (BAG 19. Februar 2009 – 8 AZR 188/08 – Rn. 48 mwN). 48 (3) Danach hat das Landesarbeitsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, die Beklagte habe den Versicherungsfall nicht vorsätzlich herbeigeführt, weil sie keinen Vorsatz im Hinblick auf den Verletzungserfolg gehabt habe. 49 (a) Das Landesarbeitsgericht hat insoweit ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass der gesetzliche Vertreter der Beklagten Vorsatz hinsichtlich des Verletzungserfolgs gehabt habe. Gleiches gelte für ein ggf. der Beklagten zurechenbares Verhalten des mit Räum- und Streuarbeiten beauftragten Mitarbeiters der Beklagten. Unterstelle man das Vorbringen der Klägerin als wahr, könne diesem allenfalls grob fahrlässiges, nicht aber vorsätzliches Herbeiführen des Unfalls vorgeworfen werden. Sein Verhalten wäre dann vergleichbar mit dem Fall einer vorsätzlichen Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, die aber auch nicht die Annahme einer vorsätzlichen Unfallverursachung rechtfertige. 50 (b) Diese Ausführungen begegnen keinen revisionsrechtlichen Bedenken, insbesondere zeigt die Revision der Klägerin keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. 51 (aa) Soweit die Klägerin mit ihrem Hinweis auf ihr Vorbringen im Schriftsatz vom 31. August 2018 zum unterlassenen Räumen und Streuen der Wege zum Gebäude des Seniorenpflegeheims eine Verfahrensrüge erhebt, ist diese zwar zulässig, aber unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das Vorbringen der Klägerin ausdrücklich gewürdigt und in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass sich allein aus einem unterlassenen Räumen und Streuen der Wege kein Vorsatz hinsichtlich des Verletzungserfolgs ergebe. Insoweit wirkt sich aus, dass allein der Verstoß gegen Verkehrssicherungspflichten oder etwa Unfallverhütungsvorschriften keinen Vorsatz im Hinblick auf den Verletzungserfolg indiziert. Selbst derjenige, der vorsätzlich eine zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Schutzvorschrift missachtet, will regelmäßig nicht die Schädigung und den Arbeitsunfall des Arbeitnehmers selbst, sondern hofft, dass diesem kein Unfall widerfahren werde (BAG 19. Februar 2009 – 8 AZR 188/08 – Rn. 50). Von diesen Grundsätzen ist das Landesarbeitsgericht ersichtlich ausgegangen. 52 (bb) Soweit die Klägerin mit ihrem Hinweis auf ihr Vorbringen im Schriftsatz vom 31. August 2018 zu ihrem Gespräch mit der Heimleiterin J eine Verfahrensrüge erhebt, ist diese zwar ebenfalls zulässig, jedoch ebenfalls unbegründet. Das Landesarbeitsgericht musste nicht auf sämtliches Vorbringen ausdrücklich eingehen, es konnte sich in der Begründung auf eine Behandlung der wesentlichen Umstände beschränken. Desungeachtet hätte das Landesarbeitsgericht auch kein entscheidungserhebliches Vorbringen übergangen. Denn selbst wenn es zutreffen sollte, dass die Heimleiterin J nach dem Unfall auf die Klägerin zugekommen war und ihr gesagt hatte, dass sie dem Hausmeister bereits Bescheid gegeben habe, dass er streuen müsse, würde dieser Umstand keinen Vorsatz der Beklagten im Hinblick auf den Verletzungserfolg indizieren. Es spräche also nichts für die Annahme eines „doppelten Vorsatzes“. 53 (cc) Das Landesarbeitsgericht hat auch im Übrigen kein entscheidungserhebliches Vorbringen der Klägerin übergangen. 54 Soweit die Klägerin geltend macht, dass am 7. Dezember 2016 auch der Zugang zum Haupteingang nicht geräumt und gestreut gewesen sei, würde auch dieser Umstand – wäre er festgestellt – schon deshalb nicht zu einer anderen Bewertung führen, weil er keinen Vorsatz der Beklagten im Hinblick auf den Verletzungserfolg indizieren würde. Gleiches gilt für die Behauptung der Klägerin, dass eine weitere Kollegin am Unfalltag an gleicher Stelle gestürzt sei. Selbst wenn diese Behauptung zutreffen sollte, ergäbe sich daraus kein Hinweis auf einen Vorsatz der Beklagten bezogen auf den Verletzungserfolg. 55 bb) Das Landesarbeitsgericht hat auch in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass die Beklagte den Versicherungsfall nicht auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt hat. 56 (1) Von den Arbeitsunfällen iSv. § 8 Abs. 1 SGB VII sind die sog. Wegeunfälle iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII zu unterscheiden: Insoweit schließen „versicherte Tätigkeiten“ nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit ein. Demgegenüber sind Betriebswege Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, Teil der versicherten Tätigkeit sind und damit der Betriebsarbeit gleichstehen (BSG 27. November 2018 – B 2 U 28/17 R – Rn. 17 mwN; 31. August 2017 – B 2 U 9/16 R – Rn. 10 mwN, BSGE 124, 93). Sie werden im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und unterscheiden sich von Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit iSv § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgehen oder sich ihr anschließen (BSG 27. November 2018 – B 2 U 28/17 R – aaO; 31. August 2017 – B 2 U 9/16 R – aaO). Sie sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch außerhalb der Betriebsstätte anfallen (BSG 27. November 2018 – B 2 U 28/17 R – aaO). 57 (a) Dabei ist der Ort der Tätigkeit nicht lediglich der konkrete Arbeitsplatz, vielmehr gehört dazu in der Regel das gesamte Werksgelände (BSG 22. September 1988 – 2 RU 11/88 – Rn. 15). Der Ort der Tätigkeit ist räumlich durch das Erreichen bzw. Verlassen der Betriebs- oder Ausbildungsstätte oder der Stätte des Arbeitseinsatzes, beispielsweise durch deren Außentür bzw. Werkstor begrenzt. Der Weg zum Ort der Tätigkeit endet daher im Allgemeinen mit dem Durchschreiten eines Werkstors bzw. einer Außentür, während auf den innerhalb des Werksgeländes liegenden „Betriebs“-Wegen grundsätzlich Versicherungsschutz nach § 8 Abs. 1 SGB VII besteht (vgl. BSG 27. März 1990 – 2 RU 32/89 – Rn. 15; BAG 14. Dezember 2000 – 8 AZR 92/00 – Rn. 16, 19). Ein Werkstor bzw. eine Außentür als maßgebliches Abgrenzungskriterium anzusehen, ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit gerechtfertigt (BSG 22. September 1988 – 2 RU 11/88 – Rn. 16). 58 (b) Der vor Arbeitsbeginn auf dem Betriebsgelände zurückgelegte Weg zum Arbeitsplatz, um dort die Tätigkeit aufzunehmen, ist versicherungsrechtlich geschützter Betriebsweg, weil er untrennbar mit der betrieblichen Tätigkeit verbunden ist und deshalb mit ihr in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang steht (BSG 19. Januar 1995 – 2 RU 3/94 – Rn. 17 mwN). Ein Betriebsweg wird in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt und ist Teil der versicherten Tätigkeit; er steht der Betriebsarbeit gleich (BAG 19. August 2004 – 8 AZR 349/03 – zu B II 1 c bb der Gründe). 59 (2) Danach hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Unfall der Klägerin vom 7. Dezember 2016 kein „Wegeunfall“ iSv. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII ist. 60 (a) Wie das Landesarbeitsgericht festgestellt hat, ereignete sich der Unfall am Ort der Tätigkeit, nämlich auf dem Betriebsgelände auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Damit stand der Weg in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit der Arbeitsaufnahme. Der Unfall ereignete sich demnach auf einem Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII. 61 (aa) Nach den nicht mit Verfahrensrügen iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO angegriffenen und somit nach § 559 ZPO für den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Tatbestand des Berufungsurteils ereignete sich der Unfall der Klägerin am 7. Dezember 2016 um etwa 07:30 Uhr „auf dem Weg, der zum Betriebsgelände gehörte“. Dass das Landesarbeitsgericht die Formulierung „nach ihrer Darstellung“ hinzugesetzt hat, beeinträchtigt diese Feststellung nicht. Jedenfalls hat das Landesarbeitsgericht in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils ausdrücklich festgestellt, dass es zwischen den Parteien unstreitig ist, dass der Unfall sich auf dem Betriebsgelände ereignet und die Klägerin selbst angegeben hat, dass der Ort des Unfalls auf dem Betriebsgelände nach Durchschreiten einer Toreinfahrt lag. 62 (bb) Die Bindungswirkung nach § 559 Abs. 2 ZPO entfällt hier auch nicht deshalb, weil die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts unklar, lückenhaft oder widersprüchlich wären. Soweit die Klägerin in der Revisionsbegründung vorbringt, die Beklagte habe laut Tatbestand des Berufungsurteils bestritten, dass „die Klägerin … auf dem Weg zum Lieferanteneingang gestürzt sei“, was die Klägerin sich als für sie günstig zu eigen mache mit der Folge, dass das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 SGB VII für die Beklagte nicht eingreife, kann dahinstehen, was die Klägerin damit konkret zum Ausdruck bringen möchte. Jedenfalls hat sie den Vortrag der Beklagten und seine Darstellung durch das Landesarbeitsgericht auf Seite 4 des Berufungsurteils nicht zutreffend erkannt. Die Beklagte hat nicht den Ort des Sturzes bestritten, sondern von Anfang an die Umstände des Sturzes in Zweifel gezogen und die Möglichkeit einer anderen Sturzursache, zB wegen Unachtsamkeit der Klägerin angesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit nichts anderes zum Ausdruck gebracht. 63 (b) Soweit die Klägerin in der Revisionsbegründung anführt, der Begriff „Werks- bzw. Betriebsgelände“ sei für ein Pflegeheim nicht anwendbar, der „Ort der Tätigkeit“ sei insoweit nicht das Grundstück des Pflegeheims, sondern vielmehr die Pflegestation, auf der die Klägerin als Fachkraft in der Wohnbereichsleitung beschäftigt sei, zudem seien die Zugänge zum Grundstück der Beklagen offen und unkontrolliert, ein Werkstor gebe es nicht, so führt dies nicht zu einer anderen Bewertung. 64 (aa) Bei der Anknüpfung in der Rechtsprechung an ein „Werkstor“ bzw. eine „Außentür“ geht es allein um die Anknüpfung an ein umrissenes Grundstück mit „Zugang“ bzw. „Eingang“ iSv. „Grundstücksbeginn“ oder „Grundstückseintritt“. Aus der Rechtsprechung ergibt sich nicht, dass notwendigerweise ein Tor oder eine geschlossene und kontrollierte Pforte vorhanden sein müsste. Insoweit handelt es sich bei einem Werkstor bzw. einer Pforte nur um einen von mehreren denkbaren Anknüpfungspunkten. Im Übrigen hat die Klägerin selbst ein Durchschreiten einer „Toreinfahrt“ auf dem Gelände behauptet, hierauf hat sich das Landesarbeitsgericht erkennbar bezogen. 65 (bb) Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin ist der „Ort der Tätigkeit“ für die Klägerin – nicht anders als bei einem Betrieb mit „Werkstor“ – das gesamte Grundstück, auf dem das Seniorenpflegeheim sich befindet und nicht nur die „Pflegestation“. Aus dem Vorbringen der Klägerin ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass vorliegend wegen besonderer, spezifischer Umstände das Grundstück nicht zum Betrieb gehören würde. Insbesondere kommt es dabei nicht darauf an, inwieweit und wie oft die zu pflegenden Personen selbst sich im Freien auf dem Grundstück aufhalten. 66 (cc) Soweit die Klägerin in der Revision behauptet, weder Besuchern noch Mitarbeitern sei die Grundstücksgrenze ersichtlich, kann dies als neuer Sachvortrag in der Revision nach § 559 ZPO keine Berücksichtigung finden. Im Übrigen ist dieser Vortrag auch nicht geeignet, eine andere Beurteilung zu rechtfertigen. Zum einen ist schon fraglich, ob das Wissen um die konkrete Grenzziehung erforderlich ist. Zum anderen hat sich der Unfall in der Nähe des Nebeneingangs ereignet, also – auch ohne Kenntnis der konkreten Grundstücksgrenze zwischen Parkplatz und Pflegeheim – erkennbar auf dem Betriebsgelände des Seniorenpflegeheims. 67 III. Da die Haftung der Beklagten nach § 104 Abs. 1 SGB VII auch für Ansprüche von Angehörigen ausgeschlossen ist und der Ehemann der Klägerin deren Angehöriger iSv. § 104 Abs. 1 SGB VII ist, hat die Klägerin gegen die Beklagte auch aus abgetretenem Recht keinen Anspruch auf Schadensersatz. Davon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend – ersichtlich implizit – ausgegangen.              Schlewing                  Winter                   Vogelsang                                    Volz                  C. Gothe
bundesarbeitsgericht
bag_40-18
23.08.2018
23.08.2018 40/18 - Offene Videoüberwachung - Verwertungsverbot Die Speicherung von Bildsequenzen aus einer rechtmäßigen offenen Videoüberwachung, die vorsätzliche Handlungen eines Arbeitnehmers zulasten des Eigentums des Arbeitgebers zeigen, wird nicht durch bloßen Zeitablauf unverhältnismäßig, solange die Ahndung der Pflichtverletzung durch den Arbeitgeber arbeitsrechtlich möglich ist. Die Klägerin war in einem vormals von dem Beklagten betriebenen Tabak- und Zeitschriftenhandel mit angeschlossener Lottoannahmestelle tätig. Dort hatte der Beklagte eine offene Videoüberwachung installiert. Mit den Aufzeichnungen wollte er sein Eigentum vor Straftaten sowohl von Kunden als auch von eigenen Arbeitnehmern schützen. Nach dem Vortrag des Beklagten wurde im 3. Quartal 2016 ein Fehlbestand bei Tabakwaren festgestellt. Bei einer im August 2016 vorgenommenen Auswertung der Videoaufzeichnungen habe sich gezeigt, dass die Klägerin an zwei Tagen im Februar 2016 vereinnahmte Gelder nicht in die Registrierkasse gelegt habe. Der Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos. Die Vorinstanzen haben der dagegen gerichteten Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, die Erkenntnisse aus den Videoaufzeichnungen unterlägen einem Verwertungsverbot. Der Beklagte hätte die Bildsequenzen unverzüglich, jedenfalls deutlich vor dem 1. August 2016 löschen müssen. Auf die Revision des Beklagten hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts das Berufungsurteil hinsichtlich des Kündigungsschutzantrags aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Sollte es sich – was der Senat nach den bisherigen Feststellungen nicht beurteilen kann – um eine rechtmäßige offene Videoüberwachung gehandelt haben, wäre die Verarbeitung und Nutzung der einschlägigen Bildsequenzen nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF* zulässig gewesen und hätte dementsprechend nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin verletzt. Der Beklagte musste das Bildmaterial nicht sofort auswerten. Er durfte hiermit solange warten, bis er dafür einen berechtigten Anlass sah. Sollte die Videoüberwachung rechtmäßig erfolgt sein, stünden auch die Vorschriften der seit dem 25. Mai 2018 geltenden Datenschutz-Grundverordnung einer gerichtlichen Verwertung der erhobenen personenbezogenen Daten der Klägerin im weiteren Verfahren nicht entgegen. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 20. Dezember 2017 – 2 Sa 192/17 – *§ 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG in der bis zum 25. Mai 2018 geltenden Fassung (aF) lautet: Personenbezogene Daten eines Beschäftigten dürfen für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder nach Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses für dessen Durchführung oder Beendigung erforderlich ist.
Tenor 1. Auf die Revision des Beklagten wird – unter Verwerfung der Revision als unzulässig im Übrigen – das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 20. Dezember 2017 – 2 Sa 192/17 – aufgehoben, soweit es dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben und den widerklagend verfolgten Antrag abgewiesen hat, die Klägerin zu verurteilen, an den Beklagten 44,75 Euro nebst Zinsen als Ersatz von durch Unterschlagungen verursachten Schäden zu zahlen. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Leitsatz Die Speicherung von Bildsequenzen aus einer zulässigen offenen Videoüberwachung, die vorsätzliche Handlungen eines Arbeitnehmers zulasten des Eigentums des Arbeitgebers zeigen, wird nicht durch bloßen Zeitablauf unverhältnismäßig, solange die Rechtsverfolgung durch den Arbeitgeber materiell-rechtlich möglich ist. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung sowie um Schadensersatzansprüche. 2 Die Klägerin war seit 2006 in einem vormals von dem Beklagten betriebenen Tabak- und Zeitschriftenhandel mit angeschlossener Lottoannahmestelle beschäftigt. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 13. August 2016 fristlos „wegen der begangenen Straftaten“. 3 Dagegen hat sich die Klägerin rechtzeitig mit der vorliegenden Klage gewandt. Sie habe kein Geld für sich vereinnahmt, sondern Warenverkäufe stets in die Registrierkasse eingebucht und das vom Kunden überreichte Geld jeweils in „die Kasse“ gelegt. Eine Verdachtskündigung scheide auch deshalb aus, weil sie zu den Vorwürfen nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. 4 Die Klägerin hat zuletzt beantragt          festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 13. August 2016 aufgelöst worden ist. 5 Der Beklagte hat Klageabweisung sowie im Wege der Widerklage beantragt,          die Klägerin zu verurteilen, an ihn 475,31 Euro nebst Zinsen zu zahlen. 6 Die Kündigung sei als Tat-, jedenfalls aber als Verdachtskündigung gerechtfertigt. Bei einer stichprobenartigen Ermittlung der Warenaufschläge im dritten Quartal 2016 sei ein Schwund an Tabakprodukten festgestellt worden. Ab dem 1. August 2016 seien für zwei Arbeitstage der Klägerin die Aufzeichnungen der in der Filiale installierten Videokamera ausgewertet worden. Die Videoüberwachung sei offen erfolgt und habe dem Schutz seines Eigentums vor Straftaten sowohl durch Dritte als auch durch eigene Arbeitnehmer gedient. Bei der Auswertung habe sich gezeigt, dass die Klägerin am 3. Februar 2016 in drei Fällen Verkäufe von Tabakwaren nicht registriert und das vereinnahmte Geld nicht in die Registrier-, sondern in die Lottokasse gelegt habe. An diesem Tag sei sie um 13:05 Uhr mit der Lottokasse ins Büro gegangen und sofort wieder zurückgekommen, habe die Kasse jedoch in der anderen Hand gehalten. Am 4. Februar 2016 habe die Klägerin gegen 10:05 Uhr wiederum den Verkauf einer Schachtel Zigaretten nicht registriert und den vereinnahmten Betrag in die Lottokasse gelegt. Um 12:20 Uhr habe sie eine Tabakdose im Wert von 18,50 Euro verkauft, aber nur 1,00 Euro in die Sortimentkasse gelegt und den Restbetrag „für eigene Zwecke vereinnahmt“. Überdies habe sie es nach dem Verkauf einer Schachtel Zigaretten unterlassen, den Zahlungsbetrag in die Sortimentkasse einzugeben. Um 13:03 Uhr habe sie den Verkaufsraum für zwei Minuten mit der Lottokasse verlassen. Die Klägerin sei ordnungsgemäß angehört worden. Sie sei vor Übergabe des Kündigungsschreibens von zwei Mitarbeiterinnen zu den Vorgängen am 3. und 4. Februar 2016 befragt worden, habe aber lediglich erklärt, „nichts gemacht“ zu haben. Die Klägerin müsse die Kosten für die Auswertung der Videoaufzeichnungen iHv. 430,56 Euro und die durch die Unterschlagungen verursachten Schäden iHv. 44,75 Euro ersetzen. 7 Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte seine Anträge weiter. Entscheidungsgründe 8 Die Revision ist unzulässig, soweit der Beklagte von der Klägerin widerklagend die Erstattung der Kosten verlangt, die durch die Auswertung der Videoaufzeichnungen angefallen seien. Im Übrigen ist die Revision zulässig und begründet. 9 A. Die Revision ist in Bezug auf den Ersatz der für die Analyse des Bildmaterials aufgewendeten Kosten unzulässig. Es fehlt insofern an einer den Anforderungen aus § 551 Abs. 3 ZPO genügenden Revisionsbegründung. Das Landesarbeitsgericht hat die Abweisung dieses Widerklageantrags ua. darauf gestützt, vor der Auswertung der Videoaufzeichnungen habe kein auf Tatsachen beruhender konkreter Verdacht gegen die Klägerin bestanden. Mit dieser selbstständig tragenden Begründung setzt die Revision sich nicht auseinander (zu dieser Anforderung BAG 6. Juli 2016 – 4 AZR 966/13 – Rn. 16). 10 B. Hinsichtlich des Kündigungsschutz- und des Widerklageantrags im verbleibenden Umfang ist die Revision zulässig und begründet. Sie führt insoweit zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO). 11 I. Das Landesarbeitsgericht durfte mit der gegebenen Begründung weder dem Kündigungsschutzantrag stattgeben noch den widerklagend erhobenen Antrag auf Ersatz der vermeintlich durch Unterschlagungen verursachten Schäden abweisen. 12 1. Das Berufungsgericht hat gemeint, der Beklagte könne sich zur Rechtfertigung der Kündigung und des Schadensersatzverlangens nicht mit Erfolg auf die Auswertung der Videoaufnahmen vom 3. und 4. Februar 2016 berufen. Es könne unterstellt werden, dass eine offene Videoüberwachung „auch des Arbeitsplatzes der Klägerin“ nach § 6b Abs. 1 BDSG in der bis einschließlich zum 24. Mai 2018 geltenden Fassung (im Folgenden BDSG aF) rechtmäßig gewesen sei. Gleichwohl habe der Beklagte keinen zulässigen Beweis für die Richtigkeit „der von der Klägerin bestrittenen Behauptungen“ angetreten. Ein Beweisverwertungsverbot folge jedenfalls daraus, dass er „die Videoaufnahmen“ für die betreffenden Tage erst knapp sechs Monate später und damit zu einem Zeitpunkt ausgewertet habe, zu dem er sie gemäß § 6b Abs. 5 BDSG aF längst hätte gelöscht haben müssen. In dem monatelangen Unterbleiben der Löschung liege eine besonders schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin. 13 2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landesarbeitsgericht hat die Grundsätze, die für das Eingreifen eines Verbots der Verwertung von Sachvortrag und Beweismitteln gelten, mehrfach falsch angewendet. 14 a) Weder die Zivilprozessordnung noch das Arbeitsgerichtsgesetz enthalten Bestimmungen, die die Verwertbarkeit von Erkenntnissen oder Beweismitteln einschränken, die eine Arbeitsvertragspartei rechtswidrig erlangt hat. Ein Verwertungsverbot kann sich zwar aus einer verfassungskonformen Auslegung des Verfahrensrechts ergeben. Da der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich gebietet, den Sachvortrag der Parteien und die von ihnen angebotenen Beweise zu berücksichtigen, kommt ein „verfassungsrechtliches Verwertungsverbot“ (Ehmann Anm. AP BGB § 611 Persönlichkeitsrecht Nr. 40) jedoch nur in Betracht, wenn dies wegen einer grundrechtlich geschützten Position einer Prozesspartei zwingend geboten ist (ausführlich BAG 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 20 ff., BAGE 156, 370). Das setzt in aller Regel voraus, dass bereits durch die Informations- oder Beweisbeschaffung das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Partei verletzt worden ist, ohne dass dies durch überwiegende Belange der anderen Partei gerechtfertigt gewesen wäre. Überdies müssen die betroffenen Schutzzwecke des bei der Gewinnung verletzten Grundrechts der Verwertung der Erkenntnis oder des Beweismittels im Rechtsstreit entgegenstehen (vgl. BAG 15. August 2002 – 2 AZR 214/01 – zu II 3 b aa der Gründe, BAGE 102, 190; Musielak/Voit/Foerste ZPO 15. Aufl. § 286 Rn. 6). Die prozessuale Verwertung muss selbst einen Grundrechtsverstoß darstellen (Hk-ZPO/Saenger 7. Aufl. § 286 Rn. 20). Das ist der Fall, wenn das nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebundene Gericht ohne Rechtfertigung in eine verfassungsrechtlich geschützte Position einer Prozesspartei eingriffe, indem es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch einen Privaten perpetuierte oder vertiefte. Insofern kommt die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat zum Tragen. Auf eine nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts durch einen Privaten darf kein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch ein Staatsorgan „aufgesattelt“ werden (vgl. BVerfG 31. Juli 2001 – 1 BvR 304/01 – zu II 1 b bb der Gründe; BAG 23. April 2009 – 6 AZR 189/08 – Rn. 26, BAGE 130, 347). Nicht abschließend geklärt ist, ob die Gerichte jenseits der sie treffenden Pflicht, ungerechtfertigte Grundrechtseingriffe zu unterlassen, wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten sein können, einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Private aktiv zu begegnen und Sachvortrag oder Beweisantritte einer Partei aus Gründen der Generalprävention außer Acht zu lassen. Dafür wäre jedenfalls Voraussetzung, dass die verletzte Schutznorm in den betreffenden Fällen ohne ein prozessuales Verwertungsverbot leerliefe (Musielak/Voit/Foerste aaO; Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 43; zurückhaltend auch BGH 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 – Rn. 52). 15 b) Obwohl die Vorschriften des BDSG aF nicht die Zulässigkeit von Parteivorbringen und seine Verwertung im Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen begrenzen, und obgleich es für das Eingreifen eines Verwertungsverbots darauf ankommt, ob bei der Erkenntnis- oder Beweisgewinnung das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt worden ist, sind die einfachrechtlichen Vorgaben insofern nicht ohne Bedeutung. Die Bestimmungen des BDSG aF über die Anforderungen an eine zulässige Datenverarbeitung konkretisieren und aktualisieren für den Einzelnen den Schutz seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und am eigenen Bild (§ 1 Abs. 1 BDSG aF). Sie regeln, in welchem Umfang im Anwendungsbereich des Gesetzes Eingriffe durch öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen im Sinne des § 1 Abs. 2 BDSG aF in diese Rechtspositionen erlaubt sind. War die betreffende Maßnahme nach den Vorschriften des BDSG aF zulässig, liegt insoweit keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und am eigenen Bild vor (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 17, BAGE 159, 380; 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16 – Rn. 22, BAGE 159, 278). Ein Verwertungsverbot scheidet von vornherein aus. So liegt es namentlich, wenn die umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen und Grundrechtspositionen im Rahmen der Generalklauseln des § 32 Abs. 1 BDSG aF zugunsten des Arbeitgebers ausfällt. Nur dann, wenn die fragliche Maßnahme nach den Bestimmungen des BDSG aF nicht erlaubt war, muss gesondert geprüft werden, ob die Verwertung von im Zuge dieser Maßnahme gewonnenen Erkenntnissen oder Beweismitteln durch das Gericht einen Grundrechtsverstoß darstellen würde. Daran kann es zum einen fehlen, wenn die Unzulässigkeit der vom Arbeitgeber durchgeführten Maßnahme allein aus der (Grund-)Rechtswidrigkeit der Datenerhebung(en) gegenüber anderen Beschäftigten resultiert oder die verletzte einfachrechtliche Norm keinen eigenen „Grundrechtsgehalt“ hat (vgl. BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 32 f., BAGE 157, 69). Zum anderen kann es sein, dass die gerichtliche Verwertung weder einen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff darstellte noch aufgrund einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht zu unterlassen ist, weil durch sie die ungerechtfertigte „vorprozessuale“ Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer Prozesspartei nicht perpetuiert oder vertieft würde und der Verwertung auch Gründe der Generalprävention nicht entgegenstehen (näher Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 58 ff.). 16 c) Der Senat unterscheidet zwischen Sachvortrags- und Beweisverwertungsverboten. Ein Sachvortragsverwertungsverbot spielt keine Rolle, wenn der Arbeitnehmer den betreffenden Vortrag des Arbeitgebers ausreichend bestreitet. Dann greift die Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO schon einfachrechtlich nicht ein. Sie muss nicht erst in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift „ausgeschaltet“ werden. Sieht der Arbeitnehmer hingegen von einem – ggf. wahrheitswidrigen – Bestreiten ab, bewirkt ein Sachvortragsverwertungsverbot, dass das inkriminierte Vorbringen des Arbeitgebers gleichwohl als bestritten zu behandeln ist. Damit wird der Streit auf die Beweisebene gehoben. Dort greift zulasten des Arbeitgebers ggf. ein korrespondierendes Beweisverwertungsverbot mit der Folge, dass er für seinen – als streitig anzusehenden – Vortrag beweisfällig bleibt. Insofern bedeutet ein Verbot der „Verwertung“, dass das Gericht den fraglichen Vortrag seiner Entscheidung weder als unstreitig (Sachvortragsverwertungsverbot) noch als aufgrund des inkriminierten Beweismittels bewiesen (Beweisverwertungsverbot) zugrunde legen darf (ausführlich Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 43 ff.). 17 d) Das Gericht muss – nur – dann von Amts wegen prüfen, ob ein Verwertungsverbot eingreift, wenn entsprechende Anhaltspunkte dazu Anlass geben und die betreffende Partei nicht wirksam darauf verzichtet hat, die – etwaige – Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts geltend zu machen (BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 20, BAGE 157, 69; 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 25, BAGE 156, 370). Es trifft nicht zu, dass der Arbeitgeber Tatsachen lediglich unter Angabe der genauen Beschaffungsmodalitäten in den Rechtsstreit einbringen kann (so Dzida/Grau NZA 2010, 1201, 1205; Lunk NZA 2009, 457, 458). Vielmehr ist es der von einer möglicherweise grundrechtswidrigen Erkenntnis- oder Beweismittelgewinnung betroffene Arbeitnehmer, der relevante Umstände aufzeigen muss, wenn sich nicht schon aus dem Vorbringen des Arbeitgebers (einschließlich der Beweisantritte) oder sonst wie „Verwertbarkeitszweifel“ ergeben. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass ein Verwertungsverbot eingreifen könnte, gelten die allgemeinen Grundsätze einer Prüfung von Amts wegen. Es erfolgt keine Amtsermittlung. Vielmehr bleibt es beim Beibringungsgrundsatz. Das Gericht wird begründeten Zweifeln durch Hinweise und Auflagen an die Parteien nachgehen und ggf. Beweis zu den tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Verwertungsverbots erheben. So wird es regelmäßig Grund zu der Nachfrage haben, aus welchem Anlass und auf welche Weise eine Videoaufzeichnung zustande gekommen ist, deren Inaugenscheinnahme als (einziger) Beweis angeboten wird (ausführlich Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 63 ff.). 18 e) Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht geprüft, ob zugunsten der Klägerin ein Verwertungsverbot eingreift. Entsprechende Anhaltspunkte bot schon der Vortrag des Beklagten. Dieser hat sich zur Rechtfertigung der Kündigung und seines Schadensersatzverlangens auf die Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 gestützt. Die Klägerin hat auch nicht auf die Geltendmachung möglicher Persönlichkeitsrechtsverletzungen verzichtet, sondern sich, ohne dass dies erforderlich gewesen wäre, ausdrücklich auf ein „Beweisverwertungsverbot“ berufen. 19 f) Die vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen tragen allerdings nicht seine Annahme, es sei ausschließlich das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots zu beurteilen. Der angefochtenen Entscheidung lässt sich nicht entnehmen, welche Behauptungen des Beklagten das Berufungsgericht mit der Folge als von der Klägerin ausreichend bestritten angesehen hat, dass nicht zunächst das Eingreifen eines Sachvortragsverwertungsverbots zu prüfen gewesen wäre. 20 g) Dessen ungeachtet hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerhaft angenommen, es bestehe irgendein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer – so seine Unterstellung – offenen, auch im Verhältnis zur Klägerin zulässigen Videoüberwachung, die vorsätzliche Verletzungen des Eigentums des Beklagten belegen (sollen). Es hat verkannt, dass § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF eine eigenständige Erlaubnisnorm für die Verarbeitung und Nutzung von Daten im Beschäftigungsverhältnis darstellt. Danach waren die Verarbeitung und die Nutzung der vom Beklagten in das Verfahren eingeführten Aufzeichnungsteile rechtmäßig und verletzten dementsprechend nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin. Jedenfalls stellte die gerichtliche Verwertung dieser Sequenzen keinen Grundrechtsverstoß dar. Ein Verwertungsverbot ist auch nicht deshalb anzunehmen, weil sich die vom Beklagten als relevant angesehenen Aufzeichnungsteile in einer Beweisaufnahme als „irrelevant“ herausstellen könnten. 21 aa) Die Verarbeitung und Nutzung der – unterstellt rechtmäßig aufgezeichneten – relevanten Bildsequenzen war zulässig. Es kann dahinstehen, ob das Landesarbeitsgericht § 6b Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 BDSG aF zutreffend angewendet hat. Jedenfalls waren die Speicherung der betreffenden Passagen bis zum 1. August 2016 sowie deren anschließende Auswertung nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF erlaubt. 22 (1) Sofern zulässig erhobene Daten den Verdacht einer Pflichtverletzung begründen, dürfen sie für die Zwecke und unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF auch verarbeitet und genutzt werden. Der Arbeitgeber darf deshalb grundsätzlich alle Daten speichern und verwenden, die er benötigt, um die ihm obliegende Darlegungs- und Beweislast in einem potenziellen Rechtsstreit um die Wirksamkeit einer Kündigung und/oder das Bestehen von Schadensersatzansprüchen zu erfüllen (vgl. BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 28, BAGE 159, 380; 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16 – Rn. 26, BAGE 159, 278). 23 (2) Dabei spielt es keine Rolle, ob die rechtmäßige Erhebung der Daten (nur) auf § 32 Abs. 1 BDSG aF oder (zugleich) auf § 6b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BDSG aF beruhte. § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF stellt für die Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten eines Beschäftigten, die der Arbeitgeber durch eine Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume erlangt hat, eine eigenständige, von den Voraussetzungen des § 6b Abs. 3 BDSG aF unabhängige Erlaubnisnorm dar. Ist danach eine bestimmte Datenverarbeitung oder -nutzung rechtmäßig, kommt es im Verhältnis zu den betroffenen Arbeitnehmern nicht darauf an, ob die Anforderungen gemäß § 6b Abs. 3 BDSG aF erfüllt sind. Die für die Überwachung im öffentlichen Raum geltende Bestimmung schließt eine eigenständige Rechtfertigung der Datenverarbeitung nach § 32 BDSG aF nicht aus. Diese Vorschrift dient speziell dem Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz (BT-Drs. 16/13657 S. 20 f.). Dagegen soll § 6b BDSG aF – unabhängig von den aufgrund der engeren schuldrechtlichen Bindungen im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses bestehenden Interessen – den Schutz der Allgemeinheit vor einem Ausufern der Videoüberwachung im öffentlichen Raum gewährleisten (zum Ziel einer restriktiveren Verwendungspraxis Bericht und Beschluss-empfehlung des Innenausschusses, BT-Drs. 14/5793 S. 61). Für die Eigenständigkeit der Erlaubnistatbestände des § 32 BDSG aF spricht auch, dass die Videoüberwachung nicht öffentlich zugänglicher (Arbeits-)Räume im BDSG aF nicht gesondert geregelt ist. Ihre Zulässigkeit richtet sich daher, soweit Arbeitnehmer betroffen sind, unzweifelhaft allein nach § 32 BDSG aF. Es erschiene aber wenig plausibel, wenn bezogen auf den Beschäftigtendatenschutz von Arbeitnehmern, die in öffentlich zugänglichen Räumen arbeiten, andere Maßstäbe gelten sollten als für Arbeitnehmer, die dies nicht tun (so bereits BAG 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 43, BAGE 156, 370). 24 (3) Die Verarbeitung und Nutzung von rechtmäßig erhobenen personenbezogenen Daten nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF muss „erforderlich“ sein. Es hat eine „volle“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen (vgl. BAG 17. November 2016 – 2 AZR 730/15 – Rn. 30). Die Verarbeitung und die Nutzung der personenbezogenen Daten müssen geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht. Die Datenverarbeitung und -nutzung darf keine übermäßige Belastung für die Betroffenen darstellen und muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 30, BAGE 159, 380). Dies beurteilt sich ggf. für jedes personenbezogene Datum gesondert. 25 (4) Der vom Senat bei der Anwendung von § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF herangezogene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt dem durch die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr sowie Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (dazu EuGH 11. Dezember 2014 – C-212/13 – [Ryneš] Rn. 28) und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (dazu EuGH 9. November 2010 – C-92/09 und C-93/09 – [Volker und Markus Schecke] Rn. 52; BAG 19. Februar 2015 – 8 AZR 1007/13 – Rn. 20 f.) garantierten Schutzniveau für die von einer Datenerhebung Betroffenen (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 32, BAGE 159, 380; EGMR 5. Oktober 2010 – 420/07 – [Köpke/Deutschland]). 26 (5) Das Landesarbeitsgericht hat die Verhältnismäßigkeit der Speicherung undifferenziert für das gesamte am 3. und 4. Februar 2016 aufgezeichnete Bildmaterial („die Videoaufnahmen“) geprüft. Es hat verkannt, dass vorliegend ausschließlich die Verarbeitung der relevanten Sequenzen zu beurteilen ist und nicht diejenige der Passagen, die nicht in den Rechtsstreit eingeführt werden sollen. 27 (a) Die Speicherung von Bildsequenzen, die geeignet sind, den mit einer rechtmäßigen Videoaufzeichnung verfolgten Zweck zu fördern, bleibt, weil es sich oft um die einzigen, regelmäßig aber um die „zuverlässigsten“ Erkenntnis- und Beweismittel handelt, grundsätzlich erforderlich, bis der Zweck entweder erreicht oder aufgegeben oder nicht mehr erreichbar ist. Die Eignung beurteilt sich objektiv. Sie besteht oder besteht nicht – unabhängig davon, ob der Arbeitgeber sie erkannt hat. Eine etwaige Pflicht, das gesamte Bildmaterial zeitnah zu sichten, diente allein dazu, die – eindeutig – nicht zweckrelevanten Passagen zu identifizieren und zu löschen. Ihre Missachtung ließe den Bedarf an den zweckrelevanten Passagen nicht entfallen. Diese dürften auch nach einer „Bedarfsklärung“ – zumindest vorerst – gespeichert bleiben (zu § 6b BDSG aF vgl. BT-Drs. 14/5793 S. 63). 28 (b) Das Landesarbeitsgericht hat keine Tatsachen festgestellt, die den Schluss zuließen, dem Beklagten sei es mit der Speicherung der Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 nicht – mehr – darum gegangen, seine Rechte gegenüber der Klägerin aufgrund möglicher Eigentumsverletzungen durchzusetzen. Es hat im Gegenteil selbst gemeint, er habe das Bildmaterial zu eben diesem Zweck bis in den August 2016 vorgehalten. Der Zweck war auch nach wie vor erreichbar. Etwaige Kündigungsrechte waren noch nicht verwirkt und mögliche Schadensersatzansprüche weder verjährt noch – soweit ersichtlich – verfallen. Damit blieb die Speicherung der relevanten Sequenzen erforderlich. 29 (c) Eine noch erforderliche Speicherung von Aufzeichnungsteilen, die vorsätzliche Handlungen gegen das Eigentum des Arbeitgebers belegen (sollen), ist nur ganz ausnahmsweise unangemessen (nicht verhältnismäßig im engeren Sinne). 30 (aa) Der rechtmäßig gefilmte Vorsatztäter ist in Bezug auf die Aufdeckung und Verfolgung seiner materiell-rechtlich noch verfolgbaren Tat nicht schutzwürdig. Er wird dies auch nicht durch bloßen Zeitablauf. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich vor dem Eintritt von Verfall, Verjährung oder Verwirkung der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen (vgl. BGH 24. November 1981 – VI ZR 164/79 – zu II 1 b der Gründe). Zugleich verliert das in Bezug auf vorsätzliche Schädigungshandlungen beträchtliche, durch Art. 12 und Art. 14 GG geschützte Verarbeitungs- und Nutzungsinteresse des Arbeitgebers nicht an Gewicht, solange die Rechtsverfolgung materiell-rechtlich nicht ausgeschlossen ist. Überdies ist zu beachten, dass gedeihliche Arbeitsvertragsbeziehungen von beiderseitigem Vertrauen getragen sein müssen (EGMR [Große Kammer] 5. September 2017 – 61496/08 – [Bărbulescu/Rumänien] Rn. 121 aE). Dem widerspräche es, wenn der Arbeitgeber gezwungen wäre, die Aufzeichnungen aus einer offenen, vorrangig zu präventiven (Verhinderung von Pflichtverletzungen) und nur bei Verfehlung dieses Primärziels zu repressiven Zwecken (Aufklärung und Verfolgung von Pflichtverletzungen) eingesetzten Videoüberwachung laufend vollumfänglich einzusehen, um relevante Sequenzen weiterverarbeiten zu dürfen. Das hielte ihn zu ständigem Misstrauen an. Zugleich würde durch einen faktischen Zwang zu zeitnaher Aufdeckung und „Sanktionierung“ von Pflichtverletzungen der Arbeitnehmerschutz durch die Vorgaben des Datenschutzrechts in sein Gegenteil verkehrt. Die Speicherung – nach wie vor – erforderlicher Sequenzen kann deshalb nur unangemessen sein, wenn das Verhalten des Arbeitgebers objektiv den Schluss zulässt, er wolle diese Passagen nicht allein zur Rechtsverfolgung verwenden. Es muss die greifbare Gefahr eines Missbrauchs personenbezogener Daten bestehen. 31 (bb) So kann es zwar – was hier einzig in Betracht kommt – auch liegen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, der Arbeitgeber wolle sich mögliche Kündigungsgründe oder zum Schadensersatz verpflichtende Sachverhalte „aufsparen“, um dadurch den Arbeitnehmer unter Druck zu setzen (zu § 626 Abs. 2 BGB BAG 25. Februar 1983 – 2 AZR 298/81 – zu II 2 b der Gründe). Doch hat das Landesarbeitsgericht keine Tatsachen festgestellt, die eine solche Absicht des Beklagten belegen könnten. Hierfür genügt es nicht, dass er mit der Auswertung der Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 gewartet hat, bis er dazu nach einer stichprobenartigen Überprüfung der Warenaufschläge im dritten Quartal 2016 einen Anlass sah. Das gilt umso mehr, als er nach der Feststellung eines Schwunds an Tabakprodukten „ohne Umschweife“ mit der Analyse des Bildmaterials begonnen und anschließend unverzüglich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin betrieben hat. 32 (cc) Solange sich die Speicherung der relevanten Sequenzen im Verhältnis zu dem betreffenden Arbeitnehmer nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF als gerechtfertigt darstellt, müssen grundsätzlich auch miterfasste Dritte (zB Kunden) die weitere Verarbeitung und mögliche Nutzung dieses Videomaterials dulden. Anders könnte es nur liegen, wenn auf diese bezogen von einer greifbaren Missbrauchsgefahr auszugehen wäre. Dafür ist vorliegend gleichfalls nichts ersichtlich. Deshalb bedarf keiner Entscheidung, ob miterfasste Personen ggf. die Löschung der betreffenden Aufzeichnungsteile oder ob sie lediglich verlangen könnten, dass sie darin – etwa durch „Verpixelung“ – unkenntlich gemacht werden. 33 (d) Für den vorliegenden Rechtsstreit ist ebenso ohne Belang, ob die Verarbeitung und Nutzung der nicht relevanten Videosequenzen den Vorgaben des BDSG aF entsprach. Deren Verwertung steht hier nicht in Rede. Allerdings kann der Arbeitgeber – wie der Streitfall illustriert – mit Blick auf mögliche „heimliche“ Verletzungen seines Eigentums durch eigene Beschäftigte nicht darauf verwiesen werden, die gesamten Aufzeichnungen nach kurzer Zeit unbesehen überschreiben zu lassen. Würden die Speicherintervalle so kurz bemessen, dass die Aufzeichnungen bei Bekanntwerden von Vorfällen üblicherweise schon gelöscht sind, wäre die Maßnahme insoweit praktisch wirkungslos und damit jedenfalls unverhältnismäßig. Dementsprechend könnten wochen- oder sogar monatelange Speicherintervalle nicht zu beanstanden sein, wenn Straftaten oder erhebliche Pflichtverletzungen erst bei aufwendigen Überprüfungen oder Abrechnungsmaßnahmen entdeckt werden können (vgl. Grages/Plath CR 2017, 791, 796 mwN). Insofern besteht ein erheblicher Unterschied zu Videoüberwachungen, die – allein – darauf abzielen, als solche bereits festgestellte Taten Dritter (zB Diebstähle, Raubüberfälle oder Sachbeschädigungen) „lediglich“ aufzuklären und zu verfolgen (dazu Scholz in Simitis BDSG 8. Aufl. § 6b Rn. 144). Da eine zeitnahe, unbesehene Löschung des Bildmaterials nicht in Betracht kommt, stellt sich die Frage, wodurch stärker in die Persönlichkeitsrechte der Gefilmten (Beschäftigte und Kunden) eingegriffen wird: durch eine vollumfängliche Auswertung der Videoaufzeichnungen ohne konkreten Anlass mit anschließender Löschung der irrelevanten Sequenzen oder durch eine rein anlassbezogene Auswertung „ausgewählter“ Passagen bei längerer Speicherung des gesamten Bildmaterials? Das Erfordernis einer unverzüglichen anlasslosen Bedarfsklärung, die ihrerseits einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers darstellte, weil die Aufzeichnungen eingesehen würden, dürfte sich nur rechtfertigen lassen, wenn der erheblichen Gefahr einer Zweckentfremdung der gespeicherten Daten begegnet werden muss. Diese Gefahr könnte bei der Videoaufzeichnung des Kassenbereichs in einem privaten Ladenlokal – je nach ihrer Ausgestaltung – als geringer einzustufen sein als bei einer Überwachung öffentlich zugänglicher Räume durch öffentliche Stellen (zu § 6b BDSG aF vgl. BT-Drs. 14/5793 S. 62). Jedenfalls unzulässig dürfte es sein, das gesamte Bildmaterial zunächst über einen längeren Zeitraum vorzuhalten, um es sodann ohne konkreten Anlass in Augenschein zu nehmen. Unter diesen Umständen dürfte sich die – unvermeidliche – Einsichtnahme (auch) in die irrelevanten Aufzeichnungsteile als unverhältnismäßig darstellen. So ist der Beklagte im Streitfall indes nicht vorgegangen. 34 (6) Durften nach alledem zumindest die relevanten Aufzeichnungsteile bis in das dritte Quartal 2016 gespeichert bleiben, stellte sich ihre anlassbezogene Auswertung ab dem 1. August 2016 und ihre weitere Verwendung (Nutzung) als unproblematisch rechtmäßig dar. 35 bb) Das Landesarbeitsgericht hat des Weiteren verkannt, dass selbst dann, wenn die Videoaufzeichnungen vom 3. und 4. Februar 2016 schon vor ihrer Auswertung im August 2016 zu löschen gewesen wären, durch die Verwertung der relevanten Bildsequenzen im vorliegenden Rechtsstreit eine mögliche Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Klägerin nicht perpetuiert oder vertieft würde und auch Gründe der Generalprävention es nicht gebieten, von der Verwertung abzusehen. Das Interesse des Arbeitnehmers oder eines mitgefilmten Dritten daran, dass zur Verfolgung von vorsätzlich schädigendem Verhalten erforderliches Bildmaterial nicht länger gespeichert bleibt, kann – wie gezeigt – nur dadurch überwiegen, dass der in der Verdinglichung (BVerfG 31. Juli 2001 – 1 BvR 304/01 – zu II 1 b aa der Gründe) liegenden Gefahr einer Verbreitung der Aufzeichnungen zu anderen, die Aufzeichnung nicht rechtfertigenden Zwecken begegnet werden muss. Das Verbot der weiteren Speicherung und eine etwaige Löschpflicht dienen unter diesen Umständen einzig dazu, einem Missbrauch personenbezogener Daten vorzubeugen. Es soll nicht die Zweckerreichung verhindert, sondern allein eine Zweckentfremdung vereitelt werden. Dieses Gefahrenpotenzial ist nicht im Zivilprozess einzugrenzen oder (zusätzlich) zu sanktionieren (vgl. BGH 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 – Rn. 52). Es verwirklicht sich nicht, soweit die Sequenzen dazu verwendet werden, den „Tatbeweis“ in einem Rechtsstreit zu führen, ihre Inaugenscheinnahme also lediglich der Durchsetzung rechtlich geschützter Belange des Arbeitgebers dienen soll (vgl. EGMR 27. Mai 2014 – 10764/09 – [De la Flor Cabrera/Spanien]). Damit stellt die Verwertung keinen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff durch das Gericht dar. Aspekte der Generalprävention bedingen zumindest im Fall einer offenen Überwachung kein anderes Ergebnis. Einem rechtsstaatswidrigen planmäßigen Unterlaufen der Löschpflicht steht insofern entgegen, dass die Betroffenen ihre Löschansprüche geltend machen und sie ggf. gerichtlich durchsetzen können. Zudem können Verstöße gegen die datenschutzrechtlichen Bestimmungen gemäß § 43 Abs. 2 BDSG aF mit Geldbußen geahndet werden und sind vorsätzliche Handlungen gegen Entgelt oder in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht nach § 44 Abs. 1 BDSG aF mit Freiheitsstrafe bedroht (für den Einsatz sog. Dashcams im Straßenverkehr vgl. BGH 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 – Rn. 53). Jedenfalls dann, wenn es tatsächlich zu einer Zweckentfremdung von personenbezogenen Daten kommt, können den Betroffenen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche sowie, soweit es sich um Arbeitnehmer der verantwortlichen Stelle handelt, außerordentliche Kündigungsrechte zustehen (vgl. Kempter/Steinat NZA 2017, 1505, 1511). Damit sieht das nationale Recht ausreichende und angemessene Vorkehrungen gegen Missbrauch vor (vgl. EGMR [Große Kammer] 5. September 2017 – 61496/08 – [Bărbulescu/Rumänien] Rn. 120, 121). 36 cc) Ein Verbot, die fraglichen Videosequenzen in Augenschein zu nehmen, folgt schließlich nicht daraus, dass sie möglicherweise gar kein Verhalten der Klägerin zeigen, das eine vorsätzliche Verletzung des Eigentums des Beklagten darstellt oder doch auf eine solche hindeutet. Da Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich gebietet, einem erheblichen Beweisantritt nachzugehen, darf eine Beweiserhebung nicht auf die bloße Möglichkeit ihrer Grundrechtswidrigkeit hin unterbleiben (Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 61; für ein einfachrechtliches Verwertungsverbot vgl. BGH 10. Dezember 2002 – VI ZR 378/01 – zu II 2 b aa der Gründe, BGHZ 153, 165). Auch insofern bestehen ausreichende andere Schutzmechanismen. Ergibt die Inaugenscheinnahme „rein gar nichts“ im Sinne des Arbeitgebers, verliert er nicht nur den Prozess. Vielmehr kann darin, dass er – eindeutig – irrelevante Sequenzen weiterverarbeitet und auch noch entsprechenden Beweis im Rechtsstreit angetreten hat und erheben ließ, eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen, für die der Arbeitgeber gemäß § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG eine Geldentschädigung schuldet (zu einem solchen Anspruch BAG 15. September 2016 – 8 AZR 351/15 – Rn. 35; 19. Februar 2015 – 8 AZR 1007/13 – Rn. 14 f.). 37 II. Die angefochtene Entscheidung stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Die vom Beklagten behaupteten Unterschlagungen durch die Klägerin wären im Falle ihrer Erweislichkeit sowohl geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses iSv. § 626 BGB zu bilden, als auch einen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1 BGB zu begründen. Überdies könnte die Kündigung als Verdachtskündigung wirksam sein. 38 III. Für das fortgesetzte Berufungsverfahren sind folgende Hinweise veranlasst: 39 1. Das Landesarbeitsgericht wird dem Beklagten aufzugeben haben, eindeutig zu erklären, welche Handlungen der Klägerin am 4. Februar 2016 aufgezeichnet worden seien. Es ist unklar, ob sie das für den Verkauf einer Tabakdose vereinnahmte Geld – in voller Höhe – registriert hat, und ob der Beklagte behaupten will, sie habe 17,50 Euro „unter laufender Kamera“ eingesteckt. Zudem lässt sich seinem Vorbringen nicht eindeutig entnehmen, ob er der Klägerin auch vorwirft, das für den zweiten Verkauf einer Schachtel Zigaretten vereinnahmte – anschließend in eine und ggf. welche Kasse gelegte? – Geld unterschlagen zu haben. 40 2. Sodann wird die Klägerin eindeutig erklären müssen, welche von dem Beklagten behaupteten Verhaltensweisen sie (wie?) bestreitet. So ist fraglich, ob sie nicht nur alle Warenverkäufe korrekt registriert, sondern die vereinnahmten Gelder auch stets – vollständig – in die Registrierkasse (nicht: in die Lottokasse) gelegt haben will. Jedenfalls scheint die Klägerin die Behauptungen des Beklagten nicht in Abrede stellen zu wollen, sie sei an beiden fraglichen Tagen jeweils einmal – am 3. Februar 2016 „für Sekunden“, am 4. Februar 2016 für zwei Minuten – mit der Lottokasse aus dem Verkaufsraum in das nicht überwachte Büro gegangen. 41 3. Sollte die Klägerin behaupten, Warenverkäufe immer ordnungsgemäß registriert und die vereinnahmten Gelder stets vollständig in die Registrierkasse gelegt zu haben, könnte der Hinweis veranlasst sein, dass sie sich zu ihrer Entlastung mit der Inaugenscheinnahme der betreffenden Videosequenzen einverstanden erklären kann. Diese Möglichkeit drängte sich umso mehr auf, wenn die Klägerin auch bestreiten sollte, sich an den fraglichen Tagen mit der Lottokasse in das Büro zurückgezogen zu haben. 42 4. Falls die Klägerin nicht in die Verwertung der (vermeintlich) relevanten Sequenzen einwilligen sollte, wird das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage des klargestellten und ggf. ergänzten Vorbringens beider Parteien prüfen müssen, ob ein Sachvortrags- und/oder Beweisverwertungsverbot eingreift, das sich ggf. auf die mittelbare Verwertung der Videoaufzeichnungen durch die Vernehmung von Zeugen über den Inhalt des Bildmaterials erstreckte (vgl. BVerfG 31. Juli 2001 – 1 BvR 304/01 – zu II 1 b bb der Gründe; BAG 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15 – Rn. 19, BAGE 157, 69; 22. September 2016 – 2 AZR 848/15 – Rn. 24, BAGE 156, 370). 43 a) Nach dem – soweit ersichtlich unstreitigen – Vortrag des Beklagten ist die Überwachung des Kassenbereichs offen erfolgt, um sowohl Straftaten Dritter als auch solche von eigenen Arbeitnehmern zu verhindern oder doch aufdecken und verfolgen zu können. Danach dürfte ein Verwertungsverbot schon deshalb ausscheiden, weil auch die Datenerhebung mit den Bestimmungen des BDSG aF im Einklang stand. Die Videoaufzeichnung dürfte im Hinblick auf Straftaten durch Dritte (zB Diebstahl, Raub) nach § 6b Abs. 1 Nr. 3 BDSG aF und in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverletzungen durch eigene Beschäftigte – daneben – gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG aF zulässig gewesen sein. Bei der offenen, sich gegen alle Arbeitnehmer gleichermaßen richtenden Aufzeichnung des „Kassierverhaltens“ handelt es sich um eine zum Schutz des Eigentums des Arbeitgebers grundsätzlich erlaubte Maßnahme (vgl. EGMR 28. November 2017 – 70838/13 – [Antović und Mirković/Montenegro] Rn. 59), die sich schon aufgrund des Vorliegens einer abstrakten Gefahr als verhältnismäßig erweisen kann (BAG 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16 – Rn. 31, BAGE 159, 380). Da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass die vom Beklagten vorgenommenen Videoaufzeichnungen bei den betroffenen Arbeitnehmern zu einem ständigen Überwachungs- und daran anknüpfenden Anpassungs- und Leistungsdruck führen konnten (vgl. BAG 25. April 2017 – 1 ABR 46/15 – Rn. 30, BAGE 159, 49), sieht der Senat von Hinweisen dazu ab, ob in einem solchen Fall nach den berührten Schutzzwecken des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Bildsequenzen eingreifen kann, die vorsätzliche Handlungen zulasten des Arbeitgebers belegen (zweifelnd Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 60 f.). 44 b) Eine Unverhältnismäßigkeit der Datenerhebung iSv. § 32 Abs. 1 BDSG aF und ein Verwertungsverbot dürften nur in Betracht kommen, wenn die Videoüberwachung der Klägerin nicht bekannt und für sie auch nicht erkennbar war. Dass der Kassenbereich gefilmt wurde, dürfte sie unstreitig gewusst haben. In diesem Fall käme es nicht darauf an, ob ihr ausdrücklich eröffnet worden war, dass die Überwachung sich ua. gegen sie richtete und offenbar ihr genaues „Kassierverhalten“, insb. die Eingabe bestimmter Beträge in die Registrierkasse aufgezeichnet wurde. Selbst wenn dies nicht geschehen sein sollte, wäre die Erhebung ihrer diesbezüglichen personenbezogenen Daten nicht allein deshalb unverhältnismäßig gewesen. Zwar stellt eine „berechtigte Privatheitserwartung“ des Betroffenen einen beachtlichen Faktor im Rahmen der Interessenabwägung dar (EGMR 9. Januar 2018 – 1874/13, 8567/13 – [López Ribalda ua./Spanien] Rn. 57; [Große Kammer] 5. September 2017 – 61496/08 – [Bărbulescu/Rumänien] Rn. 119 – 122; vgl. auch Erwägungsgrund 47 zur Verordnung [EU] 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG [Datenschutz-Grundverordnung; DS-GVO]: „vernünftige Erwartungen“). Doch konnte von einer solchen keine Rede sein, wenn die Klägerin angesichts ihres Wissens um die Überwachung des Kassenbereichs zumindest damit rechnen musste, dass mithilfe der Videoaufzeichnungen auch vorsätzliche Handlungen von Beschäftigten zulasten des Eigentums des Beklagten verhindert sowie ggf. aufgedeckt und verfolgt werden konnten und sollten (vgl. Erwägungsgrund 47 DS-GVO). Die Klägerin wäre dann nicht heimlich „ausgespäht“ worden (zum Ausspähungsschutz als Komponente des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechts PWW/Prütting BGB 13. Aufl. § 12 Rn. 49). Anders hätte es allenfalls gelegen, wenn der Beklagte – wofür nichts ersichtlich ist – sie in Bezug auf die Erfassung ihres „Kassierverhaltens“ „in Sicherheit gewiegt“ hätte. 45 c) Der danach wahrscheinlichen Verwertung der relevanten Videosequenzen durch das Landesarbeitsgericht im fortgesetzten Berufungsverfahren und dem diesbezüglichen „Vorhalten“ des Bildmaterials durch den Beklagten stehen weder die DS-GVO noch das durch das Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die DS-GVO und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz EU – DSAnpUG-EU) vom 30. Juni 2017 geänderte BDSG (nF) entgegen. 46 aa) Nach Art. 88 DS-GVO iVm. § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG nF (der eigenständig neben § 4 Abs. 3 BDSG nF gilt) darf der Beklagte die relevanten Sequenzen weiterhin zur Durchführung des Verfahrens „aufbewahren“; er muss diese Passagen nach wie vor nicht löschen. Das Gleiche folgt aus Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DS-GVO. 47 bb) Es kann dahinstehen, ob (1.) die Zulässigkeit von Sachvortrag und Beweisantritten sowie von deren Verwertung durch die Gerichte für Arbeitssachen in den Anwendungsbereich der DS-GVO fällt (vgl. deren Art. 2, 9 Abs. 2 Buchst. f, Art. 55 Abs. 3 und Erwägungsgrund 20), ob ggf. (2.) die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, dass sie sich auch nach Inkrafttreten des BDSG nF allein nach dem Arbeitsgerichtsgesetz und der Zivilprozessordnung beantwortet, von der Öffnungsklausel in Art. 88 DS-GVO umfasst ist, ob und ggf. inwieweit (3.) im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine automatisierte oder dateimäßige Verarbeitung iSv. Art. 2 Abs. 1 DS-GVO erfolgt, und ob (4.) ein Verstoß gegen die Vorgaben der DS-GVO Anlass geben kann, das Eingreifen eines „sekundärrechtlichen Verwertungsverbots“ und die Möglichkeit seiner „Realisierung“ durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Prozessrechts zu prüfen (dazu Niemann JbArbR Bd. 55 S. 41, 66 f.). Jedenfalls stellten sowohl die „Aufrechterhaltung“ seines Sachvortrags und seiner Beweisantritte durch den Beklagten (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f DS-GVO) als auch deren Verwertung durch das Berufungsgericht (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e iVm. Abs. 3 DS-GVO iVm. § 3 BDSG nF) verhältnismäßige und damit rechtmäßige Datenverarbeitungen nach der DS-GVO und dem BDSG nF dar. 48 5. Falls das Landesarbeitsgericht „lediglich“ von dem dringenden Verdacht vorsätzlicher Verletzungen des Eigentums des Beklagten durch die Klägerin ausgehen sollte, käme es darauf an, ob diese vor Zugang der Kündigung ordnungsgemäß zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen angehört worden ist. Für die Ordnungsgemäßheit der Anhörung vor Ausspruch einer Verdachtskündigung ist entscheidend, ob der Arbeitnehmer in einlassungsfähiger Weise mit den ihm vorgeworfenen Verhaltensweisen konfrontiert wird und ausreichende Gelegenheit erhält, dazu Stellung zu nehmen. Hierfür müssen ihm nicht zwingend die Videosequenzen vorgespielt werden, die den gegen ihn gerichteten Verdacht begründen sollen. Auch spielt es keine Rolle, wenn der Arbeitgeber, ohne dass dies für den Arbeitnehmer erkennbar wäre, entschlossen ist, das Arbeitsverhältnis „in jedem Fall“, also unabhängig von der Einlassung des Arbeitnehmers im Rahmen der noch vorzunehmenden Anhörung zu kündigen. An einer ordnungsgemäßen Anhörung fehlt es allerdings, wenn dem Arbeitnehmer der – ob zutreffende oder unzutreffende – Eindruck vermittelt wird, er vermöge die Kündigung durch etwaige Erklärungen ohnehin nicht mehr abzuwenden. So könnte es hier liegen, wenn der Klägerin vor ihrer „Anhörung“ das vorbereitete Kündigungsschreiben gezeigt und ihr dessen Übergabe als sicher in Aussicht gestellt worden sein sollte. 49 6. Der Senat geht davon aus, dass die Kündigung – schon mangels einschlägiger Abmahnung – nicht auf den bloßen Vorwurf gestützt sein soll, die Klägerin habe Warenverkäufe nicht korrekt registriert und/oder vereinnahmtes Geld in die falsche Kasse gelegt (ohne Gelder für sich zu verwenden). Deshalb sieht er von Hinweisen dazu ab, ob die Videoüberwachung auch zur Vermeidung, Aufdeckung und Verfolgung fahrlässiger Pflichtverletzungen zulässig war und ob sich die Verarbeitung und Nutzung der für diesen Zweck relevanten Videosequenzen durch reinen Zeitablauf – über die Vorgaben des materiellen Rechts hinaus – als unangemessen darstellen und ggf. der Verstoß gegen eine daraus resultierende Löschpflicht ein Verwertungsverbot nach sich ziehen kann. 50 7. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, eine Umdeutung nach § 140 BGB der außerordentlichen in eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung scheide aus, weil eine solche sozial nicht gerechtfertigt wäre (§ 1 Abs. 2 KSchG), lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Das Kündigungsschutzgesetz findet Anwendung. Die Klägerin war länger als sechs Monate bei dem Beklagten tätig (§ 1 Abs. 1 KSchG). Dieser beschäftigte regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 KSchG). Er hat schon nicht behauptet, die Entscheidung, die Filiale in I zu schließen, sei bereits bei Zugang der Kündigung getroffen gewesen.              Koch                  Rachor                  Niemann                                    Söller                  Torsten Falke
bundesarbeitsgericht
bag_62-18
20.11.2018
20.11.2018 62/18 - Streikmobilisierung auf Firmenparkplatz Das Streikrecht umfasst die Befugnis einer streikführenden Gewerkschaft, die zur Arbeitsniederlegung aufgerufenen Arbeitnehmer unmittelbar vor dem Betreten des Betriebes anzusprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen. Eine solche Aktion kann – abhängig von den konkreten örtlichen Gegebenheiten – mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten auch auf einem vom bestreikten Arbeitgeber vorgehaltenen Firmenparkplatz vor dem Betriebsgebäude zulässig sein. Die Arbeitgeberin betreibt in einem außerörtlich gelegenen Gewerbegebiet ein Versand- und Logistikzentrum. Zu dem von ihr gepachteten Gelände gehören ein Betriebsgebäude, das über einen zentralen Eingang zugänglich ist, und ein ca. 28.000 qm großer Parkplatz, welcher zur Nutzung für die überwiegend mit dem Auto zur Arbeit kommenden Mitarbeiter bestimmt ist. Im September 2015 wurde die Arbeitgeberin an zwei Tagen bestreikt. Die streikführende Gewerkschaft baute an beiden Tagen auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang Stehtische und Tonnen auf und postierte dort ihre Vertreter sowie streikende Arbeitnehmer. Diese verteilten Flyer und forderten die zur Arbeit erscheinenden Arbeitnehmer zur Teilnahme am Streik auf. Zu physischen Zugangsbehinderungen kam es nicht. Ähnliches wiederholte sich bei einem eintägigen Streik im März 2016. Mit ihrer Klage hat die Arbeitgeberin die künftige Unterlassung solcher Aktionen verlangt. Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen; das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Revision der Arbeitgeberin blieb vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts ohne Erfolg. Im konkreten Fall ergibt die Abwägung widerstreitender grundrechtlicher Gewährleistungen auf Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite, dass die Arbeitgeberin eine kurzzeitige, situative Beeinträchtigung ihres Besitzes hinzunehmen hat. Angesichts der örtlichen Verhältnisse kann die Gewerkschaft nur auf dem Firmenparkplatz vor dem Haupteingang mit den zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmern kommunizieren und im Gespräch versuchen, auf Arbeitswillige einzuwirken. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. November 2018 – 1 AZR 189/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. März 2017 – 24 Sa 979/16 – Hinweis: Der Senat hat in einem weiteren Verfahren mit ähnlich gelagertem Sachverhalt die dem Klageantrag stattgebende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und die das Unterlassungsbegehren abweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts wiederhergestellt. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20. November 2018 – 1 AZR 12/17 – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 31. August 2016 – 4 Sa 512/15 –
Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. März 2017 – 24 Sa 979/16 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen. Leitsatz Eine nach den richterrechtlichen Grundsätzen erlaubte Arbeitskampfmaßnahme kann eine gesetzliche Gestattung iSv. § 858 Abs. 1 BGB sein. Tatbestand 1 Die Parteien streiten über die Berechtigung einer Gewerkschaft zur Durchführung streikbegleitender Maßnahmen. 2 Die nicht tarifgebundene Klägerin führt am Standort P in einem außerörtlich gelegenen Gewerbegebiet einen Betrieb der Lagerung und des Versands online bestellter Waren. Auf dem von ihr – auf der Grundlage eines mit einem anderen Unternehmen geschlossenen „Lease Agreement“ vom 13. Dezember 2011 – genutzten Gelände befindet sich das Betriebsgebäude. Dieses betreten die Arbeitnehmer über einen durch einen gelben Turm gekennzeichneten zentralen, zugangsgesicherten Eingang, der über einen unmittelbar angrenzenden ca. 28.000 qm großen Parkplatz zu erreichen ist. Der Parkplatz ist zur Nutzung für die überwiegend mit dem Pkw zur Arbeit kommenden Mitarbeiter bestimmt. Auf ihm sind Schilder aufgestellt mit dem Hinweis, dass es sich um ein Privatgrundstück handelt und Unbefugten das Betreten verboten ist. Die Zufahrt zum Mitarbeiterparkplatz erfolgt über eine unmittelbar in ihn mündende öffentliche Straße. 3 Der Betrieb der Klägerin wurde am 21. und 22. September 2015 bestreikt. Dazu aufgerufen hatte die beklagte Gewerkschaft ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft mit dem Ziel, mit der Klägerin einen Tarifvertrag zur Anerkennung einschlägiger Einzelhandelstarifverträge zu schließen. Am 21. September 2015 bauten Vertreter der Beklagten auf dem Parkplatzgelände unmittelbar vor dem Haupteingang Stehtische sowie Sonnenschirme mit dem ver.di-Logo auf und platzierten dort Trommeln und Tonnen. Zudem verteilten sie gemeinsam mit streikenden Arbeitnehmern Flyer und forderten Mitarbeiter zur Streikbeteiligung auf. Arbeitswillige Arbeitnehmer mussten an den in Gruppen stehenden Streikenden vorbei laufen, um in das Betriebsgebäude zu gelangen. Eine auf dem Gelände befindliche Außenkamera war kurzzeitig abgedeckt worden. 4 Vertreter der Klägerin forderten den anwesenden Streikposten der Beklagten und die streikenden Arbeitnehmer vergeblich auf, das Betriebsgelände zu verlassen. Ein Antrag der Klägerin, die Maßnahme im Wege einer einstweiligen Verfügung untersagen zu lassen, blieb erfolglos. Für den 24. März 2016 rief die Beklagte erneut zum Streik auf. Auch an diesem Tag kam es zu der beschriebenen Aktion auf dem Parkplatz vor dem gelben Eingangsturm. 5 Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, in Ausübung ihres Hausrechts sowie in Ansehung ihrer unternehmerischen Betätigungsfreiheit könne sie der beklagten Gewerkschaft die Nutzung des zum Betriebsgelände gehörenden Mitarbeiterparkplatzes untersagen. Sie müsse diesen Teil ihres Betriebsgeländes nicht zur Förderung eines Streiks zur Verfügung stellen. Die Beklagte könne arbeitswillige Mitarbeiter an der Zufahrt zum Parkplatz – im Bereich des öffentlichen Straßenraums – ansprechen. Sie verfüge zudem über andere Möglichkeiten, auf den Streik aufmerksam zu machen oder zum Streik aufgerufene Arbeitnehmer zu versammeln. 6 Die Klägerin hat zuletzt beantragt,                   der Beklagten zu untersagen, zu Versammlungen auf dem zum Betriebsgelände der Klägerin (Grenzen anhand des Mietvertrags vom 13. Dezember 2011 nebst Anlage 1.1.1 [Anlagen K 5, K 6 und K 17]) gehörenden Parkplatz vor dem gelben Eingangsturm in der A, infolge von Arbeitsniederlegungen aufgrund eines Aufrufs der Beklagten zur Arbeitsniederlegung zwecks Durchsetzung eines Tarifvertrags aufzurufen und diese dort durchzuführen;                   der Beklagten für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die vorstehenden Unterlassungspflichten ein Ordnungsgeld bis zur Höhe von 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollziehen an dem Vorsitzenden ihres Bundesvorstandes, anzudrohen. 7 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Klägerin sei von den Aktionen unmittelbar vor dem Personaleingang nicht in grundrechtlichen Positionen betroffen. Eine Untersagung solcher Aktionen würde – mangels anderer Möglichkeiten, die zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer für eine Beteiligung durch persönliche Ansprache zu gewinnen – ihr verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf koalitionsmäßige Betätigung im Übermaß beschränken. 8 Das Arbeitsgericht hat dem – noch anders verfassten – Unterlassungsantrag ebenso wie der Ordnungsmittelandrohung stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klageanträge nach Maßgabe ihrer letzten – in der Berufungsinstanz formulierten – Fassung abgewiesen. Mit ihrer Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Entscheidungsgründe 9 Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten den Unterlassungsantrag zu Recht abgewiesen. 10 I. Entgegen der Ansicht der Revision ist das angefochtene Urteil nicht verfahrensfehlerhaft. Das Landesarbeitsgericht hat den Inhalt des zur Entscheidung gestellten Antrags nicht verkannt und deshalb nicht unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO der Klägerin etwas abgesprochen, was diese nicht beantragt hat. Es hat das zur Entscheidung gestellte Begehren nach Maßgabe der Anlassfälle dahin verstanden, dass die Beklagte es unterlassen soll, auf dem Betriebsparkplatz der Klägerin unmittelbar vor dem Haupteingang zum Betriebsgebäude Gewerkschaftsmitarbeiter und streikende Arbeitnehmer zu versammeln sowie Stehtische, Tonnen und Sonnenschirme aufzustellen, um auf den von ihr getragenen Streik aufmerksam zu machen und für eine Streikteilnahme zu werben. Das entspricht dem Unterlassungsantrag, wie ihn die Klägerin in der Berufungsverhandlung im Zusammenhang mit ihrem Antrag auf Zurückweisung der Berufung formuliert hat. Sie hat damit den Streitgegenstand festgelegt auf die künftige Untersagung solcher Aktionen, wie sie anlässlich der am 21. und 22. September 2015 sowie am 24. März 2016 von der Beklagten getragenen Streikmaßnahmen stattgefunden haben. 11 II. Der so verstandene Unterlassungsantrag ist zulässig. Er ist insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. 12 1. Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO sind Anträge, mit denen die Unterlassung von Handlungen verlangt wird, so genau zu bezeichnen, dass der Inanspruchgenommene im Fall einer dem Antrag entsprechenden gerichtlichen Entscheidung eindeutig erkennen kann, unter welchen Voraussetzungen was von ihm verlangt wird. Für ihn muss aufgrund des Unterlassungstitels erkennbar sein, welche Handlungen er künftig zu unterlassen hat, um sich rechtmäßig verhalten zu können. Die Prüfung, welche Verhaltensweisen der Schuldner unterlassen soll, darf nicht durch eine ungenaue Antragsformulierung und einen dementsprechenden gerichtlichen Titel aus dem Erkenntnis- in das Zwangsvollstreckungsverfahren verlagert werden. Allerdings dürfen die Anforderungen insoweit auch nicht überspannt werden, weil andernfalls effektiver Rechtsschutz vereitelt würde. Zukunftsgerichtete Verbote lassen sich häufig nur generalisierend formulieren. Die Notwendigkeit gewisser Subsumtionsprozesse im Rahmen einer etwa erforderlich werdenden Zwangsvollstreckung steht daher der Verwendung ausfüllungsbedürftiger Begriffe in einem Unterlassungstitel und dem darauf gerichteten Antrag nicht generell entgegen (BAG 18. November 2014 – 1 AZR 257/13 – Rn. 43 mwN, BAGE 150, 50). 13 2. Diesen Anforderungen wird der Untersagungsantrag gerecht. Die Beklagte kann mit ausreichender Gewissheit erkennen, welche Handlungen sie unterlassen soll. In der gebotenen Auslegung unter Hinzuziehung der in der Klagebegründung geschilderten streikmobilisierenden Maßnahmen der Beklagten an den Streiktagen im September 2015 und März 2016 ist situativ hinreichend deutlich, was mit „… zu Versammlungen … aufzurufen und diese … durchzuführen“ beschrieben ist. Die Bezeichnung der Örtlichkeit unter Angabe der Betriebsgeländegrenzen ist ebenso zureichend klar. Es geht um Aktionen der zum Streik aufrufenden Beklagten auf dem von der Klägerin genutzten Grundstück im unmittelbaren Bereich am gelben Turm vor dem Haupteingang. 14 III. Der Unterlassungsantrag ist unbegründet. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt. Die Klägerin hat als Besitzerin des im Antrag näher bezeichneten Grundstücks weder einen possessorischen noch einen deliktischen Besitzschutzanspruch auf die erstrebte Unterlassung. 15 1. Ein solcher folgt nicht aus § 862 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die die Anlassfälle bildenden Maßnahmen der Beklagten, deren künftige Untersagung die Klägerin begehrt, fanden zwar auf einem Grundstück statt, das im unmittelbaren Besitz der Klägerin steht. Sie sind aber keine Besitzstörung durch verbotene Eigenmacht iSv. § 858 Abs. 1 BGB. 16 a) Nach § 862 Abs. 1 BGB kann der Besitzer im Fall einer Besitzstörung durch verbotene Eigenmacht iSv. § 858 Abs. 1 BGB die Beseitigung der Störung (Satz 1 der Vorschrift) oder, wenn weitere Störungen zu besorgen sind, deren Unterlassung verlangen (Satz 2 der Vorschrift). Bedeutsam ist diese Form des Besitzschutzes, sofern der Anspruchsteller lediglich über ein schuldrechtliches Besitzrecht – etwa als Mieter, Pächter oder Leasingnehmer – verfügt. Dem Besitzer wird – obwohl ihm an der Sache kein dingliches Recht zusteht – durch den Abwehranspruch ein dem § 1004 BGB entsprechender Schutz gegen von außen kommende Störungen seiner Sachherrschaft gewährt (BGH 16. Januar 2015 – V ZR 110/14 – Rn. 5 mwN). 17 b) Eine Besitzstörung liegt vor, wenn der Besitzer einer Sache an der Ausübung seiner Herrschaft über diese in einzelnen Beziehungen gehindert wird (vgl. BGH 23. November 2007 – LwZR 5/07 – Rn. 12). Die Störung kann auch den unmittelbaren Grundstücksbesitz betreffen (vgl. zB BGH 4. Juli 2014 – V ZR 229/13 – Rn. 13 mwN). Juristische Personen sind Schuldner eines Besitzschutzanspruchs nach § 862 Abs. 1 BGB, wenn ihre Organe oder Vertreter verbotene Eigenmacht verüben (Staudinger/Gutzeit [2018] § 858 Rn. 10). Entsprechendes gilt für rechtsfähige Personenvereinigungen (vgl. zur Verschuldenszurechnung bei einer Gewerkschaft BAG 26. Juli 2016 – 1 AZR 160/14 – Rn. 57 ff., BAGE 155, 347). 18 c) Verbotene Eigenmacht iSv. § 858 Abs. 1 BGB ist gegeben, wenn die Entziehung oder Störung des Besitzes ohne den Willen des Besitzers erfolgt und nicht durch das Gesetz gestattet ist. Damit erfüllt jede gesetzlich nicht gestattete Handlung, die den unmittelbaren Besitzer ohne seinen Willen in der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Sache beeinträchtigt, die Voraussetzungen einer verbotenen Eigenmacht (vgl. Staudinger/Gutzeit [2018] § 858 Rn. 4). 19 d) Die vom Unterlassungsbegehren umfassten gewerkschaftlichen Maßnahmen stellen keine Besitzstörung durch verbotene Eigenmacht iSv. § 858 Abs. 1 BGB dar. Sie sind nach den richterrechtlichen Grundsätzen des Arbeitskampfrechts gestattet. 20 aa) Das Arbeitskampfrecht ist weitgehend richterrechtlich – auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG – geprägt. Da seine richterrechtliche Ausgestaltung dem einfachen Gesetzesrecht entspricht (vgl. BVerfG 10. September 2004 – 1 BvR 1191/03 – zu B II 1 der Gründe), kann sich hieraus eine gesetzliche Gestattung iSv. § 858 Abs. 1 BGB ergeben. Entgegen der Ansicht der Revision, steht § 863 BGB dem bereits deshalb nicht entgegen, weil der Anwendungsbereich dieser Norm nicht betroffen ist. Bei einer Besitzbeeinträchtigung des Arbeitgebers durch gewerkschaftlich getragene Streikmaßnahmen kommt es nicht darauf an, ob die Gewerkschaft berechtigte Einwendungen zur Vornahme der störenden Handlungen geltend machen kann, sondern ob der Tatbestand der Besitzstörung durch verbotene Eigenmacht überhaupt erfüllt ist (ebenso Klein AuR 2018, 216; vgl. grds. auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck GG 7. Aufl. Art. 9 Abs. 3 Rn. 106). Beeinträchtigen gewerkschaftliche Streikmaßnahmen den Besitz des Arbeitgebers, kollidieren seine ua. durch §§ 858, 862 BGB ausgeformten grundrechtlichen Gewährleistungen mit den Grundrechtspositionen auf Gewerkschaftsseite. Die Gerichte für Arbeitssachen sind im Hinblick auf ihre in Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete Grundrechtsbindung gehalten, bei der Auslegung und Anwendung zivilrechtlicher Normen – mithin auch bei §§ 858, 862 BGB – diese kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09 – Rn. 32; BAG 20. November 2012 – 1 AZR 611/11 – Rn. 51 mwN, BAGE 144, 1). Der unter Rücksichtnahme auf kollidierende Verfassungswerte notwendig werdende Ausgleich kann in der Regel nicht generell, sondern nur im Einzelfall durch Güterabwägung vorgenommen werden. Er betrifft nicht den gesamten Bereich der jeweiligen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, sondern ist auf den Ausgleich der konkreten Kollisionslage beschränkt (BAG 20. November 2012 – 1 AZR 611/11 – Rn. 52 f. mwN, aaO). Entsprechend lässt er sich regelmäßig weder formal noch situationsungebunden vornehmen. 21 bb) Nach der hiernach gebotenen Güterabwägung begründen die streitbefangenen gewerkschaftlichen Maßnahmen keinen Besitzschutzanspruch der Klägerin nach §§ 858, 862 BGB. 22 (1) Die Klägerin ist allerdings von diesen Aktionen in Rechtspositionen betroffen, die sich in verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gründen. 23 (a) Als unmittelbare Besitzerin des im Unterlassungsantrag bezeichneten Grundstücks steht ihr ein Hausrecht zu, welches auch ihre grundsätzliche Entscheidungsfreiheit über Zutrittsgewährungen zu dem von ihr vorgehaltenen Parkraum einschließt. Im Hausrecht drückt sich die Befugnis des Eigentümers oder Besitzers aus, mit der Sache prinzipiell nach Belieben zu verfahren und andere von der Einwirkung auszuschließen. Diese Befugnis resultiert ihrerseits – ungeachtet einer einfach-rechtlichen Stellung als Eigentümer oder Besitzer – aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG (vgl. BVerfG 30. Juli 2008 – 1 BvR 3262/07, 1 BvR 402/08, 1 BvR 906/08 – Rn. 91, BVerfGE 121, 317; BAG 22. Juni 2010 – 1 AZR 179/09 – Rn. 32, BAGE 135, 1; 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 57 mwN, BAGE 132, 140; 28. Februar 2006 – 1 AZR 460/04 – Rn. 41, BAGE 117, 137; BGH 9. März 2012 – V ZR 115/11 – Rn. 8 mwN). Soweit die Klägerin daneben auf eine Betroffenheit ihrer von Art. 13 GG umfassten Belange abhebt, umfasst der Schutzbereich dieser verfassungsrechtlichen Gewährleistung für die im Streit stehenden Aktionen jedenfalls nichts Weitergehendes als das auf Art. 14 GG fußende Hausrecht (vgl. – auf Art. 13 GG beim Hausrecht des Arbeitgebers Bezug nehmend – BAG 22. Juni 2010 – 1 AZR 179/09 – Rn. 32, aaO; 28. Februar 2006 – 1 AZR 460/04 – Rn. 41, aaO; allg. Dudenbostel Hausrecht, Leitungsmacht und Teilnahmebefugnis in der Betriebsversammlung Diss. 1978 S. 65 f.). Gegenteiliges bringt auch die Klägerin nicht vor. 24 (b) Die vom Unterlassungsantrag erfassten Aktionen der Beklagten zielen darauf ab, arbeitswillige Arbeitnehmer zur Teilnahme an einem Streik, zu dem sie aufgerufen hat, zu motivieren und damit – mittels Druckausübung durch Arbeitsniederlegung – den Betriebsablauf zu stören. Hat die Beklagte damit Erfolg, kann dies die Klägerin in ihrer Berufsfreiheit in Gestalt der unternehmerischen Handlungsfreiheit behindern. Das betrifft einen von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Belang, welcher – iVm. Art. 2 Abs. 1 GG – die berufliche und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers umfasst (vgl. dazu BVerfG 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 – Rn. 35). 25 (c) Anders als die Klägerin meint, beeinträchtigen die gewerkschaftlichen Maßnahmen aber nicht ihre durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete negative Koalitionsfreiheit. Der Streik, in dessen Zusammenhang die zu untersagenden gewerkschaftlichen Aktionen stattfanden, war weder von dem Ziel getragen, sie zu einem Verbandsbeitritt zu bewegen (zur Unzulässigkeit eines solchen Streikziels vgl. BAG 10. Dezember 2002 – 1 AZR 96/02 – zu B I 3 b bb der Gründe, BAGE 104, 155), noch folgt ein dahingehender Zwang aus der Forderung der Beklagten, mit ihr einen Haustarifvertrag zu schließen. Wie die dem einzelnen Arbeitgeber in § 2 Abs. 1 TVG verliehene Tariffähigkeit verdeutlicht, geht der Gesetzgeber im Verhältnis zwischen Gewerkschaft und einzelnen Arbeitgebern zumindest grundsätzlich von einem Verhandlungs- und Kampfgleichgewicht aus. Könnte ein Tarifvertrag gegenüber einem einzelnen Arbeitgeber nicht erforderlichenfalls auch durch einen Streik erzwungen werden, würde § 2 Abs. 1 TVG seinen Zweck, auf jeden Fall auf Arbeitgeberseite die Existenz eines Tarifpartners sicherzustellen, nur unvollständig erfüllen (vgl. BAG 10. Dezember 2002 – 1 AZR 96/02 – zu B I 1 a aa der Gründe, aaO). 26 (d) Auch die von der Klägerin angeführte negative Koalitionsfreiheit der arbeitswilligen Arbeitnehmer ist vorliegend nicht berührt. Ungeachtet dessen, dass die Klägerin nicht Trägerin dieses Grundrechts ist, geht es bei den streitbefangenen Aktionen nicht um die Erzwingung der Mitgliedschaft von Arbeitnehmern bei ver.di. 27 (2) Demgegenüber steht das aus Art. 9 Abs. 3 GG folgende Recht der Beklagten, ihre Mitglieder – aber auch Nichtorganisierte – zur Arbeitsniederlegung aufzurufen, um die Klägerin zu Verhandlungen und zum Abschluss eines deren Arbeitsbedingungen regelnden Tarifvertrags zu bewegen. Das schließt das Recht ein, die zum Streik aufgerufenen arbeitswilligen Arbeitnehmer anzusprechen und zu versuchen, sie auf diesem Wege für eine Streikteilnahme zu motivieren. 28 (a) Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist in erster Linie ein Freiheitsrecht auf spezifisch koalitionsgemäße Betätigung. Es gewährleistet dem Einzelnen die Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam zu verfolgen. Soweit das Recht der Koalitionen selbst betroffen ist, die von Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, entscheiden sie im Rahmen ihrer Interessenwahrnehmung selbst über die einzusetzenden Mittel (BVerfG 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 – Rn. 115 mwN). Zu den geschützten Mitteln zählen Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Sie unterfallen jedenfalls insoweit der Koalitionsfreiheit, als sie allgemein erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen. Der Arbeitskampf ist funktional auf die Tarifautonomie bezogen und insoweit grundrechtlich geschützt (BAG 20. November 2012 – 1 AZR 611/11 – Rn. 49 mwN, BAGE 144, 1). 29 (b) Gewerkschaften ist eine wirkungsvolle Interessendurchsetzung nur möglich, wenn sie ihren Forderungen durch Streiks Nachdruck verleihen können. Hiervon umfasst ist der Versuch, Arbeitnehmer eines bestreikten Betriebs, die sich arbeitswillig zeigen, zur Teilnahme am Streik zu bewegen, sofern das mit Mitteln des gütlichen Zuredens und des Appells an die Solidarität erfolgt (BAG 21. Juni 1988 – 1 AZR 651/86 – zu A II 2 der Gründe, BAGE 58, 364; vgl. bereits BAG 29. März 1957 – 1 AZR 547/55 – zu 2 der Gründe, BAGE 4, 41 mit zust. Anm. Schnorr von Carolsfeld AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 5; ebenso Kissel Arbeitskampfrecht § 35 Rn. 33; Melot de Beauregard Tarif- und Arbeitskampfrecht für die Praxis Rn. 473; Seiter Streikrecht und Aussperrungsrecht S. 520 f.; Otto Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht § 12 Rn. 5; weitergehend Wolter/Schubert/Rödl in Däubler Arbeitskampfrecht 4. Aufl. § 16 Rn. 45; ebenso Klein AuR 2018, 216). Derartige Aktivitäten sind typische (Otto Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht § 12 Rn. 2), akzessorische (Treber Aktiv produktionsbehindernde Maßnahmen Diss. 1996 S. 108) und unmittelbar dem Streiksinn dienende (BAG 20. Dezember 1963 – 1 AZR 157/63 – zu I der Gründe, BAGE 15, 211) Handlungen. Sie sind Bestandteil des Streiks als Kampfmittel. 30 (3) Die auf die widerstreitenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen bezogene Abwägung ergibt, dass die Klägerin die Maßnahmen der Beklagten hinzunehmen hat. 31 (a) Die Beklagte hat die streikmobilisierenden Aktionen auf die Dauer der ihrerseits kurzzeitigen Streikmaßnahmen begrenzt. Auch hat sie nicht großräumig im Besitz der Klägerin befindliche Flächen genutzt, sondern lediglich den Eingangsbereich zum ohnehin gesondert zugangsgesicherten Betriebsgebäude. Es erfolgte damit eine zeitlich und örtlich beschränkte, situative Inanspruchnahme geringer Flächen des Firmenparkplatzes im Bereich des Haupteingangs für die Arbeitnehmer im Zusammenhang mit kurzzeitigen Arbeitsniederlegungen, um die Klägerin überhaupt zur Aufnahme von Verhandlungen zu bewegen. Der Firmenparkplatz wurde seiner gewidmeten Nutzung dadurch nicht entzogen oder in dieser beschränkt. Weder wurden Parkmöglichkeiten signifikant verengt, noch wurden Mitarbeiter – faktisch – davon abgehalten, ihre Kraftfahrzeuge zu parken. Ebenso behinderten die Aktionen nicht den Zugang zum Personaleingang oder die Ein- und Zufahrt zum und vom Parkplatz. Die bloße, solchen Aktionen innewohnende Exzessgefahr, die sich vorliegend nicht – auch nicht in der kurzzeitigen Verdeckung einer Außenkamera – verwirklicht hat, bedingt keine grundsätzlich andere Beurteilung. 32 (b) Zwar hat die Klägerin ein berechtigtes Interesse, der Beklagten als ihrer Arbeitskampfgegnerin in einem laufenden Arbeitskampf keine Teilfläche des Firmenparkplatzes zu überlassen, damit diese Arbeitnehmer dort für den Streik mobilisiert und dadurch die gegen sie – die Klägerin – gerichtete Kampfkraft stärkt. Allerdings liefe ohne eine solche zeitlich, örtlich und situativ begrenzte Mitwirkung das Recht der beklagten Gewerkschaft leer, ihren Forderungen, die der Interessenwahrnehmung der strukturell unterlegenen Arbeitnehmerseite dienen, durch Streik Nachdruck zu verleihen und ein Verhandlungsgleichgewicht mit der Klägerin herzustellen, um diese zur Aufnahme von Tarifvertragsverhandlungen zu bewegen. Das von Art. 9 Abs. 3 GG umfasste Recht, mit Arbeitswilligen zu kommunizieren und sie zu einer Streikteilnahme überreden zu dürfen, wäre bei der erstrebten Nutzungsuntersagung in Anbetracht der besonderen Lage des Betriebsgeländes faktisch aufgehoben. Die Beklagte hat keine sonstigen realistischen Möglichkeiten zur Beeinflussung Arbeitswilliger (vgl. zu diesem Aspekt ErfK/Linsenmaier 18. Aufl. GG Art. 9 Rn. 177). Das geben die Fallumstände vor. 33 (aa) Angesichts der konkreten örtlichen Verhältnisse ist ein gewerkschaftlich-kommunikatives Einwirken auf die zur Arbeit erscheinenden, arbeitswilligen Arbeitnehmer ausschließlich im Bereich des zentralen Personaleingangs unter Inanspruchnahme des Mitarbeiterparkplatzes möglich. Der Eingang ist nur vom Parkplatz aus zugänglich. Er grenzt nicht unmittelbar an einen öffentlichen, nicht im Besitz der Klägerin stehenden Weg. Die Mehrzahl der Arbeitnehmer fährt mit dem Pkw zu dem außerörtlich gelegenen Betriebsgelände der Klägerin. Die Beklagte ist darauf angewiesen, vor dem Personaleingang mit den Arbeitnehmern – vor allem auch den vom Streikaufruf umfassten Nichtorganisierten – persönlich zu kommunizieren und den Versuch zu unternehmen, auf deren Streikbeteiligung hinzuwirken. 34 (bb) Alternativen stehen ihr nicht zur Verfügung. 35 (aaa) Sie kann die Arbeitnehmer nicht außerhalb des Betriebsgeländes erreichen. Das hat das Landesarbeitsgericht – bei einer zu Gunsten der Klägerin unterstellten Möglichkeit der Beklagten, eine öffentlich-rechtliche Erlaubnis zur Nutzung der öffentlichen Straßenwege für die Streikmobilisierung zu erlangen – zutreffend erkannt. In der konkreten Situation der Anfahrt zum Firmenparkplatz wären selbst grundsätzlich gesprächsbereite Mitarbeiter nicht geneigt, sich auf einen Kommunikationsversuch einzulassen, zumal die Einfahrt in das Parkplatzgelände dann auch – und sei es durch anhaltende Fahrzeuge – behindert wäre. Ebenso wäre wegen der nachfolgenden Verkehrsteilnehmer eine Gesprächseröffnung an dieser Stelle nicht möglich. Anders als die Revision meint, geht es dabei nicht um die Frage, ob die beklagte Gewerkschaft ihre Rechte möglichst effektiv ausüben, sondern ob sie diese überhaupt wahrnehmen kann. Die grundrechtlich geschützte Befugnis, durch Überzeugungsversuche auf Streikunwillige einzuwirken, erschöpft sich nicht in der bloßen Bekanntgabe, dass gestreikt wird, oder in einer plakativen Aufforderung, sich dem Streik anzuschließen. Sie umfasst die persönliche Ansprache aller zum Streik Aufgerufenen und Versuche, diese im Dialog zur Streikteilnahme zu bewegen (zum Gesprächsaspekt vgl. Otto Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht § 12 Rn. 5). Aus diesem Grund ist nicht entscheidend, ob die von der Revision erhobene Verfahrensrüge gegen die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zur Breite des Gehwegs an der Zufahrtsstraße zum Parkplatzgelände zulässig und begründet ist. Die zur Arbeit kommenden Arbeitnehmer passieren diese Stelle mit dem Pkw und können – anders als vor dem Eingang zum Betriebsgebäude – dort nicht unmittelbar angesprochen werden. 36 (bbb) Entsprechendes gilt für die anderen von der Klägerin angeführten Möglichkeiten. 37 (aaaa) Soweit sie auf eine streikfördernde Kommunikation durch gewerkschaftliche Vertrauensleute innerhalb des Betriebs verweist, erschließt sich nicht, inwieweit davon nicht ebenso ihrem Hausrecht und ihrer unternehmerischen Betätigungsfreiheit unterliegende Rechtspositionen – und dann im Zweifel sogar noch stärker – betroffen wären. Auch die Inanspruchnahme über Mobilfunk verfügbarer Kurznachrichtendienste steht der Möglichkeit, in einem persönlichen Gespräch arbeitswillige Arbeitnehmer argumentativ von einer Streikteilnahme zu überzeugen, nicht gleich. Die grundrechtlich geschützte Rechtsposition der Beklagten beschränkt sich nicht auf die bloße Information über den Streik oder auf dessen Koordination. Sie umfasst das Recht der Beklagten zu versuchen, nicht streikbereite Arbeitnehmer – einschließlich der zum Streik aufgerufenen Nichtorganisierten – zu einer Streikbeteiligung zu bewegen. Insofern ist die Beklagte auf einen zeitlich-situativen Kontext zum Arbeitsantritt angewiesen. 38 (bbbb) Die Beklagte kann – anders als die Klägerin meint – nicht auf die Berichterstattung über den von ihr getragenen Streik in den Medien verwiesen werden. Diese betrifft die Information der Öffentlichkeit über den Streik und nicht die Überzeugung der zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer. Ebenso wenig verfängt die von der Klägerin vorgebrachte – bei Streikmaßnahmen gegen andere Unternehmen seitens der Beklagten wahrgenommene – Möglichkeit der Anmietung einer betriebsexternen Räumlichkeit während des Streiks als Kommunikationsort. Abgesehen davon, dass dies unter Berücksichtigung der am Standort P gegebenen örtlichen Gegebenheiten keine Ausweichmöglichkeit belegt, umfasst der Schutzbereich der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit im Fall eines Streikaufrufs die kommunikative Ansprache arbeitswilliger Arbeitnehmer und nicht lediglich die Kommunikation mit ohnehin Streikbereiten. 39 (cccc) Entgegen der Ansicht der Klägerin kann der Beklagten zudem nicht entgegengehalten werden, dass sie ihr Zugangsrecht zum Betrieb zum Zwecke der Mitgliederwerbung – als richterrechtlich aus Art. 9 Abs. 3 GG entwickelten Rechtsanspruch (dazu zB BAG 28. Februar 2006 – 1 AZR 460/04 – BAGE 117, 137) – bereits (aus Sicht der Revision „über Gebühr“) beansprucht hat. Dies betrifft einen anderen Aspekt der Gewährleistung koalitionsspezifischer Betätigung. Mitgliederwerbung dient nicht der Streikmobilisierung. 40 (4) Im Ergebnis ist damit nicht jegliche Streikmobilisierung seitens der Beklagten auf dem Firmenparkplatz der Klägerin gestattet. Deren grundrechtlich geschützte Positionen stünden zeitlich, räumlich oder situativ entgrenzten Inanspruchnahmen von Flächen entgegen. Um solche handelt es sich hier jedoch nicht. 41 (5) Das vorliegende Abwägungsergebnis steht auch mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats im Einklang. 42 (a) In seiner Entscheidung zum Unterlassen eines Streikaufrufs unter Nutzung des betrieblichen Intranets (BAG 15. Oktober 2013 – 1 ABR 31/12 – BAGE 146, 189) hat der Senat als entscheidungserhebliches Moment in die Abwägung eingestellt, dass die betriebsangehörigen Mitglieder der streikführenden Gewerkschaft zur Wahrnehmung deren aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden Freiheitsrechts nicht auf die Nutzung der arbeitgeberseitig zur Verfügung gestellten betrieblichen Kommunikationsinfrastruktur angewiesen waren (BAG 15. Oktober 2013 – 1 ABR 31/12 – Rn. 37, aaO). Das verkennt die Klägerin, indem sie ihre Rechtsansicht eines uneingeschränkten Nutzungsverbots von jeglichen im Besitz des Arbeitgebers stehenden betrieblichen Flächen sowie bei jeglichen Streikmobilisierungsversuchen vornehmlich auf dieses Urteil stützt. 43 (b) Auch aus der Entscheidung zur grundsätzlichen Zulässigkeit von streikbegleitenden sog. Flashmob-Aktionen (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – BAGE 132, 140) folgt nichts Gegenteiliges. Der Senat hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass das auf Eigentum und Besitz beruhende Hausrecht der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit nicht grundsätzlich weichen muss. Er hat dahinstehen lassen, ob ein privater Hausrechtsinhaber gehalten ist, sein Hausrecht „grundrechtsfreundlich“ auszuüben. Jedenfalls muss der Inhaber eines Betriebs die Inanspruchnahme seines Besitztums zum Zwecke der Herbeiführung unmittelbarer Betriebsablaufstörungen auch im Arbeitskampf nicht dulden (BAG 22. September 2009 – 1 AZR 972/08 – Rn. 57, aaO). Die Ausführungen des Senats beziehen sich auf eine potentielle Verteidigungsmöglichkeit des Arbeitgebers gegen den Flashmob als gewerkschaftlich eingesetztes Kampfmittel als solches. Dies verkennt die Klägerin. In den vom hier streitbefangenen Unterlassungsantrag erfassten Maßnahmen liegt kein eigenständiges Kampfmittel; es handelt sich vielmehr um Mobilisierungsaktionen, die immanenter Bestandteil des Kampfmittels Streik sind, zu dem die Beklagte aufgerufen hat. Dass aber die Beklagte zum Streikaufruf berechtigt war, um Verhandlungsdruck auf die Klägerin auszuüben, stellt auch die Revision nicht in Abrede. 44 (6) Anderes folgt schließlich nicht aus dem Hinweis der Revision auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2011 (- 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226) und vom 18. Juli 2015 (- 1 BvQ 25/15 -) sowie auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. März 2012 (- V ZR 115/11 -). 45 (a) Zwar hat der Bundesgerichtshof in letztgenannter Entscheidung eine Einschränkung des dem Besitzer oder Eigentümer zustehenden Hausrechts im Hinblick auf die zivilrechtlichen Regelungen des AGG verneint. Er hat aber die Berechtigung des bei ihm streitbefangenen Hausverbots ebenso anhand einer Abwägung der über die zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB mittelbar in das Zivilrecht wirkenden Grundrechtspositionen der Streitparteien überprüft. 46 (b) In den erstgenannten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen ist ua. näher begründet, dass die in Art. 8 Abs. 1 GG verbürgte Versammlungsfreiheit kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten verschafft und insbesondere nicht zu solchen, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. Dieses in die Prüfung der Reichweite der Versammlungsfreiheit einzustellende Moment gibt für die im vorliegenden Fall gebotene Abwägung nichts vor. Die Beklagte kann die zum Streik aufgerufenen, arbeitswilligen Arbeitnehmer nicht an einem beliebigen Ort ansprechen. Sie erreicht sie vielmehr nur in räumlicher Nähe ihres Arbeitsorts. 47 2. Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein deliktischer Unterlassungsanspruch entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 2, § 823 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt eines Eingriffs in ihren eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zu. 48 a) Nach § 1004 Abs. 1 BGB kann der Eigentümer vom Störer die Beseitigung und weitere Unterlassung der Beeinträchtigung verlangen, wenn das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt wird. Diese Ansprüche sind nicht auf Eigentumsverletzungen beschränkt, sondern bestehen darüber hinaus zur Abwehr von Eingriffen in alle nach § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechte, Lebensgüter und Interessen (BAG 17. Mai 2011 – 1 AZR 473/09 – Rn. 39, BAGE 138, 68). Entsprechend § 1004 BGB ist demnach auch das absolute Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geschützt (vgl. Palandt/Herrler 77. Aufl. § 1004 Rn. 4). 49 b) Eine Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb durch die streitbefangenen Aktionen unterstellt, wäre ein solcher Eingriff nicht rechtswidrig. 50 aa) Anders als bei einer Verletzung der in § 823 Abs. 1 BGB ausdrücklich aufgezählten absoluten Rechte wird die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht bereits durch die Verletzungshandlung als solche indiziert, sondern ist im Wege einer Interessen- und Güterabwägung im Einzelfall zu beurteilen (st. Rspr., vgl. nur BGH 21. April 1998 – VI ZR 196/97 – zu II 3 b aa der Gründe, BGHZ 138, 311). Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb stellt einen offenen Tatbestand dar, dessen Inhalt und Grenzen sich erst aus einer Abwägung mit den im Einzelfall konkret kollidierenden Interessen anderer ergeben. Bei der Abwägung sind die betroffenen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen. Der Eingriff in den Schutzbereich des jeweiligen Rechts ist nur dann rechtswidrig, wenn das Interesse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt (zuletzt BGH 10. April 2018 – VI ZR 396/16 – Rn. 19 mwN). 51 bb) Die Klägerin hat unter Umständen wie denen der Anlassfälle mögliche Rechtsbeeinträchtigungen hinzunehmen. Sie sind durch die verfassungsrechtlich geschützte Betätigungsfreiheit der beklagten Gewerkschaft gerechtfertigt und deshalb nach Maßgabe von § 1004 Abs. 2, § 823 Abs. 1 BGB von der Klägerin zu dulden. Insoweit greift keine andere als die den Besitzschutzanspruch betreffende Abwägung der beiderseitigen Grundrechtspositionen im Wege der praktischen Konkordanz. 52 IV. Der ersichtlich nur für den Fall des Obsiegens mit dem Unterlassungsantrag erhobene Antrag auf Ordnungsmittelandrohung fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an.              Schmidt                  Ahrendt                  K. Schmidt                                    Wankel                  Fritz
bundesarbeitsgericht
bag_27-20
18.08.2020
18.08.2020 27/20 - Unternehmensmitbestimmung in einer durch Umwandlung gegründeten SE Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gerichtet. Mit diesem sollen die Anforderungen an eine auf Vereinbarung beruhende Unternehmensmitbestimmung bei der Gründung einer Societas Europaea (SE) durch Umwandlung einer paritätisch mitbestimmten Aktiengesellschaft geklärt werden. Die Arbeitgeberin hatte ursprünglich die Rechtsform einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts. Für sie galt das Mitbestimmungsgesetz. Demzufolge war bei ihr ein 16köpfiger Aufsichtsrat gebildet, der jeweils zur Hälfte von Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer besetzt war. Zwei Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer waren von Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem von den Wahlen der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang gewählt worden. Im Jahr 2014 wurde die Arbeitgeberin in eine SE umgewandelt. Derzeit verfügt sie über einen 18köpfigen – ebenfalls paritätisch besetzten – Aufsichtsrat, bei dem ein Teil der auf die Arbeitnehmer entfallenden Sitze für von Gewerkschaften vorgeschlagene und von den Arbeitnehmern zu wählende Personen reserviert ist. Die dazu zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium abgeschlossene Beteiligungsvereinbarung nach dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) sieht die Möglichkeit einer Verkleinerung des Aufsichtsrats auf zwölf Mitglieder vor. In diesem Fall können die Gewerkschaften zwar Wahlvorschläge für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten; ein getrennter Wahlgang findet insoweit aber nicht statt. Die antragstellenden Gewerkschaften haben geltend gemacht, die Regelungen über die Bildung des verkleinerten Aufsichtsrats seien unwirksam; sie verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG*. Nach der Umwandlung in eine SE müsse den Gewerkschaften weiterhin ein ausschließliches Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Sitzen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zustehen. Die Vorinstanzen haben das Begehren abgewiesen. Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat den EuGH angerufen. Bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer paritätisch mitbestimmten Aktiengesellschaft gibt § 21 Abs. 6 SEBG vor, dass in der Beteiligungsvereinbarung zur Mitbestimmung ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu gewährleisten ist. Für den Senat ist entscheidungserheblich, ob dieses Verständnis des nationalen Rechts mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar ist.** Für deren Auslegung ist der EuGH zuständig. Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 18. August 2020 – 1 ABR 43/18 (A) – Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Oktober 2018 – 19 TaBV 1/18 – *§ 21 Abs. 6 SEBG lautet wie folgt:   „Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu anderen Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. …“ ** Der genaue Wortlaut der Frage kann unter www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergebnisse“ eingesehen werden.
Tenor I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht: Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar? II. Das Rechtsbeschwerdeverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt. Leitsatz Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Frage ersucht: Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar? Entscheidungsgründe 1 A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens 2 Die Beteiligten streiten – soweit für das Vorabentscheidungsverfahren von Bedeutung – über die Wirksamkeit von Regelungen in einer von der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium geschlossenen Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Societas Europaea (Beteiligungsvereinbarung) im Sinne von § 21 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG). 3 Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 3.) ist eine SE mit dualistischem System. Bei ihr sind ein SE-Betriebsrat (Beteiligter zu 4.) und ein Konzernbetriebsrat (Beteiligter zu 5.) gebildet. Antragstellerinnen sind zwei im Unternehmen der Arbeitgeberin vertretene Gewerkschaften. Am Verfahren sind zudem weitere bei der Arbeitgeberin bzw. in deren Konzern vertretene Gewerkschaften beteiligt (Beteiligte zu 6. bis 8.). 4 Die Arbeitgeberin hatte ursprünglich die Rechtsform einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts. Bei ihr bestand nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG) ein Aufsichtsrat, der sich aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzte. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG befanden sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften. Bei den beiden Vertretern der Gewerkschaften handelte es sich um Personen, die nach § 16 Abs. 2 MitbestG von im Konzern der Arbeitgeberin repräsentierten Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem von den Wahlen der übrigen sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer getrennten Wahlgang gewählt wurden. 5 Im Jahr 2014 wurde die Arbeitgeberin in eine SE umgewandelt. Seitdem verfügt sie über einen aus 18 Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat. Gemäß der von der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium am 10. März 2014 geschlossenen Beteiligungsvereinbarung sind hiervon neun Aufsichtsratsmitglieder Arbeitnehmervertreter. Die Beteiligungsvereinbarung regelt nähere Vorgaben für deren Bestimmung. Nach Teil II Nr. 3.1 der Beteiligungsvereinbarung können zum Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nur S-Arbeitnehmer oder Vertreter der im S-Konzern repräsentierten Gewerkschaften vorgeschlagen und bestellt werden. Dabei steht den Gewerkschaften nach Teil II Nr. 3.3 der Beteiligungsvereinbarung für einen bestimmten Teil der auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter ein ausschließliches Vorschlagsrecht zu; die Wahl der von ihnen vorgeschlagenen Personen durch die Arbeitnehmer erfolgt in einem getrennten Wahlgang. 6 Die Beteiligungsvereinbarung enthält in ihrem Teil II Nr. 3.4 zudem Regelungen für die Bildung eines auf zwölf Mitglieder verkleinerten Aufsichtsrats. In diesem Fall müssen dem Aufsichtsrat sechs Arbeitnehmervertreter angehören. Die von den ersten vier Sitzen auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter werden von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt. Dabei können die im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvorschläge für einen Teil der auf Deutschland entfallenden Sitze machen; ein getrennter Wahlgang für die von ihnen vorgeschlagenen Personen findet aber nicht statt. 7 Die Antragstellerinnen haben in dem von ihnen eingeleiteten Beschlussverfahren geltend gemacht, die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung über die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat seien unwirksam. Sie sind der Ansicht, diese verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG, da den Gewerkschaften kein ausschließliches – also durch einen getrennten Wahlgang abgesichertes – Vorschlagsrecht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gewährt werde. 8 Die Arbeitgeberin ist der Auffassung, das in § 7 Abs. 2 iVm. § 16 Abs. 2 MitbestG vorgesehene ausschließliche Vorschlagsrecht der Gewerkschaften werde durch § 21 Abs. 6 SEBG nicht geschützt. 9 Die Vorinstanzen haben die Anträge der Antragstellerinnen abgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragstellerinnen ihr Begehren weiter. 10 B. Das einschlägige nationale Recht 11 I. Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz – MitbestG) vom 4. Mai 1976 (BGBl. I S. 1153, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. April 2015 – BGBl. I S. 642) lautet auszugsweise:          „§ 7             Zusammensetzung des Aufsichtsrats          (1) Der Aufsichtsrat eines Unternehmens          1.     mit in der Regel nicht mehr als 10 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je sechs Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;          2.     mit in der Regel mehr als 10 000, jedoch nicht mehr als 20 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;          3.     mit in der Regel mehr als 20 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer.          …                          (2) Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer müssen sich befinden          1.     in einem Aufsichtsrat, dem sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, vier Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;          2.     in einem Aufsichtsrat, dem acht Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;          3.     in einem Aufsichtsrat, dem zehn Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sieben Arbeitnehmer des Unternehmens und drei Vertreter von Gewerkschaften.          …                          (5) Die in Absatz 2 bezeichneten Gewerkschaften müssen in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sein, dessen Arbeitnehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen.          …                 § 16             Wahl der Vertreter von Gewerkschaften in den Aufsichtsrat          …                          (2) Die Wahl erfolgt auf Grund von Wahlvorschlägen der Gewerkschaften, die in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sind, dessen Arbeitnehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen. …“ 12 II. Das Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz – SEBG) vom 22. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3675, 3686, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Mai 2020 – BGBl. I S. 1044) lautet in der seit dem 1. März 2020 geltenden Fassung auszugsweise:          „§ 2             Begriffsbestimmungen          …                 (8) Beteiligung der Arbeitnehmer bezeichnet jedes Verfahren – einschließlich der Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung -, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung in der Gesellschaft Einfluss nehmen können.          …                 (12) Mitbestimmung bedeutet die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch          1.     die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder          2.     die Wahrnehmung des Rechts, die Bestellung eines Teils oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen oder abzulehnen.          …                 § 21             Inhalt der Vereinbarung          (1) In der schriftlichen Vereinbarung zwischen den Leitungen und dem besonderen Verhandlungsgremium wird, unbeschadet der Autonomie der Parteien im Übrigen und vorbehaltlich des Absatzes 6, festgelegt:          …                 (3) Für den Fall, dass die Parteien eine Vereinbarung über die Mitbestimmung treffen, ist deren Inhalt festzulegen. Insbesondere soll Folgendes vereinbart werden:          1.     die Zahl der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen oder bestellen können oder deren Bestellung sie empfehlen oder ablehnen können;          2.     das Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mitglieder wählen oder bestellen oder deren Bestellung empfehlen oder ablehnen können und          3.     die Rechte dieser Mitglieder.          …                 (6) Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu anderen Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Dies gilt auch bei einem Wechsel der Gesellschaft von einer dualistischen zu einer monistischen Organisationsstruktur und umgekehrt.“ 13 C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts 14 Artikel 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (ABl. EG L 294 vom 10. November 2001 S. 22) lautet auszugsweise:          „Inhalt der Vereinbarung          (1) Das jeweils zuständige Organ der beteiligten Gesellschaften und das besondere Verhandlungsgremium verhandeln mit dem Willen zur Verständigung, um zu einer Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb der SE zu gelangen.          (2) Unbeschadet der Autonomie der Parteien und vorbehaltlich des Absatzes 4 wird in der schriftlichen Vereinbarung nach Absatz 1 zwischen dem jeweils zuständigen Organ der beteiligten Gesellschaften und dem besonderen Verhandlungsgremium Folgendes festgelegt:          …                 (4) Unbeschadet des Artikels 13 Absatz 3 Buchstabe a muss in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.“ 15 D. Entscheidungserheblichkeit und Erläuterung der Vorlagefrage 16 Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die sich aus § 21 Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen zur Ausgestaltung einer Beteiligungsvereinbarung über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar sind. 17 I. Der Antrag der Antragstellerinnen, mit dem diese – soweit vorliegend von Interesse – die Feststellung der Unwirksamkeit der in der Beteiligungsvereinbarung vom 10. März 2014 vorgesehenen Regelungen zur Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat begehren, hätte unter Zugrundelegung ausschließlich nationalen Rechts Erfolg. 18 1. Der Antrag ist zulässig. 19 Das Begehren der Antragstellerinnen beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Regelungen zum zwölfköpfigen Aufsichtsrat in Teil II Nr. 3.4 der für die Arbeitgeberin geltenden Beteiligungsvereinbarung wegen des Fehlens eines durch einen getrennten Wahlgang abgesicherten Vorschlagsrechts der im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften unwirksam sind. Damit zielt der Antrag auf die Feststellung eines gegenwärtigen Rechtsverhältnisses ab. Die zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium geschlossene Beteiligungsvereinbarung ist eine Kollektivvereinbarung sui generis, der trotz fehlender ausdrücklicher Anordnung im SEBG von Gesetzes wegen eine normative Wirkung zukommt. Der Antrag der Antragstellerinnen richtet sich auch auf die Feststellung des Nichtbestehens eines abgrenzbaren Teils dieses Rechtsverhältnisses, da er nur die Regelungen über die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat betrifft. Zudem verfügen die Antragstellerinnen über das erforderliche rechtliche Interesse an der begehrten Feststellung. Sie machen eigene Rechte geltend und können nicht darauf verwiesen werden, eine Verkleinerung des Aufsichtsrats der Arbeitgeberin auf zwölf Mitglieder abzuwarten. Ein anderweitiges – gegebenenfalls effektiveres – gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung ihrer geltend gemachten Rechte steht den Antragstellerinnen nicht zur Verfügung. Ein Statusverfahren (Art. 9 Abs. 1 Buchst. c lit. ii der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 iVm. § 98 AktG) scheidet schon deshalb aus, weil die Zivilgerichte in einem solchen Verfahren nicht die Wirksamkeit einer für die Unternehmensmitbestimmung maßgebenden Beteiligungsvereinbarung nach dem SEBG prüfen können. Diese Prüfung hat der Gesetzgeber mit § 2a Abs. 1 Nr. 3e ArbGG ausschließlich den Gerichten für Arbeitssachen zugewiesen. 20 2. Der Antrag wäre auch begründet. Die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin vom 10. März 2014 zur Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat wären unwirksam. Sie verstießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG. 21 a) Grundsätzlich können die Parteien einer Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 1 SEBG Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 8 SEBG autonom ausgestalten. Dies ermöglicht es ihnen, speziell auf die Bedürfnisse der geplanten SE zugeschnittene Regelungen zu treffen und neben der Nutzung bewährter Beteiligungssysteme auch Mischformen oder neue Konzepte oder Verfahren zu entwickeln. Damit soll ein sinnvoller Ausgleich der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Rechtslagen gewährleistet und zugleich eine sachgerechte Anpassung an die Bedürfnisse und Strukturen der zu gründenden SE sichergestellt werden (vgl. BT-Drs. 15/3405 S. 41). 22 b) Die den Parteien einer Beteiligungsvereinbarung eingeräumte Autonomie steht nach § 21 Abs. 1 SEBG allerdings unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der in Abs. 6 der Norm vorgesehenen Gewährleistung. Danach muss bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft in der Vereinbarung in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll (§ 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG). Damit schränkt das Gesetz die Verhandlungsautonomie der Parteien bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft zugunsten eines strengeren Bestandsschutzes ein (vgl. BT-Drs. 15/3405 S. 51 f.). 23 c) Nach den für das nationale Recht maßgebenden Auslegungsmethoden gebietet § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zur Überzeugung des Senats, dass die Parteien der Beteiligungsvereinbarung bei der Gründung einer SE durch Umwandlung in dieser sicherstellen müssen, dass die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 8 SEBG in gleichwertigem Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten bleiben. Diese Elemente sind zunächst – jeweils bezogen auf die in der umzuwandelnden Aktiengesellschaft schon vorhandenen Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSv. § 2 Abs. 8 SEBG – auf der Grundlage des hierfür maßgebenden nationalen Rechts festzustellen. Die hiernach für die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente sind in gleichem Ausmaß auch in der SE sicherzustellen. Dabei ist zu beachten, dass § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG keine vollständige Aufrechterhaltung der in der umzuwandelnden Gesellschaft vorhandenen Verfahren und des dort bestehenden Rechtszustands anordnet. Die Verfahrenselemente, die die Einflussnahme der Arbeitnehmervertreter in der umzuwandelnden Gesellschaft maßgebend kennzeichnen, müssen daher in der für die SE geltenden Beteiligungsvereinbarung in qualitativ gleichwertigem Maß gewährleistet sein. 24 d) Ausgehend hiervon wären die Regelungen zur Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem aus zwölf Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin nicht mit den Vorgaben des § 21 Abs. 6 SEBG vereinbar. 25 aa) Zu den die Einflussnahme der Arbeitnehmer prägenden Verfahrenselementen der Unternehmensmitbestimmung bei einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft deutschen Rechts gehört das nach § 16 MitbestG gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. 26 (1) Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG müssen sich bei einem Aufsichtsrat, der sich aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzt, unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften befinden. Die Wahl der Gewerkschaftsvertreter erfolgt in einem von der Wahl der übrigen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer getrennten Wahlgang aufgrund von Wahlvorschlägen der Gewerkschaften, die im Unternehmen oder in einem anderen Unternehmen, dessen Arbeitnehmer an der Wahl teilnehmen, vertreten sind (§ 16 Abs. 2 Satz 1 MitbestG). Während die anderen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer im Unternehmen oder in einem zu dessen Konzern gehörenden Unternehmen beschäftigt sein müssen, sind die Gewerkschaften berechtigt, externe Personen für die Wahl vorzuschlagen; diese müssen weder Mitglied der vorschlagenden Gewerkschaft noch bei dieser beschäftigt sein. 27 (2) Das im Mitbestimmungsgesetz vorgesehene – durch ein gesondertes Wahlverfahren abgesicherte – Recht der Gewerkschaften, für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen, beruht auf der Erkenntnis des deutschen Gesetzgebers, dass die Beteiligung von durch Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertretern ein gerade wegen deren Unabhängigkeit wichtiges Element der Meinungsbildung im Aufsichtsrat darstellt (vgl. BT-Drs. 7/4845 S. 5). Das Gesetz geht seit seinem Inkrafttreten am 1. Juli 1976 unverändert davon aus, dass zu einer gleichberechtigten und vor allem auch gleichgewichtigen Beteiligung der Anteilseigner und der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der Unternehmen auf der Arbeitnehmerseite zwingend die Teilnahme von Vertretern der überbetrieblich organisierten Arbeitnehmerschaft, also der im Unternehmen oder Konzern repräsentierten Gewerkschaften gehört (vgl. BT-Drs. 7/2172 S. 17). Eine ausschließliche Beschränkung der möglichen Arbeitnehmervertreter auf Personen, die Mitglieder des Unternehmensverbands sind, liegt danach nicht im Interesse der Arbeitnehmer selbst (vgl. den Bericht der Sachverständigenkommission „Mitbestimmung im Unternehmen“, BT-Drs. VI/334 S. 107, auf dessen Erkenntnisse der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ausdrücklich Bezug nimmt, BT-Drs. 7/4845 S. 5). Nach den gesetzlichen Wertungen haben die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat – deren Repräsentanz durch die Wahl der Arbeitnehmer legitimiert ist – eine die Mitbestimmung der Arbeitnehmer stärkende Funktion. Damit soll sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat Personen angehören, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügen, und gleichzeitig externer Sachverstand vorhanden ist (vgl. BVerfG 1. März 1979 – 1 BvR 532/77 ua. – zu C III 2 b cc der Gründe, BVerfGE 50, 290). 28 bb) Damit stellt das durch einen getrennten Wahlgang abgesicherte Recht der Gewerkschaften, Vorschläge für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu unterbreiten, für das Verfahren der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft ein prägendes Element dar, das bei einer Umwandlung in eine SE in der Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 6 SEBG in qualitativ gleichwertigem Umfang gewährleistet werden muss (im Ergebnis ebenso: WKS/Kleinsorge 5. Aufl. EU-Recht Rn. 110; Köklü in Van Hulle/Maul/Drinhausen Handbuch zur Europäischen Gesellschaft (SE) 6. Abschn. Rn. 149; Freis in Nagel/Freis/Kleinsorge SEBG, SCEBG, MgVG 3. Aufl. § 21 SEBG Rn. 44; Teichmann ZIP 2014, 1049, 1055; Grüneberg/Hay/Jerchel/Sick AuR 2020, 297, 300 ff.; KK-AktG/Feuerborn 3. Aufl. § 21 SEBG Rn. 76; Güntzel Die Richtlinie über die Arbeitnehmerbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) und ihre Umsetzung in das deutsche Recht S. 233; Köstler in Theisen/Wenz Die Europäische Aktiengesellschaft 2. Aufl. S. 349; ders. DStR 2005, 745, 747; Nagel AuR 2007, 329, 332; HaKo-BetrVG/Sick 5. Aufl. Europäische Aktiengesellschaft (SE) und grenzüberschreitende Verschmelzung Rn. 12; Lörcher Anm. AuR 2020, 329; aA: MüKoAktG/Jacobs 4. Aufl. § 21 SEBG Rn. 53; Henssler in Habersack/Henssler Mitbestimmungsrecht 4. Aufl. § 21 SEBG Rn. 58; Oetker FS Birk 2008, 557, 570 ff.; Habersack in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig 10 Jahre SE S. 21; Habersack/Drinhausen/Hohenstatt/Müller-Bonanni SE-Recht § 21 SEBG Rn. 31; Habersack/Drinhausen/Seibt SE-Recht Art. 40 SE-VO Rn. 71; Kuhnke/Hoops in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht § 2 Rn. 287; KK-AktG/Paefgen 3. Aufl. Art. 40 SE-VO Rn. 110; Rudolph in Annuß/Kühn/Rudolph/Rupp Europäisches Betriebsräte-Gesetz § 21 SEBG Rn. 40; Forst Die Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG S. 203 f.; ders. in Bergmann/Kiem/Mülbert/Verse/Wittig 10 Jahre SE S. 76; Linden Die Mitbestimmungsvereinbarung der dualistisch verfassten Societas Europaea (SE) S. 98 f.; Schmid Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) S. 185; Scheibe Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE unter besonderer Berücksichtigung des monistischen Systems S. 149; Löw/Stolzenberg NZA 2016, 1489, 1496; Seibt ZIP 2010, 1057, 1063; Schubert Anm. EWiR 2019, 107; Otte-Gräbener Anm. GWR 2018, 448; Ubber Anm. DB 2019, 375). 29 (1) In der Beteiligungsvereinbarung sicherzustellen wäre danach das Recht von Gewerkschaften, für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen. Zudem bedürfte es insoweit eines – vom Bestimmungsvorgang der übrigen Arbeitnehmervertreter – gesonderten Auswahlverfahrens für diese Personen durch die Arbeitnehmer oder ihre Vertreter. Nur bei einem derart abgesicherten Nominierungsrecht ist die nach den Vorstellungen des deutschen Gesetzgebers durch § 7 Abs. 2 Nr. 2 iVm. § 16 Abs. 2 MitbestG bezweckte gleichberechtigte und gleichgewichtige Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat und damit die vor der Umwandlung bestehende Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft iSd. § 2 Abs. 8 SEBG bei der Mitbestimmung iSv. § 2 Abs. 12 SEBG auch in der SE in gleichem Ausmaß weiterhin gegeben. 30 (2) Die Gewährleistung des § 21 Abs. 6 SEBG wirkte sich auch bei der Anzahl der von Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter aus, die durch ein gesondertes Bestimmungsverfahren auszuwählen wären. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 MitbestG sind bei einem zwölf- und sechzehnköpfigen Aufsichtsrat einer deutschen Aktiengesellschaft von den sechs bzw. acht Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zwei Vertreter von Gewerkschaften. Bei einem aus zwanzig Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat sind von den zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer drei Vertreter von Gewerkschaften (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm. Abs. 2 Nr. 3 MitbestG). Diese vom deutschen Gesetzgeber vorgenommene Gewichtung bestimmt das Ausmaß der durch § 21 Abs. 6 SEBG gesicherten Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft. Daher muss sie – soweit rechnerisch möglich – im Aufsichtsrat der SE anteilig bezogen auf die durch die Größe des Aufsichtsrats bedingte Anzahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer weiter gewährleistet sein. Bei einer Verkleinerung des Aufsichtsrats – wie im Ausgangsverfahren möglich – von ehemals 16 Mitgliedern in der Aktiengesellschaft auf zwölf in der SE wären die Parteien der Beteiligungsvereinbarung daher gehalten, den Gewerkschaften zumindest für ein Aufsichtsratsmitglied der Arbeitnehmer ein ausschließliches Vorschlagsrecht zuzubilligen. 31 (3) Das in der Beteiligungsvereinbarung sicherzustellende ausschließliche Vorschlagsrecht der Gewerkschaften für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer müsste sich dabei nicht auf die im Unternehmen oder Konzern vertretenen deutschen Gewerkschaften beschränken. Mit der Verhandlungslösung wird den Parteien der Beteiligungsvereinbarung – unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 21 Abs. 6 SEBG – die Möglichkeit eröffnet, speziell auf die Bedürfnisse der geplanten SE zugeschnittene Regelungen zu treffen, um eine sachgerechte Anpassung an deren Strukturen zu ermöglichen. Zu den Eigenheiten einer SE gehört die unionsweite Beteiligung der Arbeitnehmer und die dadurch bedingte Internationalisierung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Dem widerspräche es, würde nur auf deutsche Gewerkschaften abgestellt. 32 e) Diesen sich aus § 21 Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen genügen die Regelungen über den zwölfköpfigen Aufsichtsrat in der Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin vom 10. März 2014 nicht. Zwar können die im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvorschläge für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten. Da für diese jedoch kein gesondertes Auswahlverfahren vorgesehen ist, stellen die Regelungen in Teil II Nr. 3.4 der Beteiligungsvereinbarung nicht ausreichend sicher, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat auch tatsächlich eine von Gewerkschaften vorgeschlagene Person befindet. 33 II. Für den Senat stellt sich allerdings die Frage, ob diese – von ihm vorzunehmende – Auslegung des § 21 Abs. 6 SEBG mit den Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar ist. 34 Die unionsrechtliche Regelung sieht vor, dass unbeschadet des Art. 13 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden muss, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Sollte der Norm ein – gegebenenfalls von allen Mitgliedstaaten in gleichem Maß sicherzustellendes – anderes Verständnis mit einem unionsweit einheitlichen, geringeren Schutzniveau zugrunde liegen, wäre der Senat gehalten, § 21 Abs. 6 SEBG dementsprechend unionsrechtskonform auszulegen. 35 Welche – von den Mitgliedstaaten umzusetzenden – Anforderungen sich aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG für das in der Beteiligungsvereinbarung zugunsten der Arbeitnehmer zu gewährleistende Schutzniveau ergeben, lässt sich nicht mit der für ein letztinstanzliches Gericht gebotenen Sicherheit beurteilen. Die Regelung war bislang nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist auch nicht offenkundig. Die damit erforderliche Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG obliegt dem Gerichtshof der Europäischen Union.              Schmidt                  K. Schmidt                  Ahrendt                                    Hayen                  Fritz
bundesarbeitsgericht
bsg_30 - 2018
07.06.2018
Blindengeld bei Alzheimer? Ausgabejahr 2018 Nummer 30 Datum 07.06.2018 Der 9. Senat des Bundessozialgerichts wird sich am 14. Juni 2018 ab 12.15 Uhr (Aktenzeichen: B 9 BL 1/17 R) mit der Frage befassen, unter welchen Voraussetzungen schwerst Hirngeschädigte, die keine visuelle Wahrnehmung haben, Blindengeld beanspruchen können (vergleiche hierzu schon Termintipp Nr. 10/15). Die Klägerin leidet an einer schweren Alzheimer-Demenz und kann deshalb Sinneseindrücke kognitiv nicht mehr verarbeiten. Das beantragte Blindengeld lehnte der Beklagte ab. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, nachweislich liege bei der Klägerin eine zerebrale Schädigung mit hochgradiger Einschränkung aller Sinnesfunktionen vor. Ob das visuelle System stärker betroffen sei als die anderen Sinnesmodalitäten sei unbeachtlich. Das Bundessozialgericht habe seine Rechtsprechung aufgegeben, dass bei zerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens für den Nachweis der Blindheit erforderlich sei (BSG Urteil vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R). Mit seiner Revision rügt der beklagte Freistaat, allein der Verlust der kognitiven Verarbeitungsfähigkeit könne keine Blindheit im Sinne des Blindengeldes bedingen. Blindengeld sei kein Bewusstlosengeld.   Hinweis auf Rechtsvorschriften Bayerisches Blindengeldgesetz (BayBlindG idF vom 24.07.2013 <GVBl. S. 464>) <Auszug> Artikel 1: Anspruch (1) Blinde und taubblinde Menschen erhalten auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben ….. zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen ein monatliches Blindengeld. (2) Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleichzuachten sind.
Bundessozialgericht Urteil vom 14.06.2018, B 9 BL 1/17 R Bayerisches Landesblindengeld - Blindheit nach Artikel 1 Bayerisches Blindengeldgesetz - gleich zu achtende Beeinträchtigung der Sehschärfe - zerebrale Störung des Sehvermögens - keine spezifische Sehstörung erforderlich - Möglichkeit der Sinneswahrnehmung "Sehen" - Alzheimer-Demenz - Ausgleich des blindheitsbedingten Mehrbedarfs - rechtsvernichtender Einwand der Zweckverfehlung Leitsätze1. Eine der Blindheit nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (juris: BlindG BY) entsprechend gleich schwere Störung des Sehvermögens liegt auch bei zerebralen Schäden ohne spezifische Sehstörung vor, wenn es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" fehlt (Anschluss an BSG vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R = BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3). 2. Wird der Zweck des Blindengeldes verfehlt, weil aufgrund der typischen Eigenart des Krankheitsbildes ein auszugleichender blindheitsbedingter Mehrbedarf nicht entstehen kann, steht dem zuständigen Leistungsträger der anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung zu (Fortentwicklung von BSG vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R = BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3). TenorAuf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 2016 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen. TatbestandStreitig ist der Anspruch der Klägerin auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG). Die Klägerin ist 1943 geboren und leidet an einer schweren Alzheimer-Demenz. Sie ist seit 2004 bei Zuerkennung der Pflegestufe 3 in einem Pflegeheim untergebracht. Der die Klägerin vertretende Sohn beschreibt sie als völlig hilflos, komatös und physisch wie psychisch nicht in der Lage, irgendetwas wahrzunehmen oder zu verarbeiten. Der Sohn beantragte am 12.9.2012 für die Klägerin neben der Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" Blindengeld nach dem BayBlindG. Der beklagte Freistaat lehnte den Antrag auf Blindengeld nach Durchführung von Ermittlungen ab. Eine Zerstörung von Strukturen des zentralen Sehsystems sei nicht nachweisbar. Generelle zerebrale Schädigungen begründeten nicht die Annahme einer corticalen Blindheit. Eine faktische Blindheit im Sinne des BSG-Urteils vom 20.7.2005 (B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2) liege nicht vor, da es an einer spezifischen Sehstörung fehle (Bescheid vom 26.2.2013; Widerspruchsbescheid vom 17.6.2013). Das SG hat nach Einholung von Sachverständigengutachten die Klage abgewiesen, weil trotz des Verlustes der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit Blindheit ohne spezifische Sehstörung nicht nachgewiesen sei (Gerichtsbescheid vom 20.11.2014). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG den Gerichtsbescheid und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten nach Durchführung weiterer Ermittlungen verurteilt, der Klägerin ab Antragstellung Blindengeld zu gewähren (Urteil vom 19.12.2016). Die Klägerin sei blind iS von Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG. Bei ihr liege eine hochgradige Einschränkung aller Sinnesfunktionen aufgrund zerebraler Beeinträchtigung vor. Zwar sei die Wahrnehmung nicht durch Schädigungen im Sinnesorgan und der Leitung zum Gehirn gestört und eine Bestimmung des Sehvermögens nicht möglich. Allerdings komme es nach der neueren Rechtsprechung des BSG bei einer der Blindheit entsprechenden gleich schweren zerebralen Störung des Sehvermögens auf eine spezifische Sehstörung nicht an (Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R - BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3). Die visuelle Wahrnehmung sei massiv gestört durch Verlust der kognitiven Verarbeitung. Die aufgenommenen Signale könnten wegen fehlender Verarbeitung nicht mehr genutzt werden; dies gelte auch für das Sehen. Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG erweitere entgegen dem Gesetzeswortlaut und den Motiven des Bayerischen Landesgesetzgebers den Begriff der Blindheit iS des Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG und verkenne den Begriff der "Störung des Sehvermögens" nach den rechtlichen Vorgaben in Teil A Ziff 6b der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV). Aus dem Urteil des BSG vom 11.8.2015 (aaO) könne nicht gefolgert werden, dass jeder stark ausgeprägte körperliche Schwächezustand, der ua das Sehvermögen beeinträchtige, automatisch zur Blindheit iS des Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG führe. Ausgehend von dem gesetzlichen Terminus des "Sehvermögens" bedürfe es nach wie vor eines spezifischen Bezuges der Erkrankung hierzu. Insoweit setze sich das LSG auch in Widerspruch zur Beweislast der einen Anspruch begründenden Tatsachen, wenn es den Blindheitsnachweis wegen bestehender Beweisschwierigkeiten umgehe. Schließlich sei ausgehend von der Rechtsansicht des LSG gemäß Art 1 Abs 3 und Art 5 Abs 3 iVm Art 2 Abs 1 S 2 BayBlindG (idF vom 24.7.2013, GVBl 464) ab 1.1.2013 vorliegend auch Blindengeld in Höhe des doppelten Bezuges zuzusprechen gewesen, da der Verlust aller eingehender Informationen auf corticaler Ebene bei bestehender schwerer Demenz auch Taubblindheit betreffe. Der beklagte Freistaat beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 2016 aufzuheben, und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 20. November 2014 zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend. EntscheidungsgründeDie Revision des Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bisherigen Feststellungen des LSG ermöglichen keine abschließende Beurteilung der Frage, ob der Klägerin Blindengeld nach Art 1 BayBlindG zusteht. 1. Der Senat ist nicht an einer Sachentscheidung gehindert, weil es in der Sache um die Auslegung von - an sich irrevisiblem - Bayerischen Landesrecht geht (§ 162 SGG). Denn der im BayBlindG verwendete und hier streitbefangene Begriff der Blindheit einschließlich gleich zu achtender Störungen des Sehvermögens stimmt auch weiterhin bewusst und gewollt mit Regelungen der Landesblindengeldgesetze in den Bezirken anderer LSG überein (s zB § 1 Abs 1 und 6 BliGG Niedersachsen; § 1 Abs 1 und 2 PflGG Bremen; § 1 Abs 1 GHBG; § 1 Abs 2 und 3 BliGG Rheinland-Pfalz). Auch wenn die Landesblindengeldgesetze im Übrigen unterschiedlich ausgestaltet sind, reicht es für die Revisibilität aus, wenn verschiedene - nicht alle - Länder inhaltsgleiche Vorschriften haben (vgl BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R - BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3, RdNr 12). Übereinstimmung besteht auch mit dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit und der gleich zu achtenden Störungen in § 72 Abs 5 SGB XII (BSG, aaO, mwN). Denn die Landesregelung ist unter ausdrücklichem Hinweis auf die Bundesgesetzgebung der seinerzeit maßgeblichen Regelung des § 24 Abs 1 S 2 Nr 2 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - (idF des Dritten Gesetzes zur Änderung des BSHG vom 25.3.1974, BGBl I 777) nachgebildet worden (Art 1 Abs 3 Nr 3 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Gewährung von Pflegegeld an Zivilblinde vom 8.10.1974, GVBl 504; vgl BayLT-Drucks 7/6795 S 4 f, sodann in die Nachfolgeregelung des BayBlindG übernommen, vgl BayLT-Drucks 13/458 S 4 f). 2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid vom 26.2.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.6.2013 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte der Klägerin bayerisches Blindengeld versagt hat. Hiergegen wendet sie sich mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1, Abs 4 SGG). Ob das LSG den beklagten Freistaat zu Recht verurteilt hat, der Klägerin ab Antragstellung Blindengeld nach Art 1 Abs 1 BayBlindG zu gewähren, kann vom Senat wegen fehlender Feststellungen noch nicht entschieden werden. Die Klägerin ist blind im Sinne des Gesetzes (dazu unter 3. und 4.). Es fehlen aber Feststellungen dazu, ob bei der Klägerin aufgrund ihres Krankheitsbildes ein blindheitsbedingter Mehrbedarf entstehen kann (dazu unter 5.). 3. Monatliches Blindengeld erhalten nach Art 1 Abs 1 BayBlindG blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder die VO (EG) Nr 883/2004 dies vorsieht, zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen (Art 1 Abs 1 BayBlindG vom 7.4.1995, GVBl 1995, 150 in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Änderung des BayBlindG vom 24.7.2013 mWv 1.1.2013, GVBl 2013, 464). Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art 1 Abs 2 S 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50tel beträgt (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 1 BayBlindG) sowie bei denen durch Nr 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 gleich zu achten sind (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG). Dies ist bei der Klägerin der Fall. Sie lebt in Bayern und ist entgegen der Ansicht des beklagten Freistaates auch blind im Sinne des Gesetzes. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) liegt bei der Klägerin eine Hirnschädigung mit hochgradiger Einschränkung aller Sinnesfunktionen vor. Die visuelle Wahrnehmung ist massiv gestört. Die aufgenommenen Signale können nicht mehr genutzt werden. Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenz hat sie einen Verlust der kognitiven Verarbeitung erlitten. Auch wenn bei ihr keine spezifische Sehstörung nachweisbar ist, kann sie im Ergebnis deshalb trotzdem nicht sehen. Insoweit liegt eine der Blindheit gleichzustellende schwere Störung des Sehvermögens iS des Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG vor. Der Senat hat für das Blindengeld nach dem BayBlindG bereits entschieden, dass es bei zerebral geschädigten Menschen dahingestellt bleiben kann, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruht, ob sie durch eine Schädigung des optischen Sehapparates, eine Hirnschädigung oder eine Kombination denkbarer Ursachen verursacht wird, weil die Ursache vielfach medizinisch nicht nachvollzogen werden kann und ein sachlicher Grund für die genaue Lokalisierung nicht nachweisbar ist. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, sodass der behinderte Mensch "blind" ist. Auch das Fehlen einer spezifischen Sehstörung steht dem Anspruch auf Blindengeld nicht entgegen. Denn die typisierende Annahme hinreichend verlässlicher Feststellbarkeit ist nicht in der Weise gerechtfertigt, dass hierauf die dem Anspruchsteller obliegende Darlegungs- und Beweislast gleichheitsfest erstreckt werden könnte (BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R - BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3, RdNr 17 ff, 22 ff). Etwaige Beweiserleichterungen des Sozialen Entschädigungsrechts (zB § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung) finden insoweit keine Anwendung (BSG, aaO, RdNr 24 mwN). Hieran hält der Senat fest. 4. Diese Auslegung verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Soweit dieser erweiternden Auslegung des Begriffs der Blindheit nach dem BayBlindG von dem Beklagten entgegengehalten wird, dass aus medizinischer Sicht keine Blindheit vorliege und keine Vereinbarkeit mit der Anlage zu § 2 VersMedV Teil A, Nr 6c bestehe, vermögen diese Argumente nicht zu überzeugen. Bei dem Blindheitsbegriff nach Art 1 BayBlindG handelt es sich um ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal und nicht um einen medizinischen Begriff. Soweit die VersMedV seit dem 8.1.2015 über § 159 Abs 7 SGB IX Gesetzesrang hat (vgl Dau, jurisPR-SozR 10/2016 Anm 5), ergibt sich hieraus ebenfalls kein Widerspruch, da die dann gegebenenfalls normativ wirkenden medizinischen Erkenntnisse in der VersMedV weiterhin keine Voraussetzung für die Blindheit iS von Art 1 BayBlindG wären. Auch ein Kompetenzkonflikt iS von Art 31 GG liegt nicht vor. Hinsichtlich des Landesblindengelds besteht eine eigenständige Gesetzgebungskompetenz der Länder nach Art 72 Abs 1 GG, weil die Landesblindengeldgesetze nicht in die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art 74 eingreifen (vgl BVerwG Urteil vom 14.11.2002 - 5 C 37/01 - BVerwGE 117, 172, 175 f; OVG Rheinland-Pfalz Urteil vom 27.4.2016 - 7 A 10006/16 - Juris RdNr 26). Dies bedeutet zugleich, dass der Anwendungsbereich des Art 31 GG (Bundesrecht bricht Landesrecht) ausgeschlossen ist. Denn die Kompetenzfrage ist der Kollisionsfrage vorgeordnet und Art 72 Abs 1 GG geht als lex specialis insoweit Art 31 GG vor (vgl Pieroth in Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl 2018, Art 31 RdNr 3 und Art 72 RdNr 11a). Solange und soweit der Bund, wie hier, von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat, steht den Ländern die Befugnis zur Gesetzgebung zu, ohne dass die Sperrwirkung des Art 72 Abs 1 GG eintritt (vgl BVerfG Urteil vom 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07 - BVerfGE 121, 317, 347). Aufgrund der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland und der eigenständigen Gesetzgebungskompetenzen der Länder kann die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes nicht deshalb in Zweifel gezogen werden, weil es von verwandten Regelungen in anderen Bundesländern oder im Bund abweicht (vgl BSG Beschluss vom 6.10.2014 - B 9 BL 1/14 B - Juris RdNr 7 mwN). Der Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG bindet zwar auch den Landesgesetzgeber. Aufgrund der eigenständigen Gesetzgebungskompetenz der Länder muss jedoch nicht länderübergreifend in jeder Hinsicht dasselbe Recht gelten. Der Landesgesetzgeber ist nur gehalten, den Gleichheitssatz innerhalb des ihm zugeordneten Gesetzgebungsbereichs zu wahren (vgl BVerfG Beschluss vom 27.3.1979 - 2 BvL 2/77 - BVerfGE 51, 43, 58 f mwN; BSG Beschluss vom 6.10.2014 - B 9 BL 1/14 B - Juris RdNr 7). Dies ist hier der Fall. Nach Sinn und Zweck des Art 1 Abs 2 Nr 2 BayBlindG werden innerhalb Bayerns auch Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad erfasst, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 und damit Blinden gleichgestellt sind. Im Ergebnis ist die Klägerin blind iS des BayBlindG. Eine weitergehende Prüfung, ob sie aufgrund des Verlustes aller eingehenden Informationen auf corticaler Ebene bei schwerer Demenz auch taubblind ist, musste das LSG entgegen dem Vorbringen der Revision nicht durchführen. Die Klägerin hat vor dem LSG dem Grunde nach nur beantragt, ihr Blindengeld wegen Blindheit nach dem BayBlindG zu gewähren. Nur hierüber hatte das LSG zu entscheiden (§ 123 SGG). 5. Der Rechtsstreit ist gleichwohl nicht entscheidungsreif. Denn es ist nicht festgestellt, ob bei der blinden Klägerin aufgrund des bei ihr bestehenden Krankheitsbildes überhaupt blindheitsbedingte Mehraufwendungen entstehen können. Art 1 Abs 1 BayBlindG in der hier anzuwendenden Fassung (aaO) sieht für blinde Menschen Blindengeld "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" vor. Im Fall der Klägerin ist jedoch fraglich, ob sich aus der bestehenden fortschreitenden Demenz derartige Mehraufwendungen ergeben können. Das BSG hat in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerwG wiederholt entschieden, dass die im Gesetz enthaltene Formulierung "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung ist, sondern lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung umschreibt. Das Blindengeld wird ohne den Nachweis eines konkreten Bedarfs pauschal gezahlt, ohne dass der Anspruchsteller eine Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, ob und welche Aufwendungen er etwa zur Kontaktpflege, zur Teilnahme am kulturellen Leben oder Arbeitsleben im Einzelfall benötigt (vgl BSG Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R - BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3, RdNr 30; BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 10 und 11; BVerwG Urteil vom 4.11.1976 - V C 7.76 - BVerwGE 51, 281, 286). Der Grund für die pauschale Leistung liegt darin, dass bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit verzichtet werden soll. Denn es lässt sich nicht verbindlich und abschließend berechnen, welcher "Mehraufwand" einem blinden Menschen bedingt durch sein Leiden im Einzelfall entstehen kann (BVerwG, aaO; BVerwG Urteil vom 5.7.1967 - V C 212.66 - BVerwGE 27, 270, 273). Auch hieran hält der Senat fest. Dennoch bleibt der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung. Dies erschließt sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz. Realisiert sich die Gefahr, dass der Zweck des Blindengelds durch Doppelleistung verfehlt wird, sieht das Gesetz zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen in Art 4 Abs 3 BayBlindG eine Anrechnung vor (vgl BayLT-Drucks 13/458 S 1 zu A). Danach werden Leistungen zum Ausgleich der in Art 1 BayBlindG genannten Mehraufwendungen nach sonstigen inländischen oder nach ausländischen Rechtsvorschriften auf das Bindengeld angerechnet. Der Zweck des Blindengelds wird aber auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann. Hieran anknüpfend führt der Senat seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma). Das Gesetz geht in Art 1 Abs 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein "Mehraufwand" aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das BVerwG hat hierzu zur früheren Blindenhilfe nach § 67 Abs 1 BSHG bereits ausgeführt, dass Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben entstehen, nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder bedingt durch sein Leiden im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muss (so BVerwG Urteil vom 4.11.1976 - V C 7.76 - BVerwGE 51, 281, 287). Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen (vgl BSG Urteil vom 5.12.2001 - B 7/1 SF 1/00 R - SozR 3-5922 § 1 Nr 1 S 4 - Juris RdNr 17; BVerwG Urteil vom 14.5.1969 - V C 167.67 - BVerwGE 32, 89, 91 f; Bayerisches LSG Urteil vom 9.1.2018 - L 15 BL 10/17 - ZFSH/SGB 2018, 214, 218 = Juris RdNr 69). Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt (vgl Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S 35), weil diese in der zunehmend visualisierten Umwelt besonderen Beeinträchtigungen unterliegen (vgl Braun, MedSach 3/2016, 134, 135 mwN). So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass ua blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (vgl Bayerisches LSG, aaO; BayLT-Drucks 17/17055 S 1 zu A und 17/21510 S 1 zu A). Orientiert am vorgenannten Regelungszweck des Gesetzes ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (zB dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann. Für den vom Gericht überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt die zuständige Behörde die Darlegungs- und Beweislast. Die in der Zielsetzung angelegte Differenzierung nach Anspruchsvoraussetzung und Einwand ist nach den obigen Ausführungen ebenfalls sachgerecht. Sie berücksichtigt das legitime Anliegen des Gesetzgebers nach Begrenzung des begünstigten Personenkreises, indem sie die Verwaltung zur näheren Bestimmung aller relevanten Krankheitsbilder in die Pflicht nimmt, welche blindheitsbedingte Aufwendungen ausschließen. Sie entlastet zugleich den blinden Menschen - wie bisher - von den rechtlichen Konsequenzen einer medizinisch nicht stets hinreichend sicher handhabbaren Diagnostik bei Störungen gerade des Sehapparats. Ob bei der Klägerin angesichts ihrer fortschreitenden Demenz noch ein blindheitsbedingter Mehrbedarf entstehen kann, hat das Berufungsgericht aus seiner Sicht zu Recht nicht festgestellt. Auch wenn ein solcher bei dem festgestellten Krankheitsbild der Klägerin kaum noch anzunehmen sein dürfte, so fehlen hierzu konkrete Feststellungen. Diese wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen und zu prüfen haben, ob aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes bei der Klägerin blindheitsbedingter Mehraufwand entstehen kann. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
bundessozialgericht
bsg_46 - 2019
02.10.2019
Dürfen Krankenkassen Programme für Versorgungsmanagement mit privaten Beratungsunternehmen vereinbaren? Ausgabejahr 2019 Nummer 46 Datum 02.10.2019 Darüber beabsichtigt der 1. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Oktober 2019 ab 13.50 Uhr mündlich zu verhandeln und zu entscheiden (Aktenzeichen B 1 A 3/19 R). Seit 2007 haben Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung einen Anspruch auf ein Versorgungsmanagement, insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche. Der Gesetzgeber wollte damit im Interesse der Versicherten und der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung "Schnittstellenprobleme" lösen, um namentlich Pflegebedürftigkeit oder eine baldige stationäre Wiedereinweisung zu vermeiden. Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Ersatzkasse, schloss mit einer Consulting Firma zwei Dienstleistungsverträge zur Planung und Durchführung eines Versorgungsmanagements. Der eine Vertrag betrifft Versicherte der Klägerin mit bestimmten schwerwiegenden Erkrankungen (unter anderem Diabetes, Adipositas, Hypertonie, Herzinsuffizienz, Osteoporose, koronare Herzerkrankung). Der zweite Vertrag regelt die Zusammenarbeit bei der Durchführung eines "Fallmanagements" ("Planung, Organisation und Begleitung ausgewählter Versicherungs- und Versorgungsfälle") für psychisch erkrankte Versicherte der Klägerin in zwei Modulen: Das erste Modul erfasst arbeitsunfähig erkrankte Versicherte und stationäre Behandlungsfälle, das zweite Modul Versicherte mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Die beklagte Bundesrepublik als Aufsichtsbehörde verpflichtete die Klägerin nach erfolgloser Beratung, die Verträge zu kündigen. Das Landessozialgericht hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen: Die Verträge hätten Leistungen zum Gegenstand, für die der Klägerin überwiegend die Sachkompetenz fehle. Ein Versorgungsmanagement erfasse kein von der Krankenkasse zu verantwortendes versichertenindividuelles Beratungs- und Coaching-Programm bei bestimmten kostenintensiven Erkrankungen. Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 30 SGB IV, § 11 Absatz 4 und § 197b SGB V sowie § 284 Absatz 1 und Absatz 3 SGB V. Hinweis auf Rechtsvorschriften: § 30 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Eigene und übertragene Aufgaben (1) Die Versicherungsträger dürfen nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten verwenden. … § 11 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Leistungen … (4) 1Versicherte haben Anspruch auf ein Versorgungsmanagement insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche; dies umfasst auch die fachärztliche Anschlussversorgung. 2Die betroffenen Leistungserbringer sorgen für eine sachgerechte Anschlussversorgung des Versicherten und übermitteln sich gegenseitig die erforderlichen Informationen. 3Sie sind zur Erfüllung dieser Aufgabe von den Krankenkassen zu unterstützen. 4In das Versorgungsmanagement sind die Pflegeeinrichtungen einzubeziehen; dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit Pflegeberatern und Pflegeberaterinnen nach § 7a des Elften Buches zu gewährleisten. 5Das Versorgungsmanagement und eine dazu erforderliche Übermittlung von Daten darf nur mit Einwilligung und nach vorheriger Information des Versicherten erfolgen. 6Soweit in Verträgen nach § 140a nicht bereits entsprechende Regelungen vereinbart sind, ist das Nähere im Rahmen von Verträgen mit sonstigen Leistungserbringern der gesetzlichen Krankenversicherung und mit Leistungserbringern nach dem Elften Buch sowie mit den Pflegekassen zu regeln. § 39 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Krankenhausbehandlung … (1a) 1Die Krankenhausbehandlung umfasst ein Entlassmanagement zur Unterstützung einer sektorenübergreifenden Versorgung der Versicherten beim Übergang in die Versorgung nach Krankenhausbehandlung. 2§ 11 Absatz 4 Satz 4 gilt. 3Das Krankenhaus kann mit Leistungserbringern nach § 95 Absatz 1 Satz 1 vereinbaren, dass diese Aufgaben des Entlassmanagements wahrnehmen. 4§ 11 des Apothekengesetzes bleibt unberührt. 5Der Versicherte hat gegenüber der Krankenkasse einen Anspruch auf Unterstützung des Entlassmanagements nach Satz 1; soweit Hilfen durch die Pflegeversicherung in Betracht kommen, kooperieren Kranken- und Pflegekassen miteinander. 6Das Entlassmanagement umfasst alle Leistungen, die für die Versorgung nach Krankenhausbehandlung erforderlich sind, insbesondere die Leistungen nach den §§ 37b, 38, 39c sowie alle dafür erforderlichen Leistungen nach dem Elften Buch. 7Soweit dies für die Versorgung des Versicherten unmittelbar nach der Entlassung erforderlich ist, können die Krankenhäuser die in § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 und 12 genannten Leistungen verordnen und die Arbeitsunfähigkeit feststellen; hierfür gelten die Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung mit der Maßgabe, dass bis zur Verwendung der Arztnummer nach § 293 Absatz 7 Satz 3 Nummer 1 eine im Rahmenvertrag nach Satz 9 erster Halbsatz zu vereinbarende alternative Kennzeichnung zu verwenden ist. 8Bei der Verordnung von Arzneimitteln können Krankenhäuser eine Packung mit dem kleinsten Packungsgrößenkennzeichen gemäß der Packungsgrößenverordnung verordnen; im Übrigen können die in § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 genannten Leistungen für die Versorgung in einem Zeitraum von bis zu sieben Tagen verordnet und die Arbeitsunfähigkeit festgestellt werden (§ 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 7). 9Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt in den Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6, 7 und 12 die weitere Ausgestaltung des Verordnungsrechts nach Satz 7. 10Die weiteren Einzelheiten zu den Sätzen 1 bis 7, insbesondere zur Zusammenarbeit der Leistungserbringer mit den Krankenkassen, regeln der Spitzenverband Bund der Krankenkassen auch als Spitzenverband Bund der Pflegekassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft unter Berücksichtigung der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses in einem Rahmenvertrag. 11Wird der Rahmenvertrag ganz oder teilweise beendet und kommt bis zum Ablauf des Vertrages kein neuer Rahmenvertrag zustande, entscheidet das sektorenübergreifende Schiedsgremium auf Bundesebene gemäß § 89a. 12Vor Abschluss des Rahmenvertrages ist der für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisation der Apotheker sowie den Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. 13Das Entlassmanagement und eine dazu erforderliche Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten dürfen nur mit Einwilligung und nach vorheriger Information des Versicherten erfolgen. 14Die Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden. 15Information, Einwilligung und Widerruf bedürfen der Schriftform. … § 197b Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Aufgabenerledigung durch Dritte 1Krankenkassen können die ihnen obliegenden Aufgaben durch Arbeitsgemeinschaften oder durch Dritte mit deren Zustimmung wahrnehmen lassen, wenn die Aufgabenwahrnehmung durch die Arbeitsgemeinschaften oder den Dritten wirtschaftlicher ist, es im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen liegt und Rechte der Versicherten nicht beeinträchtigt werden. 2Wesentliche Aufgaben zur Versorgung der Versicherten dürfen nicht in Auftrag gegeben werden. 3§ 88 Abs. 3 und 4 und die §§ 89, 90 bis 92 und 97 des Zehnten Buches gelten entsprechend. § 284 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialdaten bei den Krankenkassen (1) Die Krankenkassen dürfen Sozialdaten für Zwecke der Krankenversicherung nur erheben und speichern, soweit diese für 1. die Feststellung des Versicherungsverhältnisses und der Mitgliedschaft, einschließlich der für die Anbahnung eines Versicherungsverhältnisses erforderlichen Daten, 2. die Ausstellung des Berechtigungsscheines und der elektronischen Gesundheitskarte, 3. die Feststellung der Beitragspflicht und der Beiträge, deren Tragung und Zahlung, 4. die Prüfung der Leistungspflicht und der Erbringung von Leistungen an Versicherte einschließlich der Voraussetzungen von Leistungsbeschränkungen, die Bestimmung des Zuzahlungsstatus und die Durchführung der Verfahren bei Kostenerstattung, Beitragsrückzahlung und der Ermittlung der Belastungsgrenze, 5. die Unterstützung der Versicherten bei Behandlungsfehlern, 6. die Übernahme der Behandlungskosten in den Fällen des § 264, 7. die Beteiligung des Medizinischen Dienstes oder das Gutachterverfahren nach § 87 Absatz 1c, 8. die Abrechnung mit den Leistungserbringern, einschließlich der Prüfung der Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnung, 9. die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung, 10. die Abrechnung mit anderen Leistungsträgern, 11. die Durchführung von Erstattungs- und Ersatzansprüchen, 12. die Vorbereitung, Vereinbarung und Durchführung von von ihnen zu schließenden Vergütungsverträgen, 13. die Vorbereitung und Durchführung von Modellvorhaben, die Durchführung des Versorgungsmanagements nach § 11 Abs. 4, die Durchführung von Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung, zu besonderen Versorgungsformen und zur ambulanten Erbringung hochspezialisierter Leistungen, einschließlich der Durchführung von Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Qualitätsprüfungen, 14. die Durchführung des Risikostrukturausgleichs (§ 266 Abs. 1 bis 6, § 267 Abs. 1 bis 6, § 268 Abs. 3) sowie zur Gewinnung von Versicherten für die Programme nach § 137g und zur Vorbereitung und Durchführung dieser Programme, 15. die Durchführung des Entlassmanagements nach § 39 Absatz 1a, 16. die Auswahl von Versicherten für Maßnahmen nach § 44 Absatz 4 Satz 1 und nach § 39b sowie zu deren Durchführung, 17. die Überwachung der Einhaltung der vertraglichen und gesetzlichen Pflichten der Leistungserbringer von Hilfsmitteln nach § 127 Absatz 7, 18. die Erfüllung der Aufgaben der Krankenkassen als Rehabilitationsträger nach dem Neunten Buch erforderlich sind. 2Versichertenbezogene Angaben über ärztliche Leistungen dürfen auch auf maschinell verwertbaren Datenträgern gespeichert werden, soweit dies für die in Satz 1 Nr. 4, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14 und § 305 Absatz 1 bezeichneten Zwecke erforderlich ist. 3Versichertenbezogene Angaben über ärztlich verordnete Leistungen dürfen auf maschinell verwertbaren Datenträgern gespeichert werden, soweit dies für die in Satz 1 Nr. 4, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14 und § 305 Abs. 1 bezeichneten Zwecke erforderlich ist. 4Die nach den Sätzen 2 und 3 gespeicherten Daten sind zu löschen, sobald sie für die genannten Zwecke nicht mehr benötigt werden. 5Im Übrigen gelten für die Datenerhebung und -speicherung die Vorschriften des Ersten und Zehnten Buches. … (3) 1Die rechtmäßig erhobenen und gespeicherten versichertenbezogenen Daten dürfen nur für die Zwecke der Aufgaben nach Absatz 1 in dem jeweils erforderlichen Umfang verarbeitet oder genutzt werden, für andere Zwecke, soweit dies durch Rechtsvorschriften des Sozialgesetzbuchs angeordnet oder erlaubt ist. …
Bundessozialgericht Urteil vom 08.10.2019, B 1 A 3/19 R Krankenversicherung - Versorgungsmanagementprogramm zur Optimierung der Versorgung - keine eigenständige Durchführung - keine Übertragung von Unterstützungs- und Beratungsleistungen im Rahmen eines Versorgungs- und Entlassmanagements auf Dritte Leitsätze1. Eine Krankenkasse darf Versorgungsmanagementprogramme zur Optimierung der Versorgung der Versicherten nicht eigenständig ohne Einbeziehung der betroffenen Leistungserbringer durchführen. 2. Eine Krankenkasse darf Unterstützungs- und Beratungsleistungen im Rahmen eines Versorgungs- und Entlassmanagements als Kernaufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nicht auf Dritte übertragen. TenorDie Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. März 2019 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 2 500 000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten über eine Aufsichtsmaßnahme der beklagten Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesversicherungsamt (BVA). Die klagende Ersatzkasse schloss 2003 mit der Firma L & B (im Folgenden: L & B) zwei Dienstleistungsverträge zur Planung und Durchführung eines Versorgungsmanagements. Der eine Vertrag betrifft Versicherte der Klägerin mit bestimmten schwerwiegenden Erkrankungen (ua Diabetes, Adipositas, Hypertonie, Herzinsuffizienz, Osteoporose, koronare Herzerkrankung, transitorische ischämische Attacke/Schlaganfall, Rückenschmerzen; "Detailvertrag zur Durchführung eines Versorgungsmanagements auf der Grundlage von § 11 Abs 4 SGB V zum Rahmenvertrag vom 30.06.2003" - im Folgenden: Vertrag ProGesundheit - 18./22.9.2009). Die von L & B eingesetzten Mitarbeiter nehmen erst Kontakt mit den Versicherten auf, nachdem diese ihre Teilnahme und Einwilligung schriftlich gegenüber der Klägerin erklärt haben. Die Aufgaben von L & B umfassen ua die Feststellung des Bedarfs der Versicherten anhand der Daten der Klägerin und von Gesprächen mit Teilnehmern und Leistungserbringern, eine Zuordnung der Versicherten zu Interventionsgruppen mit unterschiedlich intensiver Betreuung sowie die Durchführung der Betreuung. Der andere Vertrag "Barmer GEK ProVita" (im Folgenden: Vertrag ProVita; 20./26.4.2012) regelt die Zusammenarbeit bei der Durchführung eines "Fallmanagements" ("Planung, Organisation und Begleitung ausgewählter Versicherungs- und Versorgungsfälle") für psychisch erkrankte Versicherte in zwei Modulen: Modul 1.3 erfasst ein Fallmanagement für arbeitsunfähig erkrankte Versicherte und stationäre Behandlungsfälle, Modul 3 ein individuelles Fall- und Versorgungsmanagement für Versicherte mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Die Unterstützung von L & B beinhaltet im Rahmen beider Module die Beratung und Analyse ua in Bezug auf Fallgruppen und Einzelfälle, auf Mechanismen und Abläufe auf der Leistungserbringerseite und bei ausgewählten Leistungserbringern, außerdem die Organisation und Durchführung von Fallkonferenzen. Aufgabe von L & B ist ua die "Sichtung der Leistungsdaten und Durchführung eines geeigneten Assessments zur Feststellung des individuellen Bedarfs an einer Teilnahme an Modul 3" (3.2 Vertrag ProVita). Ergänzend hierzu schlossen die Vertragspartner eine "Vereinbarung zur Auftragsdatenverarbeitung gemäß § 80 SGB X" (Anlage 5 des Vertrags ProVita). Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) beanstandete die Programme ProGesundheit und ProVita wegen Verstoßes gegen § 284 Abs 1 SGB V (§ 81 Abs 2 SGB X iVm § 25 Abs 1 Bundesdatenschutzgesetz <BDSG>; 17.11.2015). Die Beklagte wies die Klägerin darauf hin, dass für die beiden Verträge eine Rechtsgrundlage fehle, beriet die Klägerin (Schreiben vom 3.3. und 7.9.2015) und verpflichtete sie, die beiden Verträge unverzüglich zu kündigen (Bescheid vom 30.12.2015). Das LSG hat die Anfechtungsklage der Klägerin abgewiesen: Der Klägerin fehle überwiegend die Sachkompetenz, um die Vertragsleistungen als eigene Aufgabe zu erbringen. Insbesondere erfasse der Begriff des "Versorgungsmanagements" (vgl § 11 Abs 4 SGB V) kein von der Krankenkasse (KK) verantwortetes versichertenindividuelles Beratungs- und Coaching-Programm bei bestimmten kostenintensiven Erkrankungen (Urteil vom 27.3.2019). Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 30 SGB IV, § 11 Abs 4 und § 197b SGB V sowie § 284 Abs 1 und 3 SGB V. Die Vertragsinhalte beträfen Leistungen des Versorgungsmanagements sowie rein interne Verwaltungsmaßnahmen. Dies seien keine Kernaufgaben der KKn, die Datennutzung sei zulässig. Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. März 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. Dezember 2015 aufzuheben. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Aufsichtsklage (§ 54 Abs 3 SGG) gegen die Aufsichtsanordnung der beklagten Bundesrepublik Deutschland ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, dass die Beklagte rechtmäßig die Klägerin verpflichtete, die von ihr mit L & B abgeschlossenen Verträge ProGesundheit und ProVita unverzüglich zu kündigen. Die Aufsichtsanordnung ist rechtlich nicht zu beanstanden (dazu 2. bis 4.). 1. Der erkennende Senat kann in der Sache entscheiden, ohne L & B beizuladen. Als Prozesshindernis, das einer Sachentscheidung des Senats entgegensteht, käme allein die (echte) notwendige Beiladung (vgl § 75 Abs 2 Alt 1 SGG) der L & B in Betracht. Sie setzt voraus, dass an einem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (stRspr, vgl zB BSGE 99, 122 = SozR 4-2600 § 201 Nr 1, RdNr 11; BSGE 118, 40 = SozR 4-2500 § 51 Nr 3, RdNr 13; BSGE 120, 289 = SozR 4-2500 § 268 Nr 1, RdNr 23 mwN; BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 10). Eine Entscheidung greift in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar ein, wenn die vom Kläger begehrte Sachentscheidung nicht getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig Rechte des Dritten gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben werden (vgl BSGE 118, 40 = SozR 4-2500 § 51 Nr 3, RdNr 13; BSGE 120, 289 = SozR 4-2500 § 268 Nr 1, RdNr 23 mwN; BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 10 mwN; Röhl in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 75 Anm 15a). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die betroffene Ausübung der Staatsaufsicht erschöpft sich regelmäßig in der Wahrung der Gleichgewichtslage zwischen Staat und Selbstverwaltungskörperschaft; dagegen ist das Aufsichtsrecht nicht dazu bestimmt, dem Individualinteresse Einzelner zu dienen (vgl BSGE 26, 237, 240 = SozR Nr 112 zu § 54 SGG D a 35 RS; BSGE 86, 126, 130 ff = SozR 3-2500 § 85 Nr 37 S 291 ff). Ein Dritter kann sich nicht gegen einen Bescheid der Aufsichtsbehörde wenden, mit dem der KK ein bestimmtes Handeln abverlangt wird (stRspr, vgl zB BSGE 98, 129 = SozR 4-2400 § 35a Nr 1, RdNr 13; BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr 32, RdNr 13 ff, 17; BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 20; Engelhard in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl 2016, Stand 1.3.2016, § 87 RdNr 21 mwN). Die aufsichtsrechtliche Anordnung ist der Rechtssphäre der privatrechtlichen Vertragspartner vorgelagert (vgl zum Vorstandsdienstvertrag BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5 RdNr 10 mwN; BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 A 2/18 R - juris RdNr 12, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). 2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anspruchs auf Aufhebung der Verpflichtungsanordnung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Dies entspricht dem materiellen Recht (vgl zum methodischen Ansatz zB BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 11/18 R - juris RdNr 17, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2500 § 137e Nr 2 vorgesehen; BSG SozR 4-4200 § 38 Nr 4 RdNr 16; BVerwGE 78, 243, 244 = juris RdNr 8; BVerwG Beschluss vom 22.2.2008 - 5 B 208/07 - juris RdNr 3 ff zu § 6 Abs 2 Satz 3 Bundesvertriebenengesetz <BVFG>). Für die Festlegung des maßgeblichen Zeitpunkts ist es im Ergebnis nicht entscheidend, dass es sich bei der Klage um eine reine Anfechtungsklage handelt. Der Rückgriff auf die Klageart zur Bestimmung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage entspricht lediglich einer Faustregel mit praktisch einleuchtenden Ergebnissen. Nach dieser Faustregel ist bei Anfechtungsklagen grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich (vgl zB BSG SozR 4-4200 § 60 Nr 4 RdNr 11). Bestimmt das materielle Recht einen anderen maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, ist für die Anwendung der Faustregel kein Raum (vgl BSG SozR 4-2500 § 137e Nr 2 RdNr 17, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, mwN; BSGE 124, 266 = SozR 4-2500 § 95 Nr 33, RdNr 21; vgl auch zu Ausnahmen bei noch nicht vollzogenen Verwaltungsakten oder solchen mit Dauerwirkung BSGE 7, 129; BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 13 ff; BSG SozR 4-1500 § 73 Nr 4 RdNr 17). Die Verpflichtungsanordnung der Beklagten könnte keinen Bestand haben, wenn sie nach dem zur Zeit der Entscheidung des Revisionsgerichts geltenden Rechtszustand rechtswidrig wäre. Daran kann allein der Umstand nichts ändern, dass der Aufsichtsbehörde hinsichtlich des Einschreitens gegen eine Rechtsverletzung ein Entschließungsermessen zukommt. Hat sich die Verpflichtungsanordnung weder durch Zeitablauf noch auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X; vgl hierzu BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 1 A 1/19 R - juris RdNr 13 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen), richtet sich ihre Rechtmäßigkeit nach der Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Das von der Aufsichtsbehörde beanstandete Verhalten der KK (hier: Fortführung der Verträge mit L & B) muss auch (noch) im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung das Recht verletzen (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Zudem muss die KK mit dem beanstandeten Verhalten auch noch zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung allgemein anerkannte, von den Aufsichtsbehörden zu beachtende Bewertungsmaßstäbe überschreiten. 3. Die Aufsichtsanordnung ist formell rechtmäßig. Rechtsgrundlage für das aufsichtsrechtliche Einschreiten der Beklagten ist § 89 SGB IV. Wird durch das Handeln oder Unterlassen eines Versicherungsträgers das Recht verletzt, soll die Aufsichtsbehörde zunächst beratend darauf hinwirken, dass der Versicherungsträger die Rechtsverletzung behebt (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Kommt der Versicherungsträger dem innerhalb angemessener Frist nicht nach, kann die Aufsichtsbehörde den Versicherungsträger verpflichten, die Rechtsverletzung zu beheben (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Die Beklagte ist die für die Klägerin zuständige Aufsichtsbehörde (§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV), denn die Klägerin ist ein bundesunmittelbarer Versicherungsträger. Die Beklagte beachtete auch das gesetzlich vorgesehene, zeitlich und in seiner Intensität abgestufte Verfahren (vgl BSG SozR 3-2400 § 89 Nr 4 S 12; BSG SozR 4-2400 § 89 Nr 2 RdNr 13 mwN). Sie erließ die angegriffene Aufsichtsanordnung erst nach mehrfachen Hinweisen, erfolglosen Aufforderungen zur Beendigung des Vertrages und Beratung. 4. Die Aufsichtsanordnung ist auch materiell rechtmäßig. Die Beklagte erließ die angefochtene Anordnung unter Beachtung des aufsichtsrechtlichen Prüfmaßstabs (dazu a) wegen einer Rechtsverletzung (dazu b) ermessensfehlerfrei (dazu c). a) Der Prüfungsmaßstab der Aufsichtsbehörde richtet sich nach den rechtlichen Vorgaben für das Verhalten des Versicherungsträgers, das Gegenstand der Maßnahme ist (vgl BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 11 mwN). Gegenstand der angefochtenen Maßnahme sind in Kooperation mit einem privaten Dritten initiierte Programme des Versorgungs- und Entlassmanagements (§ 11 Abs 4 SGB V idF durch Art 1 Nr 2 Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Versorgungsstärkungsgesetz - GKV-VSG> vom 16.7.2015, BGBl I 1211 mWv 23.7.2015; § 39 Abs 1a SGB V eingefügt durch Art 1 Nr 9 Buchst b GKV-VSG mWv 23.7.2015, zuletzt geändert durch Art 1 Nr 17 Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung <Terminservice- und Versorgungsgesetz - TSVG> vom 6.5.2019, BGBl I 646 mWv 11.5.2019) für Versicherte der Klägerin mit bestimmten von der Klägerin als schwerwiegend eingestuften Erkrankungen (Vertrag ProGesundheit) oder mit psychischen Erkrankungen (Vertrag ProVita). Die Verträge sind von der Klägerin und L & B ersichtlich nicht als Modellvorhaben (§§ 63 ff SGB V) intendiert (zur Durchführung eines Patienten-Compliance-Programms als Modellvorhaben vgl Rieß, NZS 2014, 12, 16). Dies folgt aus der ausdrücklichen Bezeichnung als Fall- bzw Versorgungsmanagement, aber auch aus der Konzeption der Verträge. So ist insbesondere eine wissenschaftliche Begleitung oder Auswertung der Programme (§ 65 SGB V) nicht vorgesehen. Auch eine zum Zeitpunkt der Vertragsabschlüsse für Modellvorhaben noch erforderliche Verankerung der Programme in der Satzung der Klägerin erfolgte nicht (vgl § 63 Abs 5 Satz 1 SGB V idF durch Art 1 Nr 11 Buchst a Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der GKV <GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz - GKV-SolG> vom 19.12.1998, BGBl I 3853 mWv 1.1.1999, aufgehoben durch Art 1 Nr 22 Buchst b GKV-VSG mWv 23.7.2015). Auch eine Auftragsdatenverwaltung liegt nicht vor (§ 80 SGB X). Die Aufgaben der L & B beschränken sich nicht auf eine reine Datenverarbeitung; vielmehr erfolgt zugleich eine Funktionsübertragung, etwa in Form von Beratung der Versicherten (vgl hierzu Bieresborn in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 80 RdNr 3 unter Hinweis auf Entwurf der BReg eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes, BT-Drucks 11/4306 S 43 Zu Artikel 1 <Bundesdatenschutzgesetz> Zu § 10). Rechtlicher Prüfungsmaßstab ist, ob die Klägerin ermächtigt war, Versorgungs- und Entlassmanagementprogramme in der vertraglich vereinbarten Form zu entwickeln, durchzuführen und Teilaufgaben auf L & B zu übertragen, ohne gegen Grundsätze der Datenverwendung (§ 284 SGB V) zu verstoßen. Dies gilt auch, soweit einzelne Bausteine des vertraglich geregelten Fall- oder Versorgungsmanagements anderen Leistungen der GKV zugeordnet werden können, etwa Leistungen der Soziotherapie (§ 37a SGB V), der Prävention und Gesundheitsförderung (§ 20, § 20a SGB V; vgl aber zum Erfordernis einer Satzungsregelung § 20 Abs 1 Satz 1 SGB V), Patientenschulungsmaßnahmen (§ 43 Abs 1 Nr 2 SGB V) oder der Beratung von Patienten (§ 1 Satz 4 SGB V; §§ 13 bis 15 SGB I; vgl hierzu etwa BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 31). Entsprechendes gilt, soweit die Verträge begleitende oder vorbereitende Maßnahmen regeln wie Mitarbeiterschulungen, die Erarbeitung von Beurteilungsparametern zur verbesserten Nachvollziehbarkeit des Krankheitsgeschehens oder die Entwicklung von Konzepten zur Verbesserung der Prüfung von Leistungen und Leistungsorganisation oder zur Erstansprache und Gewinnung von Versicherten und zur frühzeitigen Erkennung eines Beratungsbedarfs (Vertrag ProVita). Das vertraglich geregelte Versorgungs- und Entlassmanagement ist in seiner Gesamtheit und nicht nur in Bezug auf Teilaspekte zu würdigen. Eine Beurteilung danach, ob einzelne Maßnahmen in einem anderen Kontext, etwa dem Outsourcen von Mitarbeiterschulungen oder der Prüfung der Wirtschaftlichkeit einer konkreten Leistung (zur Zulässigkeit der Datenerhebung und -speicherung zu diesem Zweck vgl § 284 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB V), rechtmäßig von der KK ergriffen werden dürfen, würde dem als Einheit konzipierten vertraglichen Management nicht gerecht. Bei diesem sind zwar möglicherweise einzelne Maßnahmen verzichtbar, strukturell ist es jedoch auf das Ineinandergreifen der verschiedenen, in den Verträgen geregelten Maßnahmen gerichtet. Dies gilt auch für Vorbereitungsmaßnahmen, die nicht losgelöst von dem mit ihnen verfolgten Ziel beurteilt werden können. Darauf, ob die Vertragsparteien - wie im Vertrag ProVita - eine salvatorische Klausel vereinbart haben, kommt es nicht an. Die Klägerin hat als Sozialversicherungsträger ihre Aufgaben in eigener Verantwortung "im Rahmen des Gesetzes und des sonstigen für sie maßgeblichen Rechts" zu erfüllen (§ 29 Abs 3 SGB IV). Im Rahmen der reinen Rechtsaufsicht (§ 89 Abs 1 SGB IV) gebieten es der auch im Aufsichtsrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz maßvoller Ausübung der Rechtsaufsicht der Aufsichtsbehörde, dem beaufsichtigten Versicherungsträger bei seiner Verwaltungstätigkeit insoweit einen gewissen Bewertungsspielraum zu belassen, als dafür auch entsprechende Gestaltungsspielräume eröffnet sind (vgl etwa zum Gebot der Wirtschaftlichkeit sowie der Sparsamkeit im Haushaltswesen BSG SozR 4-2400 § 80 Nr 1 RdNr 23; BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 A 2/18 R - juris RdNr 20, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Beklagte verletzte mit dem Erlass der Aufsichtsanordnung nicht das Gebot einer maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht. Es war rechtlich nicht vertretbar, dass die Klägerin die beiden Verträge fortführte und nicht unverzüglich kündigte. Die Klägerin war nicht berechtigt, unter Einschaltung Dritter ohne die Einbindung von Leistungserbringern Programme des Versorgungsmanagements durchzuführen. Der eindeutige Wortlaut der einschlägigen Vorschriften sieht im Einklang mit der Regelungssystematik nur eine Unterstützung der betroffenen Leistungserbringer durch die KKn vor, mit denen entsprechende Verträge zu schließen sind (§ 11 Abs 4 Satz 3 und 6; § 39 Abs 1a Satz 5 und 10 SGB V; vgl hierzu II 4. b) aa). Bei den Unterstützungs- und Beratungsleistungen handelt es sich um Kernaufgaben der KKn und der GKV, die diese nicht auf Dritte übertragen dürfen (vgl § 197b Satz 2 SGB V, eingefügt durch Art 1 Nr 142 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG> vom 26.3.2007, BGBl I 378 mWv 1.4.2007; Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines GKV-WSG, BT-Drucks 16/3100 S 159 und hierzu BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 15; vgl unten II 4. b) bb). Soweit § 44 Abs 4 Satz 1 SGB V (eingefügt durch Art 1 Nr 13 GKV-VSG mWv 23.7.2015) arbeitsunfähig erkrankten Versicherten mit Bezug von Krankengeld (Krg) einen Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch die KK gewährt, kann sich die Klägerin hierauf als Rechtsgrundlage für die abgeschlossenen Verträge nicht stützen. Eine Übertragung dieser Aufgaben an andere als die in § 35 SGB I genannten Stellen - und damit an private Dritte wie die L & B - ist gesetzlich ausgeschlossen (vgl § 44 Abs 4 Satz 4 SGB V und Entwurf der BReg eines GKV-VSG, BT-Drucks 18/4095 S 79 Zu Nr 13 <§ 44>). Zudem beanstandete die BfDI zu Recht (vgl hierzu II 4. b) cc) die im Zusammenhang mit der Durchführung der beiden Programme stehende Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung wegen Verstoßes gegen § 284 Abs 1 SGB V. Indem die Klägerin trotz dieser Beanstandung an den Verträgen ProGesundheit und ProVita festhielt, überschritt sie allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe. b) Die Klägerin durfte die Verträge über ein eigenes Versorgungsmanagement mangels gesetzlicher Rechtsgrundlage weder abschließen noch durchführen. Versicherungsträger dürfen nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten verwenden (§ 30 SGB IV). Die Regelungen des Versorgungs- und Entlassmanagements (§ 11 Abs 4, § 39 Abs 1a SGB V) ermächtigen die KKn nicht, eigenständig ohne Einbeziehung der betroffenen Leistungserbringer Programme zur Optimierung der Versorgung der Versicherten durchzuführen (dazu aa). Die Klägerin darf hierbei Leistungen zur Unterstützung ihrer Versicherten innerhalb und außerhalb eines Versorgungsmanagements grundsätzlich nur selbst erbringen. Eine Übertragung auf private Dritte wie L & B ist nicht zulässig (dazu bb). Die Klägerin missachtete mit den Programmen zudem die Anforderungen an den Schutz der Sozialdaten ihrer Versicherten (dazu cc). aa) Die Regelungen des Versorgungs- und Entlassmanagements erfassen thematisch die von der Klägerin mit L & B vereinbarten Maßnahmen (dazu <1>). Sie ermächtigen die Klägerin jedoch nicht, solche Programme als eigene unter Einschaltung privater Dritter durchzuführen (dazu <2>). (1) Der Anspruch auf Versorgungsmanagement und auf Entlassmanagement umfasst thematisch die in den Verträgen ProGesundheit und ProVita vereinbarten Maßnahmen, auch soweit die im Vertrag ProVita als "Fallmanagement" bezeichnete "Planung, Organisation und Begleitung ausgewählter Versicherungs- und Versorgungsfälle" (vgl Nr 2 des Vertrages ProVita) betroffen ist. Nach § 11 Abs 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf ein Versorgungsmanagement insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche; dies umfasst auch die fachärztliche Anschlussversorgung (Satz 1). Die betroffenen Leistungserbringer sorgen für eine sachgerechte Anschlussversorgung des Versicherten und übermitteln sich gegenseitig die erforderlichen Informationen (Satz 2). Sie sind zur Erfüllung dieser Aufgabe von den KKn zu unterstützen (Satz 3). In das Versorgungsmanagement sind die Pflegeeinrichtungen einzubeziehen; dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit Pflegeberatern und Pflegeberaterinnen nach § 7a SGB XI zu gewährleisten (Satz 4). Das Versorgungsmanagement und eine dazu erforderliche Übermittlung von Daten darf nur mit Einwilligung und nach vorheriger Information des Versicherten erfolgen (Satz 5). Soweit in Verträgen nach § 140a SGB V nicht bereits entsprechende Regelungen vereinbart sind, ist das Nähere im Rahmen von Verträgen mit sonstigen Leistungserbringern der GKV und mit Leistungserbringern nach dem SGB XI sowie mit den Pflegekassen zu regeln (Satz 6). Der Gesetzgeber des GKV-WSG wollte mit der Einfügung des § 11 Abs 4 SGB V insbesondere "Schnittstellenprobleme beim Übergang von Versicherten in die verschiedenen Versorgungsbereiche" bewältigen. Die Vorstellung des Gesetzgebers war es dabei, im Interesse der Versicherten (Versorgungskontinuität, Entlastung der Versicherten und ihrer Angehörigen) und der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung einen "reibungslosen Übergang" zu ermöglichen, um namentlich Pflegebedürftigkeit oder eine baldige stationäre Wiedereinweisung zu vermeiden (vgl Begründung des Gesetz gewordenen Entwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines Art 1 Nr 7 GKV-WSG, BT-Drucks 16/3100 S 96 f Zu Nr 7 <§ 11> Zu Buchst a). Die Regelungen des Entlassmanagements im Rahmen des Anspruchs auf Krankenhausbehandlung (§ 39 Abs 1a SGB V) verfolgen denselben Regelungszweck wie § 11 Abs 4 SGB V. Die Einfügung dieser Regelungen in § 39 SGB V (zunächst als Satz 4 bis 6 in § 39 Abs 1 SGB V durch Art 1 Nr 8 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG> vom 22.12.2011, BGBl I 2983, mWv 1.1.2012, aufgehoben mWv 23.7.2015 durch Art 1 Nr 9 Buchst a GKV-VSG) wollte das mit § 11 Abs 4 SGB V verfolgte Ziel unterstreichen und in seiner Durchsetzungsmöglichkeit verstärken. Der Gesetzgeber reagierte damit auf den Umstand, dass § 11 Abs 4 SGB V "nicht in dem gewünschten Umfang umgesetzt und genutzt" wurde; nicht alle Krankenhäuser boten ein Versorgungsmanagement iS eines Entlassmanagements an (vgl Begründung zu Art 1 Nr 8 des GKV-VStG-Entwurfs, BT-Drucks 17/6906 S 55). Nichts anderes gilt angesichts fortbestehender Umsetzungsdefizite für die Ersetzung der Regelungen in § 39 Abs 1 Satz 4 bis 6 SGB V durch § 39 Abs 1a SGB V (vgl Entwurf der BReg eines GKV-VSG, BT-Drucks 18/4095 S 76 Zu Nr 9 <§ 39>; zur entsprechenden Anwendung des § 39 Abs 1a SGB V im Bereich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vgl § 40 Abs 2 Satz 4 SGB V eingefügt durch Art 1 Nr 10 Buchst b Doppelbuchst bb GKV-VSG mWv 23.7.2015; jetzt Satz 6 gemäß Art 7 Nr 6 Buchst a Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals <Pflegepersonal-Stärkungsgesetz - PpSG> vom 11.12.2018, BGBl I 2394 mWv 1.1.2019; vgl BSGE 120, 82 = SozR 4-2500 § 39 Nr 26, RdNr 18, 21). Der Anspruch auf Versorgungsmanagement erweitert den Anspruch auf Krankenbehandlung um eine Nebenleistung. Die Regelung des Entlassmanagements konzipiert den Anspruch "als unmittelbare(n) Bestandteil des Anspruchs auf Krankenhausbehandlung in § 39 SGB V" (vgl Begründung zu Art 1 Nr 8 des GKV-VStG-Entwurfs, BT-Drucks 17/6906 S 55; ebenso, Begründung zu Art 1 Nr 9 des GKV-VSG-Entwurfs, BT-Drucks 18/4095 S 76 und BSGE 120, 82 = SozR 4-2500 § 39 Nr 26, RdNr 21). Die Regelungen des Versorgungs- und Entlassmanagements erweitern dagegen den Behandlungsanspruch nicht über die in dem Management liegende Dienstleistung hinaus (vgl BSGE 120, 82 = SozR 4-2500 § 39 Nr 26, RdNr 13). Das Gesetz enthält allerdings keine Definition eines Versorgungsmanagements. Dieses beinhaltet schon begrifflich ("Management"), dass der gesamte Behandlungsbedarf eines Versicherten in seinem Ablauf von anderer Seite verwaltet ("gemanagt"), dh organisiert und verantwortlich geleitet wird (vgl Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2019, § 11 RdNr 60, 60j; vgl auch Zawade, Versorgungsmanagement und Entlassmanagement, 2016, 47 ff). Erfasst werden grundsätzlich alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, sicherzustellen, dass die Versorgung, auf die der Versicherte Anspruch hat, den Versicherten auch tatsächlich erreicht und wirksam wird. Der Versicherte wird - mit seiner notwendigen Einwilligung (§ 11 Abs 4 Satz 5 SGB V) - über die medizinisch gebotenen Interventionen und Schritte informiert und innerhalb dieser geführt und begleitet (vgl Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2019, § 11 RdNr 60). Dabei ist der Anspruch auf Versorgungsmanagement schon nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift ("insbesondere") nicht auf Dienstleistungen zur Erleichterung des Übergangs in die verschiedenen Versorgungsbereiche beschränkt. Er erfasst auch Maßnahmen innerhalb eines Versorgungsbereichs, etwa im Rahmen der Arzneimittel-Compliance (vgl zu Letzterem Rieß, NZS 2014, 12; ebenso Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand April 2019, § 11 RdNr 60a; aA Zawade, Versorgungsmanagement und Entlassmanagement, 2016, 48 ff). Die Mittel des Versorgungsmanagements gehen über die reine Information und Beratung des Versicherten hinaus (zu eng insofern Joussen in BeckOK Sozialrecht, SGB V, 54. Ed, Stand 1.9.2019, § 11 RdNr 14b). Erforderlich ist neben der Analyse der dem Versicherten zur Verfügung stehenden Ressourcen (etwa Fähigkeit zum Selbstmanagement, Hilfe durch Angehörige) und der aus den individuellen Versorgungsbedürfnissen des Versicherten resultierenden Maßnahmen die Abstimmung des individuellen Hilfe- und Koordinierungsbedarfs mit allen an der medizinischen Betreuung Beteiligten (vgl insofern den Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung - Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, BT-Drucks 16/7439 S 95 Zu Nr 3 <§ 11> zur Rolle des Case Managers im Krankenhaus). Darüber hinaus kann das Versorgungsmanagement auch Maßnahmen umfassen, welche die Umsetzung der als erforderlich erkannten Behandlungsschritte sicherstellen, insbesondere die erforderliche Compliance des Versicherten, etwa durch Motivation des Patienten (vgl hierzu etwa § 43 Abs 2 Satz 2 SGB V eingefügt durch Art 1 Nr 33 Buchst b Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Modernisierungsgesetz - GMG> vom 14.11.2003, BGBl I 2190 mWv 1.1.2004 zu sozialmedizinischen Nachsorgemaßnahmen für chronisch kranke oder schwerstkranke Kinder) oder Ausstellung eines Medikationsplans (vgl § 7 Abs 3 Satz 4 und 5 des Rahmenvertrags über ein Entlassmanagement beim Übergang in die Versorgung nach Krankenhausbehandlung - Rahmenvertrag Entlassmanagement - idF der 2. Änderungsvereinbarung vom 12.12.2018 iVm § 31a SGB V eingefügt durch Art 1 Nr 2 Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen - E-Health-Gesetz vom 21.12.2015, BGBl I 2408 mWv 29.12.2015, jetzt idF durch Art 1 Nr 13 TSVG vom 6.5.2019, BGBl I 646 mWv 11.5.2019). (2) Die Klägerin ist jedoch nicht berechtigt, eigenständig ein Programm des Versorgungsmanagements unter Einschaltung Dritter ohne Einbeziehung betroffener Leistungserbringer durchzuführen. Der Anspruch der Versicherten auf ein Versorgungsmanagement richtet sich als Nebenleistung zum eigentlichen Behandlungsanspruch gegen die KK (vgl BSGE 120, 82 = SozR 4-2500 § 39 Nr 26, RdNr 21 zum Entlassmanagement; Entwurf der BReg eines GKV-VSG, BT-Drucks 18/4095 S 76: "Das mit Einwilligung des Versicherten durchzuführende Entlassmanagement bleibt Teil der Krankenhausbehandlung", der allerdings dann missverständlich formuliert: "Der Anspruch des Versicherten richtet sich weiter gegen das Krankenhaus"; ebenso Becker/Kingreen in Becker/Kingreen, SGB V, 6. Aufl 2018, § 11 RdNr 34, die von "Gewährleistungsanspruch" sprechen; Makoski, jurisPR-MedizinR 1/2016, Anm 4; Rieß NZS 2014, 12, 15; Wahl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016, Stand 1.1.2016, § 39 RdNr 101; Wiegand in Eichenhofer/v. Koppenfels-Spies/Wenner, SGB V, 3. Aufl 2018, § 11 RdNr 32; aA Braun, GesR 2015, 518, 519; Joussen in BeckOK Sozialrecht, SGB V, 54. Ed, Stand 1.9.2019, § 11 RdNr 14b; Plagemann, jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016, Stand 1.4.2019, § 11 RdNr 33). Die KK erfüllt den Anspruch jedoch nicht selbst - etwa durch eigene Mitarbeiter -, sondern mittels der beteiligten Leistungserbringer. Dies folgt aus Wortlaut und Regelungssystem. Schon nach dem Wortlaut des § 11 Abs 4 SGB V sorgen die betroffenen Leistungserbringer für eine sachgerechte Anschlussversorgung (Satz 2). Die Aufgabe der KK besteht darin, sie "zur Erfüllung dieser Aufgabe (…) zu unterstützen" (Satz 3). Zudem tragen die KKn zur Erfüllung des Krankenbehandlungsanspruchs nach § 2 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGB V die Strukturverantwortung für die Verfügbarkeit adäquater Behandlungskapazitäten der Leistungserbringer, soweit nicht der Sicherstellungsauftrag abgelöst ist (vgl zum Grundsatz BSGE 120, 82 = SozR 4-2500 § 39 Nr 26, RdNr 20 mwN). Das Regelungssystem unterstreicht dieses Ergebnis: Das SGB V regelt unter Einbeziehung der weiteren Normen des SGB die leistungsrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen KKn, Versicherten und Leistungserbringern abschließend (BSGE 126, 277 = SozR 4-7610 § 812 Nr 8, RdNr 11). Der Versicherte hat im Rahmen der Krankenbehandlung Anspruch auf Behandlung grundsätzlich nur bei zugelassenen Leistungserbringern nach Maßgabe eines abgeschlossenen Leistungskatalogs. Die KKn gewähren medizinische Sach- und Dienstleistungen, soweit sie nicht ausnahmsweise Eigeneinrichtungen betreiben (vgl zB § 132a Abs 4 Satz 15, § 140 SGB V; zur Stellung von Eigeneinrichtungen als Leistungserbringer vgl BSG SozR 4-2500 § 140 Nr 1 RdNr 11), nicht unmittelbar in Natur, sondern bedienen sich regelmäßig der zugelassenen Leistungserbringer, um die Naturalleistungsansprüche der Versicherten zu erfüllen. Deshalb schließen sie über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen nach den Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB V Verträge mit den Leistungserbringern (vgl § 2 Abs 2 Satz 3 SGB V idF durch Art 4 Nr 1 Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB vom 27.12.2003, BGBl I 3022; zuvor § 2 Abs 2 Satz 2 SGB V; vgl zum Ganzen BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 12; BSGE 124, 1 = SozR 4-2500 § 27 Nr 29, RdNr 9; BSGE 125, 283 = SozR 4-2500 § 137c Nr 10, RdNr 13; BSGE 125, 262 = SozR 4-2500 § 137e Nr 1, RdNr 11; BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 KR 34/18 R - juris RdNr 20, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, mwN). Die Versicherten können sich aus der Vielzahl von zugelassenen Leistungserbringern, die die KKn verfügbar halten, den gewünschten Therapeuten frei auswählen, um sich von ihm behandeln zu lassen (§ 76 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch Art 6 Nr 17 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, BGBl I 874 mWv 1.7.2008; vgl BSGE 97, 6 = SozR 4-2500 § 13 Nr 9, RdNr 29; BSGE 126, 79 = SozR 4-2500 § 39 Nr 30, RdNr 24 f zur Inanspruchnahme von Krankenhäusern; BSGE 126, 277 = SozR 4-7610 § 812 Nr 8, RdNr 12). Die KKn ihrerseits müssen sich zur Erfüllung ihrer Versorgungspflichten gegenüber den Versicherten grundsätzlich der zugelassenen Leistungserbringer bedienen (§ 2 Abs 2 Satz 1 und 3 SGB V). Ohne gesetzliche Grundlage ist es ihnen verwehrt, den Versicherten in Konkurrenz zur Leistungsgewährung durch zugelassene Leistungserbringer eigene Leistungsangebote zu unterbreiten (vgl insoweit zB § 140 Abs 2 SGB V zur Errichtung neuer Eigeneinrichtungen durch die KKn sowie BGHZ 82, 375 = NJW 1982, 2117 - Selbstabgabestellen für Brillen). Für den Anspruch auf Versorgungs- und Entlassmanagement beschränkt das Gesetz die Zuständigkeit der KKn auf die Unterstützung der betroffenen Leistungserbringer und den Abschluss von Verträgen mit diesen (§ 11 Abs 4 Satz 3 und 6, § 39 Abs 1a Satz 5 Halbsatz 1 und Satz 10 SGB V; BSGE 120, 82 = SozR 4-2500 § 39 Nr 26, RdNr 20 f; Makoski, jurisPR-MedizinR 1/2016, Anm 4; Rieß NZS 2014, 12, 15; Wahl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016, Stand 1.1.2016, § 39 RdNr 101). bb) Soweit die von der Klägerin vertraglich vereinbarten Maßnahmen als thematisch zulässige Leistungen im Rahmen eines von Leistungserbringern durchzuführenden Versorgungs- und Entlassmanagements in Betracht kommen (vgl etwa § 11 Abs 4 SGB V, § 39 Abs 1a SGB V), fehlt es der Klägerin an der Befugnis, private Dritte in den Prozess einzuschalten. Als zulässige Unterstützungsleistungen der KKn im Versorgungsprozess kommen im Rahmen eines Versorgungs- und Entlassmanagements beispielsweise neben der zeitgerechten Bearbeitung von Anträgen, um eine (genehmigungspflichtige) Anschlussversorgung sicherzustellen, die Information und Beratung der Versicherten in Betracht (zum Anspruch vgl etwa §§ 13 bis 15 SGB I und zB BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 36; BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15, RdNr 31 mwN; vgl auch § 44 Abs 4 Satz 1 SGB V idF durch Art 1 Nr 13 GKV-VSG vom 16.7.2015, BGBl I 1211 mWv 23.7.2015; zur Auswahl der für eine Beratung und Hilfestellung in Betracht kommenden Versicherten vgl § 284 Abs 1 Satz 1 Nr 16 SGB V), ebenso auch zB die Information der das Versorgungs- und Entlassmanagement ausführenden Leistungserbringer über die vorhandene Ausstattung des Versicherten, um seinen konkreten Bedarf festzustellen. Die Klägerin beruft sich insoweit darauf, dass Teilbereiche der Verträge ProGesundheit und ProVita als zulässige Beratungs- und Hilfeleistungen zu qualifizieren seien. So stelle etwa der erste Teil des Moduls 1.3. des Vertrags ProVita ein zulässiges "Krg-Fallmanagement" nach § 44 Abs 4 SGB V dar. Die Klägerin lässt indes mit den beanstandeten Verträgen ProGesundheit und ProVita, auch soweit diese grundsätzlich zulässige Beratungs- und Hilfeleistungen einer KK erfassen, ihr obliegende Aufgaben nicht zulässig durch Dritte wahrnehmen (§ 197b SGB V; § 44 Abs 4 Satz 4 SGB V). KKn können die ihnen obliegenden Aufgaben durch Arbeitsgemeinschaften oder durch Dritte mit deren Zustimmung wahrnehmen lassen, wenn die Aufgabenwahrnehmung durch die Arbeitsgemeinschaften oder den Dritten wirtschaftlicher ist, es im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen liegt und Rechte der Versicherten nicht beeinträchtigt werden (vgl § 197b Satz 1 SGB V). Wesentliche Aufgaben zur Versorgung der Versicherten dürfen nicht in Auftrag gegeben werden (§ 197b Satz 2 SGB V). Eine Regelung, die solche Aufgaben auf private Dritte überträgt, wäre ihrer Art nach nicht genehmigungsfähig. Sie beträfe nämlich die Leistungsgewährung an Versicherte, eine Kernaufgabe der KKn und der GKV (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung, BT-Drucks 16/3100 S 159; zum Ganzen BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 15; vgl BSGE 126, 277 = SozR 4-7610 § 812 Nr 8, RdNr 24). Zu diesen Kernaufgaben zählen gerade auch die auf eine bessere Versorgung der Versicherten gerichteten Beratungs- und Hilfeleistungen, sei es nach allgemeinen Vorschriften, sei es zur Unterstützung der Leistungserbringer bei einem Versorgungsmanagement oder selbsttätig im Rahmen des § 44 Abs 4 SGB V (zur Beratung vgl Bloch in Eichenhofer/v. Koppenfels-Spies/Wenner, SGB V, 3. Aufl 2018, § 197b RdNr 5; Peters in Kasseler Komm, Stand August 2019, § 197b SGB V RdNr 4; aA wohl Thüsing/Pötters, SGb 2013, 320, 323, die allerdings nur von Unterstützung der KK durch Dritte bei der Beratung von Versicherten sprechen). Darauf, ob die Wahrnehmung der Aufgaben durch den Dritten wirtschaftlicher wäre oder im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen läge und Rechte der Versicherten nicht beeinträchtigt werden (§ 197b Satz 1 SGB V), kommt es damit nicht an. Ohne Belang ist auch, dass die Vertragsparteien selbst die von L & B durchzuführenden Leistungen als "Unterstützung" oder "Unterstützungsleistung" qualifizieren, welche nicht Aufgaben umfassten, die zum Kernbereich einer KK gehören (vgl Vertrag ProVita Nr 3 Leistungen von L & B; Nr 3.4 Nicht erfasste Leistungen). Die Leistungsbeschreibung umfasst tatsächlich ua die Erstellung individueller Versorgungs- und Hilfepläne für Versicherte sowie die Durchführung eines Assessments zur Feststellung des individuellen Bedarfs an einer Teilnahme im Modul 3. Auch im Rahmen des Moduls 1.3 gehört zu den Aufgaben von L & B nicht nur die Beratung und Analyse in Bezug auf Fallgruppen, sondern auch auf konkrete Einzelfälle. Ebenso ist die "Organisation und Durchführung von Fallkonferenzen" und die "gemeinsame Betrachtung von Leistungsfällen" vorgesehen (vgl Vertrag ProVita Nr 3.2 Leistungen in den Modulen 1.3 und 3). Damit wird einem privaten Dritten ein erheblicher Einfluss auf die Fallbearbeitung der KK, einer ihrer Kernaufgabe, eingeräumt. Auch § 44 Abs 4 Satz 4 SGB V ermächtigt nicht, ein Versorgungsmanagement in Kooperation mit einem privaten Dritten wie hier der L & B zu unterhalten. Grundsätzlich haben die KKn die Aufgabe der individuellen Beratung und Hilfestellung (§ 44 Abs 4 Satz 1 SGB V) selbst wahrzunehmen. Die KKn dürfen diese Aufgaben lediglich an die in § 35 SGB I genannten Stellen, also ua Leistungsträger und Verbände von Leistungsträgern, übertragen (§ 44 Abs 4 Satz 4 SGB V). Diese Regelung erlaubt als abschließende Sonderregelung in Abweichung von § 197b SGB V ausnahmsweise eine Übertragung von Kernaufgaben der KKn auf bestimmte öffentlich-rechtliche Stellen; eine Übertragung an private Dritte ist ausgeschlossen (vgl Entwurf der BReg eines GKV-VSG, BT-Drucks 18/4095 S 79 Zu Nr 13 <§ 44>). Dabei kommt es auch hier auf eine Gesamtschau der Verträge an: Ob einzelne Maßnahmen, insbesondere solche, die die Klägerin nach den vertraglichen Vereinbarungen nicht auf L &B überträgt, sondern selbst vornimmt (etwa die Auswahl und Ansprache der für eine Fallkonferenz in Frage kommenden arbeitsunfähig erkrankten Versicherten im Rahmen des Vertrags ProGesundheit), nach § 44 Abs 4 SGB V zulässig durchgeführt werden dürfen, ist ohne Belang. Die Regelung des § 197b SGB V ließe es dagegen zu, wenn KKn externe Expertise von privaten Dritten in Anspruch nehmen, um - noch im Vorfeld konkreter Patientenkontakte - auf der Grundlage der bei ihnen vorhandenen Daten Versorgungsmodelle für bestimmte Patientengruppen zu entwickeln (vgl etwa Nr 2.1.2 Modul 3 Abs 4 3. Spiegelstrich Vertrag ProVita), die dann in einem zweiten Schritt dem individuellen Versorgungs- und Hilfebedarf angepasst werden können (vgl hierzu Weatherly/Knetsch in Weatherly, Versorgungsmanagement in der Praxis des Deutschen Gesundheitswesens, 2017, 12). Die Erarbeitung solcher Modelle bewegt sich noch nicht auf der Ebene der Versorgung des individuellen Patienten und ist - bei Einhaltung der Anforderungen an den Schutz der Sozialdaten (vgl § 197b Satz 1 SGB V: "Rechte der Versicherten nicht beeinträchtigt werden") - grundsätzlich übertragbar. § 197b SGB V enthält selbst keine Ermächtigung zu einer Datenübermittlung an Dritte (Schneider-Danwitz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016, Stand 1.1.2016, § 197b RdNr 21). cc) Indem die Klägerin die Verträge ProGesundheit und ProVita nicht kündigte, sondern fortführte, verstieß sie auch gegen nationales Recht zum Schutz der Sozialdaten ihrer Versicherten (dazu <1>). Sie verstieß zugleich gegen die Datenschutzgrundverordnung (<DSGVO> Verordnung <EU> 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl L 119 vom 4.5.2016, Satz 1; L 314 vom 22.11.2016, S 72; dazu <2>). (1) SGB I, SGB X und SGB V regeln den Schutz von Sozialdaten grundsätzlich gleichrangig vorbehaltlich ausdrücklich davon abweichender spezialgesetzlicher Kollisionsregeln (vgl BSGE 117, 224 = SozR 4-2500 § 291a Nr 1, RdNr 15). § 35 Abs 2 Satz 1 SGB I (idF durch Art 19 Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.7.2017 BGBl I 2541, mWv 25.5.2018) bestimmt: Die Vorschriften des Zweiten Kapitels des Zehnten Buches und der übrigen Bücher des SGB regeln die Verarbeitung von Sozialdaten abschließend, soweit nicht die DSGVO unmittelbar gilt (vgl dazu unten <2>). Ein Rückgriff auf das BDSG ist nur zulässig, wenn das SGB oder die DSGVO dies vorsehen (Bieresborn/Giesberts-Kaminski, SGb 2018, 449, 451 f; Hauck in Hennig, SGG, Stand September 2019, § 119 RdNr 9). Die datenschutzrechtlichen Regelungen des SGB X verweisen ua auf die bereichsspezifischen Datenschutzregelungen des SGB V (§§ 276, 284, 301 SGB V). Nach Abs 1 Satz 1 des § 67a SGB X (idF durch Art 24 Nr 2 Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.7.2017 BGBl I 2541, mWv 25.5.2018) ist das Erheben von Sozialdaten durch in § 35 SGB I genannte Stellen zulässig, wenn ihre Kenntnis zur Erfüllung einer Aufgabe der erhebenden Stelle nach dem SGB erforderlich ist. Dies gilt nach § 67a Abs 1 Satz 2 SGB X auch für die Erhebung der besonderen Kategorien personenbezogener Daten iS des Art 9 Abs 1 DSGVO, insbesondere also für Gesundheitsdaten. § 67b Abs 1 Satz 1 SGB X (idF durch Art 24 Nr 2 Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.7.2017 BGBl I 2541, mWv 25.5.2018) erlaubt die Speicherung, Veränderung, Nutzung, Übermittlung, Einschränkung der Verarbeitung und Löschung von Sozialdaten ua nur, soweit die datenschutzrechtlichen Vorschriften des SGB X oder eine andere Vorschrift des SGB es erlauben oder anordnen. Dies gilt nach § 67b Abs 1 Satz 2 SGB X auch für die besonderen Kategorien personenbezogener Daten iS des Art 9 Abs 1 DSGVO (vgl zum Ganzen BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 40/17 R - juris RdNr 23 f, zur Veröffentlichung in SozR 4-7650 Abs 9 Nr 1 vorgesehen; vgl auch BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 31/17 R - juris RdNr 14, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Das bereichsspezifische Datenschutzrecht steht jedoch einer Vereinbarung und Durchführung von Verträgen mit den in den Verträgen ProGesundheit und ProVita vereinbarten Inhalten entgegen. Gemäß § 284 Abs 1 Satz 1 SGB V dürfen KKn Sozialdaten für Zwecke der GKV nur erheben und speichern, soweit diese für eine der in den Nr 1 bis 18 abschließend genannten Zwecke erforderlich sind. Die rechtmäßig erhobenen und gespeicherten versichertenbezogenen Daten dürfen nur für die Zwecke der Aufgaben nach Abs 1 in dem jeweils erforderlichen Umfang verarbeitet und genutzt werden, für andere Zwecke, soweit dies durch Rechtsvorschriften des SGB angeordnet oder erlaubt ist (§ 284 Abs 3 Satz 1 SGB V). Die Klägerin kann sich nach dem oben Gesagten (vgl II 4. b) aa) <2>) nicht stützen auf § 284 Abs 1 Satz 1 Nr 13, 15 SGB V (ua Durchführung des Versorgungsmanagements nach § 11 Abs 4 SGB V; Durchführung des Entlassmanagements nach § 39 Abs 1a SGB V). Auch § 284 Abs 1 Satz 1 Nr 16 SGB V (Auswahl von Versicherten für Maßnahmen nach § 44 Abs 4 Satz 1 SGB V sowie deren Durchführung) deckt nicht die Erhebung, Speicherung oder Verarbeitung rechtmäßig erhobener Sozialdaten der Versicherten, wenn die Maßnahmen nicht von der KK selbst, sondern in unzulässiger Kooperation mit einem privaten Dritten durchgeführt werden. Entsprechendes gilt, soweit einzelne Maßnahmen der Prüfung der Leistungspflicht und der Erbringung von Leistungen an Versicherte (§ 284 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB V), der Abrechnung mit den Leistungserbringern, einschließlich der Prüfung der Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnung (§ 284 Abs 1 Satz 1 Nr 8 SGB V), der Abrechnung mit anderen Leistungsträgern (§ 284 Abs 1 Satz 1 Nr 10 SGB V) oder einer anderen Ziffer zugeordnet werden kann. (2) Die Klägerin kann sich für die vertraglich vereinbarten Kooperationen auch nicht mit Erfolg auf die Regelungen der DSGVO stützen. Die Klägerin hat nach dem unter (1) Gesagten für die Erhebung, Speicherung und Nutzung von Daten ihrer Versicherten im Zusammenhang mit ihrer Kooperation mit L & B keine nationale Rechtsgrundlage (§§ 67a Abs 1 Satz 1 und 2, 67b Abs 1 Satz 1 und 2 SGB X, § 284 SGB V). Diese ist auch nach der DSGVO unzulässig. Die DSGVO ist mit Wirkung vom 25.5.2018 mit unmittelbarer Wirkung in Kraft getreten (vgl Art 99 Abs 2 DSGVO; BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 40/17 R - juris RdNr 28, zur Veröffentlichung in SozR 4-7650 Abs 9 Nr 1 vorgesehen; BSG Urteil vom 27.6.2018 - B 6 KA 27/17 R - juris RdNr 42, zur Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 295 Nr 4 vorgesehen; Bieresborn, NZS 2017, 887 und 888; Freund/Shagdar, SGb 2018, 195; Hauck in Hennig, SGG, Stand September 2019, § 119 RdNr 9). Sie ist zeitlich einschlägig, da maßgeblich die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist (vgl oben II. 2.). Für die Verarbeitungen von Sozialdaten im Rahmen von nicht in den Anwendungsbereich der DSGVO fallenden Tätigkeiten finden die DSGVO und das SGB entsprechende Anwendung, soweit im SGB oder einem anderen Gesetz nichts Abweichendes geregelt ist (vgl § 35 Abs 2 Satz 2 SGB I). Es bedarf im Hinblick auf diese Auffangregelung keiner Vertiefung, ob die DSGVO unmittelbar für den Streit um die erlassene Aufsichtsanordnung gilt (vgl hierzu im Einzelnen BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 40/17 R - juris RdNr 29 mwN, zur Veröffentlichung in SozR 4-7650 Art 9 Nr 1 vorgesehen; BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 31/17 R - juris RdNr 15, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Art 9 Abs 2 Buchst h DSGVO (Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten) gestattet die grundsätzlich untersagte Verarbeitung von Gesundheitsdaten (zum Begriff vgl Art 4 Nr 15 DSGVO), sofern diese "für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- oder Sozialbereich oder für die Verwaltung von Systemen und Diensten im Gesundheits- oder Sozialbereich auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats oder aufgrund eines Vertrags mit einem Angehörigen eines Gesundheitsberufs (…) erforderlich" ist, wenn die in Art 9 Abs 3 DSGVO genannten Bedingungen und Garantien beachtet werden (Verarbeitung durch bzw unter Verantwortung von Fachpersonal, das einem Berufsgeheimnis unterliegt, oder durch eine andere Person, die nach Unionsrecht oder nationalem Recht einer Geheimhaltungspflicht unterliegt). Ergänzend sind für Gesundheitsdaten die im innerstaatlichen Recht zusätzlich statuierten Bedingungen und Beschränkungen zu beachten (Art 9 Abs 4 DSGVO). c) Die Beklagte übte das ihr eingeräumte Ermessen rechtmäßig aus, gegen die zutreffend festgestellte Rechtsverletzung einzuschreiten (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Sie traf - formal hinreichend begründet (§ 35 Abs 1 SGB X) - eine Ermessensentscheidung, hielt dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens ein und machte von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch. Die Beklagte übte ihr Entschließungsermessens rechtmäßig aus, die Klägerin zu verpflichten, die Verträge mit L & B zu kündigen. Die Begründung entspricht dem Zweck des Ermessens. Zu Recht führte die Beklagte aus, dass die Dienstleistungsverträge zur Durchführung der Programme ProGesundheit und ProVita einer Rechtsgrundlage entbehren, dass die Klägerin selbst nicht berechtigt sei, ein entsprechendes Versorgungsmanagement durchzuführen, dass die Klägerin wesentliche Aufgaben zur Versorgung der Versicherten ausgliedere (§ 197b SGB V) und den Datenschutz missachte (§ 284 SGB V). Der Erlass des Verpflichtungsbescheides war notwendig und auch verhältnismäßig, um die Rechtsverletzung abzustellen, insbesondere um Versichertenrechte zu wahren und eine Beeinträchtigung der Rechtsposition anderer KKn im Wettbewerb auszuschließen. Der Beklagten stand auch kein milderes Mittel zur Verfügung. Denn die Klägerin ließ alle Hinweise der Beklagten auf rechtskonforme Gestaltungsmöglichkeiten im aufsichtsrechtlichen Beratungsverfahren außer Acht. Die Beklagte musste sich nicht auf eine Verpflichtung zur Anpassung der Verträge beschränken. Sie sind in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Es ist Sache der Vertragsparteien zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie ihre Zusammenarbeit in rechtmäßiger Form fortsetzen wollen. 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 4 Nr 2, § 47 Abs 1 Satz 1 GKG.
bundessozialgericht
bsg_30 - 2019
25.07.2019
Dürfen Krankenkassen ihren Versicherten Extras wie besonderen Auslandskrankenschutz als Wahltarif anbieten? Ausgabejahr 2019 Nummer 30 Datum 25.07.2019 Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz erlaubt den gesetzlichen Krankenkassen seit April 2007, kraft Satzung Wahltarife für dort genannte Leistungen einzuführen. Seitdem besteht über die Reichweite dieser Möglichkeit Streit. Die beklagte Krankenkasse führte 2007 Wahltarife ein. Das klagende private Krankenversicherungsunternehmen begehrt von ihr Unterlassung. Hierüber wird der 1. Senat am Dienstag, dem 30. Juli 2019 ab 11.30 Uhr mündlich verhandeln und voraussichtlich entscheiden (Aktenzeichen B 1 KR 34/18 R). Die Beklagte erweiterte 2007 ihre Satzung um Wahltarife, die einen Anspruch der Versicherten auf Kostenerstattung für besondere Leistungen vorsahen. Dies betraf Leistungen im Ausland, Krankenhauszuzahlung, Ein- oder Zwei-Bett-Zimmer im Krankenhaus und Zahnersatz. Die Klägerin hat hiergegen nach erfolgloser Abmahnung Klage mit dem Ziel erhoben, der Beklagten zu untersagen, diese Wahltarife zu bewerben oder anzubieten oder durch Dritte bewerben oder anbieten zu lassen. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte 2012 weitere zur Kostenerstattung berechtigende Wahltarife für Zahngesundheit, häusliche Krankenpflege, Brillen und kieferorthopädische Behandlungen in ihre Satzung aufgenommen. Die Klägerin hat ihr Unterlassungsbegehren auch auf diese Leistungen erstreckt. Das Sozialgericht Dortmund hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat die Beklagte bis auf die Wahltarife für Zahngesundheit und häusliche Krankenpflege antragsgemäß zur Unterlassung verurteilt: Die vom Unterlassungsanspruch erfassten Wahltarife verletzten die Klägerin in ihrer Berufsausübungsfreiheit. Die Beklagte sei zu solchen Satzungsleistungen nicht ermächtigt. Wenn das Gesetz es Krankenkassen erlaube, über den gesetzlich bestimmten Leistungskatalog hinaus, zusätzliche Satzungsleistungen einzuführen, zähle es diese im Einzelnen auf. Das sei nur bei den Wahltarifen für Zahngesundheit und häusliche Krankenpflege der Fall. Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 53 Absatz 4 SGB V und Artikel 12 Absatz 1 GG. Die Klägerin rügt mit ihrer Anschlussrevision die Verletzung von § 11 Absatz 6 und § 37 Absatz 2 Satz 4 in Verbindung mit § 53 Absatz 4 SGB V. Hinweis auf Rechtsvorschriften § 11 Absatz 6 SGB V - Leistungsarten (…) (6) Die Krankenkasse kann in ihrer Satzung zusätzliche vom Gemeinsamen Bundesausschuss nicht ausgeschlossene Leistungen in der fachlich gebotenen Qualität im Bereich der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation (§§ 23, 40), der Leistungen von Hebammen bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§ 24d), der künstlichen Befruchtung (§ 27a), der zahnärztlichen Behandlung ohne die Versorgung mit Zahnersatz (§ 28 Absatz 2), bei der Versorgung mit nicht verschreibungspflichtigen apothekenpflichtigen Arzneimitteln (§ 34 Absatz 1 Satz 1), mit Heilmitteln (§ 32) und Hilfsmitteln (§ 33), im Bereich der häuslichen Krankenpflege (§ 37) und der Haushaltshilfe (§ 38) sowie Leistungen von nicht zugelassenen Leistungserbringern vorsehen. Die Satzung muss insbesondere die Art, die Dauer und den Umfang der Leistung bestimmen; sie hat hinreichende Anforderungen an die Qualität der Leistungserbringung zu regeln. Die zusätzlichen Leistungen sind von den Krankenkassen in ihrer Rechnungslegung gesondert auszuweisen. § 53 Absatz 4 SGB V - Wahltarife (…) (4) Die Krankenkasse kann in ihrer Satzung vorsehen, dass Mitglieder für sich und ihre nach § 10 mitversicherten Angehörigen Tarife für Kostenerstattung wählen. Sie kann die Höhe der Kostenerstattung variieren und hierfür spezielle Prämienzahlungen durch die Versicherten vorsehen. § 13 Absatz 2 Satz 2 und 3 gilt nicht. (…) § 194 SGB V - Satzung der Krankenkassen (…) (2) Die Satzung darf keine Bestimmungen enthalten, die den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung widersprechen. Sie darf Leistungen nur vorsehen, soweit dieses Buch sie zulässt.
Bundessozialgericht Urteil vom 30.07.2019, B 1 KR 34/18 R Krankenversicherung - Satzungsbefugnis der Krankenkassen - Ermächtigung zur Einführung von Kostenerstattungs-Wahltarifen - Unzulässigkeit der Ausweitung des gesetzlich zugelassenen Leistungsumfangs - allgemeiner öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch privater Krankenversicherungsunternehmen Leitsätze1. Erweitert eine Krankenkasse ohne gesetzliche Ermächtigung ihren Tätigkeitskreis durch Gestaltungsleistungen kraft Satzung, gibt der allgemeine öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch Unternehmen der privaten Krankenversicherung das Recht, ihr das Bewerben und Anbieten dieser Leistungen zu verbieten. 2. Die Ermächtigung, Kostenerstattungs-Wahltarife einzuführen, berechtigt Krankenkassen lediglich dazu, den Umfang gesetzlich zugelassener Kostenerstattung bis hin zur vollen Kostenübernahme zu erhöhen. TenorDie Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2018 wird zurückgewiesen. Auf die Anschlussrevision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2018 geändert. Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Februar 2014 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, es auch zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr ihren Versicherten Versicherungsleistungen in Form von Wahltarifen mit Kostenerstattung für die in §§ 33 und 34 der Satzung der Beklagten geregelten Leistungen anzubieten oder anbieten zu lassen oder zu bewerben oder bewerben zu lassen. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits. Der Streitwert wird für alle Instanzen auf 2 500 000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten über zur Kostenerstattung berechtigende Wahltarife in einer Krankenkassensatzung. Die beklagte Krankenkasse (KK) änderte ihre Satzung (mWv 1.4.2007, mit landesaufsichtsrechtlicher Genehmigung) und regelte zur Kostenerstattung berechtigende Wahltarife für Leistungen im Ausland (§ 26 Satzung), Krankenhauszuzahlung iS von § 39 Abs 4 SGB V (§ 27 Satzung), Ein- oder Zwei-Bett-Zimmer im Krankenhaus (§ 28 Satzung) und Zahnersatz (§ 29 Satzung). Die klagende Rechtsträgerin eines private Krankenvoll- und zusatzversicherungen anbietenden Unternehmens hat hiergegen nach erfolgloser Abmahnung Klage mit dem Ziel erhoben, der Beklagten zu untersagen, diese Wahltarife zu bewerben oder anzubieten oder durch Dritte bewerben oder anbieten zu lassen. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte weitere zur Kostenerstattung berechtigende Wahltarife für Zahngesundheit (§ 33 Satzung), häusliche Krankenpflege (§ 34 Satzung), Brillen (§ 34a Satzung) und kieferorthopädische Behandlungen (§ 35 Satzung) in ihre Satzung aufgenommen (mWv 1.7.2012, mit landesaufsichtsrechtlicher Genehmigung). Die Klägerin hat ihr Unterlassungsbegehren auch auf diese Leistungen erstreckt. Das SG hat die Klage abgewiesen, da das Gesetz (§ 53 Abs 4 SGB V) die Beklagte zu den Wahltarifen kraft Satzung ermächtige (Urteil vom 26.2.2014). Das LSG hat die Beklagte antragsgemäß zur Unterlassung verurteilt bis auf die Wahltarife für Zahngesundheit und häusliche Krankenpflege. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen: Die zu unterlassenden Wahltarife verletzten die Klägerin in ihrer Berufsausübungsfreiheit (Art 12 Abs 1 GG). Das Gesetz ermächtige grundsätzlich nicht zu solchen Wahltarifen kraft Satzung, mache aber für die Leistungen Zahngesundheit und häusliche Krankenpflege in § 11 Abs 6 SGB V eine Ausnahme (Urteil vom 14.6.2018). Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 53 Abs 4 SGB V und Art 12 Abs 1 GG. Ziel des Gesetzes sei es, die Wettbewerbsfähigkeit der KKn durch Angebotsdifferenzierung und Wahlmöglichkeiten zu stärken. Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2018 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Februar 2014 zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Die Klägerin rügt die Verletzung von § 11 Abs 6 und § 37 Abs 2 Satz 4 iVm § 53 Abs 4 SGB V. Die Beklagte könne die Wahltarife für Zahngesundheit und häusliche Krankenpflege nicht auf § 11 Abs 6 SGB V stützen. Satzungsleistungen nach dieser Vorschrift stünden allen Versicherten ohne Prämienzahlung zu. Die Klägerin beantragt - im Wege der Anschlussrevision -, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 2018 zu ändern, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26. Februar 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, es auch zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr ihren Versicherten Versicherungsleistungen in Form von Wahltarifen mit Kostenerstattung für die in §§ 33 und 34 der Satzung der Beklagten geregelten Leistungen anzubieten oder anbieten zu lassen oder zu bewerben oder bewerben zu lassen. Die Beklagte beantragt, die Anschlussrevision der Klägerin zurückzuweisen. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet; die zulässige Anschlussrevision (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 554 ZPO) der Klägerin ist dagegen begründet. Das LSG-Urteil ist zu ändern. Das erstinstanzliche Urteil ist auch aufzuheben, soweit das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen hat. Die zulässige Klage (dazu 1.) ist in vollem Umfang begründet. Die Beklagte hat es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr ihren Versicherten Versicherungsleistungen anzubieten oder anbieten zu lassen oder zu bewerben oder bewerben zu lassen in Form von Kostenerstattungstarifen für Leistungen im Ausland (§ 26 Satzung), Krankenhauszuzahlung iS von § 39 Abs 4 SGB V (§ 27 Satzung), Ein- oder Zwei-Bett-Zimmer im Krankenhaus (§ 28 Satzung), Zahnersatz (§ 29 Satzung), Brillen (§ 34a Satzung), kieferorthopädische Behandlungen (§ 35 Satzung), Zahngesundheit (§ 33 Satzung) und häusliche Krankenpflege (§ 34 Satzung - dazu 2.). Müsste der erkennende Senat noch den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit prüfen (vgl aber § 17a Abs 5 GVG), würde er ihn bejahen. Es liegt eine der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesene öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor. Nach § 51 Abs 1 Nr 2 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auch, soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen sind. Dies gilt auch für Dritte, die nicht an den streitigen Maßnahmen beteiligt sind (vgl Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Entwurf eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen - Gesundheitsreformgesetz - GRG, BT-Drucks 11/3480 S 77 Zu Nummer 3 § 51 Abs 2 Satz 1; dort insbesondere zu Verträgen mit Leistungserbringern). Die auf § 53 Abs 4 SGB V gestützte Einführung von Wahltarifen für GKV-Versicherte ist eine Angelegenheit der GKV. Dies gilt auch dann, wenn Dritte - wie die Klägerin, die in der Rechtsform eines VVaG private Zusatzkrankenversicherungen anbietet - dadurch betroffen sind, dass GKV-Versicherte, die sich für einen Wahltarif entscheiden, keine private Krankenzusatzversicherung über vergleichbare Leistungen bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen mehr abschließen werden. Der wettbewerblich geprägte Charakter der Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten steht dem nicht entgegen. Kern des Rechtsstreits ist der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch, mangels öffentlich-rechtlicher Berechtigung nach § 53 Abs 4 SGB V den Leistungskatalog zugunsten Versicherter durch Wahltarife aufgrund autonomen Satzungsrechts zu erweitern (BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 23 unter Hinweis auf BGH Beschluss vom 9.11.2006 - I ZB 28/06 - NJW 2007, 1819, 1820, RdNr 13). 1. Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin, die sich in einem Gleichordnungsverhältnis mit der Beklagten befindet, macht den Unterlassungsanspruch zu Recht mit der allgemeinen Leistungsklage in Gestalt der Unterlassungsklage geltend (§ 54 Abs 5 SGG; zur Unterlassungsklage als Unterfall der Leistungsklage vgl BSGE 105, 1 = SozR 4-2500 § 125 Nr 5, RdNr 17; zum - hier auch erfüllten - qualifizierten Rechtsschutzinteresse als Voraussetzung für eine vorbeugende Unterlassungsklage vgl BSGE 118, 301, RdNr 9 ff mwN; BSG SozR 4-3300 § 115 Nr 2 RdNr 9 mwN; BSG Urteil vom 15.11.1995 - 6 RKa 17/95 - juris RdNr 15 mwN = USK 95139; BSG Urteil vom 28.1.1993 - 2 RU 8/92 - juris RdNr 17 mwN = USK 93117; BSG SozR 2200 § 368n Nr 34 S 112 mwN). Die Klägerin begehrt, Handlungen zu unterlassen, die auf die Aufnahme weiterer Versicherter der Beklagten in die von der Klägerin benannten Wahltarife abzielen. Die Klägerin kann dieses Begehren, das darauf gerichtet ist, andauernde schlicht-hoheitliche Vorbereitungshandlungen der Beklagten durch das Gericht untersagen zu lassen, nur mittels Unterlassungsklage gegen die Beklagte durchsetzen. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, hat die Klägerin keinen Anspruch gegen die für die Beklagte zuständige Aufsichtsbehörde, mit aufsichtsrechtlichen Maßnahmen gegen die von der Klägerin beanstandeten Wahltarife der Beklagten vorzugehen (vgl BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33). Die Klägerin ist auch klagebefugt. Hierfür genügt es, wenn die Verletzung subjektiver Rechte der Klägerin als möglich erscheint. Die Klagebefugnis fehlt nur dann, wenn dem Kläger das geltend gemachte Recht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zustehen kann (stRspr, vgl zB BSGE 26, 237, 238 f = SozR Nr 112 zu § 54 SGG Bl Da 35; BSG SozR 3-2600 § 149 Nr 6 S 16; BSGE 75, 262, 265 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2 S 15; BSG SozR 3-8570 § 8 Nr 7 S 41; BSGE 84, 67, 69 f = SozR 3-4300 § 36 Nr 1 S 4 f; BSG SozR 4-1710 Art 23 Nr 1 RdNr 21; BSGE 124, 47 = SozR 4-6050 Art 17 Nr 1 RdNr 17 mwN; BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 97 RdNr 18, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Der Klägerin stehen die drittschützenden Regelungen des § 11 Abs 6, § 37 Abs 2 Satz 4 und § 53 Abs 4 SGB V zur Seite, auf die sie ihren Unterlassungsanspruch stützen kann (näher dazu unten 2. b). 2. Die Klägerin hat in vollem Umfang Anspruch auf die geltend gemachte Unterlassung. Erweitert eine KK ohne gesetzliche Ermächtigung ihren Tätigkeitskreis durch Gestaltungsleistungen kraft Satzung, hat ein Unternehmen der privaten Krankenversicherung (PKV) aufgrund des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs das Recht, ihr das Bewerben und Anbieten gerichtlich untersagen zu lassen (dazu a). Die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs sind erfüllt. Die Regelungen über Gestaltungsleistungen für KKn in Form von Wahltarifen und anderen satzungsmäßigen Leistungserweiterungen sind für die Unternehmen der PKV drittschützend (dazu b). Die Beklagte handelt mit ihrem streitgegenständlichen Leistungsangebot schlicht-hoheitlich (dazu c). Sie verletzt Rechte der Klägerin aus den gesetzlichen Grenzen für Wahlleistungen (dazu d) und für andere Gestaltungsleistungen kraft Satzung (dazu e). a) Rechtsgrundlage für das Klagebegehren ist der allgemeine öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch (vgl bereits BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 23, zur Unterlassungsklage der Klägerin gegen die Beklagte; BSG SozR 4-2500 § 133 Nr 6 RdNr 39 mwN, zu Unterlassungsansprüchen von Dritten gegenüber KKn). Der Unterlassungsanspruch setzt voraus, dass eine hoheitliche Maßnahme des Unterlassungspflichtigen in Gestalt eines schlicht-hoheitlichen Verwaltungshandelns rechtswidrig ein subjektives Recht des Unterlassung begehrenden Rechtsinhabers beeinträchtigt und diese Verletzung andauert oder die Gefahr der Wiederholung mit der begründeten Besorgnis besteht, der Unterlassungspflichtige werde auch künftig durch sein hoheitliches Handeln rechtswidrig in die geschützte Rechts- und Freiheitssphäre des Rechtsinhabers eingreifen. Jedes subjektive Recht kann Schutzgegenstand des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs sein (vgl BVerwG Urteil vom 26.8.1993 - 4 C 24/91 - juris RdNr 24 = BVerwGE 94, 100, 104, dort zum Folgenbeseitigungsanspruch), sei es grundrechtlich oder einfachrechtlich ausgestaltet (vgl zB BGH Beschluss vom 28.6.2018 - AnwZ <Brfg> 5/18 - juris RdNr 4 = NJW 2018, 2645, RdNr 4; BVerwG Urteil vom 22.10.2014 - 6 C 7/13 - juris RdNr 20 = Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr 104; BVerwG Urteil vom 21.5.2008 - 6 C 13/07 - BVerwGE 131, 171, RdNr 13). Um ein einfachrechtliches subjektives Recht zu begründen, muss die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz desjenigen dienen, der den öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch geltend macht (vgl allgemein zum Erfordernis des Schutzes individueller rechtlicher Interessen BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr 32, RdNr 12 mwN; BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 16 mwN). Nach der sogenannten Schutznormtheorie vermitteln nur solche Rechtsvorschriften subjektive Rechte, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte dienen. Das gilt für Normen, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lassen. Ob eine Norm drittschützend in diesem Sinne ist oder allein im öffentlichen Interesse besteht, muss durch Auslegung ermittelt werden (vgl BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr 32, RdNr 14 f; BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 16 mwN; BVerwG Urteil vom 28.3.2019 - 5 CN 1/18 - juris RdNr 19 und BVerwG Urteil vom 11.10.2016 - 2 C 11/15 - BVerwGE 156, 180, RdNr 27). b) Drittschützende verletzte Rechtsnormen, auf die sich die Klägerin stützen kann, sind die Regelungen über Gestaltungsleistungen für KKn in Form von Wahltarifen (§ 53 Abs 4 SGB V) und anderen satzungsmäßigen Leistungserweiterungen (hier insbesondere § 11 Abs 6 und § 37 Abs 2 Satz 4 SGB V). Dies harmoniert mit dem sich aus Art 12 Abs 1 GG ergebenden Grundrechtsschutz der privaten Krankenversicherungsunternehmen. Indem der Gesetzgeber selektiv und abschließend den KKn ermöglicht, zusätzliche Gestaltungsleistungen in ihren Satzungen vorzusehen, schützt er zugleich die Unternehmen der PKV vor anderen, von ihm nicht autorisierten Tätigkeitsfeldern der KKn kraft Selbstermächtigung durch Satzung. Anders als bei Überschreitungen der Grenzen des GKV-Leistungskatalogs durch KKn im Einzelfall geht es um generelle Grenzen der Tätigkeit von Trägern der GKV, die diese auch im Interesse der Unternehmen der PKV zu achten haben. Die gesetzlichen Satzungsermächtigungen (ua § 11 Abs 6, § 37 Abs 2 Satz 4 und § 53 Abs 4 SGB V) haben den Zweck, die Kompetenzen der KKn generell festzulegen, zusätzliche Leistungsansprüche mittels Satzungsrechts über den für alle Versicherten aller KKn geltenden GKV-Leistungskatalog hinaus zu begründen, diese aber zugleich auch im Interesse der Unternehmen der PKV zu begrenzen. Der bestimmte und abgrenzbare Kreis der hierdurch Berechtigten sind solche Unternehmen der PKV, die entsprechende Leistungen anbieten können. Das nicht bloß rechtsreflexhafte, sondern spezifisch rechtlich geschützte wirtschaftliche Interesse der Unternehmen der PKV beruht auf der gesetzlich verankerten Systemabgrenzung für Gestaltungsleistungen kraft Satzung zwischen GKV und PKV. Sie betrifft insbesondere Ermächtigungen zu satzungsmäßigen Leistungserweiterungen (vgl etwa § 11 Abs 6 SGB V). Diese Gestaltungsleistungen kraft Satzung erfassen alle Versicherten der jeweiligen KK und werden durch ohnehin zu leistende Beiträge finanziert. Hiermit - aber auch nur insoweit - eröffnen sich die KKn mit öffentlich-rechtlichen Mitteln vom Gesetzgeber zugelassene Tätigkeitsfelder, die faktisch die Unternehmen der PKV aus diesem Marktsegment herausdrängen. Kaum ein Versicherter dürfte für eine deckungsgleiche Absicherung eine weitere Versicherung abschließen, soweit er sie nicht ohne ersichtliche Zusatzkosten als "Plus" erhält (vgl zu Letzterem zB BSG SozR 4-7610 § 812 Nr 8, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Die genannte Systemabgrenzung betrifft ebenso Wahltarife (§ 53 SGB V). Die sich aus der Satzungsermächtigung ergebende, die PKV schützende Abgrenzungsfunktion gilt auch hier. Im Gegensatz zu den Ermächtigungen zu satzungsmäßigen Leistungserweiterungen konkurrieren bei Wahltarifen regelmäßig KKn und Unternehmen der PKV, soweit letztere vergleichbare Tarife anbieten. Die GKV-Versicherten haben die Möglichkeit, sich bei ihrer KK den Zugang zu leistungserweiternden Wahltarifen durch eine eigenständige Prämienzahlung zu erkaufen. Sie können sich aber auch für von der PKV angebotene entsprechende Zusatzversicherungen entscheiden oder ganz davon Abstand nehmen. Die KKn dürfen in dieses Feld auch im Interesse der Unternehmen der PKV nur im Rahmen der durch das SGB V definierten Tätigkeitsregelungen eintreten. Im Übrigen konkurrieren lediglich Unternehmen der PKV um Zusatzversicherungen. Soweit Unternehmen der PKV Zusatzversicherungen anbieten können, müssen sie es nicht hinnehmen, dass sich KKn ihnen verschlossene Tätigkeitsfelder unter Verstoß gegen gesetzliche Vorgaben für Wahlleistungen im Wege selbst gesetzten Satzungsrechts eröffnen. Auch das Regelungssystem unterstreicht den drittschützenden Gehalt der Norm. Nach der Gesetzessystematik unterscheidet das Gesetz bewusst auch im Interesse der Unternehmen der PKV zwischen Wahlleistungen der KKn als Leistungen der GKV und der Vermittlung von privaten Zusatzversicherungen durch KKn durch "Ergänzungstarife zur Kostenerstattung" (vgl § 194 Abs 1a Satz 2 SGB V idF durch Art 1 Nr 12a Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Finanzierungsgesetz - GKV-FinG> vom 22.12.2010, BGBl I 2309). Die zu vermittelnden privaten Zusatzversicherungen dürfen die GKV-Leistungen der jeweiligen KK lediglich ergänzen, sich mit ihnen aber nicht überschneiden. Sie beziehen sich in diesem Sinne gerade nicht auf Leistungen der GKV. Der drittschützende Gehalt der Regelungen über Gestaltungsleistungen kraft Satzung zugunsten von Unternehmen der PKV unterscheidet sich von der den Unternehmen der PKV keinen Drittschutz vermittelnden Systemabgrenzung mittels Zuweisung von Versicherten zu diesen Systemen verbunden mit Wahlmöglichkeiten, sich für eine die Versicherung in der GKV substituierende private Krankenversicherung zu entscheiden. Die Zuweisung der Versicherten zur GKV erfolgt allein im öffentlichen Interesse durch die Regelungen der §§ 5 ff SGB V. Gleiches gilt für die den Einzelfall betreffenden unmittelbaren gesetzlichen Grenzen des GKV-Leistungskatalogs. c) Die Beklagte handelt schlicht-hoheitlich, indem sie Gestaltungsleistungen kraft Satzung in Form der angegriffenen Kostenerstattungstarife anbietet oder anbieten lässt, bewirbt oder bewerben lässt. KKn erfüllen ihre öffentlich-rechtlichen Leistungspflichten gegenüber ihren Versicherten in aller Regel, indem sie diese durch zugelassene Leistungserbringer aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Leistungsbeziehung erbringen lassen (vgl § 2 Abs 2 Satz 3 SGB V; § 69 SGB V; stRspr, vgl zB BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 15; BSGE 105, 157 = SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 12 ff; BSGE 106, 303 = SozR 4-2500 § 129 Nr 6, RdNr 13 mwN; BSGE 109, 116 = SozR 4-2500 § 125 Nr 7, RdNr 11; BSG SozR 4-2500 § 133 Nr 6 RdNr 17, alle mwN). KKn handeln dabei nicht als privatrechtliche Unternehmen und sind keine Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts, sondern erfüllen Aufgaben mit ausschließlich sozialem Charakter. Dies gilt auch, soweit sie Wahltarife anbieten (vgl BSGE 106, 199 = SozR 4-2500 § 53 Nr 1, RdNr 23 ff). Werden sie - wie hier die Beklagte - auf der Grundlage von autonomem Satzungsrecht tätig, geht der hoheitliche Charakter ihrer Tätigkeit nicht dadurch verloren, dass Streit darüber besteht, ob das Satzungsrecht durch die angeführte gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist. d) Die Beklagte überschreitet mit den angegriffenen Wahltarifen nach §§ 26, 27, 28, 29, 33, 34, 34a und 35 Satzung die Grenzen der hierfür allein in Betracht kommenden Ermächtigungsgrundlage des § 53 Abs 4 SGB V. Diese gesetzliche Ermächtigung gewährt der Beklagten kein Recht, sich die in den angegriffenen Satzungsbestimmungen geregelten Leistungsfelder kraft Satzung zu erschließen. Die Regelung berechtigt die KKn lediglich dazu, in Fällen einer an anderer Stelle im SGB V, insbesondere in § 13 Abs 2 und 4 SGB V, geregelten Kostenerstattung abweichend von dem dort vorgegebenen Umfang der Kostenerstattung einen höheren Kostenerstattungssatz bis hin zur vollen Kostenerstattung vorzusehen. Die Rechtsnorm eröffnet Versicherten im Wege der Gestaltung kraft Satzung einen Zugang zur Kostenerstattung mit eigenen Sätzen entweder für alle Leistungsbereiche oder für einzelne Bereiche (ärztliche, zahnärztliche, stationäre Versorgung, veranlasste Leistungen; § 13 Abs 2 Satz 4 SGB V) des GKV-Leistungskatalogs. Solche Wahltarife können durch Kostenerstattungsverfahren nach § 13 Abs 2 SGB V begründete finanzielle Belastungen Versicherter verringern oder vermeiden. Die Norm des § 53 Abs 4 SGB V gibt den KKn hingegen kein Recht, den Versicherten in Wahltarifen den Zugang zu zusätzlichen anderen Leistungen jenseits des durch den GKV-Leistungskatalog vorgegebenen Rahmens zu eröffnen. Dies folgt aus Wortlaut (dazu aa), Regelungssystem (dazu bb) und Regelungszweck (dazu cc), ohne dass aus der Entstehungsgeschichte sich etwas Gegenteiliges ergibt (dazu dd). aa) Schon der Wortlaut zeigt, dass die Regelung die KKn nicht ermächtigt, der Art nach neue zusätzliche Leistungsansprüche jenseits des GKV-Leistungskatalogs zu schaffen. § 53 Abs 4 SGB V bestimmt: Die KK kann in ihrer Satzung vorsehen, dass Mitglieder für sich und ihre nach § 10 SGB V mitversicherten Angehörigen Tarife für Kostenerstattung wählen. Sie kann die Höhe der Kostenerstattung variieren und hierfür spezielle Prämienzahlungen durch die Versicherten vorsehen. § 13 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB V gilt nicht. Die Vorschrift nennt in ihrem Satz 1 nur Tarife für Kostenerstattung als Gegenstand des Wahltarifs. Die Kostenerstattung als solche bezieht sich lediglich auf das Verfahren, wie die KKn Versicherte mit bestehenden GKV-Leistungen versorgen können, nicht hingegen darauf, dass dies mit zusätzlichen Leistungen zulässig ist. Satz 2 verdeutlicht als inhaltliche Vorgabe, dass die KK die Höhe der Kostenerstattung variieren kann. Von zusätzlichen, inhaltlich den Leistungskatalog erweiternden Leistungsansprüchen ist dagegen keine Rede. bb) Der Gesetzgeber verbindet rechtssystematisch mit "Tarifen für Kostenerstattung" ein enges, rein quantitatives Verständnis iS der Schließung oder Reduzierung von Kostendeckungslücken, nicht aber eine Ausdehnung des GKV-Leistungskatalogs. Bereits die Binnenstruktur des § 53 Abs 4 SGB V spricht hierfür. Die Sätze 2 (Variieren der Höhe der Kostenerstattung mit speziellen Prämienzahlungen) und 3 (Nichtgeltung von § 13 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB V) fügen sich zu einem harmonischen Ganzen mit Satz 1 zusammen, wenn Wahltarife für Kostenerstattung nur prämienabhängige Modifikationen der Höhe der Kostenerstattung betreffen. Dies bestätigt auch die Gesetzessystematik im Zusammenhang mit der Vermittlung von privaten Zusatzversicherungen durch KKn. Das Gesetz verwendet die Formulierung "Ergänzungstarife zur Kostenerstattung" in § 194 Abs 1a Satz 2 SGB V. Sie ist fast wortgleich mit der Regelung des § 53 Abs 4 SGB V. Das GKV-FinG hat sie zur Klarstellung eingefügt (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit - 14. Ausschuss - BT-Drucks 17/3696 S 47, Zu Nummer 12a - neu - <§ 194>). Sie steht dort neben den anderen bereits "insbesondere" aufgezählten weiteren Leistungsarten (Wahlarztbehandlung im Krankenhaus, Ein- oder Zweibettzuschlag im Krankenhaus, Auslandskrankenversicherung; § 194 Abs 1a Satz 2 SGB V idF durch Art 1 Nr 136 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung <GKV-Modernisierungsgesetz - GMG> vom 14.11.2003, BGBl I 2190). All diese Gegenstände der Ergänzungstarife zur Kostenerstattung beziehen sich nicht auf GKV-Leistungen der jeweiligen KK (vgl oben, RdNr 18). Auch das Gesamtregelungssystem des SGB V schließt eine Generalermächtigung zur Ausdehnung des GKV-Leistungskatalogs kraft Satzung aus. Die Satzung darf Leistungen nur vorsehen, soweit das SGB V sie "zulässt" (vgl § 194 Abs 2 Satz 2 SGB V und hierzu BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 16). Hiernach dürfen die Träger der GKV nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben einschließlich der Verwaltungskosten verwenden (vgl § 30 Abs 1 SGB IV). Der Gesetzgeber beachtet konsequent diese sich selbst auferlegte Grenzziehung. Grundsätzlich legt das Gesetz selbst die Leistungen der GKV fest (§§ 11 ff SGB V), mag sich der konkrete Individualanspruch des Versicherten auch erst in seiner Reichweite und Gestalt aus dem Zusammenspiel mit weiteren gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsnormen ergeben. Der Satzungsgeber hat aufgrund gesetzlicher Öffnungen für freiwillige Leistungen jeweils nur ein begrenztes, vom Gesetz eröffnetes Gestaltungsfeld (vgl BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 18 f mwN). Das SGB V sieht nur für konkret definierte Fallgestaltungen oder einzelne, eng gefasste Leistungsbereiche Satzungsermächtigungen vor (vgl zum Ganzen BSGE 117, 236 = SozR 4-2500 § 11 Nr 2, RdNr 11 ff, 13). Soweit die einzelne KK selbst ausnahmsweise Leistungen ausgestalten darf, will der Gesetzgeber damit keinen Freibrief ausstellen, um ein gesetzesunabhängiges Leistungsrecht kraft Satzung zu schaffen. Der Satzungsgeber hat aufgrund gesetzlicher Öffnungen für Gestaltungsleistungen vielmehr jeweils nur ein begrenztes, vom Gesetz eröffnetes Gestaltungsfeld. Grundlegende Umgestaltungen bleiben dem Gesetzgeber vorbehalten (vgl zum Ganzen BSGE 117, 236 = SozR 4-2500 § 11 Nr 2, RdNr 13 mwN; BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 19; BSG Urteil vom 28.5.2019 - B 1 A 1/18 R - juris RdNr 14, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen). Die Regelung des Wahltarifs Kostenerstattung (§ 53 Abs 4 SGB V) umschreibt keinen konkreten sachlichen Leistungsbereich, sondern eröffnet mit der Höhe der Kostenerstattung einen rein quantitativen Gestaltungsbereich. Im Unterschied hierzu gibt der Gesetzgeber in den Regelungen des SGB V, die den KKn ermöglichen, kraft Satzung den GKV-Leistungskatalog ergänzendes Leistungsrecht zu schaffen, regelmäßig konkret den sachlichen Leistungsrahmen vor, innerhalb dessen KKn ihren Versicherten zusätzliche Leistungsansprüche einräumen dürfen. Dies trifft sowohl auf die Regelung des § 11 Abs 6 SGB V zu als auch auf jene des § 20i Abs 2, § 23 Abs 2 Satz 2, § 27b Abs 6, § 38 Abs 2, § 47 Abs 3, § 53 Abs 3, 5 und 6, § 65a Abs 1 und 2, § 68 Satz 2, § 73b Abs 3 Satz 8, § 140a Abs 4 Satz 6 sowie § 194 Abs 1a SGB V. Soweit das SGB V hingegen zu Satzungsregelungen ohne einen konkreten Bezug zu einzelnen Leistungsbereichen ermächtigt (vgl zB § 14 Abs 1, § 53 Abs 1, 2 und 7 SGB V), handelt es sich gerade um explizit quantitative Regelungen, die den KKn keine Befugnis zur Schaffung neuer, den GKV-Leistungskatalog inhaltlich erweiternder Satzungsleistungen geben. cc) Es entspricht auch dem Regelungszweck des § 53 Abs 4 SGB V, die Höhe der Kostenerstattung in der Satzung der KK zu regeln. Die Norm bezweckt, die Wettbewerbsposition der KKn gegenüber der PKV zu stärken (Begründung des Entwurfs eines GKV-WSG der Fraktionen der CDU/CSU und SPD BT-Drucks 16/3100 S 108 f). Damit können sich Versicherte einen den Privatversicherten angenäherten Status ganz oder für Teilbereiche (zB ambulante Behandlung) verschaffen. Dies kann freiwillig Versicherte von einem Wechsel zur PKV abhalten. Sie können auf diesem Wege eine Kostenunterdeckung bei gewillkürter Kostenerstattung vermeiden, wenn sie wie Privatversicherte ärztliche Leistungen nachfragen und zB einen höheren als den einfachen Satz nach GOÄ/GOZ vereinbaren (vgl zur Kostendeckelung und -begrenzung ohne Wahltarif § 13 Abs 2 Satz 8 und Satz 10 SGB V; zur Gestaltung der Kostenerstattungshöhe vgl ebenfalls BT-Drucks 16/3100 S 108 f, zu § 53 Abs 4 SGB V). dd) Die Entstehungsgeschichte der Norm gibt keinen Hinweis darauf, dass sie KKn ermächtigen sollte, Leistungen als Wahltarifleistungen ihren Versicherten anzubieten, die nicht Gegenstand des GKV-Leistungskatalogs sind, aber von der PKV angeboten werden dürfen (vgl erneut BT-Drucks 16/3100 S 108 f zu § 53 Abs 4 SGB V). Die Gesetzesbegründung führt lediglich als Beispiel für eine Stärkung der Wettbewerbsposition der KKn gegenüber der PKV an, die Höhe der Kostenerstattung könne variabel gestaltet werden, etwa durch Erstattung des 2,3-fachen Satzes nach GOÄ/GOZ. Sie weist in ihrem Allgemeinen Teil darauf hin, dass die Möglichkeiten für Versicherte, Kostenerstattung zu wählen, flexibilisiert und entbürokratisiert würden (BT-Drucks 16/3100 S 87). Auch der Bundesrat bezog die Regelung des § 53 Abs 4 SGB V nur auf § 13 Abs 2 SGB V. Er wollte erreichen, entsprechend der Regelung in § 53 Abs 4 Satz 2 SGB V eine gestufte Prämienzahlung durch Versicherte als Wahltarif auch bei § 53 Abs 3 SGB V "im Sachleistungsbereich" vorzusehen (vgl Stellungnahme des BRats zum GKV-WSG-Entwurf, BT-Drucks 16/3950 Anlage 2 S 14 "18. Zu Artikel 1 Nr 33"). e) Die Beklagte überschreitet auch mit den angegriffenen Wahltarifen mit Kostenerstattung für Zahngesundheit (§ 33 Satzung) und häusliche Krankenpflege (§ 34 Satzung) die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen. Das SGB V eröffnet KKn allerdings die Möglichkeit, zusätzliche Satzungsleistungen ua im Bereich der zahnärztlichen Behandlung ohne die Versorgung mit Zahnersatz und im Bereich der häuslichen Krankenpflege zu regeln (vgl § 11 Abs 6 Satz 1 SGB V). Die Satzung kann bestimmen, dass die KK zusätzlich zur Behandlungspflege nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V als häusliche Krankenpflege auch Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung erbringt (vgl § 37 Abs 2 Satz 4 SGB V, eingefügt als Satz 3 durch Art 1 Nr 22 Buchst b DBuchst bb GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378 mWv 1.4.2007; früherer Satz 3 jetzt Satz 4 gemäß Art 5 Nr 4 Buchst a Gesetz zur Änderung medizinprodukterechtlicher und anderer Vorschriften vom 14.6.2007, BGBl I 1066 mWv 1.4.2007). Die Satzung kann dabei Dauer und Umfang der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung nach Satz 4 bestimmen (vgl § 37 Abs 2 Satz 5 SGB V - früher Satz 4: eingefügt als Satz 4 durch Art 1 Nr 22 Buchst b DBuchst cc GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378 mWv 1.4.2007; früherer Satz 4 jetzt Satz 5 gemäß Art 5 Nr 4 Buchst b Gesetz vom 14.6.2007, BGBl I 1066 mWv 1.4.2007). Diese gesetzlichen Ermächtigungen gewähren der Beklagten aber kein Recht, diese Leistungsfelder kraft Satzung in Form von Wahltarifen zu regeln. Die genannten Gestaltungsleistungen müssen vielmehr allen Versicherten der KK offen stehen, die diese in ihrer Satzung vorsieht (vgl Senatsurteil vom 28.5.2019 - B 1 A 1/18 R - RdNr 12 und 15, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, Abs 4 Nr 2 sowie § 47 Abs 1 GKG.
bundessozialgericht
bsg_44 - 2019
02.10.2019
Aktienrechtliche Schweigepflicht einer Krankenkassen-Arbeitsgemeinschaft gegenüber der Aufsichtsbehörde? Ausgabejahr 2019 Nummer 44 Datum 02.10.2019 Darf ein Zusammenschluss von Krankenkassen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft, wenn sie eine Arbeitsgemeinschaft ist, gegenüber der Aufsichtsbehörde aufgrund aktienrechtlicher Pflichten schweigen? Darüber beabsichtigt der 1. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Oktober 2019 ab 13.10 Uhr mündlich zu verhandeln und zu entscheiden (Aktenzeichen B 1 A 1/19 R). Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse, ist zusammen mit anderen Krankenkassen Aktionärin der beigeladenen Aktiengesellschaft. Die Aktiengesellschaft führt für ihre Aktionäre insbesondere strukturierte Behandlungsprogramme (Disease-Management-Programme) bei Versicherten durch. Die beklagte Bundesrepublik forderte als unter anderem für die Klägerin und die Beigeladene zuständige Aufsichtsbehörde vergeblich von der Aktiengesellschaft und einer Aktionärin Auskünfte, da auch die Beigeladene als Arbeitsgemeinschaft staatlicher Aufsicht unterliege. Diese beriefen sich darauf, Vorstände und Aufsichtsratsmitglieder der Aktiengesellschaft seien aktienrechtlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Die Beklagte verpflichtete nach erfolgloser aufsichtsrechtlicher Beratung in gesonderten zeitgleichen Bescheiden die Klägerin und alle anderen bundesunmittelbaren Krankenkassen, die Aktionäre der Beigeladenen waren, die Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden gegenüber der Beigeladenen anzuerkennen und auf die Aufnahme einer Bestimmung in die Satzung der Beigeladenen hinzuwirken, wonach diese Auskunfts- und Vorlageansprüche der für ihre Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörden erfüllen werde. Die Klägerin ist mit ihrer als Musterstreitverfahren geführten Klage gegen die Aufsichtsanordnung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ohne Erfolg geblieben. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Anordnung stehe mit dem maßgeblichen Aufsichtsrecht in Einklang. Dagegen wendet sich die Beigeladene mit ihrer Revision. Hinweis auf Rechtsvorschriften: § 94 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsgemeinschaften … (1a) 1Träger der Sozialversicherung, Verbände von Trägern der Sozialversicherung und die Bundesagentur für Arbeit einschließlich der in § 19a Abs. 2 des Ersten Buches genannten anderen Leistungsträger können insbesondere zur gegenseitigen Unterrichtung, Abstimmung, Koordinierung und Förderung der engen Zusammenarbeit im Rahmen der ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben Arbeitsgemeinschaften bilden. 2Die Aufsichtsbehörde ist vor der Bildung von Arbeitsgemeinschaften und dem Beitritt zu ihnen so rechtzeitig und umfassend zu unterrichten, dass ihr ausreichend Zeit zur Prüfung bleibt. 3Die Aufsichtsbehörde kann auf eine Unterrichtung verzichten. (2) 1Können nach diesem Gesetzbuch Arbeitsgemeinschaften gebildet werden, unterliegen diese staatlicher Aufsicht, die sich auf die Beachtung von Gesetz und sonstigem Recht erstreckt, das für die Arbeitsgemeinschaften, die Leistungsträger und ihre Verbände maßgebend ist; die §§ 85, 88, 90 und 90a des Vierten Buches gelten entsprechend; ist ein Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen oder die Bundesagentur für Arbeit Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft, führt das zuständige Bundesministerium in Abstimmung mit den für die übrigen Mitglieder zuständigen Aufsichtsbehörden die Aufsicht. 2Fehlt ein Zuständigkeitsbereich im Sinne von § 90 des Vierten Buches, führen die Aufsicht die für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörden oder die von der Landesregierung durch Rechtsverordnung bestimmten Behörden des Landes, in dem die Arbeitsgemeinschaften ihren Sitz haben; die Landesregierungen können diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die obersten Landesbehörden weiter übertragen. § 93 Aktiengesetz - Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder 1) 1Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. 2Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. 3Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Vorstandsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren. 4Die Pflicht des Satzes 3 gilt nicht gegenüber einer nach § 342b des Handelsgesetzbuchs anerkannten Prüfstelle im Rahmen einer von dieser durchgeführten Prüfung. … § 116 Aktiengesetz - Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder 1Für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder gilt § 93 mit Ausnahme des Absatzes 2 Satz 3 über die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder sinngemäß. 2Die Aufsichtsratsmitglieder sind insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet. 3Sie sind namentlich zum Ersatz verpflichtet, wenn sie eine unangemessene Vergütung festsetzen (§ 87 Absatz 1).
Bundessozialgericht Urteil vom 08.10.2019, B 1 A 1/19 R Aufsichtsrecht - Krankenversicherung - Zusammenschluss von Krankenkassen zu Arbeitsgemeinschaft in Rechtsform der Aktiengesellschaft - aufsichtsbehördliches Auskunftsverlagen - Entziehung nicht aufgrund aktienrechtlicher Verschwiegenheitspflichten LeitsätzeEin Zusammenschluss von Krankenkassen zu einer Arbeitsgemeinschaft in der Rechtsform der Aktiengesellschaft kann sich aufsichtsbehördlichen Auskunftsverlangen nicht aufgrund aktienrechtlicher Verschwiegenheitspflichten entziehen. TenorDie Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2018 wird zurückgewiesen. Die Beigeladene trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Die Klägerin und die Beigeladene tragen die Kosten des Klageverfahrens als Gesamtschuldner. Der Streitwert für beide Instanzen wird auf 250 000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten über eine Aufsichtsmaßnahme der beklagten Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesversicherungsamt (BVA). Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse (BKK), gründete zusammen mit dem Bundesverband der BKKn, weiteren BKKn und der Rechtsvorgängerin der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (DRV KBS) die beigeladene Aktiengesellschaft (AG) insbesondere zur Durchführung strukturierter Behandlungsprogramme (Disease-Management-Programme - DMP). Zum Stichtag 30.6.2012 waren fünfzehn BKKn - darunter vierzehn bundesunmittelbare KKn - und die DRV KBS Aktionäre der Beigeladenen. Die Beklagte vertrat unter Hinweis auf Rspr des BSG (Urteil vom 16.11.2005 - B 2 U 14/04 R - juris) die Auffassung, die Beigeladene unterliege als Arbeitsgemeinschaft (ARGE) (§ 94 Abs 1a SGB X) ihrer staatlichen Aufsicht. Sie forderte die Beigeladene erfolglos auf, ihre eigenen Prüfrechte und die Prüfrechte der für ihre Aktionäre zuständigen Aufsichtsbehörden in die Satzung zu integrieren (ua Schreiben vom 29.6.2009). Nach erfolgloser aufsichtsrechtlicher Beratung (Schreiben vom 30.7.2012) verpflichtete die Beklagte in gesonderten zeitgleichen Bescheiden alle bundesunmittelbaren KKn, die Aktionäre der Beigeladenen waren, darunter die Klägerin, "1. die umfassenden Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der M. AG (Arbeitsgemeinschaft in Form einer Beteiligtengesellschaft) schriftlich anzuerkennen. Die Bestätigung ist dem Bundesversicherungsamt bis zum 26.10.2012 abzugeben, 2. gemeinsam mit den übrigen bundesunmittelbaren Aktionären eine Ergänzung der Tagesordnung der stattfindenden nächsten Hauptversammlung dahingehend zu verlangen, dass ein entsprechender Antrag auf Satzungsänderung eingereicht wird, der die Aufnahme der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden vorsieht. Die Bertelsmann BKK wird sich im Rahmen der späteren Abstimmung mit der Aufnahme der folgenden Bestimmungen in der Satzung der M. AG einverstanden erklären: Die Gesellschaft hat der für einen oder mehrere Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörde bzw. deren Beauftragten auf Verlangen alle Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts über die Gesellschaft aufgrund pflichtgemäßer Prüfung gefordert werden. Der Beschluss der Hauptversammlung über die Satzungsänderung ist dem Bundesversicherungsamt bis zum 15.1.2013 vorzulegen" (Bescheid vom 2.10.2012). Die Klägerin ist mit ihrer als Musterstreitverfahren geführten Klage gerichtet auf Aufhebung des Verpflichtungsbescheides, hilfsweise auf Feststellung, dass der Bescheid rechtswidrig war, erfolglos geblieben. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Hauptantrag sei unzulässig. Die angegriffene Maßnahme habe sich mit Ablauf der in ihr vorgegebenen Fristen erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Die hilfsweise erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage sei zulässig, aber unbegründet. Die Auflage habe mit dem maßgeblichen Aufsichtsrecht in Einklang gestanden. Die Beigeladene habe als ARGE iSv §§ 94 SGB X, 219 Abs 1 SGB V unter staatlicher Aufsicht gestanden. Die sich hieraus ergebenden Vorlage- und Auskunftspflichten seien nicht durch die Vorstand und Aufsichtsrat einer AG obliegende Verschwiegenheitspflicht (§§ 93, 116 AktG) ausgeschlossen oder beschränkt (Urteil vom 21.2.2018). Die Beigeladene rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 94 Abs 1a SGB X iVm § 85 und § 88 SGB IV sowie § 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 2 AktG und von Verfahrensrecht. Der streitgegenständliche Bescheid habe sich nicht erledigt. Es handele sich um einen Verpflichtungsbescheid mit Dauerwirkung. Maßgeblich sei die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Zu diesem Zeitpunkt sei sie aufgrund inzwischen eingetretener tatsächlicher Veränderungen (Tätigkeit nicht nur für Träger der Sozialversicherung; privater Aktionär) keine ARGE (mehr) gewesen und habe nicht (mehr) der Aufsicht der Beklagten unterstanden. Zudem habe die Beklagte den Grundsatz der Rücksichtnahme und der maßvollen Aufsicht sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt: Es sei ausreichend, wenn sich die Beklagte auf die Prüfung beschränke, ob die Aktionäre, die gesetzliche KKn seien, ihre Prüfpflichten gegenüber der Beigeladenen wahrnähmen. Einer umfassenden Aufsicht stünden die zwingenden aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten entgegen. Die Beigeladene beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 2012 aufzuheben, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2018 aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 2012 rechtswidrig gewesen ist. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Klägerin stellt keinen Antrag. EntscheidungsgründeDie Revision der Beigeladenen ist zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Aufsichtsklage (§ 54 Abs 3 SGG) gegen die Aufsichtsanordnung der beklagten Bundesrepublik Deutschland ist zulässig (dazu 2.), aber unbegründet. Die Beklagte verpflichtete rechtmäßig die Klägerin, die umfassenden Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der Beigeladenen anzuerkennen und in der Hauptversammlung der Beigeladenen - gemeinsam mit den anderen bundesunmittelbaren Aktionären - darauf hinzuwirken, dass die Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden in der Satzung der Beigeladenen verankert werden (dazu 3.). 1. Die Revision der Beigeladenen ist zulässig. Die Revisionsbegründung entspricht insbesondere den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG (dazu a). Der Beigeladenen fehlt es auch nicht an der erforderlichen Rechtsmittelbefugnis (dazu b). a) Gemäß § 164 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Revision fristgerecht zu begründen. Nach Satz 3 dieser Vorschrift muss die Begründung "einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben". Die Revisionsbegründung der Beigeladenen genügt diesen bindend vorgegebenen Anforderungen auch insoweit, als sie sinngemäß eine Verfahrensrüge erhebt (zu den Anforderungen vgl zB BSG SozR 4-5562 § 2 Nr 1 mwN). Die Beigeladene rügt, das LSG sei rechtsfehlerhaft von einer Erledigung der Aufsichtsanordnung (§ 39 Abs 2 SGB X) ausgegangen. Die in dem Bescheid enthaltenen Fristen seien Fristen zur Erfüllung der von der Beklagten gesetzten Auflagen und verfahrensrechtlich Voraussetzung für Vollstreckungsmaßnahmen. Sie macht schlüssig geltend, das LSG habe zu Unrecht über das Anfechtungsbegehren durch Prozessurteil entschieden und ihr insoweit eine Sachentscheidung verwehrt (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 55 S 73; BSG Beschluss vom 5.4.2018 - B 1 KR 102/17 B - juris RdNr 9 mwN). Eine nähere Darlegung der den Verfahrensverstoß begründenden Tatsachen ist hierfür nicht erforderlich, da sich diese aus dem Urteil selbst ergeben (vgl BFH GrS BFHE 196, 39 = BStBl II 2001, 802 = juris RdNr 73 mwN; vgl auch BSG GrS Beschluss vom 13.6.2018 - GS 1/17 - NZS 2019, 264 = juris, RdNr 37 zur Sachrüge; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 164 Anm 27). b) Die Beigeladene kann als Beteiligte des Verfahrens (§ 69 Nr 3 SGG) gemäß § 75 Abs 4, § 160 Abs 1 SGG selbstständig Revision einlegen. Die Beigeladene ist durch das LSG-Urteil - wie für das Rechtsmittel eines Beigeladenen erforderlich (vgl etwa BSGE 118, 30 = SozR 4-2500 § 85 Nr 81, RdNr 14 mwN, BSG SozR 4-2500 § 5 Nr 27 RdNr 17 f) - nicht nur formell, sondern auch materiell beschwert. Das Vorliegen einer materiellen Beschwer erfordert, dass die angefochtene Entscheidung geeignet ist, beim Rechtsmittelführenden eine Rechtsverletzung iS des § 54 Abs 1 Satz 2 SGG zu bewirken, wobei es auf zuvor gestellte Anträge nicht ankommt (vgl Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 160 Anm 4a; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 75 RdNr 19, Leitherer, aaO, Vor § 143 RdNr 4a, 8). Dies setzt voraus, dass die Beigeladene aufgrund der Bindungswirkung des angefochtenen Urteils unmittelbar in ihren subjektiven Rechten beeinträchtigt werden kann. Mithin muss sich die mögliche Belastung aus der Rechtskraftwirkung des § 141 Abs 1 Nr 1 SGG ergeben (stRspr, vgl etwa BSGE 111, 79 = SozR 4-3520 § 7 Nr 1, RdNr 13 mwN; vgl auch BVerwGE 31, 233, 234; BVerwGE 37, 43, 44). Hieran fehlt es, wenn sich eine mögliche Belastung nur aus der Begründung der Entscheidung ergibt, nicht jedoch von deren Rechtskraft erfasst wird (vgl BSG SozR 4-2600 § 118 Nr 3 RdNr 9; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 164 Anm 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 141 RdNr 9). So liegt es hier jedoch nicht. Die Klageabweisung hatte nicht ausschließlich verfahrensrechtliche Gründe (mangelndes Rechtsschutzbedürfnis). Das LSG hat zwar - wie sich aus den zur Auslegung des Tenors heranzuziehenden Entscheidungsgründen des LSG ergibt - den Hauptantrag wegen der seiner Auffassung nach eingetretenen Erledigung als unzulässig angesehen. Auf den Hilfsantrag hat das LSG jedoch über die Rechtmäßigkeit der Aufsichtsanordnung entschieden und damit eine der Rechtskraft fähige, materiell-rechtliche Entscheidung getroffen. Mit der Abweisung der hilfsweise gestellten Feststellungsklage ist zwischen den Beteiligten rechtskräftig entschieden, dass die Aufsichtsanordnung rechtmäßig ist (vgl Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 141 Anm 4g; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 141 RdNr 13). Hierdurch ist die Beigeladene ggf materiell beschwert (vgl auch BSG SozR 3-1500 § 131 Nr 5 S 7 zur Fortsetzungsfeststellungklage eines Beigeladenen). Die Beklagte nimmt in der streitigen Aufsichtsanordnung umfassende "Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden" gegenüber der Beigeladenen und ihren Aktionären mit Auswirkungen für die Beigeladene für sich in Anspruch (§ 94 Abs 2 Satz 1 SGB X idF durch Art 9 Nr 2 Buchst b Gesetz zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht - Verwaltungsvereinfachungsgesetz - vom 21.3.2005, BGBl I 818 mWv 30.3.2005 iVm § 88 SGB IV idF durch Art 7 Nr 21 Gesetz zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung <LSV-Neuordnungsgesetz - LSV-NOG> vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013). Die Aufsichtsanordnung zielt zudem auf eine entsprechende Änderung der Satzung der Beigeladenen. Ohne Belang ist, ob die Beigeladene selbst unmittelbar gegen die Aufsichtsanordnung mit Erfolg hätte klagen können (zur fehlenden drittschützenden Wirkung einer aufsichtsrechtlichen Anordnung/Prüfung vgl zB BSGE 63, 173, 175 = SozR 2200 § 182 Nr 112; BSGE 98, 129 = SozR 4-2400 § 35a Nr 1, RdNr 13 mwN; BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr 32, RdNr 17; BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 20). Auch die einfache ("streitgenössische") Beiladung (§ 75 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl auch BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 10 zur notwendigen Beiladung) dehnt - vergleichbar einer Streitverkündung im Zivilprozess - die Rechtskraftwirkung der Aufsichtsklage auf den Beigeladenen aus (§ 69 Nr 3 SGG, § 141 Abs 1 Nr 1 SGG; vgl auch BVerwGE 64, 67, 69 f = Buchholz 406.11 § 133 BBauG Nr 76 = juris RdNr 14; BVerwGE 77, 102, 105 f = Buchholz 418.711 LMBG Nr 15 = juris RdNr 36; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 141 Anm 6a). Würde das LSG-Urteil rechtskräftig, präjudizierte die Klageabweisung eine anschließende aktienrechtliche Anfechtungsklage der jetzigen Klägerin gegen einen in der Hauptversammlung der Beigeladenen in Ausführung der Aufsichtsanordnung gefassten Beschluss (vgl § 243 Abs 1 AktG; zur Anfechtungsbefugnis des Aktionärs vgl § 245 Nr 1 und 2 AktG). Weder die Klägerin noch die dann notwendigerweise beklagte Beigeladene (vgl § 246 Abs 2 Satz 1 AktG) könnte sich auf die Rechtswidrigkeit der Aufsichtsanordnung berufen. Entsprechendes gilt, soweit die Beigeladene bereits im Vorfeld zB mit einer vorbeugenden Unterlassungsklage gegen die klagende KK, ggf unter Zuhilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes, gegen eine drohende Satzungsänderung vorgehen wollte. 2. Die Aufsichtsklage ist zulässig, insbesondere hat sich die Aufsichtsanordnung nicht durch Zeitablauf (dazu a) oder "auf andere Weise" (dazu b) erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Zu Unrecht hat das LSG die Aufsichtsklage als unzulässig angesehen und über die Sache im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage entschieden. a) Nach § 39 Abs 2 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Anders als das LSG meint, hat sich die Aufsichtsanordnung nicht durch Zeitablauf erledigt. Das Revisionsgericht darf Willenserklärungen, auch öffentlich-rechtliche Erklärungen einschließlich Verwaltungsakte, jedenfalls dann selbst auslegen, wenn das Vordergericht den Verwaltungsakt nicht ausgelegt, insbesondere die von ihm selbst festgestellten tatsächlichen Umstände nicht vollständig verwertet hat und weitere Feststellungen nicht mehr in Betracht kommen (vgl BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 = juris RdNr 31; BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 12; BSG SozR 4-2500 § 133 Nr 6 RdNr 36; BSG Urteil vom 9.4.2019 - B 1 KR 5/19 R - juris RdNr 18, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl auch BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 5 RE 1/18 R - juris RdNr 37, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2600 § 6 Nr 18 vorgesehen). So liegt es hier. Das LSG hat auf den Ablauf der in der Aufsichtsanordnung genannten Fristen abgestellt, ohne deren Bedeutung zu würdigen. Die aufsichtsbehördliche Anordnung der Beklagten ist zugleich ein Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X). Sie verpflichtet die Klägerin, umfassende Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der Beigeladenen schriftlich anzuerkennen sowie gemeinsam mit den übrigen bundesunmittelbaren Aktionären darauf hinzuwirken, dass eine Satzungsänderung durch die Hauptversammlung der Beigeladenen erfolgt, ohne diese Verpflichtungen zeitlich zu begrenzen. Dies ergibt sich aus dem hier maßgeblichen Empfängerhorizont (vgl BSGE 118, 137 = SozR 4-2400 § 90 Nr 1, RdNr 11) unter Berücksichtigung von Wortlaut und Vorgeschichte. Schon nach dem Wortlaut der Anordnung sind die beiden Verpflichtungen unbefristet; lediglich für die Vorlage des schriftlichen Anerkenntnisses und des Beschlusses der Hauptversammlung über die Satzungsänderung setzte die Beklagte der Klägerin Fristen. Auch aus dem vorangegangen Beratungsverfahren, auf das die Aufsichtsanordnung ausführlich Bezug nimmt, erschließt sich zwanglos, dass die ausgesprochenen Verpflichtungen der gerichtlichen Klärung der Rechtsmäßigkeit der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der Beigeladenen zu dienen bestimmt waren und nicht etwa nach Fristablauf entfallen sollten. Die genannten Fristen dienen ersichtlich - neben der Beschleunigung des Verfahrens - auch der Klarstellung, bis zu welchem Zeitpunkt die Klägerin (noch) nicht mit Vollstreckungsmaßnahmen rechnen muss (vgl § 89 Abs 1 Satz 3 bis 5 SGB IV; vgl Gaßner, MedR 2017, 677, 683 f). Die Klägerin ist trotz Fristablaufs weiterhin verpflichtet, der Anordnung nachzukommen (vgl ähnlich BSGE 89, 227, 235 = SozR 3-2500 § 194 Nr 1 S 9 f). b) Die aufsichtsbehördliche Anordnung hat sich auch nicht auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Von einer Erledigung "auf andere Weise" ist auszugehen, wenn der Verwaltungsakt nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu entfalten oder wenn die Steuerungsfunktion, die ihm ursprünglich innewohnte, nachträglich entfallen ist. Dagegen führt selbst der Vollzug eines Handlungspflichten auferlegenden Verwaltungsaktes nicht bereits zu dessen Erledigung, wenn von ihm weiterhin rechtliche Wirkungen ausgehen (vgl BSG SozR 4-1200 § 51 Nr 1 RdNr 20; BSGE 119, 57 = SozR 4-2500 § 34 Nr 17, RdNr 38; BVerwG Urteil vom 25.9.2008 - 7 C 5.08 - NVwZ 2009, 122 RdNr 13 mwN - zu § 43 Abs 2 LVwVfG; vgl auch BSGE 125, 233 = SozR 4-2400 § 89 Nr 7, RdNr 33; Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Juni 2019, § 39 SGB X, RdNr 24). Daran gemessen, hat sich die Aufsichtsanordnung bisher nicht "auf andere Weise" erledigt. Sie verpflichtet die Klägerin als Adressatin unverändert zu einer bestimmten Handlung (ua auf die Änderung der Satzung der Beigeladenen hinzuwirken). Bei einer solchen Handlungspflicht tritt regelmäßig keine Erledigung ein, solange der Adressat dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist. Dass der Zweck der Aufsichtsanordnung anderweitig erreicht worden wäre, etwa indem die übrigen Aktionäre ohne Beteiligung der Klägerin die Satzungsänderung vorgenommen hätten, hat das LSG nicht festgestellt. Hierfür ist auch nichts ersichtlich. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte, dass eine Erledigung auf andere Weise aus anderen Gründen, etwa wegen Auflösung der Beigeladenen, eingetreten ist. Keine Erledigung wäre eingetreten, wenn die Beigeladene - wie sie vorträgt - mittlerweile neben ihren Aktionären und anderen KKn (§ 197b Satz 1 SGB V; vgl hierzu Sichert, NZS 2013, 129, 134) auch private KKn zu ihren "Kunden" zählt. Das machte die angegriffene Aufsichtsanordnung nicht gegenstandslos. Eine möglicherweise den Zuständigkeitsbereich überschreitende Ausdehnung der Geschäftstätigkeit einer ARGE durch Dienstleistungen an private Dritte (vgl hierzu Schirmer/Kater/Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung, Stand September 2019, 310 S 9) wäre Anlass etwa für aufsichtsrechtliche Beratung (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV idF der Neubekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710; zum Meinungsstand zur nach hM möglichen Beanstandung unmittelbar gegenüber der ARGE vgl Sichert, NZS 2013, 129, 136) und ggf für weitere Aufsichtsanordnungen. Eine unzulässige Ausweitung der Tätigkeit einer ARGE lässt ihre Rechtsnatur jedoch nicht von selbst entfallen (vgl § 94 Abs 1a Satz 1 SGB X idF durch Art 9 Nr 2 Buchst a Verwaltungsvereinfachungsgesetz; § 219 Abs 1 SGB V idF durch Art 4 Nr 10 Buchst a bis c Verwaltungsvereinfachungsgesetz, beide mWv 30.3.2005). Das LSG hat im Übrigen schon keine unzulässige Ausweitung der Tätigkeit der Beigeladenen festgestellt. Keine Erledigung bewirkte es ebenso, wenn - wie die Beigeladene vorträgt - sie inzwischen auch einen privatrechtlichen Aktionär haben sollte. Das LSG hat schon nicht festgestellt, dass private Dritte an der Beigeladenen beteiligt sind. Hieran ist der erkennende Senat mangels durchgreifender Verfahrensrügen (§ 163 SGG) gebunden. Im Übrigen würde die angegriffene Aufsichtsanordnung hierdurch nicht gegenstandslos. Eine einmal gegründete ARGE wird nicht dadurch der Rechtsaufsicht entzogen, dass eine Privatperson ohne Vorabinformation der Aufsichtsbehörde Anteile an ihr erhält ungeachtet der Grenzen einer Beteiligung privater Dritter an einer ARGE (vgl zB §§ 197b, 219 SGB V, § 94 Abs 1a SGB X; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung <11. Ausschuss> zu dem Entwurf der BReg eines Sozialgesetzbuchs <SGB> - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten - BT-Drucks 9/1753 S 43 Zu § 95 - Arbeitsgemeinschaften; Herbst in Kasseler Kommentar, Stand Juni 2019, § 94 SGB X, RdNr 31; Sehnert in Hauck/Noftz, SGB X, Stand November 2014, § 94 RdNr 4 mwN). 3. Die Aufsichtsanordnung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist formell (dazu a) und materiell rechtmäßig (dazu b). a) Rechtsgrundlage für das aufsichtsrechtliche Einschreiten der Beklagten ist § 89 SGB IV. Wird durch das Handeln oder Unterlassen eines Versicherungsträgers das Recht verletzt, soll die Aufsichtsbehörde zunächst beratend darauf hinwirken, dass der Versicherungsträger die Rechtsverletzung behebt (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Kommt der Versicherungsträger dem innerhalb angemessener Frist nicht nach, kann die Aufsichtsbehörde den Versicherungsträger verpflichten, die Rechtsverletzung zu beheben (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Die Beklagte ist die für die Klägerin zuständige Aufsichtsbehörde (§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV idF der Neubekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710), denn die Klägerin ist ein bundesunmittelbarer Versicherungsträger. Die Beklagte beachtete auch das gesetzlich vorgesehene, zeitlich und in seiner Intensität abgestufte Verfahren (vgl dazu BSG SozR 3-2400 § 89 Nr 4 S 12; BSG SozR 4-2400 § 89 Nr 2 RdNr 13 mwN; BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 9). Sie erließ die angegriffene Aufsichtsanordnung erst nach mehrfachen Hinweisen, erfolglosen Aufforderungen zur Anerkennung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde und Beratung. b) Die Aufsichtsanordnung ist auch materiell rechtmäßig. Sie ist unproblematisch hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X). Sie fordert von der Klägerin in verständlicher Weise ein bestimmtes Verhalten. Sie gibt insbesondere den Passus, der in die Satzung der Beigeladenen aufgenommen werden soll, ausdrücklich vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Aufsichtsanordnung an einen rechtskundigen Versicherungsträger richtet und auf der vorangegangenen aufsichtsrechtlichen Beratung aufbaut (vgl BSGE 125, 233 = SozR 4-2400 § 89 Nr 7, RdNr 45). Die Beklagte erließ die angefochtene Anordnung unter Beachtung des aufsichtsrechtlichen Prüfmaßstabs (dazu aa) wegen einer Rechtsverletzung (dazu bb) ermessensfehlerfrei (dazu cc). aa) Der Prüfungsmaßstab der Aufsichtsbehörde richtet sich nach den rechtlichen Vorgaben für das Verhalten des Versicherungsträgers, das Gegenstand der Maßnahme ist (vgl BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 11 mwN). Gegenstand der angefochtenen Maßnahme ist allein, ob die Klägerin verpflichtet ist, Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde(n) unmittelbar gegenüber der Beigeladenen anzuerkennen und die Pflicht, auf die Aufnahme einer Bestimmung in die Satzung der Beigeladenen hinzuwirken, wonach diese Auskunfts- und Vorlageansprüche der für ihre Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörden erfüllt. Konkrete Maßnahmen unmittelbar gegenüber der Beigeladenen sind nicht Gegenstand der Aufsichtsanordnung. Die Klägerin hat als Sozialversicherungsträger ihre Aufgaben in eigener Verantwortung "im Rahmen des Gesetzes und des sonstigen für sie maßgeblichen Rechts" zu erfüllen (§ 29 Abs 3 SGB IV). Im Rahmen der reinen Rechtsaufsicht (§ 89 Abs 1 SGB IV) gebieten es der auch im Aufsichtsrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz maßvoller Ausübung der Rechtsaufsicht der Aufsichtsbehörde, dem beaufsichtigten Versicherungsträger bei seiner Verwaltungstätigkeit insoweit einen gewissen Bewertungsspielraum zu belassen, als dafür auch entsprechende Gestaltungsspielräume eröffnet sind (vgl etwa zum Gebot der Wirtschaftlichkeit sowie der Sparsamkeit im Haushaltswesen BSG SozR 4-2400 § 80 Nr 1 S 6; BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 A 2/18 R - juris RdNr 20, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Beklagte verletzte mit dem Erlass der Aufsichtsanordnung nicht das Gebot einer maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht. Das Verhalten der Klägerin, pauschal und insgesamt eine Anerkennung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde und die Aufnahme der Pflicht zur Erfüllung der Prüf- und Unterrichtungsrechte der Aufsichtsbehörde gegenüber den Aktionären in die Satzung der Beigeladenen zu verweigern, hielt sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren (vgl zB § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 SGB IV). Die Beigeladene war zur Zeit der Verwaltungsentscheidung und der mündlichen Verhandlung beim LSG (zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung als maßgeblich für die Beurteilung der Rechtslage bei in die Zukunft gerichteten Verpflichtungsanordnungen der Aufsicht vgl BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 1 A 3/19 R - juris RdNr 9, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) nach dessen unangegriffenen Feststellungen (§ 163 SGG) eine ARGE (§ 219 Abs 1 SGB V, § 94 Abs 1a Satz 1 SGB X; zum Begriff der ARGE als organisatorisch selbständige Einheit, bei denen es um eine tatsächliche, rechtliche und finanziell verbindliche Form der Zusammenarbeit geht bei freigestellter Rechtsform vgl BT-Drucks 15/4228 S 32; vgl auch BVerwG Urteil vom 11.11.1999 - 3 C 33.98 - Buchholz 451.74 § 18 KHG Nr 9 = juris RdNr 21). Denn sie war ein Zusammenschluss mehrerer KKn mit dem Ziel der Zusammenarbeit bei der Versorgung chronisch Kranker in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Sie unterlag zum einen der unmittelbaren Aufsicht der Beklagten (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 90a SGB IV; vgl hierzu II 3. b bb 1). Die Aufsicht umfasst die Prüfung der Geschäfts- und Rechnungsführung der ARGE sowie die zur Ausübung des Aufsichtsrechts erforderliche Vorlage von Unterlagen und Erteilung von Auskünften (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 SGB IV). Zum anderen erfordert eine effektive Aufsicht über die wirtschaftliche Tätigkeit der Aktionäre der Beigeladenen, dass die zuständigen Aufsichtsbehörden (im Fall der bundesunmittelbaren KKn die Beklagte, vgl § 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV; im Fall der landesunmittelbaren KKn die zuständige Landesbehörde, vgl § 90 Abs 2 SGB IV) nicht nur von diesen, sondern auch direkt von der Beigeladenen verlangen kann, die erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen (vgl hierzu im Einzelnen II 3. b bb 1). Indem sich die Klägerin - wie zuvor auch die Beigeladene - demgegenüber auf die Verschwiegenheitsverpflichtungen des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG berief (§ 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 1 und 2 AktG), missachtete sie die gesetzgeberische Grundentscheidung und deren Ziele. Ungeachtet der Frage, ob und ggf in welchem Umfang aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten - allgemein oder in konkreten Einzelfällen - auch gegenüber der Aufsichtsbehörde bestehen (vgl hierzu II 3. b bb 2), sind diese nicht geeignet, ganz allgemein Prüf- und Unterrichtungspflichten gegenüber der Aufsichtsbehörde auszuschließen, unabhängig davon, ob überhaupt vertrauliche Angaben oder Gesellschaftsgeheimnisse betroffen wären. Das AktG knüpft das Schweigegebot allein an das objektive Vorliegen der Merkmale "vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft" (§ 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 1 AktG) und "vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen" (§ 116 Satz 2 AktG), ohne eine generelle, im Einzelfall zu widerlegende Vermutung für ein sachlich unbegrenztes Schweigegebot aufzustellen (vgl BGHZ 64, 325, 330 = juris RdNr 14). bb) Da sich die Klägerin trotz ausführlicher Beratung durch die Beklagte weigerte, deren Informations- und Prüfrechte an der Beigeladenen anzuerkennen und in der Satzung die Pflicht zur Erfüllung der Informations- und Prüfrechte der Aufsichtsbehörden gegenüber den Aktionären zu verankern, liegt auch eine Rechtsverletzung vor. Den Informations- und Unterrichtungsrechten der Beklagten und ggf weiterer für die Aktionäre zuständiger Landesbehörden (dazu 1.) stehen aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten (§ 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 1 und 2 AktG) nicht entgegen (dazu 2.). (1) Können nach dem SGB ARGEen gebildet werden, unterliegen diese staatlicher Aufsicht. Die Aufsicht erstreckt sich auf die Beachtung von Gesetz und sonstigem Recht, das für die ARGEen, die Leistungsträger und ihre Verbände maßgebend ist; die §§ 85, 88, 90 und 90a SGB IV gelten entsprechend (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 1 und 2 SGB X). Das Gesetz sieht damit - in Ergänzung zur fortbestehenden Aufsicht gegenüber den Mitgliedern der ARGE (mittelbare oder indirekte Aufsicht) - eine unmittelbare (direkte) Aufsicht gegenüber der ARGE selbst vor. Sie ermöglicht es der Aufsichtsbehörde insbesondere, die Geschäfts- und Rechnungsführung der ARGE zu prüfen (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 Abs 1 SGB IV). Die ARGE hat der Aufsichtsbehörde oder ihren Beauftragten auf Verlangen alle Unterlagen vorzulegen und alle Auskünfte zu erteilen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts auf Grund pflichtgemäßer Prüfung der Aufsichtsbehörde gefordert werden (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 Abs 2 SGB IV). Die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden für eine ARGE richtet sich gemäß § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 3 SGB X iVm §§ 90 und 90a SGB IV grundsätzlich nach dem territorialen Zuständigkeitsbereich der ARGE, nicht ihrer Mitglieder. Die Aufsicht über eine ARGE, an der - wie bei der Beklagten - weder der Spitzenverband der GKV noch die BA beteiligt ist (vgl hierzu § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 3 SGB X) und deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, führt grundsätzlich die Beklagte vertreten durch das BVA (§ 90 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB IV iVm § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X; Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB IV, 8. Aufl 2014, § 94 RdNr 11a). Rechtmäßig verlangt die Beklagte in ihrer Aufsichtsanordnung von der Klägerin und den weiteren bundesunmittelbaren KKn, die Aktionäre der Beigeladenen sind, dass sie für eine Satzungsänderung der Beigeladenen sorgen, die die Pflicht in ihre Satzung aufnimmt, die Prüf- und Informationsrechte "der für einen oder mehrere Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörde bzw. deren Beauftragten" zu erfüllen. Dies stellt eine wirksame Aufsicht über die KKn sicher, die Aktionäre der Beigeladenen sind. Die Aufsichtsbehörden verfügen lediglich gegenüber diesen Aktionären über Zwangsmittel, nicht aber gegenüber der Beigeladenen (vgl § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X ohne Verweisung auf § 89 SGB IV; abweichend Art 8 Nr 7 des Referentenentwurfs des BMAS eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - 7. SGB IV-ÄndG zu § 94 SGB X). Ungeachtet dessen muss die Beigeladene unmittelbar der Beklagten die zur Ausübung ihres Aufsichtsrechts über die ARGE erforderlichen Informationen zukommen lassen. In gleicher Weise muss sie dies, um die Ausübung des Aufsichtsrechts über die Aktionäre der ARGE zu ermöglichen. Die aufzunehmende Satzungsbestimmung sichert, dass es nicht zu kontrollfreien Räumen kommt. Die KKn sind als Aktionäre einer ARGE nach Aktienrecht nicht in der Lage, sich die für eine wirksame Aufsicht über die KKn erforderlichen umfassenden Informationen über die ARGE zu verschaffen. Die Aufsichtsbehörden haben nur die Möglichkeit, sich mit ihren Auskunftsbegehren unmittelbar an die ARGE zu wenden. Anderenfalls müssten die Aufsichtsbehörden die Beteiligung an einer ARGE in der Rechtsform der AG von vorneherein untersagen, damit es nicht zu aufsichtsfreien Räumen kommt. Die KKn unterliegen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Beteiligung als Aktionäre an einer in der Form der AG gegründeten ARGE der staatlichen Aufsicht. Versicherungsträger dürfen nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten verwenden (§ 30 Abs 1 SGB IV). Die zuständigen Aufsichtsbehörden müssen überprüfen können, ob eine wirtschaftliche Beteiligung der KKn sich in diesen Grenzen bewegt. So unterliegt es etwa der Prüfung, ob die privatrechtlich gegründete AG (noch) die Voraussetzungen einer ARGE im Sinne eines Zusammenschlusses mehrerer KKn mit dem Ziel der Zusammenarbeit erfüllt (§ 94 Abs 1a SGB X), oder ob die wirtschaftliche Beteiligung sich auf einer anderen rechtlichen Grundlage rechtfertigen lässt (zB als Beteiligung an gemeinnützigen Einrichtungen, § 83 Abs 1 Nr 7 SGB IV). Hierfür reicht es nicht aus, dass die KKn den Aufsichtsbehörden die erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen haben (§ 88 Abs 2 SGB IV). Denn die KKn verfügen selbst regelmäßig nicht über alle entscheidungserheblichen Informationen. Als Aktionäre einer AG gilt für sie bloß das in sich abgeschlossene Informationssystem des Jahres- bzw Konzernabschlusses sowie der Auskunft in der Hauptversammlung (§§ 131, 132 AktG; vgl Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl 2006, RdNr 473; zu den speziellen individuellen Auskunftsrechten im Konzern- und Umwandlungsrecht vgl § 293g Abs 3, § 295 Abs 2 Satz 3, § 319 Abs 3 Satz 4 und 5, § 320 Abs 4 Satz 3, § 326 AktG; § 64 Abs 2 Umwandlungsgesetz - UmwG; vgl Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl 2017, § 131 RdNr 3; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl 2015, § 131 RdNr 12). Das Auskunftsrecht ermöglicht dem Aktionär einen Zugang lediglich zu denjenigen Informationen, die zur sachgemäßen Beurteilung des Geschäftsgegenstands der Tagesordnung erforderlich sind (§ 131 Abs 1 Satz 1 AktG). Es soll dem Aktionär den sinnvollen Gebrauch seiner Mitgliedschaftsrechte ermöglichen und ist sowohl in zeitlicher als auch in gegenständlicher Hinsicht beschränkt (vgl hierzu BVerfG <Kammer> Beschluss vom 20.9.1999 - 1 BvR 636/95 - juris RdNr 17 f = NJW 2000, 349). Daneben bestehen aktienrechtlich nur Berichts- und Informationspflichten des Vorstands gegenüber der Hauptversammlung als Organ (etwa im Rahmen der Einberufung der Hauptversammlung, vgl zB § 121 AktG, § 124 Abs 1 Satz 1, Abs 2 AktG) oder die allgemeinen handelsrechtlichen Publizitätspflichten (vgl §§ 325 ff HGB). (2) Die Beigeladene ist nicht durch aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten gehindert, der Aufsichtsbehörde auf Verlangen alle Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts über die Gesellschaft aufgrund pflichtgemäßer Prüfung erforderlich sind. Gleiches gilt auch für die Informationen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts über die Aktionäre der ARGE erforderlich sind (vgl oben unter 1). Vorstandsmitglieder einer AG haben gemäß § 93 Abs 1 AktG (idF durch Art 9 Nr 7 Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister - EHUG - vom 10.11.2006, BGBl I 2553 mWv 1.1.2007) bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden (Satz 1). Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (Satz 2). Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Vorstandsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren (Satz 3). Die Pflicht des Satzes 3 gilt nicht gegenüber einer nach § 342b des Handelsgesetzbuchs anerkannten Prüfstelle im Rahmen einer von dieser durchgeführten Prüfung (Satz 4). Für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder gilt § 93 AktG mit Ausnahme des Abs 2 Satz 3 über die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder sinngemäß (§ 116 Satz 1 AktG). Die Aufsichtsratsmitglieder sind insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet (Satz 2). Auskunftspflichten wie hier gegenüber der Aufsichtsbehörde richten sich allerdings in erster Linie an die AG selbst, sodass der Vorstand als Vertreter der Gesellschaft (vgl § 78 Abs 1 Satz 1 AktG) die entsprechenden Informationen weitergeben muss. Nur wenn der Vorstand seine Pflicht nicht erfüllt und entsprechende Aufforderungen des Aufsichtsrats fruchtlos bleiben, kann in seltenen Ausnahmefällen der Aufsichtsrat selbst die Information erteilen (vgl Spindler in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 116 RdNr 21; vgl auch Habersack in MüKo, AktG, 5. Aufl 2019, § 116 RdNr 65; BGH NJW 2016, 2569 = juris RdNr 35). Zu den Sorgfaltspflichten eines Vorstandsmitglieds gehört die Legalitätspflicht, dh die Pflicht, sich bei seiner Amtsführung gesetzestreu zu verhalten. Neben der internen Pflichtenbindung durch AktG, Satzung und Geschäftsordnung unterliegt der Vorstand der externen Pflichtenbindung durch allgemeine Gesetzespflichten: Ein Vorstandsmitglied muss im Außenverhältnis sämtliche Rechtsvorschriften einhalten, die das Unternehmen als Rechtssubjekt treffen. Hierzu gehören die Regelungen des Verwaltungsrechts ebenso wie die Vorgaben des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts (vgl Fleischer in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 93 RdNr 14, 23; BGHSt 55, 266 = NJW 2010, 3458, RdNr 29; BGHSt 55, 288 = NJW 2011, 88, RdNr 37). Konsequent findet die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder ihre Grenze, wo eine gesetzliche Pflicht zur Offenlegung bestimmter Tatsachen besteht. Hierzu gehören auch Auskunftsrechte der Behörden (vgl Fleischer in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 93 RdNr 167; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl 2018, § 93 RdNr 31; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl 2006, RdNr 528 ff; Spindler in MüKo, AktG, 5. Aufl 2019, § 93 RdNr 159; vgl auch den Entwurf der BReg eines Gesetzes zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen <Bilanzkontrollgesetz - BilKoG>, BT-Drucks 15/3421, 21: Auskunftspflicht nach § 37o Abs 4 WpHG geht der Verschwiegenheitspflicht vor). Insofern kommt auch dem Verweis in § 93 Abs 1 Satz 4 AktG auf die fehlende Pflicht zur Verschwiegenheit gegenüber einer nach § 342b HGB anerkannten Prüfstelle im Rahmen einer von dieser durchgeführten Prüfung lediglich klarstellende Bedeutung zu (vgl Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl 2018, § 93 RdNr 33). Auch die Sonderregelungen in §§ 394, 395 AktG betreffend die Berichte der Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, stellen - anders als die Beigeladene meint - keine abschließende Regelung der Verschwiegenheitspflicht bei Tätigkeiten der öffentlichen Hand in den Formen privater Gesellschaften dar (vgl Schall in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 2, 4. Aufl 2019, § 394 RdNr 2; Schürnbrand, MüKo, AktG, 5. Aufl 2019, Vor § 394 RdNr 2, 14 ff). Vielmehr haben die Vorstandsmitglieder der Beigeladenen im Rahmen ihrer Tätigkeit auf Aufforderung der Aufsichtsbehörde dieser die Prüfung der Geschäfts- und Rechnungsführung der Beigeladenen zu ermöglichen, ihr die zur Ausübung des Aufsichtsrechts erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen (§ 94 Abs 2 SGB X iVm § 88 SGB IV). cc) Die Beklagte übte das ihr eingeräumte Ermessen rechtmäßig aus, gegen die zutreffend festgestellte Rechtsverletzung einzuschreiten (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Sie traf - formal hinreichend begründet (§ 35 Abs 1 SGB X) - eine Ermessensentscheidung, hielt dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens ein und machte von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch. Die Beklagte übte ihr Entschließungsermessen rechtmäßig aus, die Klägerin zu verpflichten, die Prüf- und Informationsrechte der Beklagten an den Aktionären der Beigeladenen auch hinsichtlich dieser sowie an der Beigeladenen anzuerkennen sowie darauf hinzuwirken, dass die gebotene Pflicht zur Erfüllung dieses Gebots in die Satzung aufgenommen wird. Ermessensgerecht begründete sie ihre Entscheidung damit, die Verpflichtungsanordnungen seien unabdingbare Grundlage für die Wahrnehmung der Aufsicht über die bundesunmittelbaren KKn als Aktionäre der Beigeladenen und über die Beigeladene als ARGE. Dies entsprach auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Beklagte durfte mit diesen Erwägungen auf die an vorangegangene Informationsverweigerungen anknüpfende, eindeutig rechtswidrige Weigerung der Klägerin reagieren, die Aufsichtsrechte an der Beigeladenen anzuerkennen, und von ihr nicht nur die schriftliche Anerkennung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde verlangen, sondern auch deren Hinwirken darauf, dass die Erfüllung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde gegenüber den Aktionären der Beigeladenen in der Satzung verankert wird. Die Beklagte musste sich nicht auf den ineffizienten Weg einer -ggf gerichtlichen- Durchsetzung ihrer Aufsichtsrechte im jeweiligen konkreten Einzelfall beschränken. Dem steht nicht entgegen, dass es sich nur um die Aufsichtsanordnung gegenüber einer einzelnen Aktionärin handelt und eine Satzungsänderung einer Mehrheit in der nachfolgenden Hauptversammlung bedarf. Denn die Beklagte erließ gleichlautende Aufsichtsanordnungen gegenüber allen weiteren ihrer Aufsicht unterstehenden Aktionären der Beigeladenen. Diese Vorgehensweise war auch rechtlich vorgegeben. Der Beklagten stehen unmittelbar gegenüber einer ARGE keine Zwangsmittel zu (vgl oben II 3. b bb 1). Eine Durchsetzung der Prüf- und Informationsrechte war ihr von vorneherein in rechtlich zulässiger Weise nur über Aufsichtsanordnungen an die Aktionäre der Beigeladenen möglich. Die Klägerin genießt keinen Vertrauensschutz. Selbst wenn sich die Beklagte zunächst mit einer Änderung der von der Hauptversammlung der Beigeladenen beschlossenen "Richtlinie für den Vorstand zur Erteilung von Auskünften gegenüber den Aktionären bei Anfragen der zuständigen Aufsichtsbehörden" zufrieden gegeben haben sollte, hinderte sie dies nicht, einen als rechtswidrig erkannten Zustand in Bezug auf die Aufsicht der Beigeladenen zu beenden (vgl entsprechend § 195 Abs 2 Satz 1 SGB V zur nachträglichen Änderung einer genehmigten Satzung, vgl BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 23). Die Vorstandsrichtlinie regelt kein funktionsadäquates Surrogat für die Auskunftsrechte der Aufsichtsbehörden, sondern lediglich Auskunftsrechte der Aktionäre gegenüber der Beigeladenen. 5. Der erkennende Senat weicht mit seiner Auslegung der Grenzen des Aufsichtsrechts nicht von Entscheidungen des BGH ab. Ein Vorlagebeschluss an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist nicht geboten (vgl § 2 Abs 1 und § 11 Abs 1 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes). Der erkennende Senat geht in Übereinstimmung mit der Rspr des BGH davon aus, dass das Schweigegebot des § 116 iVm § 93 Abs 1 Satz 3 AktG eine abschließende Regelung ist, die durch Satzung oder Geschäftsordnung weder gemildert noch verschärft werden kann (vgl BGHZ 64, 325, 326 f; vgl auch BGH Urteil vom 26.4.2016 - XI ZR 108/15 - juris RdNr 34 = NJW 2016, 2569). Gegenstand der Aufsichtsanordnung ist jedoch weder eine Einschränkung noch Ausweitung der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht durch eine Änderung der Satzung der Beigeladenen, sondern die auch satzungsmäßige Verankerung bestehender Auskunfts- und Informationsrechte nach dem SGB X und SGB IV, welche die Schweigepflicht der Beigeladenen einschränken. Die von der Beklagten über die Klägerin und die anderen Aktionäre angestrebte Satzungsänderung zielt nur darauf ab, die gesetzlich bestehenden Auskunfts- und Informationspflichten der Beigeladenen deklaratorisch in der Satzung festzuhalten, um die mittelbare Durchsetzung dieser Pflichten gegenüber den aufsichtspflichtigen KKn zu erleichtern. Verletzt die Beigeladene diese Pflichten, können die Aufsichtsbehörden auf die ihrer Aufsicht unterliegenden KKn insbesondere dahin einwirken, die Beigeladene aufzulösen (vgl § 262 AktG). 6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2, Abs 3 Teilsatz 1 VwGO für das Revisionsverfahren und aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1, Abs 3 Teilsatz 1, § 159 Satz 2 VwGO für das Klageverfahren. Die Klägerin und die Beigeladene, die im Klageverfahren einen Antrag gestellt hat, tragen danach als Unterliegende die Kosten des Klageverfahrens. Die Pflicht trifft sie als Gesamtschuldner. Besteht der kostenpflichtige Teil - wie hier - aus mehreren Personen, so gilt § 100 ZPO entsprechend (vgl § 159 Satz 1 VwGO). Kann das streitige Rechtsverhältnis dem kostenpflichtigen Teil gegenüber nur einheitlich entschieden werden, so können die Kosten den mehreren Personen als Gesamtschuldnern auferlegt werden (vgl § 159 Satz 2 VwGO). Ob das streitige Rechtsverhältnis dem kostenpflichtigen Teil gegenüber nur einheitlich entschieden werden kann, richtet sich nach der konkreten Prozesslage (vgl entsprechend zum Normenkontrollantrag mehrerer Miteigentümer gegen einen Bebauungsplan im selben Verfahren BVerwG Beschluss vom 17.10.2000 - 4 BN 48/00 - Buchholz 310 § 159 VwGO Nr 1). Hierfür genügt es in Verfahren nach dem SGG, dass gegenüber Kläger und Beigeladenem einheitlich über die Rechtmäßigkeit einer Aufsichtsanordnung zu entscheiden ist (vgl ausführlich BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 KR 15/18 R - juris RdNr 23 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR-4 vorgesehen). Der erkennende Senat berücksichtigt bei seiner Ermessensentscheidung insbesondere die Mitwirkung der Beigeladenen im Klageverfahren, die sich mit ihrem Sachantrag dem Klagebegehren angeschlossen hat. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, Abs 3 Satz 1 Nr 2 und Satz 2, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 Satz 1 GKG.
bundessozialgericht
bsg_33 - 2018
14.06.2018
Blindengeld grundsätzlich auch bei Alzheimer Ausgabejahr 2018 Nummer 33 Datum 14.06.2018 Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 14. Juni 2018 (Aktenzeichen: B 9 BL 1/17 R) entschieden, dass auch schwerst Hirngeschädigte, die keine visuelle Wahrnehmung haben, grundsätzlich Anspruch auf Blindengeld haben können (vergleiche hierzu schon Medieninformation Nr. 19/15). Die Klägerin leidet an einer schweren Alzheimer-Demenz und kann deshalb Sinneseindrücke kognitiv nicht mehr verarbeiten. Das beantragte Blindengeld nach dem BayBlindG lehnte der Beklagte ab. Anders als das Sozialgericht hat das Landessozialgericht der Klage stattgegeben. Das Bundessozialgericht hat den Rechtsstreit zwar an die Vorinstanz zurückverwiesen. Zur Sache hat es aber ausgeführt, dass bei cerebralen Störungen Blindheit auch anzunehmen ist, wenn der Betroffene nichts sieht, obwohl keine spezifische Sehstörung nachweisbar ist. Liegt Blindheit vor, wird Blindengeld zum Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen als Pauschalleistung erbracht. Kann ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes aber gar nicht erst entstehen, wird der Zweck des Blindengelds verfehlt. In diesen besonderen Fällen darf der zuständigen Behörde der anspruchsvernichtende Einwand der Zweckverfehlung nicht verwehrt werden. Ob hier ein solcher Ausschlussgrund zum Tragen kommt, hat die Vorinstanz noch festzustellen und abschließend zu prüfen (Anschluss und Fortführung von BSG Urteil vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R).   Hinweis auf Rechtsvorschriften Bayerisches Blindengeldgesetz (BayBlindG idF vom 24.07.2013 <GVBl. S. 464>) <Auszug> Artikel 1: Anspruch (1) Blinde und taubblinde Menschen erhalten auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat Bayern haben ….. zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen ein monatliches Blindengeld. (2) Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nummer 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nummer 1 gleichzuachten sind.
Eine der Blindheit entsprechende gleich schwere cerebrale Störung des Sehvermögens setzt keine spezifische Sehstörung voraus (Aufgabe von BSG vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R = BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufgehoben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückgewiesen.Das beklagte Land trägt die Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens. Tatbestand Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG).Der Kläger erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Gehirnschäden. Diese führten unter anderem zu einem Anfallsleiden, einer spastischen Bewegungsstörung sowie zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung. Der Entwicklungsstand des Klägers entspricht dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. Unter anderem verfügt der Kläger lediglich über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen, so dass der Kläger nicht sehen kann.Die allein sorgeberechtigte Mutter des Klägers beantragte 2006 für ihren Sohn Blindengeld nach dem BayBlindG. Der beklagte Freistaat lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim Kläger eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des BSG zur sogenannten cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld (Bescheid vom 31.7.2007; Widerspruchsbescheid vom 4.12.2007).Das SG hat der Klage stattgegeben, weil der Kläger faktisch blind und seine visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung durch andere Sinnesorgane (Urteil vom 15.12.2010). Auf die Berufung des beklagten Freistaates hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage nach Einholung weiterer Sachverständigengutachten abgewiesen. Der Kläger sei zwar faktisch blind. Auch stehe das Vorliegen cerebraler Schäden der Annahme von Blindheit nicht grundsätzlich entgegen. Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden müsse für einen Anspruch auf Blindengeld jedoch im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegen. Dies sei entgegen der Ansicht des SG beim Kläger nicht der Fall. Die Unterschiede bei den noch vorhandenen Sinneswahrnehmungen seien nach den eingeholten Gutachten im Hinblick auf den Gesamtzustand des Klägers vielmehr marginal (Urteil vom 27.3.2014).Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103 SGG, Art 1 Abs 2 BayBlindG). Die vom LSG gestellten Anforderungen an die Prüfung einer spezifischen Sehstörung seien mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar. Soweit gutachterlich zur Darstellung der Entwicklung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung und motorischer sowie mentaler Retardierung auf die sogenannten Griffiths Entwicklungsskalen (GES) zurückgegriffen worden sei, fehle es an einer allgemein anerkannten Grundlage für die Prüfung einzelner Sinneswahrnehmungen.Der Kläger beantragt,das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. März 2014 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15. Dezember 2010 zurückzuweisen.Der beklagte Freistaat beantragt,die Revision zurückzuweisen.Er hält das Urteil für zutreffend.Der Senat hat zu den GES als Methode der Diagnostik spezifischer Sehstörungen bei cerebral geschädigten Kindern Auskünfte der Gesellschaft für Neuropädiatrie und des Gemeinsamen Bundesausschusses eingeholt. Gründe Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG.1. Der Senat ist, obwohl in der Sache um die Auslegung bayerischen und damit an sich irreversiblen Landesrechts gestritten wird, nicht an einer Sachentscheidung gehindert.Nach § 162 SGG kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Zwar erstreckt sich das BayBlindG nicht über den Freistaat Bayern und damit den Bezirk des Bayerischen LSG hinaus. Revisibilität von Landesrecht hat das BSG jedoch auch angenommen, wenn inhaltsgleiche Vorschriften verschiedener Länder in den Bezirken verschiedener LSG gelten und die Übereinstimmung nicht nur zufällig, sondern im Interesse der Rechtsvereinheitlichung bewusst und gewollt ist (vgl dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 162 RdNr 5a mwN; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 162 RdNr 17 f mwN). Letzteres hat das BSG in ständiger Rechtsprechung auch für den Begriff der Blindheit nach dem BayBlindG angenommen. Der dort verwendete - hier umstrittene und entscheidungserhebliche - Blindheitsbegriff stimmt mit dem Blindheitsbegriff überein, den auch die in den Bezirken anderer LSG geltenden landesrechtlichen Blindengeldgesetze zu Grunde legen (zB für NRW § 1 Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose vom 25.11.1997, GVBl S 430 idF des Gesetzes vom 5.4.2005, GVBl S 332). Übereinstimmung besteht zudem mit dem bundeseinheitlich geltenden Begriff der Blindheit in § 72 Abs 5 SGB XII, auf den im Schwerbehindertenrecht (§ 3 Abs 1 Nr 3 Schwerbehindertenausweisverordnung) Bezug genommen wird (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004, SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 5; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R, BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 6 mwN).2. Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers ist begründet. Der allein gegenständliche Bescheid vom 31.7.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.12.2007, mit dem der Beklagte dem Kläger Blindengeld versagt hat, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat seit Antragstellung Anspruch auf Gewährung von Blindengeld nach dem BayBlindG. Er ist blind im Sinne des Gesetzes (dazu a). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass beim Kläger auch weitere Sinnesorgane wie das Hörvermögen oder der Tastsinn nicht weniger auf Schwerste beeinträchtigt sind (dazu b).a) Monatliches Blindengeld nach dem BayBlindG erhalten blinde und taubblinde Menschen auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben oder durch die VO (EG) Nr 883/2004 gleichgestellt sind, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen (Art 1 Abs 1 BayBlindG vom 7.4.1995, GVBl 1995, 150, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des BayBlindG vom 24.7.2013, GVBl 2013, 464). Dies ist beim Kläger der Fall. Er lebt in Bayern und ist entgegen der Ansicht des beklagten Freistaates auch blind im Sinne des Gesetzes.Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art 1 Abs 2 S 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 1 BayBlindG) sowie bei denen hierdurch (Nr 1) nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr 1 gleichzuachten sind (Art 1 Abs 2 S 2 Nr 2 BayBlindG; zur Entwicklung des Begriffs "Blindheit" vgl Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4).Dies ist beim Kläger der Fall. Nach den Feststellungen des LSG besitzt er lediglich basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der Einsatz seiner Sehfähigkeit im Alltag unter Tageslichtbedingungen ist nicht möglich.Dabei kann es sowohl nach dem Wortlaut als auch nach Sinn und Zweck des Gesetzes dahingestellt bleiben, auf welcher konkreten Ursache die Blindheit im Einzelfall beruht, ob sie auf einer Schädigung des optischen Sehapparates, einer Hirnschädigung oder einer Kombination denkbarer Ursachen beruht. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich und können zur Blindheit führen (etwa der Ausfall der Sehrinde <sog Rindenblindheit>, vgl auch Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c Versorgungsmedizin-Verordnung <VersMedV>), und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Der erkennende, für das BayBlindG allein zuständige 9. Senat des BSG gibt insoweit seine bisherige anderslautende, an die Materialien zum Gesetzentwurf für ein BayBlindG anknüpfende Rechtsprechung auf.Das BSG hatte bisher in Anlehnung an Empfehlungen der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirates beim früheren Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA, Rundschreiben vom 16.2.1990) zwischen Störungen beim "Erkennen" (Schädigung des Sehapparates) und beim "Benennen" (Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize) unterschieden. Ausgangspunkt der Empfehlung war der Antrag eines Mädchens, das infolge einer Gewalttat unter einem apallischen Syndrom litt und die Versorgung mit einem Blindenführhund beantragt hatte. Der Sachverständigenbeirat beim BMA kam zu dem Ergebnis, dass bei einer solchen cerebralen Schädigung (dort als "Seelenblindheit" oder "visuelle Agnosie" bezeichnet) keine Blindheit vorliege; nicht das Sehvermögen mit dem Sehorgan im engeren Sinne sei beeinträchtigt, sondern die Fähigkeit, das Gesehene geistig zu verarbeiten (vgl dazu Stefan Jungeblut, Nicht sehen können - doch nicht blind? in: Sozialrecht im Umbruch, 2010, S 69, 70). Das BSG hat bei seiner Differenzierung zwischen "Erkennens- und Benennungsstörungen" selbst darauf hingewiesen, dass es sich im Einzelfall als sehr schwierig erweisen könne, eine Störung zu lokalisieren und einer dieser Kategorien zuzuweisen (vgl BSG Urteil vom 31.1.1995 - 1 RS 1/93 - SozR 3-5920 § 1 Nr 1 S 5, Juris RdNr 34 zum Saarländischen Gesetz Nr 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe; zum BayBlindG wieder Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1 RdNr 13; Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9-11).Das BSG gibt diese Differenzierung nunmehr auf. Soweit in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, unter dem Begriff "Störungen des Sehvermögens" seien Störungen beim Erkennen optischer Reize zu verstehen, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lassen (Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein BayBlindG, BayLT-Drucks 13/458 S 5; vgl zum Ausschluss jeder visuellen Agnosie nach Anl zu § 2 Teil A Nr 6 Buchst c VersMedV; zur Teilnichtigkeit dieser Regelung SG Osnabrück Urteil vom 24.6.2009 - S 9 SB 231/07 mit Anm Dau, jurisPR-SozR 24/2009 Anm 4), hat diese Differenzierung in Art 1 BayBlindG keinen normativen Niederschlag gefunden.Die Differenzierung kann zudem gerade bei cerebral geschädigten Menschen vielfach medizinisch kaum nachvollzogen werden, dh die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht genau bestimmt werden. Denn die Untersuchung visueller Wahrnehmungsleistungen setzt voraus, dass Untersuchungsfähigkeit gegeben ist; dazu gehören ua ausreichende Leistungen in den kognitiven Bereichen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, ausreichende Sprachleistungen (Mitteilung ua über das eigene Sehvermögen bzw Beschreiben von optischen Reizen) oder ausreichende Handfunktionen, etwa um Reaktionstasten im Rahmen perimetrischer Untersuchungen betätigen zu können (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81 ff; und sogleich unter 2b, aa).Ein hinreichend sachlicher Grund für das Erfordernis einer genauen Lokalisierung der Sehstörung ist daher nicht nachweisbar. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung "Sehen" (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, ob der behinderte Mensch "blind" ist. Damit wird die Frage hinfällig, ob die zugrunde liegende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen in strikter zeitlicher Abfolge stattfindenden Prozess mit mehreren voneinander klar abgrenzbaren Phasen (perzeptiv, semantisch und lexikalisch) dar, mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar ist (vgl Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 82: fehlende Trennschärfe visueller Verarbeitungsstrukturen; aA und für einen mehrstufigen Prozess weiterhin vgl Zimbardo/Gerrig, Psychologie, 20. Aufl, 2015, S 112 ff, 161 f).b) Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht entgegen, dass bei ihm darüber hinaus auch sonstige Sinnesorgane wie sein Hörvermögen oder der Tastsinn auf Schwerste beeinträchtigt sind. Soweit der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung für den Blindengeldanspruch verlangt hat, dass bei cerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegt, hält er auch daran nicht mehr fest (Aufgabe von BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2). Der Senat hat für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten (vgl BSG Urteil vom 20.7.2005 - B 9a BL 1/05 R - BSGE 95, 76 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 2, RdNr 9). Zu einer Aufgabe dieser Rechtsprechung sieht sich der Senat aus den oben bereits angesprochenen Erkenntnisschwierigkeiten (dazu aa) sowie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung veranlasst (dazu bb).aa) Die Praxis der Instanzgerichte, darunter diejenige über den Anspruch des Klägers, zeigen, dass sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen lässt (vgl weiter zB Urteil des Bayerischen LSG vom 17.7.2012 - L 15 BL 11/08 - Juris RdNr 58 ff). Insoweit fehlt es an Erhebungs- und Untersuchungsmethoden, deren Einsatz sowohl zu medizinisch sicheren Ergebnissen führt als auch ethisch vertretbar ist. Das Kriterium der "spezifischen Sehstörung" hat sich aus Sicht des Senates insgesamt als nicht praktikabel erwiesen, weil es zu einer Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen führt.Anspruchsbegründende Tatsachen im Recht der sozialen Leistungen unterliegen grundsätzlich einem notwendigen Vollbeweis (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 15 RdNr 46), die Nichterweislichkeit geht zu Lasten des Klägers. Die Nichterweislichkeit ginge auch im Falle des bayerischen Blindengelds zu Lasten des Klägers (hierzu Demmel, Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung, 2003, S 228). Etwaige Beweiserleichterungen des sozialen Entschädigungsrechts kommen nicht zum Tragen (zB § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung; Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei Kausalitätsfragen BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 6 RdNr 25). Besondere Vorschriften der Kriegsopferversorgung gelten im Rahmen des BayBlindG nur, soweit solche im SGG vorgesehen sind (vgl Art 7 Abs 3 S 2 BayBlindG, zB § 154 Abs 2 SGG; vgl BayLT-Drucks 13/458 S 6).Die mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind, ist in Bezug auf die vorhandene medizinische Diagnostik zur Feststellung einer spezifischen Sehstörung nicht gerechtfertigt. Die Diagnostik spezifischer Sehstörungen insbesondere bei cerebral geschädigten Kindern ist beschränkt. Medizintechnische Untersuchungsmethoden sind - worauf in der Vorinstanz unangegriffen hingewiesen wurde - wegen der notwendigen Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar, verbleibende Befragungen der Betreuungspersonen störanfällig, weil oftmals subjektiv gefärbt (vgl dazu Braun/Zihl, Der Blindheitsnachweis bei zerebralen Funktionsstörungen, MED SACH 2/2015, 81, 83). Der Einsatz von Entwicklungsskalen hängt nach Auskunft der Gesellschaft für Neuropädiatrie maßgeblich von der Expertise des Testleiters ab. Die Anwendung der GES für Kleinkinder (im Alter von 0 bis 12 Monaten) auf ältere Kinder begünstigt weitere Unwägbarkeiten, unabhängig davon, ob sie dem neuesten anerkannten Stand des einschlägigen Erfahrungswissens genügen, welcher im Rahmen der richterlichen Sachaufklärung (§ 103 SGG) verbindlich zugrunde zu legen wäre (vgl BSG Urteil vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 63). Zweifel bestehen jedenfalls insofern auch in Anbetracht des Umstandes, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in ihrer S2k-Praxisleitlinie "Intelligenzminderung" von Dezember 2014 S 35 die GES (Brandt und Sticker 2001) wegen ihrer geringen Testgüte und mangels aktueller Normen für den diagnostischen Einsatz nicht einmal mehr empfohlen hat (abrufbar unter www.awmf.de).bb) Vor allem aber lässt es der allgemeine Gleichheitssatz nicht zu, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zu Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen (Hören, Tasten etc), sog spezifische Sehstörung. Hieran hält der Senat im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz nicht mehr fest (Art 3 Abs 1 und 3 S 2 GG; Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention, zur unmittelbaren Anwendbarkeit BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 69, RdNr 29 ff).Abgesehen davon, dass sich bei schwersten cerebralen Schäden die mit dem Merkmal einer spezifischen Sehstörung angestrebte Begrenzung des blindengeldberechtigten Personenkreises angesichts des erhöhten Risikos von Zufallsergebnissen (dazu oben aa) nach derzeitigen Erkenntnissen nicht hinreichend rechtssicher erreichen lässt (zum vorgelagerten Aspekt einer genauen Abgrenzung des begünstigten Personenkreises bereits BVerfGE 37, 154, 155, 164 f), besteht auch sonst keine Möglichkeit die genannte Differenzierung zu rechtfertigen.Der Senat sieht keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der "nur" blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich zu seiner Blindheit noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann (im Ergebnis ebenso bereits BVerfG Beschluss vom 7.5.1974 - 1 BvL 6/72 - BVerfGE 37, 154, 165 f zur Differenzierung zwischen zu einer zu fehlendem Sehvermögen führenden Beeinträchtigung der Sehschärfe und einer vergleichbar wirkenden Einschränkung des Gesichtsfeldes).Zwar kommt in der früheren Rechtsprechung des BSG das Anliegen zum Ausdruck, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, weil Behinderungen solcher Art ggf durch anderweitige, auch einkommens- und vermögensunabhängige Sozialleistungen ausgeglichen werden, wenn deren Voraussetzungen vorliegen (etwa Leistungen der Pflegeversicherung oder der Eingliederungshilfe, §§ 61 ff SGB XII; vgl Demmel, aaO, S 501 ff; zur Reform der Eingliederungshilfe durch Einführung eines Bundesteilhabegelds vgl Koalitionsvertrag 2013, S 111 abrufbar unter www.bundesregierung.de). Dies kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter jedoch nicht begründen.Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedarf, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden können, keinen solchen sachlichen Grund dar. Zwar heißt es in Art 1 Abs 1 BayBlindG, das Blindengeld werde "zum Ausgleich der durch diese Behinderungen bedingten Mehraufwendungen" gezahlt. Das BSG hat jedoch entsprechend der Praxis der zuständigen Behörden, ohne dass dem der Gesetzgeber entgegengetreten wäre, entschieden, dass das Blindengeld derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt wird. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten. "Blindheitsbedingte Mehraufwendungen" sind insoweit keine eigenständige Anspruchsvoraussetzung, sondern umschreiben lediglich die allgemeine Zielsetzung der gesetzlichen Regelung (vgl BSG Urteil vom 26.10.2004 - B 7 SF 2/03 R - SozR 4-5921 Art 1 Nr 1, RdNr 10 und 11; BSG SozR 3-5922 § 1 Nr 1; BVerwGE 51, 281, 286). Insoweit hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest.Nach allem gilt: Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlich wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist und jedenfalls Anspruch auf Blindengeld hat.3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
bundessozialgericht
bsg_31 - 2017
29.06.2017
Begrenzter Korrekturbedarf bei der Vergütung für Psychotherapeuten Ausgabejahr 2017 Nummer 31 Datum 29.06.2017 Psychotherapeuten haben für das Jahr 2008 keinen Anspruch auf höhere Vergütung. Für das Jahr 2007 ist ihnen jedoch ein zu niedriges Honorar gezahlt worden, weil bei der Bemessung der Praxiskosten von veralteten Daten ausgegangen worden ist. Dies hat der 6. Senat des Bundessozialgerichts in zwei Musterverfahren entschieden (Aktenzeichen B 6 KA 36/16 R und B 6 KA 29/17 R). Psychotherapeuten, die gesetzlich Krankenversicherte behandeln, dürfen bezogen auf die Höhe der Vergütung gegenüber Ärzten anderer Fachrichtungen nicht benachteiligt werden. Das bedeutet, dass das Honorar aus einer mit vollem Einsatz (in Vollzeit) ausgeübten psychotherapeutischen Tätigkeit nicht wesentlich geringer sein darf, als das Einkommen einiger zum Vergleich herangezogener Arztgruppen. Bei der Bemessung des Honorars müssen auch die Praxiskosten einschließlich der Kosten für Personal berücksichtigt werden. Maßgebend sind dabei die Daten, die vor Beginn des Abrechnungsjahres vorlagen. Wenn später neue Erkenntnisse erzielt werden, hat das nicht zur Folge, dass die Honorare rückwirkend korrigiert werden müssen. Für das Jahr 2008 waren die Honorare nicht zu beanstanden, weil sie zutreffend auf der Basis der bis Ende des Jahres 2007 verfügbaren Daten berechnet worden sind. Dagegen hätten die Honorare bei richtiger Berechnung auf der Grundlage der 2006 verfügbaren Daten für das Jahr 2007 etwas höher festgesetzt werden müssen. Die Kläger haben deshalb voraussichtlich Anspruch auf entsprechende Nachzahlungen. Für die Vergütung im Jahr 2011 konnte der Senat keine Entscheidung treffen, weil der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Verhandlung wegen Störungen im Bahnverkehr nicht erreichen konnte. Die Sache (Aktenzeichen B 6 KA 8/16 R) wurde deshalb vertragt.. Hinweis auf Rechtsvorschriften §§ 85 SGB V (Fassung 2007 - Auszug) Absatz 4: (1)Die Kassenärztliche Vereinigung verteilt die Gesamtvergütungen an die Vertragsärzte; … . (4)Im Verteilungsmaßstab sind Regelungen zur Vergütung der psychotherapeutischen Leistungen der Psychotherapeuten, der Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, der Fachärzte für Nervenheilkunde, der Fachärzte für psychotherapeutische Medizin sowie der ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte zu treffen, die eine angemessene Höhe der Vergütung je Zeiteinheit gewährleisten…. Absatz 4a: (1)Der Bewertungsausschuss (§ 87 Absatz 1 Satz 1) bestimmt Kriterien zur Verteilung der Gesamtvergütungen nach Absatz 4 …
BundessozialgerichtBSG, Urteil vom 28. 6. 2017 – B 6 KA 29/17 R (lexetius.com/2017,2733)Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juni 2016 werden zurückgewiesen.Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen je zur Hälfte.[1] Tatbestand: Die Beteiligten streiten über die angemessene Vergütung der zeitgebundenen und genehmigungspflichtigen psychotherapeutischen Leistungen des Kapitels 35. 2 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für die ärztlichen Leistungen (EBM-Ä) in den Quartalen I/2007 und I/2008.[2] Die Klägerin ist in M. als Ärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie legte gegen die Honorarbescheide der beklagten KÄV für die streitbefangenen Quartale Widerspruch ein, den sie mit Fehlern in den grundlegenden Beschlüssen des Bewertungsausschusses (BewA) vom 29. 10. 2004 und 31. 8. 2011 hinsichtlich der Ermittlungen der angemessenen Vergütung der psychotherapeutischen Leistungen begründete. Die für 2007 und 2008 zugrunde gelegten Kostensätze seien rechtswidrig. Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheiden vom 20. 2. 2013 die Widersprüche zurück. Das SG hat mit Urteilen vom 23. 7. 2014 die Klagen abgewiesen.[3] Das LSG hat auf die Berufungen der Klägerin die beiden Verfahren verbunden, den Honorarbescheid für das Quartal I/2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides aufgehoben und die Beklagte zur Neubescheidung verpflichtet. Die Berufung der Klägerin in Bezug auf den Honorarbescheid für das Quartal I/2008 hat das LSG zurückgewiesen. Bezüglich beider streitbefangener Quartale sei nicht zu beanstanden, dass der BewA sich in seinem Beschluss vom 31. 8. 2011 auf die Erhebung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI) bezogen habe. Er sei nicht gehalten gewesen, auf die Daten der sog Prime-Networks-Studie zurückzugreifen. Bei dieser Studie seien durchschnittliche psychotherapeutische Praxen untersucht worden, bei der ZI-Erhebung aber entsprechend der Vorgabe des BSG voll ausgelastete Praxen. Der BewA habe auch nicht den empirischen Personalkostenanteil angesetzt, sondern die Personalkosten normativ festgesetzt. Dabei habe er sich – wie im Grundsatz von der Rechtsprechung des BSG gebilligt – an den Kosten für eine halbtags tätige Mitarbeiterin orientiert und insoweit einen rechnerischen Mittelwert aus den Gehältern nach den Gehaltstarifen medizinischer Fachangestellter und dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) mit der jeweils geforderten Qualifikation gebildet. Dieser normative Ansatz habe die Psychotherapeuten ausschließlich begünstigt. Eine Orientierung an den tatsächlich auch in den obersten Umsatzklassen nachgewiesenen Personalkosten hätte zu einem sehr viel geringeren Betriebskostenanteil in der Modellberechnung des BewA geführt. Die Anknüpfung an die Betriebskosten der Psychotherapeuten in der Honorarklasse mit mehr als 70 000 Euro Umsatz habe schon in der Vergangenheit die Beschlüsse des BewA geprägt und sei vom BSG gebilligt worden. Zu beanstanden sei aber, dass der BewA für 2007 – anders als für 2008 – nicht auf die aktuellste Kostenstrukturanalyse des ZI von 2005 für den Zeitraum 2003 bis 2005 zurückgegriffen habe. Damit werde das Ziel einer möglichst zutreffenden, auf zeitnahen Daten beruhenden Festlegung verfehlt.[4] Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, der BewA habe die Grundsätze der maß-geblichen Entscheidung des Senats vom 28. 5. 2008 für die Berechnung der Betriebskosten nicht hinreichend beachtet. Mit seinem Beschluss vom 31. 8. 2011 sei der BewA seiner Pflicht zur realitätsgerechten Festlegung der Betriebskosten nicht nachgekommen. Die verwendeten Daten seien nicht valide, sondern, wie ein Vergleich mit anderen Erhebungen zeige, statistische Ausreißer. Höhere Validität hätten die Daten aus der Prime-Networks-Studie, die als Nachfolgeprojekt der Erhebung von 1999 anzusehen sei. Die Daten dieser Erhebung seien auch für das Jahr 2000 rückwirkend verwendet worden. Nach der Rechtsprechung des BSG hätten 2011 die bis dahin zugänglichen Daten für die Jahre 2007 und 2008 verwertet werden müssen.[5] Der BewA habe die empirisch ermittelten Personalkosten der Psychotherapeuten zu hoch angesetzt, sodass diese nicht wirklich von der Festsetzung der normativ ermittelten Praxiskosten hätten profitieren können. Im Übrigen beanstandet die Klägerin Fehler bei der Berechnung der normativ angesetzten Personalkosten. Auch die Mittelung zwischen den Einkommensklassen des öffentlichen Dienstes und der Arzthelferinnen sei verfehlt.[6] Die Klägerin beantragt, das Urteil des Bayerischen LSG vom 1. 6. 2016, soweit die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG München vom 23. 7. 2014 (Az: S 38 KA 263/13) zurückgewiesen worden ist, und den Honorarbescheid der Beklagten für das Quartal I/2008 vom 9. 7. 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. 2. 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Honoraranspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden und die Revision der Beklagten zurückzuweisen.[7] Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen LSG vom 1. 6. 2016 insoweit aufzuheben, als es das Urteil des SG München vom 23. 7. 2014 (Az: S 38 KA 262/13) sowie den Honorarbescheid der Beklagten für das Quartal I/2007 vom 10. 7. 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. 2. 2013 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet hat, über den Honoraranspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bayerischen LSG neu zu entscheiden und die Revision der Klägerin zurückzuweisen.[8] Sie trägt vor, der BewA sei bei seiner Beschlussfassung im Jahr 2011 berechtigt gewesen, seiner Kostenbewertung nur die Daten zugrunde zu legen, die vor 2007 zur Verfügung gestanden hätten. Er sei nicht kraft Gesetzes gezwungen, eine Überprüfung anhand später zugänglich gewordener Daten vorzunehmen. Das vom LSG geforderte Vorgehen habe den entscheidenden Nachteil, dass mit der Berücksichtigung später vorliegender Daten ein Anreiz verbunden sei, vorsorglich Klage gegen Honorarbescheide zu erheben, um die Anwendung von im Laufe des Gerichtsverfahrens entstandenen aktuellen Kalkulationen für zurückliegende Zeiträume zu erzwingen.[9] Entscheidungsgründe: Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten sind nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Honoraranspruch der Klägerin nach Neufestlegung der Vorgaben für die Berechnung des Mindestpunktwerts für die Vergütung der antrags- und genehmigungspflichtigen Leistungen des Kapitels 35. 2 EBM-Ä für das Quartal I/2007 durch den (Erweiterten) BewA (EBewA) neu zu bescheiden. Für ihre im Quartal I/2008 erbrachten psychotherapeutischen Leistungen kann die Klägerin hingegen keine Neubescheidung beanspruchen. Die Vorgaben des EBewA zur Ermittlung des Psychotherapie-Punktwerts sind für diesen Zeitraum nicht zu beanstanden.[10] 1. Rechtsgrundlage für die Honorierung der psychotherapeutischen Leistungen der Klägerin war § 85 Abs 4 Satz 1 bis 3 SGB V (hier anzuwenden in der ab 1. 1. 2004 gültigen Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-Modernisierungsgesetz – vom 14. 11. 2003, BGBl I 2190). Danach stand jedem Vertragsarzt – und gemäß § 72 Abs 1 Satz 2 SGB V auch einem zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Psychotherapeuten – ein Anspruch auf Teilhabe an den von den Krankenkassen entrichteten Gesamtvergütungen entsprechend der Art und dem Umfang der von ihm erbrachten abrechnungsfähigen Leistungen nach Maßgabe der Verteilungsregelungen des Honorarverteilungsmaßstabs zu. Ergänzende Regelungen für die Honorierung psychotherapeutischer Leistungen fanden sich in § 85 Abs 4 Satz 4 SGB V. Hiernach hatten die einzelnen KÄVen in ihren Verteilungsmaßstäben Regelungen zur Vergütung der Leistungen der Psychotherapeuten und der ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte zu treffen, die eine angemessene Höhe der Vergütung je Zeiteinheit gewährleisten. Den Inhalt dieser Regelungen bestimmte gemäß § 85 Abs 4a Satz 1 letzter Halbsatz SGB V, ebenfalls in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes, der BewA.[11] Nach dem seit 1. 1. 2000 geltenden Regelungskonzept sollte der (E) BewA im Interesse einheitlicher Vergütungsgrundsätze für psychotherapeutische Leistungen im ganzen Bundesgebiet die maßgeblichen Vorgaben auf normativer Ebene treffen, § 87 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 SGB V. Er hatte den Inhalt der von der einzelnen KÄVen im Rahmen der Honorarverteilung anzuwendenden Regelungen zur Vergütung der genannten psychotherapeutischen Leistungen vorzugeben; diese Inhaltsbestimmung band die einzelne KÄV. Nach der Rechtsprechung des Senats würde das vom Gesetz selbst vorgegebene Normkonkretisierungsprogramm ausgehöhlt, wenn entweder die einzelne KÄV oder aber die Gerichte diese Vorgaben unter unmittelbarem Durchgriff auf das Merkmal der "Angemessenheit" in § 85 Abs 4 Satz 4 SGB V außer Acht ließen (vgl BSGE 92, 87 = SozR 4—2500 § 85 Nr 8, RdNr 14; BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 16 f).[12] Für die Gerichte hat dieses Regelungskonzept zur Folge, dass sie die Gestaltungsfreiheit des (E) BewA, wie sie für jede Normsetzung kennzeichnend ist, zu respektieren haben (vgl BSGE 92, 87 = SozR 4—2500 § 85 Nr 8, RdNr 19; BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 17 f; grundlegend mit Nachweisen der Rechtsprechung des Senats und des BVerfG BSGE 94, 50 = SozR 4—2500 § 72 Nr 2, RdNr 86). Die richterliche Kontrolle untergesetzlicher Normen beschränkt sich darauf, ob sich die untergesetzliche Norm auf eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage stützen kann und ob die äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis durch den Normgeber überschritten wurden. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn die getroffene Regelung in einem "groben Missverhältnis" zu den mit ihr verfolgten legitimen Zwecken steht (BVerfGE 108, 1, 19), dh in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist (so BVerwGE 125, 384 RdNr 16; vgl auch BSG SozR 4—2500 § 85 Nr 34 RdNr 15). Der (E) BewA überschreitet den ihm eröffneten Gestaltungsspielraum, wenn sich zweifelsfrei feststellen lässt, dass seine Entscheidungen von sachfremden Erwägungen getragen sind – etwa weil eine Gruppe von Leistungserbringern bei der Honorierung bewusst benachteiligt wird – oder dass es im Lichte von Art 3 Abs 1 GG keinerlei vernünftige Gründe für die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem bzw für die ungleiche Behandlung von im Wesentlichen gleich gelagerten Sachverhalten gibt (BVerfG [Kammer] SozR 4—2500 § 87 Nr 6 RdNr 19; BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 17 f; BSGE 94, 50 = SozR 4—2500 § 72 Nr 2, RdNr 86 mwN; BSG SozR 4—2500 § 85 Nr 39 RdNr 17).[13] Sofern eine Norm tatsächliche Umstände zur Grundlage ihrer Regelung macht, erstreckt sich die gerichtliche Überprüfung insbesondere darauf, ob der BewA – soweit mehrere Arztgruppen betroffen sind – nach einheitlichen Maßstäben verfahren ist und inhaltlich darauf, ob seine Festsetzung frei von Willkür ist, dh ob er sich in sachgerechter Weise an Berechnungen orientiert hat und ob sich seine Festsetzung innerhalb des Spektrums der verschiedenen Erhebungsergebnisse hält (BSGE 89, 259, 265 = SozR 3—2500 § 87 Nr 34 S 193; vgl auch Wahl, Die Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs und das Ende der Praxisbudgets, MedR 2003, 569, 571). Der festgesetzte Zahlenwert muss "den Bedingungen rationaler Abwägung genügen" (BSGE 89, 259, 265 = SozR 3—2500 § 87 Nr 34 S 193 unter Bezugnahme auf BVerfGE 85, 36, 57 zu Kapazitätsberechnungen für Hochschulzulassung und BVerwGE 106, 241, 247 zum Grenzwert für Schienenverkehrslärm; vgl auch BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 18; BSGE 94, 50 = SozR 4—2500 § 72 Nr 2, RdNr 86; BSG SozR 4—2500 § 87 Nr 14 RdNr 19).[14] Dabei darf die gerichtliche Kontrolldichte speziell der Entscheidungen des (E) BewA nicht überspannt werden. Der an den BewA gerichtete gesetzliche Gestaltungsauftrag zur Konkretisierung der Grundlagen der vertragsärztlichen Honorarverteilung umfasst auch den Auftrag zu einer sinnvollen Steuerung des Leistungsgeschehens in der vertragsärztlichen Versorgung (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 19; BSGE 88, 126, 129 = SozR 3—2500 § 87 Nr 29 S 147 f). Hierzu bedarf es komplexer Kalkulationen, Bewertungen, Einschätzungen und Prognosen, die nicht jeden Einzelfall abbilden können, sondern notwendigerweise auf generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen angewiesen sind (vgl BVerfGE 108, 1, 19; BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 19; BSGE 100, 154 = SozR 4—2500 § 87 Nr 16, RdNr 28 mwN im Zusammenhang mit dem EBM-Ä). Die gerichtliche Überprüfung eines komplexen und auch der Steuerung dienenden Regelungsgefüges darf sich deshalb nicht isoliert auf die Bewertung eines seiner Elemente beschränken, sondern muss stets auch das Gesamtergebnis der Regelung mit in den Blick nehmen (vgl BVerfGE 117, 330, 353). Die Richtigkeit jedes einzelnen Elements in einem mathematischen, statistischen oder betriebswirtschaftlichen Sinne ist deshalb nicht Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der gesamten Regelung (vgl BSGE 100, 154 = SozR 4—2500 § 87 Nr 16, RdNr 19; BSGE 88, 126, 136 = SozR 3—2500 § 87 Nr 29 S 155 f; zur Festlegung der Regelleistung der Grundsicherung ähnlich BSGE 100, 94 = SozR 4—4200 § 22 Nr 5, RdNr 22). Auch die Festsetzung des Betriebskostenansatzes ist angesichts der Bewertungen, von denen sie abhängt, als Normsetzung zu qualifizieren (vgl BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 38; ebenfalls zu Kostensätzen als Grundlage für die Bewertung von ärztlichen Leistungen: BSG SozR 4—2500 § 85 Nr 70 RdNr 37). Die gerichtliche Kontrolle erstreckt sich insbesondere darauf, ob der BewA sich in sachgerechter Weise an vorliegenden Berechnungen orientiert hat und von Annahmen ausgegangen ist, die sich innerhalb des Spektrums vorliegender Erhebungsergebnisse halten (vgl BSGE 89, 259, 264 = SozR 3—2500 § 87 Nr 34 S 192).[15] 2. Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist die mit Beschluss des BewA vom 31. 8. 2011 (DÄ 2011, A-2053) getroffene ergänzende Regelung eines Betriebskostenbetrages von 42 974 Euro für das Jahr 2008 nicht zu beanstanden. Der BewA hat seinen Gestaltungsspielraum jedoch überschritten, indem er die im Herbst 2006 veröffentlichte Kostenstrukturanalyse des ZI für die Jahre 2002 bis 2004, aus der sich ein Anpassungsbedarf hinsichtlich der Betriebskosten von 40 634 Euro auf einen Betrag von mindestens 41 052 Euro ergab, für das Jahr 2007 nicht berücksichtigt hat.[16] a) Der Beschluss des BewA vom 31. 8. 2011 war eine Reaktion auf das Urteil des Senats vom 28. 5. 2008, in dem eine Überprüfung des Betriebskostenbetrages von jährlich 40 634 Euro für die Jahre 2007 und 2008 als notwendig erachtet worden war (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 39). Die Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung zur Angemessenheit der Vergütung vertragspsychotherapeutischer Leistungen stellte sich bis zu diesem Urteil wie folgt dar (vgl auch Moeck, Die Vergütung der Psychotherapeuten – aktuelle Rechtsfragen, ZMGR 2017, 97 ff; ders, Die Budgetierung psychotherapeutischer Leistungen durch zeitbezogene Kapazitätsgrenzen, 2012, S 66 ff).[17] aa) Mit Urteil vom 20. 1. 1999 (BSGE 83, 205 = SozR 3—2500 § 85 Nr 29) hat der Senat entschieden, dass unter bestimmten Umständen eine Verpflichtung der KÄVen zur Punktwertstützung der genehmigungsbedürftigen und zeitgebundenen psychotherapeutischen Leistungen bestehe. Psychotherapeuten dürften im Wesentlichen nur Leistungen erbringen, die zeitgebunden seien und ganz überwiegend vorab von den Krankenkassen genehmigt werden müssten. Deshalb könnten sie im Kernbereich ihrer Tätigkeit die Menge der berechnungsfähigen Leistungen nicht bzw kaum vermehren, sodass jeder Punktwertrückgang bei voll ausgelasteten Psychotherapeuten zu einem Umsatzrückgang führe. Eine Handlungs- und Korrekturpflicht der KÄV bestehe jedenfalls dann, wenn der vertragsärztliche Umsatz voll ausgelasteter Psychotherapeuten und psychotherapeutisch tätiger Ärzte, soweit sie überwiegend oder ausschließlich zeitabhängige und seitens der Krankenkasse genehmigungsbedürftige Leistungen erbringen, erheblich hinter dem durchschnittlichen Praxisüberschuss (Umsatz aus vertragsärztlicher Tätigkeit abzüglich Kosten) vergleichbarer Arztgruppen wie zB der Psychiater zurückbleibe (BSGE 83, 205, 213 = SozR 3—2500 § 85 Nr 29 S 220).[18] bb) Mit Urteil vom 25. 8. 1999 (BSGE 84, 235 = SozR 3—2500 § 85 Nr 33) hat der Senat in Fortführung dieser Rechtsprechung entschieden, dass Psychotherapeuten und Vertragsärzte, die überwiegend bzw ausschließlich (zu über 90 %) psychotherapeutisch tätig sind, grundsätzlich Anspruch auf Honorierung der zeitabhängigen und genehmigungsbedürftigen Leistungen mit einem Punktwert von 10 Pfennig haben. Zur Ermittlung der angemessenen Vergütung hat der Senat eine Modellberechnung entwickelt, wonach die Belastungsgrenze für einen vollzeitig tätigen Psychotherapeuten bei wöchentlich 36 zeitabhängig zu erbringenden psychotherapeutischen Leistungen von mindestens 50-minütiger Dauer erreicht sei (BSGE 84, 235, 239 ff = SozR 3—2500 § 85 Nr 33 S 255 ff). Bei einer Vergütung je Einzelsitzung von 145 DM sei unter Einsatz der vollen möglichen Arbeitszeit unter Zugrundelegung von 43 Arbeitswochen im Jahr ein Jahresumsatz von 224 460 DM fiktiv aus vertragsärztlicher Tätigkeit erzielbar, zu dem in der Regel zusätzliche Einkünfte nicht mehr in nennenswertem Umfang hinzutreten könnten. Zur Ermittlung des Kostenaufwands sei es sachgerecht, sich an den im EBM-Ä festgesetzten bundesdurchschnittlichen Praxiskostensätzen von 40, 2 % des Umsatzes aus vertragsärztlicher Tätigkeit zu orientieren, soweit für psychotherapeutisch tätige Ärzte keine empirischen Daten über durchschnittliche Betriebskosten vorlägen. Der sich bei dieser Berechnung ergebende fiktive Jahresertrag von 134 227 DM entspreche ungefähr dem durchschnittlichen Honorarüberschuss der Ärzte für Allgemeinmedizin (135 014 DM) und der Arztgruppe der Nervenärzte (149 208 DM). Dabei hat der Senat hervorgehoben, dass den Psychotherapeuten und überwiegend oder ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Vertragsärzten ein Punktwert in Höhe von 10 Pfennig für die zeitabhängigen Leistungen nicht auf Dauer unabhängig von der Umsatz- und Ertragsentwicklung im gesamten vertragsärztlichen Bereich zu gewähren sei (BSGE 84, 235, 241 f = SozR 3—2500 § 85 Nr 33 S 257).[19] cc) Als Reaktion auf diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22. 12. 1999 (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000, BGBl I, 2626) ab dem Jahr 2000 in § 85 Abs 4 Satz 4 SGB V bestimmt, dass im Honorarverteilungsmaßstab Regelungen zur Vergütung der Leistungen der Psychotherapeuten und der ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte zu treffen sind, die eine angemessene Höhe der Vergütung je Zeiteinheit gewährleisten. Gleichzeitig wurde in § 85 Abs 4a Satz 1 Halbsatz 2 bestimmt, dass der BewA den Inhalt dieser Regelungen zu treffen hat, um sicherzustellen, dass die Regelungen nach bundesweit einheitlichen Vorgaben getroffen werden (Ausschussbericht zum GKV-GRG 2000, BT-Drucks 14/1977 S 165 zu § 87a Abs 3).[20] dd) Erstmalig mit Beschluss vom 16. 2. 2000 (DÄ 2000, A-555 f) und den mit gewissen Modifizierungen getroffenen Nachfolgeregelungen für die Zeiträume 1. 1. 2001 bis 30. 6. 2002 (DÄ 2000, A-3291), 1. 7. 2002 bis 30. 6. 2004 (DÄ 2002, A-877) und ab dem 1. 7. 2004 (DÄ 2004, A-1357) erließ der BewA eine Berechnungsvorschrift für den regionalen Punktwert für antrags- und genehmigungspflichtige sowie zeitgebundene Leistungen des Abschnitts G IV des EBM-Ä aF für ausschließlich psychotherapeutisch tätige Vertragsärzte und -psychotherapeuten. Nach diesen Beschlüssen war zur Berechnung des KÄV-spezifischen Psychotherapie-Punktwertes der Soll-Umsatz ausschließlich psychotherapeutisch tätiger Vertragsärzte bzw -psychotherapeuten durch den in der Modellberechnung des Senats zugrunde gelegten jährlichen Leistungsbedarf einer voll ausgelasteten psychotherapeutischen Praxis von 2 244 600 Punkten zu dividieren. Der Soll-Umsatz der Psychotherapeuten wiederum war zu ermitteln, indem – unter Zugrundelegung der Verhältnisse des Jahres 1998 – der durchschnittliche Ertrag einer zum Vergleich herangezogenen anderen Arztgruppe im Bezirk der jeweiligen KÄV (ursprünglich für Zeiträume bis zum 30. 6. 2002 die Fachärzte für Allgemeinmedizin in der hausärztlichen Versorgung) um den Durchschnittsbetrag der Betriebsausgaben voll ausgelasteter Psychotherapeuten aufgestockt wurde. Die Betriebsausgaben waren ihrerseits auf der Grundlage des tatsächlichen Durchschnittsumsatzes aller Psychotherapeuten im Bezirk der betreffenden KÄV zu berechnen. Die so ermittelte Summe wurde zur Hochrechnung auf die Vollauslastung um den Faktor 1, 47 erhöht. Die anschließende Anwendung der im Bundesdurchschnitt ermittelten Kostenquote von 40, 2 % auf den hochgerechneten Durchschnittsumsatz ergab die in der Modellberechnung für voll ausgelastete Psychotherapeuten zu berücksichtigenden Betriebsausgaben. Dabei war zunächst eine Obergrenze berücksichtigungsfähiger Betriebsausgaben von 66 000 DM pro Jahr vorgesehen, die – für Zeiträume ab 1. 1. 2001 – um eine Untergrenze von 32 000 DM ergänzt wurde.[21] Für die Quartale ab 1. 7. 2002 gab der BewA die regionalisierte Ermittlung der Betriebsausgaben der Psychotherapeuten auf und setzte einen bundesweit einheitlichen Betrag von 28 100 Euro fest (Teil A Nr 2. 2. 3 des am 29. 3. 2002 bekannt gemachten Beschlusses, DÄ 2002, A-877). Zugleich war ab diesem Zeitpunkt für die Berechnung des Soll-Umsatzes der Psychotherapeuten nicht mehr der Durchschnittsertrag hausärztlich tätiger Allgemeinmediziner im Jahr 1998, sondern derjenige aller an der fachärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte im Jahr 2000 heranzuziehen, wobei Umsätze für belegärztliche Leistungen, für Dialysesachkosten, gesondert regional vereinbarte Leistungen sowie für Leistungen der Kapitel O und U des EBM-Ä aF außer Betracht blieben (aaO, Teil A Nr 2. 2. 4, 1. und 3. Spiegelstrich).[22] Der Senat hat mit Urteil vom 28. 1. 2004 (BSGE 92, 87 = SozR 4—2500 § 85 Nr 8), in dem die Angemessenheit der Höhe des Punktwerts im Quartal I/2000 umstritten war, sowohl die Berechnung des Umsatzes bei Vollauslastung durch Multiplikation des Durchschnittsumsatzes mit dem Faktor 1, 47 als auch die Deckelung der Praxiskosten auf 66 000 DM als strukturelle Fehlfestlegungen beanstandet. Soweit überhaupt für die Ermittlung eines fiktiven Soll-Umsatzes an tatsächlich erzielte Umsätze angeknüpft werden könne, dürften nur solche Umsätze zugrunde gelegt werden, die das Resultat einer rechtmäßigen Honorarverteilung seien. Dies sei bei der Vergütung der psychotherapeutischen Leistungen im Jahr 1998 typischerweise nicht der Fall gewesen, da der Mindestpunktwert von 10 Pfennig nicht grundsätzlich erreicht worden sei. Auch spiegele die Vergütungssituation die regional sehr unterschiedliche tatsächliche Auslastung der Praxen zu einem zufälligen Zeitpunkt wider. Hinsichtlich des Ansatzes einer Obergrenze für die Praxiskosten hat der Senat insbesondere die unterschiedliche Berechnung der anzusetzenden Praxiskosten bei Psychotherapeuten und der Vergleichsgruppe der Allgemeinärzte beanstandet.[23] ee) Mit Beschluss vom 29. 10. 2004 (DÄ 2004, A-3133 f), geändert durch Beschluss vom 18. 2. 2005 (DÄ 2005, A-457), hob der BewA die beanstandeten Beschlüsse auf und erließ eine Neuregelung mit Wirkung vom 1. 1. 2000. Dabei wurde die bisherige Berechnungsweise im Grundsatz beibehalten. Modifikationen erfolgten insoweit, als für die Betriebsausgaben voll ausgelasteter psychotherapeutischer Praxen nunmehr für alle Zeiträume ab dem 1. 1. 2000 ein bundesweit einheitlicher Betrag in Höhe von 40 634 Euro zum Ansatz kam (Nr 2. 2. 1. 5 des Beschlusses vom 18. 2. 2005). Der durchschnittliche Ertrag der zum Einkommensvergleich herangezogenen Arztgruppe orientierte sich für die Jahre 2000 und 2001 weiterhin an den Durchschnittserträgen der in der hausärztlichen Versorgung tätigen Allgemeinärzte, es erfolgte aber eine Verringerung dieser Umsätze um bestimmte Leistungsbereiche (Nr 2. 2. 1. 6 Abs 2 des Beschlusses vom 18. 2. 2005). Für die Zeiträume ab dem 1. 1. 2002 gab der BewA den Vergleich mit dem durchschnittlichen Ertrag von sieben großen Arztgruppen aus dem fachärztlichen Versorgungsbereich (Augenärzte, Chirurgen, Frauenärzte, HNO-Ärzte, Hautärzte, Orthopäden und Urologen – sog "Fachgruppenmix") vor. Die Gesamtumsätze der Arztgruppen des "Fachgruppenmix" waren gemäß Nr 2. 2. 1. 6 Abs 2 des Beschlusses vom 18. 2. 2005 um Anteile zu vermindern, die auf bestimmte Leistungsbereiche entfielen.[24] ff) In seinem Urteil vom 28. 5. 2008 (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42) hat der Senat den Beschluss des BewA vom 18. 2. 2005 für die im Verfahren streitbefangenen Jahre 2002 und 2003 nicht beanstandet. Die Bereinigung der Durchschnittsumsätze aus dem "Fachgruppenmix" um bestimmte Leistungen sei vom Gestaltungsspielraum des BewA umfasst (aaO RdNr 45). Leistungen, die für die Ertragssituation prägend seien, dürften allerdings nicht herausgerechnet werden. Soweit für die Jahre 2000 und 2001 – die nicht Gegenstand des Verfahrens waren – bei der Berechnung die Umsätze der Vergleichsarztgruppe der Allgemeinmediziner um Einnahmen aus Laborleistungen und aus Pauschalerstattungen zu bereinigen seien, seien prägende Elemente betroffen und der Beschluss insoweit rechtswidrig (aaO RdNr 49).[25] Der zur Berücksichtigung der Betriebskosten voll ausgelasteter psychotherapeutischer Praxen festgesetzte Betrag von bundesweit 40 634 Euro halte sich im Rahmen des Gestaltungsspielraumes des BewA. Die Vorgabe eines für alle KÄV-Bezirke gleich hohen Betrages zur Berücksichtigung der typischerweise in voll ausgelasteten psychotherapeutischen Praxen anfallenden Betriebskosten sei mit höherrangigem Recht vereinbar. Es sei methodisch unbedenklich, einen fixen Betriebskostenansatz zu wählen, auch wenn ein Vergleich zum variablen fiktiven Umsatz einer vergleichbaren Arztgruppe zu ziehen sei, sofern das Erfordernis einer realitätsgerechten Erfassung beachtet werde und Abweichungen von der sonst gewählten Vorgehensweise aus diesem Blickwinkel sachlich begründet seien. Die Verwendung eines festen Betrages solle zudem ein zu starkes Auseinanderdriften der regional zu ermittelnden Psychotherapie-Punktwerte verhindern (aaO RdNr 25 ff). Auch die Höhe des festgesetzten Betrages halte sich im Rahmen des Gestaltungsspielraumes des BewA (aaO RdNr 33 ff). Als Grundlage habe die im Mai 2002 erstellte "Sonderauswertung für Psychotherapeuten zur Kostenstrukturanalyse 1999" des ZI gedient. Der Ermittlung des festen Betriebskostenbetrages seien die durchschnittlichen Betriebsausgaben der obersten Umsatzgrößenklasse in den alten Bundesländern in Höhe von 62 712 DM zugrunde gelegt worden. Mit den hierin enthaltenen Personalkosten von lediglich 12 042 DM habe die vom Senat für erforderlich gehaltene Berücksichtigung der Aufwendungen für eine Halbtagskraft nicht realisiert werden können. Der BewA habe daher zu Recht diese Betrag in Abzug gebracht und durch den Betrag von 28 803 DM ersetzt. Dieser Betrag sei als gewichteter Mittelwert aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes zur "Kostenstruktur bei ausgewählten Arzt-, Zahnarzt-, Tierarzt- und Heilpraktikerpraxen sowie Praxen von Psychologischen Psychotherapeuten" im Jahr 2000 (erschienen im Februar 2004 in der Fachserie 2, Reihe 1. 6. 1) abgeleitet worden. Die Berücksichtigung dieses Wertes stelle eine realitätsgerechte und willkürfreie Personalkostenerfassung dar, zumal der sich ergebende Wert von 14 727 Euro etwa zwei Drittel der in psychotherapeutischen Praxen tatsächlich entstandenen Aufwendungen für eine Vollzeitkraft abdecke. Er sei auch in Übereinstimmung mit den sich aus dem Gehaltstarifvertrag für Arzthelferinnen in der Tätigkeitsgruppe II für eine Halbtagskraft errechnenden jährlichen Personalkosten von 12 003 Euro zu bringen und lasse noch Spielraum etwa für die geringfügige Beschäftigung einer Raumpflegekraft (aaO RdNr 35 ff).[26] Allerdings müsse der BewA in regelmäßigen Abständen prüfen, ob sich die Verhältnisse zwischenzeitlich geändert hätten und deshalb eine Anpassung der ursprünglichen Festlegung geboten sei. Wohl ab dem Jahr 2007 lägen deutliche Anhaltspunkte für Kostensteigerungen gegenüber den auf Grundlage der bis Ende 2004 verfügbaren Daten festgesetzten Betriebskosten voll ausgelasteter psychotherapeutischer Praxen in Höhe von 40 634 Euro vor, die eine Anpassung des Betriebskostenbetrages nahelegen würden. Nicht zuletzt aufgrund einer Erhöhung der Umsatzsteuer um drei Prozentpunkte sei im Jahr 2007 der Verbraucherpreisindex für Deutschland erstmals seit Jahren wieder um mehr als zwei Prozent gestiegen und habe die Basis des Jahres 2000 um mehr als 10 Prozentpunkte übertroffen. Zudem seien mit Wirkung ab 1. 1. 2008 die seit Juli 2004 nicht mehr angehobenen Vergütungen für Arzthelferinnen erhöht worden. Diese Entwicklung habe dazu geführt, dass bei der zum 1. 1. 2008 erfolgten Novellierung des EBM-Ä aufgrund neuer Kostenerhebungen erheblich höhere Betriebskosten insbesondere bei Psychotherapeuten berücksichtigt und deshalb die punktzahlmäßigen Bewertungen der psychotherapeutischen Leistungen spürbar angehoben worden seien (zB tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nach Nr 35200 EBM-Ä 2008 mit 1755 statt früher 1495 Punkten bewertet). Infolgedessen sei auch die Gesamtpunktmenge einer voll ausgelasteten psychotherapeutischen Praxis – als Divisor der Mindestpunktwertberechnung – ab 1. 1. 2008 von bislang 2 244 600 Punkten um 21 % auf nunmehr 2 716 740 Punkte erhöht worden, während die – im Dividenden zu berücksichtigenden – Betriebskosten der Psychotherapeuten bislang unverändert geblieben seien. Es liege nahe, dass aufgrund der genannten Veränderungen die Vorgabe eines Betriebskostenbetrages von weiterhin 40 634 Euro möglicherweise bereits im Jahr 2007, jedenfalls aber ab 2008 eine dem Regelungskonzept widersprechende strukturelle Fehlfestlegung enthalte. Der BewA sei deshalb aufgerufen, für die Zeiträume ab Quartal I/2007 anhand der damals zugänglichen bzw der später zugänglich gewordenen Daten zu prüfen, ob, ab wann und in welchem Umfang der feste Betriebskostenbetrag angepasst werden müsse, damit er weiterhin einer realitätsgerechten Festlegung entspreche (aaO RdNr 39).[27] gg) In Reaktion hierauf hat der EBewA mit Beschluss vom 31. 8. 2011 (DÄ 2011, A-2053) für den Zeitraum vom 1. 1. 2008 bis zum 31. 12. 2008 die Betriebsausgaben in Höhe von 42 974 Euro festgesetzt. Für das Jahr 2007 hat er keine Anpassung vorgenommen.[28] hh) Seit dem 1. 4. 2007 regelt der durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG, BGBl I 378) eingeführte § 87 Abs 2c Satz 6 SGB V, dass die Bewertungen für psychotherapeutische Leistungen im EBM-Ä eine angemessene Höhe der Vergütung je Zeiteinheit zu gewährleisten haben (zum Verhältnis dieser Vorschrift zu § 85 Abs 4 Satz 4 aF vgl BSG Urteil vom 25. 1. 2017 – B 6 KA 6/16 R – zur Veröffentlichung in SozR 4—2500 § 87b Nr 9 vorgesehen – Juris RdNr 28). Diese Verschiebung der Regelungsebene von der Honorarverteilung zum EBM-Ä trug dem Umstand Rechnung, dass ab dem 1. 1. 2009 Orientierungswerte nach § 87 Abs 2e SGB V die Vergütungshöhe bundeseinheitlich bestimmten und den Besonderheiten psychotherapeutischer Leistungen durch eine angemessene Bewertung im EBM-Ä Rechnung zu tragen war. Gemäß § 87 Abs 2d Satz 3 SGB V in der bis 31. 12. 2011 geltenden Fassung war ein Beschluss hierzu erstmals bis zum 31. 8. 2008 mit Wirkung zum 1. 1. 2009 zu treffen. Dieser Vorgabe ist der EBewA in seiner 7. Sitzung mit Teil A der Beschlüsse vom 27. /28. 8. 2008 (DÄ 2008, A-1988) nachgekommen, durch den die Leistungsbewertungen um den Faktor 1, 2923 gesteigert wurden. Durch weiteren Beschluss des EBewA in seiner 8. Sitzung vom 23. 10. 2008 (DÄ 2008, A-2602) wurde der Steigerungsfaktor auf 1, 3196 angehoben.[29] ii) Mit Beschluss vom 22. 9. 2015 (DÄ 2015, A-1739) hat der EBewA eine Erhöhung der Bewertung der Leistungen des Abschnitts 35. 2 EBM-Ä rückwirkend zum 1. 1. 2012 um 2, 6909 % vorgenommen. Darüber hinaus wurden die Zuschlagsziffern 35251 und bis 35252 EBM-Ä (ab 1. 1. 2015: 35251, 35252 und 35253) – ebenfalls rückwirkend zum 1. 1. 2012 – eingeführt. Diese Zuschläge dienen der Finanzierung von normativen Personalaufwendungen, kommen jedoch erst beim Erreichen einer Mindestauslastung von mindestens 50 % gemessen an einer voll ausgelasteten – bei reduziertem Tätigkeitsumfang anteilig reduziert ausgelasteten – Praxis zur Anwendung. Aus den Gründen des Beschlusses ergibt sich ua als Hintergrund für die Einführung dieser Gebührenordnungspositionen, dass eine Überprüfung der Personalaufwendungen ergeben habe, dass annähernd 75 % der psychotherapeutischen Praxen keine Personalaufwendungen aufwiesen und keine bedeutende Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen zu beobachten gewesen sei, obwohl seit dem Jahr 2003 normative Personalaufwendungen für eine Halbtagskraft in die EBM-Ä-Bewertung einkalkuliert worden seien.[30] b) Die Festsetzung der Betriebsausgaben für das Jahr 2008 im Beschluss des EBewA vom 31. 8. 2011 ist rechtmäßig. Sie genügt den Anforderungen an eine willkürfreie Normgebung. Der EBewA hat sich innerhalb des Spektrums der verschiedenen Erhebungsergebnisse gehalten und seinen Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Er war nicht verpflichtet, den Betriebskostenansatz entsprechend der Teuerungsrate seit der letzten Festsetzung oder entsprechend der Steigerungsrate bei den Gehältern der Arzthelferinnen anzupassen. Die Normsetzung entspricht vielmehr den Anforderungen, wenn sie sich rational begründbar an verwertbaren Berechnungen orientiert hat (vgl BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 17 mwN). Das war der Fall.[31] Die Basisgröße des Betriebskostenbetrages wurde in der gleichen Weise ermittelt wie bereits im Vorgängerbeschluss vom 18. 2. 2005. Dabei stützte sich der BewA auf eine im September 2007 veröffentlichte Kostenstrukturuntersuchung des ZI, nämlich die "Kostenstrukturanalyse in der ärztlichen und psychotherapeutischen Vertragspraxis 2005" auf Basis der erhobenen Daten der Jahre 2003 bis 2005. Diese Studie stellt die durchschnittlichen Kosten in drei Umsatzgrößenklassen dar (bis 50 000 Euro, 50 000 bis 70 000 Euro, über 70 000 Euro), wobei die Umsatzklassen nach den Erläuterungen zu den tabellarischen Darstellungen so gebildet sind, dass jeweils etwa ein Drittel der Ärzte der Fachgruppe vertreten ist. Als Basis für die Berechnung des EBewA diente die Honorarklasse der Psychotherapeuten mit mehr als 70 000 Euro Honorar aus vertragsärztlicher bzw -psychotherapeutischer Tätigkeit. Berücksichtigt wurden die Betriebskosten dieser Honorarklasse in Höhe von 42 614 Euro abzüglich Personalkosten von 14 514 Euro. Hierzu addierte der EBewA einen rechnerisch ermittelten normativen Personalkostenansatz in Höhe von 14 874 Euro. Dieser Betrag ergab sich als hälftiger Mittelwert aus dem Arbeitgeberbrutto (Tarifentgelt zuzüglich 20 % Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung) nach dem Gehaltstarifvertrag für medizinische Fachangestellte vom 1. 1. 2008 (Tätigkeitsgruppe II, 11. – 16. Berufsjahr; vgl DÄ 2008, A-110) und dem Arbeitgeberbrutto nach dem TVöD (gültig vom 1. 4. 2008 – 31. 12. 2008, Entgeltgruppe E 2, Stufe 6).[32] aa) Soweit der EBewA als Datengrundlage die Erhebungen des ZI herangezogen hat, ist dies nicht zu beanstanden. Der Senat hat sich bei der Überprüfung des Beschlusses des BewA vom 18. 2. 2005 in seinem Urteil vom 28. 5. 2008 bereits mit der Aussagekraft der damaligen Datengrundlage, der "Sonderauswertung für Psychotherapeuten zur Kostenstrukturanalyse 1999" des ZI, auseinandergesetzt und ihre Heranziehung gebilligt. Im Vergleich zur Erhebung des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2000 entspreche sie wesentlich genauer der Vorgabe des § 85 Abs 4 Satz 4 SGB V, weil sie nur die in der vertragsärztlichen Versorgung tätigen psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten erfasst habe (vgl BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 35).[33] (1) Auch die im September 2007 veröffentlichte Kostenstrukturanalyse des ZI für den Zeitraum 2003 bis 2005 stellt eine geeignete Datengrundlage für die Berechnung des Betriebskostenansatzes dar. Sie diente der Bereitstellung von Informationen über die wirtschaftlichen Bedingungen in Praxen niedergelassener Vertragsärzte und -psychotherapeuten. Die Erhebung umfasst nur die in der vertragsärztlichen Versorgung tätigen psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten. Ausgewertet wurden die Daten von insgesamt 725 Teilnehmern (vgl Nr 3. 1. 13 der Kostenstrukturanalyse S 20). Dies stellt gegenüber der dem Beschluss des EBewA vom 18. 2. 2005 zugrunde liegenden Kostenstrukturanalyse, bei der Daten von insgesamt 481 Psychotherapeuten ausgewertet worden waren (vgl Abbildung 1 der Übersicht zur Auswertung 1999 der Kostenstrukturanalyse 1999 S 13), eine Verbreiterung der Datenbasis dar. Selbst wenn, wie die Klägerin vorträgt, der Bewertung in der höchsten Umsatzklasse eine relativ geringe Teilnehmerzahl von 70 zugrunde lag, war der BewA nicht an der Verwertung der Daten gehindert. Die Betrachtung ausschließlich dieser Umsatzgruppe für die Zwecke der hypothetischen Berechnungen der Betriebskosten im Fall der Vollauslastung ist sachgerecht. Die Teilnehmerzahl wäre noch groß genug, dass der EBewA die erhobenen Daten im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums willkürfrei als hinreichend repräsentativ und aussagekräftig ansehen durfte. Schließlich ist im Hinblick auf die von komplexen Kalkulationen und Bewertungen geprägte Entscheidung die Richtigkeit jedes einzelnen Elementes im mathematischen, statistischen oder betriebswirtschaftlichen Sinn nicht Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der gesamten Regelung (vgl BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 19 mwN).[34] (2) Die Verwertbarkeit der ZI-Erhebung als Datengrundlage wird auch nicht durch den Vergleich mit anderen Erhebungen durchgreifend in Frage gestellt. Der EBewA war insbesondere nicht verpflichtet, die Prime-Networks-Studie zu verwerten. Für diese Studie, die ebenfalls im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, wurden Daten aus dem Jahr 2005 ausgewertet, die im Zusammenhang mit der Anpassung der Bewertung psychotherapeutischer Leistungen im EBM-Ä erhoben worden waren. Die Studie differenzierte nicht nach Umsatzgrößenklassen und bildete Durchschnittswerte aus den erhobenen Daten. Auch die – erst im Jahr 2010 veröffentlichten – Daten des ZI-Praxis-Panel für 2006 bis 2008 sind Durchschnittswerte. Damit ist nicht die bei Psychotherapeuten bestehende Besonderheit berücksichtigt, dass Personal typischerweise erst ab einem gewissen Auslastungsgrad beschäftigt wird. Die auf Durchschnittswerte ausgerichteten Studien waren schon aus diesem Grund weniger geeignet als die ZI-Erhebung, für die Ermittlung der typischen Kostenstruktur einer vollausgelasteten psychotherapeutischen Praxis herangezogen zu werden.[35] Ungeachtet der Frage ihrer Verwertbarkeit für den hier streitbefangenen Zeitraum liegt den am 5. 8. 2009 veröffentlichten Ergebnissen der Kostenstrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes 2007 (Kostenstruktur bei Arzt- und Zahnarztpraxen, Praxen von psychologischen Psychotherapeuten sowie Tierarztpraxen, Fachserie 2, Reihe 1. 6. 1, 2007) ebenfalls eine andere Erhebungs- und Auswertungsmethode zugrunde als der Erhebung des ZI. Erfasst werden vom Statistischen Bundesamt auch rein privatärztlich tätige Praxen (aaO S 8). Ebenso wie bereits bei der Erhebung aus dem Jahr 2000 sind ärztliche Psychotherapeuten als Fachärzte in der Kostenstrukturstatistik bei Arztpraxen erfasst (aaO S 13). Die Erhebung des ZI entspricht damit weiterhin genauer der Vorgabe in § 85 Abs 4 Satz 4 SGB V als andere Erhebungen.[36] (3) Der EBewA war an der Verwertung der ZI-Erhebung 2005 auch nicht deshalb gehindert, weil sie einen relativ und absolut signifikant höheren Personalkostenanteil als andere Erhebungen ausweist. Während die empirischen Personalkosten bei der ZI-Analyse 14 514 Euro und 34 % der Betriebsausgaben ausmachen, liegen die Werte der anderen Erhebungen absolut zwischen 2236 (Statistisches Bundesamt, Praxen zwischen 75 000 und 100 000 Euro Einnahmen) bzw 4600 (Statistisches Bundesamt, Praxen zwischen 100 000 und 150 000 Euro Einnahmen) und 7234 Euro (Prime-Networks-Studie) und relativ zwischen 8, 28 % und maximal 19, 29 % der Betriebsausgaben. Dies ist im Verhältnis zu den Erhebungen, die Durchschnittswerte generieren, nicht völlig fernliegend, weil eine Beschäftigung von Personal regelmäßig erst ab einem bestimmten Leistungsumfang erfolgt (vgl auch die Begründung des Beschlusses des EBewA vom 22. 9. 2015). So sind auch nach der Erhebung des Statistischen Bundesamtes in den höheren Umsatzklassen tatsächlich steigende Personalaufwendungen zu beobachten, die allerdings weit hinter dem relativen und absoluten Umfang der ZI-Erhebung zurückbleiben. Die Höhe der von der ZI-Analyse ausgewiesenen Personalkosten ist in der Gesamtbetrachtung jedenfalls nicht unplausibel. Personalkosten in Höhe von ca 14 500 Euro für eine Praxis der obersten Umsatzklasse, in der eine halbtags beschäftigte Mitarbeiterin mit administrativen Aufgaben befasst ist und ggf zusätzlich eine Reinigungskraft beschäftigt wird, sind nicht ersichtlich realitätsfern.[37] Der empirisch ermittelte Betrag ist zugunsten der Psychotherapeuten durch einen realitätsgerechten normativen Personalkostenansatz ersetzt worden, der nicht unerheblich über die empirischen Kosten hinausging. Letztlich geht es bei der vom Senat entwickelten Modellberechnung darum, die Beschäftigung einer Halbtagskraft zu ermöglichen, nicht um einen generellen Zuschlag zur Vergütung psychotherapeutischer Leistungen.[38] Der Sachkostenanteil liegt nach der ZI-Studie absolut bei 28 100 Euro und ca 66 % der Betriebsausgaben, während die anderen Erhebungen absolut auf ähnliche Werte kommen, die relativ einen geringeren Anteil der Betriebsausgaben ausmachen. Anhaltspunkte dafür, dass bei Zugrundelegung der ZI-Studie kein ausreichender Betriebskostenanteil berücksichtigt würde, sind auch von der Klägerin nicht vorgetragen. Der vom EBewA für das Jahr 2008 gebildete Gesamt-Betriebskostenansatz in Höhe von 42 974 Euro ist jedenfalls ausreichend, um die empirisch feststellbaren Betriebskosten einer voll ausgelasteten psychotherapeutischen Praxis abzubilden. Auch wenn die Gesamtbetriebskosten der Vergleichserhebungen unter dem Wert der ZI-Analyse liegen, bestehen bei Betrachtung des Gesamtergebnisses der Berechnung keine durchgreifenden Zweifel an einer realitätsgerechten und willkürfreien Kostenerfassung.[39] (4) Auch aus dem Beschluss des EBewA vom 22. 9. 2015 lässt sich für eine Rechtswidrigkeit der Heranziehung der ZI-Studie als Datengrundlage des Beschlusses vom 31. 8. 2011 nichts ableiten. Der EBewA hat für den Beschluss vom 22. 9. 2015 gerade einen Wechsel der Datengrundlage vollzogen und anstelle einer ZI-Erhebung die Daten des Statistischen Bundesamtes 2007 herangezogen, weil für den Zeitraum ab 1. 1. 2012 keine hinreichend aktuellen Daten des ZI vorlagen. Es kann offenbleiben, ob der Beschluss einer Überprüfung standhält. Für den streitbefangenen Zeitraum 2007/2008 lagen jedenfalls mit den Kostenstrukturerhebungen des ZI hinreichend aktuelle Daten vor, sodass der EBewA sich nicht zu einem Wechsel der Datengrundlage gezwungen sehen musste.[40] bb) Soweit der EBewA für die Ermittlung der normativen Personalkosten in seinem Beschluss vom 31. 8. 2011 von der im Beschluss vom 18. 2. 2005 gewählten Methodik abgewichen ist und statt der Kostenstrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes das gemittelte Arbeitgeberbrutto für eine jeweils adäquat eingruppierte Halbtagskraft nach dem Gehaltstarifvertrag für medizinische Fachangestellte vom 1. 1. 2008 und dem TVöD herangezogen hat, hat er damit seinen Gestaltungsspielraum ebenfalls nicht überschritten. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 28. 5. 2008 hinsichtlich des Beschlusses des BewA vom 18. 2. 2005 eine "intellektuelle Überprüfung" des aus der Kostenstrukturstatistik des Statistischen Bundesamtes hergeleiteten empirischen Personalkostenbetrages anhand des Gehaltstarifvertrages für Arzthelferinnen für nachvollziehbar gehalten. Die aus Gründen der Sachnähe vorgenommene Heranziehung dieses für Beschäftigte in Praxen niedergelassener Ärzte einschlägigen Tarifvertrages sei nachvollziehbar und nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil der Senat in seiner Modellberechnung bisher den Bundes-Angestelltentarifvertrag zugrunde gelegt habe (vgl BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 37 unter Verweis auf BSG SozR 4—2500 § 87 Nr 14 RdNr 29, 31). Es spricht nichts für die Annahme, dass auf der Grundlage der entsprechenden aktuellen tariflichen Bestimmungen kein realitätsgerechter normativer Personalkostenansatz bestimmt wurde. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der EBewA einen Mittelwert aus den beiden herangezogenen Tarifverträgen gebildet hat. Durch die Kombination beider Datengrundlagen wurde vielmehr die Datenbasis verbreitert.[41] Der EBewA war auch nicht gehalten, noch zusätzlich Kosten für eine Reinigungskraft zu berücksichtigen. Zwar hat der Senat in seiner Entscheidung vom 28. 5. 2008 im Rahmen der Ausführungen zur "intellektuellen Überprüfung" des normativen Personalkostenansatzes ausgeführt, dass der vom BewA bestimmte Betrag sogar "noch Spielraum etwa für die geringfügige Beschäftigung einer Raumpflegekraft" (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 37) lasse. Das ist aber nicht so zu verstehen, dass über die normative Berücksichtigung der Kosten einer Halbtagskraft hinaus stets zusätzlich Kosten für die Beschäftigung weiteren Personals einzurechnen wären. Den Anforderungen an eine realitätsgerechte Bemessung der Personalkosten ist jedenfalls Genüge getan, wenn die Personalkosten für eine sozialversicherungspflichtige Halbtagskraft berücksichtigt sind (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 37 unter Bezugnahme auf BSGE 92, 87 = SozR 4—2500 § 85 Nr 8, RdNr 31).[42] c) Der Beschluss des EBewA vom 31. 8. 2011 ist hingegen rechtswidrig, soweit er für das Jahr 2007 keine Anpassung enthält. Der EBewA war zwar nicht verpflichtet, bei der Ermittlung der Betriebskosten für das Jahr 2007 die aktuellste zum Entscheidungszeitpunkt am 31. 8. 2011 vorliegende "Kostenstrukturanalyse in der ärztlichen und psychotherapeutischen Vertragspraxis 2005" des ZI mit den Ergebnissen des Zeitraumes 2003 bis 2005 heranzuziehen und bereits für das Jahr 2007 einen Betrag von 42 974 Euro festzulegen. Er hätte jedoch bei seiner Beschlussfassung die bereits im Herbst 2006 veröffentlichte Kostenstrukturanalyse des ZI für die Jahre 2002 bis 2004 berücksichtigen müssen, aus der sich ein Anpassungsbedarf hinsichtlich der Betriebskosten von 40 634 Euro auf einen Betrag von mindestens 41 052 Euro ergab.[43] aa) Für das Jahr 2007 wurden Betriebsausgaben in Höhe von 40 634 Euro zugrunde gelegt, wie im Beschluss des BewA vom 18. 2. 2005 festgesetzt. Datengrundlage dieser Festsetzung war damit im Jahr 2007 weiterhin die im Mai 2002 erstellte "Sonderauswertung für Psychotherapeuten zur Kostenstrukturanalyse 1999". Hieraus ergab sich als Durchschnitt der Betriebsausgaben in der obersten Umsatzgrößenklasse in den alten Bundesländern ein Betrag in Höhe von 62 712 DM (32 064,14 Euro), der um den Personalkostenanteil in Höhe von 12 042 DM (6157 Euro) bereinigt wurde. Normativ wurden Personalkosten in Höhe von 28 803 DM (14 727 Euro) aus einer im Jahr 2004 erschienenen Erhebung des Statistischen Bundesamtes zur "Kostenstruktur bei ausgewählten Arzt-, Zahnarzt-, Tierarzt- und Heilpraktikerpraxen sowie Praxen von psychologischen Psychotherapeuten" im Jahr 2000 ermittelt. Für das Jahr 2007 ist nach den Angaben der Beigeladenen im Beschluss vom 31. 8. 2011 keine Anpassung vorgenommen worden, weil im Herbst 2006 nur die Daten des ZI aus den Jahren 2002 bis 2004 bekannt gewesen seien. Hieraus habe sich eine minimale Abweichung des Betriebskostenbetrages ergeben, dieser habe in der höchsten Umsatzklasse mit einem Umsatz über 70 000 Euro bei 38 546 Euro gelegen und damit unter dem für die Mindestpunktwertberechnung veranschlagten Wert von 40 634 Euro. Dabei sei der Personalkostenanteil der ZI-Studie durch einen rechnerisch ermittelten Betrag der Jahresaufwendung für eine Halbtagskraft nach dem TVöD in Höhe von 16 323 Euro ersetzt worden. Diese Daten hätten zu einer Absenkung der Betriebskosten führen müssen, die noch größer ausgefallen wäre, wenn man die Personalkosten des Statistischen Bundesamtes in Höhe von 14 727 Euro herangezogen hätte. Neuere Daten seien Ende 2006 nicht verfügbar gewesen.[44] bb) Es ist grundsätzlich beurteilungsfehlerfrei, die Festsetzung des Betriebskostenanteils für 2007 allein auf der Grundlage der Daten vorzunehmen, die vor dem Zeitraum vorlagen, für den die Festsetzung gelten soll. Der EBewA war nicht verpflichtet, die Betriebskosten für das Jahr 2007 im Hinblick auf die im Herbst 2007 verfügbare Kostenstrukturanalyse 2005 für die Jahre 2003 bis 2005 oder im Hinblick auf andere später veröffentlichte Erhebungsergebnisse anzupassen. Die auf die Rechtsprechung des Senats zurückgehende Modellberechnung als Grundlage der Prüfung, ob eine voll ausgelastete psychotherapeutische Praxis Erträge aus vertragsärztlicher Tätigkeit in derselben Größenordnung wie andere vertragsärztliche Praxen erreichen kann, ändert nichts an dem Grundsatz, dass (auch) die Grundlagen für die Honorierung psychotherapeutischer Praxen (Punktzahlen im EBM-Ä, Punktwerte) zu Beginn des jeweiligen Abrechnungszeitraums feststehen müssen. Die Vorstellung, es müsse regelmäßig nach Abschluss des jeweiligen Jahres nach Vorliegen aller Daten der Psychotherapeuten und der anderen Arztgruppen geprüft werden, ob tatsächlich "Chancengleichheit" im Sinne der Rechtsprechung des Senats bestanden hat, trifft nicht zu. Soweit die Wendung im Urteil des Senats vom 28. 5. 2008, der BewA habe "für die Zeiträume ab Quartal I/2007 anhand der damals zugänglichen bzw der später zugänglich gewordenen Daten zu prüfen, ob, ab wann und in welchem Umfang der feste Betriebskostenbetrag angepasst werden muss" (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 39), dafür sprach, dass auch nach Ablauf des zu beurteilenden Zeitraums veröffentlichte Daten zu berücksichtigen seien, stellt der Senat klar, dass dies nicht zu fordern ist.[45] Der BewA darf grundsätzlich auf der Basis der vor Beginn des jeweiligen Jahres vorhandenen Daten beurteilen, ob die Vorgaben geändert werden müssen. Verneint er das rechtsfehlerfrei, sind seine Vorgaben auch dann nicht zu beanstanden, wenn sich im Laufe des Jahres Kostensteigerungen ergeben, die in der Bilanz des Jahres dazu führen können, dass die Zielvorgabe des Senats nicht vollständig erreicht werden konnte. Es entspricht dem prognostischen Charakter der Beschlüsse des BewA nach § 85 Abs 4a Satz 1 SGB V aF und zu den Punktzahlen für die Leistungen des Kapitels 35. 2 EBM-Ä, dass auch bei einer rückwirkenden Entscheidung grundsätzlich allein die Daten berücksichtigt werden, die zu dem für eine prospektive Betrachtung maßgeblichen Zeitpunkt vorhanden waren. Jede andere Beurteilung würde dazu führen, dass die Vergütung der psychotherapeutischen Leistungen regelmäßig erst Jahre nach Ablauf der zu vergütenden Zeiträume abgeschlossen werden könnte. Das entspräche nicht der Rechtsprechung des Senats, wonach im Rahmen der Vergütung ambulanter vertragsärztlicher Leistungen möglichst Verwerfungen zu vermeiden sind, die dadurch entstehen, dass die aktuelle Gesamtvergütung mit Zahlungen für Leistungen aus lange zurückliegenden Quartalen belastet wird. Grundsätzlich haben sowohl die Vertragsärzte als auch die die Gesamtvergütung entrichtenden Krankenkassen einen Rechtsanspruch darauf, dass die für ein bestimmtes Quartal geleistete Gesamtvergütung möglichst ungeschmälert für die Honorierung der in diesem Quartal erbrachten Leistungen verwendet wird (BSG Urteil vom 10. 5. 2017 – B 6 KA 10/16 R – zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Im Übrigen würde die endgültige Honorarverteilung abhängig von den Zeiträumen, in denen das ZI und/oder das Statistische Bundesamt ihre Auswertungen von Erträgen und Kosten ärztlicher Praxen erstellen. Wenn etwa die endgültigen Daten für 2007 aus Gründen, auf die die Vertragspartner der vertragsärztlichen Versorgung keinen Einfluss haben, erst im Laufe des Jahres 2010 verfügbar sind, könnte, wenn allein diese Daten maßgeblich wären, erst im Jahr 2011 abschließend über die Höhe der Vergütung entschieden werden. Es ist deshalb entgegen der Auffassung des LSG nicht zu beanstanden, dass der BewA sich im Jahr 2011 für das Jahr 2007 nur auf die Daten gestützt hat, die 2006 vorgelegen haben. Die Strukturanalyse des ZI mit den Ergebnissen der Jahre 2003 bis 2005 war aber erst im Herbst des Jahres 2007 verfügbar.[46] Eine eigenständige Pflicht des EBewA als Normgeber zu Ermittlungen hat der Senat – wenngleich Ermittlungen bei Rechtsnormen, denen Prognoseerwägungen zugrunde lägen, sinnvoll seien – grundsätzlich nicht angenommen, zugleich aber darauf hingewiesen, dass unter bestimmten Voraussetzungen verstärkte Beobachtungs- und Reaktionspflichten bestehen (vgl BSG SozR 4—2500 § 87 Nr 24 RdNr 24; BSGE 94, 50 = SozR 4—2500 § 72 Nr 2, RdNr 44). Eine Nachbesserung von Regelungen des EBewA kann unter diesem Gesichtspunkt aber regelmäßig nur für die Zukunft gefordert werden. Ein Anspruch auf nachträgliche Korrektur von Leistungsbewertungen besteht in der Regel nicht. In Bezug auf eine Neuregelung der Vergütung von Laborleistungen und dem damit verbundenen Umsatzrückgang hat der Senat ausgeführt, der Normgeber sei zu einer Nachbesserung einer Anfangs- und Erprobungsregelung rückwirkend zugunsten einzelner Arztgruppen nicht verpflichtet und hieran sogar gehindert, wenn damit Nachzahlungen aus den für das aktuelle Quartal gezahlten Gesamtvergütungen verbunden wären (BSGE 97, 170 = SozR 4—2500 § 87 Nr 13, RdNr 43).[47] cc) Der Beschluss vom 31. 8. 2008 ist jedoch deshalb rechtswidrig, weil die Annahme des BewA, dass für das Jahr 2007 keine neueren Daten vorlagen, nicht zutreffend war. Bereits im Herbst 2006 waren nämlich Daten der Kostenstrukturanalyse des ZI für die Jahre 2002 bis 2004 verfügbar. Aufgrund der aus dieser Kostenstrukturanalyse ersichtlichen Veränderungen war die Vorgabe eines Betriebskostenbetrages von weiterhin 40 634 Euro bereits im Jahr 2007 nicht mehr rechtmäßig. Aus den Daten des ZI ergaben sich Praxiskosten von 41 052 Euro, davon für die höchste Umsatzklasse Personalkosten in Höhe von 18 829 Euro.[48] Soweit der EBewA davon ausgegangen ist, dass der sich aus der Erhebung für die Jahre 2002 bis 2004 ergebende Betriebskostenbeitrag in der höchsten Umsatzklasse mit einem Umsatz über 70 000 Euro bei 38 546 Euro und damit unter dem für die Mindestpunktwertberechnung veranschlagten Wert von 40 634 Euro gelegen habe, beruht dies auf einer unzulässigen Berechnungsweise. Der EBewA hat bei dieser Berechnung ausgehend von Betriebskosten von insgesamt 41 052 Euro die empirisch ermittelten Personalkosten in Höhe von 18 829 Euro abgezogen und durch einen niedrigeren normativen Personalkostenansatz in Höhe von 16 323 Euro ersetzt. Dies ist nicht vereinbar mit der Modellberechnung des Senats, der der EBewA mit seinem Regelungskonzept grundsätzlich gefolgt ist. Die Modifikation der empirisch erhobenen Betriebskostendaten des ZI in Bezug auf die ermittelten Personalkosten und deren Erhöhung auf einen normativ ermittelten Wert hat der Senat mit der Begründung für rechtmäßig gehalten, dass ansonsten die für erforderlich gehaltene Berücksichtigung der Aufwendungen für eine Halbtagskraft nicht realisiert werden könne (BSGE 100, 254 = SozR 4—2500 § 85 Nr 42, RdNr 36). Der umgekehrte Weg einer Modifizierung der empirisch ermittelten Betriebskosten dahingehend, dass niedrigere als die empirisch ermittelten Personalkosten zum Ansatz kommen, ist nicht zulässig. Das gilt auch dann, wenn die normativen Werte für die Beschäftigung einer Halbtagskraft ausreichend wären. Der Betriebskostenansatz soll die Kosten einer voll ausgelasteten psychotherapeutischen Praxis abbilden, sodass sich derartige Kürzungen verbieten. Eine "Korrektur" der empirisch ermittelten Personalkosten zu Lasten des Punktwertes für die psychotherapeutischen Leistungen ist nicht statthaft. Der BewA wird daher auf der Grundlage der ZI-Kostenstrukturanalyse für die Jahre 2002 bis 2004 den Betriebskostenanteil für 2007 neu zu bestimmen haben. Die Beklagte hat sodann erneut über den Honoraranspruch der Klägerin zu entscheiden.[49] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach haben die Klägerin und die Beklagte die Kosten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte zu tragen (§ 154 Abs 1, § 159 Satz 1 VwGO). Eine Erstattung der Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil sie keine Anträge gestellt haben.
bundessozialgericht
bsg_05 - 2017
16.02.2017
Wann entsteht ein neuer Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem Bezug einer befristeten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit? Ausgabejahr 2017 Nummer 05 Datum 16.02.2017 Ist bei einer Lücke zwischen Arbeitslosengeld und befristeter Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach dem Ende des Rentenbezugs Arbeitslosengeld als neuer Anspruch für eine längere Zeit zu gewähren oder besteht ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nur noch im Umfang des Rests aus dem früheren Bezug vor der Rente? Hierüber wird der 11. Senat des Bundessozialgerichts am 23. Februar 2017 um 10.45 Uhr im Elisabeth-Selbert-Saal mündlich verhandeln und voraussichtlich ein Urteil fällen (Az. B 11 AL 3/16 R). Die Klägerin bezog ab dem 1. Oktober 2010 mit Unterbrechungen Arbeitslosengeld. Im Februar 2012 stellte der Rentenversicherungsträger eine volle Erwerbsminderung der Klägerin fest. Wegen des späteren Leistungsbeginns befristeter Renten (§ 101 Abs. 1 SGB VI) gewährte sie eine Rente aber erst ab dem 1. Mai 2012 bis zum 31. Dezember 2013. Die Bewilligung von Arbeitslosengeld wurde jedoch bereits am 8. März 2012 unter Hinweis auf die bestehende volle Erwerbsminderung der Klägerin aufgehoben. Nach dem Ende des Rentenbezugs am 1. Januar 2014 meldete sich die Klägerin wieder arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld, das ihr aber nur für die Dauer eines verbliebenen Restanspruchs von 37 Tagen bewilligt wurde. Während das Sozialgericht der Klägerin Recht gab, wies das Landessozialgericht ihre Klage ab. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht bei der Erfüllung der Anwartschaftszeit zu berücksichtigen, weil sie nicht "unmittelbar" im Sinne des § 26 Abs. 2 SGB III, sondern erst 43 Tage nach dem Ende des vorherigen Bezuges von Arbeitslosengeld begonnen habe. Als "unmittelbar" gelte nach Wortlaut und unter systematischen Gesichtspunkten maximal eine Frist von einem Monat. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision. Hinweis zur Rechtslage § 26 SGB III (Sonstige Versicherungspflichtige) (2) Versicherungspflichtig sind Personen in der Zeit, für die sie (…) 3. von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beziehen, wenn sie unmittelbar vor Beginn der Leistung versicherungspflichtig waren oder Anspruch auf eine laufende Entgeltersatzleistung nach diesem Buch hatten. § 101 SGB VI Beginn und Änderung in Sonderfällen (1) Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.
Der Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung kann auch dann als Versicherungszeit in der Arbeitslosenversicherung zu berücksichtigen sein, wenn der Zeitraum zwischen dem Beginn der Rente und dem vorhergehenden Bezug von Arbeitslosengeld mehr als einen Monat beträgt. Tenor Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 2016 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen. Tatbestand Die Klägerin begehrt Alg für einen Zeitraum über den 7.2.2014 hinaus. Im Streit ist insbesondere, ob sie die Anwartschaftszeit für einen neuen, längeren Anspruch erfüllt hat.Die Beklagte hatte der 1964 geborenen Klägerin ab dem 1.10.2010 für 360 Tage Alg bewilligt, diese Leistung wegen des Bezugs von Krankengeld ab dem 18.10.2010 wieder aufgehoben und ab dem 18.3.2011 weitergewährt. Wegen einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin hob sie die Bewilligung zum 18.10.2011 erneut auf, um nach Abschluss dieser Maßnahme ab dem 16.11.2011 Alg für eine Restanspruchsdauer von noch 149 Tagen wieder zuzuerkennen.Im Februar 2012 stellte die Deutsche Rentenversicherung Rheinland (DRV) eine volle Erwerbsminderung der Klägerin fest und gewährte Rente ab dem 1.5.2012 befristet bis zum 31.12.2013 (Bescheid vom 15.2.2012). Die Beklagte hob daraufhin die Bewilligung von Alg ab dem 8.3.2012 mit der Begründung auf, der Klägerin sei eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden; sie könne nicht (mehr) mindestens 15 Stunden wöchentlich arbeiten. Es verblieb noch ein Restanspruch auf Alg für die Dauer von 37 Tagen.Nachdem die DRV die Weiterzahlung der Erwerbsminderungsrente abgelehnt hatte, meldete sich die Klägerin am 5.12.2013 mit Wirkung zum 1.1.2014 arbeitslos und beantragte erneut Alg, das die Beklagte ab 1.1.2014 (nur) für die Dauer des verbliebenen Restanspruchs von 37 Tagen bewilligte (Bescheid vom 2.1.2014; Widerspruchsbescheid vom 25.3.2014). Ein neuer, weitergehender Anspruch bestehe nicht, denn die Klägerin sei innerhalb der Rahmenfrist nicht versicherungspflichtig gewesen.Das SG hat den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab dem 1.1.2014 Alg für 240 Tage zu gewähren. Die Klägerin habe durch den Bezug der Rente wegen Erwerbsminderung einen neuen Anspruch auf Alg erworben. Der Begriff der Unmittelbarkeit in § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III sei vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der Regelung zu interpretieren und vorliegend - entgegen der Auffassung der Beklagten - zu bejahen. Die "Lücke" zwischen dem 7.3.2012 und dem Beginn der Rentenzahlung am 1.5.2012 beruhe nicht darauf, dass die Klägerin ihren Status als Arbeitnehmerin aufgegeben hätte, sondern ausschließlich auf der gesetzlichen Regelung, wonach einerseits bei festgestellter Erwerbsminderung Alg mangels Verfügbarkeit nicht weitergewährt werden dürfe, andererseits die Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit aber erst ab dem siebten Monat nach Eintritt des Versicherungsfalls gezahlt werde.Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keine neue Anwartschaftszeit erfüllt. Die ab dem 1.5.2012 bezogene Rente wegen voller Erwerbsminderung sei entgegen der Auffassung des SG nicht bei der Erfüllung der Anwartschaftszeit zu berücksichtigen, weil sie nicht "unmittelbar" nach dem Bezug von Alg erfolgt sei. Es gelte nach Wortlaut und unter systematischen Gesichtspunkten maximal eine Frist von einem Monat.Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin eine Verletzung von § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III geltend. Es sei nicht mit dem Gesetzeszweck des § 26 SGB III in Einklang zu bringen, wenn Gründe, die keineswegs in der Person des Sozialversicherten zu finden seien, nicht Versicherungspflicht im Sinne des SGB III auslösen würden. Der gesetzlich nicht geregelte Begriff "unmittelbar" habe eine sachliche und eine zeitliche Dimension und bedeute, dass zwischen einem Leistungsbezug von Alg und einem Leistungsbezug von Rente wegen voller Erwerbsminderung nichts "Drittes" liegen dürfe. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt, denn die Bewilligung von Alg sei wegen der vom Rentenversicherungsträger festgestellten Erwerbsminderung aufgehoben worden.Die Klägerin beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 2016 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 18. September 2014 zurückzuweisen.Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Gründe Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Entgegen der Auffassung des LSG hat die Klägerin zum 1.1.2014 die Anwartschaftszeit für einen neuen Anspruch auf Alg erfüllt. Eine abschließende Entscheidung im Sinne der Zurückweisung der Berufung der Beklagten und Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils ist dem Senat jedoch nicht möglich, weil die Feststellungen des LSG zu den weiteren Anspruchsvoraussetzungen nicht für die Beurteilung ausreichen, ob ein Anspruch auf Alg über den 7.2.2014 hinaus in dem Umfang, wie er vom SG zuerkannt wurde, besteht.Streitgegenstand in der Sache ist der Bescheid vom 2.1.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.3.2014, den die Klägerin mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4 SGG) angreift, soweit durch diesen Bescheid Leistungen über den 7.2.2014 hinaus abgelehnt wurden. Nach ihrem erstinstanzlich gestellten Antrag begehrt sie zulässigerweise dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 S 1 SGG) Alg, begrenzt auf einen Zeitraum von 240 Kalendertagen ab dem 1.1.2014, also für weitere 203 Kalendertage.Gemäß § 137 SGB III (anwendbar ist hier das SGB III in der seit dem 1.4.2012 geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 - BGBl I 2854) setzt der Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit voraus, dass Arbeitnehmer (1.) arbeitslos sind, (2.) sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und (3.) die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Die Klägerin hat sich nach den Feststellungen des LSG zum 1.1.2014 arbeitslos gemeldet. Sie erfüllt auch die Anwartschaftszeit für einen neuen Anspruch auf Alg, was zum Erlöschen des am 1.10.2010 entstanden (Rest-)Anspruchs führt (§ 161 Abs 1 Nr 1 SGB III).Die Anwartschaftszeit hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg (§ 143 Abs 1 SGB III). Hier reicht die Rahmenfrist - ausgehend von der Arbeitslosmeldung zum 1.1.2014 - vom 1.1.2012 bis zum 31.12.2013. In diesem Zeitraum stand die Klägerin mehr als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis nach dem SGB III, nämlich 20 Monate in der Zeit vom 1.5.2012 bis 31.12.2013, in der sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezogen hat.Nach § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III (in der insoweit unverändert gebliebenen Fassung der Vorschrift, die diese mit Wirkung vom 1.1.2004 durch das Vierte Gesetz zur Änderung des SGB III und andere Gesetze vom 19.11.2004 - BGBl I 2902 - erhalten hat) sind Personen in der Zeit versicherungspflichtig, in der sie von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beziehen, wenn sie unmittelbar vor Beginn der Leistung ua eine laufendende Entgeltersatzleistung nach dem SGB III bezogen haben.Die Klägerin hat bis zum 8.3.2012 als Entgeltersatzleistung nach dem SGB III Alg bezogen. Dieser Leistungsbezug ist trotz des Zeitraums von 53 Tagen zwischen seinem Ende und dem Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung am 1.5.2014 noch als "unmittelbar" vorhergehend anzusehen.Die Beklagte sieht in ihrer Verwaltungspraxis einen Unterbrechungszeitraum von bis zu einem Monat stets als anschlusswahrend an - was schon aus Gründen der Praktikabilität nicht zu beanstanden ist -, aber keinen Zeitraum, der darüber hinausgeht (Geschäftsanweisung der BA zu § 26 SGB III RdNr 26.39; dem folgend die Kommentarliteratur, vgl etwa Wehrhahn in jurisPK-SGB III, 1. Aufl 2014, § 26 RdNr 32; Scheidt in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 6. Aufl 2017, § 26 RdNr 43; Fuchs in Gagel, SGB II/III, § 26 RdNr 29, Stand Dezember 2016). Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik sowie Sinn und Zweck des § 26 Abs 2 SGB III schließen es indes nicht aus, in Einzelfällen auch bei längeren Unterbrechungszeiträumen eine Versicherungszeit für den Bezug der in § 26 Abs 2 SGB III genannten Leistungen anzuerkennen.Dem Begriff "unmittelbar" ist nach seiner Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch keine starre zeitliche Grenze, auch nicht im Sinne einer bestimmten "Höchstdauer", zu entnehmen. Als Antonym von "mittelbar" beschreibt dieses Adjektiv nicht nur einen rein zeitlichen, sondern ebenso einen sachlichen Zusammenhang. In diesem Sinne als "unmittelbar" wird auch ein Zusammenhang zwischen zwei Umständen bezeichnet, der sachlich durch nichts Anderes, Drittes vermittelt sein darf (vgl nur Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 3. Aufl 1999). Gegen ein Verständnis allein als bestimmte Höchstdauer oder als eine Frist spricht zudem, dass solche konkreten Zeitspannen sehr einfach zu bestimmen sind durch Angabe genauer Wochen- oder Monatszeiträume. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit regelt der Gesetzgeber konkrete Zeitgrenzen stets in dieser Weise. So bestimmt beispielsweise § 7 Abs 3 SGB IV, der vereinzelt zu Unrecht auch zur Auslegung von § 26 Abs 2 SGB III herangezogen wird (vgl Scheidt in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu, SGB III, 6. Aufl 2017, § 26 RdNr 44), dass ein Beschäftigungsverhältnis ohne Anspruch auf Arbeitsentgelt nicht länger als - genau - einen Monat als Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt anzuerkennen ist (gegen ein "Hereinlesen" dieser Frist in § 26 Abs 2 SGB III auch Bienert, info also 2016, 71, 72; B. Schmidt, SGb 2014, 242, 246 f).Aus der Entstehungsgeschichte des § 26 Abs 2 SGB III ergeben sich ebenfalls keine Hinweise darauf, dass der Begriff "unmittelbar" allein im Sinne eines rein zeitlichen und nicht auch eines sachlichen Zusammenhangs auszulegen ist. § 26 SGB III fasst insoweit die Regelungen in §§ 107 und 186 AFG zusammen, wonach bestimmte Lohnersatzleistungen Grundlage für eine Beitragspflicht waren (§ 186 AFG), die im Rahmen des Leistungsrechts Zeiten einer Beschäftigung gleichgestellt waren (§ 107 AFG; vgl BT-Drucks 13/4941 S 158 zu § 26). Eine Beitragspflicht war in § 186 Abs 1 AFG für bestimmte Lohnersatzleistungen - zu denen die Erwerbsminderungsrente allerdings noch nicht gehörte (vgl BSG Urteil vom 28.8.2007 - B 7/7a AL 50/06 R - BSGE 99, 42 = SozR 4-4300 § 123 Nr 4, RdNr 13 ff) - angeordnet, wenn unmittelbar vor Beginn der Leistung eine Beschäftigung ausgeübt oder eine Lohnersatzleistung nach dem AFG bezogen wurde. Die Einfügung des Begriffs "unmittelbar" wiederum geht zurück auf eine Gesetzesänderung durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 18.12.1989 (BGBl I 2261) zum 1.1.1992. Die ursprüngliche Formulierung, wonach eine Beschäftigung oder der Bezug einer Lohnersatzleistung "unterbrochen" worden sein musste (vgl zum Begriff der Unterbrechung BSG Urteil vom 25.1.1994 - 7 RAr 30/93 - BSGE 74, 28, 34 = SozR 3-4100 § 107 Nr 6 S 22, in dem auch eine Übertragung der rentenrechtlichen Rspr zur "Überbrückungszeit" erwogen wird), wurde unter Hinweis auf die Anpassung an die Neuregelungen im SGB VI (vgl BR-Drucks 120/89 S 231 zu Nr 21 <§ 186>) ersetzt. Anhaltspunkte für eine beabsichtigte inhaltliche Änderung im Sinne der Regelung einer starren Zeitgrenze finden sich in der Gesetzesbegründung zum RRG nicht.Solche ergeben sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (Job-AQTIV-Gesetz) vom 10.12.2001 (BGBl I 3443), das § 26 Abs 2 SGB III mit Wirkung vom 1.1.2003 um die heutige Nr 3 ergänzte und wonach erstmals auch der Bezug von Renten wegen voller Erwerbminderung zur Versicherungspflicht führen konnte. In der Gesetzesbegründung ist zu diesem Punkt (nur) ausgeführt, dass der Versicherungsschutz von Personen, die zuvor in einem Versicherungspflichtverhältnis standen oder Entgeltersatzleistungen nach dem Recht der Arbeitsförderung bezogen haben, verbessert werden soll (BT-Drucks 14/6944 S 30 zu Nr 10).Ist danach der in § 26 Abs 2 SGB III verwendete unbestimmte Rechtsbegriff "unmittelbar" auch als Beschreibung eines sachlichen Zusammenhangs zwischen zwei Umständen anzusehen, hat seine Auslegung vor allem Systematik sowie Sinn und Zweck der Gesamtregelung zu berücksichtigen, weil dadurch der geforderte sachliche Zusammenhang mitbestimmt wird (ähnlich für das Recht der Unfallversicherung bereits BSG Urteil vom 26.6.2007 - B 2 U 23/06 R - SozR 4-2700 § 45 Nr 1 RdNr 12 ff zu § 45 SGB VII). Dabei sind die Besonderheiten der einzelnen in § 26 Abs 2 SGB III geregelten Tatbestände zu beachten.Der allgemeine Sinn und Zweck von § 26 Abs 2 SGB III ist die Stärkung des Versicherungsschutzes in der Arbeitslosenversicherung. Die Vorschrift bewirkt durch die ausdrückliche Anordnung der Versicherungspflicht während des Bezugs bestimmter Lohnersatzleistungen, dass Personengruppen erweiterter Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung vermittelt wird, die nicht nach § 25 SGB III - insbesondere als Beschäftigte - versicherungspflichtig sind. Für die in § 26 Abs 2 SGB III genannten Personen ist kennzeichnend, dass sie, obwohl sie einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht nachgehen, doch ursprünglich zum Kreis der Versicherungspflichtigen gehört haben oder gehören würden, wenn sie nicht durch besondere Umstände an einer Beschäftigung und damit an dem Bezug von Erwerbseinkommen gehindert wären (vgl zum Ganzen nur Schlegel in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 26 RdNr 1 ff, 79 ff, Stand Juli 2016; Berchtold in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl 2015, § 26 SGB III RdNr 8 ff). Die Bedeutung der in § 26 Abs 2 SGB III bezeichneten Voraussetzung, unmittelbar vor dem Ausscheiden aus dem Kreis der Versicherungspflichtigen versicherungspflichtig gewesen zu sein oder Leistungen nach dem SGB III bezogen zu haben, liegt in diesem Zusammenhang darin, sicherzustellen, dass von dieser Begünstigung (nur) dem Kreis der Versicherungspflichtigen trotz Nichtbeschäftigung (noch) zuzurechnende Personen erfasst werden, also solche, die bereits zuvor einen hinreichenden Bezug zum System der Arbeitslosenversicherung hatten (Berchtold in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl 2015, § 26 SGB III RdNr 13).Anders, als das LSG meint, kommt § 28a SGB III für die Auslegung von § 26 SGB III keine entscheidende Bedeutung zu. Zwar ist auch § 28a SGB III, der die Berechtigung zu einem Versicherungspflichtverhältnis in der Arbeitslosenversicherung auf Antrag regelt, auf die Vermittlung von Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung gerichtet. Nach dieser Vorschrift besteht diese Berechtigung einerseits, wenn ein Berechtigungstatbestand nach § 28a Abs 1 SGB III (selbstständige Tätigkeit; Beschäftigung im europäischen Ausland; bis zum 31.12.2016 Pflegezeiten, deren Berücksichtigung jetzt in § 26 Abs 2b SGB III geregelt ist; seit 1.1.2017 auch Elternzeit und Weiterbildung) vorliegt und innerhalb der letzten 24 Monate eine Beschäftigung von zwölf Monaten ausgeübt wurde (§ 28a Abs 2 S 1 Nr 1 SGB III). Andererseits kommt sie aber auch in Betracht bei einem dem Berechtigungstatbestand "unmittelbar" vorhergehenden Entgeltersatzleistungsbezug (§ 28a Abs 2 S 1 Nr 2 SGB III) oder einer unmittelbar vorhergehenden Ausübung einer geförderten Beschäftigung (§ 28a Abs 2 S 1 Nr 3 SGB III). In diesem Regelungszusammenhang sieht das BSG unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien nur eine Unterbrechung von nicht mehr als einem Monat als unmittelbar und damit anschlusswahrend an (vgl BSG Urteil vom 30.3.2011 - B 12 AL 2/10 R - SozR 4-4300 § 28a Nr 4 RdNr 22; BSG Urteil vom 4.12.2014 - B 5 AL 1/14 R - SozR 4-4300 § 28a Nr 9 RdNr 19; BSG Urteil vom 7.4.2016 - B 5 AL 1/15 R - juris RdNr 13).Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Auslegung von § 26 Abs 2 SGB III ist wegen der unterschiedlichen Zielrichtung und Ausgestaltung der beiden Vorschriften aber nicht geboten. Sinn und Zweck des § 28a SGB III ist es, Personen, die aufgrund selbst gewählter Gestaltung Versicherungsschutz verlieren würden, die Möglichkeit einzuräumen, diesen gegen Eigenleistung zu erhalten. Von dieser Ausnahmeregelung sollen zudem - abgesehen von der Anknüpfung an eine Beschäftigung von einem Jahr in den letzten beiden Jahren nach § 28a Abs 2 S 1 Nr 1 SGB III - nur Personen mit einem besonders engen Verhältnis zur Arbeitslosenversicherung profitieren können (BSG Urteil vom 30.3.2011 - B 12 AL 2/10 R - SozR 4-4300 § 28a Nr 4 RdNr 18). § 26 Abs 2 SGB III geht in seiner Zielrichtung darüber hinaus (ähnlich auch B. Schmidt, SGb 2014, 242, 246 f; Bienert, info also 2016, 71, 72) und ist darauf gerichtet, Personen zu schützen, die durch besondere, außerhalb ihres Einflussbereichs liegende Umstände an einer Beschäftigung mit Verbleib in der Versichertengemeinschaft gehindert sind (vgl Schlegel in Eicher/Schlegel, SGB III nF, § 26 RdNr 79, Stand Juli 2016).Der danach weitergehende Schutzzweck von § 26 SGB III erfordert deshalb zur Beantwortung der Frage, ob ein unmittelbarer Anschluss zwischen den Leistungen besteht, die Prüfung, welche besonderen Umstände im Einzelfall zur Unterbrechung geführt haben. Ein Ausschluss aus der Versichertengemeinschaft ist nur dann gerechtfertigt, wenn diese Umstände von solchem Gewicht sind, dass sie den Schluss rechtfertigen, die Betroffenen hätten sich von der Arbeitslosenversicherung abgekehrt. Besonderheiten der in § 26 Abs 2 SGB III jeweils bezeichneten Lohnersatzleistungen sind in diesem Rahmen zu berücksichtigen. Der Dauer der Unterbrechung kann dabei als Zeitmoment der geforderten Unmittelbarkeit eine indizielle Bedeutung zukommen, insbesondere wenn sie sich als besonders lange darstellt (vgl auch BSG Urteil vom 28.8.2007 - B 7/7a AL 50/06 R - BSGE 99, 42 = SozR 4-4300 § 123 Nr 4, RdNr 16, die Unmittelbarkeit bei einer dreijährigen Unterbrechung verneinend).Bezogen auf die hier anwendbare Regelung in § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III, wonach auch der Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zur Versicherungspflicht führen kann, ist der besondere Zweck dieser Regelung zu berücksichtigen. Grund für die Einführung dieses Tatbestandes war der Befund, dass Personen, die wegen Erwerbsunfähigkeit entweder ihre Beschäftigung aufgeben müssen oder den Bezug von Arbeitslosengeld beenden, bei späterer Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nur unzureichend in das Leistungssystem der Arbeitsförderung einbezogen sind (BT-Drucks 14/6944 S 1). Ausdrücklich sollte der Arbeitslosenversicherungsschutz dieser Personengruppe verbessert werden (BT-Drucks 14/6944 S 30 zu Nr 10), wobei die Anzahl der Betroffenen - was sich aus der Begründung zur pauschalen Festsetzung der Beiträge nach § 345a SGB III ergibt - als gering eingeschätzt wurde (deutlich unter einem Prozent aller Rentenbezieher, vgl BT-Drucks 14/6944 S 50 zu Nr 106).Eine enge Auslegung des Begriffs "unmittelbar" würde dieses Ziel in vielen Fällen verfehlen. Das Zusammenspiel des Leistungsrechts der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung führte nämlich bis zur Einfügung von § 101 Abs 1a SGB VI mit Wirkung vom 14.12.2016 durch das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz) vom 8.12.2016 (BGBl I 2838) zu systembedingten Lücken. Erhält jemand - wie hier die Klägerin - Alg nach der sogenannten "Nahtlosigkeitsregelung" gemäß § 145 SGB III (§ 125 SGB III in der bis zum 31.3.2012 geltenden Fassung) wird die objektive Verfügbarkeit als Voraussetzung des Anspruchsmerkmals Arbeitslosigkeit fingiert; diese entfällt mit dem Zeitpunkt, zu dem vom Rentenversicherungsträger eine verminderte Erwerbsfähigkeit festgestellt wird. Allerdings werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet (§ 102 Abs 2 S 1 SGB VI) und setzen deshalb nach § 101 Abs 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Monats nach Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit ein. Die Leistung der Rente bereits ab dem Tag, an dem der Anspruch auf Alg endet, ist erst seit dem 14.12.2016 gemäß § 101 Abs 1a S 2 SGB VI möglich. Somit sind immer dann Lücken von mehr als einem Monat zwischen dem Ende des Alg-Bezugs und dem Beginn der Erwerbsminderungsrente aufgetreten, wenn die Feststellung der Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger so frühzeitig erfolgte und zudem der Arbeitsagentur mitgeteilt wurde, dass diese eine Aufhebung der Bewilligung von Alg früher als einen Monat vor dem Einsetzen der Rente vornehmen konnte. Dieser Umstand ist von dem Leistungsbezieher nicht zu beeinflussen gewesen. Er ist deshalb als schutzwürdig anzusehen, selbst wenn die Lücke mehr als einen Monat betragen hat, weil von einer Abkehr von der Arbeitslosenversicherung auch in diesen Fällen nicht die Rede sein kann. Bei Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung während des Bezugs von Alg ist daher für die Zeit vor Einfügung von § 101 Abs 1a SGB VI stets von einer Unmittelbarkeit iS des § 26 Abs 2 SGB III auszugehen gewesen.Hieraus folgt zwar, dass uU selbst eine Lücke von über fünf Monaten, die theoretisch möglich war zwischen dem Ende des Alg-Bezugs und dem Einsetzen der Erwerbsminderungsrente, noch unschädlich sein kann. Dies ist aber deshalb gerechtfertigt, weil es andernfalls von der Zufälligkeit der Dauer des Rentenverfahrens abhängig war, ob bei einer solchen Lücke § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III noch zur Anwendung kam oder nicht. Hat sich das Rentenverfahren über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten hingezogen oder war ein früherer Versicherungsfall der Erwerbsminderung festgestellt worden mit einem dementsprechend früheren Beginn der Rente, stand die Anwendung von § 26 Abs 2 Nr 3 SGB III ohnehin außer Frage, sodass auch eine verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung für die hier gewonnene Lösung spricht.Nach den hier vorliegenden Umständen sind die Rentenbezugszeiten der Klägerin als versicherungspflichtige Zeiten in der Arbeitslosenversicherung anzuerkennen. Diese ist zum 8.3.2012 aus dem Alg-Bezug ausgeschieden, weil ihre objektive Verfügbarkeit - bei erklärter Bereitschaft, im Rahmen ihres Restleistungsvermögens auf dem Arbeitsmarkt tätig sein zu wollen (subjektive Verfügbarkeit) - krankheitsbedingt entfallen war. Weil zudem der Rentenversicherungsträger die verminderte Erwerbsfähigkeit festgestellt hatte, ist auch die Fiktion der objektiven Verfügbarkeit und damit ein Anspruch auf Alg nach § 125 SGB III (in der bis zum 31.3.2012 anwendbaren Fassung; jetzt § 145 SGB III) entfallen. Auf die daraufhin eintretende (Versorgungs-)Lücke bis zum Beginn der nur auf Zeit bewilligten Erwerbsminderungsrente bis zum 1.5.2012 hatte die Klägerin keinen Einfluss, sodass diese Lücke nicht geeignet ist, den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Bezug beider Leistungen in Frage zu stellen.Trotz der danach von der Klägerin erfüllten Anwartschaftszeit für einen neuen Anspruch auf Alg ab dem 1.1.2014 und deren Arbeitslosmeldung zu diesem Termin vermag der Senat nicht abschließend den Anspruch der Klägerin auf Alg ab dem 8.2.2014 zu beurteilen. Denn das LSG hat keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen, ob bei der Klägerin nach dem 7.2.2014 Arbeitslosigkeit iS von § 138 SGB III vorgelegen hat, was im Hinblick auf weitere Krankheitszeiten zweifelhaft sein könnte. Diese Feststellungen wird es im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen haben. Für die Zeiten der Arbeitslosigkeit nach dem 7.2.2014 stünde der Klägerin ein Anspruch auf Alg dem Grunde nach zu und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG wäre zurückzuweisen. Trotz einer unzutreffenden Anwendung von § 147 Abs 2 SGB III durch das SG (aus einer Beitragszeit von 20 Monaten folgt eine Anspruchsdauer von zehn Monaten = 300 Tage) und der Nichtbeachtung von § 147 Abs 4 SGB III, wonach die Dauer des Anspruchs um die Restdauer des erloschenen Anspruchs zu verlängern ist, kommt die Zuerkennung eines Anspruchs für mehr als 240 Tage dennoch nicht in Betracht, weil die Klägerin ihren Klageanspruch von vornherein auf Leistungen für diese Dauer beschränkt hat.Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
bundessozialgericht
bsg_62 - 2017
14.12.2017
Provisionen können Elterngeld erhöhen Ausgabejahr 2017 Nummer 62 Datum 14.12.2017 Provisionen, die der Arbeitgeber im Bemessungszeitraum vor der Geburt des Kindes zahlt, können das Elterngeld erhöhen, wenn sie als laufender Arbeitslohn gezahlt werden. Werden Provisionen hingegen als sonstige Bezüge gezahlt, erhöhen sie das Elterngeld nicht. Dies hat der 10. Senat des Bundessozialgerichts am 14. Dezember 2017 in mehreren Verfahren entschieden (B 10 EG 7/17 R unter anderem). Das Verfahren B 10 EG 7/17 R betraf einen Kläger, der im Jahr vor der Geburt seines Kindes am 20. Januar 2015 aus seiner Beschäftigung als Berater neben einem monatlich gleichbleibenden Gehalt im Oktober und Dezember 2014 quartalsweise gezahlte Prämien ("Quartalsprovisionen") erzielt hatte. Seine Gehaltsmitteilungen wiesen die Prämien als sonstige Bezüge im lohnsteuerrechtlichen Sinne aus. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Elterngeld, ohne jedoch die im Oktober und Dezember 2014 gezahlten Prämien zu berücksichtigen. Während die Vorinstanzen die Beklagte zur Gewährung höheren Elterngelds unter Berücksichtigung der zusätzlich gezahlten Quartalsprovisionen verurteilt hatten, hat das Bundessozialgericht mit seiner Entscheidung vom heutigen Tag der dagegen gerichteten Revision der Beklagten stattgegeben, weil die Provisionen nicht laufend, sondern nur quartalsweise gezahlt wurden. Der Gesetzgeber hat durch die ab dem 1. Januar 2015 geltende Neuregelung des § 2c Absatz 1 Satz 2 BEEG, gegen die verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen, Provisionen von der Bemessung des Elterngeldes ausgenommen, die nach dem Arbeitsvertrag nicht regelmäßig gezahlt und verbindlich als sonstige Bezüge zur Lohnsteuer angemeldet werden. Mit dieser Regelung hat er auf die anderslautende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts reagiert. Hinweis auf Rechtsvorschriften § 2 Abs 7 BEEG ab 1.1.2007 (7) 1Als Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit ist der … Überschuss der Einnahmen … über die … Werbungskosten zu berücksichtigen. 2Sonstige Bezüge im Sinne von § 38a Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes werden nicht als Einnahmen berücksichtigt … § 2 Abs 7 BEEG idF ab 1.1.2011 (7) 1Als Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit ist … zu berücksichtigen. 2Im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelte Einnahmen werden nicht berücksichtigt … § 2c Abs 1 BEEG idF ab 18.9.2012 (1) 1Der … Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit … über ein Zwölftel des Arbeitnehmer-Pauschbetrags, vermindert um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben …, ergibt das Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit. 2Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelt werden … § 2c Abs 1 BEEG idF ab 1.1.2015 (1) 1Der … Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit …, ergibt das Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit. 2Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind …
1. Welche Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge von der Elterngeldbemessung ausgeschlossen sind, richtet sich allein nach den Vorgaben des materiellen Steuerrechts und den Ergebnissen des Lohnsteuerabzugsverfahrens.2. Die Behandlung von Entgeltbestandteilen im Lohnsteuerabzugsverfahren bindet die Beteiligten des Elterngeldverfahrens, wenn die Lohnsteueranmeldung bestandskräftig geworden ist.3. Neben laufendem Monatslohn regelmäßig vierteljährlich gezahlte Provisionen erhöhen nicht das Elterngeld. Tenor Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. März 2017 und des Sozialgerichts Mannheim vom 24. März 2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen.Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten. Tatbestand Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Elterngeldanspruch des Klägers vierteljährlich gezahlte variable Entgeltbestandteile (sog Quartalsprovisionen) elterngelderhöhend zu berücksichtigen sind.Der Kläger erzielte in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt seines Kindes am 20.1.2015 ein monatlich gleichbleibendes Bruttogrundgehalt aus seiner Beschäftigung als Berater. Zusätzlich zahlte ihm sein Arbeitgeber quartalsweise eine Prämie je gegenüber Kunden abgerechnetem (sog fakturiertem) Beratertag. Eine weitere quartalsweise abzurechnende Prämie stand dem Kläger für "Coaching" auf durch Kollegen geleistete fakturierte Beratertage zu. Die Gehaltsbescheinigungen wiesen diese Prämien gesondert aus, zunächst als laufenden Arbeitslohn, später als sonstige Bezüge.Die Beklagte bewilligte dem Kläger auf seinen Antrag Elterngeld wegen der Betreuung und Erziehung seines Kindes im ersten und achten Lebensmonat in Höhe von jeweils 1616,66 Euro (Bescheid vom 2.3.2015). Grundlage der Berechnung waren die im Zeitraum Januar bis Dezember 2014 gezahlten Entgeltbestandteile. Eingeschlossen waren jene für fakturierbare Tage/Stunden bzw Coaching gezahlten Beträge, die der Arbeitgeber als laufenden Arbeitslohn gekennzeichnet hatte. Außer Betracht ließ die Beklagte die Prämien in Höhe von insgesamt 6207,51 Euro, die der Arbeitgeber des Klägers im Oktober und Dezember 2014 als sonstige Bezüge ausgewiesen hatte. Den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 16.3.2015).Das SG hat die Beklagte zur Gewährung höheren Elterngelds unter Berücksichtigung der im Oktober und Dezember 2014 gezahlten Prämien verurteilt (Urteil vom 24.3.2016). Die Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 28.3.2017). Der Ausschluss sonstiger Bezüge aus der Bemessungsgrundlage erfasse die dem Kläger gezahlten Quartalsprovisionen nicht. Sie seien nicht durch eine gesetzliche oder untergesetzliche Definition den sonstigen Bezügen zuzuordnen. Die tatsächliche Handhabung durch den Arbeitgeber sei nicht verbindlich. Nach der fortzuführenden Rechtsprechung des BSG (ua Hinweis auf Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25) seien vielmehr solche Provisionen zu berücksichtigen, die - wie hier bei mehrmaliger Zahlung im Jahr - den Lebensstandard der Elterngeldberechtigten vor der Geburt geprägt hatten.Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. Die vom LSG zitierte Rechtsprechung des BSG beruhe auf einer nicht mehr gültigen Fassung der Ausschlussnorm. Der Gesetzgeber habe inzwischen durch die Neufassung des § 2c Abs 1 S 2 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) zum 1.1.2015 seinen Willen zum Ausschluss sonstiger Bezüge im Sinne des Steuerrechts eindeutig klargestellt. Dies habe das LSG verkannt.Die Beklagte beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. März 2017 und des Sozialgerichts Mannheim vom 24. März 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.Er beruft sich auf das angefochtene Berufungsurteil. Gründe Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf höheres Elterngeld, weil die ihm im Oktober und Dezember 2014 gezahlten variablen Entgeltbestandteile im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge zu behandeln waren und auch so behandelt worden sind.1. Streitgegenstand bildet der Anspruch des Klägers auf höheres Elterngeld, den die Beklagte mit Bescheid vom 2.3.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.3.2015 versagt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger zulässigerweise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, Abs 4 SGG), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 SGG; vgl hierzu BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42, 43 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10, RdNr 14 mwN).2. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf höheres Elterngeld. Zwar kann er dem Grunde nach Elterngeld beanspruchen (hierzu unter a). Die Höhe seines Anspruchs bemisst sich aber nur nach jenen laufenden Arbeitslöhnen, die ihm regelmäßig (hier: monatlich) gezahlt worden sind; nicht jedoch zusätzlich nach den ihm im Oktober und Dezember 2014 zugeflossenen variablen Entgeltbestandteilen (hierzu unter b und c). Der Bescheid der Beklagten vom 2.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.3.2015 verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Dahinstehen kann, ob dieser Bescheid ihn rechtswidrig begünstigt, weil die Beklagte bei dem Kläger zuvor gezahltes variables Entgelt elterngeldsteigernd berücksichtigt hat. Eine solche rechtswidrige Begünstigung würde den Kläger aber nicht in seinen Rechten verletzen und könnte daher seinem auf höheres Elterngeld gerichteten Klagebegehren nicht zum Erfolg verhelfen.a) Dem Kläger steht dem Grunde nach Elterngeld für die Betreuung und Erziehung im ersten und achten Lebensmonat seiner Tochter zu. Er erfüllt die Grundvoraussetzungen des Elterngeldanspruchs nach § 1 Abs 1 S 1 BEEG (in der hier maßgeblichen ab dem 1.1.2015 geltenden Fassung durch das Gesetz zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 18.12.2014, BGBl I 2325). Wie in § 1 Abs 1 S 1 Nr 1 bis 4 BEEG vorausgesetzt, hatte der Kläger nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) im Bezugszeitraum des Elterngelds seinen Wohnsitz in Deutschland, lebte in einem Haushalt mit der von ihm selbst betreuten und erzogenen Tochter und übte im Bezugszeitraum zumindest keine volle Erwerbstätigkeit aus iS von § 1 Abs 6 BEEG (idF des Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs vom 10.9.2012, BGBl I 1878).b) Zur Bemessung des dem Kläger zustehenden Elterngelds sind nur seine regelmäßig monatlich gezahlten Arbeitslöhne heranzuziehen, nicht dagegen die ihm vierteljährlich zugeflossenen variablen Entgeltbestandteile. Sie gehören zwar zu den im Bemessungszeitraum erzielten Einnahmen aus Erwerbstätigkeit (dazu unter aa). Die vierteljährlich gezahlten Entgeltbestandteile erhöhen aber nicht den Anspruch des Klägers auf Elterngeld, weil sie lohnsteuerlich als sonstige Bezüge zu behandeln waren und im Lohnsteuerabzugsverfahren auch zutreffend so behandelt worden sind (dazu unter bb). Verfassungsrechtliche Bedenken wegen dieser Gesetzesfolgen hat der Senat nicht (dazu unter c).aa) Die vom Kläger vierteljährlich bezogenen variablen Entgeltbestandteile gehören zu den im Bemessungszeitraum erzielten Einnahmen aus Erwerbstätigkeit. Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich gezahlt. In den Fällen, in denen das Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt höher als 1200 Euro war, sinkt der Prozentsatz von 67 Prozent um 0,1 Prozentpunkte für je 2 Euro, um die dieses Einkommen den Betrag von 1200 Euro überschreitet, auf bis zu 65 Prozent (§ 2 Abs 1, Abs 2 S 2 BEEG idF des Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs, aaO).Als Bemessungszeitraum hat die Beklagte zutreffend den Zeitraum von Januar bis Dezember 2014 herangezogen. Wurde - wie vom LSG festgestellt - vor der Geburt des Kindes nur Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit iS von § 2c BEEG erzielt, erstreckt sich der Bemessungszeitraum auf die zwölf Kalendermonate vor dem Geburtsmonat des Kindes (§ 2b Abs 1 S 1 BEEG idF des Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs, aaO).Auf der Grundlage der in diesem Bemessungszeitraum erzielten Einkünfte bestimmt sich das Einkommen nach den näheren Bestimmungen der §§ 2c bis 2f BEEG. Danach hat die Beklagte zutreffend den Durchschnittsverdienst des Klägers für den Zeitraum ab dem Monat Januar bis zum Dezember 2014 berücksichtigt, wie ihn die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen seines Arbeitgebers ausweisen. Die darauf gestützte Elterngeldberechnung der Beklagten auf Grundlage des monatlich fortlaufend gezahlten Arbeitslohns ist nicht zu beanstanden. Insoweit haben die Beteiligten weder Bedenken geäußert noch hat der Senat Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Berechnung.bb) Ebenfalls zutreffend hat die Beklagte die dem Kläger gezahlten variablen Entgeltbestandteile in den Monaten Oktober und Dezember 2014 bei der Bemessung des Elterngelds außer Betracht gelassen. Denn sie waren im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln und wurden auch so behandelt.Bei der Ermittlung des Einkommens aus nichtselbständiger Arbeit werden solche Einnahmen nicht berücksichtigt, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind (§ 2c Abs 1 S 2 BEEG in der gemäß § 27 Abs 1 S 3 BEEG ab dem 1.1.2015 gültigen Fassung durch das Gesetz zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, aaO). Nach Wortlaut, Systematik, Normzweck und Entstehungsgeschichte erfasst diese Ausnahme alle Entgeltbestandteile, die abweichend vom regelmäßigen - hier monatlichen - Lohnzahlungszeitraum abgerechnet und gezahlt werden.Mit dieser doppelten Anknüpfung an das materielle und das Steuerverfahrensrecht eröffnet schon der Wortlaut des § 2c Abs 1 S 2 BEEG keinen Auslegungsspielraum dafür, bei der Elterngeldbemessung auf andere als steuerrechtliche Begriffe zurückzugreifen wie etwa auf denjenigen der Einmalzahlung iS des § 23a SGB IV. Deshalb lässt das Gesetz in seiner ab dem 1.1.2015 geltenden Fassung auch keine elterngeldspezifische Auslegung des Tatbestandsmerkmals der sonstigen Bezüge mehr zu. Vielmehr entspricht nur eine strenge Bindung an das formelle und materielle Steuerrecht der erklärten Zielsetzung des Gesetzgebers, wie sie maßgeblich in der Entstehungsgeschichte zum Ausdruck kommt.Bereits die ab dem 1.1.2007 geltende Ursprungsfassung des § 2 Abs 7 BEEG (BEEG vom 5.12.2006, BGBl I 2748) hatte die Bemessung des Elterngelds für abhängig Beschäftigte nicht an den sozialrechtlichen Begriff des Arbeitsentgelts geknüpft (§ 14 SGB IV; vgl wegen einmaliger Einnahmen § 23a SGB IV), sondern an das Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit im Sinne des Einkommensteuergesetzes (EStG). Sie hatte in S 2 als Ausnahme formuliert, sonstige Bezüge iS von § 38a Abs 1 S 3 EStG seien nicht als Einnahmen zu berücksichtigen. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 2 Abs 7 S 2 BEEG (BT-Drucks 16/1889 S 21), der noch vom Einkommensbegriff des SGB II ausgegangen war, sollten damit einmalige Einnahmen wie Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Prämien und Erfolgsbeteiligungen weder vor der Geburt noch während des Bezugszeitraums des Elterngelds berücksichtigt werden. Nach Ansicht des Entwurfs prägten solche Einnahmen die für das Elterngeld als monatliche Leistung maßgeblichen Verhältnisse nicht mit der gleichen Nachhaltigkeit wie das laufende Erwerbseinkommen. Darüber hinaus könne der zufällige Zufluss einmaliger Einnahmen im Bezugszeitraum den Elterngeldanspruch insbesondere teilzeitbeschäftigter Eltern beeinträchtigen. An dieser Regelung hielt die Bundesregierung fest, obwohl der Bundesrat die Einbeziehung der einmaligen Einnahmen vorschlug (BT-Drucks 16/2454 S 11).Die schließlich Gesetz gewordene Ursprungsfassung beruhte auf der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BT-Drucks 16/2785 S 37). Sie hat den Einkommensbegriff des SGB II durch den steuerrechtlichen ersetzt. Anstelle einmaliger Einnahmen sollten nunmehr - weiterhin unter Hinweis auf ansonsten drohende Zufallsergebnisse - sonstige Bezüge iS von § 38a Abs 1 S 3 EStG von der Bemessungsgrundlage des Elterngelds ausgenommen werden.In der Folge hat das Urteil des Senats vom 3.12.2009 (B 10 EG 3/09 R - BSGE 105, 84 = SozR 4-7837 § 2 Nr 4) zur Einordnung mehrmals jährlich gezahlter Umsatzprovisionen als laufenden Arbeitslohn den Gesetzgeber veranlasst, sein von Anfang an verfolgtes, steuerakzessorisches Regelungskonzept nochmals zu verdeutlichen und zu verstärken (vgl BT-Drucks 17/3030 S 48) und die Ergebnisse des Besteuerungsverfahrens hervorzuheben. Nach der ab dem 1.1.2011 geltenden Neufassung des § 2 Abs 7 S 2 BEEG waren nunmehr im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelte Einnahmen nicht zu berücksichtigen (Haushaltsbegleitgesetz <HBeglG> vom 9.12.2010, BGBl I 1885). Die anschließende Übernahme der Regelung in § 2c Abs 1 S 2 BEEG sollte dieses Regelungskonzept und -ziel fortführen (BT-Drucks 17/9841 S 22). Erneut waren solche Einnahmen nicht zu berücksichtigen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelt wurden (§ 2c Abs 1 S 2 BEEG in der ab dem 18.9.2012 gültigen Fassung durch das Gesetz zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs, aaO).Trotz Kenntnis dieser Neuregelung hat der Senat in seinem Urteil vom 26.3.2014 (B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25) zur Vorläuferfassung (§ 2 Abs 7 S 2 BEEG idF des HBeglG 2011, aaO) an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten. Lohnsteuerlich als sonstige Bezüge behandelte Umsatzbeteiligungen seien gleichwohl bei der Elterngeldberechnung als laufender Arbeitslohn zu berücksichtigen, wenn sie neben dem monatlichen Grundgehalt für kürzere Zeiträume als ein Jahr und damit mehrmals im Jahr regelmäßig nach festgelegten Berechnungsstichtagen gezahlt werden.Indes hat der Gesetzgeber auch auf dieses Senatsurteil mit einer weiteren Klarstellung der Ausschlussnorm reagiert. Die vierte und hier einschlägige Gesetzesfassung schließt nunmehr Einnahmen von der Bemessungsgrundlage des Elterngelds aus, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind (§ 2c Abs 1 S 2 BEEG idF des Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, aaO). Wie die Gesetzesmaterialien hervorheben, hat die Einordnung von Lohn- und Gehaltsbestandteilen als sonstige Bezüge - wie von Anfang an beabsichtigt - allein nach lohnsteuerlichen Vorgaben, dh nach § 38a Abs 1 S 3 EStG und den Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) zu erfolgen. Nur dann sei es möglich, die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen entsprechend der gesetzgeberischen Zielsetzung nach § 2c Abs 2 S 2 BEEG als aussagekräftige Grundlage der elterngeldrechtlichen Einkommensermittlung zu nutzen (Richtigkeits- und Vollständigkeitsvermutung der Lohn- und Gehaltsbescheinigungen). Demnach sollen alle Lohn- und Gehaltsbestandteile, die richtigerweise nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind (Hinweis auf LStR R 39b.2 Abs 2), auch elterngeldrechtlich als sonstige Bezüge behandelt werden (vgl BT-Drucks 18/2583 S 24 f).Wie die dargestellte Gesetzesentwicklung belegt, zielt der Gesetzgeber von Anbeginn an darauf ab, sonstige Bezüge im Sinne des materiellen Lohnsteuerrechts aus der Bemessungsgrundlage für das Elterngeld auszuschließen, das dem Ersatz von Einkommen nichtselbstständig Erwerbstätiger dient. Der Verweis auf die Ergebnisse des Lohnsteuerabzugsverfahrens soll diese ausgeschlossenen Einnahmen für die Elterngeldstellen zweifelsfrei identifizieren. Die klarstellenden Änderungen der Ausschlussnorm haben dabei jeweils erkennbar versucht, eine abweichende Rechtsanwendung durch die Senatsrechtsprechung zu korrigieren. Sie waren und sind darauf gerichtet, die von Anfang an gewünschte Anbindung an das formelle und materielle Lohnsteuerrecht sicherzustellen. Der Gesetzgeber will die begriffliche Abgrenzung zwischen laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen nicht lediglich am Steuerrecht orientieren (so noch BSG Urteil vom 3.12.2009 - B 10 EG 3/09 R - BSGE 105, 84 = SozR 4-7837 § 2 Nr 4, RdNr 28), sondern in vollem Umfang und mit bindender Wirkung auf das materielle Steuerrecht verweisen, wie es das Lohnsteuerabzugsverfahren konkretisiert hat. Eine einschränkende Auslegung der Ausschlussklausel des § 2c Abs 1 S 2 BEEG ist deshalb nicht mehr möglich. Sie würde sich gegen den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes und den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers stellen. Sie überschritte damit die Grenzen zulässiger Auslegung (vgl BVerfG Beschluss vom 25.1.2011 - 1 BvR 918/10 - BVerfGE 128, 193, 210). Unter der neuen Gesetzesfassung kann daher die bisherige Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 3.12.2009 - B 10 EG 3/09 R - BSGE 105, 84 = SozR 4-7837 § 2 Nr 4; ua vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25) und der darin gefundene, elterngeldrechtlich modifizierte lohnsteuerrechtliche Begriff der sonstigen Bezüge nicht mehr weitergeführt werden.Der Kläger hat hiernach keinen Anspruch auf die Berücksichtigung der ihm gezahlten variablen Entgeltbestandteile für die Bemessung seines Elterngelds. Sie stellen lohnsteuerrechtlich keinen laufenden Arbeitslohn, sondern sonstige Bezüge dar, weil sie abweichend vom arbeitsvertraglich vereinbarten monatlichen Lohnzahlungszeitraum in vierteljährlichen Abständen gezahlt werden.Das im EStG geregelte Lohnsteuerrecht definiert die Begriffe laufender Arbeitslohn und sonstige Bezüge nicht ausdrücklich (vgl § 38a Abs 1 und 3, § 39b Abs 2 und 3 EStG). Die auf Grundlage des Art 108 Abs 7 GG als norminterpretierende Verwaltungsvorschriften erlassenen LStR (hier idF der Lohnsteuer-Änderungsrichtlinien 2013 vom 8.7.2013, BStBl I 851) erläutern beide Begriffe lediglich mit Anwendungsbeispielen. Sie legen aber nicht fest, auf welche Regel die LStR R 39b.2 Abs 1 ("regelmäßig fortlaufend") Bezug nimmt und was im Gegensatz dazu unter einem sonstigen Bezug zu verstehen ist. Ebenso wenig bestimmen sie, dass variable Entgeltformen stets als laufender Arbeitslohn oder aber als sonstige Bezüge behandelt werden sollen. Für die konkrete Zuordnung übernehmen die LStR vielmehr die gesetzliche Zweiteilung danach, ob die Bezüge "fortlaufend" gewährt werden oder nicht (vgl etwa zu Tantiemen LStR R 39b.2 Abs 2 S 2 Nr 3). Ohnehin kommt den LStR keine Normqualität zu. Sie binden unmittelbar weder die Elterngeldstellen noch die Sozialgerichte (BSG Urteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25, RdNr 26). § 2c Abs 1 S 2 BEEG enthält hier deshalb entgegen der Ansicht des LSG keine unzulässige dynamische Verweisung auf die LStR als untergesetzliche lohnsteuerliche Vorschriften.Nach dem materiell-rechtlichen Gehalt des Lohnsteuerrechts ist maßgeblich, ob der Arbeitslohn einem (laufenden) Lohnzahlungszeitraum zugehörig gezahlt wird oder nicht (vgl § 38a Abs 1 S 2 und Abs 3 S 1, § 39b Abs 2 EStG im Gegensatz zu § 38a Abs 1 S 3 und Abs 3 S 2, § 39b Abs 3 EStG). Der Arbeitgeber hat für die Höhe der zunächst einzubehaltenden Lohnsteuer den Lohnzahlungszeitraum und die Höhe des darin zustehenden laufenden Arbeitslohns zu ermitteln (vgl § 38a Abs 1 und 3, § 39b Abs 2 S 1 EStG). Dieser Lohnzahlungszeitraum folgt nicht aus dem Steuerrecht (vgl § 39b Abs 2 S 2, Abs 5 EStG), das auch keine stets gleichbleibend langen Zeiträume vorgibt (BFH Urteil vom 11.6.1970 - VI R 67/68 - BFHE 99, 310 = BStBl II 1970, 664; Stache in Horowski/Altehoefer/Stache, Kommentar zum Lohnsteuerrecht, § 39b EStG RdNr 68, Stand der Einzelkommentierung Juni 2017). Der Lohnzahlungszeitraum kann daher nur dem Arbeitsvertragsverhältnis, dh den arbeitsrechtlichen Vereinbarungen oder einer betrieblichen Übung entnommen werden (BFH Urteil vom 10.3.2004 - VI R 27/99 - BFH/NV 2004, 1239). Es ist der Zeitraum, für den der laufende Arbeitslohn abgerechnet und gezahlt wird (BFH Urteil vom 10.3.2004 - VI R 27/99 - BFH/NV 2004, 1239; Stache in Horowski/Altehoefer/Stache, Kommentar zum Lohnsteuerrecht, § 38a EStG RdNr 21 und 26, Stand Einzelkommentierung Juni 2011). Laufender Arbeitslohn ist danach durch seinen arbeitsvertraglich definierten Lohnzahlungszeitraum gekennzeichnet, der - rein zeitlich betrachtet - den Regelfall der Entlohnung darstellt; davon weicht der sonstige Bezug ab.Arbeits- bzw dienstrechtlich verbindliche allgemeine Vorgaben zur Dauer der Lohnzahlungszeiträume sind nach den vom LSG festgestellten Anspruchsvoraussetzungen für die streitigen Entgeltbestandteile nicht zu beachten. Selbst wenn die Vorschriften für die Provisionen der Handelsvertreter anwendbar wären, könnte deren Abrechnungs- und Zahlungszeitraum frei zwischen dem Quartal und dem Monat gewählt werden (§ 87c Abs 1 HGB; vgl § 65 HGB für Handlungsgehilfen). Dasselbe gilt entsprechend für (andere) Arbeitnehmer (vgl Fandel/Kock in Herberger/Martinek/Rüßmann ua, juris-PK-BGB, 8. Aufl 2017, § 611a BGB RdNr 128).Im Übrigen können die Arbeitsvertragsparteien den Abrechnungsmodus der variablen Entgeltbestandteile im Rahmen einer Entgeltregelung iS des § 611 Abs 1 BGB frei regeln. Gleiches gilt für den Zeitpunkt der Fälligkeit, weil von der nach § 614 BGB bestimmten Fälligkeit nach Ablauf des Bemessungsabschnitts abgewichen werden darf (vgl BAG Urteil vom 15.1.2002 - 1 AZR 165/01 - EzA § 614 BGB Nr 1). Diese Gestaltungsfreiheit ist zudem nicht durch die allgemeine Billigkeits- oder Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff BGB eingeschränkt; lediglich dem Transparenzgebot des § 307 Abs 2 BGB iVm § 307 Abs 1 S 2 BGB muss Rechnung getragen werden (vgl BAG Urteil vom 12.12.2007 - 10 AZR 97/07 - BAGE 125, 147 = NZA 2008, 409, 411). Im Rahmen seiner Fürsorgepflicht muss der Arbeitgeber allerdings auf die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen.Nach den materiell-rechtlichen Regelungen des EStG gehören damit zu den sonstigen Bezügen jene Entgeltzahlungen, deren Zahlungszeiträume von dem als Regel vorgesehenen Zahlungsturnus für Arbeitslohn nicht nur unerheblich abweichen. Einen sonstigen Bezug stellen also Zahlungen dar, die entweder nicht für bestimmte, aufeinanderfolgende Zeiträume erfolgen oder solche, die den üblichen Lohnzahlungszeitraum erheblich überschreiten (vgl Stache in Bordewin/Brandt, EStG, § 38a RdNr 33 mwN, Stand der Einzelkommentierung August 2017). Maßgeblich ist die Abweichung von dem Lohnzahlungszeitraum, den die Vertragsparteien arbeitsrechtlich zugrunde gelegt haben.Der Senat hält in diesem Zusammenhang nicht mehr an der spezifisch elterngeldrechtlichen Auslegung des § 2c Abs 1 S 2 BEEG (§ 2 Abs 7 S 2 BEEG aF) fest, der zufolge es - noch unterschieden durch den Anspruchsgrund - in einem Arbeitsverhältnis mehrere laufende, dh regelmäßige Arbeitslöhne in verschiedenen Lohnzahlungszeiträumen nebeneinander geben kann (anders noch BSG Urteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25, RdNr 35). Vielmehr kann es nur einen regelmäßigen Zahlungszeitraum für laufenden Arbeitslohn geben. Zahlungen, die davon abweichend in anderen Zeitintervallen erfolgen, sind als sonstige Bezüge anzusehen, selbst wenn es sich dabei seinerseits um gleichbleibende Intervalle handelt.Dieses Auslegungsergebnis schließt es schon materiell-rechtlich aus, die dem Kläger im Oktober und Dezember 2014 gezahlten variablen Entgeltbestandteile dem laufenden Arbeitslohn und damit der Bemessungsgrundlage des Elterngelds hinzuzurechnen. Wie das LSG festgestellt hat, hat der Kläger monatlich Anspruch auf Zahlung eines Grundgehalts und quartalsweise auf Zahlung von variablen Entgeltbestandteilen. Aufgrund ihrer Frequenz und Häufigkeit stellt damit der monatliche Lohnzahlungszeitraum des Grundgehalts den Regelfall und die erheblich anders gelagerten Zahlungszeiträume der variablen Entgelte in Form der Quartalsprovisionen die Abweichung dar. Bezogen auf den maßgeblichen arbeitsvertraglich vereinbarten Lohnzahlungszeitraum werden sie nicht regelmäßig gezahlt. Sie sind damit kein laufender Arbeitslohn, sondern sonstige Bezüge. Diese Auslegung bestätigt im Übrigen auch die inzwischen erfolgte, für den Fall des Klägers indes noch nicht einschlägige Ergänzung der norminterpretierenden LStR R 39b.2 Abs 2 S 2 um die Nummer 10 durch die Lohnsteuer-Änderungsrichtlinien 2015 (vom 22.10.2014, BStBl I 1344; aA SG Berlin Urteil vom 21.12.2016 - S 2 EG 51/15 - Juris). Sie zählt Zahlungen innerhalb eines Kalenderjahres als viertel- oder halbjährliche Teilbeträge zu den sonstigen Bezügen.Die Verbindlichkeit der beschriebenen materiell-rechtlichen Zuordnungsregelungen des Steuerrechts für die Elterngeldbemessung wird durch den Verweis in § 2c Abs 1 S 2 BEEG auf die Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren noch verstärkt. Eine nach dessen Durchführung bestandskräftig gewordene Lohnsteueranmeldung bindet auch die Beteiligten des Elterngeldverfahrens. Die durch diese Anmeldung erfolgte Einordnung von Lohnbestandteilen haben die Elterngeldstellen und Sozialgerichte materiell-rechtlich nicht mehr zu prüfen, sondern ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Dies folgt aus der Rechtsstellung des Arbeitgebers im Lohnsteuerabzugsverfahren.Der Arbeitgeber ist zum Einbehalt und zum Abzug der Lohnsteuer verpflichtet (§ 38 Abs 3 S 1, Abs 1 S 1 EStG). Insoweit nimmt er öffentlich-rechtliche Aufgaben wahr (BVerfG <Kammer> Beschluss vom 17.3.2014 - 2 BvR 736/13 - Juris RdNr 22). Der Arbeitgeber ist Steuerpflichtiger iS des § 33 Abs 1 S 1 Abgabenordnung (<AO>, vgl Krüger in DStJG 40 <2017>, 145, 165). Dabei muss er - auch im Verhältnis zum Arbeitnehmer als dem eigentlichen Steuerschuldner (vgl BAG Urteil vom 16.6.2004 - 5 AZR 521/03 - BAGE 111, 131 = AP Nr 9 zu § 611 BGB) - Lohnbestandteile richtig einordnen. Dafür gewähren ihm die steuerlichen Vorschriften weder ein Wahlrecht, noch können sie durch privatrechtliche Willenserklärungen und Verträge abbedungen werden (Eisgruber in Kirchhof, EStG, 16. Aufl 2017, § 42d RdNr 5; Sponer/Wollensak in Sponer/Steinherr, TVöD, 2.2 Lohnsteuer und Kirchenlohnsteuer, Stand der Einzelkommentierung November 2011). Hier maßgebliche Rechtsfolge der Lohnsteueranmeldung ist, dass in ihrem Umfang eine Steuerfestsetzung unter Vorbehalt anzunehmen ist (§ 168 S 1 AO). Eine Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers wirkt damit so, als hätte die Finanzverwaltung einen entsprechenden Steuerbescheid erlassen. Der Inhalt erwächst in Bestandskraft, wenn weder der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber noch das Finanzamt die von der AO eröffneten Rechtsbehelfe oder andere Korrekturmöglichkeiten nutzen (vgl § 41c EStG; BFH Urteil vom 2.9.2009 - I R 111/08 - BFHE 226, 276 = BStBl II 2010, 387, stRspr; im Einzelnen, Krüger, DStJG 40 <2017> 166 f). Diese Bestandskraft der Lohnsteueranmeldung erstreckt sich auf den Arbeitnehmer, dessen Einkünfte zur Lohnsteuer angemeldet sind (§ 166 AO; vgl BFH Urteil vom 16.5.2017 - VII R 25/16 - BFHE 257, 515 = BStBl II 2017, 934 mwN). Ihr gegenüber kann sich der Arbeitnehmer nicht mehr darauf berufen, die Lohnsteuer hätte rechtmäßig anders, beispielsweise nicht unter Einrechnung sonstiger Bezüge, berechnet werden müssen (vgl BFH Urteil vom 24.8.2004 - VII R 50/03 - BFHE 207, 5; BAG Urteil vom 21.12.2016 - 5 AZR 266/16 - BAGE 157, 336; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 166 AO RdNr 15, Stand der Einzelkommentierung September 2017). Nicht das tatsächliche Verhalten des Arbeitgebers im Lohnsteuerabzugsverfahren bindet dessen Beteiligte (vgl BSG Urteil vom 23.5.2017 - B 12 KR 6/16 R - SozR 4-5376 § 1 Nr 1 RdNr 23; BSG Urteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25, RdNr 26 f), wohl aber die Rechtsfolgen, die AO und EStG daran knüpfen.Diese Bindung erstreckt § 2c Abs 1 S 2 BEEG auf das Elterngeldverfahren, weil die Vorschrift uneingeschränkt auf die Behandlung im Lohnsteuerabzugsverfahren verweist. Das Steuerrecht ist im Elterngeldverfahren nicht mehr eigenständig anzuwenden, wenn die Lohnsteueranmeldung bestandskräftig geworden ist (anders für den Fall einer fehlenden verbindlichen Regelung BSG Urteil vom 30.9.1997 - 4 RA 122/95 - SozR 3-2400 § 15 Nr 4 RdNr 16). Vielmehr müssen auch die Beteiligten des Elterngeldverfahrens den Inhalt einer bestandskräftigen Lohnsteueranmeldung kraft der gesetzlichen Rechtsfolgenverweisung des § 2c Abs 1 S 2 BEEG als feststehend hinnehmen. Sie haben ihn insbesondere nicht mehr daraufhin zu überprüfen, ob er dem materiellen Recht entspricht (vgl BFH Urteil vom 24.8.2004 - VII R 50/03 - BFHE 2007, 5 mwN). Behörden und Gerichte haben lediglich noch zum Zwecke der Tatsachenfeststellung zu ermitteln, wie der Arbeitgeber und gegebenenfalls das Finanzamt im Lohnsteuerabzugsverfahren die steuerrechtlichen Vorschriften gehandhabt haben und ob insoweit ausnahmsweise keine Bestandskraft eingetreten ist (vgl BSG Urteil vom 3.12.1996 - 10 RKg 8/96 - SozR 3-5870 § 1 Nr 12 RdNr 21 mwN, dort für das Verhältnis von Ausländer- zu Kindergeldrecht als "Tatbestandswirkung" bezeichnet; vgl BSG Urteil vom 6.2.1992 - 12 RK 15/90 - SozR 3-1500 § 54 Nr 15).Die im Elterngeldverfahren noch erforderlichen Feststellungen zur Höhe der Lohnsteuer und der Behandlung bestimmter Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge im Lohnsteuerabzugsverfahren können Elterngeldstellen und Gerichte dabei in aller Regel auf die Angaben des Arbeitgebers in seinen Lohn- und Gehaltsbescheinigungen stützen (vgl § 1 Abs 2 Nr 2 Buchst a, Nr 3 Buchst a Entgeltbescheinigungsverordnung, BGBl I 2012, 2712). Denn § 1 Abs 2 Nr 2a Entgeltbescheinigungsverordnung verpflichtet den Arbeitgeber ua zum getrennten Ausweis der sonstigen Bezüge. Seine Bescheinigungen sind zwar nur bloße Wissenserklärungen (Lembke in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 7. Aufl 2016, § 108 GewO RdNr 8 mwN). Lediglich ihre tatsächliche Richtigkeit und Vollständigkeit wird daher nach § 2c Abs 2 S 2 BEEG vermutet. Indes wird die Erklärung des Arbeitgebers, er habe bestimmte Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge zur Lohnsteuer angemeldet, regelmäßig den Schluss erlauben, dass diese Anmeldung bestandskräftig geworden ist und deshalb die Beteiligten des Elterngeldverfahrens bindet, wenn nicht konkrete tatsächliche Anhaltspunkte entgegenstehen.Danach spricht hier alles dafür, dass der Kläger auch wegen der Bindungswirkung der entsprechenden Lohnsteueranmeldung seines Arbeitgebers keine Berücksichtigung zusätzlicher Entgeltbestandteile verlangen kann. Nach den Feststellungen des LSG enthalten diese Lohn- und Gehaltsbescheinigungen Angaben über eine Behandlung der maßgeblichen Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge ("S") im Lohnsteuerabzugsverfahren. Der Arbeitgeber des Klägers hat dies gegenüber dem SG im November 2015 nochmals bestätigt. Allerdings haben die Vorinstanzen - von ihrem Rechtsstandpunkt aus konsequent - nicht festgestellt, ob trotzdem ausnahmsweise konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestanden haben, die Einordnung dieser Entgeltbestandteile könnte im Lohnsteuerabzugsverfahren ausnahmsweise nicht bestandskräftig geworden sein. Die Behandlung der Quartalsprovisionen des Klägers als sonstige Bezüge im Lohnsteuerabzugsverfahren hat sich aber aus den vorgenannten Gründen materiell-rechtlich als richtig erwiesen. Auf die Frage der Bestandskraft dieser Behandlung kommt es daher hier nicht an. Eine Zurückverweisung wäre iS von § 170 Abs 2 S 2 SGG untunlich.c) Der von § 2c Abs 1 S 2 BEEG angeordnete Ausschluss der sonstigen Bezüge nichtselbstständig Erwerbstätiger aus der Bemessung des Elterngelds verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.Das aus Art 3 Abs 1 GG folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen ebenso wie für ungleiche Begünstigungen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG Beschluss vom 24.3.2015 - 1 BvR 2880/11 - BVerfGE 139, 1 RdNr 38 mwN). Es verletzt den Gleichheitssatz, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (BVerfG Beschluss vom 18.12.2012 - 1 BvL 8/11, 1 BvL 22/11 - BVerfGE 132, 372 RdNr 45 mwN). Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab. Inhalt und Grenzen richten sich nach dem jeweils betroffenen Regelungsbereich. Im Bereich der leistenden Massenverwaltung sind die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers besonders groß. Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes ist nur zu überprüfen, ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit überschritten hat und nicht, ob er unter verschiedenen Lösungen die gerechteste und zweckmäßigste gewählt hat (stRspr BVerfG, zB Beschluss vom 5.11.1974 - 2 BvL 6/71 - BVerfGE 38, 154, 166; BVerfG zB Beschluss vom 8.10.1991 - 1 BvL 50/86 - BVerfGE 84, 348, 359; BVerfG Beschluss vom 8.6.2004 - 2 BvL 5/00 - BVerfGE 110, 412, 436). Das gilt jedenfalls uneingeschränkt für das Elterngeld als fürsorgerische Leistung der Familienförderung, die über die bloße Sicherung des Existenzminimums hinausgeht (zum Elterngeld vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 9.11.2011 - 1 BvR 1853/11 - BVerfGK 19, 186).Der Ausschluss sonstiger Bezüge durch § 2c Abs 1 S 2 BEEG trifft alle aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit anspruchsberechtigten Eltern in gleicher Weise. Sonstige Bezüge im lohnsteuerrechtlichen Sinn sind ausnahmslos weder bei der Bemessung noch während des Bezugs von Elterngeld zu berücksichtigen. Eine Differenzierung erfolgt innerhalb der Gruppe der nichtselbstständig Erwerbstätigen nur insoweit, dass die Bemessung für Elterngeldberechtigte mit sonstigen Bezügen nicht den gesamten Arbeitslohn im Bemessungszeitraum einbezieht, umgekehrt aber auch von einer Anrechnung im Bezugszeitraum absieht. Falls die Bemessungsgrenze nicht schon mit dem laufenden Arbeitslohn erreicht wird, ergibt sich ein geringeres Elterngeld. Umgekehrt verbleibt ein höheres Elterngeld, wenn sonstige Bezüge während des Bezugszeitraums nicht als Einkommen angerechnet werden.Ziel und Ausmaß einer Ungleichbehandlung gegenüber Eltern, die im Bemessungszeitraum einen insgesamt gleich hohen Bruttoarbeitslohn ohne sonstigen Bezug erzielen, sind verfassungsrechtlich durch hinreichend gewichtige Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Es ist ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers, die Bemessung des Elterngelds generalisierend auf die prägenden vorgeburtlichen Einnahmen zu beschränken und sonstige Bezüge davon auszuschließen (dazu unter aa). Die damit verbundene Ungleichbehandlung wiegt nicht unverhältnismäßig schwer. Die Ungleichbehandlung hat nicht nur ungünstige, sondern im Bezugszeitraum auch mögliche positive und für die Anreizfunktion des Elterngelds wichtige Folgen (dazu unter bb). Zudem können Elterngeldberechtigte ungünstigen Gesetzesfolgen durch arbeitsvertragliche Gestaltung ausweichen (dazu unter cc). Die maßgebliche Rechtfertigung der verbleibenden belastenden Ungleichbehandlung liefert die damit bewirkte Verwaltungsvereinfachung (dazu unter dd).aa) Der Ausschluss sonstiger Bezüge dient dem legitimen Anliegen einer generalisierenden Gesetzgebung. Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren, indem er nach wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte zusammenfasst und Besonderheiten generalisierend vernachlässigt (vgl BVerfG Beschluss vom 31.5.1990 - 2 BvL 12/88 - BVerfGE 82, 159, 185 f; BVerfG Beschluss vom 10.4.1997 - 2 BvL 77/92 - BVerfGE 96, 1, 6; BVerfG Beschluss vom 7.5.2013 - 2 BvR 909/06 - BVerfGE 133, 377, 412, RdNr 87).Der BEEG-Gesetzgeber wollte in generalisierender Weise eine Bemessungsgrundlage für das Elterngeld schaffen, die das zukünftig wegfallende Einkommen verlässlich und realitätsgetreu abbildet. Dafür hat er sich - wie auch bei anderen kurzfristigen Entgeltersatzleistungen - der sogenannten Bezugs- bzw Referenzmethode bedient (vgl BSG Urteil vom 17.2.2011 - B 10 EG 20/09 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 8 RdNr 59). Sie berücksichtigt nur solche Einnahmen, welche die vorgeburtliche Lebenssituation geprägt, dh wesentlich beeinflusst haben (BSG Urteil vom 17.2.2011 - B 10 EG 20/09 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 8 RdNr 65). Das kann - generalisierend - bei anlassunabhängigen, wiederkehrenden und verbindlich geschuldeten Lohnzahlungen angenommen werden, nicht dagegen hinreichend verlässlich bei sonstigen Bezügen. Andernfalls drohte die Bemessung mehr vom Zufall des Zuflusses als von der tatsächlich bestehenden vorgeburtlichen Einkommenssituation abzuhängen (BSG Urteil vom 29.8.2012 - B 10 EG 20/11 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 18 RdNr 71). Deshalb ist nach der Rechtsprechung des BSG der Ausschluss von Weihnachtsgeld aus der Bemessungsgrundlage nicht zu beanstanden, wenn es zwar als Anspruchsleistung, aber anlassbezogen gezahlt wird; trotzdem bleibt die Höhe des Elterngelds an dem Einkommen orientiert, das regel- und gleichmäßig im vorgeburtlichen Bemessungszeitraum zur Verfügung steht (vgl BSG Urteil vom 29.6.2017 - B 10 EG 5/16 R - Juris RdNr 31, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Genauso wenig lässt sich bei variablen Entgeltbestandteilen die Annahme widerlegen, dass solche Einnahmen schwanken, ua weil sie vom Einsatz und Erfolg des Begünstigten abhängen. Deshalb durfte der Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Ermessens- und Prognosespielraums davon ausgehen, dass solche Einnahmen den in der Elternzeit prognostizierbaren Arbeitslohn nicht hinreichend sicher prägen.bb) Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung einer Ungleichbehandlung sind nicht nur isoliert ihre nachteiligen, sondern ebenso ihre günstigen Folgen zu betrachten (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 14.6.2016 - 2 BvR 323/10 - Juris RdNr 63). Die Ausklammerung sonstiger Bezüge aus der Bemessungsgrundlage des Elterngelds kann betroffene Eltern im Bemessungszeitraum benachteiligen, während des Elterngeldbezugs dagegen begünstigen. Gerade die überwiegende Mehrheit von Vätern bezieht Elterngeld nur während eines kurzen Zeitraums von bis zu zwei Monaten (vgl Statistisches Bundesamt, Statistik zum Elterngeld Leistungsbezüge, 2016, www.destatis.de: bei vor dem 1.7.2015 geborenen Kindern lag die Inanspruchnahme für lediglich bis zwei Monate deutschlandweit bei 75,8 Prozent). Der Zufluss eines sonstigen Bezugs in einem kurzen Bezugszeitraum (zB ein noch abgerechnetes variables Entgelt) könnte den Elterngeldanspruch trotz des Vorteils eines geringfügig höheren vorgeburtlichen Bemessungsentgelts bis auf den Mindestbetrag des § 2 Abs 4 S 1 BEEG absinken lassen (§ 2 Abs 3 BEEG). Nach wie vor trifft daher die im Gesetzgebungsverfahren geäußerte Befürchtung zu, die Berücksichtigung sonstiger Bezüge könnte vor allem im Bezugszeitraum unerwünschte Zufallsergebnisse herbeiführen (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BT-Drucks 16/2785 S 37). Die Einführung der längeren Rahmenfrist für den Elterngeldbezug durch das Elterngeld Plus (vgl § 4 Abs 1 und 4 BEEG) hat die Gefahr solcher unerwünschten Zufallsergebnisse sogar noch erhöht. Selbst wenn der Zufluss sonstiger Bezüge im Bezugszeitraum für Eltern vorhersehbar sein sollte, würde das Risiko einer Zweckverfehlung erhöht. Eltern sollen frei entscheiden können, wer von ihnen wann Elterngeld bezieht (vgl BT-Drucks 16/2454 S 2). Diese Wahlfreiheit würde zweckwidrig beeinträchtigt, wenn die Elternzeit vorrangig mit Blick auf die Vermeidung elterngeldschädlicher Geldzuflüsse geplant werden müsste.cc) Der generalisierende Ausschluss sonstiger Bezüge wie die dem Kläger gezahlten Provisionen vom Elterngeld wiegt auch deshalb weniger schwer, weil er an Merkmale anknüpft, die für die Leistungsberechtigten häufig verfügbar sein werden (hierzu BVerfG Beschluss <Kammer> vom 9.11.2011 - 1 BvR 1853/11 - BVerfGK 19, 186 RdNr 10; allgemein BVerfG Urteil vom 17.12.2014 - 1 BvL 21/12 - BVerfGE 138, 136, 180 mwN). Die Arbeitsvertragsparteien können die Zuordnung variabler Lohnbestandteile zum sonstigen Bezug durch vertragliche Gestaltungen vermeiden. Sie können etwa eine (Voraus-)Zahlung in den regelmäßigen Lohnabrechnungszeiträumen vereinbaren.dd) Gerechtfertigt ist die verbleibende belastende Ungleichbehandlung nicht nur durch die beschriebene Vermeidung von Zufallsergebnissen, sondern zudem durch die damit bewirkte wesentliche Verwaltungsvereinfachung, wie sie auch die ab dem 1.1.2015 geltende Neufassung des BEEG anstrebt. Dazu sollen Behörden und Gerichte direkt auf die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitsgebers zugreifen können und so einen Gleichlauf des Elterngeldrechts mit dem lohnsteuerlichen Einkommensbegriff und den Ergebnissen des Lohnsteuerabzugsverfahrens sichern (vgl BT-Drucks 18/2583 S 24 f).Das Ziel der Verwaltungsvereinfachung und -praktikabilität gehört im Bereich der Massenverwaltung - wie im Bereich des BEEG mit rund 1,640 Mio Elterngeldbeziehern im Jahr 2016 (Statistisches Bundesamt, Statistik zum Elterngeld - Leistungsbezüge 2016, www.destatis.de) - zu den legitimen Anliegen des Gesetzgebers. Die so bewirkte Verwaltungsvereinfachung ist von vernünftigen und einleuchtenden Gründen getragen und steht in einem angemessenen Verhältnis zu der notwendigen Ungleichbehandlung (zu den Maßstäben vgl BVerfG Urteil vom 5.11.2014 - 1 BvF 3/11 - BVerfGE 137, 350 RdNr 66 mwN; auch BVerfG <Kammer> Beschluss vom 28.11.2007 - 2 BvR 375/06 - BVerfGK 12, 453). Die dadurch mögliche Vereinfachung und Beschleunigung der Elterngeldverfahren kommt allen Elterngeldbeziehern zugute. Wie die bisherige Praxis zeigt, erhöht dagegen ein fehlender Gleichlauf des Elterngeld- mit dem Lohnsteuerabzugsverfahren maßgeblich den Verwaltungsaufwand der Elterngeldstellen. Sie müssten, ebenso wie im Streitfall die Sozialgerichte, einen in aller Regel steuerlich abgeschlossenen Sachverhalt wiederaufgreifen, jedenfalls aber ressortfremd eigenständig steuerrechtlich bewerten. Stattdessen erlaubt ihnen die aktuelle Lösung des Gesetzgebers, sich im Regelfall auf die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers und die darin dokumentierten Abläufe des Lohnsteuerabzugs zu stützen. Dies vereinfacht maßgeblich die Elterngeldgewährung im Rahmen der zulässig gewählten Referenzkriterien (siehe oben unter aa) und beugt zudem widerstreitenden Ergebnissen verschiedener Verwaltungsverfahren vor.Die Bindung an bestandskräftige Ergebnisse des Lohnsteuerabzugsverfahrens belastet auch für sich gesehen die Elterngeldberechtigten nicht unverhältnismäßig. Werden Bestandteile ihres Entgelts im Lohnsteuerabzugsverfahren entgegen den materiellen Regeln des Steuerrechts zu Unrecht als sonstige Bezüge behandelt, steht ihnen dagegen Rechtsschutz offen. § 2c Abs 1 S 2 BEEG verdeutlicht Eltern unmissverständlich, dass sonstige Bezüge nicht in die Berechnung ihres Elterngelds einfließen. Welcher Teil ihres Gehalts unter diese Ausschlussregelung fällt, ergibt sich ohne Weiteres aus ihren Lohn- und Gehaltsbescheinigungen. Vermuten Eltern dabei eine falsche Praxis ihres Arbeitgebers, so können sie ihn bei der nachfolgenden Lohnzahlung über § 41c Abs 1 EStG zu einer Korrektur anhalten. Danach können sie die weiteren Korrektur- und Rechtsschutzmöglichkeiten des Lohnsteuerabzugsverfahrens nutzen (vgl dazu im Einzelnen Krüger, DStJG 40 <2017>, 166 f). Dagegen verhielten sich Eltern widersprüchlich, wollten sie einerseits von den Steuervorteilen einer (unrichtigen) Besteuerung von Entgeltbestandteilen als sonstige Bezüge profitieren, um diese dann andererseits im nachfolgenden Elterngeldverfahren mit dem Ziel höheren Elterngelds wieder infrage zu stellen (zur Maßgeblichkeit in Anspruch genommener steuerlicher Vergünstigungen bei der Berechnung des Elterngelds aus selbstständiger Erwerbstätigkeit BSG Urteil vom 15.12.2015 - B 10 EG 6/14 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 30 RdNr 19).Auch sonst sind schließlich keine unverhältnismäßigen Folgen der Ungleichbehandlung ersichtlich, weder im Einzelfall des Klägers noch mit Blick auf die Gesamtheit der Elterngeldbezieher. Das zur Bemessung herangezogene Arbeitsentgelt bleibt auch ohne variable Entgeltbestandteile relativ nahe beim tatsächlichen Arbeitsentgelt (vgl dazu zuletzt Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik: Sozialversicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelte, 2010, S 32).3. Die für alle Rechtszüge zu treffende Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
bundessozialgericht
bsg_34 - 2019
16.08.2019
Unfallversicherungsschutz auch an einem "Probetag"? Ausgabejahr 2019 Nummer 34 Datum 16.08.2019 Steht ein Arbeitsuchender, der in einem Unternehmen einen "Probearbeitstag" verrichtet und sich dabei verletzt, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung? Darüber wird der 2. Senat des Bundessozialgerichts am Dienstag, dem 20. August 2019 um 11 Uhr mündlich verhandeln und voraussichtlich entscheiden (Aktenzeichen B 2 U 1/18 R). Der Kläger, der sich auf eine Stelle als Lkw-Fahrer bei einem Entsorger von Lebensmittelabfällen beworben hatte, vereinbarte im Vorstellungsgespräch mit dem Unternehmer, einen "Probearbeitstag" zu absolvieren. Der Kläger sollte mit dem Lkw mitfahren und Abfälle einsammeln; eine Vergütung sollte er dafür nicht erhalten. Der Kläger stürzte an dem Probearbeitstag vom Lkw und zog sich unter anderem Verletzungen am Kopf zu. Der beklagte Unfallversicherungsträger lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab, weil der Kläger nicht in den Betrieb eingegliedert gewesen sei. Sozialgericht und Landessozialgericht haben hingegen das Vorliegen eines versicherten Arbeitsunfalls festgestellt. Auch ohne Bestehen eines Arbeitsverhältnisses könne eine Beschäftigung vorliegen, wenn der Verletzte - wie im vorliegenden Fall durch das Mitfahren und Einsammeln von Abfällen - für ein fremdes Unternehmen tätig sei. Der Unternehmer habe ein Eigeninteresse an dem Probetag gehabt, weil zahlreiche Bewerber nach kurzer Mitarbeit wieder abgesprungen seien. Die Tätigkeit gehe auch über die in der Regel unversicherte bloße Arbeitsplatzsuche oder die Teilnahme an einem Vorstellungsgespräch hinaus. Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2 Absatz 1 Nummer 1 SGB VII.   Hinweis auf Rechtsvorschriften § 2 SGB VII (1) Kraft Gesetzes sind versichert 1. Beschäftigte, … (2) Ferner sind Personen versichert, die wie nach Absatz 1 Nr 1 Versicherte tätig werden. …
Bundessozialgericht Urteil vom 20.08.2019, B 2 U 1/18 R Gesetzliche Unfallversicherung - kein Unfallversicherungsschutz gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 gemäß § 7 SGB IV - Unfallversicherungsschutz gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Nr 1 SGB VII - Wie-Beschäftigung - unentgeltlicher Probearbeitstag eines Arbeitssuchenden - arbeitnehmerähnliche Tätigkeit - Eingliederung - Weisungsgebundenheit - Direktionsrecht - Einfühlungsverhältnis LeitsätzeArbeitsuchende, die in einem Unternehmen einen unentgeltlichen "Probearbeitstag" absolvieren, stehen als Wie-Beschäftigte unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. TenorDie Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 14. Dezember 2017 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten. TatbestandDie Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall, den der Kläger an einem "Probetag" erlitten hat, ein Arbeitsunfall ist. Der Kläger bewarb sich um eine Stelle als Lkw-Fahrer in dem Entsorgungsunternehmen des Beigeladenen. Bei dem Vorstellungsgespräch wurde verabredet, dass der Kläger am 13.9.2012 einen unentgeltlichen "Probetag" absolvieren sollte. An diesem Tag stürzte der Kläger beim Mülltonnentransport von der Ladebordwand des Lkw, verletzte sich ua am Kopf und zog sich eine "Hirnblutung" (epidurales Hämatom) zu. Die Beklagte lehnte es ab, Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) zu gewähren, weil das Eigeninteresse des Klägers im Vordergrund gestanden habe, die Arbeitsstelle zu erhalten (Bescheid vom 4.3.2013 und Widerspruchsbescheid vom 4.7.2013). Diese Bescheide hat das SG "abgeändert" und festgestellt, dass das Ereignis ein Arbeitsunfall gewesen ist (Urteil vom 5.3.2015). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 14.12.2017): Ein Arbeitsunfall liege vor, weil der Kläger bei dem Transport der Mülltonnen als Beschäftigter versichert gewesen sei. Denn mit dem Mülltonnentransport habe er eine eigene, objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zu Grunde liegenden Rechtsverhältnis erfüllen wollen. Hierbei habe er sich dem Weisungsrecht des beigeladenen Unternehmers untergeordnet, der ihn in sein Entsorgungsunternehmen eingegliedert habe. Dass der Kläger kein Entgelt erhalten und den Lkw nicht selbst gesteuert habe, sei nicht ausschlaggebend. Zwar stehe die Arbeitsplatzsuche einschließlich des Vorstellungsgesprächs in aller Regel nicht unter dem Schutz der gesetzlichen UV. Hier sei das Vorstellungsgespräch aber bereits beendet gewesen, und der Kläger habe jenseits der bloßen Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses während des Probetages im Interesse des Beigeladenen einen ersten Einblick in das Unternehmen erhalten und die Belastungen kennenlernen sollen, die mit der Tätigkeit typischerweise verbunden seien. Bei dieser Gelegenheit habe sich der Kläger für die Stelle selbst "erproben" und gleichzeitig erfahren können, was ihn als potentiellen Mitarbeiter erwarte. Diese Vorgehensweise habe auch dem Interesse des Beigeladenen gedient, der immer wieder Beschäftigte eingestellt habe, die nach kurzer Zeit das Beschäftigungsverhältnis aufgegeben hätten, weil sie sich unter der Tätigkeit etwas anderes vorgestellt hätten. Keinesfalls habe die Tätigkeit des Klägers nur im Zusammenhang mit seiner Arbeitssuche gestanden. Die Verrichtung sei nicht mit dem Anfertigen einer praktisch wertlosen Probearbeit oder einer Hospitation vergleichbar, sodass sie nicht dem unversicherten, eigenwirtschaftlichen Bereich zugerechnet werden könne. Denn auch regulär Beschäftigte durchliefen in ihrer Anfangszeit dieselbe Einweisungsphase wie der Kläger an dem Probetag. Der Beigeladene habe den Arbeitsablauf faktisch allein bestimmen können, und es sei fernliegend anzunehmen, dass der Kläger seine Tätigkeit während der ganztägigen Tour einfach habe einstellen können. Dies belege, dass er für einen fremden Betrieb tätig und in dessen Arbeitsorganisation eingebunden gewesen sei. Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII. Der Kläger sei am Probetag noch nicht in den Betrieb des Beigeladenen eingegliedert gewesen, sondern habe die Arbeit jederzeit sanktionslos einstellen können. Da er in Begleitung eines erfahrenen Mitarbeiters unterwegs gewesen sei, habe er keine Arbeitskraft ersetzt und deshalb keine wirtschaftlich wertvolle Tätigkeit verrichtet. Stattdessen habe er sich im eigenen Interesse einem körperlichen Leistungstest unterzogen, um zu prüfen, ob er vor der Müllentsorgung Ekel empfinde. Sein privates Interesse, die Arbeitsstelle als Lkw-Fahrer zu erlangen, habe im Vordergrund gestanden, sodass er nicht als Beschäftigter oder Wie-Beschäftigter tätig gewesen sei. Zudem sei unklar, ob sich überhaupt ein versichertes Risiko verwirklicht habe, weil nicht festgestellt sei, welche Faktoren im Zeitpunkt des Sturzes auf den Kläger eingewirkt hätten. Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 14. Dezember 2017 sowie das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 5. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger, der dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt, die Revision zurückzuweisen. Der Beigeladene stellt keinen Antrag. EntscheidungsgründeDie Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG ist zurückzuweisen. Zwar ergeben die Urteilsgründe eine Gesetzesverletzung (§§ 162, 202 Satz 1 SGG iVm § 546 ZPO), die Entscheidung selbst stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Der Kläger war bei der zum Unfall führenden Verrichtung zwar nicht als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII tätig (hierzu unter A.). Jedoch stand er als sog "Wie-Beschäftigter" gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen UV (hierzu unter B.) und hat auch einen Unfall iS des § 8 Abs 1 SGB VII erlitten (hierzu unter C.). Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das stattgebende Urteil des SG vom 5.3.2015 im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen, weil die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) begründet ist. Mit ihr begehrte (§ 123 SGG) der Kläger die gerichtliche Feststellung seines Unfalls vom 13.9.2012 als Arbeitsunfall, nachdem die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden "die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung" komplett abgelehnt hatte. In dieser Situation kann der Betroffene die Grundlagen der in Frage kommenden Leistungsansprüche vorab im Wege der isolierten Feststellungsklage klären lassen (BSG vom 7.9.2004 - B 2 U 45/03 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 2 RdNr 12, vom 28.4.2004 - B 2 U 21/03 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 5101 Nr 2 RdNr 24 und vom 27.7.1989 - 2 RU 54/88 - SozR 2200 § 551 Nr 35), um auf dieser Basis später konkrete Leistungen geltend zu machen. Um sich diese Möglichkeit offenzuhalten, musste der Kläger zugleich verhindern, dass die Ablehnungsentscheidungen im Bescheid vom 4.3.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.7.2013 (§ 95 SGG) bestandskräftig (§ 77 SGG) werden, mit denen die Beklagte jedwede Entschädigung ("insbesondere Heilbehandlung, Verletztengeld und Verletztenrente") ausnahmslos verneint hatte. Daher verfolgt der Kläger mit seiner Anfechtungsklage - bei sachgerechter Auslegung seines Klagebegehrens iS des Meistbegünstigungsprinzips (dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 123 RdNr 3) - keine Teil-, sondern die Komplettaufhebung der angefochtenen Bescheide, und diesem Begehren hat das SG Rechnung getragen, indem es sie antragsgemäß "abgeändert" hat. Angesichts des umfassenden Klagebegehrens ist diese "Abänderung" hier ausnahmsweise nicht als Teilkassation zu verstehen (dazu BSG vom 13.11.1985 - 6 RKa 19/84 - BSGE 59, 148, 152 = SozR 2200 § 368a Nr 14; Keller, aaO, § 54 RdNr 4), sondern als Komplettaufhebung auszulegen. A. Entgegen der Ansicht des LSG war der Kläger nicht als Beschäftigter gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII kraft Gesetzes versichert, als er die Mülltonnen an dem "Probetag" transportierte und dabei von der Ladebordwand des Lkw stürzte. Denn er war weder in den Betrieb des Beigeladenen eingegliedert noch unterlag er dessen Weisungen, sodass angesichts der Unentgeltlichkeit und Eintägigkeit der (Probe-)Arbeit im Rahmen der erforderlichen Gesamtschau für die Annahme einer Beschäftigung iS des § 7 Abs 1 SGB IV kein Raum bleibt (dazu I.). Der Kläger ist auch nicht im Rahmen "betrieblicher Berufsbildung" (§ 7 Abs 2 SGB IV) verunglückt (dazu II.). I. Beschäftigung ist nach § 7 Abs 1 SGB IV die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (Satz 1). Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (Satz 2). Hieran anknüpfend hat der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII auch ohne bestehendes Arbeitsverhältnis vorliegt, wenn der Verletzte sich in ein fremdes Unternehmen eingliedert und sich seine konkrete Handlung dem Weisungsrecht eines Unternehmers insbesondere in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art der Verrichtung unterordnet (BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 1/14 R - SozR 4-2400 § 4 Nr 2 RdNr 18, vom 23.4.2015 - B 2 U 5/14 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 33 RdNr 16 und vom 15.5.2012 - B 2 U 8/11 R - BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr 20, RdNr 31 ff). Dabei ist gleichfalls geklärt, dass es bei der Zuordnung einer Tätigkeit zum Typus der Beschäftigung auf eine Gesamtschau ankommt (vgl BVerfG <Kammer> vom 20.5.1996 - 1 BvR 21/96 - SozR 3-2400 § 7 Nr 11; BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 18/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 47 RdNr 16 - "Stöberhundeführer" und vom 7.6.2019 - B 12 R 6/18 R - juris RdNr 13 <vorgesehen BSGE und SozR 4>). Am Unfalltag hatte sich der Kläger (noch) nicht in den laufenden Dienstleistungsprozess des Entsorgungsunternehmens des Beigeladenen eingegliedert. Zwar hat das LSG die Eingliederung in den Betrieb bejaht, weil die Verrichtungen des Klägers objektiv denen eines regulär Beschäftigten entsprochen hätten, er in einem fremdem Unternehmen tätig gewesen und in dessen Arbeitsorganisation eingebunden gewesen sei. Das bloße Tätigwerden wie ein regulär Beschäftigter in einem fremden Betrieb reicht für die Annahme einer Eingliederung jedoch noch nicht aus. Allein der Umstand, dass eine Leistung für einen Betrieb oder in einem Unternehmen erbracht wird, genügt schon deshalb nicht für eine Eingliederung, weil auch Werk- und Dienstleistungen Selbstständiger oder betriebsfremder Beschäftigter (zB Leiharbeitnehmer im Rahmen erlaubter Arbeitnehmerüberlassung iS des § 1 AÜG; Erfüllungsgehilfen nach § 278 Satz 1 BGB im Rahmen echter Werkverträge iS des § 631 BGB) für das Unternehmen in dessen Räumen bzw räumlicher Nähe häufig in Zusammenarbeit mit der Stammbelegschaft erbracht werden (müssen), ohne dass dadurch ein "Beschäftigungsverhältnis" zwischen dem jeweiligen Erwerbstätigen und dem Unternehmer entsteht. Folglich sind außenstehende Dritte, die als Selbstständige oder (Fremd-)Beschäftigte eines anderen Unternehmens - zB im Rahmen eines Dienst- oder Werkvertrags - auf dem Betriebsgelände eines anderen Unternehmens tätig werden, selbst dann nicht in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert, wenn die zu erbringende Dienst- oder Werkleistung hinsichtlich Art, Umfang, Güte, Zeit und Ort im betrieblichen Arbeitsprozess des Unternehmers eingeplant bzw "eingebunden" ist. Vielmehr setzt die Eingliederung zusätzlich voraus, dass die Unternehmenszugehörigkeit des Betroffenen nach außen hin dokumentiert ist und - objektivierbar - die gegenseitige Erwartung des Unternehmers und des Betroffenen vorliegt, dass die Tätigkeit auf Dauer in die Zukunft gerichtet ausgeübt wird (BSG vom 14.11.2013 - B 2 U 15/12 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 27 RdNr 16 - "Postzusteller"). Diese Erfordernisse sind nicht erfüllt. Denn es fehlten bereits äußerlich klar ersichtliche Merkmale (wie zB Uniform, Firmenkleidung etc), die den Kläger als Mitarbeiter des beigeladenen Entsorgungsunternehmers auswiesen. Zudem durften weder der Beigeladene noch der Kläger im Zeitpunkt der unfallbringenden Verrichtung davon ausgehen, dass zwischen ihnen zukünftig und dauerhaft eine arbeitsrechtliche Verbindung begründet werden sollte. Der Kläger übte vielmehr nur eine temporäre Hilfstätigkeit aus, wie sie für die sog "Wie-Beschäftigung" gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII typisch ist. Es lag noch keine Einstellungszusage iS eines bindenden Angebots (§ 145 BGB) zum Abschluss eines Arbeitsvertrags (§ 611 Abs 1 BGB aF; § 611a idF vom 21.2.2017) vor, sondern der endgültige Vertragsabschluss, der für beide Beteiligten ernsthaft in Betracht kam und konkret in Aussicht gestellt war, hing noch von den Eindrücken ab, die beide während der eintägigen "Einfühlungsphase" gewinnen sollten. Erst nach Absolvierung des Probetages sollte entschieden werden, ob ein Arbeitsvertrag geschlossen und damit ein betriebsgebundenes Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis entsteht. Ein solches Arbeitsverhältnis war im Unfallzeitpunkt auch nicht durch schlüssiges Verhalten zustande gekommen, indem der Kläger mit dem tatsächlichen Erbringen der Arbeitsleistung eine sog Realofferte zum Abschluss eines Arbeitsvertrags abgab, die der Beigeladene mit der Entgegennahme der Arbeitsleistung - unter stillschweigender Vereinbarung der üblichen Vergütung (§ 612 Abs 2 BGB) - konkludent angenommen hätte (vgl dazu BAG vom 17.4.2013 - 10 AZR 272/12 - NZA 2013, 903 und BGH vom 22.3.2012 - VII ZR 102/11 - NJW 2012, 1948). Dagegen sprechen die Gesamtumstände, insbesondere die Tatsache, dass sich die Beteiligten noch in einer unverbindlichen, vorvertraglichen Phase befanden und der "Probetag" von vornherein auf eine Arbeitsschicht begrenzt war. Demzufolge hat das LSG das Zustandekommen eines Arbeitsvertrags zu Recht verneint, ua auch deshalb, weil keine "Bezahlung" vereinbart war und damit ein wesentlicher Vertragsinhalt fehlte. Zwar ist das Tätigwerden gegen Entgelt keine notwendige Bedingung für eine Beschäftigung, die im Übrigen auch ohne Arbeitsverhältnis ("insbesondere") gegeben sein kann (BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 18/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 47 RdNr 13 - "Stöberhundeführer", vom 23.4.2015 - B 2 U 5/14 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 33 RdNr 22 mwN - "Handballspielerin" und vom 14.11.2013 - B 2 U 15/12 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 27 RdNr 14 - "Postzusteller"). Gleichwohl spricht die Unentgeltlichkeit der Tätigkeit im Rahmen der Abwägung ebenfalls gegen eine Beschäftigung. Soweit das LSG festgestellt hat, der Kläger habe sich der faktischen Dominanz des Unternehmers ("starkes Übergewicht") gebeugt und sich deshalb seinen Weisungen in Bezug auf Zeit, Dauer und Ort der Verrichtung "vereinbarungsgemäß" unterworfen, verdeutlicht es zugleich, dass der Kläger keiner normativen Weisungsbindung iS eines vertraglich vermittelten Direktionsrechts (§ 106 Satz 1 GewO iVm § 315 BGB; § 665 Satz 1 BGB) unterlag. Die lediglich faktisch vermittelte Weisungsmacht ist jedoch für die Wie-Beschäftigung (§ 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII) kennzeichnend und der "echten" Beschäftigung fremd, die ein Vertragsverhältnis voraussetzt, an das sie anknüpft. Hierzu hat der Senat entschieden, dass dadurch, dass sich eine Ehefrau faktisch den Weisungen ("Ansagen") ihres Ehemanns unterwarf, noch nicht auf eine Eingliederung im Rechtssinne geschlossen werden kann (vgl dazu BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 32/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 43 - "mithelfende Ehefrau"). Folglich spricht die lediglich faktisch vermittelte Weisungsmacht in der Gesamtschau ebenfalls gegen eine Beschäftigung. II. Schließlich liegen auch die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 7 Abs 2 SGB IV nicht vor. Nach § 7 Abs 2 SGB IV gilt (Fiktion) als Beschäftigung auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung. Obgleich der Kläger nach den unangegriffenen und damit bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) unter "Beaufsichtigung/Anleitung" eines erfahrenen Mitarbeiters "betriebsnützliche Erkenntnisse" mit Blick auf ein späteres Arbeitsverhältnis erwarb, um die Einarbeitungszeit zu verkürzen und die Fahrtroute, die Wege sowie die Durchführung der Tätigkeit kennenzulernen, geschah dies nicht im Rahmen "betrieblicher Berufsbildung". Sie setzt nämlich gleichfalls die "Eingliederung" (§ 7 Abs 1 Satz 2 SGB IV) in einen laufenden Produktions- oder Dienstleistungsprozess aufgrund eines betriebsgebundenen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses voraus, wie der Senat (Urteil vom 18.1.2011 - B 2 U 9/10 R - BSGE 107, 197 = SozR 4-2700 § 2 Nr 17, RdNr 16 - "WfB") im Anschluss an die Rechtsprechung des 12. Senats (Urteil vom 12.10.2000 - B 12 KR 7/00 R - SozR 3-2600 § 1 Nr 7 S 12) bereits entschieden hat. B. Gleichwohl war der Kläger als sog "Wie-Beschäftigter" gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII kraft Gesetzes versichert, als er die Mülltonnen transportierte, sodass die angefochtenen Urteile unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt aufrechterhalten bleiben konnten (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Nach § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII sind Personen versichert, die wie nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII Versicherte tätig werden. Damit gewährt die gesetzliche UV auch unterhalb der Schwelle einer Beschäftigung iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 7 SGB IV Versicherungsschutz (Spellbrink, NZS 2019, 281). Voraussetzung einer Wie-Beschäftigung nach § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII ist, dass eine einem fremden Unternehmen dienende, dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechende Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert erbracht wird (BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 32/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 43 RdNr 17 - "mithelfende Ehefrau", vom 20.3.2018 - B 2 U 16/16 R - SozR 4-1300 § 105 Nr 6 RdNr 20 - "Dachsturz", vom 27.10.2009 - B 2 U 26/08 R - juris RdNr 25 - "A-Jugend-Fußballspieler" und vom 13.9.2005 - B 2 U 6/05 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 7 RdNr 7 jeweils mwN; vgl zusammenfassend Krasney, NZS 1999, 577 ff; Keller, NZS 2001, 188 ff; Niedermeyer, NZS 2010, 312 ff; zuletzt auch Spitzlei/Schneider, NZS 2018, 633 ff), die in einer (abhängigen) Beschäftigung zu den Haupt- oder Nebenpflichten des Beschäftigten gehören könnte und deshalb beschäftigtenähnlich ist. Dabei muss die Handlungstendenz auf die Belange des fremden Unternehmens gerichtet sein (BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 32/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 43 RdNr 26 mwN - "mithelfende Ehefrau"). Der Kläger handelte, ausgehend von den bindenden Feststellungen des LSG, wie ein Beschäftigter für das Entsorgungsunternehmen des Beigeladenen. Seine Tätigkeit im Unfallzeitpunkt diente objektiv und subjektiv dem Entsorgungsunternehmen und entsprach dem wirklichen Willen des Beigeladenen (dazu I.). Sie hatte auch wirtschaftlichen Wert (dazu II.) und war beschäftigtenähnlich (dazu III.). Zwischen den Beteiligten bestand auch keine Sonderbeziehung, die die "Wie-Beschäftigung" ausschließen könnte (dazu IV.). Schließlich liegt kein konkurrierender Versicherungspflichttatbestand vor (dazu V.). I. Nach den bindenden Feststellungen des LSG diente die unfallbringende Verrichtung des Klägers, das Transportieren der Mülltonnen, unmittelbar dem Entsorgungsunternehmen des Beigeladenen und entsprach zugleich dem Willen des Unternehmers. Das LSG hat ausdrücklich festgestellt, dass der Beigeladene aufgrund schlechter Erfahrungen mit Bewerbern, denen die Arbeit jeweils zu anstrengend oder schmutzig gewesen war, den "Probetag" im eigenen Interesse eingeführt hatte. Auch war die Handlungstendenz des Klägers - entgegen der Ansicht der Beklagten - hinreichend auf die Belange des fremden Unternehmens gerichtet. Soweit der Senat hier bislang (insbesondere im Falle einer Pferdewirtin beim Vorreiten zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses, vgl BSG vom 20.1.1987 - 2 RU 15/86 - SozR 2200 § 539 Nr 119) darauf abgestellt hat, dass bei Probearbeiten das eigene Interesse des Handelnden im Vordergrund stehe, eine dauerhafte Beschäftigung zu erhalten, kann hieran - jedenfalls für Konstellationen wie die Vorliegende - nicht festgehalten werden. Bei einer zu starken Fokussierung auf den privaten und damit unversicherten Charakter des Wunsches, einen Arbeitsplatz zu erhalten, würde zudem der Schutzbereich des § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII zu stark eingeschränkt. Da sich Probe(arbeits)tage bzw "Einfühlungsverhältnisse" mittlerweile in der Arbeitswelt weitgehend durchgesetzt haben (vgl nur Grimm/Linden, ArbRB 2014, 51), würden diese weitgehend aus dem Schutzbereich des § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII ausscheiden, obwohl die "Wie-Beschäftigung" auch sonst bei wesentlich geringeren und kürzeren Tätigkeiten zur Anwendung kommen kann (siehe die Fallbeispiele bei Spitzlei/Schneider, NZS 2018, 633). Zudem liegt das fremdnützige Interesse des Arbeitgebers an einer geeigneten Personalauswahl - jedenfalls hier - auf der Hand. Im Übrigen ist gegen die Betonung des Eigeninteresses an dem Erhalt einer Arbeitsstelle einzuwenden, dass Beschäftigungen generell nicht allein zu dem Zweck ausgeübt werden, dem Unternehmen des jeweiligen Arbeitgebers zu dienen. Vielmehr werden hier in der Regel auch eigenwirtschaftliche Interessen vorliegen (am Lohn, sozialen Status etc), ohne dass dadurch der Versicherungsschutz in Frage gestellt würde (vgl dazu auch Schütz, NZS 2018, 418). II. Die Tätigkeit, bei der der Kläger verunglückte, hatte einen wirtschaftlichen Wert (s dazu Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), Stand März 2019, § 2 RdNr 34.7; Kruschinsky in Krasney/Becker/Burchardt/Kruschinsky/Heinz/Bieresborn, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2018, § 2 RdNr 811 f), wobei Unentgeltlichkeit unschädlich ist und ein noch so geringer wirtschaftlicher Wert genügt (BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 32/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 43 RdNr 17 - "mithelfende Ehefrau" und vom 14.11.2013 - B 2 U 15/12 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 27 - "Postzusteller"). Indem der Kläger Abfälle einsammelte, Mülltonnen herausholte, transportierte, verlud und wieder einräumte, bewirkte er als Dritter (§ 267 Abs 1 Satz 1 BGB) Leistungen, die der Beigeladene als Anbieter von Entsorgungsdienstleistungen seinen Kunden schuldete. Folglich brachte der Kläger mit dem Mülltonnentransport als "kostenloser" Mitarbeiter entsprechende Forderungen der Kunden des Beigeladenen zum Erlöschen (§ 362 Abs 1 BGB) und verrichtete damit - anders als der Ersteller eines wertlosen Probestücks - eine Arbeit von wirtschaftlichem Wert. Dass er dabei von einem erfahrenen Mitarbeiter begleitet und angeleitet wurde, der die Tätigkeiten ansonsten übernommen hätte, lässt den wirtschaftlichen Wert der tatsächlich geleisteten Arbeit des Klägers - wie auch sonst beim Vorhalten einer Personalreserve - nicht entfallen. III. Der Transport der Mülltonnen hätte in der avisierten (abhängigen) Beschäftigung als Lkw-Fahrer des Entsorgungsunternehmens zu den Hauptpflichten des Klägers gehört, sodass die konkrete Verrichtung, bei der er verunglückt ist, beschäftigtenähnlich war. Anhaltspunkte für ein "unternehmerähnliches" Tätigwerden (hierzu BSG vom 20.3.2018 - B 2 U 16/16 R - SozR 4-1300 § 105 Nr 6 RdNr 20 - "Dachsturz") sind nicht ersichtlich. IV. Zwischen den Beteiligten bestand auch keine Sonderbeziehung, die der Tätigkeit ihr Gepräge gegeben hätte und die "Wie-Beschäftigung" ausschließen könnte (zuletzt zur Ehe als Sonderbeziehung BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 32/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 43 RdNr 17 - "mithelfende Ehefrau"). V. Schließlich lagen keine konkurrierenden Versicherungspflichttatbestände nach § 2 Abs 1 Nr 2 oder Nr 14 Buchst a SGB VII vor. Gemäß § 2 Abs 1 Nr 2 SGB VII sind Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen kraft Gesetzes versichert. In einer derartigen, für eine Mehrzahl von Lernenden konzipierte Einrichtung ist der Kläger nicht verunglückt. Gemäß § 2 Abs 1 Nr 14 Buchst a SGB VII sind Personen kraft Gesetzes versichert, die nach den Vorschriften des SGB II oder SGB III der Meldepflicht unterliegen, wenn sie einer besonderen, an sie im Einzelfall gerichteten Aufforderung der Bundesagentur für Arbeit, des nach § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB II zuständigen Trägers oder eines nach § 6a SGB II zugelassenen kommunalen Trägers nachkommen, diese oder eine andere Stelle aufzusuchen (hierzu zuletzt BSG vom 19.6.2018 - B 2 U 1/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 42). Eine solche Aufforderung, den Beigeladenen zur Probearbeit aufzusuchen, lag hier nicht vor, weil der SGB-II-Träger nach den Feststellungen des LSG erst nach dem Unfall von den Bewerbungsbemühungen des Klägers erfahren hat. C. Als dem Grunde nach als Wie-Beschäftigter Versicherter gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB VII hat der Kläger auch einen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb "Versicherter" ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität; stRspr BSG, zB vom 19.6.2018 - B 2 U 2/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 46 RdNr 13, vom 30.3.2017 - B 2 U 15/15 R - NZS 2017, 625 = NJW 2017, 2858, vom 5.7.2016 - B 2 U 19/14 R - BSGE 121, 297 = SozR 4-2700 § 2 Nr 36, vom 4.12.2014 - B 2 U 10/13 R - BSGE 118, 1 = SozR 4-2700 § 2 Nr 32 und B 2 U 13/13 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 31, vom 26.6.2014 - B 2 U 4/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 52 RdNr 11, vom 18.6.2013 - B 2 U 10/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 47 RdNr 12, vom 14.11.2013 - B 2 U 15/12 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 27 RdNr 11, vom 15.5.2012 - B 2 U 16/11 R - BSGE 111, 52 = SozR 4-2700 § 2 Nr 21, RdNr 10 mwN, vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 25 f und vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 20). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Bei der Verrichtung des Mülltonnentransports stürzte der Kläger als versicherter Wie-Beschäftigter von der Ladebordwand des Lkw, sodass sich dabei - entgegen der Ansicht der Beklagten - ein versichertes Risiko realisierte. Durch dieses plötzliche, von außen kommende Ereignis zog er sich ein epidurales Hämatom und damit einen Gesundheitsschaden iS des § 8 Abs 1 SGB VII zu. Folglich sind sämtliche Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls erfüllt, sodass die vorinstanzlichen Entscheidungen aufrechterhalten bleiben konnten. Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass der Beigeladene keine Anträge gestellt hat und damit kein Kostenrisiko eingegangen ist, sodass eine Erstattung etwaiger außergerichtlicher Kosten des Beigeladenen billigem Ermessen widerspräche (BSG vom 6.9.2018 - B 2 U 18/17 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 47 RdNr 24 - "Stöberhundeführer" und vom 14.11.2002 - B 13 RJ 19/01 R - juris RdNr 44 insoweit in BSGE 90, 127 ff nicht abgedruckt).
bundessozialgericht
bsg_10 - 2017
09.03.2017
Weniger Elterngeld nach vorangegangener Fehlgeburt? Ausgabejahr 2017 Nummer 10 Datum 09.03.2017 Macht es für die Berechnung des Elterngeldes für ein späteres Kind einen Unterschied, ob eine frühere Schwangerschaft mit einer Lebend oder einer Fehlgeburt endete, wenn die Schwangere im Anschluss an jene Schwangerschaft arbeitsunfähig an einer Depression erkrankte? Hierüber wird der 10. Senat des Bundessozialgerichts am Donnerstag, den 16. März 2017, um 10.00 Uhr im Elisabeth-Selbert-Saal mündlich verhandeln und eine Entscheidung verkünden (Aktenzeichen: B 10 EG 9/15 R). Die Klägerin erlitt im Herbst 2011 zum wiederholten Mal eine Fehlgeburt. Daraufhin erkrankte sie an einer Depression und konnte ihrer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen. Erst ein dreiviertel Jahr später, als die Klägerin erneut schwanger war, konnte sie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Nach der Geburt des Kindes gewährte ihr das beklagte Land Elterngeld, jedoch in einer geringeren Höhe, als es die Klägerin erwartet hatte. Grund dafür war, dass der Beklagte das Elterngeld nach dem Einkommen der Klägerin in den zwölf Monaten vor der Geburt des Kindes berechnete, in denen die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung größtenteils kein Erwerbseinkommen erzielt hatte. Ihre Klage zum Sozialgericht München blieb erfolglos. Jedoch obsiegte die Klägerin vor dem Bayerischen Landessozialgericht. Dieses verpflichtete den Beklagten zur Zahlung eines höheren Elterngeldes unter Berücksichtigung im Wesentlichen des Einkommens der Klägerin vor ihrer Erkrankung. Diese sei als schwangerschaftsbedingte Erkrankung im Sinne des § 2b Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) zu werten und die Krankheitsmonate daher bei der Bemessung des vorgeburtlichen Erwerbseinkommens nicht zu berücksichtigen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der Revision. Die genannte Vorschrift sei nur auf die Fälle anzuwenden, in denen die krankheitsauslösende Schwangerschaft mit der Geburt eines Kindes geendet habe, für das Elterngeld bezogen worden sei. Hinweis auf die Rechtslage § 2b Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) (1) 1Für die Ermittlung des Einkommens aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2c vor der Geburt sind die zwölf Kalendermonate vor dem Monat der Geburt des Kindes maßgeblich. 2Bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums nach Satz 1 bleiben Kalendermonate unberücksichtigt, in denen die berechtigte Person (…) 3. eine Krankheit hatte, die maßgeblich durch eine Schwangerschaft bedingt war (…) und in den Fällen der Nummern 3 und 4 dadurch ein geringeres Einkommen aus Erwerbstätigkeit hatte.
1. Eine depressive Erkrankung, die durch eine Fehlgeburt ausgelöst wurde, kann bei der Bemessung des Elterngelds zur Verschiebung des Bemessungszeitraums für die Ermittlung des Einkommens aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit führen.2. Bei der Bemessung des Elterngelds schließt der Begriff der Schwangerschaft den Vorgang der Geburt, Fehl- oder Totgeburt ein.3. Ob eine Krankheit maßgeblich durch eine Schwangerschaft bedingt ist, beurteilt sich bei der Bemessung des Elterngelds nach dem Kausalitätsbegriff im Sinn der Lehre von der wesentlichen Bedingung. Tenor Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Juli 2015 wird zurückgewiesen.Der Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens. Tatbestand Die Beteiligten streiten über den Bemessungszeitraum und die Höhe des Elterngeldes für den am 4.4.2013 geborenen zweiten Sohn der Klägerin.Die Klägerin war im Zeitraum vom 1.6.2011 bis 24.3.2013 nichtselbstständig erwerbstätig. Während dieser Zeit war sie im Zeitraum vom 22.2.2012 bis 30.11.2012 wegen einer durch die behandelnde Ärztin attestierten (reaktiven) mittelgradigen depressiven Episode nach einer Fehlgeburt arbeitsunfähig krank. In dieser Zeit bezog die Klägerin vom 22.2.2012 bis 3.9.2012 Krankengeld und anschließend bis zum 30.11.2012 Übergangsgeld von der Deutschen Rentenversicherung Bund. In der Zeit vom 24.3.2013 bis 28.7.2013 bezog sie Mutterschaftsgeld und einen Arbeitgeberzuschuss.Das beklagte Land bewilligte der Klägerin Elterngeld für die ersten zwölf Lebensmonate ihres Kindes unter Anrechnung des Mutterschaftsgeldes und des Arbeitgeberzuschusses. Als Bemessungszeitraum legte der Beklagte den Zeitraum von April 2012 bis März 2013 zugrunde. Zwar sei der Monat März 2013 an sich wegen des Bezuges von Mutterschaftsgeld aus dem Bemessungszeitraum auszuklammern, jedoch werde hiervon abgesehen, da die Klägerin im entsprechend rückverlagerten Monat kein Einkommen gehabt habe. Eine Vorverlagerung des Bemessungszeitraums könne nicht erfolgen, da für die Erkrankung und damit den Einkommensverlust der Klägerin nicht die aktuelle bzw die vorangegangene Schwangerschaft kausal gewesen sei, sondern die Ende 2011 erlittene Fehlgeburt (Bescheid vom 9.7.2013; Widerspruchsbescheid vom 19.9.2013). Die Klage vor dem SG ist erfolglos geblieben (Gerichtsbescheid vom 23.6.2014). Das LSG hat den Beklagten dagegen verpflichtet, der Klägerin höheres Elterngeld unter Zugrundelegung eines Bemessungszeitraums von Mai 2011 bis Januar 2012 sowie Dezember 2012 bis Februar 2013 zu gewähren (Urteil vom 22.7.2015).Mit seiner Revision macht der Beklagte ua geltend, die Gesetzesauslegung des LSG stehe weder mit dem Wortlaut, noch mit der Entwicklung und dem Gesetzeszweck des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) im Einklang. Der Begriff der Schwangerschaft sei eng unter Ausschluss der Geburt bzw Fehlgeburt auszulegen, da es sich bei den Tatbeständen in § 2b Abs 1 S 2 Nr 1 bis 4 BEEG um eng begrenzte Ausnahmefälle handele.Der beklagte Freistaat beantragt,das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Juli 2015 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 23. Juni 2014 zurückzuweisen.Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Gründe Die Revision des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG).1. Streitgegenständlich ist der Elterngeldbescheid des Beklagten vom 9.7.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.9.2013. Die Klägerin wendet sich dagegen zulässigerweise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage auf Gewährung höheren Elterngeldes (§ 54 Abs 1 und Abs 4, § 56 SGG), die sich auf den Erlass eines Grundurteils iS des § 130 Abs 1 SGG richtet (vgl BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10, RdNr 14 mwN; BSG Urteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 2/13 R - Juris; BSG Urteil vom 21.6.2016 - B 10 EG 8/15 R - BSG SozR 4-7837 § 2b Nr 1, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).2. Das LSG hat den Beklagten zu Recht unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung zur Abänderung seiner Bescheide verpflichtet. Die zulässige Klage ist begründet, denn die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 9.7.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.9.2013 beschwert (§ 54 Abs 2 SGG). Sie hat einen Anspruch auf höheres Elterngeld auf der Grundlage eines anderen Bemessungszeitraums als desjenigen, der den angefochtenen Bescheiden zugrunde liegt.Der Anspruch der Klägerin auf Elterngeld richtet sich nach den am 18.9.2012 in Kraft getretenen Vorschriften des BEEG vom 10.9.2012 (BGBl I 1878) und den Änderungen durch das Gesetz vom 23.10.2012 (BGBl I 2246 zu § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 BEEG).a. Die Klägerin kann dem Grunde nach Elterngeld beanspruchen, weil sie im Anspruchszeitraum die Grundvoraussetzungen des Elterngeldanspruchs nach § 1 Abs 1 Nr 1 bis 4 BEEG erfüllte. Nach den für den Senat nach § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG hatte sie im Bezugszeitraum des Elterngeldes (4.4.2013 bis 3.4.2014) ihren Wohnsitz in Deutschland, lebte in einem Haushalt mit ihrem zweitgeborenen Sohn, den sie selbst betreute und erzog, und übte keine volle Erwerbstätigkeit iS von § 1 Abs 6 BEEG aus.b. Die Höhe des Elterngeldes bestimmt sich gemäß § 2 Abs 1 S 1 und S 2 BEEG idF vom 10.9.2012 nach dem Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes, wird in Höhe von 67 Prozent dieses Einkommens gewährt und bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat. Gemäß § 2b Abs 1 S 1 BEEG sind für die Ermittlung des Einkommens aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit (§ 2c BEEG) vor der Geburt die zwölf Kalendermonate vor dem Monat der Geburt des Kindes maßgeblich. Allerdings bleiben in einzelnen Fällen bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums bestimmte Kalendermonate unberücksichtigt (§ 2b Abs 1 S 2 BEEG). Ein solcher Fall liegt hier vor.Entgegen der Ansicht des Beklagten kann die Klägerin verlangen, dass der Beklagte ihr Elterngeld gemäß § 2b Abs 1 S 1, S 2 Nr 3 BEEG nach dem Einkommen bemisst, welches sie in den Monaten Mai 2011 bis Januar 2012 sowie Dezember 2012 bis Februar 2013 aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit hatte. Der Beklagte hat bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums für den Elterngeldbezug nicht nur versäumt, die Monate Februar bis November 2012 auszuklammern (dazu aa.). Er hat dabei auch zu Unrecht den Monat März 2013 berücksichtigt (dazu bb.).aa. Die Klägerin kann verlangen, dass der Beklagte bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums nach § 2b Abs 1 S 1, S 2 Nr 3 BEEG die Monate Februar bis November 2012 unberücksichtigt lässt.Der Bemessungszeitraum für das Elterngeld der Klägerin ist nach Maßgabe des § 2b Abs 1 BEEG zu bestimmen. Denn die Klägerin war vor der Geburt ihres Sohnes ausschließlich nichtselbstständig erwerbstätig.Als Bemessungszeitraum für die Ermittlung des Einkommens aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit iS von § 2c BEEG vor der Geburt sind gemäß § 2b Abs 1 S 1 BEEG die zwölf Kalendermonate vor dem Monat der Geburt des Kindes maßgeblich. Abweichend davon bleiben nach § 2b Abs 1 S 2 BEEG bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums ua Kalendermonate unberücksichtigt, in denen die berechtigte Person Mutterschaftsgeld nach dem SGB V oder nach dem Zweiten Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte bezogen hat oder eine Krankheit hatte, die maßgeblich durch eine Schwangerschaft bedingt war und dadurch ein geringeres Einkommen aus Erwerbstätigkeit hatte (§ 2b Abs 1 S 2 Nr 2 2. Alt und Nr 3 BEEG). Der Bemessungszeitraum umfasst auch in diesem Fall zwölf Monate, wird aber um die Anzahl der nicht zu berücksichtigenden Kalendermonate in die Vergangenheit hinein verschoben (Grösslein-Weiß in Roos/Bieresborn, MuSchG/BEEG - Stand Dezember 2016, § 2b BEEG RdNr 27 unter Hinweis ua auf SG Stade Urteil vom 31.8.2009 - S 13 EG 10/08 - openJur 2012, 49371 RdNr 22 mwN).Der nach den gesetzlichen Vorgaben maßgebende Bemessungszeitraum von zwölf Kalendermonaten vor der Geburt des Kindes der Klägerin (4.4.2013) erstreckt sich hier von Mai 2011 bis Januar 2012 sowie Dezember 2012 bis Februar 2013, denn für den Monat März 2013 ist wegen des Bezuges von Mutterschaftsgeld der Ausklammerungstatbestand des § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 2. Alt BEEG (dazu unten bb.) und für die Monate Februar 2012 bis November 2012 wegen der depressiven Erkrankung der Klägerin nach ihrer Fehlgeburt im Herbst 2011 der Ausklammerungstatbestand des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG erfüllt.Voraussetzung für eine Verschiebung des Bemessungszeitraums ist zunächst, dass die elterngeldberechtigte Person im Bemessungszeitraum "eine Krankheit hatte, die maßgeblich durch eine Schwangerschaft bedingt war, und dadurch ... ein geringeres Einkommen aus Erwerbstätigkeit hatte" (§ 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG). Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie durchlebte im Jahr 2011 eine Schwangerschaft, die mit einer Fehlgeburt endete. Sie hatte auch anschließend eine Krankheit. Denn nach den nicht mit durchgreifenden Revisionsrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) litt die Klägerin an einer (reaktiven) mittelgradigen depressiven Episode, aufgrund derer sie arbeitsunfähig krankgeschrieben war. Infolgedessen hatte sie vom 22.2.2012 bis 30.11.2012 ein geringeres Einkommen aus Erwerbstätigkeit, nämlich in Gestalt von Krankengeld und Übergangsgeld von der Deutschen Rentenversicherung Bund.Unschädlich ist es, dass die Krankheit der Klägerin nicht auf die Schwangerschaft zurückgeht, die mit der Geburt desjenigen Kindes endete, für das ihr Anspruch auf Elterngeld besteht, sondern auf eine vorangegangene Schwangerschaft zurückzuführen ist. Darauf hat das LSG zutreffend hingewiesen. Die Neufassung des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG vom 10.9.2012, nach der sich der Anspruch der Klägerin richtet, unterscheidet sich insoweit wesentlich vom Wortlaut der Vorgängervorschrift des § 2 Abs 7 S 6 BEEG idF des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit vom 5.12.2006 (BGBl I 2748, aF). Diese hatte noch von einer "maßgeblich auf die Schwangerschaft zurückzuführenden Erkrankung ..." gesprochen. Diese Einschränkung ist zum 18.9.2012 entfallen (vgl BT-Drucks 17/1221 S 9, BT-Drucks 17/9841 S 20).Auch der Umstand, dass die Krankheit der Klägerin nicht bereits während, sondern erst nach der vorangegangenen Schwangerschaft auftrat, hindert eine Verschiebung des Bemessungszeitraums iS des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG nicht. Denn auch insoweit unterscheidet sich die Norm wesentlich von ihrer Vorgängervorschrift. § 2 Abs 7 S 6 BEEG aF hatte noch von einem Einkommenswegfall "während der Schwangerschaft" wegen einer maßgeblich auf die Schwangerschaft zurückzuführenden Erkrankung gesprochen. Diese Voraussetzung enthält § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG ebenfalls nicht mehr (vgl SG Bayreuth Urteil vom 22.7.2014 - S 17 EG 3/14 - Juris RdNr 20; Dau, jurisPR-SozR 22/2014 Anm 4).Die von der Klägerin begehrte Verschiebung des Bemessungszeitraums scheitert schließlich auch nicht daran, dass sich der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen der Schwangerschaft und der Krankheit der Klägerin nicht herstellen ließe. Nach § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG muss die festgestellte Krankheit maßgeblich "durch eine Schwangerschaft bedingt" gewesen sein. Nähere Angaben dazu, wie dieser Kausalitätsbegriff auszufüllen ist, enthält das BEEG nicht. Daher sind für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs allgemeine sozialrechtliche Grundsätze heranzuziehen. Dabei ist zunächst zu prüfen, welche Ursachen für die festgestellte psychische Gesundheitsstörung der Klägerin gegeben sind, und sodann festzustellen, ob die Schwangerschaft direkt oder mittelbar für diese Gesundheitsstörungen wesentlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung war. Diese kann auch bei der Beurteilung der Frage herangezogen werden, ob eine Schwangerschaft wesentliche Ursache für die Krankheit einer elterngeldberechtigten Person war, aufgrund derer sie ein geringeres Einkommen aus Erwerbstätigkeit hatte. Als kausal und rechtserheblich werden danach nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (grundlegend: Reichsversicherungsamt, Amtliche Nachrichten <AN> 1912, 930, 931). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw Gesundheitsschadens abgeleitet werden (stRspr vgl BSGE 1, 72, 76; BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 14; BSG Urteil vom 17.2.2009 - B 2 U 18/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 31 RdNr 12; BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 6/13 R - SozR 4-7945 § 3 Nr 1 RdNr 18). Eine Ursache, die als rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist, drängt die sonstigen Umstände in den Hintergrund; diese müssen in wertender Betrachtung als rechtlich nicht wesentliche Mitursachen für die Frage der Verursachung unberücksichtigt bleiben. Das ist der Fall, wenn nach der Erfahrung des täglichen Lebens ohne diese Ursache - bei ansonsten gleicher Sachlage - der Erfolg wahrscheinlich nicht eingetreten wäre (vgl BSG Urteil vom 30.6.1960 - 2 RU 86/56 - BSGE 12, 242, 246 = SozR Nr 27 zu § 542 RVO). Auch wenn diese Betrachtung maßgeblich auf den Einzelfall abstellt, bleiben generelle oder allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht unberücksichtigt. So hat die Kausalitätsbeurteilung auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen. Denn es ist ein allgemeiner Grundsatz des Beweisrechts, dass die Beurteilung medizinischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aufbauen muss (vgl BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 17 unter Hinweis ua auf BSG SozR 3850 § 51 Nr 9 = BSGE 60, 58; BSG SozR 1500 § 128 Nr 31; BSG SozR 3-3850 § 52 Nr 1).Hiernach hat das LSG über den Bedingungszusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne hinaus die Kausalität zutreffend an der Theorie der wesentlichen Bedingung geprüft und frei von Rechtsfehlern bejaht. Die Schwangerschaft der Klägerin, die im Jahr 2011 mit einer Fehlgeburt endete, kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass die depressive Störung der Klägerin entfiele (conditio sine qua non). Die Fehlgeburt steht dabei nicht als alternative Ursache neben dieser Schwangerschaft. Denn anders als der Beklagte annimmt, ist von einer "Schwangerschaft" iS des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG auch der Vorgang der Geburt einschließlich einer Fehlgeburt erfasst. Der Wortlaut der Vorschrift (dazu aaa.) und die Systematik (dazu bbb.) hindern diese funktionsdifferente Auslegung nicht, die sich vor allem aus Sinn und Zweck der Vorschrift unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte ergibt (dazu ccc.).aaa. Der Wortlaut des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG umfasst nur Krankheiten, die maßgeblich durch eine Schwangerschaft bedingt waren. Die Schwangerschaft endet mit Entbindung, Fehlgeburt oder Schwangerschaftsabbruch (Pepping in Rancke, Mutterschutz/Elterngeld//Betreuungsgeld/Elternzeit, 4. Aufl 2015, § 3 MuSchG RdNr 6). Semantisch kann deshalb ihr Ende auch als notwendiger Bestandteil der Schwangerschaft bezeichnet werden, obwohl aus medizinischer Sicht unter einer Schwangerschaft nur der Zustand einer Frau von der Empfängnis bis zum Eintritt der Geburt verstanden und von dem Vorgang der Geburt unterschieden wird (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl 2014). Für die Bestimmung des Bemessungszeitraums kommt es dann auch nicht darauf an, ob die Schwangerschaft mit einer Lebend- oder Totgeburt abgeschlossen wird oder mit einer Fehlgeburt (vgl § 31 Personenstandsverordnung).bbb. Systematische Erwägungen stehen dieser Auslegung des Begriffs der "Schwangerschaft" in § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG nicht entgegen. Der Begriff der "Schwangerschaft" wird im BEEG nicht an anderer Stelle in einem Zusammenhang verwendet, der darauf schließen ließe, dass für die Bestimmung des Bemessungszeitraums zwischen der Zeit der Schwangerschaft und dem Geburtsvorgang einschließlich einer Fehlgeburt zu unterscheiden ist. Auch die Gesamtsystematik des BEEG legt eine solche Verwendung nicht nahe. Ansonsten unterscheidet zwar etwa das geltende Mutterschutzrecht insbesondere zwischen einer Schwangerschaft bzw Entbindung einerseits und einer Fehlgeburt andererseits, welche keine mutterschutzrechtlichen Folgen auslöst (vgl zu § 9 MuSchG, BAG Urteil vom 15.12.2005 - 2 AZR 462/04; Zimmermann in Roos/Bieresborn, MuSchG/BEEG, 2014, § 6 MuSchG RdNr 6 ff). Auch dort sieht es der Gesetzgeber aber inzwischen als sachgerecht an, den Mutterschutz auf Fehlgeburten zu erstrecken (zum Kündigungsschutz bei Fehlgeburt nach § 16 MuSchG-E BT-Drucks 18/8963 S 87 f; BT-Drucks 18/11782 S 35).ccc. Vor allem folgt aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift, wie er sich aus seiner Entstehungsgeschichte ergibt, dass der Begriff der "Schwangerschaft" iS des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG auch den Vorgang der Geburt unter Einschluss einer Fehlgeburt erfasst.Sinn und Zweck der Modifizierung des Bemessungszeitraums nach § 2b Abs 1 S 2 BEEG ist der Ausgleich von Nachteilen bei der Elterngeldberechnung, die darauf beruhen, dass das Einkommen des berechtigten Elternteils im vorgeburtlichen Zwölfmonatszeitraum aufgrund besonderer Sachverhalte ganz oder teilweise weggefallen ist (vgl zum entsprechenden § 2 Abs 1 S 1 BEEG aF, BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10, RdNr 31). Während nach dem ersten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes (BT-Drucks 16/1889) bei einem Einkommenswegfall wegen einer maßgeblich auf die Schwangerschaft zurückzuführenden Erkrankung noch beabsichtigt war, "für den betreffenden Zeitraum das in dem der Erkrankung vorangegangenen Kalendermonat erzielte Einkommen aus Erwerbstätigkeit für die Berechnung des Elterngeldes zu Grunde zu legen" (vgl BT-Drucks 16/1889 S 4 f zu § 2 Abs 1 S 3 Halbs 1), ist der ursprüngliche § 2 Abs 7 BEEG aF im Gesetzgebungsverfahren auf Vorschlag des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BT-Drucks 16/2785 S 9) vollkommen neu gefasst worden, um eine in der Verwaltungspraxis einfacher zu handhabende Bestimmung mit gleicher Zielrichtung zu schaffen (BT-Drucks 16/2785 S 37 f). Auch durch diese Regelung sollte gewährleistet sein, dass das "besondere gesundheitliche Risiko Schwangerer" bei der Berechnung des ihnen zustehenden Elterngeldes nicht zum Nachteil gereicht (BT-Drucks 16/1889 S 20) bzw ein "Absinken des Elterngeldes" durch das in den betroffenen Monaten geringere oder fehlende Erwerbseinkommen vermieden wird (BT-Drucks 16/2785 S 38). Gleiches gilt für den Bezug von Mutterschaftsgeld unmittelbar vor der Geburt, währenddessen regelmäßig kein berücksichtigungsfähiges Arbeitsentgelt erzielt wird (vgl BT-Drucks 16/1889 S 20), sowie für den Bezug von Elterngeld wegen der im Falle einer schnellen Geburtenfolge drohenden Nachteile bei der Leistungshöhe (BT-Drucks 16/2785 S 32, 34).Diesen Gesetzeszweck, Nachteile bei der Elterngeldberechnung in Fallgruppen des besonderen Erwerbsrisikos durch Schwangerschaft und Geburt auszugleichen, hat der Gesetzgeber bei der Einfügung des früheren § 2 Abs 7 S 7 BEEG zum 24.1.2009 (BGBl I 61) nochmals ausdrücklich hervorgehoben (BT-Drucks 16/9415 S 5). Die Ausklammerungstatbestände sollten demnach eine den berechtigten Elternteil begünstigende Ausnahme von dem Grundsatz der Elterngeldberechnung darstellen, nach dem für die Ermittlung des Einkommens aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit vor der Geburt die zwölf Kalendermonate vor dem Monat der Geburt des Kindes maßgeblich sind (vgl zu § 2 Abs 1 S 1 BEEG aF, BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10, RdNr 32).Dem neuen § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG, der durch das Gesetz zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs vom 10.9.2012 (BGBl I 1878) zum 18.9.2012 in Kraft trat und für Geburten ab dem 1.1.2013 gilt, liegt eine gegenüber der Vorfassung noch einmal weitergehende Motivation des Gesetzgebers zu Grunde. Durch die Neuregelung soll gewährleistet sein, dass eine Verschiebung des Bemessungszeitraums auch dann eintritt, "wenn die Krankheit durch die vorangegangene Schwangerschaft maßgeblich bedingt war. Dies dient auch der Verwaltungsvereinfachung, da in Fällen kurzer Geburtenfolge bei der Elterngeldberechnung dieselben Monate auszuklammern sind, die bereits bei der Elterngeldberechnung für ein älteres Geschwisterkind ausgeklammert wurden und daher in der Regel dasselbe Bemessungseinkommen zugrunde gelegt werden kann" (BT-Drucks 17/9841 S 20; vgl auch den Gesetzentwurf des BR, BT-Drucks 17/1221 S 9). Die Aufzählung der "bereits nach dem bisherigen § 2 Absatz 7 Satz 5 bis 7 geltenden Ausklammerungstatbestände" erfolge "zur besseren Lesbarkeit". Änderungen gegenüber der bisherigen Vollzugspraxis ergäben sich insoweit nicht (BT-Drucks 17/9841 S 20). Tatsächlich ging bereits die Verwaltungspraxis im Anwendungsbereich des § 2 Abs 7 S 6 BEEG aF ohne Rücksicht auf den Wortlaut des Gesetzes dahin, Kalendermonate bei der Bestimmung der zwölf für die Einkommensermittlung vor der Geburt des Kindes heranzuziehenden Kalendermonate zu überspringen, in denen die berechtigte Person vor der Geburt des Kindes für mindestens einen Tag wegen einer Erkrankung oder Verschlimmerung einer Vorerkrankung, die maßgeblich auf "eine" Schwangerschaft zurückzuführen war, ein geringeres Einkommen erzielt hatte, obwohl § 2 Abs 7 S 6 BEEG aF noch eine maßgeblich auf "die" Schwangerschaft zurückzuführende Erkrankung voraussetzte, also auf die zum Elterngeldbezug führende aktuelle Schwangerschaft (vgl die Richtlinien zum BEEG für Geburten vor dem 1.1.2013, Stand April 2012, BMFSFJ/204E, S 82).Aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber mit § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG vornehmlich eine weitere Verwaltungsvereinfachung im Blick hatte, lässt sich nicht schließen, dass nur solche Sachverhalte tatbestandlich erfasst werden, bei denen die Anwendung eines Ausklammerungstatbestandes zu einer Vereinfachung der Elterngeldberechnung führt. Es ist denkbar, dass die Subsumtion eines Lebenssachverhaltes unter den Tatbestand des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG und infolgedessen die Ausklammerung einzelner Monate bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums - wie im Fall der Klägerin - zu höherem Elterngeld der berechtigten Person führt, ohne dass zeitgleich eine Verwaltungsvereinfachung eintritt. Zwar wird auf diese Weise nur eines der Ziele des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG erreicht, nämlich ein "Absinken des Elterngeldes" durch das in den betroffenen Monaten geringere oder fehlende Erwerbseinkommen zu vermeiden (vgl BT-Drucks 16/2785 S 38). Dies zwingt aber trotz des Ausnahmecharakters des Ausklammerungstatbestands nicht zu einem Ausschluss dieser Fälle aus dem Anwendungsbereich des § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG. Im Gegenteil liegt darin ein Ausdruck zulässiger Typisierung durch den Gesetzgeber. Denn nicht einmal die Gesetzesbegründung zu § 2b Abs 1 S 2 Nr 3 BEEG gibt einen Hinweis dafür, dass die Vorschrift ausnahmslos in den Fällen zur Anwendung kommen soll, in denen für ein Kind aus einer früheren Schwangerschaft tatsächlich Elterngeld bezogen wurde und insoweit ohne weiteren Verwaltungsaufwand an die frühere Elterngeldberechnung angeknüpft werden kann.Nach diesen Vorgaben hat das LSG zu Recht den Ursachenzusammenhang zwischen der Schwangerschaft der Klägerin im Jahr 2011 und ihrer psychischen Erkrankung bejaht. Es hat das Vorliegen einer Konkurrenzursache nicht festgestellt. An der Kausalität der abgebrochenen Schwangerschaft für die psychische Erkrankung der Klägerin im Sinne einer wesentlichen Bedingung bestehen mangels Vorliegen einer wirksam gewordenen Konkurrenzursache keine Zweifel.bb. Der Beklagte hat bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums nach § 2b Abs 1 S 1 BEEG zu Unrecht den Monat März 2013 berücksichtigt. Dies hat das LSG mit seiner Entscheidung zu Recht korrigiert.Ab dem 24.3.2013 bezog die Klägerin Mutterschaftsgeld und einen Arbeitgeberzuschuss zum Mutterschaftsgeld. Nach § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 2. Alt BEEG bleiben bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums Kalendermonate unberücksichtigt, in denen die berechtigte Person Mutterschaftsgeld nach dem SGB V bezogen hat. Diese Regelung hat der Beklagte nicht beachtet, auch wenn er zugunsten der Klägerin davon ausging, dass - anders als im März 2013 - im März 2012 elterngeldrelevantes Einkommen nicht vorhanden war. Der Beklagte durfte jedoch nicht nach eigenem Ermessen zugunsten der Klägerin von der Anwendung des § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 2. Alt BEEG absehen. Die Regelung des § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 2. Alt BEEG ist zwingend. Von ihrer Anwendung kann auch dann nicht abgesehen werden, wenn die Verlängerung des Bemessungszeitraums in die Vergangenheit letztlich zu einem geringeren Elterngeldanspruch führt (Grösslein-Weiß in Roos/Bieresborn, MuSchG/BEEG - Stand Dezember 2016, § 2b BEEG RdNr 27 unter Hinweis auf SG Hamburg Urteil vom 27.4.2010 - S 31 EG 19/09 - Juris und SG Stade Urteil vom 31.8.2009 - S 13 EG 10/08 - openJur 2012, 49371 RdNr 22 mwN; auch Fuchsloch/Scheiwe, Leitfaden Elterngeld, 2007, RdNr 120; Wersig in juris-PK-Vereinbarkeit von Familie und Beruf, 1. Aufl 2009, § 2 BEEG RdNr 6).Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut der Norm, nach dem bei der Bestimmung des Bemessungszeitraums Kalendermonate unberücksichtigt bleiben, in denen die berechtigte Person Mutterschaftsgeld nach dem SGB V oder nach dem Zweiten Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte bezogen hat (§ 2b Abs 1 S 2 Nr 2 2. Alt BEEG). Es existiert keine gesetzliche Ausnahme von der Regelung, keine Härtefallklausel und kein der Elterngeldstelle eingeräumtes Ermessen. Die Auslegung einer Norm gegen ihren klaren Wortlaut ist nicht zulässig, jedenfalls, wenn wie hier, kein Anhaltspunkt für ein gesetzgeberisches Versehen besteht.§ 2b Abs 1 S 2 Nr 2 BEEG ist deshalb keiner teleologischen Reduktion zugänglich. Zwar war es ein erklärtes Ziel des Normgebers zu vermeiden, dass das besondere gesundheitliche Risiko Schwangerer diesen bei der Berechnung des ihnen zustehenden Elterngeldes zum Nachteil gereicht (vgl BT-Drucks 16/1889 S 20). Dass dieser Wille des Gesetzgebers im Fall der Klägerin nicht zum Zuge kommt, eröffnet die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion der Norm jedoch nicht. Die bereits von dem Gesetz zur Einführung des Elterngeldes (Art 1 Gesetz vom 5.12.2006, BGBl I 2748) als § 2 Abs 7 S 6 1. Alt BEEG aF normierte Vorschrift wurde mit dem Gesetz zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs(Art 1 Gesetz vom 10.9.2012, BGBl I 1878) als § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 BEEG zur besseren Lesbarkeit neu gefasst (vgl BT-Drucks 17/9841 S 20), ohne dass eine wesentliche inhaltliche Änderung herbeigeführt wurde. Die Vorschrift zielt ausdrücklich auf eine Regelung des "häufig vorkommenden" Falls ab, dass unmittelbar vor der Geburt kein Arbeitsentgelt, sondern Mutterschaftsgeld und ggf ein Arbeitgeberzuschuss bezogen wurde (so die Gesetzesbegründung BT-Drucks 16/1889 S 20). Der Gesetzgeber verstand diesen typischen Fall als regelungsbedürftige Ausnahme zu dem Regelfall eines Bemessungszeitraums von zwölf Monaten vor der Geburt, der "die durchschnittlichen Verhältnisse im Jahr vor der Geburt am besten abbildet". Diese klare gesetzgeberische Absicht einer vom Regelfall des § 2b Abs 1 S 1 BEEG abweichenden Regelung für Monate des Bezuges von Mutterschaftsgeld und Arbeitgeberzuschuss, die sich unmissverständlich im Gesetzeswortlaut des § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 BEEG niedergeschlagen hat, schließt eine teleologische Reduktion des § 2b Abs 1 S 2 Nr 2 BEEG aus. Der Senat setzt seine anderslautende Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift des § 2 Abs 7 S 6 BEEG aF insoweit nicht fort (vgl BSG Urteil vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10). Die geringfügige - von der Klägerin hier nicht einmal beanstandete - Schlechterstellung gegenüber Elterngeldberechtigten, denen die Ausklammerung einzelner Monate nützt, ist im Normzweck der Rationalisierung und Verwaltungsbeschleunigung angelegt und von der Typisierungskompetenz des Gesetzgebers gedeckt. Ihn verfolgt das Gesetz im Interesse aller Elterngeldberechtigten. Sie profitieren als Gruppe davon, wenn das Elterngeld beschleunigt berechnet und ausgezahlt wird (vgl BSG Urteil vom 21.6.2016 - B 10 EG 8/15 R - SozR 4-7837 § 2b Nr 1, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
bundessozialgericht
bsg_46 - 2017
20.09.2017
Umlage für Mutterschaftsaufwendungen bei "freien Mitarbeitern" von Rundfunkanstalten? Ausgabejahr 2017 Nummer 46 Datum 20.09.2017 Sind Mitarbeiter einer Rundfunkanstalt in die Berechnung der Arbeitgeber-Umlage U 2 für Mutterschaftsaufwendungen einzubeziehen, wenn diese sie als Angestellte meldet und für sie Gesamtsozialversicherungsbeiträge entrichtet, aber arbeitsrechtlich als "freie Mitarbeiter" einstuft? Hierüber wird der 1. Senat des Bundessozialgerichts am Dienstag, dem 26. September 2017 um 11.20 Uhr mündlich verhandeln und entscheiden (Aktenzeichen B 1 KR 31/16 R). Der Kläger, eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, stufte eine Vielzahl bei ihm tätiger Personen arbeitsrechtlich als "freie Mitarbeiter" ein. Er meldete sie als Angestellte und entrichtete für sie Gesamtsozialversicherungsbeiträge, bezog ihre Entgelte aber nicht in die Berechnung der Umlage U 2 für Mutterschaftsaufwendungen ein. Die Beklagte gab dem Kläger aufgrund einer Betriebsprüfung durch Summenbescheid auf, 198 881,14 Euro Umlage U 2 für die Zeit von 2006 bis Ende 2008 zu zahlen. Sie schätzte nach den gemeldeten Gesamtbeträgen die rentenversicherungspflichtigen Arbeitsentgelte für die "freien Mitarbeiter" ohne Einmalzahlungen und forderte den Kläger auf, ab 2009 rückwirkend selbst eine Korrekturberechnung vorzunehmen. Das SG hat gemeint, der Kläger müsse die Entgelte der freien Mitarbeiter nicht in die Umlage einbeziehen. Das Hessische Landessozialgericht hat die Klage abgewiesen: Wer sozialversicherungsrechtlich beim Kläger Beschäftigter sei, sei auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich verbürgten Rundfunkfreiheit zugleich arbeitsrechtlich Arbeitnehmer. Da die klagende Rundfunkanstalt Einmalzahlungen an die „freien Mitarbeiter“ nicht ausgewiesen habe, diese aber in die U 2-Umlage nicht einzubeziehen seien, habe die Beklagte die Entgelte ohne Nachteil für die Mitarbeiter schätzen dürfen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision.   Hinweise zur Rechtslage § 7 Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) (1) Die Mittel zur Durchführung der U1- und U2-Verfahren werden von den am Ausgleich beteiligten Arbeitgebern jeweils durch gesonderte Umlagen aufgebracht, die die erforderlichen Verwaltungskosten angemessen berücksichtigen. (2) Die Umlagen sind jeweils in einem Prozentsatz des Entgelts (Umlagesatz) festzusetzen, nach dem die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen und Auszubildenden bemessen werden oder bei Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu bemessen wären. Bei der Berechnung der Umlage für Aufwendungen nach § 1 Abs. 1 sind Entgelte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, deren Beschäftigungsverhältnis bei einem Arbeitgeber nicht länger als vier Wochen besteht und bei denen wegen der Art des Beschäftigungsverhältnisses auf Grund des § 3 Abs. 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entstehen kann, sowie einmalig gezahlte Arbeitsentgelte nach § 23a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch nicht zu berücksichtigen. … § 10 AAG Die für die gesetzliche Krankenversicherung geltenden Vorschriften finden entsprechende Anwendung, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. § 7 SGB IV (1) Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. ….
21.09.2017 · IWW-Abrufnummer 196613 Bundessozialgericht: Urteil vom 26.09.2017 – B 1 KR 31/16 R Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz. BUNDESSOZIALGERICHTUrteil 26.9.2017B 1 KR 31/16 RTenorDie Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.Tatbestand1Die Beteiligten streiten über die Heranziehung des Klägers zum Umlageverfahren für Aufwendungen nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG; Umlage U2).2Der Kläger, eine Anstalt des öffentlichen Rechts nach hessischem Landesrecht, die Rundfunk- und Fernsehsendungen erstellt und ausstrahlt, stufte eine Vielzahl bei ihm tätiger Personen als "freie Mitarbeiter" ein. Er meldete sie als Angestellte und entrichtete für sie zwar Gesamtsozialversicherungsbeiträge, bezog ihre Entgelte aber nicht in die Berechnung der Umlage U2 nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz (AAG) ein. Nach einer Betriebsprüfung gebot die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund dem Kläger, 198 881,14 Euro U2-Umlage für die Zeit von 2006 bis Ende 2008 zu zahlen. Sie schätzte hierfür nach den gemeldeten Gesamtbeträgen die rentenversicherungspflichtigen Arbeitsentgelte für die "freien Mitarbeiter" ohne Einmalzahlungen und forderte den Kläger auf, ab 2009 rückwirkend selbst eine Korrekturberechnung vorzunehmen (Bescheid vom 8.3.2010; Widerspruchsbescheid vom 5.11.2010). Das SG hat die Entscheidung der Beklagten aufgehoben und festgestellt, der Kläger unterliege hinsichtlich der freien Mitarbeiter nicht der Teilnahme am Umlageverfahren U2 (Urteil vom 25.2.2014). Das LSG hat die Klage abgewiesen: Wer sozialversicherungsrechtlich beim Kläger Beschäftigter sei, sei auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich verbürgten Rundfunkfreiheit zugleich arbeitsrechtlich Arbeitnehmer. Der Kläger habe die Umlage U2 auch von dessen Entgelten zu entrichten. Da der Kläger Einmalzahlungen nicht ausgewiesen habe, sie aber in die U2-Umlage nicht einzubeziehen seien, habe die Beklagte sie ohne Nachteil für die Mitarbeiter schätzen dürfen (Urteil vom 6.10.2016).3Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung von § 7 AAG und §§ 103, 106 SGG iVm § 128 SGG iVm Art 5 GG. Eine Gleichstellung von Arbeitnehmern und Beschäftigten sei nicht zulässig. Das LSG hätte im Einzelfall die Rechtsnatur des jeweiligen Auftragsverhältnisses klären müssen.4Der Kläger beantragt,das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. Oktober 2016 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. Februar 2014 zurückzuweisen.5Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.6Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.7Die Beigeladenen stellen keine Anträge.Entscheidungsgründe8Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte verpflichtete rechtmäßig den Kläger, 198 881,14 Euro Umlage U2 für die Zeit von 2006 bis Ende 2008 zu zahlen. Sie durfte hierzu einen Summenbescheid erlassen (dazu 2.). Die Beklagte wies den Kläger auch zutreffend auf die Rechtslage hin, er habe ab 2009 rückwirkend eine Korrekturberechnung vorzunehmen (dazu 3.).91. Im Revisionsverfahren fortwirkende Umstände, die einer Sachentscheidung des Senats über die zulässig als isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Fall 1 SGG) erhobene Klage entgegenstehen könnten, liegen nicht vor. Es bedarf insbesondere keiner weiteren Beiladung. Eine Beiladung der Mitarbeiter, deren Arbeitsentgelt die Beklagte für die Umlage zugrunde gelegt hat, ist bei der Überprüfung eines Summenbescheides nicht notwendig, da dieser nicht personenbezogen ergeht (vgl zB BSGE 89, 158, 159 = SozR 3-2400 § 28f Nr 3 S 4; BSGE 64, 289, 293 f = SozR 1300 § 44 Nr 36 S 102; BSG Beschluss vom 15.6.1993 - 12 BK 74/91 - Juris RdNr 3).102. Die Beklagte war zuständig für den Erlass des angefochtenen Bescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides im Umlageverfahren nach dem AAG (dazu a). Sie bezog rechtmäßig die abhängig Beschäftigten, die der Kläger vermeintlich zugleich für die Umlage U2 als "freie Mitarbeiter" angesehen hatte, in die Berechnung der Umlage ein (dazu b) und erteilte rechtmäßig einen Summenbescheid mit der Folge einer Nachzahlungspflicht in Höhe von 198 881,14 Euro (dazu c), ohne gegen Verfassungsrecht zu verstoßen (dazu d).11a) Die Beklagte war dafür zuständig, über die streitgegenständlichen von dem Kläger vom Entgelt seiner Mitarbeiter zu entrichtenden Umlagebeträge U2 für Mutterschaftsaufwendungen von 2006 bis Ende 2008 zu entscheiden. Träger des Ausgleichs von Arbeitgeberaufwendungen bei Arbeitsunfähigkeit (AU) und in Mutterschaftsfällen sind grundsätzlich die Krankenkassen (KKn) mit Ausnahme der landwirtschaftlichen KK (§ 1 Abs 1 AAG idF durch Art 1 Gesetz über den Ausgleich von Arbeitgeberaufwendungen und zur Änderung weiterer Gesetze vom 22.12.2005, BGBl I 3686; zur bis zum 31.12.2005 geltenden Rechtslage vgl § 10 Abs 1 Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall - Lohnfortzahlungsgesetz <LFZG>). Die KKn verwalten die hierfür vorgesehenen Mittel als Sondervermögen (§ 8 Abs 1 S 1 AAG). Nach § 10 AAG finden die für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) geltenden Vorschriften entsprechende Anwendung, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt. Entsprechend anwendbar sind grundsätzlich die Vorschriften des Sozialgesetzbuches und sonstiger Gesetze, die Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, die für die GKV gelten, sowie die autonomen Rechtsnormen des jeweiligen Trägers der GKV, so insbesondere das SGB I, SGB IV, SGB V und SGB X (vgl BSGE 121, 194 = SozR 4-7912 § 96 Nr 1, RdNr 14 mwN; Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung - Krankengeld - Mutterschaftsgeld, Stand Mai 2017, § 10 AAG RdNr 1). Danach war die Beklagte als Rentenversicherungsträgerin zur Durchführung einer Betriebsprüfung (§ 28p Abs 1 S 1 SGB IV idF der Bekanntmachung der Neufassung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch vom 12.11.2009, BGBl I 3710) mit dem Ziel der Überwachung des Umlageverfahrens nach dem AAG und zum Erlass eines entsprechenden Umlagebescheides (§ 28p Abs 1 S 5 SGB IV) befugt. § 10 AAG stellt die Beiträge zum Ausgleichsverfahren insoweit den Beiträgen zur GKV gleich, die ihrerseits Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d S 1 SGB IV) sind (vgl BSG SozR 3-2400 § 28p Nr 1 S 6 f; BSGE 95, 119 = SozR 4-7860 § 10 Nr 2, RdNr 3, beide noch zu § 17 LFZG; vgl auch Gesetzesentwurf der BReg eines AAG und zur Änderung weiterer Gesetze, BT-Drucks 16/39 S 14). Der Arbeitgeber hat der nach § 2 Abs 1 AAG zuständigen KK die für die Durchführung des Ausgleichs erforderlichen Angaben zu machen (vgl § 3 Abs 2 AAG). Die Arbeitgeber sind bei Betriebsprüfungen verpflichtet, angemessene Prüfhilfen zu leisten (vgl § 28p Abs 5 S 1 SGB IV).12b) Die Beklagte bezog zu Recht die Entgelte der abhängig Beschäftigten, die der Kläger vermeintlich zugleich für die Umlage U2 als "freie Mitarbeiter" angesehen hatte, in die Berechnung der Umlage ein.13aa) Der Kläger ist verpflichtet, als Arbeitgeber der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einschließlich der Auszubildenden eine U2-Umlage zu zahlen. Die Mittel zur Durchführung des U2-Verfahrens werden von den am Ausgleich beteiligten Arbeitgebern jeweils durch gesonderte Umlagen aufgebracht, die die erforderlichen Verwaltungskosten angemessen berücksichtigen (§ 7 Abs 1 AAG). Der Begriff der Beteiligung stimmt dabei mit dem Begriff der Teilnahme am Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen iS von § 1 AAG überein (vgl bereits zu §§ 10, 14 LFZG BSGE 71, 24, 25 = SozR 3-7860 § 10 Nr 3 S 14; BSG Urteil vom 27.9.2005 - B 1 KR 1/04 R - USK 2005-29 = Juris RdNr 13; ebenso Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung - Krankengeld - Mutterschaftsgeld, Stand Mai 2017, § 7 AAG RdNr 3). § 1 Abs 2 AAG sieht für das U2-Verfahren die Einbeziehung aller Arbeitgeber vor. Danach erstatten die KKn mit Ausnahme der landwirtschaftlichen KK den Arbeitgebern in vollem Umfang den vom Arbeitgeber nach § 14 Abs 1 MuSchG gezahlten Zuschuss zum Mutterschaftsgeld (Nr 1), das vom Arbeitgeber nach § 11 MuSchG bei Beschäftigungsverboten gezahlte Arbeitsentgelt (Nr 2) und die auf die Arbeitsentgelte nach der Nr 2 entfallenden von den Arbeitgebern zu tragenden Beiträge zur Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitgeberanteile an Beiträgen zur GKV und zur gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), zur sozialen Pflegeversicherung und die Arbeitgeberzuschüsse nach § 172 Abs 2 SGB VI sowie die Beitragszuschüsse nach § 257 SGB V und nach § 61 SGB XI (Nr 3). Dies gilt auch für Arbeitgeber, die nur Auszubildende beschäftigen (§ 1 Abs 3 AAG). Die gesetzliche Einbeziehung aller Arbeitgeber erfolgt, weil das BVerfG die frühere Regelung der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung eines Zuschusses zum Mutterschaftsgeld als dem Schutzauftrag aus Art 3 Abs 2 GG widersprechend ansah, im gesetzlich vorgeschriebenen Ausgleichs- und Umlageverfahren nach §§ 10, 16 LFZG aF wegen seiner Begrenzung auf Kleinunternehmen keinen hinreichenden Ausgleich sah, § 14 Abs 1 S 1 MuSchG für mit Art 12 Abs 1 GG nicht vereinbar erklärte und dem Gesetzgeber einen Regelungsauftrag erteilte (vgl BVerfGE 109, 64). Der Gesetzgeber setzte den Regelungsauftrag mit dem AAG um (vgl Gesetzesentwurf der BReg eines AAG und zur Änderung weiterer Gesetze, BT-Drucks 16/39 S 1 und 9; vgl zum Ganzen BSG SozR 4-7862 § 9 Nr 3 RdNr 15).14Der Kläger ist im Rechtssinne Arbeitgeber. Die Regelung des § 1 und § 7 AAG begründet keinen eigenständigen Begriff des Arbeitgebers, sondern setzt ihn voraus. Arbeitgeber iS von § 1 und § 7 AAG ist, wer Arbeitnehmer beschäftigt (vgl § 1 Abs 1 Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall - Entgeltfortzahlungsgesetz <EntgFG>; BSG Urteil vom 27.9.2005 - B 1 KR 1/04 R - USK 2005-29 = Juris RdNr 16; BSG SozR 3-7860 § 11 Nr 1 S 2 ff mwN). Die Beschäftigung nur einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers genügt (vgl BSGE 71, 24 = SozR 3-7860 § 10 Nr 3). Rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts wie der Kläger sind lediglich vom Verfahren der Erstattung von Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (U1-Verfahren) ausgeschlossen (vgl § 11 Abs 1 AAG und hierzu BSGE 121, 185 = SozR 4-7862 § 11 Nr 1, RdNr 21 ff), nicht aber von U2-Verfahren. Der Kläger beschäftigt nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ungeachtet des Status der von ihm als freie Mitarbeiter Bezeichneten jedenfalls auch Arbeitnehmer. Dies ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig.15bb) Die Entgelte der abhängig Beschäftigten, die der Kläger zugleich für die Umlage U2 als "freie Mitarbeiter" ansah, waren in die Berechnung der von ihm zu zahlenden Umlage U2 einzubeziehen. Die Umlagen sind jeweils in einem Prozentsatz des Entgelts (Umlagesatz) festzusetzen, nach dem die Beiträge zur GRV für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen und Auszubildenden bemessen werden oder bei Versicherungspflicht in der GRV zu bemessen wären (vgl § 7 Abs 2 S 1 AGG). Die Beklagte bezog nach dem Gesamtzusammenhang der unangegriffenen Feststellungen des LSG im Rahmen ihrer zulässigen Schätzung (vgl dazu unten II.2.c) den Umlagesatz rechtmäßig in die Berechnung der Umlage ein. Die als "freie Mitarbeiter" Bezeichneten waren im Rechtssinne im Betrieb des Klägers beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.16(1) Wer Arbeitnehmer(in) iS von § 7 Abs 2 S 1 AAG ist, bestimmt sich nach den Grundsätzen des Arbeitsrechts. Das folgt aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und Regelungszweck. Das Gesetz knüpft mit Bedacht an die im Betrieb beschäftigten "Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen" und Auszubildenden an, nicht aber an die "Beschäftigten" (vgl zu Letzteren § 7 SGB IV). Nach den Gesetzesmaterialien übernimmt die Vorschrift die entsprechenden bisherigen Regelungen des § 14 LFZG aF und passt diese an die neue Rechtslage an. Die Regelung legt fest, dass die Mittel durch Umlagen von den betroffenen Arbeitgebern aufzubringen sind. Deshalb werden gesonderte Umlageverfahren "U1" (Ausgleich der Aufwendungen für die Entgeltfortzahlung) sowie "U2" (Ausgleich der Aufwendungen für die Mutterschaftsleistungen) durchgeführt (vgl Gesetzesentwurf der BReg eines AAG und zur Änderung weiterer Gesetze, BT-Drucks 16/39 S 13 zu § 7). Für § 14 LFZG aF war die Verwurzelung der Begriffe im Arbeitsrecht durch den Regelungszusammenhang mit der arbeitsrechtlichen Pflicht zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall anerkannt. Die Entgeltfortzahlungsversicherung des Arbeitgebers wurde im selben Gesetz geschaffen, in dem allen Arbeitern ein unabdingbarer arbeitsrechtlicher Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die ersten sechs Wochen einer Arbeitsverhinderung durch Krankheit eingeräumt wurde (LFZG vom 27.7.1969, BGBl I 946). Zwischen den beiden Regelungen bestand ein innerer Zusammenhang. Frühere Versuche, die Entgeltfortzahlung auf Arbeiter auszudehnen und dadurch die Privilegierung von Angestellten im Arbeitsrecht abzubauen, waren ua daran gescheitert, dass keine Möglichkeit gesehen wurde, die damit einhergehenden finanziellen Belastungen des Arbeitgebers in angemessener Weise aufzufangen (vgl Protokolle der 156. und 157. Sitzung des BT-Ausschusses für Sozialpolitik vom 2. und 3.5.1957, 2. Legislaturperiode zum Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung aller Arbeitnehmer im Krankheitsfall, BT-Drucks 2/1704). Insofern war der Arbeitgeberausgleich von Anfang an mit der Einführung der Entgeltfortzahlung speziell für Arbeiter verknüpft (vgl zB BSG Urteil vom 20.4.1999 - B 1 KR 1/97 R - Juris RdNr 13 = USK 9950; vgl auch BSG SozR 3-2400 § 28p Nr 1 = Juris RdNr 20; BSG Urteil vom 27.9.2005 - B 1 KR 1/04 R - USK 2005-29 = Juris RdNr 16). Eine entsprechende Verbindung bestand zwischen dem von der Umlage U2 abgedeckten Leistungsrecht und der Umlageversicherung. So setzte § 200 Abs 2 S 1 RVO aF voraus, dass die Schwangere bei Beginn der Schutzfrist des § 3 Abs 2 MuSchG in einem Arbeitsverhältnis im arbeitsrechtlichen Sinne steht oder ein solches Arbeitsverhältnis während ihrer Schwangerschaft vom Arbeitgeber zulässig aufgelöst wurde (vgl jetzt § 24i Abs 2 S 1 SGB V). Hingegen kam es nicht auf das Vorliegen oder die Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses iS von § 7 Abs 1 SGB IV an (vgl BSG SozR 4-2200 § 200 Nr 2 RdNr 26 mwN). Rspr und Literatur sahen die Begriffe des Arbeitsverhältnisses in § 200 RVO aF sowie in § 1 Nr 1 MuSchG als identisch an (vgl zB BSGE 45, 114, 116 = SozR 7830 § 13 Nr 3; BSG Urteil vom 24.11.1983 - 3 RK 35/82 - USK 83151; Höfler in Kasseler Komm, § 200 RVO RdNr 13, Stand Mai 2003; vgl zum Ganzen BSG SozR 4-2200 § 200 Nr 2 RdNr 26 mwN). Das strahlte entsprechend auf die Regelungen der Umlageversicherung aus. Die arbeitsrechtliche Prägung der Begriffe "Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen" entspricht schließlich dem Zweck der Umlage. Sie dient der Finanzierung der Erstattungsansprüche der beteiligten Arbeitgeber für Entgeltfortzahlungen nach § 3 Abs 1 und 2 und § 9 EntgFG (vgl § 1 Abs 1 AAG - U1-Verfahren) sowie für den nach § 14 MuSchG gezahlten Zuschuss zum Mutterschaftsgeld und für das nach § 11 MuSchG bei Beschäftigungsverboten gezahlte Arbeitsentgelt (vgl § 1 Abs 2 AAG - U2-Verfahren). Soweit das MuSchG künftig nicht mehr ua Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, sondern Frauen in einer Beschäftigung iS von § 7 Abs 1 SGB IV einbezieht, ist dies für die Umlagepflicht in den hier betroffenen Jahren 2006 bis 2008 ohne Belang (vgl zur künftigen Regelung § 1 Abs 2 S 1 MuSchG idF durch Art 1 Gesetz zur Neuregelung des Mutterschutzrechts vom 23.5.2017, BGBl I 1228 mWv 1.1.2018 und hierzu Begründung zum Entwurf der BReg eines Gesetzes zur Neuregelung des Mutterschutzrechts, BR-Drucks 230/16 S 51).17(2) Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Arbeitsrechts bestimmt sich nach wesentlich gleichen Kriterien wie der Begriff des Beschäftigten iS von § 7 Abs 1 SGB IV, wie bereits das LSG überzeugend ausgeführt hat. Das BAG grenzt in ständiger Rspr das Arbeitsverhältnis von dem Rechtsverhältnis eines freien Mitarbeiters nach dem Grad der persönlichen Abhängigkeit ab, in der sich der zur Dienstleistung Verpflichtete befindet. Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen. Arbeitnehmer ist derjenige Mitarbeiter, der nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann (vgl § 84 Abs 1 S 2, Abs 2 HGB). Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls in Betracht zu ziehen und in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Der jeweilige Vertragstyp ergibt sich aus dem wirklichen Geschäftsinhalt. Die zwingenden gesetzlichen Regelungen für Arbeitsverhältnisse können nicht dadurch abbedungen werden, dass die Parteien ihrem Arbeitsverhältnis eine andere Bezeichnung geben. Der objektive Geschäftsinhalt ist den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen und der praktischen Durchführung des Vertrags zu entnehmen. Widersprechen sich Vereinbarung und tatsächliche Durchführung, ist letztere maßgebend (vgl zB BAG Urteil vom 14.3.2007 - 5 AZR 499/06 - AP Nr 13 zu § 611 BGB Arbeitnehmerähnlichkeit = EzA § 611 BGB 2002 Arbeitnehmerbegriff Nr 10 = Juris RdNr 13 mwN; BAGE 143, 77 RdNr 14 f; vgl nunmehr auch § 611a BGB idF von Art 2 Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze vom 21.2.2017, BGBl I 258 mWv 1.4.2017).18Mangels Möglichkeit, allgemeingültige für alle Arbeitsverhältnisse geltende Kriterien aufzustellen, ist auf eine typologische Abgrenzung der unselbstständigen Arbeit zurückzugreifen (vgl zB BAGE 30, 163, 169 = AP Nr 26 zu § 611 BGB Abhängigkeit = Juris RdNr 26; BAG Urteil vom 23.4.1980 - 5 AZR 426/79 - AP Nr 34 zu § 611 BGB Abhängigkeit = EzA § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr 21 = Juris RdNr 23; BAGE 77, 226, 233 f = AP Nr 73 zu § 611 BGB Abhängigkeit = Juris RdNr 38). Letztlich kommt es auf eine Gesamtwürdigung aller maßgebenden Umstände des Einzelfalls an (stRspr, vgl zB BAG BAGE 93, 218, 223 = AP Nr 33 zu § 611 BGB Rundfunk = Juris RdNr 22 - Rundfunkmitarbeiter; BAGE 143, 77 RdNr 15; BAG Urteil vom 11.8.2015 - 9 AZR 98/14 - AP Nr 128 zu § 611 BGB Abhängigkeit = EzA § 611 BGB 2002 Arbeitnehmerbegriff Nr 28 = Juris RdNr 16 - Hochseilartisten, alle mwN).19In Abgrenzung von Arbeitsverhältnissen gegenüber freier Mitarbeit im Rahmen von Dienst- und Werkverträgen kann danach auch bei programmgestaltenden Mitarbeitern entgegen einer ausdrücklich getroffenen Vereinbarung ein Arbeitsverhältnis vorliegen, wenn sie weitgehenden inhaltlichen Weisungen unterliegen, ihnen also nur ein geringes Maß an Gestaltungsfreiheit, Eigeninitiative und Selbstständigkeit verbleibt, und der Sender innerhalb eines zeitlichen Rahmens über ihre Arbeitsleistung verfügen kann (stRspr, vgl zB BAG Urteil vom 14.3.2007 - 5 AZR 499/06 - RdNr 20 mwN - AP Nr 13 zu § 611 BGB Arbeitnehmerähnlichkeit = EzA BGB 2002 § 611 Arbeitnehmerbegriff Nr 10). Letzteres ist etwa der Fall, wenn ständige Dienstbereitschaft erwartet wird oder wenn der Mitarbeiter in nicht unerheblichem Umfang auch ohne entsprechende Vereinbarung herangezogen wird, ihm also die Arbeiten letztlich zugewiesen werden (vgl BAGE 93, 218, 224; zum Ganzen BAG Urteil vom 20.5.2009 - 5 AZR 31/08 - AP Nr 16 zu § 611 BGB Arbeitnehmerähnlichkeit = EzA § 611 BGB 2002 Arbeitnehmerbegriff Nr 15 = USK 2009-15 = Juris RdNr 22 mwN). Bei Arbeitsverhältnissen der programmgestaltenden Mitarbeiter der Rundfunkanstalten kann unter Berücksichtigung der für die Rundfunkanstalten durch die Rundfunkfreiheit (Art 5 Abs 1 S 2 GG) gewährleisteten Freiräume bei der Wahl des Arbeitsvertragsinhalts (vgl zB BAGE 119, 138 RdNr 10; BT-Drucks 14/4374 S 19) eine Befristung wegen der Art der Tätigkeit ohne Hinzutreten eines weiteren Sachgrundes vereinbart werden (vgl BAG Urteil vom 20.5.2009 - 5 AZR 31/08 - AP Nr 16 zu § 611 BGB Arbeitnehmerähnlichkeit = EzA § 611 BGB 2002 Arbeitnehmerbegriff Nr 15 = USK 2009-15 = Juris RdNr 22 mwN; zu § 14 Abs 1 S 2 Nr 4 Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge <TzBfG> vgl BAG Urteil vom 4.12.2013 - 7 AZR 457/12 - AP Nr 113 zu § 14 TzBfG = NZA 2014, 1018 = Juris RdNr 15, 32 mwN).20Vergleichbar setzt eine Beschäftigung (§ 7 Abs 1 SGB IV) nach der Rspr des BSG voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann - vornehmlich bei Diensten höherer Art - eingeschränkt und zur "funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess" verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild prägen (stRspr; vgl zB BSG SozR 4-2400 § 7 Nr 30 RdNr 21, auch für BSGE vorgesehen; BSG SozR 4-2400 § 7 Nr 21 RdNr 13 mwN; BSGE 111, 257 = SozR 4-2400 § 7 Nr 17, RdNr 15 mwN). Auch die Rspr des BSG geht von einem Typusbegriff der Beschäftigung aus (vgl zB BSGE 115, 158 = SozR 4-2500 § 186 Nr 4, RdNr 12 mwN; zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG SozR 3-2400 § 7 Nr 11). Er setzt grundsätzlich die tatsächliche Erbringung von Arbeit auf der Grundlage eines Rechtsverhältnisses voraus, das die Verpflichtung hierzu begründet (vgl zB BSGE 103, 17 = SozR 4-2400 § 7a Nr 2, RdNr 12 und zur Funktion RdNr 15 f mwN; daran anknüpfend etwa BSG Urteil vom 4.6.2009 - B 12 R 6/08 R - Juris RdNr 11, 15 = USK 2009-72). Teilweise lässt das Gesetz anstelle tatsächlicher Aufnahme entgeltlicher Tätigkeit auch den Erwerb von Ansprüchen auf Arbeitsentgelt ohne Tätigkeitsaufnahme genügen (vgl zu § 186 Abs 1 SGB V idF durch Art 3 Nr 3 Gesetz zur sozialen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen <FlexiG> vom 6.4.1998, BGBl I 688, rückwirkend in Kraft getreten zum 1.1.1998, vgl Art 12 Abs 1, Art 14 FlexiG, und die parallele Erweiterung der Regelung in § 7 Abs 1a SGB IV durch Art 1 Nr 1 FlexiG: BSGE 115, 158 = SozR 4-2500 § 186 Nr 4, RdNr 12 ff mwN).21Bei unständig Beschäftigten - wie etwa Synchronsprechern für Filme - stellt die Rspr des BSG für die Prüfung der Versicherungspflicht auf die Verhältnisse ab, die nach Annahme des einzelnen Einsatzangebots bestehen, wenn Anhaltspunkte dafür fehlen, dass zwischen dem Mitarbeiter und den Unternehmen eine Dauerrechtsbeziehung besteht, aufgrund derer er vor Annahme eines seiner Einsätze eine - ggf auch nur latente - Verpflichtung trifft, Tätigkeiten für diese auszuüben, oder dass umgekehrt eine Verpflichtung der Unternehmen besteht, dem Mitarbeiter Arbeit anzubieten oder Entgelt zu gewähren (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 31.3.2017 - B 12 KR 16/14 R - Juris RdNr 29 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Das schließt es nicht aus, dass ein Fernsehmitarbeiter auch an den Tagen, in denen er mit seiner Rundfunkanstalt keine Einsätze vereinbart hat, in einem Beschäftigungsverhältnis im leistungsrechtlichen Sinne steht, wenn trotz der jeweils monatlich befristet und für einzelne Einsatztage geschlossenen Arbeitsverträge er bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden auch in den Nichteinsatzzeiten einem umfassenden Weisungsrecht seiner Rundfunkanstalt untersteht. Er ist an diesen Tagen, obwohl eine Arbeitsleistung vertraglich nicht verlangt werden kann und er tatsächlich nicht arbeitet, nicht arbeitslos (vgl BSG Urteil vom 11.3.2014 - B 11 AL 5/13 R - NZS 2014, 436 RdNr 12 ff). Bei der Gesamtabwägung aller Indizien und Umstände berücksichtigt die Rspr des BSG die Grundrechte der Betroffenen, etwa die künstlerische Freiheit der Synchronsprecher bei der Gestaltung der Synchronisation und einen möglichen Schutz der auf die Synchronisation von Filmen gerichteten Tätigkeit nach Art 5 Abs 1 S 2 sowie Abs 3 GG (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 31.3.2017 - B 12 KR 16/14 R - Juris RdNr 30 f, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Sie grenzt Tätigkeiten aufgrund von Werkverträgen entsprechend der Rspr von BGH und BAG ab (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 31.3.2017 - B 12 KR 16/14 R - Juris RdNr 34 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).22(3) Verfassungsrecht gebietet speziell für Mitarbeiter der Rundfunkanstalten nicht, die genannten Grundanforderungen des Arbeits- und des Sozialrechts zu modifizieren. Der Schutz von Art 5 Abs 1 S 2 GG umfasst das Recht der Rundfunkanstalten, frei von fremdem, insbesondere staatlichem Einfluss über die Auswahl, Einstellung und Beschäftigung derjenigen Mitarbeiter zu bestimmen, die an Hörfunk- und Fernsehsendungen inhaltlich gestaltend mitwirken. Um der gebotenen Programmvielfalt gerecht werden zu können, müssen die Rundfunkanstalten auf einen breit gestreuten Kreis unterschiedlich geeigneter Mitarbeiter zurückgreifen können. Dies kann seinerseits voraussetzen, dass unterschiedliche Vertragsgestaltungen einsetzbar sind und dass die Mitarbeiter nicht auf Dauer, sondern nur für die Zeit beschäftigt werden, in der sie benötigt werden (vgl BVerfGE 59, 231, 259). Insofern umfasst der Schutz der Rundfunkfreiheit neben der Auswahl der Mitarbeiter die Befugnis, bei der Begründung von Mitarbeiterverhältnissen den jeweils geeigneten Vertragstyp zu wählen (vgl BVerfGE 59, 231, 260). Ihre Schranken findet die Rundfunkfreiheit allerdings nach Art 5 Abs 2 GG in den allgemeinen Gesetzen, zu denen die besonderen Bestimmungen des Arbeitsrechts gehören. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften haben die Arbeitsgerichte fallbezogen zwischen der Bedeutung der Rundfunkfreiheit auf der einen und dem Rang der von den Normen des Arbeitsrechts geschützten Rechtsgüter auf der anderen Seite abzuwägen (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 18.2.2000 - 1 BvR 491/93 ua - NZA 2000, 653 = Juris RdNr 14 ff; BAGE 119, 138 RdNr 11, 20 f; BAGE 132, 59 RdNr 38 mwN). Mit der Qualifizierung eines Mitarbeiters als Arbeitnehmer wird die Rundfunkfreiheit nur beeinträchtigt, wenn die verfügbaren Vertragsgestaltungen - wie Teilzeitbeschäftigungs- oder Befristungsabreden - zur Sicherung der Aktualität und Flexibilität der Berichterstattung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht in gleicher Weise geeignet sind wie die Beschäftigung in freier Mitarbeit (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom 18.2.2000 - 1 BvR 491/93 ua - NZA 2000, 653 = Juris RdNr 27; vgl zur gebotenen Abwägung im Einzelfall zB BAG Urteil vom 4.12.2013 - 7 AZR 457/12 - AP Nr 113 zu § 14 TzBfG = NZA 2014, 1018 = Juris RdNr 32 mwN).23Dass die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des Arbeitsrechts den sich aus Art 5 Abs 1 und 2 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung tragen, schließt es nicht von vornherein aus, von den für dieses Rechtsgebiet allgemein entwickelten Merkmalen abhängiger Arbeit auszugehen und, wenn diese für ein Arbeitsverhältnis sprechen, dem Einfluss der Rundfunkfreiheit dadurch gerecht zu werden, dass einzelne gegen eine Befristung sprechende Merkmale zurückzutreten haben. Auf andere Rechtsvorschriften, die der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer dienen, wie namentlich diejenigen des Sozialversicherungsrechts, lässt sie sich nicht erstrecken (vgl BVerfGE 59, 231, 268). Diese verfassungsrechtlichen Wertungen stehen einer parallelen Wertung für die Einordnung einer Tätigkeit als Beschäftigung (§ 7 Abs 1 SGB IV) und als auf einem Arbeitsverhältnis beruhend nicht entgegen.24(4) Nach den aufgezeigten Grundsätzen gibt es in tatsächlicher Hinsicht regelmäßig keine Anhaltspunkte dafür, einen Mitarbeiter einer Rundfunkanstalt, den diese im Rahmen ihrer sozialversicherungsrechtlichen Pflichten als abhängig beschäftigt meldet und für den sie dementsprechend Beiträge abführt, hinsichtlich der Umlage U2 als selbstständigen freien Mitarbeiter zu qualifizieren, der nicht in einem Arbeitsverhältnis steht. Die anerkannten Fallgruppen, bei denen die Begriffe des Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnisses auseinanderfallen, betreffen andere Konstellationen wie etwa die Tätigkeiten als Ehrenbeamter oder Referendar. Es widerspricht dem nicht, dass das MuSchG ab 1.1.2018 ua auch für Frauen gilt, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbstständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind, diese aber weitgehend von den leistungsrechtlichen Regelungen ausnimmt (vgl § 1 Abs 2 S 2 Nr 7 MuSchG idF durch Art 1 Gesetz zur Neuregelung des Mutterschutzrechts vom 23.5.2017, BGBl I 1228).25Macht eine Rundfunkanstalt als Arbeitgeber bei einer Betriebsprüfung geltend, eine Gruppe ihrer Mitarbeiter stehe korrekt in einem Beschäftigungs-, nicht aber in einem Arbeitsverhältnis, muss sie die tatsächlichen Umstände darlegen, welche sie entsprechend § 8 Abs 1 Nr 9 Verordnung über die Berechnung, Zahlung, Weiterleitung, Abrechnung und Prüfung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages (Beitragsverfahrensverordnung <BVV> vom 3.5.2006, BGBl I 1138 mWv 1.7.2006; vgl dem entsprechend zuvor § 2 Abs 1 Nr 6 Verordnung über die Durchführung der Beitragsüberwachung und die Auskunfts- und Vorlagepflichten - Beitragsüberwachungsverordnung <BeitrÜV> idF durch Art 64 Nr 1 Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung <RVOrgG> vom 9.12.2004, BGBl I 3242 mWv 1.10.2005) hinsichtlich der vermeintlichen Umlagefreiheit dokumentiert hat. Ein bloßer Hinweis auf den Blankettbegriff eines freien Mitarbeiterverhältnisses trotz Beitragsabführung wegen nach eigener Auffassung bestehender abhängiger Beschäftigung und Meldung des Mitarbeiters als Angestellter vermag den hierdurch hervorgerufenen Eindruck nicht zu entkräften. Es ist sachgerecht Aufgabe des Arbeitgebers, die ihm wohlbekannten, der Einzugsstelle und der für die Betriebsprüfung zuständigen Stelle aber genuin unbekannten Tatsachen zum Bestehen oder Fehlen eines Arbeitsverhältnisses zu dokumentieren und zu offenbaren, um eine Überprüfung zu ermöglichen.26(5) Der Kläger hat sich demgegenüber bis zum Revisionsverfahren allein auf den abstrakten Hinweis an die Beklagte beschränkt, mangels völliger Identität von Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnis lägen die Verhältnisse seiner Mitarbeiter, deren Arbeitsentgelte von der Beklagten bei der Erhebung der U2-Umlage zusätzlich berücksichtigt wurden, insoweit unterschiedlich. Das LSG würdigte dies bereits dahin (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), dass die betroffenen Mitarbeiter sowohl Beschäftigte im sozialversicherungsrechtlichen Sinne als auch Arbeitnehmer im arbeitsrechtlichen Sinne waren. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.27Das LSG hat die zugrunde liegenden Feststellungen entgegen der Ansicht des Klägers in revisionsrechtlicher Hinsicht verfahrensfehlerfrei getroffen. Es durfte das gesamte Verhalten des Klägers unter Einbeziehung der für alle Beteiligten im Kern klaren Rechtsfragen, seiner Meldungen, seiner Beitragsabführung und seiner Angaben anlässlich der Betriebsprüfung und des sich anschließenden Rechtsstreits würdigen (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG). Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG, der ganz weitgehenden Übereinstimmung der Voraussetzungen eines Beschäftigungs- und eines Arbeitsverhältnisses ohne relevante Abweichungen bei Mitarbeitern einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt, drängte sich keine weitere Beweiserhebung auf. Insbesondere hatte das LSG entgegen der Rechtsauffassung des Klägers ausgehend von seiner materiell-rechtlichen Auffassung keinen Anlass, in eine Einzelprüfung der einzelnen Rechtsverhältnisse der Mitarbeiter einzutreten. Es war auch in keiner Weise für die Beteiligten überraschend, dass das LSG umfassend auf die durch das Verhalten des Klägers dokumentierten Verhältnisse der Mitarbeiter abstellte. Ein Urteil darf zwar nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (vgl zB BVerfGK 1, 211 = Juris RdNr 11 f mwN). Der Grundsatz soll indes lediglich verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Auffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. In diesem Rahmen besteht jedoch kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichtet, die Beteiligten vor einem Urteil auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BSG Beschluss vom 17.10.2006 - B 1 KR 104/06 B - Juris RdNr 9). Ebenso wenig muss das Gericht die Beteiligten auf alle nur möglichen Gesichtspunkte hinweisen und vorab seine Rechtsauffassung zur Rechtssache bzw zu den Erfolgsaussichten zu erkennen geben (vgl zB BSG Beschluss vom 10.8.2007 - B 1 KR 58/07 B - Juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 7.2.2013 - B 1 KR 68/12 B - Juris RdNr 8 mwN; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand April 2017, § 105 RdNr 9a mwN).28c) Die Beklagte erteilte rechtmäßig einen Summenbescheid mit der Folge einer Nachzahlungspflicht in Höhe von 198 881,14 Euro. Die Voraussetzungen hierfür (vgl § 28f Abs 2 S 1 SGB IV; § 10 AAG) waren erfüllt. Danach kann der prüfende Träger der GRV den Umlagebeitrag von der Summe der vom Arbeitgeber gezahlten Arbeitsentgelte geltend machen, wenn ein Arbeitgeber die Aufzeichnungspflicht nicht ordnungsgemäß erfüllt hat und dadurch ua die Beitragshöhe nicht festgestellt werden kann. Dies gilt nicht, soweit ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand festgestellt werden kann, dass Beiträge nicht zu zahlen waren oder Arbeitsentgelt einem bestimmten Beschäftigten zugeordnet werden kann. Soweit der prüfende Träger der GRV die Höhe der Arbeitsentgelte nicht oder nicht ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand ermitteln kann, hat er diese zu schätzen.29Zu Recht hat das LSG diese Voraussetzungen nach seinen Feststellungen als erfüllt angesehen. Die Erhebung der Umlage nach § 7 Abs 2 AAG für das U2-Verfahren (dazu aa) erstreckt sich nicht auf die Einmalzahlungen iS des § 23a SGB IV. Dies folgt aus Regelungssystem und -zweck (dazu bb) in Einklang mit der Entstehungsgeschichte (dazu cc). Der Wortlaut steht nicht entgegen (dazu dd). Die Beklagte durfte mangels vorgelegter Aufzeichnungen über die Einmalzahlungen die relevanten Lohnsummen schätzen (dazu ee) und von der Zulässigkeit eines Summenbescheides ausgehen (dazu ff).30aa) § 7 AAG regelt in seiner ursprünglichen Fassung (durch Art 1 AAG und zur Änderung weiterer Gesetze vom 22.12.2005, BGBl I 3686, nach Art 4 S 1 des Gesetzes mWv 1.10.2005 in Kraft getreten, vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 183 Nr 9 RdNr 15) nebst nachfolgender Änderung (§ 7 AAG idF durch Art 10 Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung vom 24.4.2006, BGBl I 926 mWv 1.1.2007) im Kontext der Ansprüche auf Erstattung der Arbeitgeberaufwendungen nach § 1 AAG (U1- und U2-Verfahren) deren Finanzierung durch Umlagen. Sie sind von den an den Ausgleichsverfahren beteiligten Arbeitgebern jeweils getrennt nach U1 und U2 zu erheben (vgl oben, Abs 1) und bemessen sich nach einem Umlagesatz (vgl oben, Abs 2 S 1). Bei der Berechnung der Umlage für Aufwendungen nach § 1 Abs 1 AAG sind Entgelte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, deren Beschäftigungsverhältnis bei einem Arbeitgeber nicht länger als vier Wochen besteht und bei denen wegen der Art des Beschäftigungsverhältnisses auf Grund des § 3 Abs 3 EntgFG kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entstehen kann, sowie einmalig gezahlte Arbeitsentgelte nach § 23a SGB IV nicht zu berücksichtigen (§ 7 Abs 2 S 2 AAG).31bb) Der Gesetzgeber nahm mit der Regelung des § 7 Abs 2 S 2 AAG die durch den Beschluss des BVerfG vom 24.5.2000 (BVerfGE 102, 127 = SozR 3-2400 § 23a Nr 1) auch bei § 14 Abs 2 LFZG aF gebotene, aber durch das Gesetz zur Neuregelung der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt (Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz vom 21.12.2000, BGBl I 1971) noch unterbliebene Änderung der Regelungen über die umlagepflichtigen Arbeitsentgelte vor. Er wollte umfassend Einmalzahlungen iS von § 23a SGB IV von der Umlagepflicht ausnehmen. Nach der Rspr des BVerfG gebietet es der Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG), einmalig gezahltes Arbeitsentgelt bei der Berechnung von kurzfristigen beitragsfinanzierten Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld und Krankengeld zu berücksichtigen, wenn es zu Sozialversicherungsbeiträgen herangezogen wird (vgl BVerfGE 102, 127, 143 f = SozR 3-2400 § 23a Nr 1 S 4 f und LS 1 unter Hinweis auf BVerfGE 92, 53 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6). Umgekehrt darf der Gesetzgeber Einmalzahlungen auch umfassend ausklammern (vgl BVerfGE 92, 53, 73 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6 S 22; BVerfGE 102, 127, 141 f = SozR 3-2400 § 23a Nr 1 S 3). Abweichend von diesen Vorgaben unterwarfen die Regelungen des § 14 Abs 2 S 1 und 2 LFZG aF Einmalzahlungen an die Arbeitnehmer der Umlagepflicht, während die Leistungsregelungen des MuSchG Einmalzahlungen nicht berücksichtigen (vgl ausdrücklich § 14 Abs 1 S 4 MuSchG; zu § 11 MuSchG sich für einen Ausschluss im Grundsatz aussprechend BSG SozR 3-7860 § 10 Nr 2 S 9 f; s ferner in diesem Sinne BSGE 25, 69, zur Auslegung des Durchschnittsverdiensts nach § 13 MuSchG aF; auch grundsätzlich für den Ausschluss von Einmalzahlungen: Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung - Krankengeld - Mutterschaftsgeld, Stand Mai 2017, § 11 MuSchG RdNr 144 f mwN).32cc) Die Regelungsabsicht folgt aus der Gesetzesbegründung (vgl Entwurf der BReg eines AAG und zur Änderung weiterer Gesetze, BT-Drucks 16/39 S 13 zu § 7 Abs 2). Hiernach regelt der Gesetzesentwurf, dessen Wortlaut der späteren Gesetzesfassung entsprach, "dass bei der Berechnung der Umlagen 'U1' und 'U2' Einmalzahlungen" nach § 23a SGB IV "außer Betracht bleiben". Dies sei deshalb geboten, weil bei der Erstattung nach § 1 AAG auf das tatsächlich fortgezahlte Arbeitsentgelt abgestellt werde, sodass Einmalzahlungen bei der Höhe des erstattungsfähigen Arbeitsentgelts nicht zu berücksichtigen seien. Um ein Ungleichgewicht zwischen Beitrag und Leistung zu verhindern, müssten die entsprechenden Zahlungen daher auch bei der Bemessung der Umlage außer Betracht bleiben.33dd) Der Wortlaut des § 7 Abs 2 S 2 Halbs 2 AAG bezieht sich zwar mit seinem Satzteil "sowie einmalig gezahlte Arbeitsentgelte …" grammatikalisch lediglich auf Fälle des § 1 Abs 1 AAG. Bei diesem syntaktischen Mangel handelt es sich aber offenkundig lediglich um redaktionelles Versehen. Andernfalls wäre die beabsichtigte verfassungsrechtlich gebotene Neuregelung nur teilweise erfolgt. Der methodisch zulässigen verfassungskonformen Auslegung folgt auch die Verwaltungspraxis.34ee) Die Beklagte schätzte die Nachzahlung rechtmäßig auf 198 881,14 Euro. Die Einmalzahlungen, die für die Umlage U2 nicht zum beitragspflichtigen Arbeitsentgelt der beschäftigten Arbeitnehmer gehörten, hatte der Kläger in die nach § 28f Abs 1 SGB IV zu führenden Lohnunterlagen aufzunehmen (vgl § 2 Abs 1 S 1 Nr 7, 8 BeitrÜV; § 8 Abs 1 Nr 10 BVV). Solche Aufzeichnungen konnte der Kläger für die Jahre 2006 bis 2008 bei der Betriebsprüfung im Frühjahr 2009 nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG nicht vorweisen. Dies genügt, um von der nicht ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufzeichnungspflicht auszugehen. Auf ein Verschulden kommt es hierbei nicht an (vgl zum Ganzen BSGE 89, 158, 161 = SozR 3-2400 § 28f Nr 3 S 6). Ohne Kenntnis der Einmalzahlungen konnte die Beklagte den Nachzahlungsbetrag nicht berechnen, sondern nur schätzen.35ff) Die Beklagte durfte es als rechtmäßig ansehen, einen Summenbescheid zu erlassen (vgl entsprechend BSGE 89, 158, 161 = SozR 3-2400 § 28f Nr 3 S 7). Zutreffend hob sie darauf ab, dass eine personenbezogene Beitragsbemessung für den einzelnen Arbeitnehmer leistungsrechtlich keine Bedeutung hatte. Sie durfte auch angesichts der Vielzahl der Fälle für einen Zeitraum von insgesamt drei Jahren von einem unverhältnismäßig großen Aufwand von Einzelermittlungen ausgehen und bei dieser Gesamtsituation die zum Summenbescheid getroffene Übereinkunft mit dem Kläger berücksichtigen.36d) Es widerspricht schließlich nicht Verfassungsrecht, dass die Umlage U2 im Ergebnis begrenzt durch die Beitragsbemessungsgrenze in einem Umlagesatz festzusetzen ist, nach dem die Beiträge zur GRV für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen und Auszubildenden bemessen werden oder bei Versicherungspflicht in der GRV zu bemessen wären (offengelassen in BSG SozR 4-7862 § 9 Nr 3 RdNr 29). Die Begrenzung der umlagepflichtigen Arbeitsentgelte durch die Beitragsbemessungsgrenze verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG; zu dessen Anforderungen vgl aa). Die Beitragsbemessungsgrenze begründet zwar eine Ungleichbehandlung (dazu bb), die aber sachlich gerechtfertigt ist (dazu cc). Die in der Rspr des erkennenden Senats bereits angesprochenen Gesichtspunkte der Verwaltungspraktikabilität und stärkeren Lastenverteilung zwischen den Arbeitgebern - im Gegensatz zur Verwendung der in der GKV geltenden Beitragsbemessungsgrundlage - (vgl BSG SozR 4-7862 § 9 Nr 3 RdNr 29) schließen im Verbund mit dem Gesichtspunkt der die Sozialversicherung als Strukturmerkmal prägenden - wenngleich in ihren Einzelheiten unterschiedlich ausgestalteten - Beitragsbemessungsgrenze eine sachwidrige Ungleichbehandlung aus.37aa) Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (BSGE 102, 30 = SozR 4-2500 § 34 Nr 4, RdNr 12; BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 7 RdNr 23; BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55 mwN; BVerfGE 117, 316, 325 = SozR 4-2500 § 27a Nr 3 RdNr 31, stRspr).38bb) Die nach § 7 Abs 2 S 1 AAG maßgebliche Begrenzung der Umlagepflicht im U2-Verfahren auf Arbeitsentgelte bis zur Beitragsbemessungsgrenze der GRV (§§ 159, 160, 228a SGB VI) behandelt die umlagepflichtigen Arbeitgeber ungleich. Je höher der Anteil der Arbeitnehmer eines Arbeitgebers ist, deren Arbeitsentgelt die GRV-Beitragsbemessungsgrenze überschreitet, desto größer ist der prozentuale Anteil der umlagefreien Arbeitsentgeltanteile eines Arbeitgebers am gesamten von ihm gezahlten Arbeitsentgelt. Wären auch die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegenden umlagefreien Arbeitsentgeltanteile umlagepflichtig, hätte dies zur Folge, dass die von den Arbeitgebern gezahlten Arbeitsentgeltsummen relativ, nämlich entsprechend dem Umlagesatz, gleich behandelt würden. Arbeitgeber mit nur umlagepflichtigen Arbeitsentgelten oder geringeren umlagefreien Arbeitsentgeltanteilen würden durch eine umfassende Umlagepflicht wirtschaftlich geringer belastet. Denn die Arbeitgeber mit höherverdienenden Arbeitnehmern würden verstärkt dazu herangezogen, das zur Erstattung der Arbeitgeberaufwendungen erforderliche finanzielle Volumen bereitzustellen.39cc) Die Ungleichbehandlung aufgrund der Begrenzung der Umlagepflicht auf die Beitragsbemessungsgrenze der GRV ist nicht sachwidrig. Die Begrenzung harmonisiert verwaltungspraktikabel die Berechnung der Umlage für die Arbeitgeber und den Einzug der Umlagebeträge durch die KKn als Träger des Ausgleichs der Arbeitgeberaufwendungen (vgl BSG SozR 4-7862 § 9 Nr 3 RdNr 29). Sie bewirkt eine stärkere Lastenverteilung zwischen den Arbeitgebern, als es bei Verwendung der in der GKV geltenden Beitragsbemessungsgrundlage der Fall wäre (vgl BSG SozR 4-7862 § 9 Nr 3 RdNr 29). Die Rspr zieht die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit von Beitragsbemessungsgrenzen als Strukturmerkmal nicht in Zweifel (vgl zB BVerfGE 29, 221 = SozR Nr 7 zu Art 2 GG; BVerfGK 12, 81 = Juris RdNr 11; inzident BSG SozR 3-2500 § 308 Nr 1). Das Ausmaß der Auswirkungen der genannten Grenze auf die Umlage U2 ist insgesamt gering. Die Zahl der Arbeitnehmer mit Arbeitsentgelten oberhalb der GRV-Beitragsbemessungsgrenze ist im Vergleich zu den Arbeitnehmern mit Entgelten bis zur Beitragsbemessungsgrenze überschaubar (zB 2014 nur 4,83 vH der Beschäftigten in Deutschland mit einem Bruttomonatsverdienst oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze der GRV). Die betroffenen Summen der oberhalb der GRV-Beitragsbemessungsgrenze liegenden Arbeitsentgeltanteile im Vergleich zur Summe aller Arbeitsentgelte bis zur Beitragsbemessungsgrenze sind unter Berücksichtigung der niedrigen Umlagesätze des U2-Verfahrens begrenzt (bei den Beigeladenen im Zeitraum 2006 bis 2008 zwischen 0,05 und 0,5 Prozent).403. Der Ausspruch, der Kläger habe ab dem 1.1.2009 rückwirkend eine Korrekturberechnung vorzunehmen, ist ein zutreffender Hinweis auf die Rechtslage, der den Kläger nicht beschwert. Der Hinweis entspricht der Rechtsauffassung, die dem rechtmäßigen Summenbescheid für den vorangegangenen Zeitraum zugrunde liegt. Ein eigenständiger Regelungsgehalt ist dem Hinweis nicht zu entnehmen.414. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG. Der Kläger zählt im Streit über die Umlagepflicht nach dem AAG zu den kostenprivilegierten Beteiligten (vgl entsprechend BSG SozR 4-1500 § 183 Nr 9 RdNr 22-23; BSGE 121, 185 = SozR 4-7862 § 11 Nr 1, RdNr 20; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 183 Nr 3 RdNr 8 f). RechtsgebieteAufAG, SGBVorschriften§ 1 AufAG, § 7 AufAG, § 10 AufAG, § 7 Abs. 1 SGB 4, § 23a SGB 4
bundessozialgericht
bsg_48 - 2019
08.10.2019
Keine aktienrechtliche Schweigepflicht einer Krankenkassen-Arbeitsgemeinschaft gegenüber der Aufsichtsbehörde Ausgabejahr 2019 Nummer 48 Datum 08.10.2019 Ein Zusammenschluss von Krankenkassen zu einer Arbeitsgemeinschaft in der Rechtsform der Aktiengesellschaft darf gegenüber aufsichtsbehördlichen Auskunftsverlangen nicht aufgrund aktienrechtlicher Pflichten schweigen. Dies hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts heute entschieden und die Revision der beigeladenen Aktiengesellschaft zurückgewiesen (Aktenzeichen B 1 A 1/19 R). Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse, ist zusammen mit anderen Krankenkassen Aktionärin der beigeladenen Aktiengesellschaft. Diese führt als Arbeitsgemeinschaft insbesondere strukturierte Behandlungsprogramme bei Versicherten durch. Die beklagte Bundesrepublik forderte als Aufsichtsbehörde vergeblich von der Aktiengesellschaft und einer Aktionärin Auskünfte. Diese beriefen sich auf aktienrechtliche Schweigepflichten. Die Beklagte verpflichtete die Klägerin und alle anderen bundesunmittelbaren Krankenkassen, die Aktionäre der Beigeladenen waren, die Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden gegenüber der Beigeladenen anzuerkennen und auf die Aufnahme einer Bestimmung in die Satzung der Beigeladenen hinzuwirken, wonach diese Auskunfts- und Vorlageansprüche der für ihre Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörden erfüllen werde. Die dagegen erhobene Klage ist erfolglos geblieben. Der Senat hat die Revision der beigeladenen Aktiengesellschaft zurückgewiesen. Die Beigeladene muss als der Aufsicht der Beklagten unterliegende Arbeitsgemeinschaft deren Auskunftsansprüche erfüllen und die Aufsicht über ihre Aktionäre, die Krankenkassen, ermöglichen. Die satzungsmäßige Verankerung der Informationspflichten sichert die wirksame Aufsicht, indem sie die gesetzlichen Pflichten verdeutlicht. Die aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten stehen dem nicht entgegen. Sie finden dort ihre Grenze, wo eine gesetzliche Offenlegungspflicht besteht. Hierzu gehören auch Auskunftsrechte der Aufsichtsbehörden. Hinweis auf Rechtsvorschriften: § 94 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsgemeinschaften … (1a) 1Träger der Sozialversicherung, Verbände von Trägern der Sozialversicherung und die Bundesagentur für Arbeit einschließlich der in § 19a Abs. 2 des Ersten Buches genannten anderen Leistungsträger können insbesondere zur gegenseitigen Unterrichtung, Abstimmung, Koordinierung und Förderung der engen Zusammenarbeit im Rahmen der ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben Arbeitsgemeinschaften bilden. 2Die Aufsichtsbehörde ist vor der Bildung von Arbeitsgemeinschaften und dem Beitritt zu ihnen so rechtzeitig und umfassend zu unterrichten, dass ihr ausreichend Zeit zur Prüfung bleibt. 3Die Aufsichtsbehörde kann auf eine Unterrichtung verzichten. (2) 1Können nach diesem Gesetzbuch Arbeitsgemeinschaften gebildet werden, unterliegen diese staatlicher Aufsicht, die sich auf die Beachtung von Gesetz und sonstigem Recht erstreckt, das für die Arbeitsgemeinschaften, die Leistungsträger und ihre Verbände maßgebend ist; die §§ 85, 88, 90 und 90a des Vierten Buches gelten entsprechend; ist ein Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen oder die Bundesagentur für Arbeit Mitglied einer Arbeitsgemeinschaft, führt das zuständige Bundesministerium in Abstimmung mit den für die übrigen Mitglieder zuständigen Aufsichtsbehörden die Aufsicht. 2Fehlt ein Zuständigkeitsbereich im Sinne von § 90 des Vierten Buches, führen die Aufsicht die für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörden oder die von der Landesregierung durch Rechtsverordnung bestimmten Behörden des Landes, in dem die Arbeitsgemeinschaften ihren Sitz haben; die Landesregierungen können diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die obersten Landesbehörden weiter übertragen. § 93 Aktiengesetz - Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder 1) 1Die Vorstandsmitglieder haben bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. 2Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. 3Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Vorstandsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren. 4Die Pflicht des Satzes 3 gilt nicht gegenüber einer nach § 342b des Handelsgesetzbuchs anerkannten Prüfstelle im Rahmen einer von dieser durchgeführten Prüfung. … § 116 Aktiengesetz - Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder 1Für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder gilt § 93 mit Ausnahme des Absatzes 2 Satz 3 über die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder sinngemäß. 2Die Aufsichtsratsmitglieder sind insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet. 3Sie sind namentlich zum Ersatz verpflichtet, wenn sie eine unangemessene Vergütung festsetzen (§ 87 Absatz 1).
Bundessozialgericht Urteil vom 08.10.2019, B 1 A 1/19 R Aufsichtsrecht - Krankenversicherung - Zusammenschluss von Krankenkassen zu Arbeitsgemeinschaft in Rechtsform der Aktiengesellschaft - aufsichtsbehördliches Auskunftsverlagen - Entziehung nicht aufgrund aktienrechtlicher Verschwiegenheitspflichten LeitsätzeEin Zusammenschluss von Krankenkassen zu einer Arbeitsgemeinschaft in der Rechtsform der Aktiengesellschaft kann sich aufsichtsbehördlichen Auskunftsverlangen nicht aufgrund aktienrechtlicher Verschwiegenheitspflichten entziehen. TenorDie Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2018 wird zurückgewiesen. Die Beigeladene trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Die Klägerin und die Beigeladene tragen die Kosten des Klageverfahrens als Gesamtschuldner. Der Streitwert für beide Instanzen wird auf 250 000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten über eine Aufsichtsmaßnahme der beklagten Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesversicherungsamt (BVA). Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse (BKK), gründete zusammen mit dem Bundesverband der BKKn, weiteren BKKn und der Rechtsvorgängerin der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (DRV KBS) die beigeladene Aktiengesellschaft (AG) insbesondere zur Durchführung strukturierter Behandlungsprogramme (Disease-Management-Programme - DMP). Zum Stichtag 30.6.2012 waren fünfzehn BKKn - darunter vierzehn bundesunmittelbare KKn - und die DRV KBS Aktionäre der Beigeladenen. Die Beklagte vertrat unter Hinweis auf Rspr des BSG (Urteil vom 16.11.2005 - B 2 U 14/04 R - juris) die Auffassung, die Beigeladene unterliege als Arbeitsgemeinschaft (ARGE) (§ 94 Abs 1a SGB X) ihrer staatlichen Aufsicht. Sie forderte die Beigeladene erfolglos auf, ihre eigenen Prüfrechte und die Prüfrechte der für ihre Aktionäre zuständigen Aufsichtsbehörden in die Satzung zu integrieren (ua Schreiben vom 29.6.2009). Nach erfolgloser aufsichtsrechtlicher Beratung (Schreiben vom 30.7.2012) verpflichtete die Beklagte in gesonderten zeitgleichen Bescheiden alle bundesunmittelbaren KKn, die Aktionäre der Beigeladenen waren, darunter die Klägerin, "1. die umfassenden Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der M. AG (Arbeitsgemeinschaft in Form einer Beteiligtengesellschaft) schriftlich anzuerkennen. Die Bestätigung ist dem Bundesversicherungsamt bis zum 26.10.2012 abzugeben, 2. gemeinsam mit den übrigen bundesunmittelbaren Aktionären eine Ergänzung der Tagesordnung der stattfindenden nächsten Hauptversammlung dahingehend zu verlangen, dass ein entsprechender Antrag auf Satzungsänderung eingereicht wird, der die Aufnahme der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden vorsieht. Die Bertelsmann BKK wird sich im Rahmen der späteren Abstimmung mit der Aufnahme der folgenden Bestimmungen in der Satzung der M. AG einverstanden erklären: Die Gesellschaft hat der für einen oder mehrere Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörde bzw. deren Beauftragten auf Verlangen alle Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts über die Gesellschaft aufgrund pflichtgemäßer Prüfung gefordert werden. Der Beschluss der Hauptversammlung über die Satzungsänderung ist dem Bundesversicherungsamt bis zum 15.1.2013 vorzulegen" (Bescheid vom 2.10.2012). Die Klägerin ist mit ihrer als Musterstreitverfahren geführten Klage gerichtet auf Aufhebung des Verpflichtungsbescheides, hilfsweise auf Feststellung, dass der Bescheid rechtswidrig war, erfolglos geblieben. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Hauptantrag sei unzulässig. Die angegriffene Maßnahme habe sich mit Ablauf der in ihr vorgegebenen Fristen erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Die hilfsweise erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage sei zulässig, aber unbegründet. Die Auflage habe mit dem maßgeblichen Aufsichtsrecht in Einklang gestanden. Die Beigeladene habe als ARGE iSv §§ 94 SGB X, 219 Abs 1 SGB V unter staatlicher Aufsicht gestanden. Die sich hieraus ergebenden Vorlage- und Auskunftspflichten seien nicht durch die Vorstand und Aufsichtsrat einer AG obliegende Verschwiegenheitspflicht (§§ 93, 116 AktG) ausgeschlossen oder beschränkt (Urteil vom 21.2.2018). Die Beigeladene rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 94 Abs 1a SGB X iVm § 85 und § 88 SGB IV sowie § 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 2 AktG und von Verfahrensrecht. Der streitgegenständliche Bescheid habe sich nicht erledigt. Es handele sich um einen Verpflichtungsbescheid mit Dauerwirkung. Maßgeblich sei die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Zu diesem Zeitpunkt sei sie aufgrund inzwischen eingetretener tatsächlicher Veränderungen (Tätigkeit nicht nur für Träger der Sozialversicherung; privater Aktionär) keine ARGE (mehr) gewesen und habe nicht (mehr) der Aufsicht der Beklagten unterstanden. Zudem habe die Beklagte den Grundsatz der Rücksichtnahme und der maßvollen Aufsicht sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt: Es sei ausreichend, wenn sich die Beklagte auf die Prüfung beschränke, ob die Aktionäre, die gesetzliche KKn seien, ihre Prüfpflichten gegenüber der Beigeladenen wahrnähmen. Einer umfassenden Aufsicht stünden die zwingenden aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflichten entgegen. Die Beigeladene beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 2012 aufzuheben, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Februar 2018 aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 2012 rechtswidrig gewesen ist. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Klägerin stellt keinen Antrag. EntscheidungsgründeDie Revision der Beigeladenen ist zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Aufsichtsklage (§ 54 Abs 3 SGG) gegen die Aufsichtsanordnung der beklagten Bundesrepublik Deutschland ist zulässig (dazu 2.), aber unbegründet. Die Beklagte verpflichtete rechtmäßig die Klägerin, die umfassenden Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der Beigeladenen anzuerkennen und in der Hauptversammlung der Beigeladenen - gemeinsam mit den anderen bundesunmittelbaren Aktionären - darauf hinzuwirken, dass die Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden in der Satzung der Beigeladenen verankert werden (dazu 3.). 1. Die Revision der Beigeladenen ist zulässig. Die Revisionsbegründung entspricht insbesondere den Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG (dazu a). Der Beigeladenen fehlt es auch nicht an der erforderlichen Rechtsmittelbefugnis (dazu b). a) Gemäß § 164 Abs 2 Satz 1 SGG ist die Revision fristgerecht zu begründen. Nach Satz 3 dieser Vorschrift muss die Begründung "einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben". Die Revisionsbegründung der Beigeladenen genügt diesen bindend vorgegebenen Anforderungen auch insoweit, als sie sinngemäß eine Verfahrensrüge erhebt (zu den Anforderungen vgl zB BSG SozR 4-5562 § 2 Nr 1 mwN). Die Beigeladene rügt, das LSG sei rechtsfehlerhaft von einer Erledigung der Aufsichtsanordnung (§ 39 Abs 2 SGB X) ausgegangen. Die in dem Bescheid enthaltenen Fristen seien Fristen zur Erfüllung der von der Beklagten gesetzten Auflagen und verfahrensrechtlich Voraussetzung für Vollstreckungsmaßnahmen. Sie macht schlüssig geltend, das LSG habe zu Unrecht über das Anfechtungsbegehren durch Prozessurteil entschieden und ihr insoweit eine Sachentscheidung verwehrt (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 55 S 73; BSG Beschluss vom 5.4.2018 - B 1 KR 102/17 B - juris RdNr 9 mwN). Eine nähere Darlegung der den Verfahrensverstoß begründenden Tatsachen ist hierfür nicht erforderlich, da sich diese aus dem Urteil selbst ergeben (vgl BFH GrS BFHE 196, 39 = BStBl II 2001, 802 = juris RdNr 73 mwN; vgl auch BSG GrS Beschluss vom 13.6.2018 - GS 1/17 - NZS 2019, 264 = juris, RdNr 37 zur Sachrüge; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 164 Anm 27). b) Die Beigeladene kann als Beteiligte des Verfahrens (§ 69 Nr 3 SGG) gemäß § 75 Abs 4, § 160 Abs 1 SGG selbstständig Revision einlegen. Die Beigeladene ist durch das LSG-Urteil - wie für das Rechtsmittel eines Beigeladenen erforderlich (vgl etwa BSGE 118, 30 = SozR 4-2500 § 85 Nr 81, RdNr 14 mwN, BSG SozR 4-2500 § 5 Nr 27 RdNr 17 f) - nicht nur formell, sondern auch materiell beschwert. Das Vorliegen einer materiellen Beschwer erfordert, dass die angefochtene Entscheidung geeignet ist, beim Rechtsmittelführenden eine Rechtsverletzung iS des § 54 Abs 1 Satz 2 SGG zu bewirken, wobei es auf zuvor gestellte Anträge nicht ankommt (vgl Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 160 Anm 4a; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 75 RdNr 19, Leitherer, aaO, Vor § 143 RdNr 4a, 8). Dies setzt voraus, dass die Beigeladene aufgrund der Bindungswirkung des angefochtenen Urteils unmittelbar in ihren subjektiven Rechten beeinträchtigt werden kann. Mithin muss sich die mögliche Belastung aus der Rechtskraftwirkung des § 141 Abs 1 Nr 1 SGG ergeben (stRspr, vgl etwa BSGE 111, 79 = SozR 4-3520 § 7 Nr 1, RdNr 13 mwN; vgl auch BVerwGE 31, 233, 234; BVerwGE 37, 43, 44). Hieran fehlt es, wenn sich eine mögliche Belastung nur aus der Begründung der Entscheidung ergibt, nicht jedoch von deren Rechtskraft erfasst wird (vgl BSG SozR 4-2600 § 118 Nr 3 RdNr 9; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 164 Anm 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 141 RdNr 9). So liegt es hier jedoch nicht. Die Klageabweisung hatte nicht ausschließlich verfahrensrechtliche Gründe (mangelndes Rechtsschutzbedürfnis). Das LSG hat zwar - wie sich aus den zur Auslegung des Tenors heranzuziehenden Entscheidungsgründen des LSG ergibt - den Hauptantrag wegen der seiner Auffassung nach eingetretenen Erledigung als unzulässig angesehen. Auf den Hilfsantrag hat das LSG jedoch über die Rechtmäßigkeit der Aufsichtsanordnung entschieden und damit eine der Rechtskraft fähige, materiell-rechtliche Entscheidung getroffen. Mit der Abweisung der hilfsweise gestellten Feststellungsklage ist zwischen den Beteiligten rechtskräftig entschieden, dass die Aufsichtsanordnung rechtmäßig ist (vgl Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 141 Anm 4g; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 141 RdNr 13). Hierdurch ist die Beigeladene ggf materiell beschwert (vgl auch BSG SozR 3-1500 § 131 Nr 5 S 7 zur Fortsetzungsfeststellungklage eines Beigeladenen). Die Beklagte nimmt in der streitigen Aufsichtsanordnung umfassende "Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden" gegenüber der Beigeladenen und ihren Aktionären mit Auswirkungen für die Beigeladene für sich in Anspruch (§ 94 Abs 2 Satz 1 SGB X idF durch Art 9 Nr 2 Buchst b Gesetz zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht - Verwaltungsvereinfachungsgesetz - vom 21.3.2005, BGBl I 818 mWv 30.3.2005 iVm § 88 SGB IV idF durch Art 7 Nr 21 Gesetz zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung <LSV-Neuordnungsgesetz - LSV-NOG> vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013). Die Aufsichtsanordnung zielt zudem auf eine entsprechende Änderung der Satzung der Beigeladenen. Ohne Belang ist, ob die Beigeladene selbst unmittelbar gegen die Aufsichtsanordnung mit Erfolg hätte klagen können (zur fehlenden drittschützenden Wirkung einer aufsichtsrechtlichen Anordnung/Prüfung vgl zB BSGE 63, 173, 175 = SozR 2200 § 182 Nr 112; BSGE 98, 129 = SozR 4-2400 § 35a Nr 1, RdNr 13 mwN; BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr 32, RdNr 17; BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr 33, RdNr 20). Auch die einfache ("streitgenössische") Beiladung (§ 75 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl auch BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 10 zur notwendigen Beiladung) dehnt - vergleichbar einer Streitverkündung im Zivilprozess - die Rechtskraftwirkung der Aufsichtsklage auf den Beigeladenen aus (§ 69 Nr 3 SGG, § 141 Abs 1 Nr 1 SGG; vgl auch BVerwGE 64, 67, 69 f = Buchholz 406.11 § 133 BBauG Nr 76 = juris RdNr 14; BVerwGE 77, 102, 105 f = Buchholz 418.711 LMBG Nr 15 = juris RdNr 36; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 141 Anm 6a). Würde das LSG-Urteil rechtskräftig, präjudizierte die Klageabweisung eine anschließende aktienrechtliche Anfechtungsklage der jetzigen Klägerin gegen einen in der Hauptversammlung der Beigeladenen in Ausführung der Aufsichtsanordnung gefassten Beschluss (vgl § 243 Abs 1 AktG; zur Anfechtungsbefugnis des Aktionärs vgl § 245 Nr 1 und 2 AktG). Weder die Klägerin noch die dann notwendigerweise beklagte Beigeladene (vgl § 246 Abs 2 Satz 1 AktG) könnte sich auf die Rechtswidrigkeit der Aufsichtsanordnung berufen. Entsprechendes gilt, soweit die Beigeladene bereits im Vorfeld zB mit einer vorbeugenden Unterlassungsklage gegen die klagende KK, ggf unter Zuhilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes, gegen eine drohende Satzungsänderung vorgehen wollte. 2. Die Aufsichtsklage ist zulässig, insbesondere hat sich die Aufsichtsanordnung nicht durch Zeitablauf (dazu a) oder "auf andere Weise" (dazu b) erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Zu Unrecht hat das LSG die Aufsichtsklage als unzulässig angesehen und über die Sache im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage entschieden. a) Nach § 39 Abs 2 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Anders als das LSG meint, hat sich die Aufsichtsanordnung nicht durch Zeitablauf erledigt. Das Revisionsgericht darf Willenserklärungen, auch öffentlich-rechtliche Erklärungen einschließlich Verwaltungsakte, jedenfalls dann selbst auslegen, wenn das Vordergericht den Verwaltungsakt nicht ausgelegt, insbesondere die von ihm selbst festgestellten tatsächlichen Umstände nicht vollständig verwertet hat und weitere Feststellungen nicht mehr in Betracht kommen (vgl BSGE 75, 92, 96 = SozR 3-4100 § 141b Nr 10 = juris RdNr 31; BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 12; BSG SozR 4-2500 § 133 Nr 6 RdNr 36; BSG Urteil vom 9.4.2019 - B 1 KR 5/19 R - juris RdNr 18, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl auch BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 5 RE 1/18 R - juris RdNr 37, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-2600 § 6 Nr 18 vorgesehen). So liegt es hier. Das LSG hat auf den Ablauf der in der Aufsichtsanordnung genannten Fristen abgestellt, ohne deren Bedeutung zu würdigen. Die aufsichtsbehördliche Anordnung der Beklagten ist zugleich ein Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X). Sie verpflichtet die Klägerin, umfassende Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der Beigeladenen schriftlich anzuerkennen sowie gemeinsam mit den übrigen bundesunmittelbaren Aktionären darauf hinzuwirken, dass eine Satzungsänderung durch die Hauptversammlung der Beigeladenen erfolgt, ohne diese Verpflichtungen zeitlich zu begrenzen. Dies ergibt sich aus dem hier maßgeblichen Empfängerhorizont (vgl BSGE 118, 137 = SozR 4-2400 § 90 Nr 1, RdNr 11) unter Berücksichtigung von Wortlaut und Vorgeschichte. Schon nach dem Wortlaut der Anordnung sind die beiden Verpflichtungen unbefristet; lediglich für die Vorlage des schriftlichen Anerkenntnisses und des Beschlusses der Hauptversammlung über die Satzungsänderung setzte die Beklagte der Klägerin Fristen. Auch aus dem vorangegangen Beratungsverfahren, auf das die Aufsichtsanordnung ausführlich Bezug nimmt, erschließt sich zwanglos, dass die ausgesprochenen Verpflichtungen der gerichtlichen Klärung der Rechtsmäßigkeit der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörden an der Beigeladenen zu dienen bestimmt waren und nicht etwa nach Fristablauf entfallen sollten. Die genannten Fristen dienen ersichtlich - neben der Beschleunigung des Verfahrens - auch der Klarstellung, bis zu welchem Zeitpunkt die Klägerin (noch) nicht mit Vollstreckungsmaßnahmen rechnen muss (vgl § 89 Abs 1 Satz 3 bis 5 SGB IV; vgl Gaßner, MedR 2017, 677, 683 f). Die Klägerin ist trotz Fristablaufs weiterhin verpflichtet, der Anordnung nachzukommen (vgl ähnlich BSGE 89, 227, 235 = SozR 3-2500 § 194 Nr 1 S 9 f). b) Die aufsichtsbehördliche Anordnung hat sich auch nicht auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Von einer Erledigung "auf andere Weise" ist auszugehen, wenn der Verwaltungsakt nicht mehr geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu entfalten oder wenn die Steuerungsfunktion, die ihm ursprünglich innewohnte, nachträglich entfallen ist. Dagegen führt selbst der Vollzug eines Handlungspflichten auferlegenden Verwaltungsaktes nicht bereits zu dessen Erledigung, wenn von ihm weiterhin rechtliche Wirkungen ausgehen (vgl BSG SozR 4-1200 § 51 Nr 1 RdNr 20; BSGE 119, 57 = SozR 4-2500 § 34 Nr 17, RdNr 38; BVerwG Urteil vom 25.9.2008 - 7 C 5.08 - NVwZ 2009, 122 RdNr 13 mwN - zu § 43 Abs 2 LVwVfG; vgl auch BSGE 125, 233 = SozR 4-2400 § 89 Nr 7, RdNr 33; Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Juni 2019, § 39 SGB X, RdNr 24). Daran gemessen, hat sich die Aufsichtsanordnung bisher nicht "auf andere Weise" erledigt. Sie verpflichtet die Klägerin als Adressatin unverändert zu einer bestimmten Handlung (ua auf die Änderung der Satzung der Beigeladenen hinzuwirken). Bei einer solchen Handlungspflicht tritt regelmäßig keine Erledigung ein, solange der Adressat dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist. Dass der Zweck der Aufsichtsanordnung anderweitig erreicht worden wäre, etwa indem die übrigen Aktionäre ohne Beteiligung der Klägerin die Satzungsänderung vorgenommen hätten, hat das LSG nicht festgestellt. Hierfür ist auch nichts ersichtlich. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte, dass eine Erledigung auf andere Weise aus anderen Gründen, etwa wegen Auflösung der Beigeladenen, eingetreten ist. Keine Erledigung wäre eingetreten, wenn die Beigeladene - wie sie vorträgt - mittlerweile neben ihren Aktionären und anderen KKn (§ 197b Satz 1 SGB V; vgl hierzu Sichert, NZS 2013, 129, 134) auch private KKn zu ihren "Kunden" zählt. Das machte die angegriffene Aufsichtsanordnung nicht gegenstandslos. Eine möglicherweise den Zuständigkeitsbereich überschreitende Ausdehnung der Geschäftstätigkeit einer ARGE durch Dienstleistungen an private Dritte (vgl hierzu Schirmer/Kater/Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung, Stand September 2019, 310 S 9) wäre Anlass etwa für aufsichtsrechtliche Beratung (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV idF der Neubekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710; zum Meinungsstand zur nach hM möglichen Beanstandung unmittelbar gegenüber der ARGE vgl Sichert, NZS 2013, 129, 136) und ggf für weitere Aufsichtsanordnungen. Eine unzulässige Ausweitung der Tätigkeit einer ARGE lässt ihre Rechtsnatur jedoch nicht von selbst entfallen (vgl § 94 Abs 1a Satz 1 SGB X idF durch Art 9 Nr 2 Buchst a Verwaltungsvereinfachungsgesetz; § 219 Abs 1 SGB V idF durch Art 4 Nr 10 Buchst a bis c Verwaltungsvereinfachungsgesetz, beide mWv 30.3.2005). Das LSG hat im Übrigen schon keine unzulässige Ausweitung der Tätigkeit der Beigeladenen festgestellt. Keine Erledigung bewirkte es ebenso, wenn - wie die Beigeladene vorträgt - sie inzwischen auch einen privatrechtlichen Aktionär haben sollte. Das LSG hat schon nicht festgestellt, dass private Dritte an der Beigeladenen beteiligt sind. Hieran ist der erkennende Senat mangels durchgreifender Verfahrensrügen (§ 163 SGG) gebunden. Im Übrigen würde die angegriffene Aufsichtsanordnung hierdurch nicht gegenstandslos. Eine einmal gegründete ARGE wird nicht dadurch der Rechtsaufsicht entzogen, dass eine Privatperson ohne Vorabinformation der Aufsichtsbehörde Anteile an ihr erhält ungeachtet der Grenzen einer Beteiligung privater Dritter an einer ARGE (vgl zB §§ 197b, 219 SGB V, § 94 Abs 1a SGB X; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung <11. Ausschuss> zu dem Entwurf der BReg eines Sozialgesetzbuchs <SGB> - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten - BT-Drucks 9/1753 S 43 Zu § 95 - Arbeitsgemeinschaften; Herbst in Kasseler Kommentar, Stand Juni 2019, § 94 SGB X, RdNr 31; Sehnert in Hauck/Noftz, SGB X, Stand November 2014, § 94 RdNr 4 mwN). 3. Die Aufsichtsanordnung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist formell (dazu a) und materiell rechtmäßig (dazu b). a) Rechtsgrundlage für das aufsichtsrechtliche Einschreiten der Beklagten ist § 89 SGB IV. Wird durch das Handeln oder Unterlassen eines Versicherungsträgers das Recht verletzt, soll die Aufsichtsbehörde zunächst beratend darauf hinwirken, dass der Versicherungsträger die Rechtsverletzung behebt (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Kommt der Versicherungsträger dem innerhalb angemessener Frist nicht nach, kann die Aufsichtsbehörde den Versicherungsträger verpflichten, die Rechtsverletzung zu beheben (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Die Beklagte ist die für die Klägerin zuständige Aufsichtsbehörde (§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV idF der Neubekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710), denn die Klägerin ist ein bundesunmittelbarer Versicherungsträger. Die Beklagte beachtete auch das gesetzlich vorgesehene, zeitlich und in seiner Intensität abgestufte Verfahren (vgl dazu BSG SozR 3-2400 § 89 Nr 4 S 12; BSG SozR 4-2400 § 89 Nr 2 RdNr 13 mwN; BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 9). Sie erließ die angegriffene Aufsichtsanordnung erst nach mehrfachen Hinweisen, erfolglosen Aufforderungen zur Anerkennung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde und Beratung. b) Die Aufsichtsanordnung ist auch materiell rechtmäßig. Sie ist unproblematisch hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X). Sie fordert von der Klägerin in verständlicher Weise ein bestimmtes Verhalten. Sie gibt insbesondere den Passus, der in die Satzung der Beigeladenen aufgenommen werden soll, ausdrücklich vor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Aufsichtsanordnung an einen rechtskundigen Versicherungsträger richtet und auf der vorangegangenen aufsichtsrechtlichen Beratung aufbaut (vgl BSGE 125, 233 = SozR 4-2400 § 89 Nr 7, RdNr 45). Die Beklagte erließ die angefochtene Anordnung unter Beachtung des aufsichtsrechtlichen Prüfmaßstabs (dazu aa) wegen einer Rechtsverletzung (dazu bb) ermessensfehlerfrei (dazu cc). aa) Der Prüfungsmaßstab der Aufsichtsbehörde richtet sich nach den rechtlichen Vorgaben für das Verhalten des Versicherungsträgers, das Gegenstand der Maßnahme ist (vgl BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 11 mwN). Gegenstand der angefochtenen Maßnahme ist allein, ob die Klägerin verpflichtet ist, Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde(n) unmittelbar gegenüber der Beigeladenen anzuerkennen und die Pflicht, auf die Aufnahme einer Bestimmung in die Satzung der Beigeladenen hinzuwirken, wonach diese Auskunfts- und Vorlageansprüche der für ihre Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörden erfüllt. Konkrete Maßnahmen unmittelbar gegenüber der Beigeladenen sind nicht Gegenstand der Aufsichtsanordnung. Die Klägerin hat als Sozialversicherungsträger ihre Aufgaben in eigener Verantwortung "im Rahmen des Gesetzes und des sonstigen für sie maßgeblichen Rechts" zu erfüllen (§ 29 Abs 3 SGB IV). Im Rahmen der reinen Rechtsaufsicht (§ 89 Abs 1 SGB IV) gebieten es der auch im Aufsichtsrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz maßvoller Ausübung der Rechtsaufsicht der Aufsichtsbehörde, dem beaufsichtigten Versicherungsträger bei seiner Verwaltungstätigkeit insoweit einen gewissen Bewertungsspielraum zu belassen, als dafür auch entsprechende Gestaltungsspielräume eröffnet sind (vgl etwa zum Gebot der Wirtschaftlichkeit sowie der Sparsamkeit im Haushaltswesen BSG SozR 4-2400 § 80 Nr 1 S 6; BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr 5, RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 A 2/18 R - juris RdNr 20, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Beklagte verletzte mit dem Erlass der Aufsichtsanordnung nicht das Gebot einer maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht. Das Verhalten der Klägerin, pauschal und insgesamt eine Anerkennung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde und die Aufnahme der Pflicht zur Erfüllung der Prüf- und Unterrichtungsrechte der Aufsichtsbehörde gegenüber den Aktionären in die Satzung der Beigeladenen zu verweigern, hielt sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren (vgl zB § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 SGB IV). Die Beigeladene war zur Zeit der Verwaltungsentscheidung und der mündlichen Verhandlung beim LSG (zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung als maßgeblich für die Beurteilung der Rechtslage bei in die Zukunft gerichteten Verpflichtungsanordnungen der Aufsicht vgl BSG Urteil vom 8.10.2019 - B 1 A 3/19 R - juris RdNr 9, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) nach dessen unangegriffenen Feststellungen (§ 163 SGG) eine ARGE (§ 219 Abs 1 SGB V, § 94 Abs 1a Satz 1 SGB X; zum Begriff der ARGE als organisatorisch selbständige Einheit, bei denen es um eine tatsächliche, rechtliche und finanziell verbindliche Form der Zusammenarbeit geht bei freigestellter Rechtsform vgl BT-Drucks 15/4228 S 32; vgl auch BVerwG Urteil vom 11.11.1999 - 3 C 33.98 - Buchholz 451.74 § 18 KHG Nr 9 = juris RdNr 21). Denn sie war ein Zusammenschluss mehrerer KKn mit dem Ziel der Zusammenarbeit bei der Versorgung chronisch Kranker in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Sie unterlag zum einen der unmittelbaren Aufsicht der Beklagten (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 90a SGB IV; vgl hierzu II 3. b bb 1). Die Aufsicht umfasst die Prüfung der Geschäfts- und Rechnungsführung der ARGE sowie die zur Ausübung des Aufsichtsrechts erforderliche Vorlage von Unterlagen und Erteilung von Auskünften (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 SGB IV). Zum anderen erfordert eine effektive Aufsicht über die wirtschaftliche Tätigkeit der Aktionäre der Beigeladenen, dass die zuständigen Aufsichtsbehörden (im Fall der bundesunmittelbaren KKn die Beklagte, vgl § 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV; im Fall der landesunmittelbaren KKn die zuständige Landesbehörde, vgl § 90 Abs 2 SGB IV) nicht nur von diesen, sondern auch direkt von der Beigeladenen verlangen kann, die erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen (vgl hierzu im Einzelnen II 3. b bb 1). Indem sich die Klägerin - wie zuvor auch die Beigeladene - demgegenüber auf die Verschwiegenheitsverpflichtungen des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG berief (§ 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 1 und 2 AktG), missachtete sie die gesetzgeberische Grundentscheidung und deren Ziele. Ungeachtet der Frage, ob und ggf in welchem Umfang aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten - allgemein oder in konkreten Einzelfällen - auch gegenüber der Aufsichtsbehörde bestehen (vgl hierzu II 3. b bb 2), sind diese nicht geeignet, ganz allgemein Prüf- und Unterrichtungspflichten gegenüber der Aufsichtsbehörde auszuschließen, unabhängig davon, ob überhaupt vertrauliche Angaben oder Gesellschaftsgeheimnisse betroffen wären. Das AktG knüpft das Schweigegebot allein an das objektive Vorliegen der Merkmale "vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft" (§ 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 1 AktG) und "vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen" (§ 116 Satz 2 AktG), ohne eine generelle, im Einzelfall zu widerlegende Vermutung für ein sachlich unbegrenztes Schweigegebot aufzustellen (vgl BGHZ 64, 325, 330 = juris RdNr 14). bb) Da sich die Klägerin trotz ausführlicher Beratung durch die Beklagte weigerte, deren Informations- und Prüfrechte an der Beigeladenen anzuerkennen und in der Satzung die Pflicht zur Erfüllung der Informations- und Prüfrechte der Aufsichtsbehörden gegenüber den Aktionären zu verankern, liegt auch eine Rechtsverletzung vor. Den Informations- und Unterrichtungsrechten der Beklagten und ggf weiterer für die Aktionäre zuständiger Landesbehörden (dazu 1.) stehen aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten (§ 93 Abs 1 Satz 3, § 116 Satz 1 und 2 AktG) nicht entgegen (dazu 2.). (1) Können nach dem SGB ARGEen gebildet werden, unterliegen diese staatlicher Aufsicht. Die Aufsicht erstreckt sich auf die Beachtung von Gesetz und sonstigem Recht, das für die ARGEen, die Leistungsträger und ihre Verbände maßgebend ist; die §§ 85, 88, 90 und 90a SGB IV gelten entsprechend (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 1 und 2 SGB X). Das Gesetz sieht damit - in Ergänzung zur fortbestehenden Aufsicht gegenüber den Mitgliedern der ARGE (mittelbare oder indirekte Aufsicht) - eine unmittelbare (direkte) Aufsicht gegenüber der ARGE selbst vor. Sie ermöglicht es der Aufsichtsbehörde insbesondere, die Geschäfts- und Rechnungsführung der ARGE zu prüfen (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 Abs 1 SGB IV). Die ARGE hat der Aufsichtsbehörde oder ihren Beauftragten auf Verlangen alle Unterlagen vorzulegen und alle Auskünfte zu erteilen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts auf Grund pflichtgemäßer Prüfung der Aufsichtsbehörde gefordert werden (§ 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X iVm § 88 Abs 2 SGB IV). Die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden für eine ARGE richtet sich gemäß § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 3 SGB X iVm §§ 90 und 90a SGB IV grundsätzlich nach dem territorialen Zuständigkeitsbereich der ARGE, nicht ihrer Mitglieder. Die Aufsicht über eine ARGE, an der - wie bei der Beklagten - weder der Spitzenverband der GKV noch die BA beteiligt ist (vgl hierzu § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 3 SGB X) und deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, führt grundsätzlich die Beklagte vertreten durch das BVA (§ 90 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB IV iVm § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X; Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB IV, 8. Aufl 2014, § 94 RdNr 11a). Rechtmäßig verlangt die Beklagte in ihrer Aufsichtsanordnung von der Klägerin und den weiteren bundesunmittelbaren KKn, die Aktionäre der Beigeladenen sind, dass sie für eine Satzungsänderung der Beigeladenen sorgen, die die Pflicht in ihre Satzung aufnimmt, die Prüf- und Informationsrechte "der für einen oder mehrere Gesellschafter zuständigen Aufsichtsbehörde bzw. deren Beauftragten" zu erfüllen. Dies stellt eine wirksame Aufsicht über die KKn sicher, die Aktionäre der Beigeladenen sind. Die Aufsichtsbehörden verfügen lediglich gegenüber diesen Aktionären über Zwangsmittel, nicht aber gegenüber der Beigeladenen (vgl § 94 Abs 2 Satz 1 Teilsatz 2 SGB X ohne Verweisung auf § 89 SGB IV; abweichend Art 8 Nr 7 des Referentenentwurfs des BMAS eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - 7. SGB IV-ÄndG zu § 94 SGB X). Ungeachtet dessen muss die Beigeladene unmittelbar der Beklagten die zur Ausübung ihres Aufsichtsrechts über die ARGE erforderlichen Informationen zukommen lassen. In gleicher Weise muss sie dies, um die Ausübung des Aufsichtsrechts über die Aktionäre der ARGE zu ermöglichen. Die aufzunehmende Satzungsbestimmung sichert, dass es nicht zu kontrollfreien Räumen kommt. Die KKn sind als Aktionäre einer ARGE nach Aktienrecht nicht in der Lage, sich die für eine wirksame Aufsicht über die KKn erforderlichen umfassenden Informationen über die ARGE zu verschaffen. Die Aufsichtsbehörden haben nur die Möglichkeit, sich mit ihren Auskunftsbegehren unmittelbar an die ARGE zu wenden. Anderenfalls müssten die Aufsichtsbehörden die Beteiligung an einer ARGE in der Rechtsform der AG von vorneherein untersagen, damit es nicht zu aufsichtsfreien Räumen kommt. Die KKn unterliegen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Beteiligung als Aktionäre an einer in der Form der AG gegründeten ARGE der staatlichen Aufsicht. Versicherungsträger dürfen nur Geschäfte zur Erfüllung ihrer gesetzlich vorgeschriebenen oder zugelassenen Aufgaben führen und ihre Mittel nur für diese Aufgaben sowie die Verwaltungskosten verwenden (§ 30 Abs 1 SGB IV). Die zuständigen Aufsichtsbehörden müssen überprüfen können, ob eine wirtschaftliche Beteiligung der KKn sich in diesen Grenzen bewegt. So unterliegt es etwa der Prüfung, ob die privatrechtlich gegründete AG (noch) die Voraussetzungen einer ARGE im Sinne eines Zusammenschlusses mehrerer KKn mit dem Ziel der Zusammenarbeit erfüllt (§ 94 Abs 1a SGB X), oder ob die wirtschaftliche Beteiligung sich auf einer anderen rechtlichen Grundlage rechtfertigen lässt (zB als Beteiligung an gemeinnützigen Einrichtungen, § 83 Abs 1 Nr 7 SGB IV). Hierfür reicht es nicht aus, dass die KKn den Aufsichtsbehörden die erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen haben (§ 88 Abs 2 SGB IV). Denn die KKn verfügen selbst regelmäßig nicht über alle entscheidungserheblichen Informationen. Als Aktionäre einer AG gilt für sie bloß das in sich abgeschlossene Informationssystem des Jahres- bzw Konzernabschlusses sowie der Auskunft in der Hauptversammlung (§§ 131, 132 AktG; vgl Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl 2006, RdNr 473; zu den speziellen individuellen Auskunftsrechten im Konzern- und Umwandlungsrecht vgl § 293g Abs 3, § 295 Abs 2 Satz 3, § 319 Abs 3 Satz 4 und 5, § 320 Abs 4 Satz 3, § 326 AktG; § 64 Abs 2 Umwandlungsgesetz - UmwG; vgl Reger in Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl 2017, § 131 RdNr 3; Spindler in K. Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl 2015, § 131 RdNr 12). Das Auskunftsrecht ermöglicht dem Aktionär einen Zugang lediglich zu denjenigen Informationen, die zur sachgemäßen Beurteilung des Geschäftsgegenstands der Tagesordnung erforderlich sind (§ 131 Abs 1 Satz 1 AktG). Es soll dem Aktionär den sinnvollen Gebrauch seiner Mitgliedschaftsrechte ermöglichen und ist sowohl in zeitlicher als auch in gegenständlicher Hinsicht beschränkt (vgl hierzu BVerfG <Kammer> Beschluss vom 20.9.1999 - 1 BvR 636/95 - juris RdNr 17 f = NJW 2000, 349). Daneben bestehen aktienrechtlich nur Berichts- und Informationspflichten des Vorstands gegenüber der Hauptversammlung als Organ (etwa im Rahmen der Einberufung der Hauptversammlung, vgl zB § 121 AktG, § 124 Abs 1 Satz 1, Abs 2 AktG) oder die allgemeinen handelsrechtlichen Publizitätspflichten (vgl §§ 325 ff HGB). (2) Die Beigeladene ist nicht durch aktienrechtliche Verschwiegenheitspflichten gehindert, der Aufsichtsbehörde auf Verlangen alle Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts über die Gesellschaft aufgrund pflichtgemäßer Prüfung erforderlich sind. Gleiches gilt auch für die Informationen, die zur Ausübung des Aufsichtsrechts über die Aktionäre der ARGE erforderlich sind (vgl oben unter 1). Vorstandsmitglieder einer AG haben gemäß § 93 Abs 1 AktG (idF durch Art 9 Nr 7 Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister - EHUG - vom 10.11.2006, BGBl I 2553 mWv 1.1.2007) bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden (Satz 1). Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (Satz 2). Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Vorstandsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren (Satz 3). Die Pflicht des Satzes 3 gilt nicht gegenüber einer nach § 342b des Handelsgesetzbuchs anerkannten Prüfstelle im Rahmen einer von dieser durchgeführten Prüfung (Satz 4). Für die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder gilt § 93 AktG mit Ausnahme des Abs 2 Satz 3 über die Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit der Vorstandsmitglieder sinngemäß (§ 116 Satz 1 AktG). Die Aufsichtsratsmitglieder sind insbesondere zur Verschwiegenheit über erhaltene vertrauliche Berichte und vertrauliche Beratungen verpflichtet (Satz 2). Auskunftspflichten wie hier gegenüber der Aufsichtsbehörde richten sich allerdings in erster Linie an die AG selbst, sodass der Vorstand als Vertreter der Gesellschaft (vgl § 78 Abs 1 Satz 1 AktG) die entsprechenden Informationen weitergeben muss. Nur wenn der Vorstand seine Pflicht nicht erfüllt und entsprechende Aufforderungen des Aufsichtsrats fruchtlos bleiben, kann in seltenen Ausnahmefällen der Aufsichtsrat selbst die Information erteilen (vgl Spindler in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 116 RdNr 21; vgl auch Habersack in MüKo, AktG, 5. Aufl 2019, § 116 RdNr 65; BGH NJW 2016, 2569 = juris RdNr 35). Zu den Sorgfaltspflichten eines Vorstandsmitglieds gehört die Legalitätspflicht, dh die Pflicht, sich bei seiner Amtsführung gesetzestreu zu verhalten. Neben der internen Pflichtenbindung durch AktG, Satzung und Geschäftsordnung unterliegt der Vorstand der externen Pflichtenbindung durch allgemeine Gesetzespflichten: Ein Vorstandsmitglied muss im Außenverhältnis sämtliche Rechtsvorschriften einhalten, die das Unternehmen als Rechtssubjekt treffen. Hierzu gehören die Regelungen des Verwaltungsrechts ebenso wie die Vorgaben des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts (vgl Fleischer in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 93 RdNr 14, 23; BGHSt 55, 266 = NJW 2010, 3458, RdNr 29; BGHSt 55, 288 = NJW 2011, 88, RdNr 37). Konsequent findet die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder ihre Grenze, wo eine gesetzliche Pflicht zur Offenlegung bestimmter Tatsachen besteht. Hierzu gehören auch Auskunftsrechte der Behörden (vgl Fleischer in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 1, 4. Aufl 2019, § 93 RdNr 167; Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl 2018, § 93 RdNr 31; Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 3. Aufl 2006, RdNr 528 ff; Spindler in MüKo, AktG, 5. Aufl 2019, § 93 RdNr 159; vgl auch den Entwurf der BReg eines Gesetzes zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen <Bilanzkontrollgesetz - BilKoG>, BT-Drucks 15/3421, 21: Auskunftspflicht nach § 37o Abs 4 WpHG geht der Verschwiegenheitspflicht vor). Insofern kommt auch dem Verweis in § 93 Abs 1 Satz 4 AktG auf die fehlende Pflicht zur Verschwiegenheit gegenüber einer nach § 342b HGB anerkannten Prüfstelle im Rahmen einer von dieser durchgeführten Prüfung lediglich klarstellende Bedeutung zu (vgl Koch in Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl 2018, § 93 RdNr 33). Auch die Sonderregelungen in §§ 394, 395 AktG betreffend die Berichte der Aufsichtsratsmitglieder, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, stellen - anders als die Beigeladene meint - keine abschließende Regelung der Verschwiegenheitspflicht bei Tätigkeiten der öffentlichen Hand in den Formen privater Gesellschaften dar (vgl Schall in Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd 2, 4. Aufl 2019, § 394 RdNr 2; Schürnbrand, MüKo, AktG, 5. Aufl 2019, Vor § 394 RdNr 2, 14 ff). Vielmehr haben die Vorstandsmitglieder der Beigeladenen im Rahmen ihrer Tätigkeit auf Aufforderung der Aufsichtsbehörde dieser die Prüfung der Geschäfts- und Rechnungsführung der Beigeladenen zu ermöglichen, ihr die zur Ausübung des Aufsichtsrechts erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen (§ 94 Abs 2 SGB X iVm § 88 SGB IV). cc) Die Beklagte übte das ihr eingeräumte Ermessen rechtmäßig aus, gegen die zutreffend festgestellte Rechtsverletzung einzuschreiten (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Sie traf - formal hinreichend begründet (§ 35 Abs 1 SGB X) - eine Ermessensentscheidung, hielt dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens ein und machte von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch. Die Beklagte übte ihr Entschließungsermessen rechtmäßig aus, die Klägerin zu verpflichten, die Prüf- und Informationsrechte der Beklagten an den Aktionären der Beigeladenen auch hinsichtlich dieser sowie an der Beigeladenen anzuerkennen sowie darauf hinzuwirken, dass die gebotene Pflicht zur Erfüllung dieses Gebots in die Satzung aufgenommen wird. Ermessensgerecht begründete sie ihre Entscheidung damit, die Verpflichtungsanordnungen seien unabdingbare Grundlage für die Wahrnehmung der Aufsicht über die bundesunmittelbaren KKn als Aktionäre der Beigeladenen und über die Beigeladene als ARGE. Dies entsprach auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Beklagte durfte mit diesen Erwägungen auf die an vorangegangene Informationsverweigerungen anknüpfende, eindeutig rechtswidrige Weigerung der Klägerin reagieren, die Aufsichtsrechte an der Beigeladenen anzuerkennen, und von ihr nicht nur die schriftliche Anerkennung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde verlangen, sondern auch deren Hinwirken darauf, dass die Erfüllung der Prüf- und Informationsrechte der Aufsichtsbehörde gegenüber den Aktionären der Beigeladenen in der Satzung verankert wird. Die Beklagte musste sich nicht auf den ineffizienten Weg einer -ggf gerichtlichen- Durchsetzung ihrer Aufsichtsrechte im jeweiligen konkreten Einzelfall beschränken. Dem steht nicht entgegen, dass es sich nur um die Aufsichtsanordnung gegenüber einer einzelnen Aktionärin handelt und eine Satzungsänderung einer Mehrheit in der nachfolgenden Hauptversammlung bedarf. Denn die Beklagte erließ gleichlautende Aufsichtsanordnungen gegenüber allen weiteren ihrer Aufsicht unterstehenden Aktionären der Beigeladenen. Diese Vorgehensweise war auch rechtlich vorgegeben. Der Beklagten stehen unmittelbar gegenüber einer ARGE keine Zwangsmittel zu (vgl oben II 3. b bb 1). Eine Durchsetzung der Prüf- und Informationsrechte war ihr von vorneherein in rechtlich zulässiger Weise nur über Aufsichtsanordnungen an die Aktionäre der Beigeladenen möglich. Die Klägerin genießt keinen Vertrauensschutz. Selbst wenn sich die Beklagte zunächst mit einer Änderung der von der Hauptversammlung der Beigeladenen beschlossenen "Richtlinie für den Vorstand zur Erteilung von Auskünften gegenüber den Aktionären bei Anfragen der zuständigen Aufsichtsbehörden" zufrieden gegeben haben sollte, hinderte sie dies nicht, einen als rechtswidrig erkannten Zustand in Bezug auf die Aufsicht der Beigeladenen zu beenden (vgl entsprechend § 195 Abs 2 Satz 1 SGB V zur nachträglichen Änderung einer genehmigten Satzung, vgl BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1, RdNr 23). Die Vorstandsrichtlinie regelt kein funktionsadäquates Surrogat für die Auskunftsrechte der Aufsichtsbehörden, sondern lediglich Auskunftsrechte der Aktionäre gegenüber der Beigeladenen. 5. Der erkennende Senat weicht mit seiner Auslegung der Grenzen des Aufsichtsrechts nicht von Entscheidungen des BGH ab. Ein Vorlagebeschluss an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist nicht geboten (vgl § 2 Abs 1 und § 11 Abs 1 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes). Der erkennende Senat geht in Übereinstimmung mit der Rspr des BGH davon aus, dass das Schweigegebot des § 116 iVm § 93 Abs 1 Satz 3 AktG eine abschließende Regelung ist, die durch Satzung oder Geschäftsordnung weder gemildert noch verschärft werden kann (vgl BGHZ 64, 325, 326 f; vgl auch BGH Urteil vom 26.4.2016 - XI ZR 108/15 - juris RdNr 34 = NJW 2016, 2569). Gegenstand der Aufsichtsanordnung ist jedoch weder eine Einschränkung noch Ausweitung der aktienrechtlichen Verschwiegenheitspflicht durch eine Änderung der Satzung der Beigeladenen, sondern die auch satzungsmäßige Verankerung bestehender Auskunfts- und Informationsrechte nach dem SGB X und SGB IV, welche die Schweigepflicht der Beigeladenen einschränken. Die von der Beklagten über die Klägerin und die anderen Aktionäre angestrebte Satzungsänderung zielt nur darauf ab, die gesetzlich bestehenden Auskunfts- und Informationspflichten der Beigeladenen deklaratorisch in der Satzung festzuhalten, um die mittelbare Durchsetzung dieser Pflichten gegenüber den aufsichtspflichtigen KKn zu erleichtern. Verletzt die Beigeladene diese Pflichten, können die Aufsichtsbehörden auf die ihrer Aufsicht unterliegenden KKn insbesondere dahin einwirken, die Beigeladene aufzulösen (vgl § 262 AktG). 6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2, Abs 3 Teilsatz 1 VwGO für das Revisionsverfahren und aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1, Abs 3 Teilsatz 1, § 159 Satz 2 VwGO für das Klageverfahren. Die Klägerin und die Beigeladene, die im Klageverfahren einen Antrag gestellt hat, tragen danach als Unterliegende die Kosten des Klageverfahrens. Die Pflicht trifft sie als Gesamtschuldner. Besteht der kostenpflichtige Teil - wie hier - aus mehreren Personen, so gilt § 100 ZPO entsprechend (vgl § 159 Satz 1 VwGO). Kann das streitige Rechtsverhältnis dem kostenpflichtigen Teil gegenüber nur einheitlich entschieden werden, so können die Kosten den mehreren Personen als Gesamtschuldnern auferlegt werden (vgl § 159 Satz 2 VwGO). Ob das streitige Rechtsverhältnis dem kostenpflichtigen Teil gegenüber nur einheitlich entschieden werden kann, richtet sich nach der konkreten Prozesslage (vgl entsprechend zum Normenkontrollantrag mehrerer Miteigentümer gegen einen Bebauungsplan im selben Verfahren BVerwG Beschluss vom 17.10.2000 - 4 BN 48/00 - Buchholz 310 § 159 VwGO Nr 1). Hierfür genügt es in Verfahren nach dem SGG, dass gegenüber Kläger und Beigeladenem einheitlich über die Rechtmäßigkeit einer Aufsichtsanordnung zu entscheiden ist (vgl ausführlich BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 KR 15/18 R - juris RdNr 23 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR-4 vorgesehen). Der erkennende Senat berücksichtigt bei seiner Ermessensentscheidung insbesondere die Mitwirkung der Beigeladenen im Klageverfahren, die sich mit ihrem Sachantrag dem Klagebegehren angeschlossen hat. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, Abs 3 Satz 1 Nr 2 und Satz 2, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 Satz 1 GKG.
bundessozialgericht
bsg_54 - 2018
07.12.2018
Geringeres Elterngeld für Personengesellschafter trotz Gewinnverzicht? Ausgabejahr 2018 Nummer 54 Datum 07.12.2018 Ist der im Steuerbescheid ausgewiesene Jahresgewinn bei einem Personengesellschafter sogar dann anteilig im Elterngeldbezugszeitraum als Einkommen anzurechnen, wenn der Gesellschafter für diese Zeit auf seinen Gewinn verzichtet hat? Hierüber wird der 10. Senat des Bundessozialgerichts am Donnerstag, 13. Dezember 2018, um 11.30 Uhr mündlich verhandeln und eine Entscheidung verkünden (Aktenzeichen B 10 EG 5/17 R). Die Klägerin führt mit ihrem Bruder eine Steuerkanzlei als Gesellschaft bürgerlichen Rechts. In einem Nachtrag zum Gesellschaftsvertrag war geregelt, dass ein wegen Elternzeit nicht beruflich tätiger Sozius keinen Gewinnanteil erhält. Die Klägerin gebar am 6. November 2014 eine Tochter. Nach den gesonderten Gewinnermittlungen der Gesellschaft bürgerlichen Recht betrug ihr Gewinnanteil in der anschließenden Elternzeit jeweils 0 %. Während dieser Zeit tätigte die Klägerin auch keine Entnahmen von ihrem Gesellschafterkonto. Der Beklagte berücksichtigte auf der Grundlage des Steuerbescheids für das Jahr 2013 einen anteiligen Gewinn im Bezugszeitraum und bewilligte der Klägerin deshalb lediglich Mindestelterngeld (in Höhe von 300 Euro monatlich). Sozialgericht und Landessozialgericht haben den Beklagten verurteilt, der Klägerin Elterngeld ohne Anrechnung von Einkommen im Bezugszeitraum zu gewähren (Höchstbetrag in Höhe von 1800 Euro monatlich). Einen Rückgriff auf den Steuerbescheid und eine Zurechnung von fiktiven Einkünften sehe das Gesetz nicht vor. Mit seiner Revision macht der Beklagte geltend, nach der Rechtsprechung des zuständigen Senats (Urteil vom 21. Juni 2016 - B 10 EG 3/15 R, Randnummer 24) sei der Jahresgewinn eines Gesellschafters auch dann anteilig als Einkommen in der Bezugszeit anzurechnen, wenn der Gesellschafter auf seinen Gewinn in der Elternzeit verzichtet habe.   Hinweis auf Rechtsvorschriften § 2d Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit (1) Die monatlich durchschnittlich zu berücksichtigende Summe der positiven Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbstständiger Arbeit (Gewinneinkünfte), vermindert um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben nach den §§ 2e und 2f, ergibt das Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit. (2) 1Bei der Ermittlung der im Bemessungszeitraum zu berücksichtigenden Gewinneinkünfte sind die entsprechenden im Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen Gewinne anzusetzen. 2Ist kein Einkommensteuerbescheid zu erstellen, werden die Gewinneinkünfte in entsprechender Anwendung des Absatzes 3 ermittelt. (3) 1Grundlage der Ermittlung der in den Bezugsmonaten zu berücksichtigenden Gewinneinkünfte ist eine Gewinnermittlung, die mindestens den Anforderungen des § 4 Absatz 3 des Einkommensteuergesetzes entspricht. 2Als Betriebsausgaben sind 25 Prozent der zugrunde gelegten Einnahmen oder auf Antrag die damit zusammenhängenden tatsächlichen Betriebsausgaben anzusetzen. (4) …
Bundessozialgericht Urteil vom 13.12.2018, B 10 EG 5/17 R Elterngeld - selbstständige Erwerbstätigkeit - Einkommen im Bezugszeitraum - Gesellschafter einer Personengesellschaft - Gesellschaftsvertrag - Gewinnverzicht - Gewinn-Verlust-Rechnung - Zuflussprinzip - gesetzliche Neuformulierung - kein Abstellen auf Umfang des Mitunternehmerrisikos und der Mitunternehmerinitiative - keine Ermittlung des anteiligen Jahresgewinns nach vorhergehendem Steuerbescheid - vorläufige Bewilligung - Einkommensprognose der Elterngeldbehörde - Erforderlichkeit der Vorlage einer Überschussrechnung LeitsätzeHat ein Personengesellschafter auf seinen Gewinnanteil verzichtet, ist sein Einkommen im Bezugszeitraum des Elterngelds auf der Grundlage einer Gewinn-Verlust-Rechnung nach dem Zufluss in den Bezugsmonaten zu bestimmen. TenorDie Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 2016 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. TatbestandDie Klägerin begehrt höheres Elterngeld ohne Berücksichtigung von Einkünften als Gesellschafterin einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) im Bezugszeitraum. Die Klägerin führte vor der Geburt ihrer Tochter im November 2014 mit ihrem Bruder eine Steuerkanzlei als Sozietät in der Rechtsform einer GbR. Ein Nachtrag vom 5.5.2014 zum Gesellschaftsvertrag vom 2004 regelt, dass ein wegen Elternzeit nicht beruflich tätiger Sozius keinen Gewinnanteil erhält. Der Klägerin stand daher nach dem Gesellschaftsvertrag ab Beginn der Mutterschutzfrist am 25.9.2014 bis zum geplanten Ende der Elternzeit am 6.6.2015 kein Anteil am Gewinn der Gesellschaft zu. Laut gesonderter Gewinnermittlungen der Gesellschaft belief sich der Gewinnanteil der Klägerin nach ihren Angaben in der Elternzeit auf Null. Während dieser Zeit tätigte die Klägerin auch keine Entnahmen von ihrem Gesellschafterkonto. Auf ihren Antrag bewilligte der Beklagte der Klägerin vorläufig Elterngeld für den ersten bis siebten Lebensmonat ihrer Tochter (6.11.2014 bis 5.6.2015) in Höhe von 0 Euro für den ersten, 48,40 Euro für den zweiten sowie von 375 Euro für den dritten bis siebten Lebensmonat (Mindestelterngeld zuzüglich Geschwisterbonus für ein älteres Kind). Dabei rechnete der Beklagte das von der Klägerin ua in der Zeit vom 6.11.2014 bis 1.1.2015 bezogene Mutterschaftsgeld an. Der Klägerin stehe zwar rechnerisch ein monatliches Elterngeld in Höhe von 1800 Euro zu, zuzüglich eines Geschwisterbonus. Ihr Elterngeldanspruch sei aber zu kürzen. Der Anspruch berechne sich nach § 2 Abs 3 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG), weil der Klägerin im Bezugszeitraum auf der Grundlage des Steuerbescheids für das Jahr 2013 ein fiktiver reduzierter Gewinn aus selbstständiger Arbeit in Höhe von 6000 Euro monatlich zustehe. Die tatsächlichen Einkünfte im Bezugszeitraum seien bei Beteiligungseinkünften nicht maßgeblich (Bescheid vom 21.1.2015, Widerspruchsbescheid vom 11.3.2015). Das SG hat den Beklagten unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Elterngeld ohne Anrechnung von Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Bezugszeitraum zu gewähren (Urteil vom 18.11.2015). Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 7.12.2016). Er stelle für die vorläufige Elterngeldfestsetzung zu Unrecht auf den Steuerbescheid für das Jahr 2013 ab. Grundlage der Einkommensberechnung in den Bezugsmonaten sei nach der Neuregelung des BEEG gemäß § 2d Abs 3 BEEG eine Gewinnermittlung, die mindestens den Anforderungen des § 4 Abs 3 Einkommensteuergesetz (EStG) entspreche (sogenannte Überschussrechnung). Der Steuerbescheid könne dagegen nicht als maßgeblicher Einkommensnachweis für den Bezugszeitraum herangezogen werden. Das Einkommen im Veranlagungszeitraum erlaube keine zuverlässigen Rückschlüsse auf jenes in der Bezugszeit; es komme vielmehr maßgeblich auf den tatsächlichen Einkommenszufluss an. Der klare, einer abweichenden Auslegung nicht zugängliche Wortlaut des § 2d Abs 3 BEEG schließe einen Rückgriff auf den Steuerbescheid und eine fiktive Zurechnung von anteiligen Jahreseinkünften aus. Dies sei auch die eindeutige Auffassung des Gesetzgebers (Hinweis auf BT-Drucks 17/9841 S 23). Mit seiner Revision macht der Beklagte geltend, der Jahresgewinn eines Gesellschafters sei auch dann anteilig als Einkommen in der Bezugszeit anzurechnen, wenn der Gesellschafter wegen der Elternzeit auf seinen Gewinn verzichtet habe. Das ergebe sich aus der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Hinweis auf Urteil vom 21.6.2016 - B 10 EG 3/15 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 31 RdNr 23 f). Die maßgebliche Norm sei lediglich umformuliert, aber nicht geändert worden. Das Problem der Gewinnermittlung bei Personengesellschaften habe der Gesetzgeber übersehen. Nach wie vor sei unerheblich, ob der Elterngeldberechtigte im Bezugszeitraum tatsächlich Gewinn erziele. Die Klägerin habe trotz ihrer Elternzeit weiterhin das Mitunternehmerrisiko getragen, ihre Mitunternehmerinitiative habe fortbestanden. Auf eine tatsächliche Ausübung dieser Tätigkeit komme es nicht an. Bei einer Zwei-Personen-Gesellschaft könne man dies nur dann anders beurteilen, wenn die Gesellschaft aufgelöst werde. Der Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 2016 und des Sozialgerichts Augsburg vom 18. November 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie beruft sich auf das angefochtene Berufungsurteil, das sie für zutreffend hält. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Wie die Vorinstanzen zu Recht entschieden haben, steht der Klägerin im Rahmen der vorläufigen Bewilligung Elterngeld ohne Anrechnung fiktiver Gewinnanteile im Bezugszeitraum zu. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind der vorläufige Bescheid des Beklagten vom 21.1.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.3.2015 (§ 95 SGG) sowie die Urteile des SG vom 18.11.2015 und des LSG vom 7.12.2016; sie haben diese Bescheide zu Recht abgeändert und den Beklagten zur vorläufigen Gewährung einkommensabhängigen anstatt des Mindestelterngelds verurteilt. Mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4, § 56 SGG) macht die Klägerin zulässigerweise einen Anspruch auf vorläufige Gewährung höheren Elterngelds ohne Anrechnung des vom Beklagten in Ansatz gebrachten fiktiven Gewinns im Bezugszeitraum im Wege eines Grundurteils geltend (§ 130 Abs 1 S 1 SGG; vgl Senatsurteile vom 26.3.2014 - B 10 EG 2/13 R - Juris RdNr 9 und vom 18.8.2011 - B 10 EG 7/10 R - BSGE 109, 42 = SozR 4-7837 § 2 Nr 10, RdNr 14, jeweils mwN). Der Zulässigkeit ihrer Klage steht nicht entgegen, dass der Beklagte seine vorläufige Entscheidung im Bescheid vom 21.1.2015 noch nicht durch eine endgültige Bewilligung ersetzt hat. Die Bewilligung vorläufiger Leistungen nach § 8 Abs 3 BEEG ist ein eigenständiger Verwaltungsakt iS des § 31 S 1 SGB X, der gesondert mit Widerspruch und Klage angefochten werden kann (Senatsurteile vom 4.9.2013 - B 10 EG 18/12 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 23 RdNr 19 und vom 5.4.2012 - B 10 EG 6/11 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 15 RdNr 13, jeweils mwN). Zu Recht hat das LSG in Übereinstimmung mit dem SG im Rahmen der vorläufigen Bewilligung einen Anspruch der Klägerin auf höheres Elterngeld ohne Anrechnung von fiktiven Gewinnen im Bezugszeitraum für den ersten bis siebten Lebensmonat ihrer Tochter bejaht. Die Klägerin erfüllt die grundsätzlichen (1.) ebenso wie die einkommensabhängigen Voraussetzungen (2.) für die Gewährung von Elterngeld. Denn sie hatte zwar im Bemessungszeitraum Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit (2.a), nicht jedoch im Bezugszeitraum die vom Beklagten zugrunde gelegten fiktiven Gewinnanteile auf der Grundlage des Steuerbescheids für das Jahr 2013 (2.b). 1. Der Elterngeldanspruch der Klägerin für ihre im November 2014 geborene Tochter richtet sich aufgrund der Übergangsvorschrift des § 27 Abs 1 BEEG nach den am 18.9.2012 in Kraft getretenen und bis 31.12.2014 geltenden Vorschriften des BEEG vom 10.9.2012 (BGBl I 1878) und deren Änderung durch das Gesetz vom 23.10.2012 (BGBl I 2246). Die Klägerin erfüllt danach die Grundvoraussetzungen des Elterngeldanspruchs nach § 1 Abs 1 Nr 1 bis 4 BEEG. Nach den von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen (§ 163 SGG) hatte sie während der Bezugszeit ihren Wohnsitz in Deutschland, lebte mit ihrer von ihr betreuten Tochter in einem Haushalt und übte entsprechend den Regelungen des Gesellschaftsvertrags keine Erwerbstätigkeit aus. 2. Die Klägerin hat Anspruch auf einkommensabhängiges Elterngeld. Für die hier streitige Höhe des vorläufigen Elterngeldanspruchs ist § 2 BEEG maßgebend. Nach § 2 Abs 1 S 1 und 2 BEEG wird Elterngeld in Höhe von bis zu 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro jeweils für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat. Das Einkommen aus Erwerbstätigkeit errechnet sich nach § 2 Abs 1 S 3 BEEG nach Maßgabe der §§ 2c - 2f BEEG aus der um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben verminderten Summe der positiven Einkünfte der von Nr 1 und 2 aufgezählten Einkunftsarten aus nichtselbstständiger und selbstständiger Tätigkeit, die im Inland zu versteuern sind und die die berechtigte Person durchschnittlich monatlich im Bemessungszeitraum nach § 2b BEEG oder in Monaten der Bezugszeit nach § 2 Abs 3 BEEG hat. Die Ersatzrate richtet sich nach § 2 Abs 2 BEEG. a) Bemessungszeitraum für die Ermittlung des Einkommens der Klägerin war nach § 2b Abs 2 S 1 BEEG das Kalenderjahr 2013 als der letzte abgeschlossene steuerliche Veranlagungszeitraum vor der Geburt des Kindes. Nach den gemäß § 163 SGG für den Senat bindenden Feststellungen des LSG hat die Klägerin vor der Geburt ihres Kindes ausschließlich Einkommen aus ihrer selbstständigen Tätigkeit iS von § 2 Abs 1 S 3 Nr 2 BEEG als Gesellschafterin einer GbR erzielt. Auf der Grundlage des Einkommensteuerbescheids für das Jahr 2013 und des darin ausgewiesenen Gewinns ergab sich nach der von den Beteiligten nicht infrage gestellten Berechnung des Beklagten der Elterngeldhöchstbetrag von 1800 Euro monatlich. Darauf anzurechnen sind nach den ebenfalls nicht zu beanstandenden Ausführungen des LSG gemäß § 3 Abs 1 S 1 Nr 1 BEEG das der Klägerin vom 6.11.2014 bis 1.1.2015 kalendertäglich gewährte Mutterschaftsgeld. Zusätzlich steht ihr ein Geschwisterbonus in Höhe von 75 Euro zu (§ 2a Abs 1 S 1 Nr 1 BEEG). b) Im Bezugszeitraum durfte der Beklagte keine fiktiven Gewinne der Klägerin auf der Grundlage des Steuerbescheids für das Jahr 2013 anteilig anrechnen. Er durfte deswegen das Elterngeld auch nicht nach § 2 Abs 3 BEEG im Wege der Differenzberechnung entsprechend niedriger festsetzen. aa) Eine Gewinnermittlung auf Jahresbasis und Berücksichtigung des anteiligen Jahresgewinns in der Bezugszeit widerspricht § 2d Abs 3 S 1 BEEG. Grundlage der Ermittlung der in den Bezugsmonaten zu berücksichtigenden Gewinneinkünfte ist danach eine Gewinnermittlung, die mindestens den Anforderungen des § 4 Abs 3 EStG entspricht, die also zumindest den Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben für die Bezugsmonate ausweist. Eine solche Überschussrechnung stellt im Vergleich zur Gewinnermittlung nach § 4 Abs 1 bzw § 5 EStG eine vereinfachte Gewinnberechnung dar, weil das Betriebsergebnis des jeweiligen Besteuerungszeitraums nach § 4 Abs 3 S 1 EStG (in erster Linie) aufgrund des Überschusses der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben in diesem Zeitabschnitt zu bestimmen ist, dh vor allem anhand des Saldos betrieblich veranlasster Geldzu- und -abgänge, ohne dass etwa Rückstellungen vorgenommen werden oder eine Inventur erfolgt. Für diese vereinfachte Gewinnberechnung gilt grundsätzlich das Zu- und Abflussprinzip iS des § 11 EStG (vgl Wied in Blümich, EStG, Werkstand Oktober 2018, § 4 RdNr 153 mwN). Diese steuerrechtlichen Grundsätze gelten auch für die Elterngeldberechnung mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Besteuerungszeitraums derjenige des Elterngeldbezugs ("in den Bezugsmonaten") tritt. Der Senat sieht sich deshalb veranlasst, seine bisherige Rechtsprechung zur anteiligen Berücksichtigung von Gewinnanteilen aus einer Personengesellschaft in der Bezugszeit zu modifizieren. Hiernach ist im Geltungsbereich der Regelung des § 2 Abs 8 und 9 BEEG (idF des Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes vom 5.12.2006, BGBl I 2748) das elterngeldrechtlich relevante Einkommen von Personengesellschaftern im Bezugszeitraum anhand des sich aus dem Steuerbescheid ergebenden Jahresgewinns und des daraus ermittelten monatlichen Durchschnittseinkommens zu berechnen. Dies gilt auch, wenn der Elterngeldberechtigte im Bezugszeitraum nicht tätig geworden ist und eine gesellschaftsrechtliche Vereinbarung seinen Gewinnanteil anteilig reduziert hat. Denn trotz der schon seinerzeit für die Berechnung bedeutsamen Überschussrechnung (§ 2 Abs 8 S 2 BEEG) ließ sich mit dem auf der Grundlage des Steuerbescheids zu ermittelnden Durchschnittsgewinn (§ 2 Abs 9 S 1 BEEG) bei Gewinnanteilen aus Personengesellschaften dem gesellschaftsrechtlichen Prinzip der Jährlichkeit bestmöglich Rechnung tragen (Senatsurteile vom 21.6.2016 - B 10 EG 3/15 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 31 RdNr 23 und vom 26.3.2014 - B 10 EG 4/13 R - Juris RdNr 35). Inzwischen gebietet aber die für den Bezugszeitraum in einem gesonderten Absatz neu gefasste und um die Wendung "in den Bezugsmonaten" ergänzte Regelung des § 2d Abs 3 S 1 BEEG - jedenfalls für die hier vorliegende Konstellation eines ausdrücklichen Gewinnverzichts für die Bezugsmonate - eine andere Sichtweise. Auf diese Möglichkeit der Neuinterpretation in der vorliegenden Fallgestaltung hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 21.6.2016 (B 10 EG 3/15 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 31 RdNr 23) zur alten Gesetzesfassung hingewiesen. Denn wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist der - in Kenntnis der Senatsrechtsprechung erlassene - Wortlaut der Gewinnermittlungsvorschrift des § 2d Abs 3 S 1 BEEG nunmehr eindeutig. Danach ist Grundlage der Ermittlung der Gewinneinkünfte in den Bezugsmonaten eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs 3 EStG. Anders als für den Bemessungszeitraum (vgl § 2d Abs 2 S 1 BEEG) sieht der Gesetzgeber den Steuerbescheid für den Bezugszeitraum nicht als geeignete Grundlage zur Bestimmung des Einkommens an. Das auf den Bezugszeitraum anteilig umgerechnete Einkommen im jeweiligen Veranlagungszeitraum erlaubt keine zuverlässigen Rückschlüsse auf das Einkommen im Bezugszeitraum (so ausdrücklich Beschlussempfehlung und Bericht des 13. Ausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs, BT-Drucks 17/9841 S 23). Das Argument des Beklagten, auch einem Steuerbescheid lägen Gewinnermittlungen zugrunde, die § 4 Abs 3 EStG entsprächen, überzeugt nicht. Wie der Verweis auf eine Gewinnermittlung nach § 4 Abs 3 EStG und damit auf den dabei anwendbaren § 11 EStG (vgl BFH Urteil vom 16.2.1995 - IV R 29/94 - Juris RdNr 6; Gunsenheimer, Die Einnahmenüberschussrechnung nach § 4 Abs 3 EStG, 14. Aufl 2015, S 144, jeweils mwN) zeigt, kommt es dem Gesetzgeber gerade auf den nach dem Zuflussprinzip ermittelten Gewinn nur in den Bezugsmonaten und nicht im gesamten Steuerjahr an. Nach § 11 Abs 1 S 1 EStG sind Einnahmen innerhalb des Kalenderjahres bezogen, in dem sie dem Steuerpflichtigen zugeflossen sind; im Elterngeldrecht tritt für die Ermittlung der Gewinneinkünfte in der Bezugszeit insoweit kraft ausdrücklicher Regelung des § 2d Abs 3 S 1 BEEG der Bezugszeitraum an die Stelle des Kalenderjahres. Diese Vorschrift steht mithin einer anteiligen Umrechnung des Jahresgewinns auf die Bezugsmonate ohne Berücksichtigung des tatsächlichen Mittelzuflusses im Bezugszeitraum entgegen. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber - trotz der vorhandenen Senatsrechtsprechung - die Sonderproblematik bei Gesellschaftsanteilen von Personengesellschaftern übersehen haben könnte, bestehen nicht. Die vom Beklagten als Beleg für seine Auffassung zitierte Aussage aus den Gesetzesmaterialien, bei der Neuformulierung des § 2d Abs 3 BEEG handele es sich lediglich um eine Übernahme des bisherigen Regelungsgehalts des § 2 Abs 8 S 2 BEEG mit redaktionellen Anpassungen (BT-Drucks 17/9841 S 23), hat sich im Gesetzestext nicht niedergeschlagen. Vielmehr hat der Gesetzgeber erst mit der Neufassung die in den Materialien schon zur ursprünglichen Gesetzesfassung getroffene Kernaussage im Gesetzeswortlaut verankert, dass für den Zeitraum nach der Geburt nicht auf einen steuerlichen Veranlagungszeitraum zurückgegriffen werden kann (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des 13. Ausschusses des Deutschen Bundestages, BT-Drucks 16/2785 S 38). Kommt es danach für den Bezugszeitraum auf eine Überschussrechnung als Grundlage der zu berücksichtigenden Gewinneinkünfte an, verbindet sich damit zugleich eine Hinwendung zum tatsächlichen Mittelzufluss in der Bezugszeit ohne Rücksicht auf den Umfang des Mitunternehmerrisikos und der Mitunternehmerinitiative (vgl Senatsurteil vom 21.6.2016 - B 10 EG 3/15 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 31 RdNr 24). Daher haben die Vorinstanzen zu Recht die Einkommensberechnung auf der Grundlage einer Gewinnermittlung auf Jahresbasis beanstandet. bb) Sie haben den Beklagten auch zutreffend zur Gewährung von einkommensabhängigem Elterngeld ohne Anrechnung des anteiligen Jahresgewinns dem Grunde nach verurteilt. Denn mit der nötigen Wahrscheinlichkeit steht der Klägerin mehr Elterngeld als das bisher bewilligte Mindestelterngeld zu (vgl hierzu Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 2/13 R - Juris RdNr 9 mwN). Umgekehrt ist die Prognose möglichen Einkommens in der Bezugszeit als Voraussetzung einer vorläufigen Bewilligung bis zur Vorlage einer Überschussrechnung für den Bezugszeitraum nicht entkräftet, weil die Klägerin vor der Geburt erhebliche Gewinne als Gesellschafterin erzielt hat. Die Befugnis zu der auf diesem Umstand gestützten Einkommensprognose folgt aus § 8 Abs 3 S 1 BEEG (idF des Gesetzes vom 15.2.2013, BGBl I 254). Danach wird Elterngeld bis zum Nachweis des tatsächlich zu berücksichtigenden Einkommens aus Erwerbstätigkeit vorläufig unter Berücksichtigung des glaubhaft gemachten Einkommens aus Erwerbstätigkeit gezahlt, wenn die berechtigte Person nach den Angaben im Antrag auf Elterngeld im Bezugszeitraum voraussichtlich Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat. Der erforderliche Nachweis des tatsächlich zu berücksichtigenden Einkommens - bzw der von der Klägerin behaupteten Einkommenslosigkeit - durch eine Überschussrechnung iS des § 4 Abs 3 EStG fehlt weiterhin. Dies hat das LSG ausdrücklich festgestellt. Sind danach die besonderen Voraussetzungen für eine vorläufige Bewilligung iS des § 8 Abs 3 BEEG nach wie vor erfüllt, bestand kein Anlass für eine Zurückverweisung zum Zwecke weiterer Ermittlungen der endgültigen Einkommensverhältnisse in der Bezugszeit (vgl zu § 40 Abs 1 S 2 Nr 1a SGB II, § 328 SGB III: BSG Urteil vom 19.8.2015 - B 14 AS 13/14 R - BSGE 119, 265 = SozR 4-4200 § 22 Nr 86, RdNr 16). Eine abschließende Beurteilung der Einkommensverhältnisse der Klägerin im Bezugszeitraum bleibt nach alledem der endgültigen Elterngeldfestsetzung vorbehalten. Dabei wird der Beklagte von einer den Anforderungen des § 4 Abs 3 EStG entsprechenden Überschussrechnung bzw Gewinn- und Verlustrechnung der Klägerin für diesen Zeitraum auszugehen haben (vgl dazu iE Wied in Blümich, EStG, Werkstand Oktober 2018, § 4 EStG RdNr 153 ff mwN). Der Gesetzgeber lässt diese - wie ausgeführt - nunmehr als Nachweis der Einkommensverhältnisse im Bezugszeitraum ausreichen, wenn keine Anhaltspunkte für Rechtsmissbrauch bestehen. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
bundessozialgericht
bsg_31 - 2018
07.06.2018
Aufschub der Versicherungspflicht erfordert keinen Anspruch auf Entgeltersatz im Krankheitsfall Ausgabejahr 2018 Nummer 31 Datum 07.06.2018 Der Aufschub des Beginns der Versicherungspflicht setzt nicht voraus, dass der Beschäftigte über eine dem Krankengeld vergleichbare Absicherung gegen den krankheitsbedingten Ausfall von Arbeitsentgelt verfügt. Der 12. Senat des Bundessozialgerichts hat eine Revision der Deutschen Rentenversicherung Bund zurückgewiesen und die Entscheidungen der Vorinstanzen insoweit bestätigt (Aktenzeichen: B 12 KR 17/17 R; das Verfahren B 12 R 2/17 R hat sich durch Rücknahme der Revision erledigt). Entscheidend ist, dass die anderweitige Absicherung Leistungen vorsehen muss, die mindestens dem für die allgemeine Krankenversicherungspflicht in Deutschland geregelten Mindestschutzniveau in der privaten Krankenversicherung entsprechen. Dieses sieht eine Absicherung gegen den krankheitsbedingten Ausfall von Arbeitsentgelt nicht vor. Gleichwohl genügt es im Rahmen der allgemeinen Krankenversicherungspflicht als ausreichende Absicherung. Für den Aufschub der Versicherungspflicht im Rahmen einer Statusfeststellung kann daher nichts anderes gelten. Hier ist daher auch eine Krankenversicherung ohne Anspruch auf Entgeltersatz im Krankheitsfall als ausreichende anderweitige Eigenvorsorge anzusehen. Hinweise zur Rechtslage: § 7a Abs. 1 SGB IV 1Die Beteiligten können schriftlich oder elektronisch eine Entscheidung beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, (…) § 7a Abs. 6 SGB IV 1Wird der Antrag nach Absatz 1 innerhalb eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt und stellt die Deutsche Rentenversicherung Bund ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis fest, tritt die Versicherungspflicht mit der Bekanntgabe der Entscheidung ein, wenn der Beschäftigte 1. zustimmt und 2. er für den Zeitraum zwischen Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung eine Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit und zur Altersvorsorge vorgenommen hat, die der Art nach den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht. (…) § 193 Abs. 3 Satz 1 VVG Jede Person mit Wohnsitz im Inland ist verpflichtet, bei einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen für sich selbst und für die von ihr gesetzlich vertretenen Personen, soweit diese nicht selbst Verträge abschließen können, eine Krankheitskostenversicherung, die mindestens eine Kostenerstattung für ambulante und stationäre Heilbehandlung umfasst und bei der die für tariflich vorgesehene Leistungen vereinbarten absoluten und prozentualen Selbstbehalte für ambulante und stationäre Heilbehandlung für jede zu versichernde Person auf eine betragsmäßige Auswirkung von kalenderjährlich 5.000 Euro begrenzt ist, abzuschließen und aufrechtzuerhalten; (…).
Bundessozialgericht Urteil vom 07.06.2018, B 12 KR 17/17 R Statusfeststellungsverfahren - späterer Beginn der Versicherungspflicht - ausreichende Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit - private (Mindest-)Krankheitskostenversicherung - ausreichende Absicherung zur Altersvorsorge - späterer Beginn der Versicherungspflicht erstreckt sich auch auf das Recht der Arbeitsförderung - Zulässigkeit einer unselbstständigen Anschlussrevision Leitsätze1. Die für einen späteren Beginn der Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung notwendige adäquate Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit, die der Art nach den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht, liegt bei einer privaten (Mindest-)Krankheitskostenversicherung nach dem Versicherungsvertragsrecht vor, auch wenn ein Anspruch auf eine mit dem Krankengeld vergleichbare Entgeltersatzleistung nicht besteht. 2. Eine die Versicherungspflicht aufschiebende Absicherung zur Altersvorsorge, die der Art nach den Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung entspricht, setzt bei der Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung voraus, dass eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht besteht oder wenigstens Beiträge in Höhe des in der freiwilligen Rentenversicherung maßgebenden Mindestbeitrags entrichtet werden. 3. Die Zustimmung zum späteren Beginn der Versicherungspflicht erstreckt sich auch auf das Recht der Arbeitsförderung. 4. Eine unselbstständige Anschlussrevision, die sich allein auf den von der Revision nicht umfassten Beginn der Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung bezieht, ist trotz unterschiedlicher Streitgegenstände zulässig. TenorAuf die Anschlussrevision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. Juni 2017 aufgehoben, soweit es die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung betrifft, und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Mai 2015 in vollem Umfang zurückgewiesen. Die Revision der Beklagten wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in allen Rechtszügen sowie die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. im ersten Rechtszug. Im Übrigen tragen die Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 5000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten darüber, ob die Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1. in der gesetzlichen Kranken- (GKV) und Rentenversicherung (GRV), der sozialen Pflegeversicherung (sPV) sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung aufgrund einer Beschäftigung für die Klägerin wegen des Zeitpunkts der Bekanntgabe des Statusfeststellungsbescheids nicht eingetreten ist. Die Beigeladene zu 1. ist Architektin und Mitglied der Bayerischen Architektenversorgung. Sie ist privat krankenversichert und hat Anspruch auf Krankentagegeld ab dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit (AU). Daneben ist sie Inhaberin einer dynamischen Kapitallebensversicherung auf den Todes- und Erlebensfall. Für die Zeit ab 1.4.2009 schloss sie mit der Klägerin einen Dienstleistungsvertrag über Koordinierungs- und Managementleistungen bei einem Bauprojekt. Zum 30.11.2009 hoben die Parteien diesen Vertrag einvernehmlich auf. Am 17.4.2009 beantragten die Klägerin und die Beigeladene zu 1. bei der Beklagten die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status der Beigeladenen zu 1. Nach Anhörung stellte die Beklagte mit separaten an die Klägerin und die Beigeladene zu 1. gerichteten Bescheiden vom 3.12.2009 fest, dass die Tätigkeit der Beigeladenen zu 1. bei der Klägerin im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. Die Versicherungspflicht dem Grunde nach beginne mit dem Tag der Aufnahme der Beschäftigung. Mit ihrem Widerspruch erklärte die Beigeladene zu 1., dass sie dem Beginn der Versicherungspflicht erst mit Bekanntgabe des Bescheids nicht zustimme. Während des Widerspruchsverfahrens änderte die Beklagte die Bescheide dahin ab, dass in der von der Beigeladenen zu 1. ausgeübten Beschäftigung bei der Klägerin Versicherungspflicht in der GKV, GRV und sPV sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung seit dem 1.4.2009 bestehe (Bescheide vom 31.5.2010). Die Widersprüche der Klägerin und der Beigeladenen zu 1. wies die Beklagte zurück; § 7a Abs 6 SGB IV finde keine Anwendung, da die Beigeladene zu 1. dem späteren Beginn der Versicherungspflicht nicht zugestimmt habe (Widerspruchsbescheide vom 20.1.2011). Nachdem die Beigeladene zu 1. während des Klageverfahrens ihre Zustimmung zum Beginn der Versicherungspflicht erst mit Bekanntgabe des Bescheids vom 3.12.2009 erklärt hatte, hat das SG unter Änderung der angefochtenen Bescheide festgestellt, dass die Beigeladene zu 1. in ihrer Tätigkeit bei der Klägerin in der Zeit vom 1.4.2009 bis 30.11.2009 nicht sozialversicherungspflichtig gewesen sei; der Beginn der Versicherungspflicht sei nach § 7a Abs 6 S 1 SGB IV hinausgeschoben gewesen (Urteil vom 8.5.2015). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil abgeändert, soweit es die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung betrifft, und die Klage insoweit abgewiesen. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 14.6.2017). Die Voraussetzungen des § 7a Abs 6 S 1 SGB V seien erfüllt. Eine ausreichende Absicherung zur Altersvorsorge bestehe durch die Mitgliedschaft der Beigeladenen zu 1. in einem berufsständischen Versorgungswerk. Auch das Risiko von Krankheit sei adäquat versichert. Das erforderliche Schutzniveau entspreche den in § 193 Abs 3 S 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) enthaltenen Mindestanforderungen an eine private Krankenversicherung (PKV). Im Recht der Arbeitsförderung werde der Beginn der Versicherungspflicht hingegen nicht hinausgeschoben. Die mit § 7a Abs 6 S 1 SGB V bezweckte Privilegierung werde ins Gegenteil verkehrt, wenn Beschäftigten durch den späteren Versicherungsbeginn im Bereich der Arbeitslosenversicherung Anwartschaftszeiten vorenthalten würden. Die Beklagte hat Revision und die Klägerin Anschlussrevision eingelegt. Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 7a Abs 6 S 1 SGB IV. Eine den Leistungen der GKV entsprechende Absicherung gegen das Risiko von Krankheit müsse auch mit dem Krankengeld (Krg) vergleichbare Leistungen enthalten. Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. Juni 2017 abzuändern und die Klage unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 8. Mai 2015 in vollem Umfang abzuweisen und die Anschlussrevision der Klägerin zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Im Wege der Anschlussrevision beantragt sie, das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. Juni 2017 aufzuheben, soweit es die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung betrifft, und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Mai 2015 in vollem Umfang zurückzuweisen. Sie trägt vor, die Voraussetzungen für den späteren Eintritt der Versicherungspflicht seien erfüllt. Der Wortlaut des § 7a Abs 6 S 1 SGB IV differenziere nicht zwischen den einzelnen Versicherungszweigen. Die Beklagte hält die Anschlussrevision für unzulässig. Das Anschlussrechtsmittel müsse sich auf den gleichen prozessualen Anspruch wie das Hauptrechtsmittel beziehen. Die Revision betreffe jedoch nicht die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung. Im Übrigen gehe sie - wie die Klägerin - davon aus, dass der Beginn der Versicherungspflicht einheitlich für alle vier Zweige der Sozialversicherung zu beurteilen sei; allerdings seien die Voraussetzungen des § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB IV nicht erfüllt. EntscheidungsgründeDie Revision der Beklagten hat keinen Erfolg (hierzu A.). Die Anschlussrevision der Klägerin ist hingegen zulässig und begründet (hierzu B.). Eine Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1. aufgrund Beschäftigung hat in allen Zweigen der Sozialversicherung wegen des erst nach dem Ende der Tätigkeit bekanntgegebenen Statusfeststellungsbescheids nicht bestanden. A. Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. I. Der Senat hat im Rahmen der Revision der Beklagten nur die Frage nach dem Beginn der Versicherungspflicht in der GKV, GRV und sPV zu beantworten. Die Entscheidung der Beklagten, dass bei der Beigeladenen zu 1. in einer Tätigkeit für die Klägerin Versicherungspflicht wegen Beschäftigung bestand, hat die Klägerin nicht angefochten. Sie ist bestandskräftig geworden (§ 77 SGG). Auch betrifft die Revision nur die Versicherungspflicht in der GKV, GRV und sPV, nicht aber die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung (vgl zur Teilbarkeit eines Statusfeststellungsbescheids BSG Urteil vom 5.12.2017 - B 12 R 6/15 R - Juris RdNr 11, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 3/14 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 5 RdNr 11, 18; BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 12/14 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 6 RdNr 11). II. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1. in der GKV, GRV und sPV wegen des erst nach der Aufgabe der Tätigkeit bekanntgegebenen Bescheids der Beklagten vom 3.12.2009 nicht bestanden hat. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe der ersten zum Vorliegen einer "Beschäftigung" ergangenen Entscheidung (BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 3/14 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 5 RdNr 17). 1. Nach § 7a Abs 6 S 1 SGB IV tritt, wenn der Antrag auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status nach § 7a Abs 1 S 1 SGB IV innerhalb eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt wird und die Beklagte ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis feststellt, Versicherungspflicht mit der Bekanntgabe der Entscheidung ein, wenn der Beschäftigte zustimmt (Nr 1) und er für den Zeitraum zwischen Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung eine Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit und zur Altersvorsorge vorgenommen hat, die der Art nach den Leistungen der GKV und GRV entspricht (Nr 2). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Statusfeststellungsantrag wurde am 17.4.2009 und damit innerhalb eines Monats nach Aufnahme der Tätigkeit am 1.4.2009 gestellt. Die Beigeladene zu 1. hat einem späteren Eintritt der Versicherungspflicht auch zugestimmt. Dass sie ihre Zustimmung erst im Klageverfahren erklärt hat, steht deren Wirksamkeit nicht entgegen (vgl bereits BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 3/14 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 5 RdNr 14; BSG Urteil vom 5.12.2017 - B 12 R 6/15 R - Juris RdNr 15, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Beigeladene zu 1. war schließlich adäquat sowohl zur GKV (dazu 2.) als auch zur GRV (dazu 3.) abgesichert. 2. Zwischen der Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung der Beklagten hat für die Beigeladene zu 1. eine anderweitige adäquate Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit iS des § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB IV bestanden. Einer solchen anderweitigen Absicherung bedurfte es, weil die Beigeladene zu 1. im maßgeblichen Zeitraum nicht in der GKV versicherungsfrei war (vgl dazu BSG Urteil vom 5.12.2017 - B 12 R 6/15R - Juris RdNr 23 ff, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Beigeladene zu 1. verfügte nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 SGG) im relevanten Zeitraum über eine PKV nebst einer Krankentagegeldversicherung. Das Schutzniveau der GKV war dadurch zwar nicht vollumfänglich erreicht. Insbesondere entsprach das erst vom 43. Tag der AU an zu leistende Krankentagegeld nicht vollständig dem Krg nach §§ 44 ff SGB V. Denn der Anspruch auf Krg entsteht für Versicherte der GKV - vorbehaltlich seines Ruhens nach § 49 SGB V - gemäß § 46 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB V in der für den hier streitigen Zeitraum maßgebenden Fassung des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20.12.1988 (BGBl I 2477) grundsätzlich von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der AU folgt (erst seit 23.7.2015 durch das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz vom 16.7.2015 <BGBl I 1211> vom Tag der ärztlichen Feststellung der AU an). Gleichwohl erfüllt die privatrechtliche Absicherung der Beigeladenen zu 1. die Anforderungen des § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB IV. Das folgt aus dem Wortlaut der Vorschrift, der ihr zugrunde liegenden Intention des Gesetzgebers und dessen systematischer Mindestabsicherung im Krankheitsfall durch Leistungen der GKV oder PKV. Bereits nach dem Gesetzeswortlaut, der lediglich eine Absicherung verlangt, die "der Art nach" den Leistungen der GKV entspricht, ist eine private Krankenversorgung, die in Art, Umfang und Höhe deckungsgleich mit den Leistungen der GKV ist, nicht erforderlich. Eine Parallelität mit den Leistungen der GKV war mit der Einführung des § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB IV durch das Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20.12.1999 (BGBl I 2000, 2) auch nicht bezweckt. Nach dem Willen des Gesetzgebers, der in den Gesetzesmaterialien Ausdruck findet, genügt für eine adäquate Absicherung, dass ein ausreichender sozialer Schutz besteht (BT-Drucks 14/1855 S 8 zu Abs 6). Systematisch ergibt sich der Umfang des erforderlichen Sicherungsniveaus aus einer Parallelwertung zu § 193 Abs 3 S 1 VVG und dem dort geregelten Mindestschutzniveau der allgemeinen Krankenversicherungspflicht, die eine Entgeltersatzleistung für den Fall der AU nicht vorsieht. Ein ausreichender sozialer Schutz gegen das finanzielle Risiko von Krankheit, der der Art nach den Leistungen der GKV entspricht, ist daher nicht von einem Anspruch auf eine mit dem Krg (zumindest) vergleichbare Entgeltersatzleistung abhängig. Die allgemeine Krankenversicherungspflicht war Kernziel der Gesundheitsreform 2007 durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26.3.2007 (BGBl I 378; vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Ducks 16/3100 S 86), mit dem die Auffang-Versicherungspflicht in der GKV eingeführt worden ist. Seit 1.4.2007 sind nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V Personen versicherungspflichtig, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und entweder zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den hauptberuflich selbstständig Erwerbstätigen oder bestimmten versicherungsfreien Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten. Gleichzeitig wurde durch das GKV-WSG für die PKV zum 1.1.2009 eine Verpflichtung zum Abschluss eines privaten Krankheitskostenversicherungsvertrags in § 178a Abs 5 S 1 VVG aufgenommen. Diese Regelung ist durch das Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 23.11.2007 (BGBl I 2631) inhaltlich unverändert als § 193 Abs 3 S 1 VVG in die ab 1.1.2009 geltende Neufassung des VVG übernommen worden. Danach ist jede Person - die weder gesetzlich krankenversichert ist noch einem anderen Sicherungssystem im Sinn des § 193 Abs 3 S 2 VVG angehört - mit Wohnsitz im Inland verpflichtet, bei einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen für sich selbst und für die von ihr gesetzlich vertretenen Personen, soweit diese nicht selbst Verträge abschließen können, eine Krankheitskostenversicherung, die mindestens eine Kostenerstattung für ambulante und stationäre Heilbehandlung umfasst und bei der die für tariflich vorgesehene Leistungen vereinbarten absoluten und prozentualen Selbstbehalte für ambulante und stationäre Heilbehandlung für jede zu versichernde Person auf eine betragsmäßige Auswirkung von kalenderjährlich 5000 Euro begrenzt ist, abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Eine Absicherung gegen den krankheitsbedingten Ausfall von Arbeitsentgelt wird danach nicht verlangt. Nach der gesetzlichen Systematik wird der angestrebte Versicherungsschutz aller in Deutschland lebenden Menschen (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, BT-Drucks 16/3100 S 94 zu Art 1 Nr 2 Buchst a Doppelbuchst bb und cc; Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drucks 16/4247 S 66 zu Art 43 <VVG> Nr 01 <§ 178a> Abs 5) - sofern nicht bereits eine hinreichende Absicherung besteht - je nach rechtlicher Zuordnung entweder durch die Auffang-Versicherungspflicht in der GKV oder durch eine Krankheitskostenpflichtversicherung in der (deutschen) PKV gewährleistet (BSG Urteil vom 12.1.2011 - B 12 KR 11/09 R - BSGE 107, 177 = SozR 4-2500 § 5 Nr 13, RdNr 16 unter Bezugnahme auf den Allgemeinen Teil der Begründung zum GKV-WSG, Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, aaO, S 86 f unter A.II.1.). Damit stehen beide Sicherungssysteme gleichwertig nebeneinander. Auch wenn der vorgegebene Umfang der Mindestabsicherung in der PKV hinter dem Leistungskatalog der GKV zurückbleibt, genügt das versicherungsvertragliche Sicherungsniveau dem Gesetzgeber für eine ausreichende Versorgung privat Versicherter im Bedarfsfall (Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drucks 16/4247 S 66 f zu Art 43 <VVG> Nr 01 <§ 178a> Abs 5). Infolgedessen werden an einen "anderweitigen Anspruch auf Absicherung" im Krankheitsfall im Sinn des § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V keine höheren Anforderungen gestellt als an die Krankheitskostenpflichtversicherung nach § 193 Abs 3 S 1 VVG (BSG Urteil vom 20.3.2013 - B 12 KR 14/11 R - BSGE 113, 160 = SozR 4-2500 § 5 Nr 18, RdNr 16). Es wäre widersprüchlich, ein den Anforderungen nach § 193 Abs 3 S 1 VVG entsprechendes Sicherungsniveau in der deutschen PKV als gleichwertig zur Versicherungspflicht in der GKV zu akzeptieren, nicht aber als ausreichende artgleiche Eigenvorsorge nach § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB V anzuerkennen. 3. Die Beigeladene zu 1. verfügte für den Zeitraum zwischen Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung der Beklagten zur Statusfeststellung auch über eine ausreichende Absicherung zur Altersvorsorge im Sinn von § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB IV. Diese war nicht entbehrlich, denn die Beigeladene zu 1. war nicht von der Versicherungspflicht in der GRV befreit (vgl für den Bereich der GKV BSG Urteil vom 5.12.2017 - B 12 R 6/15 R - Juris RdNr 22, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die anderweitige adäquate Altersvorsorge kann wahlweise öffentlich-rechtlich (etwa durch eine freiwillige Versicherung nach § 7 SGB VI oder als Pflicht- oder freiwillige Versicherung bei einer berufsständischen Altersversorgung) oder privatrechtlich (etwa durch eine private Lebens- bzw Rentenversicherung für den Fall des Erlebens des 60. oder eines höheren Lebensjahres) sichergestellt werden (BSG Urteil vom 5.12.2017 - B 12 R 6/15 R - Juris RdNr 20, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Sie ergibt sich indes nicht bereits aus der Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung. Eine den Leistungen der GRV entsprechende berufsständische Altersvorsorge setzt vielmehr voraus, dass eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht besteht oder anderenfalls tatsächlich Beiträge in Höhe des in der freiwilligen GRV zu zahlenden Mindestbeitrags entrichtet werden. Das LSG hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Auch ist aus den vom LSG in Bezug genommenen Gerichts- und Verwaltungsakten nicht ersichtlich, ob von der Beigeladenen zu 1. aufgrund § 22 Abs 2 der Satzung der Bayerischen Versorgungskammer (Bayer Staatsanzeiger Nr 50, in der Fassung vom 23.6.2008 und 8.8.2009, Bayer Staatsanzeiger Nr 26 und Nr 33) lediglich der auf die Hälfte ermäßigte Mindestbeitrag gezahlt worden ist, der unter dem Mindestbeitrag in der freiwilligen Rentenversicherung gelegen hätte. Die Höhe der berufsständisch gezahlten Beiträge kann allerdings wegen der von der Beigeladenen zu 1. abgeschlossenen Kapitallebensversicherung offenbleiben. Bei einer privatrechtlichen Absicherung liegt eine ausreichende Altersvorsorge jedenfalls dann vor, wenn die hierfür aufgewandten Prämien der Höhe nach dem Mindestbeitrag in der freiwilligen Rentenversicherung entsprechen (BSG Urteil vom 5.12.2017 - B 12 R 6/15 R - Juris RdNr 20, auch zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Das ist bei den von der Beigeladenen zu 1. für ihre zum 31.12.2017 und damit nach Erreichen des 60. Lebensjahres abgelaufene Lebensversicherung ausweislich des Versicherungsscheins ab 1.1.2009 gezahlten Prämien von monatlich 94,93 Euro der Fall. B. Die Anschlussrevision der Klägerin ist zulässig und begründet. I. Die Anschlussrevision war nicht als unzulässig zu verwerfen. Eine nach Ablauf der Revisionsfrist eingelegte - mithin unselbstständige - Anschlussrevision darf einerseits zwar grundsätzlich nicht einen Teil der Entscheidung betreffen, den die Revision selbst nicht erfasst, und damit einen neuen Streitgegenstand in das Verfahren einführen (vgl BSG Urteil vom 13.10.1992 - 4 RA 40/91 - SozR 3-5050 § 15 Nr 5; BSG Urteil vom 23.6.1998 - B 4 RA 33/97 R - Juris; BSG Urteil vom 19.6.1996 - 6 RKa 24/95 - Juris RdNr 16; BSG Urteil vom 10.2.2005 - B 4 RA 48/04 R - Juris RdNr 34 - jeweils zu einer Anschlussberufung). Sie muss sich andererseits aber auch nicht stets auf denselben Streitstoff beziehen. Vielmehr kann im Einzelfall ein unmittelbarer rechtlicher oder wirtschaftlicher Zusammenhang mit dem Lebenssachverhalt des Streitgegenstands der Revision ausreichen (BGH Urteil vom 22.11.2007 - I ZR 74/05 - BGHZ 174, 244 = NJW 2008, 920; BGH Urteil vom 21.6.2001 - IX ZR 73/00 - BGHZ 148, 156 = NJW 2001, 3543; BGH Urteil vom 19.2.2002 - X ZR 166/99 - NJW 2002, 1870; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 160 RdNr 3a; Karmanski in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 160 RdNr 7). Die Anschlussrevision ist daher zulässig, wenn sie sich - wie hier - "im Rahmen des gesamten Streitgegenstandes bewegt" (BSG Urteil vom 24.5.2006 - B 3 KR 15/05 R - SozR 4-1500 § 144 Nr 4 RdNr 16). Zwar sind Statusfeststellungsbescheide im Hinblick auf die Versicherungspflicht in den einzelnen Versicherungszweigen teilbar (hierzu A. I.), doch besteht vorliegend ein enger Zusammenhang zum Streitgegenstand der Revision. Im Rahmen der Anschlussrevision stellt sich die Frage, ob der Beginn der Versicherungspflicht für das Recht der Arbeitsförderung ebenso wie für die anderen Sozialversicherungszweige und damit einheitlich zu beurteilen ist, wenn die von der Revision bestrittenen Voraussetzungen des § 7a Abs 6 S 1 Nr 2 SGB IV vorliegen. Die Möglichkeit eines Anschlussbegehrens soll die prozessuale Waffengleichheit und Billigkeit im Falle einer infolge der Revision ohnehin gebotenen Überprüfung wahren (vgl BGH Urteil vom 21.6.2001 - IX ZR 73/00 - BGHZ 148, 156 = NJW 2001, 3543). Daher ist es geboten, der Klägerin die Geltendmachung von Angriffs- und Verteidigungsmitteln bezogen auf die Versicherungspflicht nach dem Recht der Arbeitsförderung im Wege der Anschlussrevision zu ermöglichen. II. Die Anschlussrevision ist begründet. Der spätere Beginn der Versicherungspflicht erst mit der Bekanntgabe der Entscheidung bezieht sich auch auf das Recht der Arbeitsförderung. Der Wortlaut des § 7a Abs 6 S 1 SGB IV lässt es für einen späteren Beginn der Versicherungspflicht ausreichen, dass für die Risiken Krankheit und Alter ein bestimmtes Sicherungsniveau erreicht wird, und formuliert als Rechtsfolge, dass "die Versicherungspflicht" erst mit Bekanntgabe der Entscheidung eintritt, ohne zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung zu differenzieren. Offenbleiben kann, ob der spätere Eintritt der Versicherungspflicht in jedem der Zweige der Sozialversicherung stets davon abhängt, dass für beide Risiken - Krankheit und Alter - eine mit der GKV und GRV artgleiche Absicherung vorgenommen wurde. Eine einschränkende, das Recht der Arbeitsförderung vom Anwendungsbereich des § 7a Abs 6 S 1 SGB IV ausnehmende Auslegung dieser Vorschrift aus anderen Gründen ist nicht geboten. Die Regelung beruht auf einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber- und Beschäftigtenbelangen (vgl hierzu im Einzelnen BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 3/14 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 5 RdNr 19f; BSG Urteil vom 24.3.2016 - B 12 R 12/14 R - SozR 4-2400 § 7a Nr 6 RdNr 21 f). Einerseits sollen die finanziellen Risiken durch Beitragsnachzahlungen für gutgläubige Arbeitgeber beschränkt werden (vgl Abschlussbericht der Kommission "Scheinselbständigkeit", NZA 1999, 1260, unter II. 2. d). Andererseits sollen mit den Anforderungen an eine zeitgleiche anderweitige adäquate Absicherung entstehende Versicherungsschutzlücken reduziert werden. Gerade im Hinblick darauf, dass sich aufgrund eines späteren gewillkürten Versicherungsbeginns Nachteile im Versicherungsschutz Betroffener realisieren können, ist der spätere Eintritt der Versicherungspflicht von der Zustimmung des Beschäftigten abhängig gemacht worden (vgl dazu näher Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung <11. Ausschuss>, BT-Drucks 14/2046 S 1 unter A., S 2 unter B., S 5 unter II., S 10 <BDA, DAG> und S 13 <Fraktionen>). Allein der Beschäftigte - und gerade nicht der Arbeitgeber - hat damit entsprechend seiner Interessenlage erweiterte Handlungsspielräume in Bezug darauf, ob der sozialversicherungsrechtliche Schutz vorübergehend nicht in Anspruch genommen werden soll (vgl BT-Drucks 14/1855 S 6 unter A., S 8 zu Abs 6). C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2, § 162 Abs 3 VwGO. D. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 2, § 47 Abs 1 S 1 GKG; insoweit war der Auffangstreitwert festzusetzen.
bundessozialgericht
bsg_8 - 2018
02.03.2018
Elterngeldverlust durch Heiratsbeihilfe und Weihnachtsgeld? Ausgabejahr 2018 Nummer 8 Datum 02.03.2018 Reduzieren anlassbezogene oder einmalige Zahlungen wie eine Heiratsbeihilfe oder Weihnachtsgeld das Elterngeld, wenn der Arbeitgeber keinen Lohnsteuerabzug vom Arbeitslohn vornimmt, sondern das Einkommen während des Elterngeldbezugs pauschal versteuert? Hierüber wird der 10. Senat des Bundessozialgerichts am 8. März 2018, um 11.30 Uhr (B 10 EG 8/16 R) mündlich verhandeln und eine Entscheidung verkünden. Die Klägerin war vor der Geburt ihres Kindes im Januar 2014 als Angestellte eines Steuerbüros tätig. Nach der Geburt ihres Kindes beschäftigte ihr Arbeitgeber sie mit einem pauschal versteuerten Minijob weiter. Zusätzlich zum laufenden Arbeitslohn zahlte er ihr während des Elterngeldbezugs eine einmalige Heiratsbeihilfe sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Diese Leistungen versteuerte er ebenfalls pauschal. Der beklagte Freistaat rechnete diese Zahlungen wegen der pauschalen Versteuerung als Einkommen auf das Elterngeld der Klägerin an. Der hiergegen gerichteten Klage haben die Vorinstanzen stattgegeben. In einem Lohnsteuerabzugsverfahren würden diese Vergütungsbestandteile als sonstige Bezüge bei der Elterngeldberechnung nicht berücksichtigt. Unerheblich sei, dass sich der Arbeitgeber für eine pauschale Versteuerung des Mini-Jobs entschieden habe. Hierfür gebe es keine besondere Regelung im Elterngeldrecht. Mit seiner Revision rügt der Beklagte, pauschal versteuerte Einnahmen seien bei der Elterngeldbemessung stets und ohne Trennung nach laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen zu berücksichtigen. Hinweis auf Rechtsvorschriften § 2 Absatz 3 BEEG in der Fassung ab 18.9.2012 (3) Für Monate nach der Geburt des Kindes, in denen die berechtigte Person ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat, das durchschnittlich geringer ist als das Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt, wird Elterngeld in Höhe des nach Absatz 1 oder 2 maßgeblichen Prozentsatzes des Unterschiedsbetrages dieser Einkommen aus Erwerbstätigkeit gezahlt… § 2c Absatz 1 BEEG in der Fassung ab 18.9.2012 (1) 1Der … Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit … über ein Zwölftel des Arbeitnehmer-Pauschbetrags, vermindert um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben …, ergibt das Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit. 2Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge behandelt werden… § 2c Absatz 1 BEEG in der Fassung ab 1.1.2015 (1) 1Der … Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit …, ergibt das Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit. 2Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind…
Bundessozialgericht Urteil vom 08.03.2018, B 10 EG 8/16 R Elterngeld - Einkommensermittlung - nichtselbstständige Erwerbstätigkeit - pauschal versteuerte Einmalzahlungen - Weihnachtsgeld - Urlaubsgeld - Heiratsbeihilfe - laufender Arbeitslohn - sonstige Bezüge - lohnsteuerrechtliche Behandlung - Minijob - pauschale Versteuerung - sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - steuerrechtsakzessorische Prüfung durch die Elterngeldbehörden - sozialgerichtliches Verfahren - isolierte Anfechtung der endgültigen Elterngeldfestsetzung LeitsätzeAuch pauschal versteuerte Einmalzahlungen werden bei der Elterngeldberechnung nicht als Einkommen berücksichtigt. TenorDie Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 2016 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen. TatbestandDie Klägerin wendet sich gegen die endgültige Festsetzung ihres Elterngelds und die damit verbundene Rückforderung bereits ausgezahlter Beträge. Die Klägerin beantragte im Februar 2014 Elterngeld für den ersten bis 12. Lebensmonat ihrer am 7.1.2014 geborenen Tochter. Im Antrag gab sie an, sie beabsichtige keine Erwerbstätigkeit im Bezugszeitraum. Der Beklagte gewährte der Klägerin unter Anrechnung von Mutterschaftsleistungen Elterngeld in Höhe von 0 Euro für den ersten Lebensmonat, 82,88 Euro für den zweiten Lebensmonat und 1160,45 Euro für den dritten bis 12. Lebensmonat (Bescheid vom 26.2.2014). Im April 2014 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, sie werde nun doch ab dem 12.5.2014 bis zum Ende des Jahres für drei Stunden pro Woche eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Das Steuerbrutto werde im Mai 106,67 Euro und ab Juni 160 Euro monatlich betragen. Daraufhin hob der Beklagte die Elterngeldgewährung der Klägerin teilweise auf und setzte ihr Elterngeld vorläufig neu fest. Vom monatlichen Nettoerwerbseinkommen im Bemessungszeitraum sei ein durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen in Höhe von 73,04 Euro abzuziehen. Für die Zeit ab dem 7.5.2014 ergebe sich ein Elterngeld in Höhe von 1112,97 Euro im Monat. Eine endgültige Entscheidung erfolge nach Vorlage der Nachweise über das Einkommen im Bezugszeitraum. Zuviel erbrachte Leistungen seien dann zu erstatten (Bescheid von 16.4.2014). Nach Vorlage der Lohn- und Gehaltsabrechnungen für die Monate Mai bis Dezember 2014 setzte der Beklagte das Elterngeld der Klägerin endgültig fest. Nach Höhe der jetzt feststehenden Einkünfte in den bewilligten Lebensmonaten sei unter Berücksichtigung der jeweiligen Abzugsmerkmale ein durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen von 370,93 Euro anzurechnen. Das monatliche Elterngeld belaufe sich ab 7.5.2014 auf 945,02 Euro. Das überzahlte Elterngeld von 1290,42 Euro sei von der Klägerin zu erstatten (Bescheid vom 5.2.2015). Mit ihrem Widerspruch wandte sich die Klägerin gegen die Anrechnung der "Sonderzahlungen" von 49 Euro Urlaubsgeld im Juni 2014, 1600 Euro Heiratsbeihilfe im Juli 2014 und 745 Euro Weihnachtsgeld im Dezember 2014. Aus den Einmalzahlungen vor dem Elterngeldbezug habe sie auch keinen Elterngeldanspruch erworben. Der Beklagte habe ihr zudem zuvor mitgeteilt, diese Zahlungen würden nicht angerechnet. Es handele sich um Einmalzahlungen, die ihr Arbeitgeber freiwillig und zusätzlich zum normalen Lohn gezahlt habe. Diese freiwilligen Zahlungen hätten nichts mit dem laufenden Lohn zu tun. Dieser werde pauschal beim Minijob versteuert. Der Beklagte wies den Widerspruch zurück. Unter Berücksichtigung der auf das Elterngeld anzurechnenden, pauschal versteuerten Einkünfte aus dem Minijob und den Einmalzahlungen im fünften bis 12. Lebensmonat errechne sich nur noch ein monatliches Elterngeld in Höhe von 945,02 Euro (Widerspruchsbescheid vom 13.5.2015). Auf die Klage hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 5.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 aufgehoben. Bei den streitigen Vergütungen im Bezugszeitraum handele es sich um einmaligen Arbeitslohn, weil dieser nicht regelmäßig fortlaufend der Klägerin zugeflossen sei. In einem Lohnsteuerabzugsverfahren würden diese Vergütungsbestandteile als sonstige Bezüge behandelt. Sie seien daher nach § 2c Abs 1 S 2 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG idF vom 10.9.2012) nicht bei der Elterngeldberechnung zu berücksichtigen. Seine Berufung hat der Beklagte ausdrücklich nur darauf gestützt, die Heiratsbeihilfe sowie das Urlaubs- und Weihnachtsgeld seien auf das Elterngeld anzurechnen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die im Bezugszeitraum erfolgten Einmalzahlungen in Form von Heiratsbeihilfe, Urlaubs- und Weihnachtsgeld seien nicht auf das Elterngeld anzurechnen. Entscheidend sei, ob diese Zahlungen bei Anwendung des Lohnsteuerabzugsverfahrens abstrakt-generell als laufender Arbeitslohn oder, wie hier, als sonstige Bezüge zu behandeln wären. Der Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität müsse hinter verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen, vor allem dem Gleichheitssatz, zurücktreten (Urteil vom 26.10.2016). Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2c Abs 1 S 2 BEEG (idF vom 10.9.2012). Die normative Ausgestaltung dieser Bestimmung spräche dafür, pauschal versteuerte Einnahmen bei der Elterngeldbemessung stets zu berücksichtigen. Andernfalls werde die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verwaltungsvereinfachung verfehlt. Unabhängig davon hätte die Anfechtungsklage wegen verschiedener anderer Unstimmigkeiten bei der Elterngeldberechnung in keinem Fall in vollem Umfang Erfolg haben dürfen. Der Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 2016 und des Sozialgerichts Augsburg vom 18. November 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 5.2.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil der Beklagte ihr Elterngeld zu niedrig festgesetzt und zu Unrecht überzahltes Elterngeld zurückgefordert hat. Das SG hat diese Bescheide daher zu Recht aufgehoben und ist darin vom LSG mit dem angefochtenen Berufungsurteil zutreffend bestätigt worden. 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die endgültige Festsetzung des Elterngelds im Bescheid des Beklagten vom 5.2.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 (§ 95 SGG), soweit der Beklagte die im Bezugszeitraum erfolgten Einmalzahlungen in Form von Heiratsbeihilfe, Urlaubs- und Weihnachtsgeld in die Bemessungsgrundlage des Elterngelds einbezogen und vorläufig gewährtes Elterngeld zurückgefordert hat. Hiergegen hat die Klägerin zulässig nur eine isolierte Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 S 1 SGG erhoben (vgl Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 13/13 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 29 RdNr 11). Denn sie zielt mit ihrem Klagebegehren (vgl § 123 SGG) insoweit auf eine vollständige Aufhebung des angefochtenen Bescheids vom 5.2.2015 und der darin erfolgten endgültigen Elterngeldfestsetzung ab. Ihr Klageantrag zwingt zu keiner anderen Auslegung. Dies widerspricht auch nicht ihrem erkennbaren Rechtsschutzinteresse. Die Klägerin hat den Rechtsstreit allein wegen der drei Einmalzahlungen - Heiratsbeihilfe, Urlaubs- und Weihnachtsgeld - geführt, will aber ersichtlich mit der Anfechtung auch der Verfügung über die endgültige Festsetzung uneingeschränkt zur vorläufigen Elterngeldfestsetzung zurückkehren (zur auch möglichen Teilanfechtung vgl Senatsurteil vom 5.4.2012 - B 10 EG 10/11 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 14 RdNr 19). 2. Die zulässige Anfechtungsklage der Klägerin ist auch begründet. Die endgültige Elterngeldfestsetzung des Beklagten vom 5.2.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 (§ 95 SGG) war rechtswidrig und hat die Klägerin in ihren Rechten verletzt. a) Die Ermächtigung des Beklagten zu einer von der geänderten vorläufigen Elterngeldfestsetzung im Bescheid vom 16.4.2014 abermals abweichenden Regelung ergibt sich aus dem damit verbundenen Vorbehalt der Vorläufigkeit, mit dem der Beklagte den ursprünglichen Bescheid vom 26.2.2014 nachträglich nach § 8 Abs 3 BEEG versehen hat (zu dieser Möglichkeit vgl Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 13/13 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 29 RdNr 14 mwN). b) Die Klägerin war dem Grunde nach zum Bezug von Elterngeld berechtigt. Wie der Beklagte im Ausgangsbescheid vom 26.2.2014 zu Recht festgestellt hat, erfüllte die Klägerin vom 7.1.2014 bis 6.1.2015 die Grundvoraussetzungen der Elterngeldgewährung iS von § 1 BEEG. c) Die Höhe des Elterngeldanspruchs der Klägerin berechnet sich gemäß § 2 Abs 3 S 1 iVm Abs 1 und 2 BEEG aus dem Unterschiedsbetrag ihres Einkommens im Bemessungszeitraum vor und im Bezugszeitraum nach der Geburt multipliziert mit der gesetzlich bestimmten Ersatzrate. Die aufgrund der angefochtenen Entscheidungen und ihrer Feststellungen allein streitbefangene Höhe des Einkommens der Klägerin im Bezugszeitraum ergibt sich - ebenso wie diejenige im Bemessungszeitraum - aus § 2c BEEG in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs vom 10.9.2012 (BGBl I 1878). Einkommen aus nichtselbstständiger Tätigkeit ist demnach der monatlich durchschnittlich zu berücksichtigende Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit in Geld oder Geldeswert über ein Zwölftel des Arbeitnehmer-Pauschbetrags, vermindert um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben nach den § 2e und 2f BEEG (§ 2c Abs 1 S 1 BEEG). Das von der Klägerin im Bezugszeitraum erzielte Einkommen aus einer geringfügigen Beschäftigung ist Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit iS von § 2 Abs 1 Nr 4 EStG (siehe § 2 Abs 1 S 2 BEEG) und nicht nach § 3 EStG steuerfrei gestellt (vgl Senatsurteil vom 15.12.2011 - B 10 EG 13/10 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 12 RdNr 32 mwN). Es gehört daher zu den im Inland zu versteuernden Einkünften iS von § 2 Abs 1 S 3 BEEG und damit grundsätzlich zur Bemessungsgrundlage des Elterngelds. Wie indes § 2c Abs 1 S 2 BEEG als Ausnahme davon bestimmt, werden bei der Berechnung des elterngeldrelevanten Einkommens solche Einnahmen nicht berücksichtigt, die im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge "behandelt werden". Nach dieser Vorschrift haben die Vorinstanzen zutreffend die drei Einmalzahlungen (Heiratsbeihilfe, Urlaubs- und Weihnachtsgeld) an die Klägerin im Bezugszeitraum von der Bemessungsgrundlage des Elterngelds ausgenommen. Dieser Ausschluss ergibt sich aus Wortlaut (aa) sowie vor allem aus der systematischen Stellung und dem Zweck der Norm (bb), wie er maßgeblich in der Entstehungsgeschichte zum Ausdruck kommt (cc). aa) Die Formulierung "im Lohnsteuerabzugsverfahren" zusammen mit der Gegenwartsform "behandelt werden" in § 2c Abs 1 S 2 BEEG bezeichnet zum einen solche Einnahmen, von denen der Arbeitgeber tatsächlich Lohnsteuer abzieht. Der Wortlaut lässt darüber hinaus aber Raum für ein weitergehendes normatives Begriffsverständnis. Es umfasst auch solche Einnahmen, die in einem nur gedachten ("fiktiven") Lohnsteuerabzugsverfahren im Sinne einer "Als-ob-Betrachtung" als sonstige Bezüge zu behandeln wären. Die Wendung "im Lohnsteuerabzugsverfahren" ist damit nicht ausschließlich beschränkt auf ein im konkreten Fall tatsächlich durchgeführtes Lohnsteuerabzugsverfahren. Sie kann darüber hinaus auch auf das Verfahren des Lohnsteuerabzugs als solches bezogen werden, also auf die Erhebung der Einkommensteuer durch Vorauszahlung in Form des Abzugs vom Arbeitslohn (vgl § 38 Abs 1 S 1 EStG) und vor allem auf die dafür geltenden materiell-rechtlichen Vorgaben. Für dieses normative Verständnis spricht maßgeblich der Wortlaut der Nachfolgeregelung (in der Fassung des Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 18.12.2014, BGBl I 2325), mit dem der Gesetzgeber den Inhalt der Norm nicht wesentlich ändern, sondern diesen nur verdeutlichen wollte (vgl Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 24 unter Hinweis auf BT-Drucks 18/2583 S 24 f - zur Veröffentlichung vorgesehen in BSGE und SozR). Danach werden solche Einnahmen nicht als elterngeldrelevantes Einkommen berücksichtigt, die im Lohnsteuerabzugsverfahren "nach den lohnsteuerlichen Vorgaben" als sonstige Bezüge "zu behandeln sind". bb) Bestätigt wird die zutreffende Auslegung der Vorinstanzen durch die systematische Stellung sowie den Sinn und Zweck der Norm. Im Lohnsteuerabzugsverfahren dient die Unterscheidung zwischen sonstigen Bezügen und laufendem Arbeitslohn durch §§ 38a, 39b EStG der gleichmäßigen Besteuerung des Arbeitnehmers im Jahresverlauf (vgl Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115,198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25, RdNr 18 f). Werden Einkünfte dagegen pauschal versteuert, bedarf es dieser Unterscheidung insoweit nicht. Pauschal versteuerte Sonderzahlungen - wie zB Weihnachtsgeld - sind auch ohne Anwendung der genannten Vorschriften über den Lohnsteuerabzug rechnerisch auf die gesamten Lohnzahlungszeiträume zu verteilen, für die sie erbracht worden sind (BFH Urteil vom 21.7.1989 - VI R 157/87 - Juris RdNr 11; Krüger in Schmidt, EStG, 36. Aufl 2017, § 40a RdNr 4 mwN). Gleichwohl behält die begriffliche Unterscheidung zwischen sonstigen Bezügen und laufendem Arbeitslohn im Steuerrecht selbst dann eine Funktion, wenn kein Lohnsteuerabzug stattfindet. So ermöglicht § 40 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG dem Arbeitgeber, die Lohnsteuer mit einem Pauschsteuersatz zu erheben, der unter Berücksichtigung des § 38a EStG zu ermitteln ist, soweit der Arbeitgeber sonstige Bezüge in einer größeren Zahl von Fällen gewährt. Er trägt dann nach Abs 3 der Vorschrift diese pauschale Lohnsteuer, während der Arbeitnehmer an diesem Pauschalierungsverfahren nicht beteiligt ist. cc) Im steuerrechtsakzessorischen Recht des Elterngelds erfüllt die Unterscheidung zwischen sonstigen Bezügen und laufendem Arbeitslohn auch außerhalb des unmittelbaren Anwendungsbereichs der §§ 38a, 39b EStG beim Lohnsteuerabzug eine zentrale Funktion, wie sich vor allem aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt. Bei der Ausgestaltung des Elterngelds als (teilweiser) Einkommensersatz kam es dem BEEG-Gesetzgeber darauf an, in generalisierender Weise eine Bemessungsgrundlage zu schaffen, die das zukünftig wegfallende Einkommen verlässlich und realitätsgetreu abbildet. Dafür hat er sich - wie bei anderen kurzfristigen Entgeltersatzleistungen - der sogenannten Bezugs- bzw Referenzmethode bedient (vgl Senatsurteil vom 17.2.2011 - B 10 EG 20/09 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 8 RdNr 59). Sie beschränkt den Einkommensersatz auf solche Einkünfte, welche die vorgeburtliche Lebenssituation geprägt, dh wesentlich beeinflusst haben (Senatsurteil vom 17.2.2011 - B 10 EG 20/09 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 8 RdNr 65). Spiegelbildlich gilt dies dann auch für den Bezugszeitraum. Das ausschlaggebende Kriterium zur Feststellung solcher prägender Einkünfte sollte dabei zunächst der Begriff der einmaligen Einnahmen bilden. Nach dem Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD zur Einführung des Elterngeldes vom 20.6.2006 (BT-Drucks 16/1889 S 21), der noch vom Einkommensbegriff des SGB II ausgegangen war, sollten einmalige Einnahmen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld, Prämien sowie Erfolgsbeteiligungen weder im Bemessungszeitraum vor der Geburt noch während des Bezugszeitraums des Elterngelds berücksichtigt werden. Solche Einnahmen prägten laut Entwurf die für das Elterngeld als monatliche Leistung maßgeblichen Verhältnisse nicht mit der gleichen Nachhaltigkeit wie das laufende Erwerbseinkommen. Darüber hinaus könne der zufällige Zufluss einmaliger Einnahmen im Bezugszeitraum den Elterngeldanspruch insbesondere teilzeitbeschäftigter Eltern beeinträchtigen (Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 20). Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ist an die Stelle des Begriffs der einmaligen Einnahmen derjenige der sonstigen Bezüge getreten. Er hat damit auch dessen Abgrenzungsfunktion übernommen. Sie bleibt maßgeblich für die Feststellung, welche Einnahmen das vorgeburtliche Einkommen hinreichend sicher geprägt haben und deshalb durch das Elterngeld teilweise zu ersetzen sind. Der Gesetzgeber zielt seit jeher darauf ab, sonstige Bezüge im Sinne des materiellen Lohnsteuerrechts aus der Bemessungsgrundlage für das Elterngeld nichtselbstständig Erwerbstätiger auszuschließen. Die ursprüngliche Gesetzesfassung hatte zu diesem Zweck ausdrücklich angeordnet, sonstige Bezüge iS von § 38a Abs 1 S 3 EStG nicht als elterngeldrelevante Einnahmen zu berücksichtigen, ohne das Lohnsteuerabzugsverfahren überhaupt zu erwähnen (vgl Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 20). Der in späteren Fassungen hinzugefügte Verweis auf die Ergebnisse dieses Verfahrens soll die nach den Kriterien des materiellen Steuerrechts ausgeschlossenen Einnahmen zweifelsfrei identifizieren (Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 25). Dieser Verweis ersetzt aber nicht die verbindlichen materiell-rechtlichen Zuordnungsregeln des Steuerrechts, sondern betont und verstärkt nur ihre Verbindlichkeit für das Elterngeldverfahren (Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 34). Nichts Anderes ergibt sich aus dem von der Revision hervorgehobenen Detail der Entstehungsgeschichte zur Behandlung pauschal versteuerter Einnahmen im Elterngeldrecht. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Haushaltsbegleitgesetz 2011 (BT-Drucks 17/3030) hatte zunächst vorgesehen, pauschal versteuerte Einnahmen ebenso wie heute noch sonstige Bezüge vollständig aus der Bemessungsgrundlage des Elterngelds auszuklammern. (aaO, S 19) Dieser Vorschlag ist aber hinsichtlich pauschal versteuerter Einnahmen nicht Gesetz geworden, sondern im Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden. Anlass für die Streichung war die Befürchtung, ansonsten insbesondere erwerbstätige Mütter mit geringem Einkommen, das häufig pauschal versteuert wird, zu benachteiligen (BR-Drucks 532/1/10 S 26). Diese Entstehungsgeschichte spricht für das Ziel der gesetzgeberischen Konzeption, Einkommen aus abhängiger Beschäftigung unabhängig vom gewählten Besteuerungsverfahren bei der Elterngeldbemessung denselben Regeln zu unterwerfen. Anders als der Beklagte meint, liegt darin keine gleichheitswidrige Benachteiligung von Müttern mit geringem, pauschal versteuerten Einkommen, sondern deren folgerichtige Gleichbehandlung. Wegen der geschilderten gesetzlichen Systematik im Lichte der Entstehungsgeschichte bleibt es somit bei der zentralen Bedeutung der materiell-rechtlichen Unterscheidung zwischen sonstigem Bezug und laufendem Arbeitslohn für die Elterngeldberechnung selbst dann, wenn im konkreten Fall kein Lohnsteuerabzug nach §§ 38a, 39b EStG stattfindet. Auch im Fall einer pauschalen Besteuerung kann auf die materiellen Unterscheidungskriterien des Steuerrechts zurückgegriffen werden, um sonstige Bezüge aus der Bemessungsgrundlage des Elterngelds ausschließen (zu diesen Kriterien im Einzelnen Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 26 ff mwN). Dieser Ausschluss ist auch stets erforderlich. Wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, darf die Elterngeldhöhe nach der gesetzlichen Konzeption nicht allein von der Wahl des Besteuerungsverfahrens abhängen, die bei geringfügiger Beschäftigung im freien Ermessen des Arbeitgebers liegt (vgl BAG Urteil vom 13.11.2014 - 8 AZR 817/13 - Juris RdNr 19). Beide Besteuerungsverfahren unterscheiden sich zwar. So schuldet insbesondere bei der Lohnsteuerpauschalierung im Unterschied zum Lohnsteuerabzugsverfahren (§ 38 Abs 2 EStG) nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber die Lohnsteuer (§ 40a Abs 5 iVm § 40 Abs 3 S 1 und S 2 Halbs 1 EStG). Mit Blick auf Systematik und Zielsetzung des Elterngelds ist dieser Unterschied jedoch ohne Belang. Die pauschale Lohnsteuer ist nicht anders als eine besonders berechnete Lohnsteuer (vgl Krüger in Schmidt, EStG, 36. Aufl 2017, § 40 RdNr 24). Die Bemessungsgrundlage ist in beiden Besteuerungsverfahren im Grundsatz identisch. Maßgeblich ist jeweils der "Arbeitslohn" iS des § 19 Abs 1 Nr 1 EStG und § 2 LStDV (BAG Urteil vom 29.8.2012 - 10 AZR 589/11 - Juris RdNr 23). Und gerade an diese Bemessungsgrundlage knüpft die Höhe des Elterngelds auf dem Weg über § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 BEEG maßgeblich an (vgl Senatsurteil vom 17.2.2011 - B 10 EG 17/09 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 7 RdNr 26). Wollte man trotzdem die Bemessungsgrundlage des Elterngelds von der Wahl des Besteuerungsverfahrens abhängig machen, obwohl diese Wahl im freien Ermessen des Arbeitgebers liegt, so gerieten die Bestimmungen über die Elterngeldhöhe in Gefahr, ihre systembezogene Folgerichtigkeit zu verlieren. d) Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass ohne ein Lohnsteuerabzugsverfahren die Unterscheidung zwischen laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen nicht bereits im Steuerverfahren getroffen und von dort übernommen werden kann. Gleichwohl bleibt diese Unterscheidung als wesentliches Referenzkriterium unverzichtbar, um die prägenden Einnahmen für die Elterngeldberechnung zu bestimmen. Ist das Lohnsteuerabzugsverfahren daher im Zeitpunkt der Elterngeldfestsetzung ausnahmsweise noch nicht abgeschlossen, müssen die Elterngeldbehörden selbst steuerrechtsakzessorisch überprüfen, ob Einnahmen im laufenden Lohnsteuerabzugsverfahren nach den steuerrechtlichen Vorschriften zu Recht als sonstige Bezüge behandelt worden sind. Findet das Verfahren auf einen Teil oder alle steuerpflichtigen Einkünfte von vornherein keine Anwendung, weil sie pauschal vom Arbeitgeber versteuert werden, müssen die Elterngeldstellen diese Unterscheidung vollumfänglich selbst treffen. Der damit in Einzelfällen verbundene erhöhte Verwaltungsaufwand ist hinzunehmen und auch zumutbar. Er ist zwangsläufige Folge der vom BEEG-Gesetzgeber angeordneten strengen Steuerrechtsakzessorietät des Elterngeldrechts. Zudem vermeidet er Zufallsergebnisse und damit Ungerechtigkeiten. Allerdings dürften hohe pauschal versteuerte Einmalzahlungen wie im Fall der Klägerin ohnehin eher eine seltene Ausnahme bilden. e) Nach diesen Vorgaben wären die hier allein streitbefangenen pauschal versteuerten Einmalzahlungen an die Klägerin in einem Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge iS von § 2c Abs 1 S 2 BEEG in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes vom 10.9.2012 (aaO) zu behandeln. Sie sind deshalb von der Bemessungsgrundlage des Elterngelds auszunehmen. Denn gemäß den lohnsteuerrechtlichen Vorgaben sind sonstige Bezüge all jene Entgeltzahlungen, deren Zahlungszeiträume von dem als Regel vorgesehenen Zahlungsturnus für Arbeitslohn nicht nur unerheblich abweichen, weil sie entweder nicht für bestimmte, aufeinanderfolgende Zeiträume erfolgen oder den üblichen Lohnzahlungszeitraum erheblich überschreiten (Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - Juris RdNr 31). Im Vergleich zu dem in allen Monaten des Elterngeldbezugs gleichbleibend gewährten Entgelt für die geringfügige Beschäftigung der Klägerin wäre damit das ihr gewährte Weihnachts- und Urlaubsgeld (vgl dazu zuletzt Senatsurteil vom 29.6.2017 - B 10 EG 5/16 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 32 RdNr 17 ff) ebenso als sonstiger Bezug zu behandeln wie die ihr einmalig gezahlte Heiratsbeihilfe. Denn alle drei Zahlungen erfolgten nicht für bestimmte, aufeinander folgende Zeiträume, sondern einmalig und anlassbezogen. § 2c Abs 1 S 2 BEEG schließt daher die drei im Bezugszeitraum gewährten Einmalzahlungen von der Bemessungsgrundlage aus; der Beklagte hat sie deshalb auch im Bezugszeitraum des Elterngelds zu Unrecht elterngeldmindernd als Einkommen berücksichtigt. Dadurch hat er das Elterngeld der Klägerin zu niedrig festgesetzt und zu Unrecht bereits gezahlte Beträge zurückgefordert. Davon kann der Senat bei der Entscheidung über die isolierte Anfechtungsklage der Klägerin auch ohne weitere Feststellungen und Berechnungen des LSG zur konkreten Höhe ihres Elterngeldanspruchs ausgehen. Der Beklagte hat diesen Anspruch allein deshalb abgesenkt und vorläufig gewährtes Elterngeld nach § 26 Abs 2 BEEG iVm § 328 Abs 3 SGB III teilweise zurückgefordert, weil er die drei einmaligen Zahlungen im Bezugszeitraum unzutreffend als Einkommen berücksichtigt hat. Denn lässt man diese außer Betracht, so hat der Beklagte im vorläufigen Bescheid vom 16.4.2014 nach den insoweit bindenden Feststellungen des LSG sogar ein höheres Einkommen im Bezugszeitraum angesetzt als danach in seinem endgültigen Bescheid. Der Beklagte kann dagegen nicht mit seinem Einwand durchdringen, er habe im Bezugszeitraum einerseits weiteres pauschal versteuertes Einkommen der Klägerin zu Unrecht unberücksichtigt gelassen und andererseits im Bemessungszeitraum zu hohe Einnahmen zugrunde gelegt. Im Berufungsverfahren sind zwischen den Beteiligten nur die drei genannten Einmalzahlungen streitig gewesen. Nur hierüber hat das LSG auch entschieden. Folgerichtig hat es keine gesonderten Feststellungen zu anderen Berechnungsposten des Elterngelds getroffen (und auch nicht treffen müssen). Durchgreifende Verfahrensrügen hat der Beklagte hiergegen nicht erhoben. Den neuen (Tatsachen-)Vortrag des Beklagten im Revisionsverfahren darf der Senat deshalb nicht berücksichtigen. Nichts Anderes gilt für die weiteren von der Revision thematisierten, aber außerhalb der hier allein streitgegenständlichen Anrechnung der im Bezugszeitraum gezahlten Einmalzahlungen liegenden Einzelheiten der Elterngeldberechnung, etwa hinsichtlich steuerfrei gewährter Beiträge zu einer Arbeitnehmerdirektversicherung. f) Erweist sich damit die vollständige Aufhebung des endgültigen Elterngeldbescheids durch das SG und ihre Bestätigung durch das LSG auf der Grundlage seiner für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen (vgl § 163 SGG) als richtig, so verfügt die Klägerin wegen der von ihr beantragten Vollanfechtung weiterhin nur über eine vorläufige Elterngeldbewilligung in der ursprünglichen festgesetzten Höhe. Dem Beklagten bleibt es unbenommen, bei der jetzt wieder ausstehenden endgültigen Elterngeldfestsetzung die von ihm im Revisionsverfahren behaupteten (vermeintlichen) Unstimmigkeiten der Elterngeldberechnung zu berichtigen, solange er dabei die rechtlichen Vorgaben dieses Urteils beachtet. 3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
bundessozialgericht
bsg_13 - 2020
25.06.2020
Provisionen können das Elterngeld erhöhen Ausgabejahr 2020 Nummer 13 Datum 25.06.2020 Als sonstige Bezüge im Lohnsteuerabzugsverfahren angemeldete Provisionen können gleichwohl als laufender Arbeitslohn das Elterngeld erhöhen, wenn die Bindungswirkung der Anmeldung für die Beteiligten des Elterngeldverfahrens weggefallen ist. Dies hat der 10. Senat des Bundessozialgerichts heute entschieden (Aktenzeichen B 10 EG 3/19 R). Die Klägerin ist Steuerfachwirtin. Sie erzielte vor der Geburt ihrer Tochter neben ihrem monatlichen Gehalt jeden Monat eine Provision in Höhe von 500,00 bis 600,00 Euro, die lohnsteuerrechtlich von ihrer Arbeitgeberin als sonstiger Bezug eingestuft wurde. Der beklagte Freistaat bewilligte der Klägerin deshalb Elterngeld, ohne die Provisionen bei der Elterngeldbemessung zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht hat anders als das Sozialgericht - der Klage auf höheres Elterngeld stattgegeben. Das Bundessozialgericht hat die Revision des beklagten Freistaats zurückgewiesen. Die der Klägerin in den arbeitsvertraglich vereinbarten Lohnzahlungszeiträumen regelmäßig und lückenlos gezahlten Provisionen, sind materiell steuerrechtlich als laufender Arbeitslohn einzustufen. Die anderslautende Lohnsteueranmeldung der Arbeitgeberin steht nicht entgegen. Die Lohnsteueranmeldung bindet zwar grundsätzlich die Beteiligten im Elterngeldverfahren. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Regelungswirkung der Lohnsteueranmeldung weggefallen ist, weil sie - wie hier aufgrund eines nachfolgenden Einkommensteuerbescheids - überholt ist. Hinweis auf Rechtsvorschriften Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) idF des Gesetzes vom 18.12.2014, BGBl I 2325 § 2 Höhe des Elterngeldes (1) 1Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des Einkommens aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes gewährt. 2Es wird bis zu einem Höchstbetrag von 1 800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit hat. 3Das Einkommen aus Erwerbstätigkeit errechnet sich nach Maßgabe der §§ 2c bis 2f aus der um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben verminderten Summe der positiven Einkünfte aus 1. nichtselbständiger Arbeit nach § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 des Einkommensteuergesetzes sowie 2. … § 2c Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit (1) 1Der monatlich durchschnittlich zu berücksichtigende Überschuss der Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit in Geld oder Geldeswert über ein Zwölftel des Arbeitnehmer-Pauschbetrags, vermindert um die Abzüge für Steuern und Sozialabgaben nach den §§ 2e und 2f, ergibt das Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit. 2Nicht berücksichtigt werden Einnahmen, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind. 3Maßgeblich ist der Arbeitnehmer-Pauschbetrag nach § 9a Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a des Einkommensteuergesetzes in der am 1. Januar des Kalenderjahres vor der Geburt des Kindes für dieses Jahr geltenden Fassung. (2) 1Grundlage der Ermittlung der Einnahmen sind die Angaben in den für die maßgeblichen Monate erstellten Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers. 2Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben in den maßgeblichen Lohn- und Gehaltsbescheinigungen wird vermutet. (3) …
Bundessozialgericht Urteil vom 25.06.2020, B 10 EG 3/19 R Elterngeld - Einkommensermittlung - nichtselbstständige Erwerbstätigkeit - Provision - sonstige Bezüge - laufender Arbeitslohn - Steuerrechtsakzessorietät - weitere Entgeltbestandteile - Zahlungszeitraum für das Grundgehalt maßgebend - gleichbleibende Höhe nicht entscheidend - Nach- oder Vorauszahlungen bei umsatzbezogenen Provisionen - Einordnung im Lohnsteuerabzugsverfahren - Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers - Bindung der Beteiligten im Elterngeldverfahren bis zum Einkommensteuerbescheid - Wegfall der Bindungswirkung - nachgelagerte Prüfung der Elterngeldbehörde - greifbare Anhaltspunkte - absehbares Ende der Bindung schon bei Abgabe der Einkommensteuererklärung - vorläufige Zahlung von höherem Elterngeld - Korrekturmöglichkeiten nach bestandskräftig abgeschlossenem Elterngeldverfahren - nachträglicher Neufestsetzungsantrag durch den Elterngeldberechtigten - Prüfung der nachträglichen Korrektur durch die Elterngeldbehörde Leitsätze1. Ein Einkommensteuerbescheid beseitigt die Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers bei der Bemessung des Elterngelds. 2. Nach Wegfall der Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung hat die Elterngeldbehörde bei greifbaren Anhaltspunkten für die Unrichtigkeit der Lohn- und Gehaltsbescheinigung zu prüfen, ob eine Einnahme als laufender Arbeitslohn oder sonstiger Bezug zu behandeln ist. TenorDie Revision des beklagten Freistaats gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2019 wird zurückgewiesen. Der beklagte Freistaat hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten. TatbestandDie Klägerin begehrt höheres Elterngeld unter Berücksichtigung von monatlich ausgezahlten Provisionen. Die Klägerin ist Steuerfachwirtin und Mutter einer am 20.9.2016 geborenen Tochter. Mit dem Kindsvater und ihrer Tochter lebte sie in einem gemeinsamen Haushalt in Deutschland. Die Klägerin betreute und erzog ihre Tochter selbst und übte während des Bezugszeitraums keine Erwerbstätigkeit aus. Die Mutterschutzfrist der Klägerin begann am 5.8.2016 und endete am 15.11.2016. In dieser Zeit erhielt sie Mutterschaftsgeld und einen Arbeitgeberzuschuss. Vor der Geburt ihrer Tochter ging die Klägerin mehreren beruflichen Tätigkeiten nach. Hauptsächlich arbeitete sie in einer Vollzeitbeschäftigung bei einer Steuerberatungsgesellschaft. Zudem übte sie zwei geringfügige Beschäftigungen aus. Außerdem betrieb sie als Selbstständige bis zum 30.6.2016 ein Gewerbe in Form eines Buchhaltungsbüros. Für die Tätigkeit bei der Steuerberatungsgesellschaft bezog die Klägerin ausweislich ihrer Lohn- und Gehaltsbescheinigungen ua ein Gehalt iH von 2218,96 Euro (Januar, Februar, April, Mai, Juni, August, September und Oktober 2015), 2205,28 Euro (Juli 2015) und 2260 Euro (März, November und Dezember 2015) pro Monat. Zudem erhielt sie jeden Monat eine Provision iH von 600 Euro (Januar bis Mai und Juli bis Dezember 2015) bzw 500 Euro (Juni 2015), welche die ihr jeweils zuzuordnenden Umsätze abbildete. Die Konstanz in der Entgelthöhe basierte einerseits darauf, dass die Klägerin einen gleichbleibenden Kundenstamm hatte, weswegen relativ konstante Umsätze anfielen. Andererseits bestand bei der Steuerberatungsgesellschaft die Besonderheit, dass die Angestellten sich orientiert an den tatsächlichen Umsätzen einen monatlichen Provisionsbetrag aussuchen durften. Die monatlichen Zahlungen sollten die über Monate und Jahre hinweg konkret entstehenden Provisionsansprüche authentisch als Durchschnittswert abbilden. Im Rahmen ihrer beiden geringfügigen Beschäftigungen verdiente die Klägerin zwischen Juli und Dezember 2015 zum einen zwischen 0 Euro und 265,27 Euro pro Monat und zum anderen 450 Euro pro Monat. Zudem erzielte sie ausweislich des Einkommensteuerbescheids 2015 in diesem Jahr aus ihrem Gewerbebetrieb Einkünfte iH von 372 Euro. Die Klägerin beantragte am 27.9.2016 Elterngeld für den ersten bis zwölften Lebensmonat ihrer Tochter. Sie reichte neben dem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen der Steuerberatungsgesellschaft für die Monate Januar bis Dezember 2015 ein, welche die Einkünfte aus den Provisionen lohnsteuerrechtlich als sonstige Bezüge auswiesen. Mit Bescheid vom 3.11.2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin unter dem Vorbehalt des Widerrufs Elterngeld für die ersten 12 Lebensmonate ihrer Tochter (20.9.2016 bis 19.9.2017). Die monatlichen Leistungen betrugen im ersten Lebensmonat 0 Euro, im zweiten Monat 155,84 Euro und in den übrigen Monaten jeweils 1207,77 Euro. Als Bemessungszeitraum zog der Beklagte das Kalenderjahr 2015 heran und berücksichtigte bei der Bemessung des Elterngelds das Einkommen aus dem Gewerbebetrieb und das Einkommen aus den geringfügigen Beschäftigungen in voller Höhe sowie das von der Steuerberatungsgesellschaft laufend ausgezahlte Gehalt, nicht jedoch die Provisionen. Der Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 12.12.2016 zurück. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 6.7.2018 die Klage unter Hinweis auf die Bindungswirkung der Anmeldung zur Lohnsteuer als sonstige Bezüge abgewiesen. Das LSG hat mit Urteil vom 26.2.2019 den Beklagten zur Zahlung höheren Elterngelds unter Berücksichtigung der Provisionen verurteilt. Die von der Klägerin monatlich bezogenen Provisionen seien als laufender Arbeitslohn bei der Bemessung des Elterngelds zu berücksichtigen. Die Anmeldung der Provisionen zur Lohnsteuer als sonstige Bezüge durch die Arbeitgeberin sei materiell unzutreffend gewesen. Eine Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung könne es für das Elterngeldrecht nicht geben. Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 2c Abs 1 Satz 2 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz - BEEG). Die Behandlung von Entgeltbestandteilen als sonstige Bezüge im Lohnsteuerabzugsverfahren mit bestandskräftiger Lohnsteueranmeldung binde die Beteiligten des Elterngeldverfahrens. Daher komme es nicht darauf an, ob die Provisionen der Klägerin materiell-rechtlich als sonstige Bezüge zu betrachten seien. Im Übrigen handele es sich bei den "auf Abruf" von der Steuerberatungsgesellschaft ausgezahlten Provisionen um sonstige Bezüge. Die Richtigkeitsvermutung der Lohn- und Gehaltsbescheinigungen der steuerrechtlich spezialisierten Arbeitgeberin der Klägerin sei nicht widerlegt. Der beklagte Freistaat beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Februar 2019 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 6. Juli 2018 zurückzuweisen. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt das angegriffene Urteil des LSG. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Bescheide des Beklagten halten in dem von der Klägerin angefochtenen Umfang einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Der Beklagte hat bei der Elterngeldbemessung zu Unrecht die Provisionen nicht berücksichtigt, die die Klägerin zwischen Januar und Dezember 2015 lückenlos und regelmäßig monatlich bezogen hat. Dies hat das LSG im Ergebnis zu Recht entschieden. Der Klägerin steht für die ersten 12 Lebensmonate ihrer Tochter Elterngeld zu (dazu unter A). Bei der Bemessung des Elterngelds sind die Provisionen zu berücksichtigen, weil diese von der Klägerin im Bemessungszeitraum bezogen worden sind und nach den materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben nicht als sonstige Bezüge, sondern als laufender Arbeitslohn zu behandeln sind (dazu unter B). Dem steht nicht die Bestandskraft der Lohnsteueranmeldungen entgegen, mit denen die Arbeitgeberin die Provisionen zur Lohnsteuer fehlerhaft als sonstige Bezüge angemeldet hatte. Denn die Bindungswirkung dieser Lohnsteueranmeldungen der Arbeitgeberin ist durch den gegenüber der Klägerin ergangenen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 entfallen (dazu unter C). A. Der Klägerin steht dem Grunde nach Elterngeld für die ersten 12 Lebensmonate ihrer Tochter (20.9.2016 bis 19.9.2017) zu. Sie erfüllt die Grundvoraussetzungen des Elterngeldanspruchs nach § 1 Abs 1 Satz 1 BEEG (in der hier maßgeblichen ab dem 1.1.2015 geltenden Fassung des Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 18.12.2014, BGBl I 2325). Wie in § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 bis 4 BEEG vorausgesetzt, hatte die Klägerin nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) im Bezugszeitraum des Elterngelds ihren Wohnsitz in Deutschland, lebte in einem Haushalt mit dem von ihr selbst betreuten und erzogenen Kind und übte im Bezugszeitraum keine volle Erwerbstätigkeit iS von § 1 Abs 6 BEEG (idF des Gesetzes vom 18.12.2014, aaO) aus. B. Die Klägerin hat Anspruch auf höheres Elterngeld unter Berücksichtigung der ihr im Bemessungszeitraum von Januar und Dezember 2015 lückenlos und regelmäßig monatlich gezahlten Provisionen. Die Höhe ihres Elterngelds bemisst sich nach § 2 BEEG (idF des Gesetzes vom 18.12.2014, aaO). Wie § 2 Abs 1 Satz 1 BEEG insoweit bestimmt, wird Elterngeld iH von 67 Prozent des Einkommens aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt des Kindes gewährt. Es wird bis zu einem Höchstbetrag von 1800 Euro für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. War das Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt - wie hier - höher als 1200 Euro, sinkt der Prozentsatz von 67 Prozent um 0,1 Prozentpunkte für je 2 Euro, um die dieses Einkommen aus Erwerbstätigkeit den Betrag von 1200 Euro überschreitet, auf bis zu 65 Prozent (§ 2 Abs 1, Abs 2 Satz 2 BEEG idF des Gesetzes vom 18.12.2014, aaO). 1. Als Bemessungszeitraum hat der Beklagte zutreffend den Zeitraum von Januar bis Dezember 2015 herangezogen. Wurde - wie vom LSG festgestellt - vor der Geburt des Kindes sowohl Einkommen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit iS von § 2c BEEG erzielt als auch Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit iS von § 2d BEEG, sind gemäß § 2b Abs 3 BEEG (idF des Gesetzes vom 18.12.2014, aaO) für die Ermittlung des Einkommens - abweichend von § 2b Abs 1 BEEG - insgesamt die steuerlichen Gewinnermittlungszeiträume maßgeblich, die dem letzten abgeschlossenen steuerlichen Veranlagungszeitraum vor der Geburt des Kindes zugrunde liegen. Der letzte abgeschlossene steuerliche Veranlagungszeitraum vor der Geburt der Tochter der Klägerin im September 2016 bezieht sich nach den Feststellungen des LSG auf das Wirtschaftsjahr 2015, das hier dem Kalenderjahr 2015 entspricht (vgl Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015 und § 4a Abs 1 Satz 2 Nr 3 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes <EStG>). 2. Das Bemessungseinkommen hat der Beklagte indes zu niedrig festgelegt. Denn zum maßgeblichen Einkommen der Klägerin aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit im Bemessungszeitraum gehören auch die regelmäßig und lückenlos von Januar bis Dezember 2015 von der Arbeitgeberin gezahlten Provisionen. Es handelt sich um positive Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit iS von § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 4, § 8 Abs 1 EStG, welche der Klägerin im Bemessungszeitraum zugeflossen und die im Inland zu versteuern sind (§ 2 Abs 1 Satz 3 Nr 1 BEEG idF des Gesetzes vom 18.12.2014, aaO). Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die an die Klägerin gezahlten Provisionen nach den materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als laufender Arbeitslohn zu behandeln sind, weil sie von der Arbeitgeberin nicht abweichend vom vereinbarten monatlichen Lohnzahlungszeitraum in monatlichen Abständen und lückenlos gezahlt wurden. § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG (idF des Gesetzes vom 18.12.2014, aaO) sieht vor, dass solche Einnahmen nicht berücksichtigt werden, die im Lohnsteuerabzugsverfahren nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind. Für die Beantwortung der Frage, ob ein Einkommensbestandteil ein sonstiger Bezug iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG ist, kommt es allein auf die einschlägige lohnsteuerrechtliche Begriffsbestimmung an (dazu unter a). Danach stellen sonstige Bezüge solche Entgeltbestandteile dar, deren Zahlungszeiträume von dem als Regel vorgesehenen Zahlungsturnus für Arbeitslohn nicht nur unerheblich abweichen (dazu unter b). Nach diesen Maßstäben handelt es sich bei den der Klägerin von Januar bis Dezember 2015 monatlich von ihrer Arbeitgeberin gezahlten Provisionen nicht um sonstige Bezüge iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG, sodass diese Einnahmen bei der Bemessung des Elterngelds zu berücksichtigen sind (dazu unter c). a) Allein die einschlägige lohnsteuerrechtliche Begriffsbestimmung entscheidet darüber, ob ein Einkommensbestandteil als sonstiger Bezug iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG elterngeldrechtlich unbeachtlich ist (stRspr, zB Senatsurteil vom 27.6.2019 - B 10 EG 2/18 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 5 RdNr 21 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Dies ergibt sich aus der Gesetzesentwicklung der Norm (vgl Senatsurteil vom 27.6.2019 - B 10 EG 2/18 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 5 RdNr 22 f; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 19 ff; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 19 ff). Danach wollte der Gesetzgeber für die begriffliche Abgrenzung zwischen laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen in vollem Umfang und mit bindender Wirkung auf das formelle und materielle Steuerrecht verweisen, wie es das Lohnsteuerabzugsverfahren konkretisiert hat. Wegen des vom BEEG-Gesetzgeber verfolgten steuerakzessorischen Regelungskonzepts ist eine einschränkende Auslegung der Ausschlussklausel des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG iS eines elterngeldrechtlich modifizierten lohnsteuerrechtlichen Begriffs der sonstigen Bezüge nicht mehr möglich (vgl dazu im Einzelnen und zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung: Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 20 ff; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 21 ff; zuletzt nochmals Senatsurteil vom 27.6.2019 - B 10 EG 2/18 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 5 RdNr 24 ff, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Vielmehr ist jeder im Bemessungszeitraum bezogene Einkommensbestandteil, der lohnsteuerrechtlich sonstiger Bezug ist, auch elterngeldrechtlich sonstiger Bezug (Senatsurteil vom 27.6.2019, aaO RdNr 24). b) Sonstige Bezüge iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG sind nach der ständigen Rechtsprechung des Senats unter Berücksichtigung der materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben solche Entgeltbestandteile, deren Zahlungszeiträume von dem als Regel vorgesehenen Zahlungsturnus für Arbeitslohn nicht nur unerheblich abweichen. Maßgeblich ist die Abweichung von dem Lohnzahlungszeitraum, den die Vertragsparteien arbeitsrechtlich zugrunde gelegt haben (stRspr, Senatsurteil vom 27.6.2019 - B 10 EG 2/18 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 5 RdNr 35, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; Senatsurteil vom 8.3.2018 - B 10 EG 8/16 R - BSGE 125, 162 = SozR 4-7837 § 2c Nr 3, RdNr 35; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 31; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 32; Senatsbeschluss vom 28.1.2019 - B 10 EG 11/18 B - juris RdNr 7). Zahlungen, die davon abweichend in anderen Zeitintervallen erfolgen, sind als sonstige Bezüge anzusehen, selbst wenn es sich dabei ihrerseits um gleichbleibende Intervalle handelt (vgl dazu bereits Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 32; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 33). Ist also zB für die Zahlung eines Grundgehalts ein monatlicher Zahlungszeitraum vereinbart, ist auch bei anderen Entgeltbestandteilen eine lückenlose monatliche Zahlung im Bemessungszeitraum erforderlich, um diese als laufenden Arbeitslohn betrachten zu können. c) Nach diesen für das Elterngeldrecht maßgeblichen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben sind die an die Klägerin gezahlten Provisionen in der Zeit zwischen Januar und Dezember 2015 als laufender Arbeitslohn und nicht nach § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG als sonstige Bezüge zu behandeln. Denn die Provisionen wurden von der Arbeitgeberin lückenlos in monatlichen Abständen abgerechnet und gezahlt. Dieser Zahlungsturnus für die Provisionen entspricht dem zwischen der Klägerin und ihrer Arbeitgeberin für das Grundgehalt vereinbarten monatlichen Lohnzahlungszeitraum. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) handelt es sich bei diesen Provisionen um regelmäßig fortlaufend anfallende Vergütungsbestandteile, die sich ausschließlich auf monatliche Lohnzahlungszeiträume beziehen, die im Kalenderjahr der Zahlung enden (vgl Lohnsteuer-Richtlinien <LStR> 2015 R § 39b.2 Abs 1). Wie das LSG weiter für den Senat bindend festgestellt hat, hatte die Klägerin monatlich Anspruch auf Zahlung sowohl des Grundgehalts als auch der Provisionen. Danach galt der monatliche Lohnzahlungszeitraum des Grundgehalts im Bemessungszeitraum auch für die Provisionen. Ebenso wie das Grundgehalt wurden sie lückenlos und regelmäßig in monatlichen Abständen gezahlt. Unerheblich ist, dass die Provisionen im Bemessungszeitraum nicht monatlich in gleicher Höhe gezahlt wurden (11 x 600 Euro und 1 x 500 Euro). Denn auf eine regelmäßig gleichbleibende Höhe für die Zuordnung der Entgeltbestandteile als laufender Arbeitslohn kommt es nicht an (Senatsurteil vom 29.6.2017 - B 10 EG 5/16 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 32 RdNr 23; Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25, RdNr 21). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Klägerin sich einen monatlichen Provisionsbetrag "aussuchen" durfte. Denn nach den Feststellungen des LSG orientierten sich die monatlichen Zahlungen an den tatsächlichen Umsätzen; sie sollten die über Monate und Jahre hinweg konkret entstehenden Provisionsansprüche authentisch als Durchschnittswert abbilden. Die Provisionszahlungen an die Klägerin sollten danach die ihr jeweils zuzuordnenden Umsätze widerspiegeln. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass diese umsatzbezogenen monatlichen Provisionen Nach- oder Vorauszahlungen iS eines sonstigen Bezugs gemäß der LStR 2015 R 39b.2 Abs 2 Satz 2 Nr 8 enthielten, die sich (teilweise) auf Lohnzahlungszeiträume bezogen, die in einem anderen Jahr als dem der Zahlung endeten (vgl hierzu Senatsurteil vom 27.6.2019 - B 10 EG 2/18 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 5 RdNr 35, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). C. Die fehlerhafte Anmeldung und Behandlung der monatlichen Provisionen im Lohnsteuerabzugsverfahren als sonstige Bezüge durch die Arbeitgeberin steht der Berücksichtigung der Provisionen als laufender Arbeitslohn bei der Bemessung des Elterngelds nicht entgegen. Einer bestandskräftig gewordenen Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers kommt zwar nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich eine Bindungswirkung auch im Elterngeldverfahren zu (dazu unter 1.). Allerdings besteht diese Bindungswirkung bereits nach der bisherigen Senatsrechtsprechung nicht ausnahmslos. Ihre Reichweite ist als Ausdruck des steuerakzessorischen Regelungskonzepts des BEEG begrenzt. Wird die Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers im Bemessungszeitraum geändert, hat die Elterngeldbehörde dies zu berücksichtigen. Ist diese Lohnsteueranmeldung nicht (mehr) Grundlage der Besteuerung des Einkommens des Arbeitnehmers aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit, kann sich die Elterngeldbehörde auch nicht (mehr) auf die Bindungswirkung der Anmeldung berufen. In diesem Fall muss sie bei eigenen Bedenken oder Einwänden des Elterngeldberechtigten gegen eine vom Arbeitgeber vorgenommene lohnsteuerrechtliche Einordnung eines Lohn- oder Gehaltsbestandsteils selbst ermitteln und prüfen, ob dieser Entgeltbestandteil nach den materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als sonstiger Bezug zu behandeln und bei der Bemessung des Elterngelds nicht zu berücksichtigen ist (dazu unter 2.). 1. Der Inhalt einer bestandskräftig gewordenen Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers (§ 41a EStG) bindet im Regelfall auch die Beteiligten des Elterngeldverfahrens. Kraft der gesetzlichen Rechtsfolgenverweisung des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG müssen sie den Inhalt einer solchen Lohnsteueranmeldung als feststehend hinnehmen. Sie haben insbesondere die dadurch erfolgte Einordnung von Lohn- oder Gehaltsbestandteilen als sonstiger Bezug oder laufender Arbeitslohn nicht mehr daraufhin zu überprüfen, ob sie dem materiellen Lohnsteuerrecht entspricht (Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 34, 36; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 35, 37). Der Senat sieht keinen Anlass, von dieser zu § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG ergangenen Rechtsprechung zur grundsätzlichen Bindungswirkung einer bestandskräftigen Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers im Elterngeldrecht abzuweichen. Vielmehr fügt sich diese in das vom BEEG-Gesetzgeber gerade mit dieser Norm nachhaltig verfolgte steuerakzessorische Regelungskonzept ein (vgl hierzu jüngst nochmals die Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 21.4.2020 zum Gesetz für Maßnahmen im Elterngeld aus Anlass der COVID-19-Pandemie <BT-Drucks 19/18698 S 8 zu Nummer 2 und 3> zu der mit diesem Gesetz vom 20.5.2020 <BGBl I 1061> mit Wirkung vom 29.5.2020 erfolgten Einfügung von § 2c Abs 1 Satz 3 BEEG und § 2d Abs 5 BEEG unter Verweis auf die "Steuerrechtsakzessorietät des Elterngeldes"). 2. Bei der vom Gesetzgeber gewollten steuerakzessorischen Betrachtungsweise im Rahmen der elterngeldrechtlichen Behandlung der Einnahmen aus nichtselbstständiger Erwerbstätigkeit kann eine Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers nicht ausnahmslos angenommen werden. Ausnahmen von der Bindungswirkung und damit korrespondierend eine Obliegenheit der Elterngeldstellen zur eigenständigen Prüfung, ob ein Entgeltbestandteil nach den maßgeblichen materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben zum laufenden Arbeitslohn gehört oder sonstiger Bezug ist, hat der Senat anerkannt im Fall der pauschalen Versteuerung des Einkommens (also beim Fehlen einer Lohnsteueranmeldung) und bei einem im Zeitpunkt der Elterngeldfestsetzung noch nicht abgeschlossenen Lohnsteuerabzugsverfahren (Senatsurteil vom 8.3.2018 - B 10 EG 8/16 R - BSGE 125, 162 = SozR 4-7837 § 2c Nr 3, RdNr 32 bis 34), bei einer iS von § 41c Abs 3 Satz 1 EStG fristgerechten Korrektur des Lohnsteuerabzugs (Senatsurteil vom 13.12.2018 - B 10 EG 9/17 R - juris RdNr 28) sowie bei einer aus sonstigen Gründen fehlenden Bestandskraft einer Lohnsteueranmeldung (Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 36; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 37). Diese Rechtsprechung führt der Senat fort. Bestehen greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die inhaltlichen Festsetzungen aus dem Lohnsteuerabzugsverfahren nicht mehr Grundlage der Besteuerung der Einnahmen des Arbeitnehmers aus nichtselbstständiger Arbeit sind, müssen die Elterngeldbehörden bei eigenen Bedenken oder Einwänden des Elterngeldberechtigten gegen die lohnsteuerrechtliche Einordnung von Vergütungsbestandteilen ebenfalls in eine eigenständige steuerrechtliche Prüfung eintreten. Ist die Lohnsteueranmeldung - insbesondere aufgrund eines nachfolgenden Einkommensteuerbescheids - nicht mehr Grundlage der Besteuerung, kann sich die Elterngeldbehörde nicht mehr auf die Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung berufen. Besteht aber steuerrechtlich keine Bindung mehr an das in § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG in Bezug genommene Lohnsteuerabzugsverfahren, ist die Elterngeldbehörde aus eigener Kompetenz zur Prüfung verpflichtet, ob der in Rede stehende Lohn- oder Gehaltsbestandteil nach den materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben zu Recht als sonstiger Bezug behandelt worden ist (vgl § 26 Abs 1 BEEG iVm § 20 SGB X). Diese Prüfobliegenheit der Elterngeldbehörden ergibt sich aus dem steuerakzessorischen Regelungskonzept des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG sowie der dortigen Bezugnahme auf das Lohnsteuerabzugsverfahren (dazu unter a) und der Rechtsnatur der diesem Verfahren zugrunde liegenden Lohnsteueranmeldung (dazu unter b). Sie sichert den effektiven Rechtsschutz von Elterngeldberechtigten auch außerhalb des Lohnsteuerabzugsverfahrens (dazu unter c). Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen der Prüfobliegenheit nicht entgegen (dazu unter d). a) Aus dem steuerakzessorischen Regelungsansatz des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG und den vom Senat hieran anschließend bereits herausgearbeiteten Ausnahmen von der Bindungswirkung einer Lohnsteueranmeldung ergibt sich, dass diese Bindung der Beteiligten im Elterngeldverfahren in ihrer Reichweite begrenzt ist. Dies folgt schon daraus, dass sich der Gesetzgeber in § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG für eine steuerrechtliche Anbindung an das Lohnsteuerabzugsverfahren entschieden hat. Denn dieses ist nur als bloßes Vorauszahlungsverfahren ausgestaltet; zudem gilt die Lohnsteueranmeldung "nur" als Verwaltungsakt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 168 Satz 1 Abgabenordnung <AO>), der auf unterschiedliche Weise geändert oder korrigiert werden kann. In diesem Kontext ist insbesondere zu beachten, dass etwaige Fehler beim Lohnsteuerabzug auch nach Eintritt der Bestandskraft einer Lohnsteueranmeldung und nach Abschluss des Lohnsteuerabzugsverfahrens noch im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung berichtigt werden können (BFH Beschluss vom 29.11.2017 - VI B 45/17 - juris RdNr 8; BFH Beschluss vom 30.12.2010 - III R 50/09 - juris RdNr 10 f; BFH Beschluss vom 7.2.2008 - VI B 110/07 - juris RdNr 3; BFH Urteil vom 19.10.2001 - VI R 36/96 - juris RdNr 13). Denn die im Laufe des Kalenderjahres einzubehaltende und abzuführende Lohnsteuer ist nur eine Vorauszahlung auf die mit Ablauf des Kalenderjahres entstehende und auf die Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit entfallende Einkommensteuerschuld (§ 2 Abs 7, § 25 Abs 1, § 36 Abs 1 EStG; BFH Urteil vom 20.7.2005 - VI R 165/01 - juris RdNr 12; R. Krüger in Schmidt, EStG, 39. Aufl 2020, § 38 RdNr 1; Hummel in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, Bd 16, § 38a RdNr A1, Stand der Einzelkommentierung Juni 2017), die im Rahmen der Veranlagung nach § 46 Abs 2 EStG auf die Einkommensteuer angerechnet wird (§ 36 Abs 2 Nr 2 EStG). Die Lohnsteuer selbst hat nur in Sonderfällen Abgeltungscharakter (Hummel in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, Bd 16, § 38a RdNr A1, Stand der Einzelkommentierung Juni 2017). Nur wenn ausnahmsweise eine Veranlagung zur Einkommensteuer nach § 46 Abs 2 EStG nicht in Betracht kommt, gilt die Einkommensteuer, die auf die Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit entfällt, für den Steuerpflichtigen durch den Lohnsteuerabzug als abgegolten, soweit er nicht für zu wenig erhobene Lohnsteuer in Anspruch genommen werden kann. Reicht der Arbeitnehmer dagegen beim Finanzamt eine Einkommensteuererklärung ein und ergeht ein Einkommensteuerbescheid, so tritt hinsichtlich der Lohnsteueranmeldung Erledigung (auf andere Weise) iS von § 124 Abs 2 AO dem Steuerschuldner gegenüber ein und der Einkommensteuerbescheid bildet einen neuen und auch den alleinigen Rechtsgrund für die Steuerzahlung (vgl BFH Urteil vom 20.7.2005 - VI R 165/01 - juris RdNr 15; BFH Urteil vom 12.10.1995 - I R 39/95 - juris RdNr 9; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Werkstand April 2020, § 168 AO RdNr 9). Eine Bindungswirkung entfaltet das Lohnsteuerabzugsverfahren bei der Veranlagung zur Einkommensteuer nicht (BFH Beschluss vom 29.11.2017 - VI B 45/17 - juris RdNr 8; BFH Beschluss vom 30.12.2010 - III R 50/09 - juris RdNr 10 f; BFH Urteil vom 19.10.2001 - VI R 36/96 - juris RdNr 13; Eisgruber in Kirchhof/Seer, EStG, 19. Aufl 2020, § 46 RdNr 6; Kulosa in Schmidt, EStG, 39. Aufl 2020, § 46 RdNr 3; vgl auch BFH Beschluss vom 18.8.2011 - VII B 9/11 - juris RdNr 8 zur fehlenden Bindung der Finanzbehörden bei der Einkommensteuerveranlagung an die in der Lohnsteuerbescheinigung ausgewiesene Lohnsteuer). Vor diesem steuerrechtlichen Hintergrund ist es als Konsequenz des steuerakzessorischen Regelungskonzepts des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG geboten, dass auch im Elterngeldverfahren die Bindung der Beteiligten an die Lohnsteueranmeldungen des Arbeitgebers entfällt, wenn ein Einkommensteuerbescheid ergangen ist. b) Hierfür spricht auch die Rechtsnatur der Lohnsteueranmeldung als Verwaltungsakt, der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht (§ 168 Satz 1 AO). Die Bindungswirkung eines Verwaltungsakts und die darin angeordnete Rechtsfolge bleibt nur bestehen, solange der Verwaltungsakt wirksam ist. Ein Verwaltungsakt bleibt nach § 124 Abs 2 AO wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (vgl die sozialverfahrensrechtliche Parallelvorschrift § 39 Abs 2 SGB X). Auf andere Weise iS des § 124 Abs 2 AO erledigt ist ein Verwaltungsakt insbesondere dann, wenn seine Regelungswirkung weggefallen ist. Das ist immer dann der Fall, wenn der Regelungsgehalt eines Verwaltungsakts aufgrund des Erlasses eines neuen Verwaltungsakts überholt ist (BFH Urteil vom 20.11.2018 - VIII R 45/15 - juris RdNr 13). Dies gilt auch im Hinblick auf die Bindungswirkung der inhaltlichen Festsetzungen der Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers im Lohnsteuerabzugsverfahren. Die Lohnsteueranmeldung stellt einen Verwaltungsakt dar, der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht (vgl BFH Urteil vom 17.6.2009 - VI R 46/07 - juris RdNr 24). Dies ergibt sich aus der "Verwaltungsaktfiktion" des § 168 Satz 1 AO, wonach eine Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht (vgl Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Werkstand April 2020, § 168 RdNr 3; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand Juni 2020, § 168 AO RdNr 1; Oellerich in Gosch, AO/FGO, Werkstand Mai 2018, § 168 AO RdNr 26). Da Steuern von den Finanzbehörden, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, nach § 155 Abs 1 Satz 1 AO durch Steuerbescheide festgesetzt werden, wirkt die Abgabe einer Lohnsteueranmeldung in diesem Fällen kraft Gesetzes wie der Erlass eines Steuerbescheids. Im Veranlagungsverfahren zur Einkommensteuer nach § 46 EStG besteht - wie oben ausgeführt - keine Bindungswirkung an das Lohnsteuerabzugsverfahren. Daher sind dort vom Lohnsteuerabzugsverfahren abweichende inhaltliche Festsetzungen möglich und auch die Abgrenzung zwischen laufendem Arbeitslohn und sonstigen Bezügen kann in diesem Rahmen eine Rolle spielen, nämlich bei der Frage, in welchem Veranlagungszeitraum bestimmte Entgeltkomponenten zu versteuern sind (vgl Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 14/13 R - BSGE 115, 198 = SozR 4-7837 § 2 Nr 25, RdNr 23; BFH Beschluss vom 15.12.2011 - VI R 26/11 - juris RdNr 12, 16). Deshalb muss von den Beteiligten im Elterngeldverfahren der Inhalt einer bestandskräftig gewordenen Lohnsteueranmeldung kraft der gesetzlichen Rechtsfolgenverweisung des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG nur bis zum Erlass eines Einkommensteuerbescheids für den Elterngeldberechtigten als feststehend hingenommen werden. Denn mit dem Erlass eines Einkommensteuerbescheids erledigt sich für den maßgeblichen Besteuerungszeitraum die Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers iS des § 124 Abs 2 AO auf andere Weise und verliert ihre Wirksamkeit. Wird also mit Erlass eines Einkommensteuerbescheids ein anderer Verwaltungsakt zur Grundlage der Besteuerung, so entfällt die Bindungswirkung einer Lohnsteueranmeldung nicht nur im Steuerrecht, sondern aufgrund der Steuerrechtsakzessorietät des Elterngelds auch im Elterngeldrecht, sodass die Elterngeldbehörden in einer solchen Konstellation ausnahmsweise bei eigenen Bedenken oder bei Einwänden des Elterngeldberechtigten gegen die steuerrechtliche Einordnung von Vergütungsbestandteilen selbst vollumfänglich nach den materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben prüfen müssen, ob diese als laufender Arbeitslohn oder als sonstige Bezüge iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG zu behandeln sind. c) Im Rahmen des steuerakzessorischen Regelungskonzepts des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG stehen den Arbeitnehmern - anders als das LSG meint - hinreichende Korrektur- und Rechtsschutzmöglichkeiten gegen eine ihrer Ansicht nach unzutreffende Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers zur Verfügung, die den rechtsstaatlichen Anforderungen an ein faires Verfahren und an eine klare und berechenbare Verfahrensgestaltung gerecht werden (vgl zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art 19 Abs 4 Satz 1 GG allgemein BVerfG Beschluss vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 - juris RdNr 68 ff und 101 f). Zunächst ergibt sich dies aus den spezifischen steuerrechtlichen Rechtsbehelfsmöglichkeiten, mit denen sich Arbeitnehmer gegen die - ihre Vergütung betreffende - Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers zur Wehr setzen können (vgl hierzu R. Krüger, DStJG 40 <2017>, 145, 167 ff). So können sie Einspruch und Klage gegen die Lohnsteueranmeldung erheben oder gegenüber dem Finanzamt einen Änderungsantrag nach § 164 Abs 2 Satz 2, § 168 Satz 1 AO stellen (vgl BFH Urteil vom 9.12.2010 - VI R 57/08 - juris RdNr 11; BFH Urteil vom 21.10.2009 - I R 70/08 - juris RdNr 9 f; BFH Urteil vom 20.7.2005 - VI R 165/01 - juris RdNr 12 f; BFH Urteil vom 12.10.1995 - I R 39/95 - juris RdNr 9). Zudem können sie im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage die Feststellung begehren, dass die Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers rechtswidrig gewesen ist (vgl BFH Beschluss vom 7.8.2015 - VI B 66/15 - juris RdNr 10 f). Machen Arbeitnehmer von diesen Rechtsschutzmöglichkeiten im Lohnsteuerabzugsverfahren keinen Gebrauch oder kommt dies wegen einer bereits erteilten Lohnsteuerbescheinigung (§ 41b, § 41c Abs 3 Satz 1 EStG) und/oder wegen des Ablaufs der Einspruchsfristen (§ 355 Abs 1 Satz 2 AO) nicht mehr in Betracht, so bleibt selbst nach dem Eintritt der Bestandskraft einer Lohnsteueranmeldung die Möglichkeit, deren Bindungswirkung auch im Elterngeldrecht durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu durchbrechen. Denn mit dem Erlass eines Einkommensteuerbescheids tritt - wie oben dargestellt - hinsichtlich der Lohnsteueranmeldung Erledigung iS von § 124 Abs 2 AO dem Steuerschuldner gegenüber ein, und der Einkommensteuerbescheid bildet den alleinigen Rechtsgrund für die Steuerzahlung. Dadurch ist nach Erlass eines Einkommensteuerbescheids sowohl im elterngeldrechtlichen Verwaltungs- als auch in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren die volle Rechtskontrolle darüber eröffnet, ob eine im Bemessungszeitraum bezogene Einnahme nach den materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben als laufender Arbeitslohn oder als sonstiger Bezug iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG zu behandeln ist. d) Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer elterngeldrechtlichen Vollprüfung bei Wegfall der Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung des Arbeitgebers durch einen gegenüber dem Elterngeldberechtigten ergangenen Einkommensteuerbescheid nicht entgegen. Liegt während eines laufenden Elterngeldverfahrens der Einkommensteuerbescheid für einen Teil oder den ganzen Bemessungszeitraum noch nicht vor, kann die Elterngeldbehörde bei greifbaren Anhaltspunkten für eine bestandskräftige, aber fehlerhafte Anmeldung und Behandlung eines Lohnbestandteils im Lohnsteuerabzugsverfahren und bei absehbarer Beendigung der Bindungswirkung (aufgrund der Einkommensteuerveranlagung nach § 46 EStG) dieser Verfahrenskonstellation gemäß § 8 Abs 3 Satz 1 Nr 2 BEEG durch eine vorläufige Zahlung von entsprechend höherem Elterngeld Rechnung tragen (vgl zur Möglichkeit, einen Bescheid auch nachträglich ua im Widerspruchsverfahren mit einem Vorläufigkeitsvorbehalt zu versehen: Senatsurteil vom 8.3.2018 - B 10 EG 8/16 R - BSGE 125, 162 = SozR 4-7837 § 2c Nr 3, RdNr 20; Senatsurteil vom 26.3.2014 - B 10 EG 13/13 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 29 RdNr 14). Nach dieser Regelung wird das Elterngeld bis zum Nachweis der jeweils erforderlichen Angaben vorläufig unter Berücksichtigung der glaubhaft gemachten Angaben gezahlt, wenn das Einkommen aus Erwerbstätigkeit vor der Geburt nicht ermittelt werden kann. Bei greifbaren Anhaltspunkten für den Wegfall der Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung sind aber für den Nachweis der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit nicht nur die für die maßgeblichen Monate des Bemessungszeitraums erstellten Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers erforderlich (vgl § 2c Abs 2 BEEG). Vielmehr bedarf es für eine endgültige Bestimmung der Leistungshöhe auch der Vorlage des Einkommensteuerbescheids, sodass insoweit Raum für eine vorläufige Leistungsbewilligung ist (vgl allgemein zur vorläufigen Leistungsbewilligung bzw zum Vorläufigkeitsvorbehalt nach § 8 Abs 3 BEEG, der in der elterngeldrechtlichen Praxis als Nebenbestimmung iS des § 32 SGB X erfolgt: BSG Urteil vom 13.12.2018 - B 10 EG 9/17 R - juris RdNr 13 mwN). Die vorläufige Leistungsbewilligung nach Maßgabe des § 8 Abs 3 Satz 1 Nr 2 BEEG dient auch hier der Beschleunigung der Leistungsgewährung, weil das für die Berechnung des Elterngelds maßgebliche Einkommen nicht zuverlässig ermittelt werden kann (vgl Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 20.6.2006 zum Gesetz zur Einführung des Elterngeldes, BT-Drucks 16/1889 S 25; Senatsurteil vom 5.4.2012 - B 10 EG 10/11 R - SozR 4-7837 § 2 Nr 14 RdNr 42). Nach Erlass des Einkommensteuerbescheids hat dann eine endgültige Leistungsfestsetzung zu erfolgen, ohne das die Elterngeldbehörde an die Vorgaben von § 26 Abs 1 BEEG iVm §§ 45 ff SGB X gebunden ist. Der abschließende Bescheid ersetzt insoweit die vorläufige Regelung und führt zu deren Erledigung iS von § 26 Abs 1 BEEG iVm § 39 Abs 2 SGB X (stRspr; vgl nur Senatsurteil vom 13.12.2018 - B 10 EG 9/17 R - juris RdNr 14 mwN). Ist das Elterngeldverfahren vor Erlass des Einkommensteuerbescheids bereits bestandskräftig abgeschlossen, können die Elterngeldbehörde oder der Elterngeldberechtigte aufgrund der Beendigung der Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung, falls erforderlich, nach § 26 Abs 1 BEEG iVm §§ 44 ff SGB X vorgehen. Dies gilt nicht nur für die Elterngeldbemessung, sondern spiegelbildlich auch für den Bezugszeitraum, wenn sich herausstellen sollte, dass wegen einer lohnsteuerrechtlich unzutreffenden Einordnung von laufendem Arbeitslohn als sonstiger Bezug zu hohes Elterngeld gewährt wurde. Dann kann die Elterngeldbehörde nach Erlass des Einkommensteuerbescheids ggf auch die (teilweise) Aufhebung der Elterngeldbewilligung oder die Korrektur im Fall einer zuvor vorläufigen Leistungsbewilligung und die Geltendmachung von Rückforderungen prüfen (§ 26 Abs 2 BEEG iVm § 328 Abs 3 Satz 2 SGB III). Auf diese Weise bewirkt die vom Gesetzgeber in § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG angeordnete Bindung an das Lohnsteuerabzugsverfahren bei der Bestimmung, ob eine Einnahme im Elterngeldrecht als sonstiger Bezug zu behandeln ist, einen sachgerechten Ausgleich zwischen der damit bezweckten Verwaltungsvereinfachung und Verwaltungspraktikabilität einerseits und dem schützenswerten Interesse der Elterngeldberechtigen an effektivem Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG) andererseits. Sie berücksichtigt, dass sich eine unrichtige steuerrechtliche Behandlung bestimmter Einnahmen für den Steuerpflichtigen steuerlich nicht unbedingt nachteilig auswirken muss und deshalb (zunächst) von der Einlegung von Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln gegen die Steuerfestsetzung abgesehen wird (vgl BSG Urteil vom 30.9.1997 - 4 RA 122/95 - SozR 3-2400 § 15 Nr 4 S 6 f = juris RdNr 16). Sie vermeidet Ungerechtigkeiten durch eine fehlerhafte lohnsteuerrechtliche Behandlung von Einnahmen im Lohnsteuerabzugsverfahren und trägt damit auch der Zielsetzung des BEEG-Gesetzgebers Rechnung, "alle Lohn- und Gehaltsbestandteile, die richtigerweise nach den lohnsteuerlichen Vorgaben als sonstige Bezüge zu behandeln sind (…), auch elterngeldrechtlich als sonstige Bezüge zu behandeln" (Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Partnerschaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 22.9.2014, BT-Drucks 18/2583 S 25). Im Rahmen der Prüfung der materiellen lohnsteuerrechtlichen Vorgaben iS des § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG durch die Elterngeldbehörden bleiben aber die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers Ausgangspunkt und "Grundlage der Ermittlung" des elterngeldrelevanten Einkommens des Elterngeldberechtigten (§ 2c Abs 2 Satz 1 BEEG). Deshalb können sich die Elterngeldbehörden hinsichtlich der im Elterngeldverfahren erforderlichen Feststellungen zur Lohnsteuer und Behandlung bestimmter Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge im Lohnsteuerabzugsverfahren in aller Regel auf die Angaben des Arbeitgebers in seinen Lohn- und Gehaltsbescheinigungen stützen (vgl § 108 Abs 1, § 108 Abs 3 Satz 1 der Gewerbeordnung <GewO> iVm § 1 Abs 2 Nr 2 Buchst a und Nr 3 Buchst a der Entgeltbescheinigungsverordnung) und auf deren Richtigkeit vertrauen (vgl Senatsurteil vom 13.12.2018 - B 10 EG 9/17 R - juris RdNr 26; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 7/17 R - BSGE 125, 62 = SozR 4-7837 § 2c Nr 2, RdNr 37; Senatsurteil vom 14.12.2017 - B 10 EG 4/17 R - SozR 4-7837 § 2c Nr 1 RdNr 38). Allerdings sind die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers nur bloße Wissenserklärungen (BAG Urteil vom 5.7.2017 - 4 AZR 867/16 - juris RdNr 29; Lembke in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Komm, 8. Aufl 2018, § 108 GewO RdNr 8; Schöne/Boecken/Pils in Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 2016, Bd 2, § 108 GewO RdNr 3). Deshalb wird nach § 2c Abs 2 Satz 2 BEEG auch lediglich die tatsächliche Richtigkeit und Vollständigkeit der dortigen Angaben des Arbeitgebers - und nicht die von ihm vorgenommene lohnsteuerrechtliche Bewertung - vermutet (Senatsurteile vom 14.12.2017, aaO). Indes wird die Erklärung des Arbeitgebers, er habe bestimmte Entgeltbestandteile als sonstige Bezüge zur Lohnsteuer angemeldet, nach wie vor regelmäßig den Schluss erlauben, dass diese Lohnsteueranmeldung mit ihrem Regelungsinhalt auch bestandskräftig geworden ist und deshalb die Beteiligten des Elterngeldverfahrens hinsichtlich der dort erfolgten Einordnung von Lohn- und Gehaltsbestandteilen als sonstige Bezüge bindet (Senatsurteile vom 14.12.2017, aaO). Nur wenn die Elterngeldbehörde greifbare Anhaltspunkte dafür hat, dass ausnahmsweise keine Bindungswirkung der Lohnsteueranmeldung mehr besteht, hat sie bei eigenen Bedenken oder Einwänden des Elterngeldberechtigten gegen die Richtigkeit der Angaben des Arbeitgebers in den Lohn- oder Gehaltsbescheinigungen von Amts wegen (§ 26 Abs 1 BEEG iVm § 20 SGB X) zu ermitteln, ob die Bindungswirkung der inhaltlichen Festsetzungen im Lohnsteuerabzugsverfahren - wie hier aufgrund eines nachfolgenden Einkommensteuerbescheids - weggefallen ist. Bejahendenfalls hat sie sodann steuerrechtlich zu prüfen, ob die in Rede stehenden Lohn- und Gehaltsbestandteile als sonstige Bezüge nach § 2c Abs 1 Satz 2 BEEG zu behandeln sind. D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
bundessozialgericht
bsg_05 - 2019
28.03.2019
Keine Vertretung durch Lohnsteuerhilfeverein im Verfahren wegen sozialrechtlichem Kindergeld Ausgabejahr 2019 Nummer 05 Datum 28.03.2019 Ein Lohnsteuerhilfeverein ist nicht berechtigt, ein Mitglied in Antragsverfahren wegen sozialrechtlichem Kindergeld als Bevollmächtigter wirksam zu vertreten. Dies hat der 10. Senat des Bundessozialgerichts am Donnerstag, 28. März 2019 entschieden (Aktenzeichen B 10 KG 1/18 R). Der Kläger ist ein Lohnsteuerhilfeverein, dessen Mitglied der Beigeladene war. Dieser erhielt für seine Kinder bis Februar 2009 Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz. Anschließend stellte der Beigeladene einen Antrag auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz, weil er sich wegen Entsendung zusammen mit seiner Familie in Rumänien aufhielt. Die Beklagte wies den Kläger als Verfahrensbevollmächtigten des Beigeladenen in dessen Kindergeldverfahren nach dem Bundeskindergeldgesetz zurück. Anschließend bewilligte sie für die Entsendungsmonate Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz. Die gegen die Zurückweisung als Bevollmächtigter im Antragsverfahren nach dem Bundeskindergeldgesetz gerichtete Revision des Klägers hat der 10. Senat des Bundessozialgerichts zurückgewiesen: Die Rechtsdienstleistung des Klägers für den Beigeladenen ist weder durch das Steuerberatungsgesetz noch durch das Rechtsdienstleistungsgesetz erlaubt. Die Vertretung in Kindergeldantragsverfahren nach dem Bundeskindergeldgesetz wird von der Befugnis zur Hilfe bei Sachverhalten des Familienleistungsausgleichs im Sinne des Einkommensteuergesetzes ausdrücklich nicht umfasst. Die Tätigkeit kann auch nicht als Nebenleistung zur Hilfe in Steuersachen verstanden werden, weil sich die hierfür nachzuweisenden Rechtskenntnisse nicht auf Auslandskindergeldsachen erstrecken. Eine merkliche Beeinträchtigung der Berufsausübung ist damit nicht verbunden.   Hinweis auf Rechtsvorschriften § 13 SGB X - Bevollmächtigte und Beistände (5) Bevollmächtigte und Beistände sind zurückzuweisen, wenn sie entgegen § 3 des Rechtsdienstleistungsgesetzes Rechtsdienstleistungen erbringen. § 2 RDG - Begriff der Rechtsdienstleistung (1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert. § 3 RDG - Befugnis zur Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen Die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen ist nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch dieses Gesetz oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird. § 5 RDG - Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit (1) 1Erlaubt sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit, wenn sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören. 2Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich sind ... § 4 Steuerberatungsgesetz - Befugnis zu beschränkter Hilfeleistung in Steuersachen 1Zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen sind ferner befugt: … 11. Lohnsteuerhilfevereine, soweit sie für ihre Mitglieder Hilfe in Steuersachen leisten, … 2Die Befugnis erstreckt sich nur auf die Hilfeleistung bei der Einkommensteuer …. 3Soweit zulässig, berechtigt sie auch … zur Hilfe bei Sachverhalten des Familienleistungsausgleichs im Sinne des Einkommensteuergesetzes …
Bundessozialgericht Urteil vom 28.03.2019, B 10 KG 1/18 R Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Antrag auf sozialrechtliches Kindergeld - Zurückweisung eines Lohnsteuerhilfevereins im Antragsverfahren - unzulässige Rechtsdienstleistung - Verfassungsrecht - Berufsausübungsfreiheit LeitsätzeLohnsteuerhilfevereine dürfen im Antragsverfahren wegen sozialrechtlichen Kindergelds nicht gegenüber der Familienkasse als Verfahrensbevollmächtigte auftreten. TenorDie Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 2018 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der Kosten des Beigeladenen. Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten über die Befugnis des Klägers, als Bevollmächtigter in einem Verfahren wegen Kindergelds nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) des nach Rumänien entsandten kindergeldberechtigten Beigeladenen aufzutreten. Der Kläger ist ein Lohnsteuerhilfeverein, dessen beitragspflichtiges Mitglied der Beigeladene von August 2004 bis Dezember 2012 war. Der Beigeladene, der rumänischer Staatsangehöriger ist, erhielt für seine beiden Kinder bis Februar 2009 Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG). Von März 2009 bis März 2010 hielt sich der Beigeladene wegen Entsendung durch seinen Arbeitgeber zusammen mit seiner Ehefrau und den Kindern in Rumänien auf. Mit Bescheid vom 4.5.2010 hob die Beklagte die Bewilligung des Kindergelds ab März 2009 auf und forderte die Erstattung des zu Unrecht nach dem EStG geleisteten Kindergelds für den Zeitraum von März 2009 bis März 2010. In diesem Bescheid verwies sie zugleich auf einen eventuell bestehenden Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG für die Dauer der Entsendung nach Rumänien. In dem gegen diesen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid erfolglos geführten Einspruchsverfahren vertrat der Kläger den Beigeladenen. Im Juni 2010 stellte der Beigeladene einen Antrag auf Kindergeld nach dem BKGG. Mit Schreiben vom 23.11.2010 meldete sich der Kläger als dessen Bevollmächtigter. Mit Bescheid vom 28.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.2.2011 wies die Beklagte den Kläger als Verfahrensbevollmächtigten des Beigeladenen in dessen Kindergeldverfahren nach dem BKGG zurück, weil er lediglich zur Hilfeleistung in Kindergeldsachen nach dem EStG befugt sei. Das Verfahren über die Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG schloss die Beklagte in der Folgezeit ab. Der Beigeladene erhielt antragsgemäß für die Entsendungsmonate von März 2009 bis März 2010 Kindergeld nach diesem Gesetz (Bescheid vom 5.12.2011). Die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zurückweisung als Verfahrensbevollmächtigter gerichtete Klage hat das SG mit Urteil vom 11.11.2015 abgewiesen. Die Berufung hat das LSG mit Urteil vom 8.2.2018 zurückgewiesen. Der Kläger sei als Lohnsteuerhilfeverein nicht berechtigt, seine Mitglieder bei Entsendung ins EU-Ausland im Antragsverfahren auf Kindergeld nach dem BKGG zu vertreten. Das Tätigwerden in einem solchen Antragsverfahren erfordere eine rechtliche Prüfung und sei deshalb als Rechtsdienstleistung zu qualifizieren. Die Vertretung in Kindergeldsachen nach dem BKGG sei auch keine Nebenleistung der erlaubten Hilfe bei Sachverhalten des Familienleistungsausgleichs im Sinne des EStG. Zwar wiesen die kindergeldrechtlichen Vorschriften des EStG und des BKGG viele Gemeinsamkeiten auf. Dennoch blieben die für die steuerberatende Haupttätigkeit des Klägers erforderlichen Rechtskenntnisse hinter denjenigen zurück, die für die Vertretung in Kindergeldsachen nach dem BKGG bei Entsendung eines Arbeitnehmers in das EU-Ausland notwendig seien. Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 13 Abs 5 SGB X, der §§ 2, 3 und 5 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) und der Art 12 Abs 1, Art 6 Abs 1 und Art 3 Abs 1 GG. Zu Unrecht habe das LSG sein Tätigwerden für den Beigeladenen im Rahmen des Antragsverfahrens auf Kindergeld nach dem BKGG als Rechtsdienstleistung iS des § 2 RDG qualifiziert. Unzutreffend habe es dieser Tätigkeit auch die Qualität als Nebenleistung iS des § 5 Abs 1 RDG abgesprochen. Die Auslegung des Berufungsgerichts mit dem Ergebnis, dass er in Kindergeldsachen nach dem BKGG nicht vertretungsbefugt sei, beschränke seine Berufsausübungsfreiheit aus Art 12 GG in unzulässiger Weise und verstoße zum Nachteil des Beigeladenen gegen Art 6 Abs 1 und Art 3 Abs 1 GG. Der Kläger beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 2018 und des Sozialgerichts München vom 11. November 2015 aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2011 rechtswidrig gewesen ist. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Der nicht vertretene Beigeladene hat weder einen Antrag gestellt noch sich zur Sache geäußert. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass der Bescheid der Beklagten vom 28.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.2.2011 (§ 95 SGG) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Die Beklagte war befugt, den Kläger als Bevollmächtigten des Beigeladenen im Kindergeldantragsverfahren nach dem BKGG zurückzuweisen. A. Einer Sachentscheidung des Senats stehen keine prozessualen Hindernisse entgegen. Klage und Berufung sind zulässig. Die Vorinstanzen haben insbesondere die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 131 Abs 1 S 3 SGG) zu Recht für zulässig erachtet, weil der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 28.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.2.2011 hat. Dieser Verwaltungsakt betrifft die Zurückweisung des Klägers als Bevollmächtigter in dem für den Beigeladenen geführten Antragsverfahren auf Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG. Er hat sich auf andere Weise erledigt (vgl § 39 Abs 2 SGB X), nachdem jenes Verwaltungsverfahren durch antragsgemäße Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG für die Entsendungsmonate des Beigeladenen von März 2009 bis März 2010 abgeschlossen wurde. Das erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich daraus, dass für weitere Antragsverfahren seiner Mitglieder auf Kindergeld nach dem BKGG bei Entsendung ins EU-Ausland eine Wiederholungsgefahr der Zurückweisung als Bevollmächtigter besteht und er deshalb Gewissheit darüber haben muss, ob er seine Mitglieder in einem solchen Verfahren vertreten darf. B. Die angefochtenen Urteile der Vorinstanzen, die der vom Kläger begehrten Feststellung, die Beklagte habe ihn zu Unrecht als Bevollmächtigten des Beigeladenen im Antragsverfahren auf Kindergeld nach dem BKGG zurückgewiesen, nicht entsprochen haben, erweisen sich ausgehend von den dafür einschlägigen Rechtsgrundlagen (dazu unter 1.) auch in der Sache als rechtsfehlerfrei. Die Tätigkeit des Klägers im Kindergeldantragsverfahren nach dem BKGG für den Beigeladenen ist als Rechtsdienstleistung iS des § 2 RDG einzustufen (dazu unter 2.). Eine Erlaubnis des Klägers für diese Rechtsdienstleistung ergibt sich nicht aus § 3 RDG iVm § 13 Abs 1, § 4 Nr 11 Steuerberatungsgesetz - StBerG - (dazu unter 3.). Die vom Kläger im BKGG-Antragsverfahren erbrachte Rechtsdienstleistung stellt auch keine zulässige Nebenleistung iS des § 5 RDG dar (dazu unter 4.). Verfassungsrecht steht diesem Ergebnis nicht entgegen (dazu unter 5.). 1. Ein Beteiligter iS von § 10 SGB X kann sich in einem Verwaltungsverfahren durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen (§ 13 Abs 1 S 1 SGB X). Nach § 13 Abs 5 SGB X (idF des Vierten Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 11.12.2008, BGBl I 2418) sind Bevollmächtigte und Beistände jedoch zurückzuweisen, wenn sie entgegen § 3 RDG (idF vom 12.12.2007, BGBl I 2840) Rechtsdienstleistungen erbringen. Nach dieser Vorschrift ist die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch das RDG oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird. Dabei ist eine Rechtsdienstleistung in diesem Sinne nach der Legaldefinition in § 2 Abs 1 RDG (idF vom 12.12.2007, aaO) jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert. Erlaubt sind allerdings Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang mit einer anderen Tätigkeit, wenn sie als Nebenleistung zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören (§ 5 Abs 1 S 1 RDG idF vom 12.12.2007, aaO). 2. Entgegen dem Revisionsvorbringen ist das Auftreten des Klägers als Bevollmächtigter des Beigeladenen im Antragsverfahren auf Auslandskindergeld nach dem BKGG als Erbringung einer Rechtsdienstleistung iS des § 2 Abs 1 RDG zu werten. Das Tätigwerden des Klägers im streitigen Sozialverwaltungsverfahren stellt eine "konkrete fremde" Angelegenheit iS des § 2 Abs 1 RDG dar; denn sie erfolgte hier im Einzelfall und lag im wirtschaftlichen Interesse eines Dritten, nämlich des Beigeladenen als Kindergeldberechtigten. Das zweite Merkmal des § 2 Abs 1 RDG, wonach zusätzlich zum Tätigwerden in einer fremden Angelegenheit eine "rechtliche Prüfung des Einzelfalls" erforderlich sein muss, ist - wie die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben - entgegen der Ansicht des Klägers ebenfalls zu bejahen. Der Senat sieht sich im vorliegenden Fall nicht veranlasst, den Begriff der "rechtlichen Prüfung" iS des § 2 Abs 1 RDG abschließend zu klären (ebenso BSG Urteil vom 14.11.2013 - B 9 SB 5/12 R - BSGE 115, 18 = SozR 4-1300 § 13 Nr 1, RdNr 30 - 32; BSG Urteil vom 5.3.2014 - B 12 R 7/12 R - BSGE 115, 171 = SozR 4-1300 § 13 Nr 2, RdNr 15). Selbst wenn man insoweit keine hohen Anforderungen stellen wollte, verlangt die für eine Rechtsdienstleistung notwendige rechtliche Prüfung jedenfalls ein gewisses Maß an substanzieller inhaltlicher Prüfung, mag auch die ursprünglich im Gesetzentwurf enthaltene Formel von der "besonderen" rechtlichen Prüfung im Gesetzgebungsverfahren als missverständlich verworfen und als Abgrenzungskriterium bewusst nicht ins Gesetz aufgenommen worden sein (BSG Urteil vom 14.11.2013, aaO, RdNr 32; ebenso BVerwG Urteil vom 20.1.2016 - 10 C 17/14 - BVerwGE 154, 49, 57 <RdNr 24>). Hiermit im Kern korrespondierend wird auch vom BGH unter Hinweis auf Wortlaut, Gesetzgebungsgeschichte, Zweck und systematische Einordnung des § 2 Abs 1 RDG als rechtliche Prüfung im Sinne dieser Norm angesehen jede konkrete Subsumtion eines Sachverhalts unter die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen, die über eine bloße schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgeht. Unerheblich ist, ob es sich um eine einfache oder schwierige Rechtsfrage handelt (BGH Urteil vom 14.1.2016 - I ZR 107/14 - Juris RdNr 43; BGH Urteil vom 31.3.2016 - I ZR 88/15 - Juris RdNr 23). Gemessen an diesen Maßstäben ist entgegen der Ansicht des Klägers bereits das Betreiben des Verwaltungsverfahrens iS von § 8 SGB X zur Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG für einen Dritten bei Entsendung ins EU-Ausland als Rechtsdienstleistung iS des § 2 Abs 1 RDG anzusehen. Das Tätigwerden in einem solchen Fall ist nicht lediglich als eine für das Rechtsdienstleistungsrecht irrelevante bloße - schwerpunktmäßig eher im außerrechtlichen Bereich liegende - technische Leistung im Rahmen der schematischen Umsetzung von Rechtsvorschriften einzustufen (ebenso für das Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV BSG Urteil vom 5.3.2014 - B 12 R 7/12 R - BSGE 115, 171 = SozR 4-1300 § 13 Nr 2, RdNr 14), sondern erfordert eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls iS des § 2 Abs 1 RDG. Denn das sozialrechtliche Kindergeld nach dem BKGG ist - schon wegen seiner Abgrenzung vom steuerrechtlichen Kindergeld nach dem EStG - rechtlich komplex (dazu unter a). Dies gilt umso mehr für das vom Beigeladenen beanspruchte Auslandskindergeld für einen in einen Mitgliedstaat der EU entsandten Arbeitnehmer (dazu unter b). Die in den Kindergeldantragsformularen enthaltenen Hinweise und Erläuterungen sowie die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes bestehenden Aufklärungs- und Ermittlungspflichten der Beklagten im Kindergeldantragsverfahren nach dem BKGG machen gerade auch in einer solchen Konstellation eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls iS des § 2 Abs 1 RDG durch einen Bevollmächtigten nicht überflüssig (dazu unter c). Die Entscheidung des BSG, wonach ein bevollmächtigter Steuerberater in Antragsverfahren zu Erstfeststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht bis zur Bescheiderteilung keine Rechtsdienstleistungen erbringt, steht dem nicht entgegen (dazu unter d). a. Seit dem mit Wirkung vom 1.1.1996 erfolgten grundlegenden Systemwandel im Kindergeldrecht durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1250) differenziert der Gesetzgeber zwischen Kindergeld nach dem EStG - steuerrechtliches Kindergeld - und Kindergeld nach dem BKGG - sozialrechtliches Kindergeld - (vgl hierzu Schild, NJW 1996, 2414 - 2416; Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Stand: Februar 2018, Einführung RdNr 7 - 13). Für die ganz überwiegende Mehrzahl der Fälle ist der Anspruch auf Kindergeld wegen unbeschränkter Steuerpflicht im Abschnitt X des EStG (§§ 62 bis 78) geregelt. Dagegen sieht das Kindergeld nach dem BKGG als Ausnahme insbesondere einen Kindergeldanspruch für die Personen vor, die nach § 1 Abs 1 und 2 EStG nicht unbeschränkt steuerpflichtig sind und auch nicht nach § 1 Abs 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden (§ 1 Abs 1 BKGG), die aber dennoch in einer Weise mit dem deutschen Arbeits-, Dienst- und Sozialrechtssystem verbunden sind, die eine Kindergeldzahlung erfordert oder angemessen erscheinen lässt (vgl Erste Beschlussempfehlung und erster Bericht des Finanzausschusses <7. Ausschuss> des Deutschen Bundestages vom 31.5.1995 zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP eines Jahressteuergesetzes 1996, BT-Drucks 13/1558 S 163 zu § 1 Abs 1 <BKGG>; BVerfG Beschluss vom 14.10.2008 - 1 BvR 2310/06 - BVerfGE 122, 39, 45; BFH Beschluss vom 28.4.2009 - III B 36/08 - Juris RdNr 13; Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 38. Aufl 2019, § 62 RdNr 1). Beide Kindergeldansprüche unterscheiden sich maßgeblich nach Inhalt (dazu unter aa), anwendbarem Verfahrensrecht (dazu unter bb) und zuständiger Behörde und Gerichtsbarkeit (dazu unter cc). Schon diese systemischen Unterschiede bedingen im Kindergeldantragsverfahren eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls iS des § 2 Abs 1 RDG (dazu unter dd). aa. Anders als das Kindergeld nach dem EStG, das als Leistung des steuerrechtlichen Familienleistungsausgleichs gemäß § 31 S 3 EStG als monatlicher Steuervergütungsanspruch iS des § 37 Abs 1 Abgabenordnung (AO) ausgestaltet und keine Sozialleistung im formellen Sinne ist, ist das Kindergeld nach dem BKGG als eine Leistung des sozialrechtlichen Familienleistungsausgleichs eine Sozialleistung des SGB zur Minderung des Familienaufwands des Unterhaltsleistenden (vgl § 6, § 25 Abs 1 S 1, § 68 Nr 9 SGB I; BSG Urteil vom 20.7.2011 - B 13 R 52/10 R - SozR 4-2600 § 48 Nr 5 RdNr 42; BFH Beschluss vom 28.4.2009 - III B 36/08 - Juris RdNr 12, 14; BFH Urteil vom 28.2.2018 - II R 3/16 - Juris RdNr 16; Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Stand: Februar 2018, Einführung RdNr 2 und § 18 BKGG RdNr 2), das monatlich gezahlt wird (§ 11 BKGG iVm § 47 SGB I). Das steuerrechtliche Kindergeld wird hingegen durch die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags bewirkt. Dieser Betrag soll so bemessen sein, dass damit zumindest das Existenzminimum des Kindes steuerlich verschont bleibt (vgl § 31 S 1 EStG). Soweit es dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 S 2 EStG). bb. Bei der Ausführung des BKGG ist nach dessen § 18 neben dem SGB I für das Verwaltungsverfahren das SGB X anzuwenden. Dagegen hat die Zahlung des Kindergelds nach dem EStG als Steuervergütung zur Folge, dass im Verwaltungsverfahren die AO zu berücksichtigen ist (stRspr des BFH, zB Beschluss vom 28.4.2009 - III B 36/08 - Juris RdNr 12; Urteil vom 28.2.2018 - II R 3/16 - Juris RdNr 16). Zudem kann Kindergeld nach dem BKGG nur dann in Anspruch genommen werden, wenn nicht der Familienleistungsausgleich nach § 31 EStG zur Anwendung kommt (§ 25 Abs 1 S 1 SGB I, § 2 Abs 4 S 1 BKGG). Das steuerrechtliche Kindergeld ist insoweit vorrangig (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Stand: Februar 2018, § 1 BKGG RdNr 11). Kindergeldansprüche nach dem BKGG und dem EStG schließen sich mithin aus (BFH Beschluss vom 28.4.2009 - III B 36/08 - Juris RdNr 13; Körner in Kasseler Komm, Stand: Dezember 2018, § 25 SGB I RdNr 3). cc. Für die Durchführung des BKGG ist die Bundesagentur für Arbeit (BA) als Familienkasse zuständig. Sie unterliegt dabei den Weisungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (§ 25 Abs 3 SGB I, § 7 Abs 1 und 2 BKGG). Der Rechtsweg in den Angelegenheiten des sozialrechtlichen Kindergelds nach dem BKGG führt gemäß § 51 Abs 1 Nr 10 SGG iVm § 15 BKGG zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 51 RdNr 38). Dagegen sind für die Durchführung des steuerrechtlichen Kindergelds nach dem EStG die Agenturen für Arbeit als Familienkassen zuständig. Gemäß § 5 Abs 1 Nr 11 S 2 Finanzverwaltungsgesetz (FVG) stellt die BA dem Bundeszentralamt für Steuern zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs iS des EStG ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Die für die Festsetzung von Kindergeld nach dem EStG zuständigen Familienkassen sind keine Sozialleistungsträger iS des § 12 SGB I (BFH Urteil vom 13.9.2018 - III R 19/17 - Juris RdNr 18). Vielmehr sind diese insoweit Bundesfinanzbehörden und unterliegen der Fachaufsicht des Bundeszentralamts für Steuern (§ 5 Abs 1 Nr 11 S 11 FVG). Dementsprechend führt der Rechtsweg in den Angelegenheiten des steuerrechtlichen Kindergelds nach dem EStG gemäß § 33 Abs 1 Nr 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) zu den Finanzgerichten. dd. Schon die dargestellten vom Gesetzgeber bewusst geschaffenen Unterschiede zwischen steuerrechtlichem Kindergeld nach dem EStG und sozialrechtlichem Kindergeld nach dem BKGG bedingen im Kindergeldantragsverfahren eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls iS des § 2 Abs 1 RDG. Denn bereits in diesem Verfahrensstadium sind die Anspruchsvoraussetzungen für die jeweilige Kindergeldleistung in den Blick zu nehmen. Zu prüfen ist, ob der Antragsteller Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG hat oder ob er ausnahmsweise in den Anwendungsbereich des BKGG fällt und damit zum Bezug von sozialrechtlichem Kindergeld berechtigt ist. Nur Berechtigte, die nicht der unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs 1 bis 3 EStG unterliegen (§ 1 Abs 1 BKGG), sind anspruchsberechtigt nach dem BKGG. Die Klärung dieser grundsätzlichen Anspruchsberechtigung und deren Durchsetzung erfordert von einem Bevollmächtigten eine komplexe Rechtsanwendung, nämlich die Wahl der zutreffenden Anspruchsgrundlage, die Anwendung des einschlägigen Verfahrensrechts und eine konkrete Subsumtion unter die maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen. b. Im hier nach den Feststellungen des LSG vorliegenden Fall des Auslandskindergelds bei Entsendung eines Arbeitnehmers in einen EU-Mitgliedstaat sind zudem die besonderen sozial(-versicherungs-)rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG zu prüfen. Zu klären ist, ob und auf welcher Rechtsgrundlage des koordinierenden europäischen Sozialrechts die hier relevanten deutschen Rechtsvorschriften zum Kindergeld durch den Fortbestand des Versicherungspflichtverhältnisses zur BA nach § 24 SGB III weiterhin Anwendung finden. Ein für einen Beteiligten in einem solchen Verfahren auftretender Bevollmächtigter muss bereits im Antragsverfahren dafür Sorge tragen und einschätzen können, dass die Familienkasse bei der Prüfung, ob ein nicht unbeschränkt steuerpflichtiger Antragsteller mit Wohnsitz außerhalb Deutschlands dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterliegt, alle dafür relevanten Umstände vollständig und zutreffend ermittelt und der von ihm vertretene Beteiligte dazu entsprechende Angaben in den Antragsformularen macht. Eine sach- und interessengerechte Wahrnehmung der rechtlichen Interessen eines Betroffenen durch einen Bevollmächtigten kann hier nur erfolgen, wenn dieser über fundierte Kenntnisse darüber verfügt, auf welche materiell- und verfahrensrechtlichen Gesichtspunkte sowie tatsächlichen Gegebenheiten es hier im Einzelnen ankommen kann. Die dabei von Gesetzes wegen zu beachtenden und von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Grundsätze - ua zum Rechtsbegriff der "Entsendung" in § 4 SGB IV (vgl hierzu und insbesondere zur Entsendung in der EU exemplarisch Zieglmeier, Kasseler Komm, Stand: Dezember 2018, § 4 SGB IV RdNr 23 ff mwN) - sowie die für die einschlägigen gesetzlichen Tatbestandsmerkmale maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Umstände erfordern von einem Bevollmächtigten bereits im Rahmen des Antragsverfahrens rechtliche Bewertungen, die deutlich über eine bloße schematische Anwendung von Rechtsnormen ohne weitere rechtliche Prüfung hinausgehen. c. Die in den Kindergeldantragsformularen enthaltenen Hinweise und Erläuterungen sowie die nach § 18 BKGG iVm §§ 20 ff SGB X im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes bestehenden Aufklärungs- und Ermittlungspflichten der Beklagten im Kindergeldantragsverfahren nach dem BKGG machen eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls iS des § 2 Abs 1 RDG durch einen Bevollmächtigten nicht überflüssig. Denn diese entbinden nicht von der Notwendigkeit eigenen Mitdenkens. Sie besagen nicht, dass die erforderliche Tätigkeit eines Bevollmächtigten im Kindergeldantragsverfahren nach dem BKGG bei Entsendung des von ihm Vertretenen ins EU-Ausland auf die bloße Angabe von Tatsachen und ggf Beibringung von Beweismitteln beschränkt wäre. Auch in diesem frühen Stadium des Verwaltungsverfahrens machen sie ein eigenes Durchdenken sowie eine eigene Einschätzung des Vorliegens der besonderen sozial(-versicherungs-)rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für sozialrechtliches Kindergeld nach § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG nicht entbehrlich (vgl ebenso für das Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV BSG Urteil vom 5.3.2014 - B 12 R 7/12 R - BSGE 115, 171 = SozR 4-1300 § 13 Nr 2, RdNr 22). d. Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des BSG vom 14.11.2013 (B 9 SB 5/12 R - BSGE 115, 18 = SozR 4-1300 § 13 Nr 1) zu Antragsverfahren bei Erstfeststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht. Denn hier muss ein Antragsteller bis zur Bescheiderteilung lediglich das von der Behörde vorgefertigte Formular ausfüllen und ihm vorliegende Belege über ärztliche Behandlungen beifügen oder die ladungsfähigen Anschriften der behandelnden Ärzte angeben sowie diese von ihrer ärztlichen Schweigepflicht entbinden. Hierbei handelt es sich nach Auffassung des 9. Senats des BSG ausschließlich um eine bloße tatsächliche Mitwirkung, die - anders als im Kindergeldantragsverfahren nach dem BKGG - noch keine gesonderte rechtliche Prüfung im Einzelfall erfordert (vgl aaO, RdNr 33; kritisch Römermann, NJW 2014, 1777, 1779). 3. Die als Rechtsdienstleistung iS des § 2 Abs 1 RDG zu qualifizierende Tätigkeit des Klägers in dem Kindergeldverfahren nach dem BKGG bei Entsendung eines Vereinsmitglieds ins EU-Ausland ist nicht nach § 3 RDG iVm § 13 Abs 1, § 4 Nr 11 StBerG erlaubt. Nach § 3 RDG ist die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch das RDG oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt ist. Lohnsteuerhilfevereine sind Selbsthilfeeinrichtungen von Arbeitnehmern zur Hilfeleistung in Steuersachen im Rahmen ihrer Befugnis nach § 4 Nr 11 StBerG für ihre Mitglieder (§ 13 Abs 1 StBerG). Sie dürfen nur im Rahmen dieser Befugnis geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leisten (§ 5 Abs 1 S 2 StBerG). Diese Hilfeleistung ist von den Lohnsteuerhilfevereinen sachgemäß, gewissenhaft, verschwiegen und unter Beachtung der Regelungen zur Werbung (§ 8 StBerG) auszuüben (§ 26 Abs 1 StBerG). Die Ausübung einer anderen wirtschaftlichen Tätigkeit in Verbindung mit der Hilfeleistung in Steuersachen im Rahmen der Befugnis nach § 4 Nr 11 StBerG ist Lohnsteuerhilfevereinen verwehrt (§ 26 Abs 2 StBerG). Zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung sind Lohnsteuerhilfevereine als Selbsthilfeeinrichtungen von Arbeitnehmern nach § 4 Nr 11 StBerG aber nur in bestimmten Steuersachen befugt. Hierzu gehört nach § 4 Nr 11 S 3 StBerGdie Hilfe bei Sachverhalten des Familienleistungsausgleichs iS des EStG. Die den Lohnsteuerhilfevereinen verliehene Befugnis zur Hilfeleistung für ihre Mitglieder erstreckt sich somit nicht auf Sachverhalte des sozialrechtlichen Familienleistungsausgleichs und damit auch nicht auf Kindergeldangelegenheiten nach dem BKGG. Vielmehr beschränkt sie sich system- und aufgabenkonform lediglich auf Belange des steuerrechtlichen Kindergelds nach dem EStG. 4. Die Erbringung einer Rechtsdienstleistung im Kindergeldverfahren nach dem BKGG durch den Kläger bei Entsendung eines Vereinsmitglieds ins EU-Ausland ist auch nicht ausnahmsweise als "Nebenleistung" nach § 5 Abs 1 RDG erlaubt. Bereits das in § 5 Abs 1 S 2 RDG für das Vorliegen einer Nebenleistung aufgestellte Kriterium, dass es dafür "Rechtskenntnisse" bedarf, "die für die Haupttätigkeit erforderlich sind", steht der gegenteiligen Ansicht des Klägers entgegen. Um als Nebenleistung iS des § 5 Abs 1 RDG zu gelten, muss es sich im Einzelfall um eine Tätigkeit handeln, die ein Lohnsteuerhilfeverein mit seiner fachlichen Qualifikation ohne Beeinträchtigung des in § 1 RDG genannten Schutzzwecks, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen, miterledigen kann (vgl BSG Urteil vom 14.11.2013 - B 9 SB 5/12 R - BSGE 115, 18 = SozR 4-1300 § 13 Nr 1, RdNr 40, 46; BSG Urteil vom 5.3.2014 - B 12 R 7/12 R - BSGE 115, 171 = SozR 4-1300 § 13 Nr 2, RdNr 31, jeweils mwN). Maßgebend ist insoweit nicht die individuelle Qualifikation des Rechtsdienstleistenden, sondern die allgemeine berufstypische juristische Qualifikation des Betroffenen im Rahmen seiner Haupttätigkeit (vgl BSG Urteil vom 14.11.2013 - B 9 SB 5/12 R - BSGE 115, 18 = SozR 4-1300 § 13 Nr 1, RdNr 40; BSG Urteil vom 5.3.2014 - B 12 R 7/12 R - BSGE 115, 171 = SozR 4-1300 § 13 Nr 2, RdNr 31, jeweils mwN). Bleiben dagegen die für die Haupttätigkeit erforderlichen Rechtskenntnisse hinter denjenigen für die Erbringung der (vermeintlichen) Nebenleistung erforderlichen Kenntnissen zurück, kann die Nebenleistung nicht erlaubnisfrei erbracht werden; dies gebietet der zentral in § 1 RDG angesprochene Schutz der Rechtsuchenden, des Rechtsverkehrs und der Rechtsordnung (vgl BSG, aaO). Dieser Schutz umfasst auch die ordnungsgemäße Geltendmachung von Ansprüchen im Rahmen des Rechtsgewährungsanspruchs als Teil des Rechtsstaatsprinzips (Art 19 Abs 4 und Art 20 Abs 3 GG). Bedient sich ein juristischer Laie (bereits) im Verwaltungsverfahren eines berufsmäßigen Bevollmächtigten, so kann er bei dessen Tätigkeit eine bestimmte Qualität erwarten, die durch das RDG gesichert werden soll (BSG Urteil vom 14.11.2013, aaO, RdNr 46). Die Haupttätigkeit eines Lohnsteuerhilfevereins als Selbsthilfeeinrichtung von Arbeitnehmern besteht in der Hilfeleistung in Steuersachen für ihre Mitglieder im Rahmen der Befugnis nach § 4 Nr 11 StBerG (§ 13 Abs 1 StBerG). Im Rahmen dieser beschränkten Hilfebefugnis in Steuersachen sind sie auch zur gerichtlichen Vertretung ihrer Mitglieder vor den Finanzgerichten berechtigt (§ 62 Abs 2 S 2 Nr 5 FGO), allerdings nicht vor dem BFH (§ 62 Abs 4 S 3 FGO). Die steuerliche Beratung des Klägers als Lohnsteuerhilfeverein ist danach eine auf die dort aufgezählten speziellen Teilgebiete des Steuerrechts beschränkte Rechtsberatung mit Berührungspunkten zum außersteuerlichen Recht (vgl BSG Urteil vom 14.11.2013 - B 9 SB 5/12 R - BSGE 115, 18 = SozR 4-1300 § 13 Nr 1, RdNr 39; BSG Urteil vom 5.3.2014 - B 12 R 7/12 R - BSGE 115, 171 = SozR 4-1300 § 13 Nr 2, RdNr 28 f, jeweils zu Steuerberatern). Soweit außersteuerliches Recht teilweise auch Bestandteil eines von der Beratungsbefugnis nach § 4 Nr 11 StBerG erfassten Steuertatbestandes ist, erstreckt sich die Beratung eines Lohnsteuerhilfevereins, falls dies mit Blick auf die steuerlichen Gegebenheiten unerlässlich ist, auch auf dieses "fremde" Rechtsgebiet (vgl BSG Urteil vom 14.11.2013, aaO; BSG Urteil vom 5.3.2014, aaO, RdNr 29, jeweils zu Steuerberatern). Dies gilt auch im Rahmen der einem Lohnsteuerhilfeverein erlaubten Beratung bei Sachverhalten des Familienleistungsausgleichs iS des EStG. Über eine solche (Annex-)Beratung hinaus gehören jedoch Verrichtungen auf anderen Rechtsgebieten nicht schon dann zum Tätigkeitsbild eines Lohnsteuerhilfevereins, wenn bestimmte in diesem Bereich angesiedelte Tatbestände im Rahmen der Beratungsbefugnis nach § 4 Nr 11 StBerG steuerrechtlich relevant sind. Ansonsten könnten sich Lohnsteuerhilfevereine über den ihnen gesetzlich zugewiesenen und auf bestimmte Teilgebiete des Steuerrechts beschränkten Bereich hinaus in einer Vielzahl von Rechtsgebieten betätigen (vgl ähnlich BSG Urteil vom 14.11.2013, aaO, RdNr 40; BSG Urteil vom 5.3.2014, aaO, RdNr 29, jeweils zur beschränkten Beratungsbefugnis von Steuerberatern). Die für die steuerberatende Haupttätigkeit erforderlichen Rechtskenntnisse eines Lohnsteuerhilfevereins bleiben hinter den für die Erbringung der vermeintlichen Nebentätigkeit im Kindergeldrecht nach dem BKGG erforderlichen bereichspezifischen Kenntnissen zurück. Dies folgt schon daraus, dass selbst bei Steuerberatern das Kindergeldrecht nach dem BKGG als besonderer Teil des SGB (§ 68 Nr 9 SGB I) und das dafür notwendige Sozialversicherungs- und Sozialverwaltungsverfahrensrecht sowie das bei Entsendung eines Kindergeldberechtigten ins EU-Ausland zu beachtende koordinierende europäische Sozialrecht nicht zu den Prüfungsgebieten gehören, die im Rahmen einer den Zugang zu diesem Beruf eröffnenden, erfolgreich zu absolvierenden Steuerberaterprüfung bedeutsam sind (vgl § 37 Abs 3 S 1 Nr 1 bis 8 StBerG). Zum Leiter einer Beratungsstelle eines Lohnsteuerhilfevereins dürfen zudem bereits Personen bestellt werden, die eine Abschlussprüfung in einem kaufmännischen Ausbildungsberuf bestanden haben oder eine andere gleichwertige Vorbildung besitzen und nach Abschluss der Ausbildung drei Jahre in einem Umfang von mindestens 16 Wochenstunden auf dem Gebiet der von den Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwalteten Steuern praktisch tätig gewesen sind oder mindestens drei Jahre auf den für die Beratungsbefugnis nach § 4 Nr 11 StBerG einschlägigen Gebieten des Einkommensteuerrechts in einem Umfang von mindestens 16 Wochenstunden praktisch tätig gewesen sind (§ 23 Abs 3 S 1 Nr 2 und 3 StBerG). Zu den danach für die Bestellung zum Beratungsstellenleiter eines Lohnsteuerhilfevereins notwendigen beruflichen Ausbildungsinhalten und praktischen Tätigkeitsbereichen gehört das Kindergeldrecht nach dem BKGG als formelles und materielles Sozialrecht nicht. Können aber bei Lohnsteuerhilfevereinen aufgrund ihres beschränkten steuerrechtlichen Tätigkeitsfeldes sowie der dafür vom Gesetz geforderten beruflichen Qualifikation seiner Beratungsstellenleiter und Mitarbeiter die für einen Auslandskindergeldfall nach § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG notwendigen sozial(-versicherungs-)rechtlichen Rechtskenntnisse nicht unterstellt werden, ist es ohne Belang, dass im Kindergeldrecht nach dem EStG und dem BKGG insbesondere hinsichtlich berücksichtigungsfähiger Kinder sowie möglicher Anspruchs- und Leistungskonkurrenzen übereinstimmende Regelungen bestehen. Die verfahrensrechtlichen Regelungen im SGB X für die Gewährung von Kindergeld nach dem BKGG und denjenigen in der AO für die Bewilligung von Kindergeld nach dem EStG sind bedingt durch das jeweilige Rechtssystem, in das sie eingebunden sind, ohnehin verschieden (vgl hierzu BVerfG <Kammer> Beschluss vom 6.4.2011 - 1 BvR 1765/09 - Juris RdNr 45 ff; BFH Beschluss vom 6.3.2013 - III B 113/12 - Juris RdNr 14). 5. Die aufgezeigte Auslegung des Gesetzesrechts verletzt keine Grundrechte des Klägers. a. Insbesondere verstößt sie nicht gegen seine durch Art 12 Abs 1 GG gewährleistete Freiheit der Berufsausübung. Bei einem Verein schützt Art 12 Abs 1 GG dessen Tätigkeit nur dann, wenn die Führung eines Geschäftsbetriebs zu seinen satzungsmäßigen Zwecken gehört (vgl BVerfG Urteil vom 17.2.1998 - 1 BvF 1/91 - BVerfGE 97, 228, 253 mwN). Insoweit genießt der Kläger entsprechend seinem satzungsmäßigen Zweck grundsätzlich den Schutz der Berufsfreiheit für Hilfeleistungen in Steuersachen seiner Mitglieder im Rahmen der Befugnis nach § 4 Nr 11 StBerG. Eine sachgerechte und gewissenhafte Hilfeleistung des Klägers (vgl § 26 Abs 1 StBerG) in dem ihm hiernach zugewiesenen Steuerbereichen wird durch die fehlende Vertretungsbefugnis in Auslandskindergeldsachen nach dem BKGG aber weder erschwert noch be- oder gar verhindert. Darüber ist auch nicht ersichtlich, dass ein Lohnsteuerhilfeverein merklich in seinem Tätigkeitsbereich beeinträchtigt wird, wenn die Durchführung eines solchen Kindergeldverfahrens dem Antragsteller selbst oder einem Rechtsanwalt überantwortet wird. Selbst wenn man aber dennoch einen Eingriff in den Schutzbereich durch die fehlende Vertretungsbefugnis in Auslandskindergeldverfahren nach dem BKGG bejahen wollte, wäre dieser allenfalls in einem Randbereich des Tätigkeitsbereichs des Klägers als Lohnsteuerhilfeverein zu verorten und ließe dessen Berufsbild im Kernbereich sowie die dadurch gesicherte Vereinsexistenz unangetastet. Denn die praktische Bedeutung des sozialrechtlichen Kindergelds ist vergleichsweise gering. So betrug im Zeitraum zwischen 2010 und 2017 der Anteil der Kindergeldberechtigten nach dem EStG zwischen 99,69 und 99,63 %, während der Anteil der Kindergeldberechtigten nach dem BKGG in diesem Zeitraum lediglich zwischen 0,31 und 0,37 % lag (vgl die Antwort der Bundesregierung vom 20.3.2018 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten René Springer ua und der Fraktion der AfD "Zahlung von Kindergeld an ausländische Kindergeldberechtigte", BT-Drucks 19/1275 S 7 <Tabelle: Bestand Kindergeldberechtigte nach Staatsangehörigkeit>). Ein möglicher Eingriff wäre jedenfalls durch den legitimen Zweck des RDG gedeckt, Rechtsuchende, Rechtsverkehr und Rechtsordnung vor inadäquaten Rechtsdienstleistungen zu schützen. Hierin liegt eine hinreichende Rechtfertigung für die Intensität des hier allenfalls marginal feststellbaren Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit des Klägers betreffend die Durchführung bestimmter Sozialverwaltungsverfahren. b. Auf eine Verletzung des Art 6 Abs 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) kann sich der Kläger selbst nicht berufen. Als juristische Person ist er kein Grundrechtsträger (vgl BVerfG Urteil vom 24.1.1962 - 1 BvL 32/57 - BVerfGE 13, 290, 297 f; Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl 2018, Art 6 RdNr 12). Grundrechte des Beigeladenen kann der Kläger nicht wahrnehmen, abgesehen davon, dass eine Beschränkung des Art 6 Abs 1 GG "in unzulässiger Weise" zum Nachteil des Beigeladenen durch die fehlende Vertretungsbefugnis des Klägers in Auslandskindergeldverfahren nach dem BKGG nicht im Ansatz erkennbar ist. c. Entsprechendes gilt für die vom Kläger gerügte Verletzung des Art 3 Abs 1 GG. Sofern er in Bezug auf den Beigeladenen eine Ungleichbehandlung darin sehen sollte, dass diesem die Möglichkeit genommen werde, die Hilfeleistung des Klägers im Antragsverfahren auf Kindergeld nach dem BKGG "kostenfrei" in Anspruch zu nehmen, sei darauf hingewiesen, dass bereits die Zahlung eines Mitgliedbeitrags als Voraussetzung und Gegenleistung für ein Tätigwerden des Klägers eine Rechtsdienstleistung nicht unentgeltlich macht (vgl K.-M. Schmidt in Krenzler, Rechtsdienstleistungsgesetz, 2. Aufl 2017, § 6 RdNr 18; Begründung der Bundesregierung vom 30.11.2006 eines Gesetzesentwurfs zur Neuregulierung des Rechtsberatungsrechts, BT-Drucks 16/3655 S 57 zu § 6 Abs 1). 6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO. Danach trägt der Kläger die Kosten des erfolglos geführten Rechtsmittels. Eine Erstattung der Kosten des Beigeladenen ist nicht veranlasst; er hat sich im Revisionsverfahren weder geäußert noch einen Antrag gestellt (§ 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 162 Abs 3 VwGO). 7. Die Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 2, § 47 Abs 1 S 1 GKG. Maßgebend ist danach die Bedeutung der Sache für den Kläger, wie sie sich aus dessen Antrag ergibt. Nach dem Vorbringen und dem mit der Fortsetzungsfeststellungsklage verfolgten erkennbaren Rechtsschutzziel des Klägers erschöpft sich die Bedeutung des Revisionsverfahrens für ihn nicht nur in der etwaigen Erstattung der Kosten für sein Auftreten im konkreten Sozialverwaltungsverfahren. Vielmehr geht es ihm allgemein um die zukunftsgerichtete Klärung seiner Berechtigung, in seiner Eigenschaft als Lohnsteuerhilfeverein in Auslandskindergeldverfahren nach dem BKGG für seine Mitglieder gegenüber der dafür sachlich einheitlich und immer wieder zuständigen beklagten BA als Familienkasse (§ 25 Abs 3 SGB I, § 7 Abs 1 und 2 BKGG) aufzutreten. Unter diesem Blickwinkel erscheint es hier mangels hinreichender Anhaltspunkte für eine anderweitige Schätzung gerechtfertigt, auch für das Revisionsverfahren den Auffangstreitwert nach § 52 Abs 2 GKG anzusetzen.
bundessozialgericht
bsg_03 - 2017
08.02.2017
Kein höheres Arbeitslosengeld II wegen Hundehaftpflichtversicherung Ausgabejahr 2017 Nummer 03 Datum 08.02.2017 Beiträge, die für eine gesetzlich vorgeschriebene Haftpflichtversicherung eines Hundes gezahlt werden, können vom Halter nicht vom Einkommen abgesetzt werden, um so höheres ergänzendes steuerfinanziertes Arbeitslosengeld II zu erhalten. Dies hat der 14. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Februar 2017 entschieden und damit eine Entscheidung der Vorinstanz bestätigt (Az. B 14 AS 10/16 R). Geklagt hatte eine Hundehalterin, die ergänzend zu ihrem Einkommen aus Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II bezogen hatte. Das Bundessozialgericht begründete die fehlende Absetzmöglichkeit der Versicherungsbeiträge mit Sinn und Zweck der einschlägigen gesetzlichen Bestimmung (§ 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch): Danach sollen nur solche Versicherungen, die einen spezifischen Bezug zu den Zielen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch aufweisen, vom Einkommen abgesetzt werden können, so zum Beispiel die Gebäudebrandversicherung, weil sie dem Wohnen dient, oder die Kfz-Haftpflichtversicherung, weil durch ein Auto die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert wird. Ein derartiger Bezug zur Existenzsicherung oder zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist bei der Tierhaltung nicht gegeben, auch wenn ein Hund für viele Menschen von großer Bedeutung ist. Ist ein Hund aus gesundheitlichen Gründen notwendig, werden zum Beispiel von der Krankenkasse die Kosten eines Blindenführhundes übernommen. Hinweis zur Rechtslage § 11b SGB II - Absetzbeträge (1) Vom Einkommen abzusetzen sind (…) 3. Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind; hierzu gehören Beiträge a) zur Vorsorge für den Fall der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit für Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht versicherungspflichtig sind, b) zur Altersvorsorge von Personen, die von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind, soweit die Beiträge nicht nach § 26 bezuschusst werden, (…)
BundessozialgerichtBSG, Urteil vom 8. 2. 2017 – B 14 AS 10/16 R (lexetius.com/2017,1327)Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 2016 wird zurückgewiesen.Kosten sind für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.[1] Tatbestand: Im Streit steht die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 1. 2. bis 31. 7. 2014, insbesondere unter Berücksichtigung von Hundehaftpflichtversicherungen als Absetzbetrag vom Einkommen der Klägerin.[2] Die Klägerin ist Eigentümerin von zwei Hunden, die "große Hunde" iS von § 11 Abs 1 Landeshundegesetz Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: LHundG NRW) sind und für deren daher gemäß § 11 Abs 2 LHundG NRW abzuschließende Haftpflichtversicherung sie im streitbefangenen Zeitraum eigener Angabe zufolge monatlich 14,61 Euro aufgewandt hat. In Wahrnehmung der Aufgaben nach dem SGB II anstelle des als Optionskommune zugelassenen Kreises Recklinghausen bewilligte die beklagte Stadt Castrop-Rauxel der Klägerin für diese Zeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iHv monatlich 204,35 Euro. Dabei stellte sie einem monatlichen Bedarf von 634,75 Euro (Regelbedarf 391 Euro, Mietaufwendungen 243,75 Euro) als Einnahmen monatlich Alg iHv 173,10 Euro sowie Netto-Einnahmen aus einer nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit iHv 432,46 Euro gegenüber, bei deren Bereinigung sie die Haftpflichtversicherung für die Hunde nicht einbezog (Bescheid vom 30. 1. 2014; Widerspruchsbescheid vom 20. 8. 2014).[3] Das SG hat die Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, bei der Leistungsberechnung für den streitbefangenen Zeitraum Beiträge zur Hundehaftpflichtversicherung iHv monatlich 14,61 Euro als gesetzlich vorgeschriebene Pflichtversicherung zu berücksichtigen (Urteil vom 7. 4. 2015). Das LSG hat das Urteil auf die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. 1. 2016): Für den Abzug von Beiträgen zur Hundehaftpflichtversicherung vom Einkommen bestehe keine gesetzliche Grundlage. Insbesondere könne er nicht auf § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 1 SGB II gestützt werden. Abzugsfähig seien nur Beiträge für gesetzlich vorgeschriebene Versicherungen, deren Bedarf dem verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimum zuzurechnen sei. Dagegen spreche nicht die gängige Praxis, Beiträge zur Kfz-Haftpflichtversicherung einkommensmindernd zu berücksichtigen. Ebenfalls sei aus § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 2 SGB II nichts abzuleiten, weil die Hunde weder aus beruflichen noch aus gesundheitlichen oder anderen Gründen gehalten werden müssten.[4] Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II. Maßgeblich für die Abzugsfähigkeit von Versicherungen sei allein, dass es sich um gesetzlich vorgeschriebene Versicherungen handele.[5] Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Januar 2016 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 7. April 2015 zurückzuweisen.[6] Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt, die Revision zurückzuweisen.[7] Entscheidungsgründe: Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum auch unter Berücksichtigung der Aufwendungen zur Hundehaftpflichtversicherung keine höheren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zustehen.[8] 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 30. 1. 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. 8. 2014, soweit das SG der Klägerin unter Änderung dieser Bescheide für den streitbefangenen Zeitraum weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iHv monatlich 14,61 Euro zuerkannt und das LSG auf die Berufung der Beklagten das Urteil der Sache nach aufgehoben und die Klage auf höhere Leistungen abgewiesen hat.[9] 2. Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Zutreffend verfolgt die Klägerin ihr Begehren im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG). Zu Recht richtet sich die Klage auch gegen die beklagte Stadt und nicht gegen den Kreis Recklinghausen als Träger der geltend gemachten Leistungen, dessen Aufgaben ihr zur Wahrnehmung im eigenen Namen übertragen sind (Wahrnehmungszuständigkeit) und wodurch sie im Außenverhältnis ungeachtet dessen verpflichtet ist, dass gemäß § 1 Kommunalträger-Zulassungsverordnung (idF vom 1. 12. 2010, BGBl I 1758) iVm § 6a Abs 2 SGB II der Kreis als Optionskommune zugelassen ist (vgl näher BSG Urteil vom 28. 10. 2014 – B 14 AS 65/13 R – BSGE 117, 186 = SozR 4—4200 § 7 Nr 39, RdNr 9 mwN).[10] 3. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind §§ 19 ff iVm §§ 7 ff SGB II idF, die das SGB II vor dem streitbefangenen Zeitraum zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 7. 5. 2013 (BGBl I 1167) erhalten hat. Denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungsabschnitte ist das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden (vgl letztens BSG Urteil vom 19. 10. 2016 – B 14 AS 53/15 R – vorgesehen für SozR 4, RdNr 15 mwN).[11] a) Die Grundvoraussetzungen, um Alg II zu erhalten (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II), erfüllte die Klägerin hinsichtlich des Alters, der Erwerbsfähigkeit und des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland; ebenso wenig lag ein Ausschlusstatbestand vor, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ergibt.[12] b) Dass die der Klägerin im streitbefangenen Zeitraum gewährten Leistungen ihre Hilfebedürftigkeit iS von § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 und den §§ 9, 11, 12 SGB II nicht abgewendet und ihren Lebensunterhalt nicht gesichert hätten, ist indes nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG nicht zu erkennen. Auszugehen ist danach bei einem Regelbedarf von 391 Euro (§ 2 RBSFV 2014 vom 15. 10. 2013, BGBl I 3856) und tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung iHv 243,75 Euro von einem monatlichen Bedarf von 634,75 Euro. Dem standen monatlich Alg iHv 173,10 Euro sowie Netto-Einnahmen aus einer nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit iHv 432,46 Euro gegenüber, woraus die Beklagte nach Bereinigung um Aufwendungen der Klägerin für ihre Kfz-Haftpflichtversicherung iHv 33,23 Euro (§ 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 1 SGB II), um die Versicherungspauschale iHv 30 Euro (§ 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 2 SGB II iVm § 6 Abs 1 Nr 1 Alg II-V idF, die die Alg II-V vor dem streitbefangenen Zeitraum zuletzt durch das Ehrenamtsstärkungsgesetz vom 21. 3. 2013, BGBl I 556, erhalten hat), um Beträge für geförderte Altersvorsorgebeiträge, allgemeine Werbungskosten und Fahrtkosten iHv 5 Euro, 15,33 Euro und 21,60 Euro (§ 11b Abs 1 Satz 1 Nr 4 und 5 SGB II iVm § 6 Abs 1 Nr 3 Alg II-V) sowie um den Erwerbstätigenfreibetrag iHv 70 Euro (§ 11b Abs 3 Satz 2 Nr 1 SGB II) ein zu berücksichtigendes Einkommen iHv 430,40 Euro ermittelt und daraus zu Recht einen ungedeckten Bedarf von 204,35 Euro abgeleitet hat.[13] 4. Zutreffend sind die Beklagte und das LSG hierbei davon ausgegangen, dass die Hundehaftpflichtversicherung keine gesetzlich vorgeschriebene Versicherung iS von § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 1 SGB II darstellt und deshalb das Einkommen der Klägerin insoweit keiner weitergehenden Bereinigung unterliegt; zu Recht konnte das LSG daher offen lassen, welche Beiträge im Einzelnen – und in welchen Monaten (zur monatsweisen Berücksichtigung von Aufwendungen etwa BSG Urteil vom 18. 2. 2010 – B 14 AS 32/08 R – SozR 4—4200 § 9 Nr 9 RdNr 23) – die Klägerin dafür im streitbefangenen Zeitraum aufgewendet hat.[14] a) Zuzugeben ist ihr allerdings, dass nur nach dem Wortlaut von § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II die Absetzbarkeit von Beiträgen zur Hundehaftpflichtversicherung naheliegen könnte. Hiernach sind vom Einkommen abzusetzen "Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, soweit diese Beiträge gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind; hierzu gehören Beiträge a) zur Vorsorge für den Fall der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit für Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht versicherungspflichtig sind, b) zur Altersvorsorge von Personen, die von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind, soweit die Beiträge nicht nach § 26 bezuschusst werden". Das könnte dafür sprechen, dass es bei gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen anders als nach der 2. Alternative des § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 SGB II ("nach Grund und Höhe angemessen") nicht auf das versicherte Risiko, sondern allein auf die Versicherungspflicht ankommt, wie sie hier nach bindender Auslegung des LSG (§ 162 SGG) gemäß nordrhein-westfälischem Landesrecht mit der Haftpflichtversicherung wegen der Hundehaltung der Klägerin besteht.[15] b) Dagegen sprechen indes Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck sowie Systematik der Norm (hierzu unter c), wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat.[16] Nach dem Entwurf der ursprünglich als § 11 Abs 2 Nr 3 SGB II eingeführten und nunmehr als § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II fortgeführten Regelung sollte die Abzugsfähigkeit von Versicherungsbeiträgen zunächst beschränkt sein auf die Absicherung von Krankheitsrisiken und zur Alterssicherung. Abzusetzen sein sollten demgemäß "Beiträge in angemessener Höhe zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen a) zur Vorsorge für den Fall der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit für Personen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht versicherungspflichtig sind, b) zur Altersvorsorge von Personen, die von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind, soweit die Beiträge nicht nach § 26 bezuschusst werden" (vgl BT-Drucks 15/1516 S 12).[17] Das ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht weiter verfolgt, sondern es ist die Absetzbarkeit von Versicherungsbeiträgen im Interesse der Harmonisierung dem Entwurf der entsprechenden Regelung im SGB XII angenähert worden, der seinerseits auf § 76 Abs 2 Nr 3 BSHG zurückging. In den Ausschussberatungen ist dazu darauf verwiesen worden, dass zu den in § 76 Abs 2 Nr 3 BSHG verwandten Wendungen "gesetzlich vorgeschrieben" und "nach Grund und Höhe angemessen" eine gefestigte Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte bestehe. Gesetzlich vorgeschrieben seien danach Beiträge zur privaten Pflegeversicherung sowie zur Gebäudebrandversicherung. Beiträge zur Kfz-Haftpflichtversicherung seien nur absetzbar, wenn die Haltung des Kraftfahrzeugs notwendig sei. Die weitergehende Praxis der Bundesanstalt für Arbeit zur Arbeitslosenhilfe zu § 194 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB III solle nicht übernommen werden (vgl BT-Drucks 15/1749 S 31 zu § 11 unter Verweis auf § 77 Abs 2 Nr 3 im Entwurf des SGB XII, in Kraft getreten als § 82 Abs 2 Nr 3 SGB XII).[18] Dieses Normverständnis kann bei der Auslegung von § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 1 SGB II nicht außer Betracht bleiben. Nach der bei den parlamentarischen Beratungen in Bezug genommenen Rechtsprechung zu § 76 Abs 2 Nr 3 BSHG reichte die gesetzliche Verpflichtung zum Abschluss einer Versicherung für die Absetzbarkeit der Versicherungsbeiträge nicht aus. Erforderlich war vielmehr zusätzlich die Prüfung im Einzelfall, ob für die Versicherung aus der Sicht der das Sozialhilferecht prägenden Grundsätze ein Bedürfnis bestehe (vgl BVerwG Urteil vom 4. 6. 1981 – 5 C 12.80 – BVerwGE 62, 261, 264). Die Berücksichtigung des Versicherungsbeitrags als Absetzbetrag müsse mit der Zielsetzung des Sozialhilferechts in Einklang stehen, die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, und den Hilfeempfänger zur Selbsthilfe zu befähigen, damit weitere Gewährung von Sozialhilfe entbehrlich wurde (vgl BVerwG Urteil vom 4. 6. 1981 – 5 C 12.80 – BVerwGE 62, 261, 266).[19] Das erweist, dass die Absetzbarkeit von Versicherungsbeiträgen mit der Annäherung an die entsprechende Regelung im SGB XII zwar nicht wie ursprünglich geplant auf die Krankenversicherung und die Altersvorsorge beschränkt bleiben, sie aber nach Sinn und Zweck auch nicht auf jegliche Pflichtversicherung erstreckt werden sollte. Anders ist auch der Hinweis nicht zu verstehen, dass der weitergehenden Praxis der Bundesanstalt für Arbeit zur Arbeitslosenhilfe zu § 194 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB III nicht gefolgt werden solle (vgl BT-Drucks 15/1749 S 31). In Fortführung der vom BVerwG entwickelten Kriterien zu § 76 Abs 2 Nr 3 BSHG sind deshalb als vom Einkommen absetzbar nur Beiträge zu solchen Pflichtversicherungen anzusehen, die einen spezifischen Bezug zu den Zielen des SGB II aufweisen, weil sie entweder einem der in die Existenzsicherung einbezogenen Bedarfe oder der Eingliederung in Arbeit zuzurechnen sind. So liegt es etwa bei der in den Materialien angeführten Gebäudebrandversicherung als einem dem Unterkunftsbedarf zuzurechnenden Aufwand (zu ihrer Zuordnung zu § 22 SGB II vgl allerdings etwa Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 11b RdNr 21; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 11b RdNr 100, Stand Februar 2015) oder bei der Kfz-Haftpflichtversicherung als förderlich für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.[20] c) Dem entspricht systematisch ebenfalls der Zuschnitt der weiteren Absetzungstatbestände in § 11b Abs 1 Satz 1 SGB II. Sie weisen entweder einen direkten Bezug zur Erwerbstätigkeit auf (Nr 2: Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Beiträge zur Arbeitsförderung, Nr 5: die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben, Nr 6: Freibetrag für Erwerbstätige nach § 11b Abs 3), sind für den Leistungsbezieher unvermeidlich (Nr 1: auf das Einkommen entrichtete Steuern, Nr 7: Aufwendungen zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsverpflichtungen bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegten Betrag, Nr 8: Freibetrag bei Ausbildungsförderung) oder dienen sozialpolitischen Zwecken (Nr 4: geförderte Altersvorsorgebeiträge). Auch mit Blick darauf fügt sich die Absetzung von Versicherungsbeiträgen, die weder einem mit dem SGB II zu deckenden Bedarf noch der Eingliederung in Arbeit zuzuordnen sind, in das Regelungskonzept des § 11b Abs 1 Satz 1 SGB II nicht ein.[21] d) Hiernach scheidet die Absetzbarkeit von Beiträgen zu Hundehaftpflichtversicherungen nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 1 SGB II aus. Soweit – wie nach den Feststellungen des LSG hier nicht – mit einer Hundehaltung Einkommen erzielt werden soll, beurteilt sich die Berücksichtigungsfähigkeit etwaiger Versicherungsaufwendungen nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB II (vgl nur Striebinger in Gagel, SGB II/SGB III, § 11b SGB II RdNr 10, Stand Dezember 2016; Schmidt in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 11b RdNr 16; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 11b RdNr 99, Stand Februar 2015; offener Neumann in BeckOK SozR, SGB II, § 11b RdNr 6: entweder als Pflichtversicherungen oder als notwendige Ausgaben iS des § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 5 SGB II) sowie ggf § 3 Abs 2 Alg II-V und nicht nach dem eine Einkommensverwendung im privaten Bereich privilegierenden Tatbestand des § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II. Hat die Hundehaltung einen gesundheitlichen Bezug wie etwa bei einem Blindenführhund, ist die Leistungsverantwortung anderer Träger wie insbesondere der Krankenkassen vorrangig (zur GKV vgl etwa BSG Urteil vom 20. 11. 1996 – 3 RK 5/96 – BSGE 79, 261, 263 = SozR 3—2500 § 33 Nr 21; zum Versorgungsrecht vgl § 13 Abs 1 BVG). Soweit Hunde wie vorliegend aus anderen Gründen gehalten werden, scheidet eine Berücksichtigung aus, weil die Hundehaltung nicht zum vom SGB II zu gewährleistenden Existenzminimum rechnet und sich infolgedessen damit in Zusammenhang stehende Versicherungsaufwendungen nicht einkommensmindernd und also leistungserhöhend auswirken können. Ist ihre Absetzbarkeit bereits als Beitrag zu einer gesetzlich vorgeschriebenen Versicherung iS von § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 1 SGB II ausgeschlossen, steht dies erst recht einer Berücksichtigung nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 Halbsatz 1 Alt 2 SGB II ("nach Grund und Höhe angemessen") entgegen.[22] Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.
bundessozialgericht
bsg_45 - 2019
02.10.2019
Darf eine Krankenkasse Rückstellungen für geschätzte Verpflichtungen wegen Krankenkassenschließungen bilden? Ausgabejahr 2019 Nummer 45 Datum 02.10.2019 Darf eine Krankenkasse Rückstellungen für ein von ihr selbst geschätztes Haftungsrisiko bei der Schließung anderer Betriebskrankenkassen bilden? Darüber beabsichtigt der 1. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Oktober 2019 ab 12.30 Uhr mündlich zu verhandeln und zu entscheiden (Aktenzeichen B 1 A 2/19 R). Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse, buchte ab 2011 in ihren Jahresrechnungen nach dem Kontenrahmen für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und für den Gesundheitsfonds Rückstellungen für ein von ihr selbst geschätztes Haftungsrisiko bei der Schließung anderer für Betriebsfremde geöffneter Betriebskrankenkassen (zum Beispiel 2015: 69,05 Millionen Euro; 2016: 65 Millionen Euro). Zur Bestimmung der Höhe der Rückstellungen setzte sie jeweils das veröffentlichte Vermögen der einzelnen Betriebskrankenkassen, soweit es unterhalb der gesetzlichen Mindestrücklage von 25 vom Hundert einer Monatsausgabe lag, mit einer quotenmäßigen Schließungswahrscheinlichkeit ins Verhältnis. Die beklagte Bundesrepublik - vertreten durch das Bundesversicherungsamt - beanstandete diese Buchungen erfolglos, beriet und verpflichtete die Klägerin, die Rückstellungen in der Jahresrechnung für 2017 auszubuchen. Das Bayerische Landessozialgericht hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen: Die Rechnungslegung einer Krankenkasse erfolge grundsätzlich nach den sozialrechtlichen Vorgaben. Der hiernach verbindliche Kontenrahmen sehe vor, dass Buchungen für Haftungsumlagen nur nach entsprechenden Feststellungen des GKV-Spitzenverbandes vorzunehmen seien. Es fehle eine Rechtsgrundlage für eine kassenindividuelle Schätzverpflichtung. Die Krankenkassen dürften keine "stillen Reserven" aufbauen. Mit ihrer Revision wendet sich die Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts. Sie rügt insbesondere, die Buchung der Schätzverpflichtungen sei aufgrund des auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Vorsichtsprinzips gerechtfertigt, deren Ausbuchung dagegen verboten (§ 77 Absatz 1a Satz 3 Nummer 4 SGB IV). Hinweis auf Rechtsvorschriften: § 77 Viertes Buch Sozialgesetzbuch Rechnungsabschluss, Jahresrechnung und Entlastung … (1a) 1Die Jahresrechnung einer Krankenkasse einschließlich der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See, soweit sie die Krankenversicherung nach dem Fünften Buch durchführt, hat ein den tatsächlichen Verhältnissenentsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Krankenkasse zu vermitteln. 2Die gesetzlichen Vertreter der Krankenkasse haben bei der Unterzeichnung der Jahresrechnung nach bestem Wissen schriftlich zu versichern, dass die Jahresrechnung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Satzes 1 vermittelt. 3Dabei sind bei der Bewertung der in der Jahresrechnung oder den ihr zu Grunde liegenden Büchern und Aufzeichnungen ausgewiesenen Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten insbesondere folgende Grundsätze zu beachten: … 4. Es ist vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung der Jahresrechnung bekannt geworden sind; Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. … 4Ausführungsbestimmungen über die Grundsätze nach Satz 3 können daneben in die Rechtsverordnung nach § 78 Satz 1 aufgenommen werden, soweit dies erforderlich ist, um eine nach einheitlichen Kriterien und Strukturen gestaltete Jahresrechnung zu schaffen und um eine einheitliche Bewertung der von den Krankenkassen aufgestellten Unterlagen zu ihrer Finanzlage zu erhalten. 5Die Jahresrechnung ist von einem Wirtschaftsprüfer oder einem vereidigten Buchprüfer zu prüfen und zu testieren. 6Ein Wirtschaftsprüfer oder ein vereidigter Buchprüfer ist von der Prüfung ausgeschlossen, wenn er in den letzten fünf aufeinanderfolgenden Jahren ohne Unterbrechung die Prüfung durchgeführt hat. … § 171e Fünftes Buch Sozialgesetzbuch Deckungskapital für Altersversorgungsverpflichtungen (1) 1Krankenkassen haben für Versorgungszusagen, die eine direkte Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 des Betriebsrentengesetzes auslösen sowie für ihre Beihilfeverpflichtungen durch mindestens jährliche Zuführungen vom 1. Januar 2010 an bis spätestens zum 31. Dezember 2049 ein wertgleiches Deckungskapital zu bilden, mit dem der voraussichtliche Barwert dieser Verpflichtungen an diesem Tag vollständig ausfinanziert wird. 2Auf der Passivseite der Vermögensrechnung sind Rückstellungen in Höhe des vorhandenen Deckungskapitals zu bilden. … § 12 Verordnung über den Zahlungsverkehr, die Buchführung und die Rechnungslegung in der Sozialversicherung (SVRV) Rückstellungen (1) 1Für eine Verpflichtung aus einer Altersvorsorgezusage für Bedienstete ist eine Rückstellung zu bilden. 2Soweit sich aus anderen Rechtsvorschriften nichts Abweichendes ergibt, bestimmt sich der Höchstwert der Rückstellungen nach dem für den jeweiligen Versicherungszweig geltenden versicherungsmathematisch ermittelten aktuellen Wert der späteren Zahlungen. 3Dieser Wert ist bei wesentlichen Änderungen der Berechnungsgrundlagen, in der Regel alle fünf Jahre, zu aktualisieren. 4Die Altersrückstellungen und das Deckungskapital dürfen nur zweckentsprechend aufgelöst werden. 5Für die Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkasse gelten die Sätze 1 und 4 entsprechend für Verpflichtungen aus Vereinbarungen über die Altersteilzeitarbeit sowie für Verpflichtungen nach § 7b des Vierten Buches Sozialgesetzbuch. 6Soweit von den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Unfallversicherung Rückstellungen für Verpflichtungen aus Vereinbarungen über die Altersteilzeitarbeit sowie für Verpflichtungen nach § 7b des Vierten Buches Sozialgesetzbuch gebildet werden, gelten die Sätze 1 und 4 entsprechend. (1a) Soweit für Verpflichtungen einer Krankenkasse, für die nach § 171d Abs. 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch der Spitzenverband Bund der Krankenkassen haftet, eine Zuführung zu den Rückstellungen erforderlich ist, darf dieser Betrag wie das nach § 171e des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zu bildende Deckungskapital bis spätestens zum 31. Dezember 2049 angesammelt werden und muss der Gesamtbetrag des Rückstellungsbedarfs so lange im Anhang zur Jahresrechnung nach § 29a der Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung ausgewiesen werden. (2) Von den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen und deren Bundesvereinigungen können Rückstellungen, die zur periodengerechten Zuordnung von Aufwendungen erforderlich sind, gebildet werden. § 29a Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung (VHV) Anhang zur Jahresrechnung der Krankenversicherung (1) Die Krankenversicherungsträger und ihre Verbände haben als Teil der Jahresrechnung einen Anhang zu erstellen. (2) 1In den Anhang sind diejenigen Angaben aufzunehmen, die zur Erläuterung der Jahresrechnung erforderlich sind, um eine realistische Beurteilung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu ermöglichen. 2Der Anhang ist neben allgemeinen Angaben zum Krankenversicherungsträger oder Verband nach folgenden Abschnitten untergliedert: … 2. Erläuterungen zur Jahresrechnung a) die Begründetheit von Forderungen, soweit sie nicht bereits auf Grund der Kontenbezeichnung naheliegt, sowie von Forderungen jeweils getrennt nach Laufzeiten bis zu einem Jahr und von mehr als einem Jahr und eventuelle Ausfallrisiken mit Beschreibung vorgenommener Wertberichtigungen; b) die Darstellung der Werte und die Entwicklung des Anlagevermögens in einem Anlagengitter sowie die angewandten Abschreibungssätze; c) aufgenommene Darlehen; d) der Gesamtbetrag der Verbindlichkeiten, getrennt nach Laufzeiten bis zu einem Jahr und von mehr als einem Jahr; e) der Anteil von Verbindlichkeiten bis zu einem Jahr Laufzeit an den Gesamtverbindlichkeiten; gegebenenfalls der stufenweise Aufbau des Anteils von Verbindlichkeiten bis zu einem Jahr Laufzeit für die Geschäftsjahre 2011 bis 2014; f) die Rückstellungen für Altersversorgungsverpflichtungen, das angewandte versicherungsmathematische Berechnungsverfahren sowie die grundlegenden Annahmen der Berechnung und der abweichende Barwert der Altersversorgungsverpflichtungen, sofern der in der Vermögensrechnung ausgewiesene Betrag am Stichtag für die Jahresrechnung vom Barwert der Altersversorgungsverpflichtungen abweicht; g) der Aufbau der Rückstellungen auf Grund von Altersteilzeit- und Wertguthabenvereinbarungen sowie die Maßnahmen für die durchgeführte Insolvenzsicherung beziehungsweise die schrittweise durchgeführte Insolvenzsicherung der Wertguthaben aus Altersteilzeitvereinbarungen; h) Erläuterungen zu solchen Positionen, die aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit in der Vermögensrechnung zusammengefasst worden sind; i) sonstige Haftungsverhältnisse, deren Gründe sowie eine Beurteilung des Risikos der Inanspruchnahme; j) außerordentliche Erträge und Aufwendungen; … (3) Die nähere technische Ausgestaltung des Anhangs wird im Kontenrahmen nach § 25 Absatz 2 Nummer 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung geregelt. § 38 Allgemeine Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung (SRVwV) Aufstellung der Jahresrechnung (1) In der Jahresrechnung (§ 18 Abs. 2 der Sozialversicherungs-Rechnungsverordnung) ist in der Gliederung des geltenden Kontenrahmens über die Ausgaben/Aufwendungen, Einnahmen/Erträge und über das Vermögen Rechnung zu legen. Anlage 1 zu § 25 Abs 2 Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung (SRVwV) Kontenrahmen für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und für den Gesundheitsfonds … 1298 Verpflichtungen aus finanziellen Hilfen, Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle Zu 1298 Hier bucht die Krankenkasse auch Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Krankenkassen, die der Spitzenverband Bund der Krankenkassen durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde angefordert hat. 1299 Übrige Verpflichtungen Zu 1299 Z.B. fällige, aber noch nicht bezahlte Vermögensaufwendungen. … 160 Rückstellungen Zu 160 Über die in § 171e SGB V, § 172c SGB VII, § 12 SVRV und § 7 SVLFGG genannten Rückstellungen hinaus besteht keine weitere Verpflichtung Rückstellungen zu bilden.
Bundessozialgericht Urteil vom 08.10.2019, B 1 A 2/19 R Krankenversicherung - Jahresrechnung - Rückstellungen aufgrund ungewisser Verpflichtungen oder für künftige Zeiträume - Buchung nur aufgrund einer besonders geregelten Rechtfertigung - Buchung für Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Krankenkassen Leitsätze1. Eine Krankenkasse darf Rückstellungen in der Jahresrechnung aufgrund ungewisser Verpflichtungen oder für einen nach dem Haushaltsjahr liegenden künftigen Zeitraum nur aufgrund einer besonders geregelten Rechtfertigung buchen. 2. Eine Betriebskrankenkasse darf Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Krankenkassen nur buchen, wenn die Umlage bereits durch Umlagebescheid des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen angefordert wurde. TenorDie Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Januar 2019 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens. Der Streitwert für beide Instanzen wird auf 2 500 000 Euro festgesetzt. TatbestandDie Beteiligten streiten über die aufsichtsrechtliche Verpflichtung der Klägerin zur Ausbuchung von Schätzverpflichtungen. Die klagende, bundesweit zuständige Betriebskrankenkasse (BKK) buchte ab 2011 Rückstellungen für ein selbst geschätztes Haftungsrisiko bei der Schließung anderer für Betriebsfremde geöffneter BKKn in ihren Jahresrechnungen unter Ziffer 1299 ("Übrige Verpflichtungen") nach dem Kontenrahmen für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und für den Gesundheitsfonds (Anlage 1 zu § 25 Abs 2 Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung - SRVwV vom 15.7.1999, BAnz Nr 145a vom 6.8.1999, hier anzuwenden idF durch die Neunte Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung vom 19.1.2015, BAnz AT 23.1.2015 B9, entsprechend der Neubekanntmachung vom 14.7.2016 mWv 1.1.2016, GMBl 2016, 898). Zur Bestimmung der Höhe der Rückstellungen setzte die Klägerin jeweils das veröffentliche Vermögen der einzelnen BKKn, soweit es unterhalb der gesetzlichen Mindestrücklage von 25 vH einer Monatsausgabe lag, mit einer quotenmäßigen Schließungswahrscheinlichkeit ins Verhältnis. Die beklagte Bundesrepublik - vertreten durch das Bundesversicherungsamt - beanstandete diese Buchung zunächst erfolglos (Mitteilung des Prüfdienstes vom 8.6.2016, Prüfbericht vom 27.10.2016, Schreiben der Beklagten vom 7.12.2016 sowie Besprechungen der Beteiligten am 18.7.2016 und 18.5.2017) und verpflichtete die Klägerin, die Rückstellungen in der Jahresrechnung für 2017 auszubuchen (Bescheid vom 25.9.2017). Das LSG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen: Die Rechnungslegung einer gesetzlichen Krankenkasse (KK) erfolge grundsätzlich nach den sozialrechtlichen Vorgaben. Es fehle eine Rechtsgrundlage für eine kassenindividuelle Schätzverpflichtung. Der verbindliche Kontenrahmen sehe unter Ziffer 1298 vor, dass Buchungen für Haftungsumlagen nur nach entsprechenden Feststellungen des GKV-Spitzenverbandes vorzunehmen seien (Urteil vom 15.1.2019). Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 77 Abs 1a SGB IV iVm § 252 Handelsgesetzbuch (HGB) und § 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV. Die Buchung von Schätzverpflichtungen sei nach § 77 Abs 1a SGB IV zulässig. Die geforderte Ausbuchung von bereits seit 2011 unbeanstandet erfolgten Verpflichtungsbuchungen verstoße gegen das Realisationsprinzip. Die Beklagte habe ihr Ermessen überschritten. Die Klägerin beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Januar 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 25. September 2017 aufzuheben. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der klagenden BKKn ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Aufsichtsklage (§ 54 Abs 3 SGG) gegen die Aufsichtsanordnung der beklagten Bundesrepublik Deutschland ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Beklagte rechtmäßig die Klägerin verpflichtete, die geschätzten Verpflichtungen wegen des Haftungsrisikos bei Schließung anderer KKn auszubuchen (Bescheid vom 25.9.2017). 1. Die Beklagte durfte als zuständige Aufsichtsbehörde (§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV) die Klägerin - einen bundesunmittelbaren Versicherungsträger - gemäß § 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV verpflichten, eine bevorstehende Rechtsverletzung zu unterlassen. Denn die Beklagte wirkte in Einklang mit § 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV zunächst im Vorfeld der Aufsichtsverfügung mit erfolglosen Hinweisen, Beratung und Aufforderungen zur Beendigung des für rechtswidrig erachteten Buchungsverhaltens bei früheren Jahresrechnungen beratend darauf hin, dass die Klägerin von der rechtlich unzulässigen Buchung von Schätzverpflichtungen Abstand nehme. Sie beachtete das gesetzlich vorgesehene, zeitlich und in seiner Intensität abgestufte Verfahren (vgl dazu BSG SozR 3-2400 § 89 Nr 4 S 12; BSG SozR 4-2400 § 89 Nr 2 RdNr 13 mwN). Nach Sinn und Zweck des § 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV, der ausdrücklich nur die Verpflichtung zur Behebung der Rechtsverletzung nennt, ist es folgerichtig, von demjenigen, der das Recht verletzt hat, auch zu verlangen, künftig entsprechende Rechtsverletzungen nicht mehr zu begehen (präventive Verpflichtung - vgl BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr 1, RdNr 12; BSGE 90, 162, 169 = SozR 3-2500 § 284 Nr 1 S 8; Schirmer/Kater/Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung, Stand Januar 2011, 350, S 3). 2. Die Beklagte erließ die angefochtene Anordnung unter Beachtung des aufsichtsrechtlichen Prüfmaßstabs (dazu a) wegen einer Rechtsverletzung (dazu b) ermessensfehlerfrei (dazu c). a) Der Prüfungsmaßstab der Aufsichtsbehörde richtet sich nach den rechtlichen Vorgaben für das Verhalten des Versicherungsträgers, das Gegenstand der Maßnahme ist (vgl zB für den Abschluss eines Gruppenversicherungsvertrags zwischen einer KK und einem privaten Krankenversicherer, um Mitglieder und deren familienversicherte Angehörige bei Auslandsreisen gegen Krankheitskosten abzusichern BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1 und für den Bereich der Sach- und Vermögensverwaltung die aufsichtsrechtliche Pflicht, im Rahmen des Gesetzes und des sonstigen maßgeblichen Rechts iS von § 29 Abs 3 SGB IV "wirtschaftlich vertretbare" Entscheidungen hinzunehmen, BSGE 71, 108 , 110 = SozR 3-2400 § 69 Nr 1 S 4 mwN; BSG SozR 4-2400 § 80 Nr 1 RdNr 23; BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr 1, RdNr 16 mwN; zu den abweichenden Maßstäben bei Vermögensentscheidungen im Rahmen gesetzlich normierter Genehmigungsvorbehalte vgl zB BSG SozR 3-2400 § 41 Nr 1 S 3 mwN; BSG Urteil vom 16.11.2005 - B 2 U 14/04 R - juris RdNr 19; zum Bereich der "klassischen" Aufsicht nach § 87 Abs 1 SGB IV vgl zB BSGE 94, 221 RdNr 19 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 20). Gegenstand der angefochtenen Maßnahme ist die Buchung einer Schätzverpflichtung wegen des Haftungsrisikos bei Schließung anderer BKKn in der Jahresrechnung 2017 der Klägerin. b) Die Klägerin verletzte mit der Buchung selbst geschätzter künftiger Verpflichtungen wegen des Haftungsrisikos bei Schließung anderer BKKn in den Jahresrechnungen seit 2011 von zuletzt 69,05 Mio Euro (2015) und 65 Mio Euro (2016) als Rückstellung unter Ziffer 1299 des für die KKn maßgeblichen Kontenrahmens (Anlage 1 zu § 25 Allgemeine Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswegen in der Sozialversicherung - SRVwV) das Gebot, Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn nur zu buchen, wenn die Umlage bereits durch Umlagebescheid des Spitzenverbands Bund der KKn angefordert wurde. Rechtsgrundlage der Jahresrechnung für KKn ist § 77 SGB IV (neugefasst durch Bekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710, zuletzt geändert durch Art 2 Nr 2 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG - vom 22.12.2011, BGBl I 2983 mWv 1.1.2012). Die Versicherungsträger schließen für jedes Kalenderjahr zur Rechnungslegung die Rechnungsbücher ab und stellen auf der Grundlage der Rechnungslegung eine Jahresrechnung auf (§ 77 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Die Jahresrechnung einer KK hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der KK zu vermitteln (§ 77 Abs 1a Satz 1 SGB IV). Das Gesetz bestimmt hierfür in Anlehnung an das Handelsrecht (vgl § 252 HGB) die Grundsätze, die bei der Bewertung der in der Jahresrechnung ausgewiesenen Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten zu beachten sind (§ 77 Abs 1a Satz 3 SGB IV). Ua sind Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung der Jahresrechnung bekannt geworden sind (Prinzip der Wertaufhellung); Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind (Realisationsprinzip; vgl insgesamt § 77 Abs 1a Satz 3 Nr 4 SGB IV). Ausführungsbestimmungen über die Grundsätze nach Satz 3 können daneben in die Rechtsverordnung nach § 78 Satz 1 SGB IV aufgenommen werden, soweit dies erforderlich ist, um eine nach einheitlichen Kriterien und Strukturen gestaltete Jahresrechnung zu schaffen und um eine einheitliche Bewertung der von den KKn aufgestellten Unterlagen zu ihrer Finanzlage zu erhalten (§ 77 Abs 1a Satz 4 SGB IV). Die Jahresrechnung ist von einem Wirtschaftsprüfer oder einem vereidigten Buchprüfer zu prüfen und zu testieren (§ 77 Abs 1a Satz 5 SGB IV). Die Bundesregierung (BReg) hat von der Ermächtigung Gebrauch gemacht, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats (BRat) für die Sozialversicherungsträger mit Ausnahme der Bundesagentur für Arbeit Grundsätze über die Aufstellung des Haushaltsplans, seine Ausführung, die Rechnungsprüfung und die Entlastung sowie die Zahlung, die Buchführung und die Rechnungslegung zu regeln. Die Regelung ist nach den Grundsätzen des für den Bund und die Länder geltenden Haushaltsrechts vorzunehmen; sie hat die Besonderheiten der Sozialversicherung und der einzelnen Versicherungszweige zu berücksichtigen (§ 78 SGB IV idF durch Art 2 Nr 1b Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften vom 24.7.2010, BGBl I 983 mWv 30.7.2010). Nach § 18 Sozialversicherungs-Rechnungsverordnung (SVRV idF durch Art 13 Abs 19 Nr 2 des Gesetzes zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Versicherung - LSV-NOG - vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013), der ua auch für KKn gilt (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 SVRV), sind für jedes Geschäftsjahr die Bücher abzuschließen (§ 18 Abs 1 SVRV). In der Jahresrechnung (§§ 27 bis 30 SVHV - Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung vom 21.12.1977, BGBl I 3147, hiervon § 29a Abs 4 SVHV zuletzt geändert durch Art 13 Abs 18 LSV-NOG vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013) ist nach der Gliederung des geltenden Kontenrahmens Rechnung zu legen (§ 18 Abs 2 SVRV). Die Träger der Krankenversicherung und ihre Verbände mit Ausnahme der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau haben ihrer Jahresrechnung einen Anhang nach § 29a SVHV beizufügen (§ 18 Abs 3 SVRV). § 29a SVHV gibt ebenfalls vor, dass die Krankenversicherungsträger und ihre Verbände als Teil der Jahresrechnung einen Anhang zu erstellen haben und welchen Inhalt dieser hat. Um ua bei den KKn, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts - zT als mittelbare Landesverwaltung unter Landesaufsicht (vgl näher BSGE 118, 137 = SozR 4-2400 § 90 Nr 1) - eine einheitliche Verwaltungspraxis bei der Jahresrechnung zu sichern, hat die BReg mit Zustimmung des BRats von der verfassungsrechtlich ausdrücklich nur ihr eingeräumten Befugnis (vgl Art 84 Abs 2, Art 86 GG; BVerfGE 100, 249 = juris RdNr 47 ff) Gebrauch gemacht, die SRVwV zu erlassen. Danach ist in der Jahresrechnung (§ 18 Abs 2 SVRV) in der Gliederung des geltenden Kontenrahmens über die Ausgaben/Aufwendungen, Einnahmen/Erträge und über das Vermögen Rechnung zu legen (§ 38 Abs 1 SRVwV). Vor dem Abschluss des Zeit- und des Sachbuches sind die das Geschäftsjahr betreffenden Ausgaben/Aufwendungen und Einnahmen/Erträge, die Forderungen und Verpflichtungen und die Beträge der zeitlichen Rechnungsabgrenzung nach Maßgabe der Bestimmungen der Kontenrahmen zu buchen. Die erforderlichen Wertberichtigungen der Vermögensgegenstände sind nach Maßgabe des § 11 SVRV und des § 34 SRVwV in Verbindung mit den Bestimmungen der Kontenrahmen zu buchen (§ 37 SRVwV). Ziffer 1298 der Bestimmungen der Kontenrahmen (Anlage 1 zu § 25 Abs 2 Nr 1 SRVwV) sieht im Rahmen der Gruppe "12 Kurzfristige Verpflichtungen" Buchungen für "Verpflichtungen aus finanziellen Hilfen" und "Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle" vor. Die SRVwV erläutert, dass die KK hier auch Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn bucht, die der Spitzenverband Bund der KKn durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde angefordert hat. Diese Vorgaben für die Buchung sind als abschließende Regelung für die Buchung von Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn konzipiert. Ziffer 160 aus der Gruppe "16 Sonstige Passiva" des für die KKn maßgeblichen Kontenrahmens (Anlage 1 zu § 25 SRVwV) bestimmt, dass über die in § 171e SGB V und § 12 SVRV genannten Rückstellungen hinaus keine weitere Verpflichtung für KKn besteht, Rückstellungen zu bilden. Es ist dementsprechend ausgeschlossen, Schätzverpflichtungen aufgrund möglicher künftiger Haftungsfälle für geschlossene KKn unter Ziffer 1299 "Übrige Verpflichtungen" zu buchen. Diese Vorgaben des für die KKn maßgeblichen Kontenrahmens (Anlage 1 zu § 25 SRVwV) stehen mit höherrangigem Recht in Einklang. Im Unterschied insbesondere zu kaufmännischen juristischen Personen, die nach den Vorgaben des Handelsrechts bilanzieren (vgl § 252 HGB), finanzieren sich KKn nicht durch Kredite (vgl zum Verbot § 220 Abs 1 Satz 2 SGB V und BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr 1) und im Schwerpunkt nicht durch die Ansammlung von Deckungskapital, sondern im Wesentlichen durch Umlagen nach dem allgemeinen Beitragssatz und ggf nach dem Zusatzbeitragssatz (vgl § 220 Abs 1 Satz 1 SGB V). Der Zusatzbeitragssatz ist so zu bemessen, dass die Einnahmen aus dem Zusatzbeitrag zusammen mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds und den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsjahr voraussichtlich zu leistenden Ausgaben und die vorgeschriebene Höhe der Rücklage decken; dabei ist die Höhe der voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen aller KKn je Mitglied zugrunde zu legen (§ 242 Abs 1 Satz 3 SGB V). Die KK darf ihre Mittel lediglich als Betriebsmittel, für Rücklagen und als Verwaltungsvermögen verwenden (§ 259 SGB V). Der Zusatzbeitragssatz fungiert auf diese Weise als Indikator für die wirtschaftliche Situation der KK. Im Hinblick auf die Umlagefinanzierung sind von besonderer Bedeutung für die wirtschaftlichen Verhältnisse der KKn Verpflichtungen, die Bezug zu dem Geschäftsjahr haben, auf das sich die jeweilige Rechnungslegung bezieht. Das Gesetz sieht in Einklang mit den Grundsätzen der Umlagefinanzierung als Finanzpuffer für das laufende Jahr grundsätzlich nicht Rückstellungen, sondern Rücklagen vor (vgl § 261 SGB V, hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 31 Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz - GKV-FQWG - vom 21.7.2014, BGBl I 1133 mWv 1.1.2015; zur optionalen Bildung einer Gesamtrücklage vgl § 262 SGB V). Danach bestimmt die Satzung die Höhe der Rücklage in einem Vomhundertsatz des nach dem Haushaltsplan durchschnittlich auf den Monat entfallenden Betrages der Ausgaben für die in § 260 Abs 1 Nr 1 SGB V genannten Zwecke (Rücklagesoll). Die Rücklage muss mindestens ein Viertel und darf höchstens das Einfache des Betrages der auf den Monat entfallenden Ausgaben nach Satz 1 betragen (vgl § 261 Abs 2 SGB V). Die KK kann Mittel aus der Rücklage den Betriebsmitteln zuführen, wenn Einnahme- und Ausgabeschwankungen innerhalb eines Haushaltsjahres nicht durch die Betriebsmittel ausgeglichen werden können. In diesem Fall soll die Rücklage in Anspruch genommen werden, wenn dadurch Erhöhungen des Zusatzbeitragssatzes nach § 242 SGB V während des Haushaltsjahres vermieden werden (vgl § 261 Abs 3 SGB V). Ergibt sich bei der Aufstellung des Haushaltsplans, dass die Rücklage geringer ist als das Rücklagesoll, ist bis zur Erreichung des Rücklagesolls die Auffüllung der Rücklage im Regelfall mit einem Betrag in Höhe von mindestens einem Viertel des Rücklagesolls im Haushaltsplan vorzusehen (vgl § 261 Abs 4 SGB V). Übersteigt die Rücklage das Rücklagesoll, ist der übersteigende Betrag den Betriebsmitteln zuzuführen (vgl § 261 Abs 5 SGB V). Rückstellungen aufgrund ungewisser Verpflichtungen oder für einen nach dem Haushaltsjahr liegenden künftigen Zeitraum bedürfen nach dem Regelungssystem einer besonders geregelten Rechtfertigung. Dementsprechend sehen die für die Rechnungslegung der KKn geltenden gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsnormen eine Verpflichtung zu Rückstellungen ausdrücklich nur für Altersvorsorgeverpflichtungen und auf Grund von Altersteilzeit- und Wertguthabenvereinbarungen vor (vgl § 171e Abs 1 Satz 2 SGB V; § 12 SVRV idF durch Art 13 Abs 19 Nr 1 LSV-NOG vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013; § 29a Abs 2 Nr 2 Buchst f und g SVHV idF durch Art 1 Nr 1 der Vierten Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung vom 19.7.2010, BGBl I 968). Dass die KK Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn erst bucht, wenn der Spitzenverband Bund der KKn durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde Zahlungen angefordert hat, trägt auch dem gesetzlichen Regelungssystem für die Eintrittswahrscheinlichkeit von Haftungsfällen wegen Kassenschließung Rechnung. Der Gesetzgeber hat das Risiko einer Kassenschließung durch eine Reihe flankierender Maßnahmen erheblich reduziert. Hierzu zählt vorrangig das in § 172 Abs 2 SGB V geregelte Frühwarnsystem, das dem Landesverband, dem Spitzenverband Bund der KKn sowie der Aufsichtsbehörde eine frühzeitige Beratung und ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglichen soll. Hierher gehören aber auch freiwillige finanzielle Hilfen (§ 265b, § 265a SGB V) und die Möglichkeiten einer freiwilligen, ggf durch Hilfen unterstützten oder zwangsweise durchgeführten Fusion von KKn (§ 172 Abs 3 SGB V). Die Aufsichtsanordnung ist auch nicht durch spätere Gesetzesänderungen rechtswidrig geworden (vgl zu den Grundsätzen BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 A 2/18 R - juris RdNr 25 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die nach Erlass der angefochtenen Aufsichtsanordnung in Kraft getretenen Gesetzesänderungen haben die Anforderungen an die Bildung von Rückstellungen aufgrund von Schätzverpflichtungen keinesfalls abgemildert (vgl insbesondere § 242 Abs 1 Satz 4 und § 260 SGB V idF durch Art 1 Nr 7 und Nr 8 Gesetz zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-VEG - vom 11.12.2018, BGBl I 2387 mWv 18.10.2018). Die Klägerin kann sich hingegen nicht auf die Berechtigung zur Schätzung ungewisser, aber ausreichend bestimmbarer Verpflichtungen nach Ziffer 12 Nr 2 Anlage 1 zu § 25 SRVwV berufen. Diese bezieht sich - wie die Überschrift "Kurzfristige Verpflichtungen" zeigt - ausschließlich auf Verpflichtungen mit Bezug zum abgerechneten Geschäftsjahr. Die Klägerin kann sich für ihre Buchungspraxis schließlich nicht erfolgreich auf das Vorsichtsprinzip stützen. Die aufgezeigten sozialrechtlichen Grundsätze weichen grundlegend von den im Handelsrecht geltenden Anforderungen ab. c) Die Beklagte übte das ihr eingeräumte Ermessen rechtmäßig aus, gegen die zutreffend festgestellte Rechtsverletzung einzuschreiten (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Sie traf - formal hinreichend begründet (§ 35 Abs 1 SGB X) - eine Ermessensentscheidung, hielt dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens ein und machte von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Beklagte beschränkte sich in der Sache darauf, der Klägerin aufzugeben, die bei früheren Jahresrechnungen festgestellte Rechtsverletzung in der Jahresrechnung für 2017 zu beheben. Die Beklagte durfte auch berücksichtigen, dass der Umfang der seit 2011 gebuchten Schätzverpflichtungen erheblich war. Die Beklagte war entgegen der Ansicht der Klägerin nicht verpflichtet, im Sinne eines milderen Mittels Kriterien für die Ermittlung solcher Schätzverpflichtungen aufzustellen. Sie ging zu Recht davon aus, dass die Buchung von Schätzverpflichtungen wegen des Haftungsrisikos im Zusammenhang mit der Schließung anderer KKn vor Erteilung eines Umlagebescheids generell rechtswidrig ist. Sie durfte entgegen der Ansicht der Klägerin auch anordnen, dass diese die rechtswidrige Buchung bei der nächsten Jahresrechnung korrigiert. Die Ausbuchung einer rechtswidrig gebuchten Schätzverpflichtung verstößt nicht gegen das Realisationsprinzip. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1, § 161 Abs 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 4 sowie § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 GKG.
bundessozialgericht
bsg_43 - 2017
12.09.2017
Keine Sperrzeit nach Altersteilzeit Ausgabejahr 2017 Nummer 43 Datum 12.09.2017 Der 11. Senat hat entschieden (Aktenzeichen B 11 AL 25/16 R), dass eine Sperrzeit nicht eintritt, wenn eine Arbeitnehmerin am Ende der Altersteilzeit entgegen ihrer ursprünglichen Planung nicht sofort Altersrente in Anspruch nimmt, sondern zunächst Arbeitslosengeld beantragt, weil sie - bedingt durch eine Gesetzesänderung - zu einem späteren Zeitpunkt abschlagsfrei in Rente gehen kann. Die Klägerin schloss 2006 mit der Stadt Heubach, bei der sie seit 1982 beschäftigt war, einen Altersteilzeitvertrag, der das bestehende unbefristete Arbeitsverhältnis als Bürofachkraft in ein bis 30. November 2015 befristetes Arbeitsverhältnis umwandelte. Sie hatte ursprünglich beabsichtigt, nach Ende der Freistellungsphase vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen. Davon nahm sie erst Abstand, als zum 1. Juli 2014 eine abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte eingeführt worden war und meldete sich deshalb zum 1. Dezember 2015 arbeitslos. Die Beklagte lehnte aber die Zahlung von Arbeitslosengeld wegen des Eintritts einer Sperrzeit für einen Zeitraum von zwölf Wochen ab. Die Klägerin habe ihr Beschäftigungsverhältnis ohne wichtigen Grund selbst gelöst. Ab 1. März 2016 bezog die Klägerin Altersrente für besonders langjährig Versicherte. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht die Sperrzeit im Grundsatz bestätigt. Die Dauer der Sperrzeit sei aber wegen einer besonderen Härte auf sechs Wochen zu verkürzen, weswegen die Beklagte die vom Landessozialgericht zugelassene Revision eingelegt hat. Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass das Verhalten der Klägerin den Eintritt einer Sperrzeit nicht rechtfertigt. Die Klägerin hat ihr Beschäftigungsverhältnis zwar dadurch gelöst, dass sie durch eine Altersteilzeitvereinbarung das unbefristete Arbeitsverhältnis in ein befristetes umgewandelt hat, wodurch sie nach dem Ende der Freistellungsphase zum 1. Dezember 2015 beschäftigungslos geworden ist. Jedoch kann sich die Klägerin für ihr Verhalten auf einen wichtigen Grund berufen. Für den Fall der Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch Altersteilzeitvertrag hatte der 7. Senat des Bundessozialgerichts bereits mit Urteil vom 21. Juli 2009 - B 7 AL 6/08 R - entschieden, dass sich ein Arbeitnehmer auf einen wichtigen Grund berufen kann, wenn er bei Abschluss der Vereinbarung beabsichtigt, nahtlos von der Freistellungsphase der Altersteilzeit in den Rentenbezug zu wechseln und eine entsprechende Annahme bei prognostischer Betrachtung objektiv gerechtfertigt ist. Dies war bei der Klägerin der Fall. Dass sie von ihren ursprünglichen Plänen dann im Jahre 2014 Abstand genommen hat, weil sich für sie - nachträglich - die Möglichkeit ergab, drei Monate nach dem geplanten Rentenbeginn Altersrente ohne Abschlag zu beziehen, ist für die Beurteilung des wichtigen Grundes unerheblich. Dieser ist nicht deshalb entfallen, weil die Klägerin entgegen ihrer ursprünglichen Absicht keine Altersrente mit Abschlägen beantragt hat. Das Vorliegen eines wichtigen Grundes ist inhaltlich und auch zeitlich allein bezogen auf den das Beschäftigungsverhältnis auflösenden Akt zu prüfen. Hinweis zur Rechtslage § 159 SGB III - Ruhen bei Sperrzeit (1) 1Hat die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben, ruht der Anspruch für die Dauer einer Sperrzeit. 2Versicherungswidriges Verhalten liegt vor, wenn 1. die oder der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe), … (3) 1Die Dauer der Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe beträgt zwölf Wochen. 2Sie verkürzt sich … 2. auf sechs Wochen, wenn … b) eine Sperrzeit von zwölf Wochen für die arbeitslose Person nach den für den Eintritt der Sperrzeit maßgebenden Tatsachen eine besondere Härte bedeuten würde.
1. Vereinbart ein Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber Altersteilzeit im Blockmodell unter Umwandlung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses in ein befristetes, liegt darin die Lösung eines Beschäftigungsverhältnisses, die eine Sperrzeit für das Arbeitslosengeld auslösen kann. 2. Die Sperrzeit beginnt regelmäßig erst mit dem Ende, nicht bereits mit dem Beginn der Freistellungsphase. 3. Ein wichtiger Grund für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses, der den Eintritt einer Sperrzeit verhindert, liegt vor, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluss der Vereinbarung beabsichtigt, aus dem Arbeitsleben auszuscheiden und eine entsprechende Annahme prognostisch gerechtfertigt ist. Tatbestand Im Streit ist die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 1.10. bis 23.12.2005, für die die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit festgestellt hat.Der im Jahr 1942 geborene Kläger stand bis 30.9.2005 bei der Firma H in einem Arbeitsverhältnis. Zuvor hatte er im November 2001 mit der Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin Altersteilzeit vereinbart, durch die das bis dahin unbefristete Arbeitsverhältnis ab 1.4.2002 in ein bis 30.9.2005 befristetes Arbeitsverhältnis, beginnend mit einer Arbeitsphase bis 31.12.2003 und einer daran anschließenden Freistellungsphase, umgewandelt worden war (so genanntes Blockmodell). Nachdem sich der Kläger zum 1.10.2005 arbeitslos gemeldet hatte, bewilligte die Beklagte Alg erst ab 24.12.2005. Für die Zeit vom 1.10. bis 23.12.2005 (12 Wochen) stellte die Beklagte durch gesonderten Bescheid den Eintritt einer Sperrzeit fest (Bescheid vom 16.11.2005; Widerspruchsbescheid vom 20.1.2006). Alg bezog der Kläger bis 30.9.2007; danach wurde ihm Regelaltersrente gezahlt.Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Beklagte "unter Abänderung ihres Bescheides vom 16.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.1.2006 verurteilt, an den Kläger auch für die Zeit vom 1.10. - 23.12.2005 Alg nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen" (Urteil vom 18.4.2007). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG "geändert und die Klage abgewiesen" (Urteil vom 20.2.2008). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, es lägen die Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit nach § 144 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) vor. Der Kläger habe durch Abschluss des Altersteilzeitvertrages sein Beschäftigungsverhältnis gelöst; Anhaltspunkte für einen wichtigen Grund iS von § 144 Abs 1 SGB III seien nicht ersichtlich. Entgegen der Ansicht des SG, das den Sperrzeitbeginn auf den 1.1.2004 datiert habe, habe Beschäftigungslosigkeit (erst) ab 1.10.2005 vorgelegen, so dass die Sperrzeit erst ab diesem Zeitpunkt zu laufen begonnen habe.Mit der Revision rügt der Kläger, das LSG habe den Begriff der "Beschäftigungslosigkeit" iS von § 144 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB III verkannt. Beschäftigungslosigkeit als tatsächliche Nichtbeschäftigung habe unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses schon ab 1.1.2004 vorgelegen; die Sperrzeit sei deshalb - wie vom SG angenommen - bereits am 24.3.2004 abgelaufen, und für den streitigen Zeitraum stehe ihm Alg zu.Der Kläger beantragt,das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.Die Beklagte beantragt,die Revision des Klägers zurückzuweisen.Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend. Gründe Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Zu Recht hat das LSG entschieden, dass die mögliche Sperrzeit nach § 144 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB III (idF, die die Norm durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 19.11.2004 - BGBl I 2902 - erhalten hat) erst mit dem Ende der Freistellungsphase zu laufen beginnen würde (§ 144 Abs 2 SGB III). Jedoch fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG) dazu, ob sich der Kläger für sein Verhalten auf einen wichtigen Grund iS des § 144 Abs 1 Satz 1 SGB III berufen kann und eine Sperrzeit überhaupt eingetreten ist.Gegenstand des Rechtsstreits und des Revisionsverfahrens ist, was das LSG übersehen hat, nicht nur der Bescheid vom 16.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.1.2006 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte als eigenständige Verfügung (§ 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>) den Eintritt einer Sperrzeit festgestellt hat (vgl dazu Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 3.6.2004 - B 11 AL 71/03 R - SGb 2004, 479), sondern auch der - vom LSG nicht festgestellte und auch in der Verwaltungsakte nicht enthaltene - Bescheid der Beklagten über die Bewilligung von Alg für die Zeit ab 24.12.2005, soweit sie darin für die Zeit vom 1.10. bis 23.12.2005 die Zahlung von Alg abgelehnt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG bildet dieser Bescheid eine rechtliche Einheit mit dem Sperrzeitbescheid (BSGE 84, 225, 227 = SozR 3-4100 § 119 Nr 17 S 78; BSGE 84, 270, 271 = SozR 3-4100 § 119 Nr 19 S 93; BSGE 96, 22 ff = SozR 4-4300 § 144 Nr 12, jeweils RdNr 10). Jenen Bescheid wird das LSG in seine Entscheidung mit einzubeziehen haben. Gegen die Bescheide wehrt sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG.Nach § 144 Abs 1 Satz 1 SGB III ruht der Anspruch auf Alg für die Dauer einer Sperrzeit, wenn der Arbeitnehmer, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben, sich versicherungswidrig verhalten hat. Ein versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 144 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB III ua vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat. Die Sperrzeit beginnt nach § 144 Abs 2 SGB III mit dem Tag nach dem Ereignis, das die Sperrzeit begründet, also in Anwendung des Abs 1 Satz 2 Nr 1 mit dem ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit. Nach § 144 Abs 3 SGB III beträgt in den Fällen des Abs 1 Satz 2 Nr 1 die Dauer der Sperrzeit zwölf Wochen (Regelsperrzeit); sie verkürzt sich nach § 144 Abs 3 Satz 2 Nr 2 Buchst b SGB III auf sechs Wochen, wenn eine Sperrzeit von zwölf Wochen nach den für den Eintritt der Sperrzeit maßgebenden Tatsachen eine besondere Härte bedeuten würde.Der Kläger hat sein Beschäftigungsverhältnis gelöst, indem er durch Vereinbarung mit der früheren Arbeitgeberin sein unbefristetes Arbeitsverhältnis im Rahmen einer Altersteilzeitvereinbarung in ein befristetes umgewandelt hat. Dadurch ist der Kläger nach Ende der Freistellungsphase beschäftigungslos geworden (dazu später). Diese Beschäftigungslosigkeit hat er nach den Feststellungen des LSG auch vorsätzlich herbeigeführt.Ob der Kläger allerdings zum Zeitpunkt der Lösung des Beschäftigungsverhältnisses (vgl zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts BSGE 95, 232 ff = SozR 4-4300 § 144 Nr 11, jeweils RdNr 16), also bei Abschluss der Vereinbarung im Jahr 2001, für sein Verhalten einen wichtigen Grund iS von § 144 Abs 1 Satz 1 SGB III hatte, lässt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist über das Vorliegen eines wichtigen Grundes iS des § 144 Abs 1 Satz 1 SGB III unter Berücksichtigung des Ziels der Sperrzeitregelung zu entscheiden (BSG SozR 4-4300 § 144 Nr 9 RdNr 10). Die Versichertengemeinschaft soll sich gegen Risikofälle wehren, deren Eintritt der Versicherte selbst zu vertreten hat, oder an deren Behebung er unbegründet nicht mithilft. Eine Sperrzeit tritt deshalb nur ein, wenn dem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten zugemutet werden konnte. Dies könnte vorliegend der Fall sein in Hinblick auf Sinn und Zweck des Altersteilzeitgesetzes (AltTZG), wenn der Kläger nahtlos von der Altersteilzeit in den Rentenbezug wechseln wollte und davon auch prognostisch auszugehen war.Mit der Einführung der Altersteilzeit hat der Gesetzgeber nämlich das Ziel verfolgt, die Praxis der Frühverrentung durch eine neue sozialverträgliche Möglichkeit eines gleitenden Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand (Altersteilzeitarbeit) abzulösen (BR-Drucks 208/96, S 1, 22). Anlass für die Regelung war die gängige Praxis, dass viele ältere Beschäftigte weit vor Erreichen der (regulären) Altersgrenze in den Ruhestand versetzt wurden, um auf diese Weise die Belegschaft der Betriebe zu verkleinern und/oder zu verjüngen. Dies führte zu einer erheblichen Belastung der Sozialversicherung und des Bundeshaushalts, weil sich die Entlassenen in der Regel arbeitslos meldeten, Alg bezogen und im Anschluss daran mit Vollendung des 60. Lebensjahres die vorzeitige Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Anspruch nahmen. Mit der Frühverrentungspraxis wurde von den Vorschriften der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung in einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Weise Gebrauch gemacht (BR-Drucks, aaO). Insbesondere für die Bundesanstalt (jetzt: Bundesagentur) für Arbeit (BA) führte diese Frühverrentungspraxis zu erheblichen Mehrkosten (BR-Drucks, aaO, S 23). Im Ergebnis wurden damit die finanziellen Lasten der Frühverrentungen über notwendigerweise höhere Beitragssätze zur Sozialversicherung von den Klein- und Mittelbetrieben und ihren Arbeitnehmern getragen. Durch den Einsatz der Altersteilzeit sollten sich demgegenüber unumgängliche betriebliche Personalanpassungsmaßnahmen durchführen lassen, ohne dass dies auf Kosten der Solidargemeinschaft der Versicherten geschieht (BR-Drucks, aaO ). Es war damit das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die Sozialversicherung und insbesondere die BA durch die Einführung der Altersteilzeit zu entlasten. Einem Arbeitnehmer, der sich entsprechend dieser Gesetzesintention verhält, kann dann aber der Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung nicht vorgeworfen werden.Dies gilt jedoch nur dann, wenn nach der Altersteilzeit auch tatsächlich eine Rente beantragt werden soll. Denn das Ziel des Altersteilzeitgesetzes ist es, eine Nahtlosigkeit zwischen Altersteilzeitbeschäftigung und Rentenbeginn zu erreichen und einen Zwischenschritt über die Arbeitslosigkeit und den Leistungsbezug bei der Beklagten gerade zu vermeiden (BR-Drucks, aaO, S 27). Sollte der Kläger zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die Absicht gehabt haben, direkt nach Abschluss der Altersteilzeit ohne "Umweg" über die Beantragung von Alg Altersrente beziehen zu wollen, wäre ihm dieses Verhalten unter Abwägung seiner Interessen mit denen der Versichertengemeinschaft nicht vorwerfbar, wenn prognostisch von einem Ausscheiden des Klägers aus dem Arbeitsleben nach der Freistellungsphase der Altersteilzeit auszugehen gewesen wäre. Eine insoweit rein subjektive Vorstellung des Klägers kann, weil der wichtige Grund objektiv vorliegen muss (stRspr; vgl BSGE 92, 74 ff = SozR 4-4300 § 144 Nr 6, jeweils RdNr 19 und BSG SozR 4-4300 § 144 Nr 14 RdNr 19), nicht genügen. Insbesondere ist für die Prognose von Bedeutung, dass der Kläger offenbar davon ausgegangen ist, nach der Altersteilzeit ohne Abschläge eine Altersrente erhalten zu können. Die Beurteilung seines künftigen Verhaltens ist damit aber abhängig von der rentenrechtlichen Situation und davon, ob bzw wie der Kläger diese unter Berücksichtigung welcher Kenntnisse bzw Nachfragen bei sachkundigen Stellen eingeschätzt hat. Darüber hinaus könnte sich ein wichtiger Grund daraus ergeben, dass dem Kläger, wenn er nicht die entsprechende Vereinbarung mit der vormaligen Arbeitgeberin im Jahr 2001 getroffen hätte, eine betriebsbedingte Kündigung gedroht hätte (vgl dazu: BSGE 89, 243, 246 = SozR 3-4300 § 144 Nr 8 S 15; BSGE 99, 154 ff = BSG SozR 4-4300 § 144 Nr 17, jeweils RdNr 38). Auch hierzu wird das LSG ggf Feststellungen zu treffen haben.Sollte ein wichtiger Grund zu verneinen sein, wird das LSG das Vorliegen einer Härte iS des § 144 Abs 3 Satz 2 Nr 2 Buchst b SGB III zu prüfen haben. Die Regelsperrzeit würde sich dann halbieren. Diese gesetzliche Regelung entzieht sich grundsätzlich einer generalisierenden Betrachtung; vielmehr ist eine Bewertung der Gesamtumstände des Einzelfalls vorzunehmen (BSG SozR 3-4300 § 144 Nr 12 S 38). Insbesondere sind Rechtsirrtümer zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 11 S 51; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 12 S 27 f) .Zutreffend ist das LSG jedoch davon ausgegangen, dass die denkbare Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe erst mit dem Ende der Freistellungsphase, also ab 1.10.2005, zu laufen begann. Die Sperrzeit beginnt nach § 144 Abs 2 SGB III nämlich mit dem Tag nach dem Ereignis, das die Sperrzeit begründet. Dieses Ereignis ist der Eintritt der Beschäftigungslosigkeit (BSGE 89, 243, 249 = SozR 3-4300 § 144 Nr 8 S 18). Gemäß der zwischen dem Kläger und der Arbeitgeberin geschlossenen Vereinbarung konnte und durfte der Kläger erst nach dem Ende der Freistellungsphase uneingeschränkt selbst über seine Arbeitskraft verfügen. Nach den Feststellungen des LSG, die der Kläger nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat und die daher für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), war dem Kläger nach § 5 der Altersteilzeitvereinbarung insbesondere während der Altersteilzeitarbeit eine mehr als geringfügige Beschäftigung untersagt. Der Arbeitgeberin verblieb mithin ein "Restdirektionsrecht" während der Freistellungsphase, auf das sie nicht verzichtet hat; auch der Kläger hatte sich noch nicht von seiner Arbeitgeberin insgesamt gelöst (vgl dazu BSGE 68, 236, 240 = SozR 3-4100 § 104 Nr 6 S 24). Er hat sich während der Altersteilzeit nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG vertragsgemäß verhalten.Die Regelungen des AltTZG bestätigen dieses Ergebnis. Nach § 5 Abs 3 Satz 1 AltTZG ruht der Anspruch auf Leistungen (Aufstockungsbetrag zum Arbeitsentgelt, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung), die die Beklagte dem Arbeitgeber erstattet (vgl § 4 Abs 1 Nr 1 und 2 AltTZG), wenn der Arbeitnehmer Beschäftigungen oder selbständige Tätigkeiten ausübt, die die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV) überschreiten. Der Anspruch des Arbeitgebers auf diese Leistungen erlischt sogar, wenn er mindestens 150 Kalendertage geruht hat (§ 5 Abs 3 Satz 2 AltTZG). Die vertragliche Verpflichtung des Klägers, keine mehr als geringfügige Beschäftigung zu verrichten, ist vor diesem rechtlichen Hintergrund zu sehen.Dass bei der Altersteilzeit im Blockmodell nicht die rein tatsächliche Beschäftigungslosigkeit - wie ansonsten in Sperrzeitfällen (vgl BSGE 89, 243, 249 = SozR 3-4300 § 144 Nr 8 S 18; BSGE 95, 232 ff = SozR 4-4300 § 144 Nr 11, jeweils RdNr 10) - maßgebend ist, ergibt sich aus Sinn und Zweck des Altersteilzeitrechts. Die Arbeitsvertragsparteien treffen Absprachen, die vorsehen, dass der Arbeitnehmer in einem bestimmten Zeitraum keine Arbeitsleistung erbringt (Freistellungsphase); er erhält jedoch das Arbeitsentgelt, das durch eine tatsächliche Arbeit vor oder nach der Freistellungsphase verdient wird (Arbeitsphase). Beschäftigungslosigkeit kann nach dem Ziel derartiger Arbeitszeitkontenmodelle (s auch § 7 Abs 1a SGB IV) nicht eintreten. Es wäre widersprüchlich, die nach dem AltTZG bestehende Möglichkeit der Arbeitszeitgestaltung wie eine Beschäftigung abzusichern, sie sperrzeitrechtlich aber bereits als Beschäftigungslosigkeit zu behandeln. Zeiten fehlender tatsächlicher Beschäftigung bei Altersteilzeit mit Blockfreistellungen führen somit sperrzeitrechtlich nicht zur Beschäftigungslosigkeit (vgl auch Söhngen in Eicher/Schlegel, SGB III, § 119 RdNr 58, Stand Juni 2007; Steinmeyer in Gagel, SGB II/SGB III, § 119 SGB II RdNr 41a, Stand Januar 2005). Insoweit ist unter Abweichung vom üblichen leistungsrechtlichen Begriff der Beschäftigungslosigkeit (BSGE 95, 232 ff RdNr 10 = SozR 4-4300 § 144 Nr 11) eine funktionsdifferente Auslegung erforderlich (zu deren Notwendigkeit allgemein: BSGE 73, 126, 128 = SozR 3-4100 § 101 Nr 5 S 14).Anders als ansonsten im Leistungsrecht des SGB III - etwa bei der Gleichwohlgewährung von Alg bei rechtlichem Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses trotz Freistellung von der Arbeit, aber fehlender Entgeltzahlung - ist ausschlaggebend nicht die vom SGB III gerade gewollte Absicherung des Arbeitnehmers, sondern die Risikoverteilung zwischen dem Arbeitslosen und der Solidargemeinschaft (BSGE 95, 232 ff = SozR 4-4300 § 144 Nr 11, jeweils RdNr 18 ). Die Mitwirkung des Arbeitnehmers an der Herbeiführung des Versicherungsfalls realisiert sich in Fällen der Altersteilzeit im Blockmodell, solange beide Vertragsparteien an der vertraglichen Regelung festhalten, erst mit dem Ende der Altersteilzeit, also vorliegend der Freistellungsphase.Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
bundessozialgericht
bverwg_2013-21
10.04.2013
Pressemitteilung Nr. 21/2013 vom 10.04.2013 EN Beteiligungsrecht eines Naturschutzverbands bei militärischen Übungsflügen über einem FFH-Gebiet Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass einem anerkannten Naturschutzverband Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist, wenn geplante Tiefflugübungen der Bundeswehr über einem Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung (FFH-Gebiet) zu erheblichen Beeinträchtigungen führen können. Der klagende Naturschutzverband begehrt die Feststellung, dass er vor einer Entscheidung über die Durchführung militärischer Tiefflugübungen über der Colbitz-Letzlinger Heide zu beteiligen ist. Das Gebiet ist in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen worden und beherbergt nach Angaben des Klägers während der Brutzeit zahlreiche Vogelarten, deren Bruterfolg durch die Tiefflüge gefährdet werde. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Sachsen-Anhalt (OVG) hat offen gelassen, ob von den geplanten Tiefflügen erhebliche Beeinträchtigungen des Gebiets ausgehen können, weil ein Beteiligungsrecht des Klägers bereits wegen § 30 Abs. 1 LuftVG ausgeschlossen sei. Danach könne die Bundeswehr von den luftverkehrsrechtlich vorgegebenen Mindestflughöhen abweichen, wenn dies zur Erfüllung ihrer besonderen hoheitlichen Aufgaben zwingend notwendig sei. Dabei habe sie auch die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzrechts in eigener Zuständigkeit zu prüfen. Ein wie auch immer geartetes Verfahren, an dem Verbände beteiligt werden könnten, finde somit nicht statt. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das OVG zurückverwiesen. § 30 Abs. 1 LuftVG eröffnet der Bundeswehr zwar die Möglichkeit, von den luftverkehrsrechtlich vorgegebenen Mindestflughöhen abzuweichen. Ein Dispens von den formellen und materiellen Anforderungen des Naturschutzrechts ist damit aber nicht verbunden. Die geplanten Tiefflüge sind deshalb bei der Entscheidung über die luftverkehrsrechtliche Abweichung auch auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen des FFH-Gebiets zu prüfen. Ergibt die Prüfung, dass die Flüge zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebiets führen können, sind sie naturschutzrechtlich unzulässig. Soll von diesem naturschutzrechtlichen Verbot abgewichen werden, ist der Kläger vorher zu beteiligen, sofern nicht besondere Gründe wie etwa Gefahr im Verzug oder ein aus dem Verteidigungsauftrag abzuleitendes Geheimhaltungsinteresse einer Beteiligung entgegenstehen. BVerwG 4 C 3.12 - Urteil vom 10. April 2013 Vorinstanzen: OVG Magdeburg, 2 L 30/10 - Urteil vom 12. Mai 2011 - VG Magdeburg, 1 A 246/08 MD - Urteil vom 01. März 2010 -
Urteil vom 10.04.2013 - BVerwG 4 C 3.12ECLI:DE:BVerwG:2013:100413U4C3.12.0 EN Leitsätze: Die Bundeswehr ist im Rahmen ihrer Befugnis, von den luftverkehrsrechtlich vorgegebenen Mindestflughöhen abzuweichen (§ 30 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 LuftVG), von den habitatschutzrechtlichen Verfahrensschritten gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 bis 5 BNatSchG nicht freigestellt. Die Mitwirkung anerkannter Naturschutzverbände bei einer habitatschutzrechtlich erforderlichen Abweichungsentscheidung gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG ist verfahrensrechtlich auf die Vorbereitung der Entscheidung und inhaltlich auf die Einbringung naturschutzfachlichen Sachverstandes beschränkt. Rechtsquellen FFH-RL Art. 6 Abs. 3 und 4 V-RL Art. 4 Abs. 4 GG Art. 87a Abs. 1 BNatSchG § 34 Abs. 1, Abs. 3 bis 5; § 63 Abs. 2 Nr. 5 LuftVG § 30 Abs. 1 Satz 1 und 3, Abs. 2 Satz 1 WaStrG § 48 VwVfG § 9; § 28 Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3; § 29 Abs. 2 Instanzenzug VG Magdeburg - 01.03.2010 - AZ: VG 1 A 246/08 MD OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 12.05.2011 - AZ: OVG 2 L 30/10 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 10.04.2013 - 4 C 3.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:100413U4C3.12.0] Urteil BVerwG 4 C 3.12 VG Magdeburg - 01.03.2010 - AZ: VG 1 A 246/08 MD OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 12.05.2011 - AZ: OVG 2 L 30/10 In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 10. April 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker für Recht erkannt: Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 12. Mai 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gründe I 1 Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger - einem vom Land Sachsen-Anhalt anerkannten Naturschutzverband - vor der Durchführung von Tiefflugübungen der Bundeswehr über dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben ist. 2 Die Bundeswehr nutzte den dortigen Luftraum in der Vergangenheit zur Durchführung militärischer Übungsflüge. In dem Gebiet halten sich in den Monaten März bis Juli zahlreiche Brutvögel unterschiedlicher Arten auf, deren Bruterfolg nach Ansicht des Klägers durch Tiefflüge gefährdet wird. 3 Auf Antrag des Klägers untersagte das Oberverwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung die Fortsetzung der Übungsflüge in Höhen unter 600 m, bis der Kläger Gelegenheit erhalten hat, seine Mitwirkungsrechte wahrzunehmen. 4 In der Hauptsache blieb die Klage in erster und zweiter Instanz ohne Erfolg. Der Kläger habe - so das Oberverwaltungsgericht - keinen Anspruch, vor der Entscheidung der Beklagten über die Durchführung der Übungsflüge beteiligt zu werden. Die Beklagte bedürfe für diese Maßnahmen keiner „Befreiung“ von den Verboten des § 34 BNatSchG bzw. des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL. Die Colbitz-Letzlinger Heide sei zwar in die FFH-Liste aufgenommen. Ob die Befreiungsvoraussetzungen vorliegen, insbesondere ob Übungsflüge unterhalb 600 m zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebiets führen können, lasse sich nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht abschließend beurteilen. Dies sei aber auch nicht erforderlich, weil eine Mitwirkung des Klägers auch für den Fall einer erheblichen Beeinträchtigung wegen § 30 Abs. 1 LuftVG ausgeschlossen sei. Nach dieser Vorschrift dürfe unter bestimmten Voraussetzungen von der luftverkehrsrechtlich vorgegebenen Mindestflughöhe abgewichen werden, wenn dies zur Erfüllung der besonderen hoheitlichen Aufgaben der Bundeswehr zwingend notwendig sei. Die Verwaltungszuständigkeiten würden von der Bundeswehr selbst wahrgenommen. Die Bestimmung nehme im Hinblick auf die mit Verfassungsrang versehenen Belange der äußeren Sicherheit und der Landesverteidigung im Regelungszusammenhang des Luftverkehrsgesetzes eine Sonderstellung ein. Sie ermögliche einen Dispens nicht nur von den materiellrechtlichen Vorgaben des Luftverkehrsrechts, sondern auch von der Einhaltung formeller Vorgaben anderer Fachgesetze. Die Bundeswehr habe die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzes in eigener Zuständigkeit zu prüfen. Ein wie auch immer geartetes Verfahren, an dem Verbände beteiligt werden könnten, finde deshalb nicht statt. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die Grundentscheidung des Gesetzgebers bestätigt, der Bundeswehr bei der Entscheidung darüber, was zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Verteidigungsaufgaben notwendig sei, einen weitgehenden Beurteilungsspielraum einzuräumen. Diese Grundentscheidung würde durch das Erfordernis, bei der zuständigen Naturschutzbehörde unter Mitwirkung anerkannter Naturschutzverbände eine naturschutzrechtliche Ausnahme zu beantragen, unterlaufen. 5 Der Kläger hat von dem vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Rechtsmittel der Revision Gebrauch gemacht. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass § 30 Abs. 1 LuftVG nicht von den Vorschriften des nationalen und europäischen Naturschutzrechts dispensiere, auch nicht von maßgeblichen Verfahrensvorschriften. 6 Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil. II 7 Die zulässige Revision ist begründet. Das Berufungsurteil beruht auf einem Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz ist die Sache deshalb an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). 8 1. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger habe unabhängig davon, ob die geplanten Tiefflugübungen der Bundeswehr über dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gebiets führen können, keinen Anspruch darauf, vor der Entscheidung der Beklagten über die Durchführung dieser Tiefflugübungen beteiligt zu werden, verstößt gegen Bundesrecht. 9 Als Rechtsgrundlage für einen Mitwirkungsanspruch des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG in der Fassung vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2542 - im Folgenden: BNatSchG) für einschlägig gehalten. Hiernach ist einer nach § 3 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) von einem Land anerkannten, landesweit tätigen Naturschutzvereinigung „vor der Erteilung von Befreiungen von Geboten und Verboten zum Schutz von Gebieten im Sinne des § 32 Absatz 2 (und) Natura 2000-Gebieten ..., auch wenn diese durch eine andere Entscheidung eingeschlossen oder ersetzt werden“, Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben. Das Oberverwaltungsgericht ist ferner davon ausgegangen, dass unter dem Begriff der „Befreiung“ auch Ausnahme- und Abweichungsentscheidungen nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG oder Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl L 103 vom 25. April 1979, S. 1), neu kodifiziert durch die Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl L 20 vom 26. Januar 2010, S. 7 - im Folgenden: V-RL), fallen. Schließlich hat es - für den Senat bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO) - festgestellt, dass die Colbitz-Letzlinger Heide durch Beschluss der Europäischen Kommission vom 22. Dezember 2009 in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl L 206 vom 22. Juli 1992, S. 7 - im Folgenden: FFH-RL) aufgenommen wurde, so dass § 34 BNatSchG in der Fassung vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2542 - im Folgenden: BNatSchG) anwendbar sei, und ferner, dass es im Hinblick auf das dort befindliche Vogelschutzgebiet an der erforderlichen Unterschutzstellung fehle, weshalb auch Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL unmittelbar Anwendung finde. Gleichwohl hat das Oberverwaltungsgericht nicht abschließend entschieden, ob eine Abweichungsentscheidung gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG erforderlich ist. Ob die hier in Frage stehenden Flugübungen unterhalb einer Flughöhe von 600 m zu einer erheblichen Beeinträchtigung des FFH-Gebiets führen können bzw. ob erhebliche Beeinträchtigungen und Störungen im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Satz 1 V-RL zu erwarten sind, lasse sich nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht abschließend beurteilen. Das ist aber auch nicht erforderlich, weil eine Mitwirkung des Klägers wegen § 30 Abs. 1 LuftVG auch für den Fall einer erheblichen Beeinträchtigung ausgeschlossen sei. Dieser Rechtsstandpunkt ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. 10 a) Gemäß § 34 BNatSchG sind Projekte vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Natura-2000-Gebiets (im Folgenden: FFH-Gebiet) zu überprüfen, wenn sie einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten oder Plänen geeignet sind, das Gebiet erheblich zu beeinträchtigen, und nicht unmittelbar der Verwaltung des Gebiets dienen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist im Rahmen einer Vorprüfung festzustellen (Urteil vom 17. Januar 2007 - BVerwG 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1 Rn. 61 f.; vgl. auch Storost, DVBl 2009, S. 673 <674>; Wolf, in: Schlacke, GK-BNatSchG, 2012, § 34 Rn. 6). Vorprüfung und Verträglichkeitsprüfung sind naturschutzrechtlich obligatorische Verfahrensschritte (Ewer, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, 2011, § 34 Rn. 9 ff.; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Band II, Stand Juni 2012, § 34 BNatSchG Rn. 7). In der Verträglichkeitsprüfung muss der Träger des Vorhabens unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nachweisen, dass eine vorhabenbedingte Beeinträchtigung der Erhaltungsziele der betroffenen Gebiete ausgeschlossen ist. Bestehen nach Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen vernünftige Zweifel daran, dass das Vorhaben die Erhaltungsziele nicht beeinträchtigen wird, ist das Projekt gemäß § 34 Abs. 2 BNatSchG unzulässig (Urteile vom 17. Januar 2007 a.a.O. und vom 12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299 Rn. 67). Abweichend von Absatz 2 darf ein Projekt gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG nur unter strikter Wahrung der dort beschriebenen, eng auszulegenden Voraussetzungen (EuGH, Urteil vom 20. September 2007 - Rs. C-304/05 - Slg. 2007, I-7495 Rn. 83 = NuR 2007, 679) zugelassen werden. Die Zulassung im Rahmen des „Abweichungsregimes“ (zum Begriff Wolf, a.a.O. § 34 Rn. 13 ff.) setzt ihrerseits voraus, dass zuvor eine den Anforderungen des § 34 Abs. 1 BNatSchG genügende Verträglichkeitsprüfung durchgeführt wurde, da diese die Informationen vermittelt, derer es bedarf, um das Vorliegen der Ausnahmevoraussetzungen festzustellen (Urteil vom 17. Januar 2007 a.a.O. Rn. 114). Wird eine Abweichungsentscheidung nicht getroffen oder liegen die materiellrechtlichen Voraussetzungen hierfür nicht vor, ist das Projekt entsprechend der Grundregel des § 34 Abs. 2 BNatSchG naturschutzrechtlich unzulässig. Etwaige Mängel der Verträglichkeitsprüfung schlagen auf die Abweichungsentscheidung durch (Ewer, a.a.O. § 34 Rn. 38). 11 Sofern das Projekt einer fachrechtlichen Zulassung bedarf, bedient sich § 34 BNatSchG dieses Zulassungsverfahrens als Trägerverfahren. § 34 BNatSchG unterscheidet zwischen zulassungsbedürftigen und nicht zulassungsbedürftigen Projekten. Für den Fall, dass ein Projekt nach anderen fachrechtlichen Vorschriften einer behördlichen Zulassungsentscheidung bedarf und das Naturschutzrecht zum Prüfprogramm dieser Entscheidung gehört (vgl. hierzu Ewer, a.a.O. § 34 Rn. 80), findet die Verträglichkeitsprüfung im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens statt („aufgedrängte Prüfung“). Die Verträglichkeitsprüfung ist in diesem Fall ein Verfahrensschritt innerhalb des die Zulassung des Projekts betreffenden behördlichen Entscheidungsprozesses. Zuständig ist diejenige Behörde, die nach den maßgeblichen fachrechtlichen Vorschriften über die Zulassung des Projekts zu befinden hat (allgemeine Meinung, vgl. z.B. Gellermann, a.a.O. § 34 Rn. 12 und 46, und Wolf, a.a.O. Rn. 5). Ihr obliegt es, innerhalb des fachrechtlichen Trägerverfahrens auch die FFH-Verträglichkeitsprüfung vorzunehmen und eine gegebenenfalls erforderliche habitatrechtliche Abweichungsentscheidung zu treffen. Diese Zuständigkeitskonzentration im jeweiligen fachrechtlichen Trägerverfahren ist in § 34 BNatSchG zwar nicht ausdrücklich geregelt. Sie ergibt sich jedoch aus § 34 Abs. 6 BNatSchG, wonach für den Fall, dass ein Projekt keiner behördlichen Entscheidung oder Anzeige bedarf (und auch nicht von einer Behörde durchgeführt wird), ein subsidiäres Anzeigeverfahren bei der für Naturschutz und Landschaftspflege zuständigen Behörde vorgesehen ist (Gellermann, a.a.O. § 34 Rn. 12; Wolf, a.a.O. § 34 Rn. 19), um auch in dieser Situation ein zur Aufnahme der habitatschutzrechtlichen Prüfungen geeignetes Trägerverfahren verfügbar zu haben. 12 Offen bleiben kann, ob vorliegend auch Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL unmittelbar anwendbar ist, weil es nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts hinsichtlich des in dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide vorhandenen Vogelschutzgebiets bislang an einer entsprechenden Schutzerklärung fehlt. Denn nach dieser unionsrechtlichen Bestimmung gilt, wenngleich unter deutlich strengeren inhaltlichen Voraussetzungen, Entsprechendes. 13 b) Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts sind diese habitatschutzrechtlichen Verfahrensschritte auch im Rahmen der luftverkehrsrechtlichen Abweichungsbefugnis der Bundeswehr gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG geboten. 14 § 30 Abs. 1 Satz 1 LuftVG ermächtigt die Bundeswehr, von den Vorschriften des Ersten Abschnitts des Luftverkehrsgesetzes - ausgenommen die §§ 12, 13 und 15 bis 19 LuftVG - und den zu seiner Durchführung erlassenen Vorschriften abzuweichen, soweit dies zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben unter Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Von den Vorschriften über das Verhalten im Luftraum darf gemäß § 30 Abs. 1 Satz 3 LuftVG nur abgewichen werden, soweit dies zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben „zwingend notwendig“ ist. § 30 Abs. 2 Satz 1 LuftVG bestimmt, dass die Verwaltungszuständigkeiten aufgrund des Luftverkehrsgesetzes für den Dienstbereich der Bundeswehr durch die Dienststellen der Bundeswehr nach Bestimmungen des Bundesministeriums der Verteidigung wahrgenommen werden. Mit dieser Vorschrift räumt der luftverkehrsrechtliche Gesetzgeber der Bundeswehr im Hinblick auf die nach Art. 87a Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Belange der äußeren Sicherheit und der Landesverteidigung eine Sonderstellung ein (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1994 - BVerwG 11 C 18.93 - BVerwGE 97, 203 <LS 1 und S. 209>). 15 § 6 Abs. 1 LuftVO, der Bestimmungen über die im Luftverkehr einzuhaltenden Mindestflughöhe („Sicherheitsmindesthöhe“) enthält, ist eine Vorschrift über das Verhalten im Luftraum (Urteil vom 14. Dezember 1994 a.a.O. S. 208). Die Dienststellen der Bundeswehr sind deshalb auf der Grundlage des § 30 Abs. 1 Satz 1 und 3 LuftVG unter den dort geregelten Voraussetzungen befugt, von der vorgegebenen Sicherheitsmindesthöhe abzuweichen und Tiefflüge auch unterhalb dieser Höhe durchzuführen. Ob die Voraussetzungen hierfür vorliegen, entscheidet die Bundeswehr gemäß § 30 Abs. 2 Satz 1 LuftVG in eigener Verwaltungszuständigkeit. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 14. Dezember 1994 a.a.O. LS 1) ist geklärt, dass der Bundeswehr hierbei ein verteidigungspolitischer Beurteilungsspielraum zukommt. Die Verwaltungsgerichte können die luftverkehrsrechtliche Abweichungsentscheidung nur daraufhin überprüfen, ob das Bundesministerium der Verteidigung von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, den durch § 30 Abs. 1 Satz 3 LuftVG bestimmten Rahmen erkannt, sich von sachgerechten Erwägungen hat leiten lassen und die betroffenen Interessen in die gebotene Abwägung eingestellt und nicht unverhältnismäßig zurückgesetzt hat. 16 Zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Bundeswehr bei der Entscheidung über die Durchführung von Tiefflügen nach § 30 Abs. 1 LuftVG zwar das Vorliegen der materiellrechtlichen Anforderungen des Naturschutzrechts selbstständig und in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist die Bundeswehr aber nicht von den Verfahrensanforderungen des § 34 BNatSchG freigestellt. Diese Auffassung verkennt den Regelungsgehalt des § 30 Abs. 1 LuftVG und steht auch mit § 34 BNatSchG nicht im Einklang. 17 Der Wortlaut des § 30 Abs. 1 LuftVG enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Bundeswehr über die Möglichkeit zur Abweichung von luftverkehrsrechtlichen Vorschriften hinaus auch von naturschutzrechtlichen Verfahrensanforderungen freigestellt sein soll. Auch die Gesetzesmaterialien (wiedergegeben z.B. bei Giemulla, in: Giemulla/Schmid, LuftVG, Stand November 2012, § 30 Rn. 4) lassen einen dahingehenden gesetzgeberischen Willen nicht erkennen. Andererseits verlangt § 30 Abs. 1 Satz 1 LuftVG bei der luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung ausdrücklich auch die „Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“. Den Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat das Oberverwaltungsgericht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 48 WaStrG (Urteil vom 25. September 2008 - BVerwG 7 A 4.07 - Buchholz 445.4 § 48 WaStrG Nr. 1 Rn. 37) ausgelegt, wonach dieser Begriff nicht eingeengt auf das technische Sicherheitsrecht, sondern in dem überkommenen Sinne zu verstehen ist, den er im Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht erhalten hat. Neben dem Schutz zentraler Rechtsgüter umfasst die öffentliche Sicherheit auch die Unversehrtheit der Rechtsordnung. Demzufolge verlangt der Gesetzgeber mit der gesetzlich angeordneten Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dass neben den Vorschriften des Fachrechts auch sämtliche Vorschriften des formellen und materiellen Rechts außerhalb des betreffenden Fachrechts einzuhalten sind, die die Anforderungen der öffentlichen Sicherheit für ihren Sachbereich konkretisieren. Dementsprechend hat das Oberverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf seine eigene Rechtsprechung zu § 48 WaStrG (Urteil vom 28. Oktober 2008 - 2 M 195/08 - DVBl 2009, 133 = DÖV 2009, 213) im Grundsatz anerkannt, dass zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zu deren Berücksichtigung § 30 Abs. 1 LuftVG die Bundeswehr verpflichtet, auch die „Naturschutzgesetze“ zählen. Dagegen gibt es aus bundesrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. 18 Das Oberverwaltungsgericht hat sich allerdings auf den Standpunkt gestellt, dass sich diese Verpflichtung nur auf die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzrechts beziehe, deren Vorliegen die Bundeswehr bei der luftverkehrsrechtlichen Ausnahmeentscheidung nach § 30 Abs. 1 LuftVG in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe, während die Regelungen des Naturschutzrechts, die ein entsprechendes Verwaltungsverfahren vorsähen, neben § 30 Abs. 1 LuftVG nicht anwendbar seien. Diese Auffassung geht fehl. Aus der in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 25. September 2008 a.a.O.) lässt sich dafür nichts herleiten. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil angenommen, § 48 WaStrG, nach dessen Satz 1 allen Anforderungen der (öffentlichen) Sicherheit und Ordnung zu genügen ist, bedeute „in seiner Gesamtheit“, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes materiell umfassend an fachfremde Vorschriften gebunden, von formellen Erfordernissen dieser Fachgesetze aber freigestellt sei. Hintergrund dieser Annahme ist jedoch die in Satz 2 des § 48 WaStrG getroffene Regelung, dass es (sonstiger, in fachfremden Gesetzen wie etwa dem Bundesnaturschutzgesetz angeordneter) behördlicher Genehmigungen, Erlaubnisse und Abnahmen nicht bedarf. § 48 WaStrG ordnet mithin eine Freistellung von den formellen Erfordernissen anderer Gesetze ausdrücklich an. Eine entsprechende Freistellung ist in § 30 LuftVG aber gerade nicht vorgesehen. Es bleibt deshalb dabei, dass auch die in § 34 BNatSchG geregelten Verfahrensschritte über die in § 30 Abs. 1 LuftVG angeordnete Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zum Prüfprogramm der luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung gehören. Verträglichkeitsprüfung und eine gegebenenfalls erforderliche habitatschutzrechtliche Abweichungsentscheidung sind von der Bundeswehr in eigener Zuständigkeit vorzunehmende Verfahrensschritte innerhalb des luftverkehrsrechtlichen Trägerverfahrens. 19 Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts lässt sich eine in § 30 Abs. 1 LuftVG nicht angelegte Freistellung der Bundeswehr von den habitatschutzrechtlichen Prüfpflichten auch nicht mit dem Verteidigungsauftrag der Bundeswehr oder gar mit Effektivitätsgesichtspunkten (so aber Kämper, in: Grabherr/Reidt/Wysk, LuftVG, Stand Juli 2012, § 30 Rn. 38, unter Bezugnahme auf das Berufungsurteil) begründen. Der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr wird durch eine habitatschutzrechtliche Verträglichkeitsprüfung und eine gegebenenfalls erforderliche Abweichungsentscheidung nicht in Frage gestellt. Ob ein Projekt, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung eines FFH-Gebiets führen kann und deshalb gemäß § 34 Abs. 2 BNatSchG unzulässig ist, dennoch zugelassen werden kann, hängt gemäß § 34 Abs. 3 BNatSchG davon ab, ob es aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses notwendig ist und zumutbare Alternativen nicht gegeben sind. Zwingende Gründe des öffentlichen Interesses sind auch die Belange der Landesverteidigung. Sie können gemäß § 34 Abs. 4 BNatSchG selbst dann eine Abweichung rechtfertigen, wenn prioritäre natürliche Lebensraumtypen oder prioritäre Arten betroffen werden. Über das Vorliegen zwingender Gründe des öffentlichen Interesses entscheiden die Dienststellen der Bundeswehr in eigener Verwaltungszuständigkeit. Gleiches gilt für das Vorliegen zumutbarer Alternativen. Überdies kommt den Dienststellen der Bundeswehr hinsichtlich der Frage, welche Maßnahmen zur Konkretisierung des Verfassungsauftrags notwendig sind, aus den im Urteil vom 14. Dezember 1994 - BVerwG 11 C 18.93 - (BVerwGE 97, 203 <S. 209>) genannten Gründen auch insoweit ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer verteidigungspolitischer Beurteilungsspielraum zu. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts (UA S. 30; anders noch im gerichtlichen Eilverfahren, Beschluss vom 21. April 2008 - 2 M 94/08 - NuR 2008, 517), die in Art. 87a Abs. 1 GG getroffene Grundentscheidung der Verfassung für die militärische Landesverteidigung würde durch das Erfordernis einer habitatschutzrechtlichen Abweichungsentscheidung unterlaufen, ist deshalb unberechtigt. 20 Der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass die Bundeswehr im Rahmen einer luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung nach § 30 Abs. 1 LuftVG zwar das Vorliegen der materiellrechtlichen Voraussetzungen des § 34 BNatSchG in eigener Verantwortung zu prüfen habe, aber von der Einhaltung der habitatschutzrechtlichen Verfahrensanforderungen freigestellt sei, ist auch mit § 34 BNatSchG unvereinbar. Formelles und materielles Recht sind im Rahmen des § 34 BNatSchG untrennbar miteinander verwoben. Die vom Oberverwaltungsgericht für erforderlich gehaltene Prüfung, ob die materiellrechtlichen Voraussetzungen des § 34 BNatSchG vorliegen, lässt sich nur auf der Grundlage der vorgegebenen Verfahrensschritte bewerkstelligen. Wie ausgeführt, muss der Träger eines Projekts in der Verträglichkeitsprüfung unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nachweisen, dass eine vorhabenbedingte Beeinträchtigung der Erhaltungsziele der betroffenen FFH-Gebiete ausgeschlossen ist. Die gewonnenen fachwissenschaftlichen Erkenntnisse sind zu dokumentieren, weil nur auf diesem Wege der Nachweis geführt werden kann, dass die erreichbaren wissenschaftlichen Erkenntnisquellen in vollem Umfang ausgeschöpft wurden und die Bewertungen den besten wissenschaftlichen Stand erreicht haben (Urteil vom 17. Januar 2007 - BVerwG 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1 Rn. 70). Wie ebenfalls ausgeführt, setzt auch die Zulassung einer habitatschutzrechtlichen Abweichung eine Verträglichkeitsprüfung voraus, weil diese die Informationen vermittelt, derer es bedarf, um das Vorliegen der materiellrechtlichen Abweichungsvoraussetzungen gemäß § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG festzustellen. Eine förmlich durchgeführte Verträglichkeitsprüfung einschließlich der Vorprüfung ist deshalb auch im Rahmen einer luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG unerlässlich, weil sich nur auf dieser Grundlage die habitatschutzrechtliche Zulässigkeit eines Projekts abschließend beurteilen lässt, wie auch der vorliegende Fall eindrücklich dokumentiert. 21 c) Die weiteren Gründe, die das Oberverwaltungsgericht gegen ein Mitwirkungsrecht des Klägers in Stellung gebracht hat, stehen mit Bundesrecht ebenfalls nicht im Einklang. 22 Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verkannt, dass eine Abweichungsentscheidung nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG unter den Begriff der „Befreiung“ im Sinne des § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG fällt (vgl. z.B. Leppin, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG 2011, § 63 Rn. 26; Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Band II, Stand Juni 2012, § 63 Rn. 27 m.w.N.). Auch ist es der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass das Mitwirkungsrecht gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG entfalle, wenn die habitatschutzrechtliche „Befreiung“ - wie hier - durch eine andere behördliche Gestattung ersetzt wird, zu Recht entgegengetreten; dass eine Mitwirkung auch unter dieser Voraussetzung geboten ist, hat der Gesetzgeber in § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG nunmehr ausdrücklich klargestellt (Leppin, a.a.O.; Gellermann, a.a.O. § 63 Rn. 28). Dennoch hat das Oberverwaltungsgericht ein Mitwirkungsrecht des Klägers verneint, weil die Bundeswehr die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Naturschutzgesetzes in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe und es deshalb keine andere Entscheidung gebe, an der der Kläger zu beteiligen wäre. Diese Auffassung geht bereits deshalb fehl, weil sich das Oberverwaltungsgericht - wie ausgeführt - von der unzutreffenden Vorstellung hat leiten lassen, dass die Bundeswehr nur an die materiellrechtlichen Vorgaben, nicht aber an die Verfahrensanforderungen des § 34 BNatSchG gebunden sei. Verträglichkeitsprüfung und eine gegebenenfalls erforderliche Abweichungsentscheidung sind gemäß § 34 BNatSchG vor der Zulassung eines habitatschutzrechtlich relevanten Projekts zwingend durchzuführende Verfahrensschritte; vor einer gegebenenfalls erforderlichen habitatschutzrechtlichen Abweichungsentscheidung ist den anerkannten Naturschutzvereinigungen gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG Gelegenheit zur Stellungnahme und zur Einsicht in die einschlägigen Sachverständigengutachten zu geben. 23 Der Umstand, dass das luftverkehrsrechtliche Trägerverfahren ein lediglich behördenintern wirkendes Entscheidungsverfahren ist, das ohne Inanspruchnahme einer besonderen Form erfolgen kann (Urteil vom 14. Dezember 1994 a.a.O. S. 210 f.), steht einer Mitwirkung des Klägers ebenfalls nicht entgegen. Die Mitwirkungsrechte des § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG hängen nicht davon ab, dass das Trägerverfahren, innerhalb dessen die naturschutzrechtlichen Verfahrensschritte abzuhandeln sind, ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG, mithin eine nach außen wirkende Tätigkeit der Behörde ist. § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG knüpft tatbestandlich an eine nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG zu treffende „Befreiung“ an, die auch durch eine „andere Entscheidung“ eingeschlossen oder ersetzt werden kann. Eine luftverkehrsrechtliche Abweichungsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG ist eine „andere Entscheidung“ in diesem Sinne. Mitwirkungsrechte gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG sind damit ebenfalls bereits aufgrund naturschutzrechtlicher Anordnung in das bundeswehrinterne Trägerverfahren inkorporiert; einer zusätzlichen Bestätigung der naturschutzrechtlichen Mitwirkungsrechte im Luftverkehrsgesetz bedurfte es nicht. 24 Unberechtigt ist schließlich die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, durch eine Mitwirkung von Naturschutzverbänden werde der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr gefährdet. Die Mitwirkung anerkannter Naturschutzvereinigungen nach § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG hat den Zweck einer die Behörden unterstützenden „Sachverstandspartizipation“. Sie soll Vollzugsdefiziten im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege entgegenwirken (Urteil vom 12. November 1997 - BVerwG 11 A 49.96 - BVerwGE 105, 348 <350>). Entsprechend diesem generellen Zweck können anerkannte Naturschutzverbände grundsätzlich auch im Rahmen des § 30 Abs. 1 LuftVG die für eine sachgerechte habitatschutzrechtliche Abweichungsentscheidung erforderlichen Informationen ergänzen. Das Mitwirkungsrecht ist allerdings verfahrensrechtlich auf die Vorbereitung der Entscheidung und inhaltlich auf die Einbringung naturschutzfachlichen Sachverstandes beschränkt (vgl. Urteil vom 12. November 1997 a.a.O.). Die selbstständige Entscheidungskompetenz der Bundeswehr wird dadurch nicht unterlaufen, der der Bundeswehr zukommende Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung der zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags notwendigen Maßnahmen bleibt gewahrt. 25 Für den Fall, dass eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug, wegen einer einzuhaltenden Frist oder sonst im öffentlichen Interesse erforderlich erscheint, sowie für die Fälle, in denen beispielsweise ein Geheimhaltungsinteresse als zwingendes öffentliches Interesse einer Verbandsbeteiligung entgegenstehen, kann die Bundeswehr gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 BNatSchG i.V.m. § 28 Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3 und § 29 Abs. 2 VwVfG von einer Verbandsbeteiligung absehen. Auch hierüber entscheidet sie auf der Grundlage des ihr zukommenden verteidigungspolitischen Beurteilungsspielraums in eigener Zuständigkeit mit nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle. Eine Gefährdung des Verteidigungsauftrags ist auch insoweit nicht zu besorgen. 26 Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts (UA S. 29 ff.), dass die Beklagte im Rahmen einer luftverkehrsrechtlichen Abweichungsentscheidung gemäß § 30 Abs. 1 LuftVG auch dann von den Verfahrensanforderungen des § 34 BNatSchG freigestellt und ein Mitwirkungsrecht des Klägers ausgeschlossen sei, wenn die Voraussetzungen des § 34 BNatSchG vorliegen, ist somit bereits aus Gründen des nationalen Rechts zu beanstanden. Die seitens des Klägers aufgeworfene Frage, ob eine Freistellung mit den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 und 4 der FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 4 der V-RL vereinbar wäre, bedarf deshalb keiner Entscheidung. 27 2. Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). 28 Ein Mitwirkungsrecht des Klägers scheitert vorliegend nicht an dem in § 34 BNatSchG verwendeten Projektbegriff. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht nicht in Zweifel gezogen, dass die über dem Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide geplanten Tiefflugübungen der Bundeswehr als Projekt im Sinne des § 34 BNatSchG zu qualifizieren sind. 29 Im Bundesnaturschutzgesetz ist der Projektbegriff gesetzlich nicht (mehr) definiert. Eine Legaldefinition fehlt auch in der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie. Der Europäische Gerichtshof (Urteile vom 7. September 2007 - Rs. C-127/02 - Slg. 2004, I-7405 Rn. 24 und vom 14. Januar 2010 - Rs. C-226/08 - Slg. 2010, I-131 Rn. 38 m.w.N.) orientiert sich deshalb am Projektbegriff der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl L 175 vom 5. Juli 1985, S. 40 - UVP-RL). Nach deren Art. 1 Abs. 2 sind Projekte „die Errichtung von baulichen und sonstigen Anlagen“ sowie „sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen“. Die Gesetzesbegründung zu § 34 BNatSchG (BTDrucks 16/12274, S. 65) nimmt hierauf ausdrücklich Bezug. Dem UVP-rechtlichen Projektbegriff liegt ein wirkungsbezogenes Verständnis zugrunde (Frenz, NVwZ 2011, S. 275 <276> m.w.N. in Fn. 4), das nicht zwingend bauliche Veränderungen voraussetzt, sondern auch bei der Ausübung sonstiger das Schutzgebiet gefährdender Tätigkeiten erfüllt sein kann (OVG Münster, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 8 A 1837/09 - NuR 2011, 591, juris Rn. 21 ff.). 30 Offen bleiben kann im vorliegenden Zusammenhang, ob dieser wirkungsbezogene Projektbegriff insbesondere mit Blick auf die in § 33 BNatSchG geregelten allgemeinen Veränderungs- und Störungsverbote (zu den im Schrifttum angemeldeten Zweifeln an der Unionsrechtskonformität der in § 33 Abs. 1 Satz 2 BNatSchG vorgesehenen Abweichungsmöglichkeit, die nach Art. 6 der FFH-RL allein auf Pläne und Projekte bezogen ist, siehe etwa Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht Band II, Stand Juni 2012, § 33 Rn. 10) einer eingrenzenden Präzisierung bedarf, etwa dahingehend, dass Projekte im Sinne des § 34 BNatSchG ein planmäßiges Einwirken auf Schutzgebiete voraussetzen. Einzelne Tiefflüge, die ad hoc angeordnet oder durchgeführt werden, wären unter dieser einschränkenden Voraussetzung zwar von der Regelung des § 34 BNatSchG nicht erfasst und unterlägen deshalb auch nicht der Verbandsmitwirkung nach § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG. Für die streitgegenständlichen Tiefflüge über dem Truppenübungsplatz Colbitz-Letzlinger Heide spielen entsprechende Überlegungen indes ersichtlich keine Rolle. Das gilt auch dann, wenn - wie die Vertreter der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgetragen haben - über die dort durchzuführenden Tiefflüge zumindest teilweise ebenfalls tagesaktuell entschieden wird. Denn dem Kläger geht es - wie die Beklagte selbst einräumt - nicht um eine Mitwirkung bei der Entscheidung über die einzelnen Flüge, sondern um die dahinter stehende Grundentscheidung der Bundeswehr, das Gebiet der Colbitz-Letzlinger Heide wegen des dort angesiedelten Truppenübungsplatzes in bestimmter Regelmäßigkeit und Intensität für Tiefflugübungen zu nutzen. Diese Grundentscheidung ist von langer Hand geplant und einer habitatschutzrechtlichen Überprüfung unter Mitwirkung des Klägers ohne Weiteres zugänglich. 31 3. Das Oberverwaltungsgericht hätte deshalb nicht offen lassen dürften, ob die geplanten Tiefflugübungen zu erheblichen Beeinträchtigungen des FFH-Gebiets Colbitz-Letzlinger Heide führen können. Es hätte insbesondere Feststellungen dazu treffen müssen, ob sich anhand objektiver Umstände ausschließen lässt, dass die geplanten Tiefflüge das dort vorhandene Schutzgebiet in seinen Erhaltungszielen beeinträchtigen. Mangels entsprechender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 VwGO). Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2013-56
31.07.2013
Pressemitteilung Nr. 56/2013 vom 31.07.2013 EN Entziehung des redlich erworbenen Doktorgrades bei späterer Unwürdigkeit wegen Manipulation und Fälschung von Forschungsergebnissen rechtmäßig Ein redlich erworbener Doktorgrad kann wegen eines späteren unwürdigen Verhaltens in der Gestalt der Manipulation und Fälschung von Forschungsergebnissen entzogen werden. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Der Kläger ist Physiker. Er wurde von der beklagten baden-württembergischen Universität im Januar 1998 zum Doktor der Naturwissenschaften promoviert. Vom Sommer 1998 bis zum Herbst 2002 befasste sich der Kläger in einer Forschungseinrichtung in den USA mit Forschungen und Experimenten zur Supraleitung und zur Herstellung von Nano-Bauelementen. Er war an einer Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen beteiligt, die in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit teilweise als bahnbrechend gewürdigt wurden. Nachdem eine von der Forschungseinrichtung eingesetzte Kommission nach der Untersuchung von 25 Ausarbeitungen aus den Jahren 1998 bis 2002 festgestellt hatte, der Kläger habe die Originaldaten der beschriebenen Experimente nicht systematisch archiviert sowie mehrfach Daten manipuliert und falsch dargestellt, endete dessen dortige Tätigkeit. Im Juni 2004 entzog die beklagte Universität dem Kläger den von ihr verliehenen Doktorgrad. Sie stützte sich dabei in tatsächlicher Hinsicht auf die Untersuchungen der in den USA tätig gewordenen Kommission und in rechtlicher Hinsicht auf eine Vorschrift des baden- württembergischen Hochschulrechts, nach der ein Hochschulgrad entzogen werden kann, wenn sich der Inhaber durch sein späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen hat. Den Widerspruch des Klägers gegen die Entziehungsverfügung wies die beklagte Universität im Oktober 2009 zurück. Zuvor hatte sie eine Fehleranalyse zu sieben der bereits durch die Kommission in den USA untersuchten Publikationen erstellt und war - wie auch bereits der Hauptausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bezug auf zwei weitere Ausarbeitungen aus diesem Kreis - zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt. Das Verwaltungsgericht Freiburg i. Br. hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der beklagten Universität hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Nach der für das Bundesverwaltungsgericht bindenden Auslegung der landesrechtlichen Entziehungsvorschrift durch den Verwaltungsgerichtshof hat der Rechtsbegriff des unwürdigen Verhaltens einen Wissenschaftsbezug. Danach erweist sich ein Titelinhaber dann als unwürdig zur Führung des verliehenen Doktorgrades, wenn er den mit der Verleihung begründeten Vertrauensvorschuss im Hinblick auf ein wissenschaftskonformes Arbeiten durch gravierende Verstöße gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis enttäuscht hat, so dass zum Schutz des wissenschaftlichen Prozesses vor Irreführung eine Korrektur in Form der Entziehung vorgenommen werden muss. Mit dieser Ausrichtung auf den Wissenschaftsprozess und nicht etwa auf einen vorgeblich herausgehobenen persönlichen Rang der Promovierten verletzt die landesrechtliche Entziehungsvorschrift nicht das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit, zumal sie in ihrer bindenden Auslegung durch den Verwaltungsgerichtshof nur vorsätzliche oder grob fahrlässige Verstöße gegen wissenschaftliche Kernpflichten erfasst, zu denen insbesondere das Verbot einer Erfindung, Fälschung oder Manipulation von Forschungsergebnissen gehört. Mit diesem Inhalt ist die Vorschrift auch mit dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, der durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass der Kläger die derart verstandenen Unwürdigkeitsvoraussetzungen durch die Fälschung und Manipulation von Daten erfüllt hat. Mit seinen gegen diese Feststellungen gerichteten Verfahrensrügen ist der Kläger vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht durchgedrungen. Auch die Ermessensausübung der beklagten Universität hat der Verwaltungsgerichtshof zu Recht nicht beanstandet. BVerwG 6 C 9.12 - Urteil vom 31. Juli 2013 Vorinstanzen: VGH Mannheim, 9 S 2667/10 - Urteil vom 14. September 2011 - VG Freiburg, 1 K 2248/09 - Urteil vom 22. September 2010 -
Urteil vom 31.07.2013 - BVerwG 6 C 9.12ECLI:DE:BVerwG:2013:310713U6C9.12.0 EN Leitsatz: Die wissenschaftsbezogene Auslegung einer landeshochschulrechtlichen Vorschrift, nach der ein Doktorgrad entzogen werden kann, wenn sich der Inhaber durch sein späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen hat, genügt - anders als ein auf die Enttäuschung nicht hinreichend fassbarer gesellschaftlicher Vorstellungen über den Doktorgrad bzw. dessen Träger abstellendes Verständnis - dem rechtsstaatlichen Gebot der hinreichenden gesetzlichen Bestimmtheit und verletzt darüber hinaus keines der durch das Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte. Rechtsquellen GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 LHG BW § 3 Abs. 5, § 35 Abs. 7, § 38 Abs. 2 Instanzenzug VG Freiburg i. Br. - 22.09.2010 - AZ: VG 1 K 2248/09 VGH Baden-Württemberg - 14.09.2011 - AZ: VGH 9 S 2667/10 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 31.07.2013 - 6 C 9.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:310713U6C9.12.0] Urteil BVerwG 6 C 9.12 VG Freiburg i. Br. - 22.09.2010 - AZ: VG 1 K 2248/09 VGH Baden-Württemberg - 14.09.2011 - AZ: VGH 9 S 2667/10 In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 31. Juli 2013 durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge - als Vorsitzender -, Dr. Graulich, Dr. Möller, Hahn und Prof. Dr. Hecker für Recht erkannt: Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14. September 2011 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Der Kläger wendet sich dagegen, dass ihm die beklagte Universität den von ihr verliehenen Doktorgrad unter Berufung darauf entzogen hat, er habe sich durch späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen. 2 Der Kläger ist Physiker. Die Beklagte promovierte ihn im Januar 1998 auf Grund einer Dissertation auf dem Gebiet der Photovoltaik zum Doktor der Naturwissenschaften. Von Juli 1998 bis September 2002 arbeitete der Kläger in einer privaten Forschungseinrichtung, den zur Firma L. T. gehörenden B. L., in den USA. Für diese Tätigkeit hatte ihm die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Postdoktorandenstipendium mit der Laufzeit von August 1998 bis Januar 2000 bewilligt. Der Kläger befasste sich während dieser Zeit mit Forschungen und Experimenten zur Supraleitung und zur Herstellung von Nano-Bauelementen. Er war an einer Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen beteiligt, die in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit teilweise als bahnbrechend gewürdigt wurden. 3 Im Mai 2002 setzte die Leitung der B. L. eine Kommission unter dem Vorsitz von Prof. B. von der S. University (im Folgenden: B.-Kommission) ein, um die Vorwürfe des wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu klären, die in der Fachöffentlichkeit unter Bezug auf von dem Kläger und verschiedenen Mitautoren verfasste Publikationen erhoben worden waren. Nach der Untersuchung von 24 Veröffentlichungen und einem unveröffentlichten Manuskript aus den Jahren 1998 bis 2002 kam die B.-Kommission in ihrem Abschlussbericht vom September 2002 (im Folgenden: B.-Report) zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Originaldaten und die verwendeten Proben seiner beschriebenen Experimente nicht systematisch archiviert habe. Zudem gebe es zwingende Belege dafür, dass er Daten manipuliert und falsch dargestellt habe. Eine Verantwortlichkeit auch der Mitautoren der betroffenen Ausarbeitungen scheide aus, da der Kläger die zu Grunde liegenden Versuche und Messungen mit wenigen Ausnahmen allein durchgeführt habe. 4 Entsprechend einem von dem Promotionsausschuss Physik der Beklagten gefassten Beschluss entzog dessen Vorsitzender dem Kläger mit Bescheid vom 4. Juni 2004 unter Berufung auf § 55c Abs. 1 UG BW a.F. den verliehenen akademischen Grad eines Doktors der Naturwissenschaften, weil sich der Kläger im Sinne der Vorschrift durch sein späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen habe. Der Begriff der Unwürdigkeit sei wissenschaftsbezogen zu verstehen. Der Ausschuss sei auf Grund einer eigenen Würdigung des B.-Reports zu der Auffassung gelangt, dass ein wissenschaftliches Fehlverhalten des Klägers in Gestalt der Datenmanipulation, der Präsentation von Daten in falschem Zusammenhang und der künstlichen Erzeugung von Daten in einem in der deutschen Wissenschaftsgeschichte bisher beispiellosen Ausmaß nachgewiesen sei. Das Interesse der Beklagten, eine Person, die wissenschaftliches Fehlverhalten in einem derart erheblichen Umfang zu verantworten habe, nach außen sichtbar aus dem Kreis derjenigen auszuschließen, die durch den Doktorgrad die Zugehörigkeit zur qualifizierten wissenschaftlichen Forschung dokumentierten, überwiege das persönliche Interesse des Klägers, durch die Führung des Titels seine erfolgreiche Promotion zu belegen und seine beruflichen Chancen zu verbessern. 5 Im Verlauf des Verfahrens über den von dem Kläger gegen die Entziehungsverfügung eingelegten Widerspruch untersuchte der Promotionsausschuss Physik der Beklagten sieben der in dem B.-Report aufgeführten Publikationen. In der hierüber gefertigten Analyse stellte der Promotionsausschuss fest, dass vielfach Originaldaten fehlten und im Übrigen Daten manipuliert, gefälscht und fabriziert worden seien; zudem würden in den Publikationen mehrfach geglättete Daten gezeigt, dabei werde jedoch suggeriert, dass es sich um gemessene Daten handele. Der Promotionsausschuss zog überdies die Entscheidung des Hauptausschusses der DFG vom 14. Oktober 2004 bei, in der festgestellt worden war, dass dem Kläger im Hinblick auf zwei Veröffentlichungen aus den Jahren 1998 und 2000, die er in einem Bericht an die DFG benannt hatte und die auch von der B.-Kommission untersucht worden waren, wissenschaftliches Fehlverhalten in der Form der Fälschung und Manipulation von Daten sowie der unzureichenden Aufbewahrung und Dokumentation von Primärdaten zur Last zu legen sei. Nachdem sich der Promotionsausschuss für die Zurückweisung des Widerspruchs des Klägers ausgesprochen hatte, wurde dieser durch den Prorektor für Lehre der Beklagten unter dem 19. Oktober 2009 entsprechend beschieden. Die Voraussetzungen für den Entzug des Doktorgrades nach dem zwischenzeitlich an die Stelle des § 55c Abs. 1 UG BW a.F. getretenen, wortgleichen § 35 Abs. 7 LHG BW lägen vor. Der Kläger habe über einen längeren Zeitraum und in erheblichem Umfang wissenschaftliches Fehlverhalten an den Tag gelegt und dadurch seine Kernpflichten als Wissenschaftler massiv verletzt. 6 Das Verwaltungsgericht hat der von dem Kläger erhobenen Anfechtungsklage stattgegeben, weil es das der angefochtenen Entziehungsverfügung zu Grunde liegende wissenschaftsbezogene Verständnis des in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW enthaltenen Begriffs der Unwürdigkeit verfassungsrechtlich für nicht zulässig, stattdessen eine Beschränkung auf Fälle besonders zu missbilligender Straftaten für geboten und zudem die Entziehung des Doktorgrades des Klägers für unverhältnismäßig gehalten hat. 7 Auf die Berufung der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Die Entziehung des Doktorgrades habe in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW eine verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage. Das in der Norm enthaltene Tatbestandsmerkmal der Unwürdigkeit sei wegen des in ihm angelegten Wissenschaftsbezugs hinreichend bestimmt. Ein Titelinhaber erweise sich als unwürdig zur Führung des verliehenen Doktorgrades, wenn er gravierend gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis bzw. die wissenschaftliche Redlichkeit verstoße, insbesondere Forschungsergebnisse fälsche. Derart ausgelegt, bestünden auch keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW mit den Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Dass dem Kläger ein die weitere Führung des verliehenen Doktorgrades ausschließender schwerwiegender Verstoß gegen die wissenschaftliche Redlichkeit zur Last zu legen sei, habe die Beklagte in nicht zu beanstandender Weise angenommen. Da der Kläger die Primärdaten seiner Untersuchungen nicht ordnungsgemäß aufbewahrt und die durchgeführten Experimente nicht hinreichend dokumentiert habe, könne im Wege des prima-facie-Beweises darauf geschlossen werden, dass die von dem Kläger behaupteten Experimente nicht in der beschriebenen Weise stattgefunden hätten. Unabhängig hiervon sei durch die Entscheidung des Hauptausschusses der DFG vom 14. Oktober 2004 und die im Rahmen des Widerspruchsverfahrens durchgeführte Untersuchung des Promotionsausschusses Physik der Beklagten positiv nachgewiesen, dass der Kläger Daten gefälscht und manipuliert habe. Auch die Einwände des Klägers gegen die Ergebnisse der B.-Kommission überzeugten nicht. Bei dieser Sachlage sei eine weitere gerichtliche Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht nicht veranlasst gewesen. Ein Ermessensfehler sei der Beklagten nicht unterlaufen. Insbesondere stehe die Entziehung des Doktorgrades in Ansehung der Gesamtumstände in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Eingriffs. 8 Zur Begründung seiner von dem Senat zugelassenen Revision gegen das Berufungsurteil macht der Kläger - teilweise gestützt auf die Erwägungen des der Klage stattgebenden erstinstanzlichen Urteils - geltend: Der überkommene hochschulrechtliche Begriff der Unwürdigkeit gehöre dem revisiblen Recht an. Durch die von dem Verwaltungsgerichtshof vorgenommene wissenschaftsbezogene Auslegung gewinne dieser Begriff eine verfassungsrechtlich unzulässige Weite. Sie ermögliche eine dauerhafte Entwertung des korrekt erworbenen Doktorgrades auf Grund eines nachträglichen Fehlverhaltens ohne strafrechtliche Relevanz und dadurch einen unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und die Berufswahlfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, erfasse unter Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG nur diejenigen Inhaber eines Doktorgrades, die nach ihrer Promotion weiterhin im Wissenschaftsbereich tätig seien, und verletze die rechtsstaatlichen Grundsätze der Normenklarheit und Justitiabilität, weil sich verlässliche Kriterien für die Beantwortung der Frage, wann gravierendes wissenschaftliches Fehlverhalten vorliege, nicht finden ließen. Unabhängig hiervon sei der Verwaltungsgerichtshof in verfahrensfehlerhafter Weise zu seiner Feststellung eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens gelangt. Er habe unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO - hier in seiner Ausprägung durch die gerichtliche Hinweis- und Erörterungspflicht aus § 86 Abs. 3 VwGO und § 104 Abs. 1 VwGO - ein Überraschungsurteil erlassen und überdies die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt, weil er den bestrittenen Sachvortrag der Beklagten ohne weitere Ermittlungen bzw. Beweiserhebung und ohne entsprechenden vorherigen Hinweis als gegeben vorausgesetzt habe. Eine Gehörsverletzung wegen des Erlasses eines Überraschungsurteils sei dem Verwaltungsgerichtshof auch deshalb vorzuwerfen, weil er nicht darauf hingewiesen habe, dass er der rechtlichen Bewertung des Verwaltungsgerichts nicht folgen und den unbestimmten Rechtsbegriff der Unwürdigkeit auch in Abkehr von seiner eigenen bisherigen Rechtsprechung wissenschaftsbezogen auslegen werde. In jedem Fall habe die Beklagte den Doktorgrad in ermessensfehlerhafter Weise entzogen, weil die Wissenschaftsgemeinschaft mit den gegen ihn, den Kläger, erhobenen Vorwürfen auch ohnedies bereits vertraut gewesen sei und im Übrigen der Titel bei wissenschaftlichen Publikationen im Fach Physik nicht angegeben werde. 9 Der Kläger beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14. September 2011 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 22. September 2010 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14. September 2011 aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. 10 Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. 11 Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil. II 12 Die zulässige Revision ist sowohl mit ihrem Hauptantrag als auch mit ihrem Hilfsantrag unbegründet und deshalb gemäß § 144 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Das angefochtene Urteil hat im Einklang mit Bundesrecht im Sinne von § 137 Abs. 1 VwGO die Klage gegen die Entziehung des Doktorgrades abgewiesen. 13 Die Vorschrift des § 35 Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über die Hochschulen in Baden-Württemberg (Landeshochschulgesetz BW - LHG BW) vom 1. Januar 2005 (GBl S. 1), hier anwendbar in der Fassung des Gesetzes vom 14. Juli 2009 (GBl S. 317, 331), wonach der von einer baden-württembergischen Hochschule verliehene Hochschulgrad unbeschadet der §§ 48 und 49 LVwVfG BW entzogen werden kann, wenn sich der Inhaber durch sein späteres Verhalten der Führung des Grades als unwürdig erwiesen hat, gehört dem nach § 137 Abs. 1 VwGO nicht revisiblen Landesrecht an (1.). Sie verstößt in ihrer Auslegung durch den Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Grundgesetz (2.). Ebenso wenig ist revisionsgerichtlich zu beanstanden, dass der Verwaltungsgerichtshof die auf die Vorschrift gestützte Entziehungsverfügung der Beklagten im Übrigen als rechtmäßig beurteilt hat. An die den Tatbestand des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW ausfüllenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs ist der Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, da der Kläger keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe gegen sie vorgebracht hat (3.). Einen Ermessensfehler der Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof ohne Verstoß gegen Bundesrecht verneint (4.). 14 1. Der Kläger geht fehl, wenn er meint, der in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW enthaltene unbestimmte Rechtsbegriff der Unwürdigkeit gehöre dem revisiblen Recht an. Er beruft sich zu Unrecht darauf, dass der Begriff aus der die Entziehung wegen nachträglicher Unwürdigkeit durch späteres Verhalten betreffenden Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c) des früheren Gesetzes über die Führung akademischer Grade (GFaG) vom 7. Juni 1939 (RGBl I S. 985) mit bundeseinheitlicher Geltung überkommen sei und das Hochschulrecht der Länder den Entzug des Doktorgrades durchweg an die Voraussetzung der Unwürdigkeit knüpfe. 15 Das vorkonstitutionelle Gesetz über die Führung akademischer Grade galt in seinem wesentlichen Normbestand nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wegen seiner Zugehörigkeit zum Hochschulrecht und damit zur Gesetzgebungskompetenz der Länder gemäß Art. 123 Abs. 1 GG als Landesrecht fort (stRspr seit dem Urteil vom 26. Februar 1960 - BVerwG 7 C 198.59 - BVerwGE 10, 195 <195 f.> = Buchholz 421.11 § 4 Ges. Akadem. Grade Nr. 1 S. 1 f., zuletzt Urteil vom 25. August 1993 - BVerwG 6 C 4.91 - BVerwGE 94, 73 <76 f.> = Buchholz 421.11 § 2 GFaG Nr. 14 S. 14). Die Geltung des Gesetzes in allen damaligen Ländern machte es nicht zu Bundesrecht und führte mangels einer ausdrücklichen Anordnung der Landesgesetzgeber nach Art. 99 GG auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtseinheit und des Anspruchs der Bürger auf Gleichbehandlung nicht dazu, dass es als revisibel angesehen werden konnte (Beschlüsse vom 26. November 1976 - BVerwG 7 B 48.75 - Buchholz 421.11 § 2 GFaG Nr. 4 S. 2, vom 17. März 1978 - BVerwG 7 B 14.77 - Buchholz 421.11 § 2 GFaG Nr. 6 S. 7 und vom 20. Juli 1984 - BVerwG 7 B 116.84 - Buchholz 421.11 § 2 GFaG Nr. 8 S. 4). Für Regelungen, die - wie § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW - nach der sukzessiven Aufhebung des Gesetzes über die Führung akademischer Grade in den Ländern an die Stelle des § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c) GFaG getreten sind, besteht erst recht kein Anknüpfungspunkt für die Annahme einer Revisibilität (Beschluss vom 10. März 1997 - BVerwG 6 B 72.96 - Buchholz 421.11 § 4 GFaG Nr. 4), zumal längst nicht alle Länder derartige Nachfolgeregelungen erlassen haben (vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen Landesvorschriften bei: Stumpf, BRJ Sonderausgabe 1/2011, 36 Fn. 325). Der Senat hat demnach nur zu prüfen, ob die durch den Verwaltungsgerichtshof ausgelegte Entziehungsvorschrift als solche oder ihre Anwendung auf den konkreten Fall dem (Verfassungs-)Recht des Bundes widerspricht. 16 2. Die Vorschrift des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW ist nicht verfassungswidrig. Der in ihr enthaltene unbestimmte Rechtsbegriff der Unwürdigkeit erfährt durch seinen Wissenschaftsbezug, den der Verwaltungsgerichtshof im Wege der für den Senat nach § 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO verbindlichen Normauslegung festgestellt hat (a)), eine Konkretisierung, die dem in dem Rechtsstaatsprinzip und damit im Wesentlichen in Art. 20 Abs. 3 GG zu verortenden Gebot der Gesetzesbestimmtheit genügt (b)). Die Norm ist in dieser Auslegung auch mit dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (c)), der in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit (d)), dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (e)) und dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG (f)) vereinbar. 17 a) Nach ihrer Auslegung durch den Verwaltungsgerichtshof ist die landesrechtliche Entziehungsvorschrift des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW wissenschaftsbezogen zu verstehen. Anders als dies bei den auf einen berufsqualifizierenden Abschluss gerichteten Hochschulgraden der Fall sei, werde durch den Doktorgrad nicht lediglich ein einmal erreichter Ausbildungsstand nachgewiesen. Vielmehr bescheinige die Erlaubnis zur Führung des Doktorgrades dem Inhaber gemäß § 38 Abs. 2 Satz 1 LHG BW die Befähigung zu vertiefter - und auch selbständiger - wissenschaftlicher Arbeit. Damit werde der Inhaber öffentlich sichtbar als Mitglied der akademischen Wissenschaftsgemeinde („scientific community“) ausgewiesen. Er gelange durch diese Zuschreibung in dem arbeitsteiligen Prozess des wissenschaftlichen Fortschritts in den Genuss eines Vertrauensvorschusses, was die Einhaltung der Regeln der Wissenschaftlichkeit anbelange. Die Kernpflicht wissenschaftlichen Arbeitens bestehe in der Wahrung der wissenschaftlichen Redlichkeit, zu der auch § 3 Abs. 5 Satz 1 LHG BW ausdrücklich verpflichte. Ein Titelinhaber erweise sich deshalb dann als unwürdig im Sinne des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW, wenn sich der mit der Verleihung des Doktorgrades begründete Anschein wissenschaftskonformen Arbeitens angesichts gravierender Verstöße gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis und Redlichkeit - insbesondere in Form der Fälschung von Forschungsergebnissen - als unzutreffend herausstelle und zum Schutz vor Irreführung korrigiert werden müsse. Demgemäß sehe auch § 3 Abs. 5 Satz 3 LHG BW vorsätzliche oder grob fahrlässige Falschangaben in wissenschaftserheblichem Zusammenhang als beispielhaft für einen Verstoß gegen die allgemein anerkannten Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis an. 18 Durch diese Ausführungen hat der Verwaltungsgerichtshof den Regelungsgehalt der landesrechtlichen Vorschrift des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW dahingehend umrissen, dass sie von den durch Prüfung erlangten Hochschulgraden nur den Doktorgrad erfasst und für dessen Entziehung wegen späterer Unwürdigkeit vorsätzliche oder grob fahrlässige Verstöße gegen wissenschaftliche Kernpflichten voraussetzt. 19 b) Mit diesem Inhalt steht § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW nicht in Widerspruch zu dem in dem bundesverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip wurzelnden (BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2001 - 2 BvK 1/00 - BVerfGE 103, 332 <384>; BVerwG, Urteil vom 23. März 2011 - BVerwG 6 CN 3.10 - BVerwGE 139, 210 = Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 175 Rn. 22) Gebot der hinreichenden gesetzlichen Bestimmtheit. 20 Das Bestimmtheitsgebot zwingt den Gesetzgeber nicht, den Tatbestand einer Norm mit genau erfassbaren Maßstäben zu umschreiben. Dass ein Gesetz unbestimmte, der Auslegung und Konkretisierung bedürftige Begriffe verwendet, verstößt allein noch nicht gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz der Normklarheit und Justitiabilität. Das Gesetz muss nur so bestimmt sein, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Unvermeidbare Auslegungsschwierigkeiten in Randbereichen sind dann von Verfassungs wegen hinzunehmen. Erforderlich ist allerdings stets, dass die von der Norm Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können. Sie müssen in zumutbarer Weise feststellen können, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Rechtsfolge vorliegen (BVerfG, Beschluss vom 7. Mai 2001 a.a.O. S. 384 f. m.w.N.). 21 Diese Bestimmtheitsanforderungen würden verfehlt, wollte man für die Bestimmung der Unwürdigkeit im Sinne der Entziehungsvorschrift, wie von der älteren Instanzrechtsprechung (etwa: OVG Münster, Urteil vom 14. Januar 1963 - V A 747/62 - MDR 1965, 515 <516>; OVG Lüneburg, Urteil vom 20. Oktober 1965 - V OVG A 58/63 - OVGE 21, 441 <443 ff.>; VGH München, Urteile vom 21. Juli 1966 - Nr. 184 VI 65 - DVBl 1967, 89 und vom 14. Februar 1969 - Nr. 182 III 67 - VGHE 22, 111 <112>; vgl. auch noch: OVG Berlin, Urteil vom 26. April 1990 - 3 B 19/89 - NVwZ 1991, 188; OVG Koblenz, Urteil vom 31. Juli 1991 - 2 A 10260/91 - NVwZ-RR 1992, 79 <80>), der frühen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 6. September 1966 - BVerwG 7 B 201.65 - Buchholz 421.11 § 4 Ges. Akadem. Grade Nr. 2 S. 4) und großen Teilen der Literatur (z.B. Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. 2004 Rn. 420, 436 f., 441; Menzel, JZ 1960, 461) für die Vorgängernorm des § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c) GFaG vertreten, auf die Enttäuschung traditioneller gesellschaftlicher Vorstellungen über den Doktorgrad als öffentliche Würde eigener Art, als herausgehobener Rang oder als ehrenvolle Kennzeichnung der Persönlichkeit seines Trägers abstellen. Weder haben derartige allgemeine Vorstellungen, sofern sie in der Gesellschaft überhaupt auch heute noch bestehen, eine normative Grundlage, noch sind die Hochschulen institutionell oder fachlich zur Abgabe und Durchsetzung entsprechender Werturteile berufen. Die Fallgestaltungen, in denen eine Entziehung des Doktorgrades wegen späterer Unwürdigkeit gerechtfertigt wäre, würden nicht in hinreichender Weise erkennbar (Lorenz, DVBl 2005, 1244; Maurer, Promotion, in: Flämig/Kimminich/Krüger/Meusel/Rupp/Scheven/Schuster/Graf Stenbock-Fermor <Hrsg.>, Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1996, S. 768 f., 776; Stumpf, a.a.O. S. 36). 22 Dementsprechend haben das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht in den wenigen, sehr kurzen Entscheidungen, in denen explizit die Bestimmtheit des Unwürdigkeitsbegriffs des früheren § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c) GFaG in Frage stand, der Sache nach eine restriktive, verfassungskonforme Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs für erforderlich gehalten. Bestimmend für diese Rechtsprechung ist der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. November 1988 - 1 BvR 900/88 - (juris Rn. 8 f.; vgl. im Übrigen noch: Beschluss vom 18. Dezember 1992 - 1 BvR 1475/92 - n.v. und dazu: BVerwG, Beschluss vom 10. März 1997 a.a.O.), dessen Erwägungen sich das Bundesverwaltungsgericht (Beschlüsse vom 7. September 1990 - BVerwG 7 B 127.90 - Buchholz 421.11 § 4 GFaG Nr. 2 S. 9 und vom 25. August 1992 - BVerwG 6 B 31.91 - Buchholz 421.11 § 4 GFaG Nr. 3 S. 13) zu eigen gemacht hat. Das Bundesverfassungsgericht (Kammerbeschluss vom 30. November 1988 a.a.O.) hat die Unschärfe des Unwürdigkeitsbegriffs hervorgehoben und Zweifeln Ausdruck verliehen, inwieweit Verhaltensweisen, die keinen unmittelbaren Bezug zu der mit dem Doktorgrad verbundenen fachlich-wissenschaftlichen Qualifikation hätten, zur Begründung eines Unwerturteils herangezogen werden dürften. Deshalb werde eine Auslegung, die eine funktionelle Verknüpfung - des seinerzeit gegebenen strafbaren Verhaltens - mit dem Wesen und der Bedeutung des akademischen Grades herstelle, den verfassungsrechtlichen Anforderungen in besonderer Weise gerecht. 23 Diesen bundesverfassungsgerichtlichen Ansatz hat der Verwaltungsgerichtshof unter Aufnahme einschlägiger dogmatischer Grundlegungen in der Literatur (Lorenz, a.a.O. S. 1242 ff.; v. Coelln, FuL 2011, 278 f.; im Ausgangspunkt auch Tiedemann, ZRP 2010, 55 und später Stumpf, a.a.O. S. 37 f.) durch die auf die systematischen Bezüge innerhalb des Landeshochschulgesetzes gestützte wissenschaftsbezogene Interpretation des Unwürdigkeitsbegriffs in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW weiterentwickelt. Er ist auf diese Weise zu einer konsistenten Beschreibung des Regelungsbereichs der Entziehungsvorschrift gelangt, die deren Begrenzung ohne Weiteres ersichtlich werden lässt. Die Vorschrift erfasst danach im Wesentlichen die Verletzung von Pflichten, die sich unabhängig von den innerhalb der Wissenschaft erarbeiteten Zusammenstellungen der Anforderungen an eine gute wissenschaftliche Praxis (zum Beispiel: Deutsche Forschungsgemeinschaft, Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis - Empfehlungen der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“, Denkschrift 1998 mit Ergänzung vom Juli 2013) im Sinne eines Begriffskerns (vgl. dazu: Schmidt-Aßmann, NVwZ 1998, 1226; Schulze-Fielitz, WissR, Beiheft 21 <2011> S. 6) bereits aus dem Begriff der Wissenschaft als solchem, das heißt dem ernsthaften Versuch zur Ermittlung von Wahrheit ergeben. In vergleichbarer Weise hat der Senat (Urteil vom 11. Dezember 1996 - BVerwG 6 C 5.95 - BVerwGE 102, 304 <308 ff.> = Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 150 S. 63 ff.) in anderem Zusammenhang die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantierte individuelle Forschungsfreiheit des Hochschullehrers in Beziehung zu der Verantwortung der Hochschule für die Pflege der Wissenschaften gesetzt, die aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als objektiver, das Verhältnis von Wissenschaft und Staat regelnder wertentscheidender Grundsatznorm ableitbar ist. Dem im vorliegenden Fall in Rede stehenden Fälschungs- und Manipulationsverbot können danach - wie etwa § 3 Abs. 5 Satz 3 LHG BW im Hinblick auf Hochschulangehörige bestimmt - vor allem die vergleichbar gewichtigen Verbote der Verletzung des geistigen Eigentums und der Beeinträchtigung der Forschungstätigkeit Anderer an die Seite gestellt werden. 24 Mit dieser Auslegung des Unwürdigkeitsbegriffs verträgt es sich indes nicht, wenn der Verwaltungsgerichtshof - wenngleich nicht im Zusammenhang mit der Frage der Bestimmtheit der Entziehungsvorschrift, sondern mit derjenigen ihrer Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gleichheitssatz - offen lässt, ob neben den Fällen einer wissenschaftsbezogen begründeten Unwürdigkeit auch bei schweren Verfehlungen außerhalb des Wissenschaftsbetriebs eine Entziehung des Doktorgrades in Betracht kommen könnte. Der in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW enthaltene Unwürdigkeitsbegriff, der nach den Maßgaben des Landeshochschulrechts über die Bedeutung des Doktorgrades wissenschaftsbezogen zu verstehen ist, kann aus Gründen des bundesverfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots nicht zugleich unter Heranziehung anderer Kriterien interpretiert werden, die mangels normativer Regelung ihrerseits nur in der oben genannten Enttäuschung nicht hinreichend fassbarer gesellschaftlicher Vorstellungen über den Doktorgrad und dessen Träger bestehen können. Dies gilt auch für die unter anderem in der früheren Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu § 4 Abs. 1 GFaG (Urteil vom 18. März 1981 - IX 1496/79 - JZ 1981, 661 <663>; ebenso: Starosta, DÖV 1987, 1052) und in dem hiesigen Verfahren noch von dem erstinstanzlichen Urteil befürwortete Beschränkung des Unwürdigkeitsbegriffs auf besonders schwere oder verwerfliche Straftaten jedenfalls dann, wenn diese Taten keinen Wissenschaftsbezug aufweisen. Vor diesem Hintergrund ist der Senat zu der Feststellung befugt, dass die von dem Verwaltungsgerichtshof gefundene wissenschaftsbezogene Auslegung des Unwürdigkeitsbegriffs in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW als abschließend anzusehen ist (vgl. dazu allgemein: Urteil vom 17. Oktober 1986 - BVerwG 7 C 79.85 - BVerwGE 75, 67 <72> = Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 18 S. 33). 25 c) In der wissenschaftsbezogenen Auslegung durch den Verwaltungsgerichtshof ist § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW mit dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar. 26 Von vornherein kein Raum besteht für die Annahme, das individuelle Wissenschaftsfreiheitsrecht sei dadurch verletzt, dass die Unwürdigkeit im Sinne der landesrechtlichen Entziehungsvorschrift überhaupt in vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verstößen gegen wissenschaftliche Kernpflichten gefunden werde. Denn ein derartiges wissenschaftliches Fehlverhalten wird bereits von dem Schutzbereich des Grundrechts nicht erfasst (vgl. Urteil vom 11. Dezember 1996 a.a.O. S. 312 bzw. S. 67; Linke, WissR 1999, 160; Lorenz, a.a.O. S. 1244 f.). 27 Ein unzulässiger Eingriff in die individuelle Wissenschaftsfreiheit liegt auch nicht darin begründet, dass die Vorschrift als Reaktion auf die in Rede stehenden späteren wissenschaftlichen Pflichtverstöße den Zugriff auf den Bestand des zuvor redlich erworbenen Doktorgrades ermöglicht. Denn der damit für den Träger des Grades verbundene Nachteil findet seine Rechfertigung in dem Gehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG als objektiver Grundsatznorm, weil er nach dem von dem Verwaltungsgerichtshof festgestellten Regelungsgehalt der landesrechtlichen Entziehungsvorschrift der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Wissenschaftsprozesses dient. In der Wissenschaft als prinzipiell offenem System muss jeder wissenschaftlich Tätige mit seinen Forschungen auf den Erkenntnissen anderer aufbauen und darauf vertrauen können, dass diese nicht manipuliert sind. Wird dieses Vertrauen verletzt, leidet neben der Qualität der jeweiligen Forschungsarbeit auch die Präzision des Fachdiskurses. Dies kann die Glaubwürdigkeit des Wissenschaftsbetriebs insgesamt beschädigen (vgl. Goeckenjan, JZ 2013, 725; Deutsche Forschungsgemeinschaft, a.a.O. S. 27). Vor diesem Hintergrund hat der Landesgesetzgeber nach Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs dem verliehenen Doktorgrad die Funktion zugeschrieben, im Fall der weiteren Teilnahme seines Trägers am Wissenschaftsprozess als Ausweis für dessen Willen und Fähigkeit zur permanenten Einhaltung der wissenschaftlichen Kernpflichten zu dienen. Der Landesgesetzgeber hat diese Zuschreibung mit einer entsprechenden Verhaltenserwartung verknüpft und für den Fall der Nichterfüllung der Erwartung die Entziehung des Doktorgrades vorgesehen. Dieses Regelungssystem stellt sich unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative und des Gestaltungsspielraums des Landesgesetzgebers nicht als unverhältnismäßig im weiteren Sinne dar. Insbesondere sind die gesetzgeberische Zuschreibung und Verhaltenserwartung nicht deshalb als fehlsam zu beurteilen, weil das entsprechende Vertrauen in den Doktorgrad in der Wissenschaft bzw. in einzelnen ihrer Bereiche in tatsächlicher Hinsicht unterschiedlich stark ausgeprägt sein mag. 28 Einen unverhältnismäßigen Charakter gewinnt die in § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW geregelte Entziehung des Doktorgrades wegen eines späteren wissenschaftsbezogenen unwürdigen Verhaltens ferner nicht deshalb, weil die Vorschrift keine Bestimmung über eine Befristung der Entziehungsentscheidung enthält. Denn in Fällen, in denen sich eine Aufrechterhaltung der Entziehungsverfügung als unzumutbar erweisen sollte, kann dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung getragen werden, dass die Entziehungsentscheidung auf der Grundlage der nach § 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO revisiblen Vorschrift des § 49 Abs. 1 LVwVfG BW, auf die § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW ausdrücklich verweist, widerrufen wird (zur Aufhebung einer Entziehungsentscheidung nach dem früheren Gesetz über die Führung akademischer Grade unter Verweis auf § 4 Abs. 4 GFaG: VGH Mannheim, Urteil vom 18. März 1981 a.a.O. S. 664; Thieme, a.a.O. Rn. 446; vgl. auch: Maurer, a.a.O. S. 777). Unabhängig hiervon besteht grundsätzlich die Möglichkeit eines Neuerwerbs des Doktorgrades (Stumpf, a.a.O. S. 48). 29 Schließlich können etwaige für das Grundrecht der subjektiven Wissenschaftsfreiheit bedeutsame Besonderheiten des Einzelfalles im Rahmen der nach § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW erforderlichen Ermessensausübung berücksichtigt werden. 30 d) Die wissenschaftsbezogen ausgelegte Entziehungsvorschrift des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW verletzt nicht das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. 31 Einschränkungen der Berufsfreiheit, die sich als Folge einer auf Grund der Vorschrift verfügten Entziehung des Doktorgrades für Tätigkeiten im Wissenschaftsbetrieb ergeben, sind entsprechend den Darlegungen zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gerechtfertigt, weil sie zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Wissenschaftsprozesses, einem überragend wichtigen und verfassungsrechtlich in dem objektiven Regelungsgehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verankerten Gemeinschaftsgut, erforderlich und auch sonst verhältnismäßig sind. Deshalb müssen die von einer Entziehungsentscheidung Betroffenen auch mit dieser verbundene faktische Beeinträchtigungen einer Berufsausübung (vgl. zu solchen Beeinträchtigungen allgemein: Urteil vom 18. Oktober 1990 - BVerwG 3 C 2.88 - BVerwGE 87, 37 <41 ff.> = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 209 S. 27 ff.) außerhalb des Wissenschaftsbereichs hinnehmen. Der Landesgesetzgeber war auf Grund der ihm zustehenden Pauschalierungs- und Typisierungsbefugnis nicht verpflichtet, bereichsspezifische Verbote zur Führung des Doktorgrades vorzusehen. Eine im Einzelfall gegebene besondere Betroffenheit in beruflicher Hinsicht kann wiederum in die Ermessensausübung nach § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW einfließen. 32 e) Aus den bisherigen Darlegungen folgt zugleich, dass - im Hinblick auf einen etwaigen, mit der Entziehung des Doktorgrades zusammenhängenden Verlust gesellschaftlichen Ansehens - das durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht in der wissenschaftsbezogen interpretierten Norm des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW eine verfassungsmäßige Grenze findet. 33 f) Der Umstand, dass der wohl überwiegende Teil der Promovierten mangels weiterer wissenschaftlicher Tätigkeit nach der Promotion dem Anwendungsbereich des wissenschaftsbezogen verstandenen § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW faktisch nicht unterfällt, begründet keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Er ist vielmehr deshalb sachlich gerechtfertigt, weil von den besagten Titelträgern keine Gefahr einer Störung des Wissenschaftsprozesses durch Verletzung wissenschaftlicher Kernpflichten ausgeht (vgl. Stumpf, a.a.O. S. 38). 34 3. Gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs, der Kläger habe den Tatbestand des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW erfüllt, ist revisionsgerichtlich nichts zu erinnern. 35 Der Verwaltungsgerichtshof hat - unmittelbar und unabhängig von dem ergänzend gezogenen, an eine mangelhafte Archivierung von Primärdaten und Dokumentation von Experimenten anknüpfenden prima-facie-Schluss - festgestellt, dass der Kläger während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in den USA schwerwiegend und wiederholt Daten seiner Forschungsergebnisse manipuliert und gefälscht hat. Auf diesen vorsätzlichen bzw. grob fahrlässigen Verstoß gegen das zum Kreis der wissenschaftlichen Kernpflichten gehörende Fälschungs- und Manipulationsverbot hat der Verwaltungsgerichtshof die Annahme der Unwürdigkeit des Klägers im Sinne des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW gestützt. Der Senat ist gemäß § 137 Abs. 2 VwGO an die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs und dessen auf dieser Grundlage vorgenommene Sachverhalts- und Beweiswürdigung gebunden, weil der Kläger mit seinen hiergegen gerichteten Verfahrensrügen des Verstoßes gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (a)) und der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (b)) nicht durchzudringen vermag. 36 a) Der Kläger macht geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verstoßen, weil das Berufungsurteil sowohl im Hinblick auf seine tatsächliche als auch in Bezug auf seine rechtliche Grundlage eine Überraschungsentscheidung darstelle. In tatsächlicher Hinsicht habe der Verwaltungsgerichtshof nicht nach § 86 Abs. 3 VwGO darauf hingewiesen bzw. nicht gemäß § 104 Abs. 1 VwGO erörtert, dass er die von ihm, dem Kläger, bestrittene Manipulation und Fälschung von Daten allein auf Grund des Akteninhalts als erwiesen ansehen werde. Eines solchen Hinweises habe es zwingend bedurft, da der Verwaltungsgerichtshof einerseits anders als das erstinstanzliche Urteil ein wissenschaftsbezogenes Unwürdigkeitsverständnis befürwortet, andererseits aber den für ein solches Verständnis entscheidungserheblichen umstrittenen Sachverhalt nicht durch eigene Ermittlungen und Beweiserhebungen aufgeklärt habe. Anders gewendet hätte der Verwaltungsgerichtshof in rechtlicher Hinsicht nicht ohne vorherigen Hinweis sein wissenschaftsbezogenes Unwürdigkeitsverständnis an die Stelle der von der Vorinstanz in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs vertretenen Beschränkung auf besonders schwere oder verwerfliche Straftaten setzen dürfen. Der Kläger beruft sich in diesem Zusammenhang ergänzend auf die auf den Zivilprozess bezogene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Kammerbeschluss vom 16. Oktober 1991 - 2 BvR 458/89 - NJW 1992, 495 m.w.N.) und des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 15. Februar 2005 - XI ZR 144/03 - FamRZ 2005, 700 f. m.w.N.) über zweitinstanzliche Vortragserleichterungen für die in erster Instanz siegreiche Partei bzw. zu deren Gunsten eingreifende Hinweispflichten des Berufungsgerichts nach § 139 ZPO in der prozessualen Situation, dass das Berufungsgericht den Rechtsstandpunkt der Vorinstanz nicht teilt. Er macht geltend, dass er, wenn der Verwaltungsgerichtshof den erforderlichen Hinweis in tatsächlicher Hinsicht erteilt hätte, in der Lage gewesen wäre, dazu Stellung zu nehmen, Vertagung zu beantragen und weiter vorzutragen oder einen förmlichen Beweisantrag zu stellen, so dass eine für ihn günstigere Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ausgeschlossen gewesen wäre. Auf eine verfahrensfehlerhafte Ablehnung eines gestellten Beweisantrages hätte er seine Nichtzulassungsbeschwerde stützen können. Auf den notwendigen Hinweis in rechtlicher Hinsicht hin hätte er den Verwaltungsgerichtshof mit seiner früheren Rechtsprechung konfrontiert. 37 Der Gehörsrüge muss der Erfolg versagt bleiben. Sie erfüllt bereits nicht die Darlegungsanforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO, der für die Rüge eines Verfahrensmangels die Angabe der Tatsachen verlangt, die den Mangel ergeben. Wird ein Gehörsverstoß geltend gemacht, sind demnach substantiierte Ausführungen darüber erforderlich, was im Falle der Gewährung rechtlichen Gehörs über das bisherige Vorbringen hinaus noch entscheidungserheblich vorgetragen worden wäre bzw. welche Beweisanträge gestellt worden wären (vgl. Urteile vom 16. August 1983 - BVerwG 9 C 853.80 - Buchholz 310 § 52 VwGO Nr. 26 S. 10 und vom 24. September 1992 - BVerwG 3 C 88.88 - Buchholz 451.512 MGVO Nr. 61 S. 267 f.). Dies ergibt sich aus dem Vortrag des Klägers nicht. 38 Davon abgesehen liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs nicht vor, denn das angefochtene Urteil stellt keine diesen Grundsatz verletzende Überraschungsentscheidung dar. Auch unter Berücksichtigung der Ausprägung, die der Grundsatz durch die Hinweis- und Erörterungspflichten nach § 86 Abs. 3 VwGO und § 104 Abs. 1 VwGO erfährt, ist das Tatsachengericht nicht verpflichtet, die Beteiligten schon vor bzw. in der mündlichen Verhandlung auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinzuweisen und offenzulegen, wie es seine Entscheidung im Einzelnen zu begründen beabsichtigt. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Beratung (Beschlüsse vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51 S. 2; vom 27. November 2008 - BVerwG 5 B 54.08 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 60 Rn. 8 und vom 29. Juni 2011 - BVerwG 6 B 7.11 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 410 Rn. 8). Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf eine rechtliche Sichtweise oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellen will, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (Beschlüsse vom 27. November 2008 a.a.O. Rn. 8; vom 29. Juni 2011 a.a.O. Rn. 8 und vom 19. Juli 2010 - BVerwG 6 B 20.10 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 54 Rn. 4; vgl. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Beschluss vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190>; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <263>; Beschluss vom 7. Oktober 2003 - 1 BvR 10/99 - BVerfGE 108, 341 <345 f.>). Die Annahme eines solchen Ausnahmefalls scheidet hier aus. 39 In tatsächlicher Hinsicht hat die Beklagte die Annahme der wissenschaftsbezogen verstandenen Unwürdigkeit des Klägers im Sinne des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW auf die Ergebnisse des B.-Reports vom September 2002, die Feststellungen des Hauptausschusses der DFG vom 14. Oktober 2004 und die im Widerspruchsverfahren von ihrem Promotionsausschuss Physik erstellte Fehleranalyse gestützt. Der Kläger hatte im Verwaltungsverfahren Gelegenheit, ausführlich zu den in den genannten Untersuchungen enthaltenen Vorwürfen Stellung zu nehmen. Die Verwaltungsvorgänge, in denen das Material enthalten ist, sind im gerichtlichen Verfahren beigezogen worden. In der ersten Instanz des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens haben sich die Beteiligten weiter umfänglich darüber auseinander gesetzt. Nachdem sie in der Berufungsinstanz über die Rechtsfrage der - in dem erstinstanzlichen Urteil abgelehnten - wissenschaftsbezogenen Auslegung der Unwürdigkeit im Sinne des § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW gestritten hatten, hat der Verwaltungsgerichtshof in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen auf die Behördenakten zurückgreife. Für den anwaltlich vertretenen Kläger konnte daher kein Zweifel bestehen, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, sollte sich dieser der Ablehnung des wissenschaftsbezogenen Unwürdigkeitsverständnisses durch das Verwaltungsgericht nicht anschließen, die Frage eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens des Klägers und der tatsächlichen Grundlagen dafür Bedeutung erlangen würde. Ebenso klar lag zu Tage, dass der Verwaltungsgerichtshof dann seiner ausdrücklichen Ankündigung gemäß auf die in den Behördenakten enthaltenen tatsächlichen Feststellungen abstellen würde. Der Kläger musste deshalb damit rechnen, dass das Berufungsgericht dabei die für ihn ungünstigen Ergebnisse der bereits von der Beklagten herangezogenen Untersuchungen als überzeugend erachten würde. 40 Auch in rechtlicher Hinsicht musste der Kläger ohne weiteren gerichtlichen Hinweis gewärtigen, dass der Verwaltungsgerichtshof die Unwürdigkeit als Voraussetzung für die Entziehung des Doktorgrades nach § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW wissenschaftsbezogen verstehen und insoweit seine frühere Rechtsprechung (Urteil vom 18. März 1981 a.a.O. S. 663) zu § 4 Abs. 1 GFaG fortentwickeln würde. Schließlich hatte die Beklagte ihre Entziehungsverfügung ausdrücklich auf ein solches wissenschaftsbezogenes Unwürdigkeitsverständnis gestützt. Die Beteiligten hatten darüber bereits in der ersten Instanz ausführlich und in der Berufungsinstanz fast ausschließlich gestritten. 41 Weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht kann der Kläger aus der von ihm herangezogenen zivilprozessualen Rechtsprechung etwas zu seinen Gunsten herleiten, denn diese hat ihre Grundlage in dem Beibringungsgrundsatz, der den Zivilprozess prägt (vgl. zu diesem Zusammenhang: Beschluss vom 24. Juli 2008 - BVerwG 6 PB 18.08 - Buchholz 251.7 § 79 NWPersVG Nr. 7 Rn. 3), jedoch im Verwaltungsprozess nicht gilt. 42 b) Die Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO durch den Verwaltungsgerichtshof sieht der Kläger darin begründet, dass dieser, obwohl er, der Kläger, die Vorwürfe der Manipulation und Fälschung von Daten substantiiert bestritten und widerlegt habe, die in den Verfahrensakten enthaltenen Feststellungen übernommen habe, anstatt den Sachverhalt von Amts wegen näher zu ermitteln und gegebenenfalls das von der Beklagten in der ersten Instanz angeregte Sachverständigengutachten einzuholen. 43 Für eine Prüfung dieses Verfahrensfehlers hat der Kläger keine den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO genügende Grundlage unterbreitet. Für die ordnungsgemäße Begründung der Aufklärungsrüge muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände, die für das Gericht entscheidungserheblich waren, Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern deren Berücksichtigung auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Vorinstanz zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Dabei müssen die Beweismittel, deren Heranziehung sich dem Berufungsgericht hätte aufdrängen müssen, angegeben werden, also zum Beispiel die Sachverständigen genannt und die im Einzelnen in ihr Wissen gestellten Tatsachen angeführt und dargelegt werden, inwiefern das Urteil im Einzelnen auf der unterbliebenen Vernehmung beruht oder beruhen kann (stRspr, vgl. nur Urteile vom 21. Juni 2006 - BVerwG 6 C 19.06 - BVerwGE 126, 149 = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 264 Rn. 25 und vom 14. Februar 2007 - BVerwG 6 C 28.05 - Buchholz 442.066 § 150 TKG Nr. 3 Rn. 11). 44 Die Revisionsbegründung wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Der Kläger hätte dem von der Beklagten entsprechend den Ergebnissen des B.-Reports, der Entscheidung des Hauptausschusses der DFG vom 14. Oktober 2004 und der Fehleranalyse des Promotionsausschusses Physik der Beklagten erhobenen Vorwurf der Manipulation und Fälschung von Daten sein abweichendes Vorbringen im Detail entgegenstellen müssen. Er hätte weiter angeben müssen, was der Verwaltungsgerichtshof insoweit - quasi auf der Hand liegend - mit welchem Ergebnis aufzuklären gehabt hätte. Dies hat der Kläger nicht ansatzweise getan. 45 4. Ein Verstoß gegen Bundesrecht liegt schließlich nicht darin, dass der Verwaltungsgerichtshof die Ausübung des von § 35 Abs. 7 Satz 1 LHG BW eingeräumten Ermessens durch die Beklagte gebilligt hat. 46 Die wissenschaftsbezogene Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unwürdigkeit im Tatbestand der Entziehungsvorschrift bringt es mit sich, dass im Rahmen des eingeräumten Ermessens auf der Rechtsfolgeseite der Norm dem allgemeinen Interesse an der Vertrauenswürdigkeit wissenschaftlicher Tätigkeit besonderes Gewicht zukommt. Dem hat die Beklagte Rechnung getragen. Wegen der auch formellen Funktion des Doktorgrades als Vertrauenswürdigkeitsausweis geht das von dem Kläger verwandte Argument ins Leere, in seinem Fall sei die Wissenschaftsgemeinschaft durch das Aufsehen, das die gegen ihn gerichteten Vorwürfe erregt hätten, bereits materiell hinreichend unterrichtet und eine Entziehung des Doktorgrades nicht mehr erforderlich gewesen. Ferner ist es, anders als der Kläger meint, unerheblich, wenn der Doktorgrad bei wissenschaftlichen Publikationen im Fach Physik nicht angegeben wird, denn der Wissenschaftsprozess greift hierüber weit hinaus. 47 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2015-32
28.04.2015
Pressemitteilung Nr. 32/2015 vom 28.04.2015 EN Keine Niederlassungserlaubnis für türkische Staatsangehörige bei fehlender Teilnahme am Integrationskurs Die Ehefrau eines türkischen Arbeitnehmers, die ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsrecht EWG-Türkei erworben hat (Art. 7 ARB 1/80), hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, wenn sie nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und auch nicht an einem Integrationskurs teilgenommen hat, in dem ihr Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der Lebensverhältnisse in Deutschland vermittelt wurden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Die 1984 geborene Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit reiste 2005 im Rahmen des Familiennachzugs zu ihrem türkischen Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie erhielt im gleichen Jahr erstmals eine Aufenthaltserlaubnis und wurde zugleich zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet. Wegen ihrer Schwangerschaft brach die Klägerin den Integrationskurs vorzeitig ab. Auch nach der Geburt ihres Kindes besuchte sie den Integrationskurs nicht und begründete dies zunächst damit, dass sie ihr Kind betreuen müsse und eine schlechte Verkehrsanbindung bestehe. Später teilte sie mit, dass sie auch aufgrund einer erneuten Schwangerschaft und hieraus resultierender Beschwerden nicht an dem Kurs teilnehmen könne. Im Februar 2010 erhielt die Klägerin eine weitere Aufenthaltserlaubnis, die bis zum Februar 2012 befristet war und den Zusatz enthielt „Erwerbstätigkeit gestattet". Mit Bescheid vom 12. November 2012 lehnte die Ausländerbehörde des Beklagten den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ab, da die Klägerin nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung verfüge. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Der 1. Revisionssenat hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs bestätigt und die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 9 Abs. 2 und § 28 Abs. 2 AufenthG), da sie die hierfür erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache und die Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht nachgewiesen hat. Es kann auch nicht ausnahmsweise von der Teilnahme an einem Integrationskurs abgesehen werden, da die von der Klägerin geltend gemachten Hinderungsgründe keinen Härtefall begründen. Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf das assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot (Art. 13 ARB 1/80) berufen, das neue Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt verbietet. Denn die Klägerin hat auch ohne die begehrte Niederlassungserlaubnis bereits wegen ihrer Rechtsstellung als Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers ein assoziationsrechtliches Daueraufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80. Danach hat sie Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG, die ihr dauerhaft auch einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt vermittelt. Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 greift nur bei neuen Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt. Die mittlerweile schärferen Voraussetzungen für einen unbefristeten Aufenthaltstitel (Niederlassungserlaubnis) haben hier aber keine Auswirkungen auf den Arbeitsmarktzugang der Klägerin. Fußnote: Art. 13 ARB 1/80 Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigungen in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. § 9 AufenthG Niederlassungserlaubnis (1) ... (2) Einem Ausländer ist die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn ... 7. er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt, 8. er über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt und ... § 28 Familiennachzug zu Deutschen (1) ... (2) Dem Ausländer ist in der Regel eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen im Bundesgebiet fortbestehe, kein Ausweisungsgrund vorliegt und er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt. ... BVerwG 1 C 21.14 - Urteil vom 28. April 2015 Vorinstanzen: VGH München, 10 B 13.2426 - Urteil vom 03. Juni 2014 - VG München, M 12 K 12.6067 - Urteil vom 07. März 2013 -
Urteil vom 28.04.2015 - BVerwG 1 C 21.14ECLI:DE:BVerwG:2015:280415U1C21.14.0 EN Leitsätze: 1. Die Betreuung von Kleinkindern und die Notwendigkeit der Fahrt zum nächsten Ort des Integrationskurses mit öffentlichen Verkehrsmitteln stellen für sich genommen keine Umstände dar, bei deren Vorhandensein ausnahmsweise von dem Vorliegen ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache und Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung zur Erlangung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 und § 28 Abs. 2 AufenthG abgesehen werden kann. 2. Erhöhte Anforderungen an die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 und § 28 Abs. 2 AufenthG stellen keine neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 13 ARB 1/80 dar, wenn der Ausländer bereits über einen unbeschränkten Arbeitsmarktzugang aufgrund eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 verfügt, das durch einen nationalen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert werden kann. Rechtsquellen ARB 1/80 Art. 6 und 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich, Art. 13 AufenthG § 4 Abs. 5, § 8 Abs. 3, § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8, Satz 3 bis 5, § 28 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG 1965 §§ 7, 8 Instanzenzug VG München - 07.03.2013 - AZ: VG M 12 K 12.6067 VGH München - 03.06.2014 - AZ: VGH 10 B 13.2426 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 28.04.2015 - 1 C 21.14 - [ECLI:DE:BVerwG:2015:280415U1C21.14.0] Urteil BVerwG 1 C 21.14 VG München - 07.03.2013 - AZ: VG M 12 K 12.6067 VGH München - 03.06.2014 - AZ: VGH 10 B 13.2426 In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2015 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Prof. Dr. Kraft und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Fricke und Dr. Rudolph für Recht erkannt: Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Juni 2014 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Die 1984 geborene Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit reiste 2005 im Rahmen des Familiennachzugs zu ihrem türkischen Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland ein, der hier ordnungsgemäß als Arbeitnehmer beschäftigt ist. Ihr wurde erstmals im August 2005 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 30 AufenthG erteilt. Zugleich wurde ihr eine Bestätigung ausgehändigt, wonach sie zur Teilnahme an einem Integrationskurs gemäß § 44a Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verpflichtet wurde. In der Zeit von Oktober bis Anfang Februar 2007 nahm die Klägerin am Basiskurs Abschnitt 1 teil. Wegen ihrer Schwangerschaft brach die Klägerin die Teilnahme an dem Integrationskurs vorzeitig ab. Im November 2007 kam ihr Sohn zur Welt. Auf Anfrage der Ausländerbehörde im November 2008 teilte der Ehegatte der Klägerin mit, dass die Klägerin noch stille und zwischen dem Wohnort und dem Kursort eine schlechte Verkehrsanbindung bestehe. Daraufhin wurde vereinbart, dass sich die Klägerin bis spätestens September/ Oktober 2009 wieder zum Integrationskurs anmeldet. Auf erneute Anfrage der Ausländerbehörde im Dezember 2009 teilte der Ehemann der Klägerin mit, die Klägerin lerne gerade für den Führerschein. Sobald sie diesen erworben habe und das Kind den Kindergarten besuche, werde sie sich zum Kurs anmelden. 2 Am 18. Februar 2010 erteilte die Ausländerbehörde des Beklagten der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die bis zum 17. Februar 2012 befristet war. Sie enthielt den Zusatz "Erwerbstätigkeit gestattet". 3 Am 24. Januar 2012 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Zugleich legte sie ein ärztliches Attest vor, wonach sie wegen Schwangerschaftsbeschwerden aus medizinischen Gründen nicht an einem Integrationskurs teilnehmen könne. Seit Februar 2012 erhält die Klägerin fortlaufend Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG. 4 Mit Schreiben vom Februar 2012 machte die Klägerin geltend, dass aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 die erhöhten Anforderungen, die durch § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG zum 1. Januar 2005 für eine Niederlassungserlaubnis eingeführt worden seien, für sie nicht gälten. Nach dem früheren Ausländergesetz hätten für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung Anforderungen, wie sie nunmehr in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG gestellt würden, nicht bestanden, so dass diese eine Verschlechterung darstellten. Erschwerend komme hinzu, dass wegen Komplikationen im Verlauf der erneuten Schwangerschaft ärztlicherseits ein Verbot der Teilnahme am Deutschkurs ausgesprochen worden sei. 5 Mit Schreiben vom 7. Mai 2012 beantragte die Klägerin hilfsweise, ihr eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 1 AuslG 1965, weiter hilfsweise eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 7 AuslG 1965 zu erteilen. 6 Mit Bescheid vom 12. November 2012 lehnte die Ausländerbehörde des Beklagten den Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ab, da die Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG nicht nachgewiesen habe. Eine Ausnahme nach § 9 Abs. 2 Satz 3 bis 5 AufenthG liege nicht vor. Insbesondere sei ein Härtefall weder geltend gemacht worden noch ersichtlich. Die mit der Gesetzesnovellierung zum 1. Januar 2005 eingeführte Verpflichtung zum Nachweis von ausreichenden Deutschkenntnissen und Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland stelle keine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei dar, zumal es der Klägerin bereits aufgrund des erteilten Aufenthaltstitels erlaubt sei, jeder Erwerbstätigkeit nachzugehen. 7 Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 7. März 2013 abgewiesen. 8 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 3. Juni 2014 zurückgewiesen. Der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch ergebe sich weder aus § 9 Abs. 2 AufenthG und § 28 Abs. 2 AufenthG noch unmittelbar aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80. Ein Anspruch auf Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels für ein Daueraufenthaltsrecht ergebe sich auch nicht aus Art. 13 ARB 1/80. Die Hilfsanträge blieben ebenfalls erfolglos. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 9 Abs. 2 AufenthG sei u.a., dass der Ausländer über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfüge. Den Nachweis hierfür erbringe der Ausländer im Regelfall, indem er einen Integrationskurs erfolgreich abschließe oder einen standardisierten Sprachtest ablege. Einen solchen Nachweis habe die Klägerin trotz ihrer Mitwirkungspflicht nicht erbracht. Von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG sei auch nicht nach § 9 Abs. 2 Satz 3 und 4 AufenthG abzusehen. Die während der Schwangerschaft aufgetretenen Komplikationen, die Betreuung der kleinen Kinder und eine ungünstige Busverbindung zum Kursort stellten keine einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung vergleichbare Einschränkung im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG dar. Auch eine Härte im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG sei nicht gegeben. Die Klägerin habe ferner keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, da sie die auch hierfür erforderlichen ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache nicht nachgewiesen habe. Ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ergebe sich ferner nicht unmittelbar aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80. Hieraus lasse sich kein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ohne Vorliegen der in § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG genannten Erteilungsvoraussetzungen ableiten. Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 rechtfertige ebenfalls nicht die Erteilung eines Aufenthaltstitels, der der Klägerin ein Daueraufenthaltsrecht zuerkenne. Zwar habe das Aufenthaltsgesetz in § 9 Abs. 2 Satz 1 die Erteilungsvoraussetzungen für den unbefristeten Aufenthaltstitel gegenüber der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 geltenden Rechtslage verschärft, da § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG gegenüber den Regelungen zur unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in den Ausländergesetzen von 1965 und 1990 höhere Anforderungen an die Sprachkompetenz stelle. Bei den hier entscheidungserheblichen zusätzlichen Anforderungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis handele es sich aber nicht um neue Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Anspruchsvoraussetzungen in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG blieben nämlich ohne Auswirkungen auf den Arbeitsmarktzugang der Klägerin, weil diese schon wegen der ihr zu erteilenden befristeten Aufenthaltserlaubnis unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt habe. Die Klägerin habe zudem einen Anspruch auf befristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. 9 In ihrer Revision gegen dieses Urteil macht die Klägerin geltend: Der Verwaltungsgerichtshof gehe zu Unrecht davon aus, dass die Betreuung zweier minderjähriger Kinder, die Komplikationen während der Schwangerschaft und die schlechte Busverbindung zum Ort des Integrationskurses nicht mit den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG geregelten Einschränkungen vergleichbar sei bzw. keine Härte im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG darstelle. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs rechtfertige auch Art. 13 ARB 1/80 die Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union folge, dass jede Änderung, die dazu führe, dass es schwieriger werde, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 ARB 1/80 sei. Eine rein beschäftigungsbezogene Betrachtungsweise, die ausschließlich darauf abstelle, ob mit dem unbefristeten Aufenthaltsstatus eine rechtliche Verbesserung des Arbeitsmarktzugangs verbunden ist, sei hiernach ausgeschlossen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs werde durch die Verschärfung der Erteilungsvoraussetzungen eines unbefristeten Aufenthaltstitels auch direkt und unmittelbar der unbeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert. Faktisch führe ein unbefristeter Aufenthaltsstatus dazu, dass der Ausländer auf dem Arbeitsmarkt für Arbeitgeber attraktiver sei, da mit seinem dauerhaften Verbleib im Bundesgebiet gerechnet werden könne. 10 Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Auffassung des Beklagten an. II 11 Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil im Ergebnis ohne Verstoß gegen Bundesrecht zurückgewiesen. Es hat im Einklang mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) dahin erkannt, dass die Klägerin weder einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 AufenthG (1.) und nach § 28 Abs. 2 AufenthG (2.) noch unmittelbar aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 (3.) hat. Es hat ferner zu Recht angenommen, dass sich aus der Anwendung der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 (i.V.m. §§ 7, 8 AuslG 1965) kein Anspruch auf Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts ergibt (4.). Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht (5.). 12 Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Während des Revisionsverfahrens eingetretene Rechtsänderungen sind allerdings zu berücksichtigen, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (stRspr, BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013 - 1 C 16.12 - BVerwGE 146, 271 Rn. 14). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist daher das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl. I S. 2258) und Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3484). 13 1. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist u.a. Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, dass der Ausländer über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG) sowie über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG) verfügt. 14 1.1 Ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache entsprechen nach der Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 11 AufenthG dem Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Sie liegen vor, wenn sich der Ausländer im täglichen Leben einschließlich der üblichen Kontakte mit Behörden in seiner deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 72 und BT-Drs. 15/5470 S. 20). Dazu gehört auch, dass der Ausländer einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen, verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann. Den Nachweis hierfür erbringt der Ausländer in der Regel, indem er einen Integrationskurs erfolgreich abschließt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die erforderlichen Sprachkenntnisse können aber auch auf andere Weise - etwa über einen entsprechenden Schulabschluss - nachgewiesen werden (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 72; Nr. 9.2.1.7 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz <AufenthG-VwV>). Zudem ist gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, dass der Ausländer über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt. Die Grundkenntnisse können ebenso wie die erforderlichen Sprachkenntnisse durch die erfolgreiche Teilnahme an einem Integrationskurs, aber auch auf andere Weise - etwa über einen entsprechenden Schulabschluss - nachgewiesen werden. 15 Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und insoweit bindenden (§ 137 Abs. 2 VwGO) tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts verfügt die Klägerin weder über ausreichende Deutschkenntnisse noch über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet. 16 1.2 Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, unter denen - nach § 9 Abs. 2 Satz 3 bis 5 AufenthG - ausnahmsweise von den Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abgesehen werden kann. 17 1.2.1 Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass die während der Schwangerschaft der Klägerin aufgetretenen Komplikationen, die Betreuung von Kleinkindern und eine ungünstige Verkehrsanbindung zum Ort des Integrationskurses nicht die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG erfüllen. Dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass auch behinderten oder kranken Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung möglich sein muss (Gesetzesbegründung vom 7. Februar 2003, BT-Drs. 15/420 S. 72). Eine Krankheit oder Behinderung in diesem Sinne, die den Erwerb der erforderlichen Kenntnisse (nahezu) dauerhaft unmöglich macht, liegt hier nicht vor. 18 1.2.2 Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, wonach zur Vermeidung einer Härte von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abgesehen werden kann. Der Gesetzgeber hat hier an Fälle gedacht, in denen die Betroffenen z.B. trotz verstärkter Bemühungen die Anforderungen unverschuldet nicht erfüllen können. Er geht davon aus, dass es insoweit (auch bei strikter Zuwanderungssteuerung im Bereich der wirtschaftlichen Migration) immer Einzelfälle - z.B. im Rahmen der Familienzusammenführung - geben werde, in denen die Betroffenen bei aller Anstrengung - und selbst bei Berücksichtigung von Alter und Bildungsstand - die geforderten Kenntnisse nicht in hinreichendem Maße erwerben können (Gesetzesbegründung vom 7. Februar 2003, BT-Drs. 15/420 S. 72 f.). Dies sei z.B. bei "bildungsfernen" Menschen der Fall, die in einer anderen Schriftsprache sozialisiert worden seien. Eine Härte im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG kann ferner auch dann vorliegen, wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung der Voraussetzungen zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft erschwert, wenn der Ausländer bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war oder wegen der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer unmöglich oder unzumutbar war (vgl. Nr. 9.2.2. AufenthG-VwV). 19 Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die von der Klägerin geltend gemachte Betreuung ihrer beiden kleinen Kinder (2 und 7 Jahre alt) und die Notwendigkeit der Fahrt zum nächsten Ort des Integrationskurses mit öffentlichen Verkehrsmitteln keine Härte im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG begründen. Die Erziehung eigener Kinder und auch die Sorge für Kinder im Vorschulalter stellen für sich genommen keine Umstände dar, die die Erfüllung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG wesentlich erschweren. Gleiches gilt auch für den Fall einer ungünstigen Verkehrsanbindung zum nächsten Kursort. Zum einen lässt sich dem Vorbringen der Klägerin bereits nicht entnehmen, dass die Busverbindung zum Kursort derart ungünstig ist, dass die Teilnahme am Integrationskurs hier wesentlich erschwert wäre. Zum anderen kann eine ungünstige Verkehrsanbindung bereits deshalb nicht dazu führen, von den Erfordernissen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG abzusehen, weil der Ausländer zum Nachweis der erforderlichen Sprachkenntnisse auch ein Sprachdiplom vorlegen kann, das der Bescheinigung über die erfolgreiche Teilnahme an einem Integrationskurs entspricht. Hierauf ist die Klägerin durch die Ausländerbehörde des Beklagten auch hingewiesen worden. 20 Ein Ausnahmegrund nach § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG liegt schon deshalb nicht vor, weil die Klägerin einen Anspruch auf Kursteilnahme hat. 21 2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. In dem für die Beurteilung der Begründetheit der Verpflichtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt verfügte die Klägerin nach den insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts bereits nicht über die (auch nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) erforderlichen ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Klägerin auch die nach § 28 Abs. 2 AufenthG a.F. erforderlichen einfachen Kenntnisse der deutschen Schriftsprache nicht nachgewiesen, so dass sich die Frage einer Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunktes aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 2010 - 1 C 6.09 - BVerwGE 136, 211 Rn. 24 f.) bereits im Ansatz nicht stellt. 22 3. Ferner ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ohne Vorliegen der in § 9 Abs. 2 Satz 1 und § 28 Abs. 2 AufenthG genannten Erteilungsvoraussetzungen nicht unmittelbar aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80. Die Klägerin hat durch die Eheschließung mit einem türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 innehat, eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 erworben. Zwar folgt aus dieser Rechtsstellung auch ein Aufenthaltsrecht, da das von der Vorschrift eingeräumte Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt ohne ein korrespondierendes Aufenthaltsrecht nicht ausgeübt werden könnte (EuGH, Urteil vom 29. März 2012 - C-7/10 und C-9/10 [ECLI:​EU:​C:​2012:​180], Kahveci und Inan - Rn. 28). Aus diesem Grund können Assoziationsberechtigte die Ausstellung einer (deklaratorischen) Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG beanspruchen. Dieses implizite Aufenthaltsrecht ändert jedoch nichts daran, dass das Assoziationsrecht und das mitgliedstaatliche Aufenthaltsrecht getrennte Rechtskreise darstellen, die teilweise unterschiedliche Ziele verfolgen: Während das Assoziationsabkommen ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken dient und sich deshalb auf die schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt (EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 [ECLI:​EU:​C:​2011:​809], Ziebell - Rn. 72), verfolgt das innerstaatliche Aufenthaltsrecht weiter gefasste Ziele, insbesondere die Steuerung der Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit (§ 1 Abs. 1 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis ist als rechtliche Bestätigung einer erfolgreichen Integration konstruiert und gewährt denjenigen Ausländern ein Daueraufenthaltsrecht, die aufgrund der Dauer ihres Aufenthalts und ihrer persönlichen Lebensumstände in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert sind (BT-Drs. 15/420 S. 72, vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - BVerwGE 143, 150 Rn. 17). Dem Aufenthaltsgesetz ist das gleichzeitige Bestehen verschiedener - in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen unterschiedlich ausgestalteter - Rechtsstellungen eines Ausländers auch nicht fremd, wie die Regelung des § 4 Abs. 5 AufenthG zeigt. Dieser Vorschrift ist zu entnehmen, dass das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts der konstitutiven Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels nicht entgegensteht (BVerwG, Urteil vom 19. März 2013 - 1 C 12.12 - BVerwGE 146, 117 Rn. 20). Die mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verbundene aufenthaltsrechtliche Verfestigung hängt indes von anderen Voraussetzungen ab als das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht, so dass sich aus den assoziationsrechtlichen Vorschriften der Art. 6 und 7 ARB 1/80 kein Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis ableiten lässt. 23 4. Die Klägerin hat schließlich auch aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ohne Erfüllung der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 und § 28 Abs. 2 AufenthG genannten Voraussetzungen. 24 4.1 Art. 13 ARB 1/80 enthält ein Verschlechterungsverbot. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen oder einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung in dem Mitgliedstaat gelten (EuGH, Urteil vom 17. September 2009 - C-242/06 [ECLI:​EU:​C:​2009:​554], Sahin - Rn. 63). Maßgeblich für diesen Vergleich ist die am 1. Dezember 1980 geltende Rechtslage (Art. 16 ARB 1/80; EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09 [ECLI:​EU:​C:​2010:​756], Toprak und Oguz - Rn. 62). Darüber hinaus erfasst die Stillhalteklausel auch die nachträgliche Verschärfung einer nach diesem Stichtag in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführten Bestimmung, die eine Erleichterung der damals geltenden Bestimmungen vorsah, auch wenn diese Verschärfung nicht die Bedingungen für die Erteilung der Erlaubnis im Vergleich zu den bei Inkrafttreten geltenden Bedingungen verschlechterte (EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09 - Rn. 50 f.). Dies bedeutet, dass für den Vergleich der Rechtslage auf die jeweils günstigste Regelung abzustellen ist, die seit dem Inkrafttreten der Stillhalteklausel eingeführt wurde (BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 - 1 C 4.14 - NVwZ 2015, 373). 25 4.2 Im Vergleich zu den im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 geltenden Regelungen zur Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (§ 7 Abs. 2 AuslG 1965) bzw. Aufenthaltsberechtigung (§ 8 AuslG 1965) stellen § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 und § 28 Abs. 2 AufenthG höhere Anforderungen an die Erteilung eines Daueraufenthaltstitels, da die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt, die gemäß § 2 Abs. 11 AufenthG dem Niveau B 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen müssen. Für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung nach den am 1. Dezember 1980 geltenden Bestimmungen reichte es dagegen aus, dass sich der Ausländer auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständlich machen konnte (vgl. Nr. 4 (1) b) zu § 7 AuslG und Nr. 4 a) zu § 8 AuslG der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes <AuslVwV> vom 7. Juli 1967 <GMBl. S. 231>, zuletzt geändert durch AuslVwV vom 7. Juli 1978 <GMBl. S. 368>). 26 Der Vergleich der Rechtslage nach dem Ausländergesetz 1965 und den heute geltenden Bestimmungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ergibt, dass die Erteilungsvoraussetzungen für den (nationalen) unbefristeten Aufenthaltstitel verschärft wurden. Dies wirkt sich auch zulasten der Klägerin aus, da sie sich nach den insoweit bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständlich machen kann und insoweit die Erteilungsvoraussetzungen nach alter Rechtslage erfüllt. 27 4.3 Der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht auch nicht bereits entgegen, dass die Klägerin im Besitz einer Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 ist. 28 Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht neben den unmittelbar anwendbaren Rechten der Art. 6 und 7 ARB 1/80, die türkischen Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen im Unionsrecht wurzelnde Beschäftigungs- und Aufenthaltsrechte vermitteln, und erfasst demnach nicht lediglich denjenigen Personenkreis, der noch keine Rechte in Bezug auf Aufenthalt und Beschäftigung hat. Dies folgt aus der mit der Stillhalteklausel verfolgten Zielsetzung, günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu schaffen, indem den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für die Ausübung dieser Freiheit einzuführen (EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und C-301/09 - Rn. 53 f.), sowie ihrer Funktion, allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen zu verbieten, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 galten (EuGH, Urteil vom 17. September 2009 - C-242/06 - Rn. 63). Der Gerichtshof der Europäischen Union interpretiert die Stillhalteklausel nicht dahingehend, dass nur arbeits- und gewerberechtliche Regelungen dem Verschlechterungsverbot unterfallen, sondern auch die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen einschließlich der Regeln über die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln, Erteilungsverfahren und Gebühren. Solche Regelungen können auch diejenigen türkischen Staatsangehörigen, die bereits eine Rechtsposition aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 haben, betreffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2013 - 1 C 12.12 - BVerwGE 146, 117 Rn. 30). 29 4.4 Der Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 steht indes entgegen, dass die nachträgliche Verschärfung der Voraussetzungen für die Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts ohne Auswirkungen auf den Arbeitsmarktzugang der Klägerin bleibt. Es liegen keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 vor. Denn die Klägerin hat auch ohne die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2, § 28 Abs. 2 AufenthG aufgrund ihres assoziationsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80, das in einer mindestens auf fünf Jahre befristeten deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - BVerwGE 143, 150 Rn. 27), einen auch zeitlich unbeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das assoziationsrechtliche Daueraufenthaltsrecht wird durch die Rechtsvorschrift des § 4 Abs. 5 AufenthG in das nationale Recht inkorporiert, so dass jedenfalls für den durch diese Regelung erfassten Personenkreis nicht nur nach Unionsrecht, sondern auch nach dem im Bundesgebiet anzuwendenden nationalen Recht keine Beschränkung des Arbeitsmarktzugangs gegeben ist. Art. 13 ARB 1/80 gebietet keine auf einzelne (nationale) Aufenthaltstitel bezogene Betrachtung, soweit nach nationalem Recht ein im Ergebnis unbeschränkter Arbeitsmarktzugang auf der Grundlage eines gesicherten Aufenthaltsrechts besteht. 30 5. Einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis kann die Klägerin auch nicht aus Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll zum Assoziationsabkommen EWG/Türkei -ZP- herleiten. Denn ungeachtet der Tatsache, dass sie bisher nicht vorgetragen hat, eine selbstständige Erwerbstätigkeit anzustreben, wird diese durch die Versagung einer Niederlassungserlaubnis nicht erschwert. Auch zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit hat die Klägerin nämlich bereits aufgrund ihrer Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 einen unbeschränkten Zugang. 31 6. Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat die Vorlage zweier Fragen an den Gerichtshof angeregt. 32 Die Voraussetzungen für die Einholung einer Vorabentscheidung zu diesen Fragen liegen jedoch nicht vor, weil sie nicht entscheidungserheblich sind. Wie oben bereits ausgeführt (Rn. 29), kann sich die Klägerin deswegen nicht mit Erfolg auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen, weil sie bereits aufgrund ihres nach § 4 Abs. 5 AufenthG in das nationale Recht inkorporierten assoziationsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 2 ARB 1/80 einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt hat. Auf die Frage, ob die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 auch im Falle von Erschwernissen für die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels, der ein Recht auf Daueraufenthalt gewährt, gilt, kommt es mithin nicht mehr an. 33 7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2013-5
31.01.2013
Pressemitteilung Nr. 5/2013 vom 31.01.2013 EN Begrenzung der Kreisumlageerhebung durch kommunale Selbstverwaltungsgarantie Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass eine Kreisumlage, die der Landkreis von seinen kreisangehörigen Gemeinden erhebt, nicht dazu führen darf, dass den Gemeinden keine finanzielle Mindestausstattung zur Wahrnehmung ihrer Pflichtaufgaben sowie von freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben mehr bleibt. Die Klägerin, eine kleine kreisangehörige Ortsgemeinde in Rheinland-Pfalz, wurde für das Jahr 2009 vom beklagten Landkreis zu einer Kreisumlage herangezogen, die bei Gemeinden mit überdurchschnittlicher Steuerkraft einen progressiven Anteil enthält. Dagegen hat die Klägerin geklagt, weil die Progression der Umlageerhebung im Zusammenwirken mit anderen Umlagen (Verbandsgemeindeumlage, Finanzausgleichsumlage, Gewerbe­steuerumlage) dazu führe, dass ihr Ist-Aufkommen an Steuern und Zuweisungen zu mehr als 100 % (genau: zu 108,2 %) abgeschöpft werde. Sie müsse deshalb allein zur Finanzierung ihrer Umlageverpflichtung Kassenkredite aufnehmen; zur Wahrnehmung freiwilliger Aufgaben verbleibe ihr kein Spielraum. Klage und Berufung blieben erfolglos. Auf die Revision der Klägerin hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Zwar enthält das maßgebliche Landesrecht, das die Kreise zur Umlageerhebung ermächtigt, bezüglich der Höhe der Umlage keine ausdrückliche Begrenzung. Diese folgt jedoch aus Art. 28 Abs. 2 GG, der die kommunale Selbstverwaltung institutionell garantiert und den Kommunen im „Kern“ eine finanzielle Mindestausstattung sichert, die unantastbar ist. Daneben ist der Landesgesetzgeber an den allgemeinen Gleichheitssatz gebunden, der ihn verpflichtet, Kreise und Gemeinden sowie die Gemeinden untereinander bei seinen Maßnahmen zur kommunalen Finanzausstattung gleich zu behandeln. Für Differenzierungen bedarf es eines sachlichen Grundes. Da der Landesgesetzgeber die Kreisumlage in ein System aus mehreren Instrumenten des Finanzausgleichs zwischen Gemeinden, Kreisen und Land gestellt hat, ist eine Gesamtbetrachtung sämtlicher Umlageverpflichtungen der Gemeinde geboten. Diese Grundsätze hat auch der Landkreis gegenüber den kreisangehörigen Gemeinden bei der Festsetzung der Kreisumlage zu beachten. Zwar bewirkt ein progressiver Umlagesatz an sich noch nicht eine vollständige Entziehung der vom Grundgesetz den Gemeinden garantierten Steuerhoheit. Das wäre erst der Fall, wenn die Steuerkraftunterschiede zwischen den umlagepflichtigen Gemeinden eingeebnet werden; doch so liegt es hier nicht. Führt die Kreisumlage aber im Zusammenwirken mit anderen Umlagen dazu, dass einer Gemeinde ihre Finanzkraft praktisch zur Gänze entzogen wird, ist das Recht auf kommunale Selbstverwaltung verletzt. Allerdings ist die Grenze des verfassungsrechtlich äußerst Hinnehmbaren erst dann überschritten, wenn die gemeindliche Verwaltungsebene nicht nur vorübergehend in einem Haushaltsjahr, sondern strukturell unterfinanziert ist. Ob dies hier der Fall ist, muss das Oberverwaltungsgericht noch prüfen. BVerwG 8 C 1.12 - Urteil vom 31. Januar 2013 Vorinstanzen: OVG Koblenz, 2 A 11423/10 - Urteil vom 28. April 2011 - VG Trier, 1 K 100/10.TR - Urteil vom 16. November 2010 -
Urteil vom 31.01.2013 - BVerwG 8 C 1.12ECLI:DE:BVerwG:2013:310113U8C1.12.0 EN Leitsätze: 1. Die Erhebung einer Kreisumlage mit progressivem Anteil verstößt dann gegen den in Art. 28 Abs. 2 GG garantierten Anspruch auf finanzielle Mindestausstattung der Gemeinden, wenn die gemeindliche Verwaltungsebene allein dadurch oder im Zusammenwirken mit anderen Umlagen auf Dauer strukturell unterfinanziert ist. 2. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung aus Art. 28 Abs. 2 GG verpflichtet den Landesgesetzgeber und die Kreise als Satzungsgeber gleichermaßen. Rechtsquellen GG Art. 3 Abs. 1, Art. 28 Abs. 2, Art. 106 Abs. 5, 6 und 7 LKO Rheinland-Pfalz § 58 Abs. 4, § 2 LFAG Rheinland-Pfalz § 25 Instanzenzug VG Trier - 26.11.2010 - AZ: VG 1 K 100/10.TR OVG Rheinland-Pfalz - 28.04.2011 - AZ: OVG 2 A 11423/10.OVG Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 8 C 1.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:310113U8C1.12.0] Urteil BVerwG 8 C 1.12 VG Trier - 26.11.2010 - AZ: VG 1 K 100/10.TR OVG Rheinland-Pfalz - 28.04.2011 - AZ: OVG 2 A 11423/10.OVG In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 2013 durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser, Dr. Held-Daab und Dr. Rudolph für Recht erkannt: Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28. April 2011 ergangene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gründe I 1 Zwischen den Beteiligten ist die Kreisumlage für das Jahr 2009 streitig. 2 Die Klägerin, eine kleine kreisangehörige Ortsgemeinde in Rheinland-Pfalz, wurde für das Jahr 2009 vom beklagten Landkreis mit Bescheid vom 17. August 2009 zu einer Kreisumlage herangezogen, die bei Gemeinden mit überdurchschnittlicher Steuerkraft einen progressiven Anteil enthält. Dagegen hat die Klägerin geklagt, weil die Progression der Umlageerhebung im Zusammenwirken mit anderen Umlagen (Verbandsgemeindeumlage, Finanzausgleichsumlage, Gewerbesteuerumlage) dazu führe, dass ihr Ist-Aufkommen an Steuern und Zuweisungen zu mehr als 100 % (genau: zu 108,2 %) abgeschöpft werde. Sie müsse deshalb allein zur Finanzierung ihrer Umlageverpflichtung Kassenkredite aufnehmen; zur Wahrnehmung freiwilliger Aufgaben verbleibe ihr kein Spielraum. 3 Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Der angefochtene Kreisumlagebescheid sei rechtmäßig. Die gesetzlichen Bestimmungen über die Kreisumlage seien verfassungsgemäß, auch soweit sie den Landkreisen die Festsetzung eines progressiven Umlagesatzes erlaubten. Die Rheinland-Pfälzische Verfassung schreibe kein bestimmtes Verteilungssystem vor. Dem Gesetzgeber sei in dieser Hinsicht ein weites Ermessen eingeräumt, das seine Grenze im Gebot interkommunaler Gleichbehandlung und damit letztlich im Willkürverbot finde. Über diesen allgemeinen Maßstab hinaus müsse die gesetzliche Regelung berücksichtigen, dass Finanzkraftunterschiede im Wege des Finanzausgleichs grundsätzlich nur abgemildert, nicht aber eingeebnet oder gar umgekehrt werden dürften. Die Kreisumlage als solche erweise sich als notwendiger Bestandteil des derzeitigen Finanzausgleichssystems. Auch die im Landesfinanzausgleichsgesetz vorgesehene Möglichkeit einer progressiven Staffelung der Umlagesätze stehe im Einklang mit den vorgenannten Maßstäben. Die Regelung beruhe auf sachlichen Gründen und füge sich folgerichtig in das geltende Konzept des Finanzausgleichs ein. Es erscheine vom Grundsatz her sachgerecht, wenn das Gesetz den Kreisen die Möglichkeit einräume, die überdurchschnittliche Steuerkraft einzelner Gemeinden durch eine progressive Staffelung des Umlagesatzes teilweise abzuschöpfen und so ihren Nachteil bei der Verteilung der Schlüsselzuweisungen verursachergerecht auszugleichen. Eine progressive Staffelung der Umlagesätze führe für sich genommen auch nicht zu einer unverhältnismäßigen Nivellierung von Finanzkraftunterschieden oder gar zu einer Reihenfolgeumkehr unter den kreisangehörigen Gemeinden. Das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung sei auch nicht deshalb verletzt, weil eine solche Progression Gemeinden mit geringer Einwohnerzahl, aber gleichwohl hohen Steuereinnahmen besonders treffe. Auch die Ausgestaltung der Umlagesätze in § 6 der Haushaltssatzung des Beklagten für das Jahr 2009 sei rechtlich nicht zu beanstanden. Es gebe keine allgemeine Grenze des Umlagesatzes unabhängig vom Aufgabenbestand des Kreises einerseits und der Gemeinde andererseits. Ein progressiv gestaffelter Umlagesatz, der für einzelne kreisangehörige Gemeinden nivellierend und übernivellierend wirke, sei mithin dann noch verfassungskonform, wenn für die Festsetzung sachlich einleuchtende Gründe vorlägen und diese auch sonst nicht als willkürlich oder rücksichtslos erschienen. Davon könne vorliegend nicht die Rede sein. Nicht nur die Klägerin, sondern auch der Beklagte hätte im Jahre 2009 mit erheblichen finanziellen Engpässen zu kämpfen gehabt. Auch die von der Haushaltssatzung angeordnete Progression des Kreisumlagesatzes sei unbedenklich. Auf der Grundlage des vorliegenden Zahlenmaterials bestünden keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass es hierdurch zu einer unverhältnismäßigen Nivellierung der Finanzkraft unter den kreisangehörigen Gemeinden oder gar zu einer Reihenfolgeumkehr gekommen sei. Selbst wenn die Progression eine solche Wirkung gezeigt haben sollte, wäre die Klägerin hierdurch nicht in ihrer Finanzhoheit verletzt. Aus Sicht des Kreises sprächen hierfür nämlich sachlich einleuchtende Gründe. Im beklagten Landkreis stünden einige wenige finanzstarke Gemeinden einer großen Zahl von Gemeinden mit weit unterdurchschnittlicher Finanzkraft gegenüber. Bei einem Verzicht auf die Progression wäre dem Beklagten zur Vermeidung eines noch größeren eigenen Haushaltsdefizits nichts anderes übriggeblieben, als den dann einheitlichen Umlagesatz weiter anzuheben. Hierdurch wären auch die ohnehin unterdurchschnittlich finanzkräftigen Gemeinden weiter geschwächt worden. Die Ausgestaltung des progressiven Umlagesatzes erscheine gegenüber den betroffenen Gemeinden auch nicht rücksichtslos. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass die angeordnete Progression in Steigung und Höchstsatz hinter dem nach dem Landesfinanzausgleichsgesetz zulässigen Maß zurückbleibe. Der Beklagte habe bei der Bemessung seines über die Kreisumlage zu deckenden Finanzbedarfs auch keine Ausgaben für landkreisfremde Aufgaben berücksichtigt. Die von der Klägerin beanstandeten Mittelansätze beträfen allesamt Angelegenheiten, die der Beklagte nach der Landkreisordnung als überörtliche Aufgaben der freien Selbstverwaltung wahrnehmen dürfe. Die Frage, inwieweit ein Landkreis unterstützend und ausgleichend im Bereich der allgemeinen Angelegenheiten tätig werden dürfe, stelle sich im vorliegenden Falle nicht. 4 Im Revisionsverfahren beantragt die Klägerin, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. April 2011 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 16. November 2010 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 17. August 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2010 aufzuheben. 5 Zur Begründung ihrer Revision macht sie geltend, der Beklagte nehme unzulässig gemeindliche Aufgaben wahr. Dies führe zu einem entsprechend überhöhten Finanzbedarf und zu einem überhöhten Umlagesoll. Die Wahl eines progressiven Umlagesatzes bewirke eine vollständige Einebnung der Finanzkraftunterschiede unter den umlagepflichtigen Gemeinden oder sogar eine Veränderung der Finanzkraftreihenfolge. Die Erhebung der Kreisumlage in ihrer konkreten Ausgestaltung führe im Zusammenwirken mit anderen Umlagen dazu, dass ihr die Umlagegrundlagen zur Gänze entzogen würden und sie zur Umlagefinanzierung sogar Kredite aufnehmen müsse. Das Vorgehen des Beklagten sei mit Art. 28 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. 6 Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. 7 Er verteidigt das Urteil des Oberverwaltungsgerichts. 8 Der Vertreter des Bundesinteresses stellt keinen Antrag. Er ist der Auffassung, dass eine progressive Kreisumlage mit Art. 28 Abs. 2 GG dann nicht mehr vereinbar sei, wenn die verfassungsrechtlich gewährleistete aufgabenadäquate finanzielle Mindestausstattung der Gemeinden strukturell nicht mehr gewahrt werde. II 9 Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Das Berufungsurteil wird den Anforderungen aus Art. 28 Abs. 2 GG nicht in jeder Hinsicht gerecht und verletzt damit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). 10 Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass der angefochtene Kreisumlagebescheid einer Rechtsgrundlage bedarf, dass er diese nur in § 58 Abs. 4 Landkreisordnung (LKO) i.V.m. § 25 Landesfinanzausgleichsgesetz (LFAG) sowie in § 6 der Haushaltssatzung des Beklagten für das Jahr 2009 finden kann und dass deren Gültigkeit voraussetzt, dass sie mit höherem Recht, namentlich mit Verfassungsrecht vereinbar sind. Insofern hat das Berufungsgericht allein das Verfassungsrecht des Landes Rheinland-Pfalz, nämlich Art. 49 LVerf in den Blick genommen und keinen Grund zur Beanstandung finden können; insoweit unterliegt sein Urteil nicht der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Das Berufungsgericht hat indes ungeprüft gelassen, ob die erwähnten Rechtsgrundlagen auch mit Bundesverfassungsrecht, vornehmlich mit Art. 28 Abs. 2, aber auch mit Art. 106 Abs. 5 bis 6 GG vereinbar sind. Dies gilt es nachzuholen. Hierzu müssen zunächst die verfassungsrechtlichen Maßstäbe entfaltet werden (1.). Daran gemessen, erweisen sich die Erwägungen des Berufungsgerichts teilweise als beanstandungsfrei (2. und 3.), in anderer Hinsicht jedoch als unzureichend (4.). Da eine abschließende Entscheidung weitere tatsächliche Feststellungen voraussetzt, die zudem landesrechtliche Rechtsfragen aufwerfen können, muss die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (5.). 11 1. Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht auf eine aufgabenadäquate Finanzausstattung. Das ergibt sich schon aus Satz 1 der Garantie; das Recht der Gemeinden, grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln, setzt voraus, dass die Gemeinden über eine Finanzausstattung verfügen, die sie hierzu in den Stand setzt. Es wurde im Übrigen durch die Anfügung von Satz 3 der Garantie bestätigt und noch materiellrechtlich verstärkt. Das ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt (Urteile vom 25. März 1998 - BVerwG 8 C 11.97 - BVerwGE 106, 280 <287> = Buchholz 415.1 Allg.KommR Nr. 146 und vom 15. November 2006 - BVerwG 8 C 18.05 - BVerwGE 127, 155 <Rn. 21> = Buchholz 415.1 Allg.KommR Nr. 161). 12 Die Finanzausstattung der Gemeinden ist ein Saldo aus Einnahmen und Abschöpfungen. Auf der Einnahmenseite tragen zur Finanzausstattung - neben Entgelten für spezielle Leistungen - Einnahmen aus Steuern (sogenannte Steuerkraft) sowie ergänzende Zuweisungen aus Landesmitteln nach Maßgabe des kommunalen Finanzausgleichs bei; dem stehen in negativer Hinsicht Bestimmungen in den Finanzausgleichs- und anderen Gesetzen über Umlagen gegenüber, die den Gemeinden Finanzmittel zugunsten anderer - regelmäßig höherstufiger - Verwaltungsträger wieder entziehen, sei es zugunsten der Kreise (Kreisumlage), sei es zugunsten von anderen Gemeindeverbänden (wie die Verbandsgemeindeumlage), sei es schließlich zugunsten von Land oder Bund (Finanzausgleichsumlage; Gewerbesteuerumlage). Die Kreisumlage erweist sich damit nicht nur als - herkömmliches und als solches fraglos zulässiges - Instrument zur Finanzierung der Kreise. Sie entzieht zugleich den kreisangehörigen Gemeinden Finanzmittel und zählt insofern zu den Instrumenten, welche in ihrem Zusammenwirken die Finanzausstattung der Gemeinden festlegen. Als solches muss sie den Anforderungen entsprechen, die das Verfassungsrecht für die Finanzausstattung der Gemeinden vorgibt (a); und ihre Wirkungen dürfen nicht dazu führen, dass die verfassungsgebotene finanzielle Mindestausstattung der Gemeinden unterschritten wird (b). 13 a) Dem Gesetz- und sonstigen Normgeber kommt bei der Ausgestaltung der Finanzbeziehungen zwischen Land, Kreisen und Gemeinden ein weiter Regelungsspielraum zu. Aus dem Grundgesetz lassen sich insofern keine Vorrangpositionen herleiten; vielmehr hat der Finanzbedarf eines jeden Verwaltungsträgers grundsätzlich gleichen Rang. Weder kommt dem Land für seinen eigenen Finanzbedarf ein Vorrang gegenüber dem kommunalen Bereich zu, noch lässt sich aus Art. 28 Abs. 2 GG umgekehrt ein Vorrang des kommunalen Finanzbedarfs gegenüber demjenigen des Staates herleiten. Auch innerhalb des kreiskommunalen Raumes lässt sich weder für den Finanzbedarf des Kreises noch für denjenigen der kreisangehörigen Gemeinden von Verfassungs wegen ein Vorrang behaupten. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht Art. 28 Abs. 2 GG auch das sogenannte dezentrale Aufgabenverteilungsprinzip entnommen. Hiernach muss der Gesetzgeber berücksichtigen, dass der Verfassungsgeber sich dafür entschieden hat, dass örtlich bezogene öffentliche Aufgaben möglichst dezentral, im Zweifel also auf der gemeindlichen Ebene erledigt werden sollen (BVerfG, Beschluss vom 23. November 1988 - 2 BvR 1619/83 u.a. - BVerfGE 79, 127 <147 ff., 156>). Daraus lässt sich jedoch kein Vorrangprinzip zugunsten der gemeindlichen Ebene auch in Ansehung der Verteilung knapper finanzieller Ressourcen herleiten. Das dezentrale Aufgabenverteilungsprinzip bewirkt eine im Zweifel gemeindliche Aufgabenzuständigkeit und begründet in der Folge eine gemeindliche Ausgabenlast. Deshalb ist der hierdurch begründete Finanzbedarf der Gemeinden jedoch nicht gewichtiger als der Finanzbedarf anderer (höherstufiger) Verwaltungsträger, der diesen aus den ihnen (verfassungsgemäß) zugewiesenen öffentlichen Aufgaben erwächst (vgl. auch Beschluss vom 3. März 1997 - BVerwG 8 B 130.96 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 109). Art. 28 Abs. 2 GG regelt eine Kompetenzverteilung und gewährleistet gleichsam akzessorisch eine aufgabenangemessene Finanzausstattung, trifft jedoch keine von der Aufgabenverteilung losgelöste, zusätzliche und eigenständige Regelung zur Verteilung öffentlicher Mittel. 14 Mit Blick auf die Kreisumlage kommt dem Grundsatz des finanziellen Gleichrangs zunächst und vor allem Bedeutung für das vertikale Verhältnis des umlageberechtigten Kreises zu den umlageverpflichteten kreisangehörigen Gemeinden zu. Mit der Kreisumlage werden bestimmte Finanzmittel im kreisangehörigen Raum zwischen dem Kreis und den Gemeinden verteilt. Das muss gleichmäßig geschehen (zum Gebot interkommunaler Gleichbehandlung: LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Januar 2012 - 33/10 - juris Rn. 80). Dabei ist von Bedeutung, dass der Kreis nicht nur die Befugnis zur einseitigen Erhebung der Kreisumlage hat, sondern dass er in bestimmter Hinsicht auch über das Ausmaß seiner Kreistätigkeit disponiert und damit seinen eigenen Finanzbedarf enger oder weiter stecken kann. Das darf er nicht beliebig; vielmehr muss er die grundsätzlich gleichrangigen Interessen der kreisangehörigen Gemeinden in Rechnung stellen. Dem Berufungsgericht ist deshalb darin beizupflichten, dass der Kreis seine eigenen Aufgaben und Interessen nicht einseitig und rücksichtslos gegenüber den Aufgaben und Interessen der kreisangehörigen Gemeinden durchsetzen darf. Es ist allenfalls dahin zu ergänzen, dass der Kreis auch verpflichtet ist, nicht nur den eigenen Finanzbedarf, sondern auch denjenigen der umlagepflichtigen Gemeinden zu ermitteln und seine Entscheidungen in geeigneter Form - etwa im Wege einer Begründung der Ansätze seiner Haushaltssatzung - offenzulegen, um den Gemeinden und gegebenenfalls den Gerichten eine Überprüfung zu ermöglichen. 15 Die Erhebung der Kreisumlage muss den allgemeinen Gleichheitssatz auch in horizontaler Dimension im Verhältnis der umlagepflichtigen Gemeinden zueinander beachten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 1991 - 2 BvL 24/84 - BVerfGE 83, 363 <393>; BVerwG, Urteil vom 25. März 1998 a.a.O. <287>). Fraglos zulässig ist es, den Finanzbedarf des Kreises nach linear gleichem Maßstab auf die kreisangehörigen Gemeinden umzulegen. Häufig werden steuerstärkere Gemeinden jedoch stärker herangezogen als steuerschwächere; dadurch erzielt die Kreisumlage zugleich einen steuerkraftausgleichenden Effekt. Hierfür bedarf es eines sachlichen Grundes. Außerdem darf dies nicht so weit gehen, dass die Steuerkraftunterschiede zwischen den Gemeinden eingeebnet oder gar die Steuerkraftreihenfolge verändert wird. Dies hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Gebot der Gleichbehandlung der Länder im Länderfinanzausgleich hergeleitet (BVerfG, Urteil vom 27. Mai 1992 - 2 BvF 1/88 u.a. - BVerfGE 86, 148 <250 f., 253 f.>); es gilt gleichermaßen in Ansehung des Gebots der Gleichbehandlung der kreisangehörigen Gemeinden bei der Kreisumlage. 16 Schließlich darf die Erhebung der Kreisumlage nicht dazu führen, dass die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine eigene gemeindliche Steuerhoheit entwertet wird. Das meint zunächst die Ertragshoheit. Soweit das Grundgesetz den Gemeinden selbst Steuerkraft zuerkennt, darf der Landesgesetzgeber - oder der Kreis auf landesgesetzlicher Grundlage - ihnen diese nicht wieder zur Gänze entziehen. Zwar erlaubt Art. 106 Abs. 6 Satz 4 und 5 GG eine Umlage zugunsten des Landes und des Bundes auf den Ertrag der Gewerbesteuer. Dadurch darf jedoch nur ein Teil des Gewerbesteuerertrages entzogen werden; ein Umlagesatz von 100 % wäre jedenfalls unzulässig. Ähnliches gilt für Art. 106 Abs. 6 Satz 6 GG. Hiernach können die Länder die Erträge der Gemeinden aus den Realsteuern, aus der Einkommen- und aus der Umsatzsteuer zur Grundlage für weitere Umlagen nehmen. Auch dies darf nur einen Teil der gemeindlichen Steuerkraft erfassen; unzulässig wäre es, den Gemeinden die genannten Umlagegrundlagen praktisch zur Gänze zu entziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar gelegentlich bemerkt, Art. 106 Abs. 6 Satz 6 GG lasse sich ein besonderer Normgehalt nicht entnehmen, weshalb die Vorschrift von Teilen der Literatur sogar für überflüssig erachtet wird (BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 1991 a.a.O. <391 f.>). Die Frage eines Totalentzugs der Umlagegrundlagen war jedoch nicht Gegenstand dieser Entscheidung. 17 Die Steuerhoheit umfasst neben der Ertragshoheit auch eine gewisse Regelungsbefugnis. Insofern gewährleistet das Grundgesetz den Gemeinden in Ansehung der Realsteuern und - nach Maßgabe von Bundesrecht - auch in Ansehung ihres Anteils an der Einkommensteuer (Art. 106 Abs. 5 Satz 3, Abs. 6 Satz 2 GG) eine eigene Regelungsbefugnis als Grundlage einer örtlichen Wirtschafts- und Steuerpolitik im Sinne einer „finanziellen Eigenverantwortung“ (Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG; vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2010 - 2 BvR 2185/04 u.a. - BVerfGE 125, 141 <160 ff.>). Die Erhebung von Umlagen darf nicht dazu führen, dass die eigenverantwortliche Ausübung der gemeindlichen Steuerhoheit entwertet wird. Die rheinland-pfälzischen Bestimmungen über die Bemessung der Kreisumlage sehen deshalb vor, dass die Gemeinden nicht mit ihren tatsächlichen, sondern mit fiktiven Steuereinnahmen veranschlagt werden, denen ein einheitlicher und allgemein als jedenfalls zumutbar angesehener Hebesatz zugrunde gelegt wird. Dieses Verfahren ist einwandfrei. Ob andere Bemessungsweisen gleichermaßen zulässig wären, bedarf keiner Entscheidung. 18 b) Die verschiedenen Instrumente zur Gestaltung der Finanzausstattung der Gemeinden dürfen weder allein noch in ihrem Zusammenwirken dazu führen, dass die verfassungsgebotene finanzielle Mindestausstattung der Gemeinden unterschritten wird. Insofern zieht Art. 28 Abs. 2 GG auch der Kreisumlageerhebung eine absolute Grenze. 19 Ob es eine verfassungsfeste finanzielle Mindestausstattung der Gemeinden gibt, hinter die der (Landes-)Gesetzgeber auch bei einer allgemeinen Notlage der öffentlichen Haushalte nicht zurückgehen darf, haben das Bundesverfassungsgericht (Beschlüsse vom 10. Juni 1969 - 2 BvR 480/61 - BVerfGE 26, 172 <181> und vom 7. Februar 1991 a.a.O. <386>; vgl. aber auch Beschluss vom 27. Januar 2010 - 2 BvR 2185, 2189/04 - BVerfGE 125, 141 <168>) und das Bundesverwaltungsgericht (vgl. aber Urteil vom 15. Juni 2011 - BVerwG 9 C 4.10 - BVerwGE 140, 34 <Rn. 22> = Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 161) bislang nicht entschieden. Die Verfassungsgerichte der Länder haben ihren jeweiligen Landesverfassungen derartige Mindestgarantien entnommen und dies - soweit die Ausstattung aus Landesmitteln in Rede steht - allenfalls gelegentlich unter einen Vorbehalt der eigenen Leistungsfähigkeit des Landes gestellt; die Gemeinden müssen hiernach mindestens über so große Finanzmittel verfügen, dass sie ihre pflichtigen (Fremd- wie Selbstverwaltungs-)Aufgaben ohne (nicht nur vorübergehende) Kreditaufnahme erfüllen können und darüber hinaus noch über eine „freie Spitze“ verfügen, um zusätzlich freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben in einem bescheidenen, aber doch merklichen Umfang wahrzunehmen (VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteile vom 5. Dezember 1977 - VGH 2/74 - DVBl 1978, 802 <805> und vom 18. März 1992 - VGH 3/91 - NVwZ 1993, 159 <160> m.w.N.; StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Mai 1999 - 2/97 - ESVGH 49, 242; Bayerischer VerfGH, Entscheidungen vom 27. Februar 1997 - Vf. 17 VII-94 - VerfGHE BY 50, 15 <41> und vom 28. November 2007 - Vf. 15-VII-05 - VerfGHE BY 60, 184; VerfG des Landes Brandenburg, Urteil vom 16. September1999 - 28/98 - NVwZ-RR 2000, 129 <130>; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteile vom 11. Mai 2006 - 1/05 u.a. - LKV 2006, 461 und vom 26. Januar 2012 - 33/10 - juris; Niedersächsischer StGH, Urteile vom 15. August 1995 - 2/93 u.a. - OVGE 45, 486, vom 25. November 1997 - 14/95 u.a. - OVGE 47, 497 und vom 7. März 2008 - 2/05 - NdsVBl 2008, 152 <156 f.>; VerfGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Januar 2004 - 16/02 - OVGE 50, 306; Urteile vom 11. Dezember 2007 - 10/06 - OVGE 51, 272 und vom 19. Juli 2011 - 32/08 - DVBl 2011, 1155; VerfGH Saarland, Urteile vom 10. Januar 1994 - Lv 2/92 - NVwZ-RR 1995, 153 <154> und vom 13. März 2006 - Lv 2/05 - juris; VerfGH des Freistaates Sachsen, Urteil vom 23. November 2000 - Vf. 53-II-97 - LKV 2001, 223 <224>; LVerfG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Juni 2006 - LVG 7/05 - NVwZ 2007, 78; Thüringer VerfGH, Urteile vom 12. Oktober 2004 - 16/02 - DVBl 2005, 443, vom 21. Juni 2005 - 28/03 - NVwZ-RR 2005, 665 <667> und vom 18. März 2010 - 52/08 - LKV 2010, 220; aus der Literatur: Tettinger/Schwarz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 28 Abs. 2 Rn. 248 ff.; Dreier, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 156; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Stand 1. Januar 2013, Art. 28 Rn. 53; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 28 Rn. 102; Hufen, DÖV 1998, 276 <280>). 20 Dieser Rechtsprechung ist für das Bundesverfassungsrecht beizupflichten. Aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 1 GG ergibt sich, dass der anerkannte „Kernbereich“ der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auf die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung zu erstrecken ist. Der Gesetzgeber muss die öffentliche Verwaltung also so organisieren, dass unterhalb der (staatlichen) Landesebene eine kommunale Verwaltungsebene eingerichtet wird, der ein eigenständiges, eigenverantwortliches Verwaltungshandeln nicht nur in singulären Angelegenheiten, sondern grundsätzlich universell ermöglicht wird (BVerfG, Beschluss vom 23. November 1988 a.a.O. <146 f.>). Dieser kommunale Bereich darf nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern muss auch finanziell ermöglicht werden. Der Kerngehalt der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie wäre mithin (auch) dann verletzt, wenn von einer kommunalen Selbstverwaltung zwar vielleicht de jure, aber jedenfalls nicht mehr de facto die Rede sein könnte, weil den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften die hierzu erforderlichen finanziellen Mittel fehlen. 21 Hiergegen kann nicht angeführt werden, dass der Bundesverfassungsgesetzgeber den Gemeinden in Art. 106 Abs. 5 bis 6 GG bestimmte Steuereinnahmen zuerkannt und damit die gemeindliche Finanzausstattung zu einem Teil bereits von Bundesverfassungsrechts wegen gesichert hat. Daraus lässt sich nicht folgern, dass eine weitergehende bundesverfassungsrechtliche Sicherung nicht gewollt gewesen sei. Das Gegenteil ist richtig. Dass Art. 28 Abs. 2 GG die gemeindliche Selbstverwaltung in ihrem Kernbereich absolut schützt und dass dies auch deren finanzielle Voraussetzungen umfasst, gilt ungeachtet der zusätzlichen Garantien des Art. 106 GG; diese treten noch hinzu. Auch die Einfügung des Satzes 3 in Art. 28 Abs. 2 GG belegt die Überzeugung des verfassungsändernden Gesetzgebers, dass die Selbstverwaltungsgarantie angesichts zunehmender Überbürdung kostenträchtiger Aufgaben auf die Kommunen gerade in finanzieller Hinsicht noch zusätzlicher Verstärkung bedurfte. 22 Klargestellt werden muss, dass dieser „Kerngehalt“ die äußerste Grenze des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren - das verfassungsrechtliche Minimum - bezeichnet, das einer weiteren Relativierung nicht zugänglich ist. Der Landesgesetzgeber könnte also eine strukturelle Unterfinanzierung der Gemeinden in diesem Sinne nicht mit Hinweis darauf rechtfertigen, dass auch die Haushaltslage des Landes notleidend ist. Der Mindestfinanzbedarf der Kommunen stellt vielmehr einen abwägungsfesten Mindestposten im öffentlichen Finanzwesen des jeweiligen Landes dar (so auch Tettinger/Schwarz, a.a.O. Rn. 248 ff.). Ob anderes gelten kann, wenn das Land selbst unter Ausschöpfung aller eigenen Steuerquellen und unter möglichster Verminderung ausgabenträchtiger öffentlicher Aufgaben des Landes und der Kommunen zur Erfüllung dieser verfassungsrechtlichen Mindestpflicht außerstande wäre, bedarf keiner Entscheidung. Eine solche Lage ist nicht erkennbar; der Beklagte macht nur eine eigene Haushaltsnotlage geltend, nicht aber einen Haushaltsnotstand des gesamten Landes. 23 2. Der angefochtene Kreisumlagebescheid beruht auf der gesetzlichen Grundlage in § 58 Abs. 4 LKO, § 25 LFAG. Das Berufungsgericht ist fraglos davon ausgegangen, dass diese Bestimmungen den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Das hält den Einwänden, die namentlich der Vertreter des Bundesinteresses erhebt, im Ergebnis stand. 24 a) Der Vertreter des Bundesinteresses weist zum einen darauf hin, dass der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 14. Februar 2012 (- VGH N 3/11 - NVwZ 2012, 1034 = DVBl 2012, 432) die Bestimmungen des Landesfinanzausgleichsgesetzes über die Zuweisungen aus Landesmitteln (§§ 7 bis 18 LFAG) für verfassungswidrig erklärt hat. Das bleibt freilich für den vorliegenden Rechtsstreit ohne Auswirkung. Zwar nimmt § 25 LFAG auf § 13 LFAG und damit auf eine der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften Bezug. Jedoch wird damit nicht die Gültigkeit der Bestimmungen über die Zuweisungen aus Landesmitteln zur Voraussetzung auch für die Gültigkeit der Bestimmungen über die Kreisumlage erhoben. Die Bezugnahme auf § 13 LFAG soll vielmehr lediglich die Umlagegrundlagen festlegen. Sie dient daher nur einer regelungstechnischen Vereinfachung, um eine eigenständige Wiederholung innerhalb des § 25 LFAG zu ersparen. In Ansehung der Umlagegrundlagen kann § 13 LFAG auch unabhängig von der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen über die Zuweisungen aus Landesmitteln Bestand haben. Hinzu kommt, dass das Landesverfassungsgericht die §§ 7 bis 18 LFAG zwar für verfassungswidrig, aber für das hier in Rede stehende Umlagejahr 2009 nicht auch für nichtig erklärt hat; das Gesetz verliert vielmehr erst Ende 2013 seine Gültigkeit, wenn der Gesetzgeber bis dahin den verfassungsrechtlichen Einwänden nicht Rechnung getragen hat. 25 b) Der Vertreter des Bundesinteresses bemängelt zum anderen, dass § 58 Abs. 4 LKO zu weit gefasst sei. Nach dieser Vorschrift erhebt der Kreis eine Kreisumlage, soweit seine sonstigen Finanzquellen seinen Finanzbedarf nicht decken. Damit macht sie den Kreisen die Erhebung einer Kreisumlage zur Pflicht, deren Soll-Aufkommen sich nach ihrem Wortlaut allein nach dem gesamten ungedeckten Finanzbedarf des Kreises bemisst, ohne hierbei die gebotene Rücksicht auf den eigenen Finanzbedarf und die Finanzausstattung der umlagepflichtigen Gemeinden zu nehmen. Mit diesem Inhalt könnte die Vorschrift tatsächlich keinen Bestand haben; sie würde den Grundsatz des Gleichrangs zwischen dem Finanzbedarf des Kreises und demjenigen der kreisangehörigen Gemeinden und damit das interkommunale Gleichbehandlungsgebot in vertikaler Hinsicht verletzen und im Extremfall dazu führen, dass der Kreis eine eigene Unterfinanzierung stets auf die kreisangehörigen Gemeinden abwälzen dürfte oder gar müsste, selbst wenn diesen dadurch nicht einmal mehr die verfassungsrechtlich gebotene Mindestausstattung verbliebe. Die Vorschrift zwingt jedoch nicht zu einer solchen Interpretation. Sie ist vielmehr für eine verfassungskonforme Auslegung offen, wonach der Kreis zur Erhebung einer Kreisumlage ermächtigt wird, deren Höchstbetrag zwar durch seinen anderweitig nicht gedeckten Finanzbedarf begrenzt wird, mit der jedoch dieser ungedeckte Finanzbedarf nicht zwingend und jedenfalls dann nicht zur Gänze auf die umlagepflichtigen Gemeinden umgelegt werden müsste, wenn diesen dadurch weniger als die verfassungsgebotene Mindestausstattung verbliebe. 26 3. Die Klägerin hat gegen die Haushaltssatzung des Beklagten für das Jahr 2009 zum einen eingewendet, der Beklagte finanziere die Wahrnehmung von Aufgaben, für die ihm die Zuständigkeit fehle; zum anderen verletze der gewählte progressive Umlagesatz das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung in dessen horizontaler Dimension. Das Berufungsgericht hat diese Einwände zurückgewiesen. Das hält den Angriffen der Revision stand. 27 a) Die Klägerin bemängelt, der Beklagte nehme Aufgaben der Tourismus- und Wirtschaftsförderung wahr, für die ihm die Zuständigkeit fehle, was zu einem entsprechend überhöhten Finanzbedarf und dementsprechend zu einem überhöhten Umlagesoll führe. Dieser Einwand verfängt nicht. Das Berufungsgericht hat angenommen, dass sämtliche von der Klägerin insofern angesprochenen Aufgaben kreisörtlicher Natur („auf das Kreisgebiet bezogen“) sind und deshalb vom Beklagten nach § 2 Abs. 1 LKO wahrgenommen werden dürfen. Die dem zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen hat die Klägerin nicht mit Verfahrensrügen angegriffen. Dann aber steht fest, dass es sich nicht um gemeindliche Aufgaben handelt, die der Kreis lediglich im Rahmen seiner Ergänzungs- und Ausgleichsfunktion (nach § 2 Abs. 5 LKO) oder gar in Wahrnehmung seiner „Kompetenzkompetenz“ (nach § 2 Abs. 3 und 4 LKO) übernehmen dürfte. Damit stellt sich auch die verfassungsrechtliche Frage nicht, ob es mit Art. 28 Abs. 2 GG vereinbar wäre, wenn der Kreis gemeindliche Aufgaben an sich zieht, die Gemeinden aber zugleich über die Kreisumlage zu deren Finanzierung heranzieht. 28 b) Die Angriffe der Revision bleiben auch insoweit ohne Erfolg, als sie den progressiven Umlagesatz als solchen betreffen. 29 Der Umlagesatz besagt als solcher noch nichts über die den Gemeinden nach Erhebung der Umlage verbleibende Finanzausstattung. Die Progression führt auch nicht dazu, dass die Umlagegrundlagen zur Gänze entzogen werden; im vorliegenden Fall liegt der Grenzsatz bei 37,1 x 150 = 55,65 v.H. und der Durchschnittssatz bei der Klägerin bei etwa 45 v.H. Der Umlagesatz ist deshalb nur daraufhin zu überprüfen, ob er den Gleichbehandlungsgrundsatz wahrt und ob er Steuerkraftunterschiede zwischen den umlagepflichtigen Gemeinden übermäßig nivelliert. Insofern sind Einwände nicht zu erheben. 30 Ein einheitlicher Umlagesatz wahrt den Gleichbehandlungsgrundsatz ohne Weiteres (vgl. § 25 Abs. 2 Satz 2 LFAG), ein progressiver Satz wahrt ihn, wenn für die Progression ein sachlicher Grund besteht (vgl. Urteil vom 25. März 1998 - BVerwG 8 C 11.97 - BVerwGE 106, 280 <288 f.> = Buchholz 415.1 Allg.KommR Nr. 146). Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Progression - der nur überdurchschnittlich steuerstarke Gemeinden unterliegen - dem Verursachungsprinzip Rechnung tragen soll; diese Gemeinden werden auf diese Weise verstärkt herangezogen, weil ihre besondere Steuerkraft zugleich die Ursache für geringere Schlüsselzuweisungen an die Kreise ist, was ohne Progression zu einer stärkeren Belastung der finanzschwächeren Gemeinden führen müsste. Darin hat es beanstandungsfrei einen zureichenden sachlichen Grund für den progressiven Umlagesatz gesehen. 31 Dessen Anwendung führt auch nicht dazu, dass die Steuerkraftunterschiede unter den umlagepflichtigen Gemeinden vollständig eingeebnet würden oder gar ihre Steuerkraftreihenfolge verändert würde. Das ist bei der gewählten stufenweisen Anhebung des in Prozent ausgedrückten Umlagesatzes schon rechnerisch ausgeschlossen. Es ist auch tatsächlich nicht der Fall; die Klägerin ist auch nach Durchführung der Umlage die steuerstärkste Gemeinde im Kreis. Dass sie selbst zu anderen Ergebnissen gelangt, ist darauf zurückzuführen, dass sie auf ihre absoluten Steuereinnahmen abstellt und diese nicht ins Verhältnis zu ihrer - geringen - Einwohnerzahl setzt. Dem ist das Berufungsgericht mit Recht nicht gefolgt. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gibt den Gemeinden das Recht auf eine angemessene Finanzausstattung. Was angemessen ist, bestimmt sich zuvörderst nach dem Finanzbedarf, dieser aber ist maßgeblich abhängig von der Einwohnerzahl. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht den Finanzkraftvergleich zwischen den verschiedenen kreisangehörigen Gemeinden nach Maßgabe der Steuerkraft in Relation zur jeweiligen Einwohnerzahl vornimmt. 32 4. Die Klägerin hatte aber drittens und vor allem geltend gemacht, die Erhebung der Kreisumlage entziehe ihr - im Zusammenwirken mit anderen Umlagen - praktisch ihre gesamte Finanzausstattung und belasse ihr damit nicht einmal mehr die verfassungsgebotene Mindestausstattung. Hiermit hat sich das Berufungsgericht bislang nur unzureichend auseinandergesetzt. 33 a) Vorab ist festzuhalten, dass der Einwand der Klägerin beachtlich ist. Der Beklagte muss bei der Bemessung der Kreisumlage die anderen Umlagepflichten der kreisangehörigen Gemeinden in Rechnung stellen. Der Landesgesetzgeber stellt die Kreisumlage in ein System aus mehreren Instrumenten des Finanzausgleichs zwischen Gemeinden, Kreisen und Land; Instrumenten der Finanzzuweisungen zugunsten der Gemeinden (insbesondere Schlüsselzuweisungen) stehen gegenläufige Instrumente der Finanzabschöpfungen (insbesondere Umlagen) gegenüber. Insofern tritt die Kreisumlage neben andere Umlagen unter Gemeinden. Der Vertreter des Bundesinteresses weist zutreffend darauf hin, dass der Landesgesetzgeber dieses System des Finanzausgleichs als Ganzes zu verantworten hat; er ist verpflichtet, eine angemessene Finanzausstattung, wenigstens aber die Mindestausstattung der Gemeinden im Gesamt seines Regelwerks zu gewährleisten. Dabei muss er diejenigen Vorgaben beachten, die vom Bundesgesetzgeber selbst und damit von einem vorrangigen Normgeber gesetzt werden. Deshalb muss er auch die Belastungen der Gemeinden aus der Gewerbesteuerumlage in Rechnung stellen. 34 Bei der nötigen Gesamtbetrachtung kann die Verbandsgemeindeumlage (§ 26 LFAG) nicht ausgeblendet werden. Sie dient zwar der Finanzierung gemeindlicher Aufgaben und kommt der Klägerin - einer Ortsgemeinde - damit selbst zugute. Die Klägerin kann jedoch über ihre Mitgliedschaft in der Verbandsgemeinde nicht frei entscheiden und kann auch den Umfang der von dieser wahrgenommenen örtlichen Aufgaben nicht beeinflussen. Vielmehr werden die Verbandsgemeinden aus Gründen des Gemeinwohls gebildet (vgl. § 64 GemO) und nehmen bestimmte Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft aufgrund Gesetzes an Stelle der Ortsgemeinden wahr (§§ 67, 68 GemO). Insofern liegt die Sache anders als bei der Samtgemeindeumlage nach niedersächsischem Recht (vgl. Urteil vom 15. November 2006 - BVerwG 8 C 18.05 - BVerwGE 127, 155 = Buchholz 415.1 Allg.KommR Nr. 161). Vor allem aber stünde eine „freie Spitze“ nicht der Verbandsgemeinde, sondern unverändert der Ortsgemeinde zu, die auch nur selbst Inhaberin des verfassungsrechtlichen Aufgabenzugriffsrechts, also des Rechts ist, sich jeder „unbesetzten“ öffentlichen Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft aus eigenem Willensentschluss anzunehmen. 35 b) Das Berufungsgericht ist auf den Einwand der Klägerin bislang nur unter Anlegung eines unzureichenden und teilweise fehlerhaften verfassungsrechtlichen Maßstabs eingegangen. Es hat den Kreis nämlich von der Pflicht zur Beachtung der verfassungsgebotenen Mindestausstattung der kreisangehörigen Gemeinden dispensiert und angenommen, die gemeindliche Selbstverwaltungsgarantie werde in jedem Fall erst dann verletzt, wenn der Kreis seine eigenen Interessen einseitig und willkürlich gegenüber den Interessen der kreisangehörigen Gemeinden durchsetze. Das wird den Anforderungen des Art. 28 Abs. 2 GG nicht gerecht. 36 Der Schutz- und Garantiegehalt des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 (und 3) GG gilt zugunsten der Gemeinden auch in deren Verhältnis zum Kreis. Für „den kommunalen Raum“, also das Gesamt von Kreis und kreisangehörigen Gemeinden, besteht kein abweichendes Sonderrecht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. November 1988 - 2 BvR 1619/83 u.a. - BVerfGE 79, 127 <150 f., 152>). Daraus folgt, dass der oben umschriebene „Kernbereich“ der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie auch nicht zugunsten des jeweiligen Kreises angetastet werden darf. Das gilt für jedwede Finanzregelung, gleichgültig ob sie vom Land oder vom Kreis selbst erlassen wurde; weder darf eine Regelung des Landesgesetzgebers zu einer strukturell unzureichenden Finanzausstattung der Gemeinden führen, noch darf eine Regelung eines Kreises diese Wirkung haben. Damit wird auch der Kreisumlage eine absolute Grenze gezogen; ihre Erhebung darf nicht dazu führen, dass das absolute Minimum der Finanzausstattung der kreisangehörigen Gemeinden unterschritten wird. 37 Demgegenüber will das Berufungsgericht die Kreise bei Erlass von Bestimmungen über die Erhebung der Kreisumlage von der Pflicht zur Beachtung des „Kernbereichs“ jedenfalls dann dispensieren, wenn der kommunale Sektor insgesamt unterfinanziert ist; die Regelungsbefugnis des Kreises sei auch in diesem Falle erst überschritten, wenn der Kreis seine Interessen willkürlich und rücksichtslos zulasten der Gemeinden verfolgt. Das ist mit Art. 28 Abs. 2 GG unvereinbar. So wenig wie das Land kann sich der Kreis von der Beachtung des „Kernbereichs“ der gemeindlichen Selbstverwaltung unter Hinweis auf seine eigene Haushaltslage dispensieren. Richtig ist, dass der Kreis - anders als das Land - regelmäßig nicht über eine nennenswerte Kompetenz zur Erschließung zusätzlicher Steuerquellen verfügt, um seine Finanznot zu lindern (dazu Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 28 Rn. 115 f.). Das suspendiert indes nicht die Geltung der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie. Ist die eigene Finanzausstattung des Kreises unzureichend, so muss er sich seinerseits an das Land (den Landesgesetzgeber) halten; er kann seine Finanznot nicht auf die kreisangehörigen Gemeinden abwälzen. Darauf weist der Vertreter des Bundesinteresses zutreffend hin. 38 Das angefochtene Urteil beruht auf diesen Defiziten, da es einen Haupteinwand der Klägerin - die Kreisumlage entziehe ihr die verfassungsgebotene finanzielle Mindestausstattung - auf unzureichender Grundlage zurückgewiesen hat. 39 5. Der Senat kann über die Sache nicht abschließend entscheiden. Hierzu muss noch auf Vorbringen des Beklagten eingegangen werden, was zusätzliche tatsächliche Feststellungen erfordert, die zudem landesrechtliche Würdigungen voraussetzen. Das ist dem Bundesverwaltungsgericht verschlossen; deshalb muss die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen werden. 40 a) Zum einen bestreitet der Beklagte, dass im Zusammenwirken der Kreisumlage mit anderen Umlagen sämtliche Steuereinnahmen der Klägerin abgeschöpft würden und die Klägerin darüber hinaus noch zur Kreditaufnahme gezwungen werde, um ihre Umlageverpflichtungen zu erfüllen. Er meint, dass die Gewerbesteuerumlage nicht gesondert und zusätzlich zu berücksichtigen sei, weil sie bereits bei Festlegung der Nivellierungssätze als Höchstgrenze für die Umlagezahlungen Berücksichtigung finde. Ob das zutrifft, wird zu prüfen sein. 41 b) Zum anderen - und vor allem - behauptet der Beklagte, die Kumulation von Umlagepflichten habe für die Klägerin nur im Jahr 2009 zu einer derart hohen Belastung geführt. Die Erhebungsmethode habe in diesem Jahr zu einem überdurchschnittlich hohen Umlagebetrag geführt, dem jedoch im Folgejahr ein entsprechend niedrigerer Betrag gefolgt sei. Auch dem wird das Berufungsgericht nachzugehen haben. Der Kernbereich der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie wird nicht schon dann verletzt, wenn die Finanzausstattung einer Gemeinde nur in einem Jahr oder nur für einen vorübergehenden Zeitraum hinter dem verfassungsgebotenen Minimum zurückbleibt; zur Überbrückung derartiger Notlagen steht der Gemeinde die Befugnis zur Aufnahme von Kassenkrediten zur Verfügung. Der Kernbereich der Garantie ist vielmehr erst dann verletzt, wenn die Gemeinde strukturell und auf Dauer außerstande ist, ihr Recht auf eine eigenverantwortliche Erfüllung auch freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben wahrzunehmen.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2010-32
28.04.2010
Pressemitteilung Nr. 32/2010 vom 28.04.2010 EN Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats von Frankfurt/Main wirksam Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die im hessischen Kommunalrecht vorgesehene Zulassung gemeinsamer Wahlvorschläge zur Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands nicht gegen Bundesrecht verstößt. Damit ist die Anfechtung der Wahl der ehrenamtlichen Magistratsmitglieder der Stadt Frankfurt am Main durch Mitglieder der Fraktion "Bürgerbündnis für Frankfurt" auch in letzter Instanz erfolglos geblieben. Zur Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) der Stadt Frankfurt am Main hatten die Koalitionsfraktionen der CDU und der Grünen einen gemeinsamen Wahlvorschlag vorgelegt, der mehr als die Hälfte der Stimmen erzielte. Da auf ihn nach dem Berechnungsverfahren zur Sitzverteilung (nach Hare-Niemeyer) weniger als die Hälfte der zu vergebenden Sitze entfallen wäre, erhielt er nach einer "Mehrheitsklausel" einen zusätzlichen Sitz zugeteilt. Damit stellen die aufgrund dieses Wahlvorschlags Gewählten nun die Mehrheit der ehrenamtlichen Magistratsmitglieder. Die Minderheitsfraktion "Bürgerbündnis für Frankfurt", die deshalb keinen Sitz erhalten hatte, machte geltend, nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Spiegelbildlichkeit müsse die Sitzverteilung unter den ehrenamtlichen Mitgliedern des Magistrats den Stärkeverhältnissen in der Gemeindevertretung entsprechen; gemeinsame Wahlvorschläge seien unzulässig, da sie zu Verzerrungen führten. Dem ist das Bundesverwaltungsgericht nicht gefolgt. Die Zulassung gemeinsamer Wahlvorschläge zur Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats und die Anwendung der "Mehrheitsklausel" verletzten den Grundsatz der Spiegelbildlichkeit nicht. Nach dem Grundgesetz gelte er im kommunalen Bereich nur für die Gemeindevertretung und für die Wahl ihrer Unter- und Hilfsorgane wie etwa der Ausschüsse. Auf die Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstandes könne der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz nicht übertragen werden. Bei dem Gemeindevorstand handele es sich um ein Verwaltungsorgan, das gegenüber der Gemeindevertretung eigenständig sei und über eigene Verwaltungsaufgaben und -zuständigkeiten verfüge. Seine Mitglieder müssten weder aus der Gemeindevertretung gewählt werden noch gehörten sie der Vertretung an. Auch die Chancengleichheit der Fraktionen, die Wahlrechtsgleichheit und das Demokratieprinzip seien nicht verletzt. BVerwG 8 C 18.08 - Urteil vom 28.04.2010
Urteil vom 28.04.2010 - BVerwG 8 C 18.08ECLI:DE:BVerwG:2010:280410U8C18.08.0 EN Leitsätze: 1. Ein gemeinsamer Wahlvorschlag mehrerer Fraktionen der Gemeindevertretung für die Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) ist zulässig. 2. Eine kommunalrechtliche „Mehrheitsklausel“, wonach einem Wahlvorschlag, der die Mehrheit der abgegebenen Stimmen der wählenden Mitglieder der Gemeindevertretung erhalten hat, vorab ein Sitz im ehrenamtlichen Teil des Gemeindevorstands zugeteilt wird, ist mit Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG vereinbar. Rechtsquellen GG Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 28 Instanzenzug VGH Kassel - 06.05.2008 - AZ: VGH 8 UE 876/07 - Hessischer VGH - 06.05.2008 - AZ: VGH 8 UE 876/07 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 - 8 C 18.08 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:280410U8C18.08.0] Urteil BVerwG 8 C 18.08 VGH Kassel - 06.05.2008 - AZ: VGH 8 UE 876/07 - Hessischer VGH - 06.05.2008 - AZ: VGH 8 UE 876/07 In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2010 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser und Dr. Held-Daab für Recht erkannt: Die Revision wird zurückgewiesen. Die Kläger zu 1 und 3 tragen die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen. Gründe I 1 Der Kläger und die Klägerin (im Folgenden: Kläger) sind Mitglieder der beklagten Stadtverordnetenversammlung der Stadt Frankfurt am Main, bilden dort die Fraktion „Bürgerbündnis Für Frankfurt“ (BFF) und greifen mit ihrer Klage die Gültigkeit der von der Beklagten am 18. Mai 2006 durchgeführten Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats (Gemeindevorstands) an. 2 Nach dem Ergebnis der Kommunalwahl vom 26. März 2006 entfielen von den 93 Sitzen der Beklagten 34 auf die CDU, 22 auf die SPD, 14 auf Bündnis 90/Die Grünen, 6 auf die FDP, 6 auf Die Linke/WASG, 4 auf die FAG, 3 auf die BFF und jeweils ein Sitz auf die ÖkoLinX-ARL, die E.L., die NPD und die REP. In der zweiten Sitzung der Beklagten am 18. Mai 2006 fand u.a. die Wahl der 14 ehrenamtlichen Magistratsmitglieder statt. Dabei lagen den Mitgliedern der Beklagten ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen sowie jeweils eigene Wahlvorschläge der Fraktionen der SPD, der Linken/WASG, der FDP, der FAG und des BFF vor. Von den 93 abgegebenen Stimmen waren 92 gültig, die für folgende Wahlvorschläge abgegeben wurden: gemeinsamer Wahlvorschlag von CDU und Bündnis 90/Die Grünen: 48 Stimmen Wahlvorschlag der SPD-Fraktion 22 Stimmen Wahlvorschlag der Fraktion Die Linke/WASG 6 Stimmen Wahlvorschlag der FDP-Fraktion 6 Stimmen Wahlvorschlag der FAG-Fraktion 5 Stimmen Wahlvorschlag der BFF-Fraktion 5 Stimmen 3 Der gemeinsame Wahlvorschlag von CDU und Bündnis 90/Die Grünen erhielt vorab einen zusätzlichen Sitz nach der sog. Mehrheitsklausel des § 22 Abs. 4 des Hessischen Kommunalwahlgesetzes (KWG) zugeteilt und führte zu insgesamt 8 Sitzen, während die SPD 3 Sitze sowie Die Linke/WASG, die FDP und die FAG jeweils einen Sitz erhielten; der letzte Sitz war zwischen FAG und BFF ausgelost worden. 4 Nach erfolglosem Wahlwiderspruchsverfahren haben die Kläger beim Verwaltungsgericht Frankfurt am Main Klage mit dem Begehren erhoben festzustellen, dass die am 18. Mai 2006 von der Beklagten durchgeführte Wahl der ehrenamtlichen Magistratsmitglieder ungültig sei, später um den Hilfsantrag ergänzt, dass das Ergebnis der Wahl neu festzustellen sei. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 31. Januar 2007 abgewiesen. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat mit seinem am 6. Mai 2008 verkündeten Urteil die Berufung der Kläger zurückgewiesen und ihnen die Kosten des Berufungsverfahrens (mit Ausnahme der Auslagen der Beigeladenen) zu je einem Drittel auferlegt. 5 Zur Begründung ihrer vom Senat mit Beschluss vom 17. November 2008 zugelassenen Revision machen die Kläger geltend, die tragenden Gründe des Berufungsurteils verletzten Bundesrecht. Die Zulassung des gemeinsamen Wahlvorschlages von CDU und Bündnis 90/Die Grünen sowie die Vorabzuteilung eines Sitzes auf diesen habe der BFF-Fraktion die Chance der Erringung eines Magistratssitzes neben der gleichstarken FAG-Fraktion genommen. Die BFF-Fraktion sei deshalb als einzige der beiden aus jeweils 3 Mitgliedern bestehenden Fraktionen bei der Wahl leer ausgegangenen und sei im Magistrat der Stadt Frankfurt am Main nicht repräsentiert. Wären die Wahlen auf der Grundlage jeweils allein eigener Wahlvorschläge der Fraktionen erfolgt, hätte sich die Sitzverteilung bei im Übrigen vergleichbarer Stimmabgabe wie am 18. Mai 2006 wie folgt dargestellt: CDU = 34 x 14 : 92 = 5,17: 5 Sitze SPD = 22 x 14 : 92 = 3,34: 3 Sitze B 90/Die Grünen = 14 x 14 : 92 = 2,13: 2 Sitze LINKE = 6 x 14 : 92 = 0,91: 0 Sitze + 1 FDP = 6 x 14 : 92 = 0,91: 0 Sitze + 1 FAG = 5 x 14 : 92 = 0,76: 0 Sitze + 1 BFF = 5 x 14 : 92 = 0,76: 0 Sitze + 1 6 Damit hätte die Koalition von CDU und Bündnis 90/Die Grünen 7 von 14 ehrenamtlichen Magistratssitzen erhalten und es wäre ein Losentscheid zwischen den Wahlvorschlägen von FAG und BFF entbehrlich geworden, weil nach der rechnerischen Sitzverteilung auf beide Wahlvorschläge jeweils ein Sitz entfallen wäre. Das gleiche Wahlergebnis wäre eingetreten, wenn nicht nur jede Fraktion, sondern auch die nicht in Fraktionsstärke der Beklagten angehörenden Stadtverordneten jeweils eigene Wahlvorschläge aufgestellt und diese gewählt hätten. Die Sitzverteilung wäre mit der vorstehend errechneten identisch gewesen. 7 Die zum Zeitpunkt der Erhebung der Wahlanfechtungsklage besetzten 10 hauptamtlichen Magistratsstellen würden seit der Abwahl von 4 SPD-Dezernenten und der Neubesetzung von 5 Stellen sämtlich von der Koalition gehalten. Diese verfüge damit im Magistrat über eine überwältigende Mehrheit von 75 % (18 von 24) der Stimmen, während die Koalition in der Stadtverordnetenversammlung lediglich über 51,6 % (48 von 93) Sitze verfüge. 8 Das angegriffene Urteil verletze den in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verankerten Spiegelbildlichkeitsgrundsatz und verstoße gegen den Grundsatz der wahlrechtlichen Chancengleichheit der Wahlbewerber, der ebenfalls in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verankert sei und der bei mittelbaren Wahlen durch die Gemeindevertretung verlange, dass jeder Fraktion und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt würden. Differenzierungen bedürften zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten „zwingenden“ Grundes. Daran fehle es hier. 9 Das angegriffene Urteil verletze auch das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit, indem es die Stimmen der Wähler des gemeinsamen Wahlvorschlages durch dessen Zulassung überhaupt und insbesondere durch die Vorabzuteilung eines weiteren Sitzes auf diesen doppelt gewichtet habe. Es habe damit diesen Stimmen einen größeren Erfolgswert zugemessen als den auf die Wahlvorschläge einzelner Fraktionen abgegebenen Stimmen. 10 Es komme entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht darauf an, dass der Magistrat kein Teil der Gemeindevertretung sei, sondern als Verwaltungsorgan tätig werde. Denn die infolge des Ergebnisses der Kommunalwahl in der Gemeindevertretung gebildeten Fraktionen müssten entsprechend ihrem Stärkeverhältnis zueinander durch Personal ihres Vertrauens auch im ehrenamtlichen Teil des Gemeindevorstands repräsentiert sein. 11 Die Kläger beantragen, die Urteile des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 31. Januar 2007 und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Mai 2008 aufzuheben und festzustellen, dass die am 18. Mai 2006 vollzogene Wahl der ehrenamtlichen Stadträtinnen und Stadträte ungültig ist. 12 Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. 13 Zur Begründung macht sie geltend: Das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts sei jedenfalls im Ergebnis richtig. Die von den Klägern angefochtenen Wahlen seien korrekt vorbereitet, durchgeführt und in der Verteilung der zu vergebenen Magistratssitze umgesetzt worden, und zwar aufgrund von Wahlvorschlägen „aus der Mitte“ der Stadtverordnetenversammlung (§ 55 Abs. 3 HGO) unter Anwendung der Grundsätze der Verhältniswahl (§ 55 Abs. 1 und 4 HGO) und unter Beachtung der danach entsprechend anzuwendenden Verteilungsregelung des § 22 Abs. 3 und 4 KWG. Der „Grundsatz der Spiegelbildlichkeit“, der aus dem Demokratiegebot abgeleitet sei und für Gemeindevertretungen im Sinne des Art. 28 Abs. 1 GG gelte, sei auf den Gemeindevorstand (Magistrat) nach der HGO nicht übertragbar und gelte für die Wahl der ehrenamtlichen Beigeordneten nicht. Auch eine Verletzung der Chancengleichheit und ein Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit seien nicht ersichtlich. Der Grundsatz des „freien Mandats“ (§ 35 Abs. 1 HGO) sichere den Stadtverordneten das Recht, vor jeder Einflussnahme auf ihre Wahlentscheidung geschützt zu sein. Das gelte auch für den Fall, dass die Stimmabgabe zu Gunsten eines Wahlvorschlages erfolge, den ein Anderer bzw. eine andere Fraktion oder politische Gruppe eingebracht habe. 14 Der Vertreter des Bundesinteresses macht geltend, der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz sei auf die Wahl der ehrenamtlichen Magistratsmitglieder nicht anzuwenden, weil die Aufgaben des Magistrats als unabhängiges Verwaltungsorgan dies nicht erforderten. Die Anwendung der Mehrheitsklausel auf den gemeinsamen Wahlvorschlag sei verfassungsrechtlich unbedenklich. II 15 Die zulässige Revision der Kläger ist nicht begründet. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung der kommunalrechtlichen Regelungen, wonach die am 18. Mai 2006 erfolgte Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main gültig ist und nicht gegen Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG oder sonstiges Verfassungsrecht verstößt, ist mit Bundesrecht vereinbar. 16 Die revisionsgerichtliche Prüfung muss von dem Inhalt der irrevisiblen Vorschriften des Kommunalrechts des Landes ausgehen, den das Berufungsgericht durch Auslegung ermittelt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat (§ 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO). Das Revisionsgericht kann insoweit lediglich nachprüfen, ob Bundesrecht - insbesondere Bundesverfassungsrecht - ein anderes Ergebnis gebietet (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom 10. Dezember 2003 - BVerwG 8 C 18.03 - BVerwGE 119, 305 <306> = Buchholz 415.1 Allg. KommR Nr. 149 und vom 9. Dezember 2009 - BVerwG 8 C 17.08 - juris). Das ist hier nicht der Fall. 17 Der Verwaltungsgerichtshof hat die einschlägigen Vorschriften des hessischen Landesrechts dahin ausgelegt, dass bei der Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) der Beklagten gemäß § 55 Abs. 4 Hessische Gemeindeordnung (HGO) mehrere Fraktionen, die sich - wie hier die Fraktionen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen - durch einen Koalitionsvertrag zur Zusammenarbeit verpflichtet haben, einen gemeinsamen Wahlvorschlag einreichen dürfen mit der Folge, dass - abhängig vom Ergebnis der für die Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen - eine andere Fraktion im ehrenamtlichen Teil des Magistrats unter Umständen weniger Sitze erhalten kann, als dies der Fall wäre, wenn jede Fraktion einen eigenen Vorschlag vorlegen würde (so im Ergebnis auch die vorherige Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs, vgl. u.a. HessVGH, Urteil vom 17. Oktober 1991 - 6 UE 2422/90 - NVwZ-RR 1992, 371). Die Vorschrift des § 22 Abs. 4 KWG („Mehrheitsklausel“), die eine Vorabzuteilung eines zu vergebenden Sitzes vorsehe, sei auch auf sog. „gemeinsame Wahlvorschläge“ anzuwenden. Damit sei nicht zu beanstanden, dass der gemeinsame Wahlvorschlag von CDU und Bündnis 90/Die Grünen vorab einen zusätzlichen Sitz erhielt und beide Fraktionen bei 48 auf ihren Wahlvorschlag abgegebenen Stimmen dadurch (statt auf 7) auf 8 von 14 Sitzen im ehrenamtlichen Teil des Magistrats kamen. 18 Diese Auslegung der vorgenannten landesrechtlichen Bestimmungen durch den Verwaltungsgerichtshof, die auch im Fachschrifttum geteilt wird (vgl. etwa Bennemann in: ders. u.a. (Hrsg.), Hessische Gemeindeordnung, Kommentar, 1999 ff., § 55 Rn. 93; Birkenfeld-Pfeiffer/Gern, Kommunalrecht, 4. Aufl. 2005, Rn. 409; Foerstemann, Die Gemeindeorgane in Hessen, 6. Aufl. 2002, S. 121 f.; Schneider/Dreßler/Lüll, Hessische Gemeindeordnung, Kommentar, Stand Juli 2007, § 55 Anm. 2.3; Schmidt/Kneip, Hessische Gemeindeordnung, 2. Aufl. 2008, § 55 Rn. 14), ist im Ergebnis mit Bundesrecht vereinbar. Dies gilt sowohl (1) für die Zulassung gemeinsamer Wahlvorschläge für die Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) auf der Grundlage von § 55 Abs. 3 HGO als auch (2) für die Anwendung der Mehrheitsregel des § 55 Abs. 4 HGO i.V.m. § 22 Abs. 4 und 3 KWG. 19 (1) Die Zulassung gemeinsamer Wahlvorschläge für die Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) verletzt nicht den aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG abgeleiteten „Spiegelbildlichkeitsgrundsatz“. 20 Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG muss das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Diese Bestimmung überträgt die in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG getroffene Grundentscheidung der Verfassung für die Volkssouveränität und die Demokratie auf die Ebene der Gemeinden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 1978 - 2 BvR 134/76, 2 BvR 268/76 - BVerfGE 47, 253 <272>; Urteil vom 31. Oktober 1990 - 2 BvR 2/89, 6/89 - BVerfGE 83, 37 <53>). Daraus folgt, dass die Gemeindevertretung, auch wenn sie kein Parlament, sondern Organ einer Selbstverwaltungskörperschaft ist, die Gemeindebürger repräsentiert (vgl. Urteil vom 27. März 1992 - BVerwG 7 C 20.91 - BVerwGE 90, 104 <105> = Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 117). Da diese Repräsentation der ganzen Volksvertretung, d.h. der Gesamtheit ihrer gewählten Mitglieder obliegt, haben alle Mitglieder grundsätzlich gleiche Mitwirkungsrechte (vgl. BVerfG, Urteile vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88 - BVerfGE 80, 188 <217 f.> und vom 16. Juli 1991 - 2 BvE 1/91 - BVerfGE 84, 304 <321>). Entsprechendes gilt für die Fraktionen als Zusammenschlüsse politisch gleichgesinnter Mitglieder der Volksvertretung. Auch die Fraktionen sind somit im Plenum und in den Ausschüssen grundsätzlich gleichberechtigt an der Willensbildung der Volksvertretung zu beteiligen (vgl. BVerfG, Urteile vom 14. Januar 1986 - 2 BvE 14/83, 2 BvE 4/84 - BVerfGE 70, 324 <362 f.>, vom 16. Juli 1991 a.a.O. S. 322 ff., 327 f. und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 <120>; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2009 - BVerwG 8 C 17.08 - juris Rn. 18). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 13. Juni 1989 a.a.O. S. 222) muss grundsätzlich jeder Ausschuss des Bundestages ein verkleinertes Bild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung die Zusammensetzung des Plenums widerspiegeln. Aus dem Prinzip der demokratischen Repräsentation und der Einbeziehung der Gemeindevertreter in dieses Prinzip folgt, dass für Gemeindevertretungen das Gleiche gilt. Auch die von der Gemeindevertretung zu wählenden Ausschüsse dürfen deshalb nicht unabhängig von dem Stärkeverhältnis der Fraktionen besetzt werden, über das die Gemeindebürger bei der Wahl der Gemeindevertretung mit entschieden haben. Vielmehr müssen auch diese Ausschüsse grundsätzlich als verkleinerte Abbilder des Plenums dessen Zusammensetzung und das darin wirksame politische Meinungs- und Kräftespektrum widerspiegeln (vgl. Urteile vom 27. März 1992 a.a.O., vom 10. Dezember 2003 - BVerwG 8 C 18.03 - BVerwGE 119, 305 <307> = Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 149 und vom 9. Dezember 2009 a.a.O. Rn. 19). Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit soll sicherstellen, dass der Ausschuss einer Gemeindevertretung die Zusammensetzung des Plenums in seiner konkreten, durch die Fraktionen geprägten organisatorischen Gestalt verkleinernd abbildet. 21 Der Senat hat in seinem vorzitierten Urteil vom 9. Dezember 2009 (a.a.O.) deshalb die damals vom Berufungsgericht vertretene Auffassung ausdrücklich zurückgewiesen, die Ausschüsse einer Gemeindevertretung müssten nicht notwendig ein Spiegelbild der Mehrheitsverhältnisse in der Gemeindevertretung nach Fraktionen sein, sondern könnten auch ein Spiegelbild der Mehrheitsverhältnisse in der Gemeindevertretung nach gemeinsamen Wahlvorschlägen verschiedener durch eine Koalitionsvereinbarung verbundener Fraktionen sein. Dies folgt daraus, dass der verfassungsrechtlich gebotene Spiegelbildlichkeitsgrundsatz den Anspruch jedes Mitgliedes der Gemeindevertretung und jeder von den Mitgliedern gebildeten Fraktion auf gleichberechtigte Mitwirkung schützt. Gegenstand und Bezugspunkt der Abbildung ist das Stärkeverhältnis der politischen Kräfte, die sich zur Wahl der Gemeindevertretung gestellt und zwischen denen die Wähler entschieden haben, und nicht der politischen Mehrheiten, die sich erst nach der Wahl in der Gemeindevertretung durch Koalitionsabreden gebildet haben. Sitzverschiebungen zu Gunsten einer Koalitionsmehrheit können deshalb nur durch dem Spiegelbildlichkeitsgrundsatz gleichrangige kollidierende verfassungsrechtliche Vorgaben gerechtfertigt werden (Urteil vom 9. Dezember 2009 a.a.O. Rn. 22). 22 Der so konkretisierte Spiegelbildlichkeitsgrundsatz gilt nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG allerdings nur für die Besetzung der aus der Gemeindevertretung abgeleiteten Gremien (vgl. zum Parlamentsrecht BVerfG, Urteil vom 8. Dezember 2004 - 2 BvE 3/02 - BVerfGE 112, 118 <146>), die an der Erfüllung der dem Plenum zugewiesenen Aufgaben als Vertretung des (Gemeinde-)Volkes mitwirken. Dagegen erstreckt sich der Anwendungsbereich des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes nicht auf die Bildung des Gemeindevorstands, der kein Vertretungs-, sondern ein Verwaltungsorgan ist. 23 Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG schreibt allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen nur für die Bildung der Volksvertretung in den Ländern, Kreisen und Gemeinden vor. Im Übrigen muss die verfassungsmäßige Ordnung der Länder, zu der auch die Kommunalverfassung gehört, nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates entsprechen. Danach sind die Wahlrechtsgrundsätze (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG), aus denen sich die Gleichheit der kommunalen Mandatsträger und der daraus abzuleitende Spiegelbildlichkeitsgrundsatz ergeben, verfassungsrechtlich zwingend nur für die Wahl zu den kommunalen Vertretungsorganen vorgeschrieben und auf die Bildung ihrer Teil- und Hilfsorgane zu übertragen, die an der Vertretungsfunktion teilhaben. Im Bereich der Verwaltungsorgane eröffnet Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG dem Kommunalgesetzgeber dagegen einen durch das Demokratiegebot begrenzten Gestaltungsspielraum. Für die Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats als des Verwaltungsorgans der Gemeinde lässt er die Besetzung aufgrund gemeinsamer Wahlvorschläge zu. 24 Nach der vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Landesrechts ist in Hessen der Gemeindevorstand (in Städten gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 HGO: Magistrat) gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 HGO die „Verwaltungsbehörde der Gemeinde“. Er besorgt nach den Beschlüssen der Gemeindevertretung im Rahmen der bereitgestellten Mittel die laufende Verwaltung der Gemeinde (§ 9 Abs. 2 Satz 1, § 66 Abs. 1 Satz 2 HGO). Ihm gehören gemäß § 65 Abs. 1 HGO der/die gemäß § 39 Abs. 1 und 3 HGO unmittelbar von den Bürgerinnen und Bürgern der Gemeinde nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl für die Dauer von sechs Jahren gewählte (Ober-)Bürgermeister/in als Vorsitzende/r sowie die gemäß § 39a Abs. 1 HGO von der Gemeindevertretung gewählten hauptamtlichen und ehrenamtlichen Beigeordneten (§ 44 Abs. 2 HGO) an. Deren Zahl ist in der Hauptsatzung der Gemeinde festgelegt, wobei die Zahl der hauptamtlichen Beigeordneten die der ehrenamtlichen nicht übersteigen darf (§ 44 Abs. 2 Satz 4 HGO). Die Wahl der hauptamtlichen Beigeordneten - kommunale Wahlbeamte - durch die Gemeindevertretung erfolgt für die Dauer von sechs Jahren (§ 39a Abs. 2 Satz 1 HGO), und zwar gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 HGO für jede zu besetzende Stelle in einem besonderen Wahlgang nach Stimmenmehrheit. Die so in einer personenbezogenen Mehrheitswahl und für eine persönliche Amtszeit von sechs Jahren gewählten hauptamtlichen Magistratsmitglieder sind Dezernenten der Verwaltung und damit Teil der „Exekutive“, die von dem/der (Ober-)Bürgermeister/in nach Maßgabe des § 70 Abs. 1 HGO geleitet wird. Demgegenüber werden die ehrenamtlichen Magistratsmitglieder gemäß § 39a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 55 Abs. 1 Satz 1 und 2 HGO von der Gemeindevertretung in einem Wahlgang nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt, und zwar für die jeweilige Wahlzeit der Gemeindevertretung, also jedes Mal neu nach einer Kommunalwahl durch die neu konstituierte Gemeindevertretung für die Dauer ihrer Wahlperiode („Legislaturperiode“). 25 Danach werden die Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) - mit Ausnahme des/der (Ober-)Bürgermeisters/in - zwar, ebenso wie die Mitglieder der Ausschüsse der Gemeindevertretung, von der Gemeindevertretung gewählt. Sie gehören jedoch einem gegenüber der Gemeindevertretung eigenständigen Organ der Gemeinde an. Der Gemeindevorstand (Magistrat) ist nach der maßgeblichen gesetzlichen Regelung ein Verwaltungsorgan, nicht aber eine vom Gemeindevolk gewählte Volksvertretung und - anders als ein Ausschuss der Gemeindevertretung - auch kein Teil der Gemeindevertretung. Als eigenständiges Kommunalorgan hat er gegenüber der Gemeindevertretung eigene Aufgaben und Zuständigkeiten. Seine Mitglieder haben - verglichen mit den Mitgliedern der Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung und ihrer Ausschüsse - auch einen anderen rechtlichen Status. Die ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats, deren Amtszeit erst mit der Aushändigung einer Urkunde über die Berufung in ihr Amt oder mit dem in der Urkunde genannten späteren Zeitpunkt beginnt (§ 46 Abs. 2 HGO), sind kommunale Ehrenbeamte. Nach § 65 Abs. 2 Satz 1 HGO dürfen sie nicht gleichzeitig Mitglieder der Gemeindevertretung sein. 26 Nach den vom Verwaltungsgerichtshof getroffenen Feststellungen besteht in Hessen keine gesetzliche Regelung, wonach sich das kommunale Verwaltungsorgan Gemeindevorstand (Magistrat) nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zusammenzusetzen hätte. Das Grundgesetz verhält sich zur Frage der Zusammensetzung der Verwaltungsorgane der Gemeinden im Verhältnis zur Stärke der Fraktionen in der Gemeindevertretung nicht. Es normiert in Art. 20 Abs. 1 GG „lediglich“, dass die Bundesrepublik Deutschland ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist, in dem gemäß Art. 20 Abs. 2 GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Darüber hinaus gebietet Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern - und damit auch in den Gemeinden - den „Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes“ entsprechen muss. 27 Es lässt sich weder aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG noch aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG ableiten, dass für die im Wege einer Verhältniswahl vorzunehmende Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Verwaltungsorgans Gemeindevorstand (Magistrat) ausschließlich Wahlvorschläge von einzelnen Mitgliedern oder von einzelnen Fraktionen der Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung gemacht und eingereicht werden dürfen. 28 Für den hauptamtlichen Teil des Verwaltungsorgans Gemeindevorstand (Magistrat), also für die hauptamtlichen Beigeordneten, deren Wahl gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 HGO jeweils in einem für jede zu besetzende Stelle besonderen Wahlgang nach Stimmenmehrheit erfolgt, kann es ohnehin - ebenso wie bei der Wahl des/der (Ober-)Bürgermeisters/in - keine Anwendung des „Grundsatzes der Spiegelbildlichkeit“ geben. Anderenfalls müsste man postulieren, dass die Stellen der hauptamtlichen Beigeordneten (und des Bürgermeisters/Oberbürgermeisters) von Verfassungs wegen nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen der Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung vergeben werden müssten. Dafür fehlt es im Grundgesetz an jedem Anhaltspunkt, so dass die Wahl der (hauptamtlichen) Beigeordneten - in den vom Grundgesetz im Übrigen gezogenen Grenzen - allein nach Maßgabe der jeweiligen landesrechtlichen Regelung zu treffen ist. 29 Auch dann, wenn das kommunale Verwaltungsorgan Gemeindevorstand (Magistrat) nicht strikt proportional nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen der Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung zusammengesetzt ist, fehlt diesem nicht die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG unabdingbare demokratische Legitimation, die sich auf die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde als dem Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, zurückführen lässt (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1974 - 2 BvK 1/73 - BVerfGE 38, 258 <271>). Das Gemeindevolk bekundet seinen Willen durch die Wahl der Gemeindevertreter und handelt (abgesehen von Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden etc.) durch seine gewählten Vertreter in der Gemeinde. Auch wenn eine unmittelbare Wahl der Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) - mit Ausnahme des/der (Ober-)Bürgermeisters/in - in Hessen nicht vorgesehen ist, verschafft die aus einer allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl hervorgegangene Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung als Repräsentationsorgan aller Gemeindebürgerinnen und -bürger dem Gemeindevorstand (Magistrat) die erforderliche demokratische Legitimation, und zwar durch einen Akt, der ihr in ihrer Gesamtheit zugerechnet werden kann (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1974 a.a.O.). Dies gilt für die Wahl aller Mitglieder des Gemeindevorstands, d.h. die ehrenamtlichen wie die hauptamtlichen Beigeordneten, in gleicher Weise (BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1974 a.a.O.). Der Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung darf in ihrer Gesamtheit als dem Organ, das in der Gemeinde den Volkswillen repräsentiert, die Entscheidung über die personelle Besetzung des Gemeindevorstands (Magistrats), der ebenfalls einer demokratischen Legitimation bedarf, nicht entzogen werden. Das wäre etwa dann der Fall, wenn im Wahlgremium keine Abstimmung über Vorschläge stattfindet, sondern stattdessen lediglich auf Benennungsrechte der Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke abgestellt wird (BVerfG, Urteil vom 10. Dezember 1974 a.a.O. S. 272). 30 Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen ist bei der von den Klägern angefochtenen Wahl der ehrenamtlichen Beigeordneten der Stadt Frankfurt am Main genügt worden. Denn die Mitglieder der Beklagten in ihrer Gesamtheit haben nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen gemäß § 55 Abs. 3 Satz 1 HGO aufgrund von Wahlvorschlägen aus der Mitte der Gemeindevertretung abgestimmt und ihre Wahl getroffen. Die Gemeindevertretung in ihrer Gesamtheit hat insofern mit dem Wahlakt den von ihr gewählten Mitgliedern des Gemeindevorstands die erforderliche demokratische Legitimation verschafft. 31 Da der „Grundsatz der Spiegelbildlichkeit“ - anders als bei der Wahl von Mitgliedern der Ausschüsse der Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung - nicht auf die Wahl der Mitglieder des kommunalen Verwaltungsorgans Gemeindevorstand/Magistrat und nicht auf dessen Zusammensetzung anzuwenden ist, stellt sich die von den Klägern und in einer Alternativprüfung auch vom Verwaltungsgerichtshof aufgeworfene Frage nicht, ob bei Anwendung des „Grundsatzes der Spiegelbildlichkeit“ auf die Wahl der ehrenamtlichen Beigeordneten die Zulassung „gemeinsamer Wahlvorschläge“ aufgrund besonderer Gründe, etwa im Hinblick auf die „Funktionsfähigkeit der Volksvertretung“, die „Notwendigkeit einer stabilen Regierungsmehrheit“ (vgl. dazu Urteil vom 9. Dezember 2009 - BVerwG 8 C 17.08 - juris Rn. 24 m.w.N.), den demokratischen Grundsatz der Mehrheitsentscheidung oder aus anderen Gründen von Verfassungsrang, gerechtfertigt wäre. 32 Die vom Verwaltungsgerichtshof vorgenommene Auslegung und Anwendung der entscheidungserheblichen Regelungen des hessischen Landesrechts verstoßen auch nicht gegen das „Prinzip der Chancengleichheit“. Denn alle Mitglieder und alle Fraktionen der Gemeindevertretung haben in gleicher Weise gemäß § 55 Abs. 3 HGO das Recht, „aus der Mitte der Gemeindevertretung“ Vorschläge für die Wahl der ehrenamtlichen Mitglieder des Magistrats zu unterbreiten. „Aus der Mitte“ der Gemeindevertretung kommt ein Wahlvorschlag ersichtlich auch dann, wenn er von mehreren Fraktionen oder von mehreren Gemeindevertretern aus verschiedenen Fraktionen vorgelegt wird. Alle Mitglieder der Gemeindevertretung können sich gleichermaßen an der Aufstellung gemeinsamer Wahlvorschläge beteiligen und entscheiden, ob und gegebenenfalls bei welchen anderen Mitgliedern und/oder Fraktionen der Gemeindevertretung sie sich um eine Zusammenarbeit bemühen wollen oder nicht. Diese Kooperation kann in einer Koalitionsvereinbarung formalisiert werden und auch die Verabredung zur Einreichung eines gemeinsamen Wahlvorschlages für die Wahl der haupt- und/oder der ehrenamtlichen Mitglieder des Gemeindevorstands umfassen. 33 Die Zulassung gemeinsamer Wahlvorschläge von Fraktionen in der Gemeindevertretung für die Wahl des Gemeindevorstands eröffnet zwar, wie der vorliegende Fall zeigt, die Möglichkeit, andere Fraktionen, die im Falle einer alleinigen Zulassung (nur) von Wahlvorschlägen von Einzel-Fraktionen bei der Besetzung der Sitze im ehrenamtlichen Teil des Magistrats - abhängig vom Wahlergebnis - berücksichtigt würden oder (im Falle eines Losentscheids) unter Umständen berücksichtigt werden könnten, hiervon im Ergebnis auszuschließen. Das gilt unabhängig davon, ob solche Möglichkeiten im Einzelfall manipulativ genutzt werden oder ob das Verdrängen der anderen Fraktion sich als unbeabsichtigte Nebenfolge der Zulassung des gemeinsamen Wahlvorschlages ergibt. 34 Die Chancengleichheit der Wahl und der Mandatsausübung ist davon jedoch nicht betroffen. Die Gleichheit des Wahlvorschlagsrechts und die Stimmengleichheit sind gewahrt. Abweichungen gegenüber dem im Plenum bestehenden Proporz der Fraktionen stellen sich nicht als Verzerrungen der Mandatsgleichheit dar, weil die Tätigkeit im Verwaltungsorgan des Gemeindevorstands/Magistrats nicht mehr der Mandatsausübung, sondern der Verwaltungstätigkeit zuzurechnen ist. Kein Mitglied und keine Fraktion einer Gemeindevertretung hat von Verfassungs wegen einen Anspruch darauf, bewirken zu können, dass das kommunale Verwaltungsorgan Gemeindevorstand/Magistrat genau entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen in der Gemeindevertretung zusammengesetzt ist, also jede Fraktion genau eine diesem - auf die Gemeindevertretung bezogenen Stärkeverhältnis - entsprechende Zahl von Sitzen erhält. 35 (2) Es verstößt auch nicht gegen Bundesrecht, dass dem gemeinsamen Wahlvorschlag der Fraktionen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen bzw. diesen Fraktionen auf der Grundlage von § 55 Abs. 4 HGO i.V.m. § 22 Abs. 4 KWG („Mehrheitsklausel“) vorab ein Sitz im ehrenamtlichen Teil des Magistrats zugeteilt worden ist. Das Berufungsgericht hat die Anwendbarkeit dieser Mehrheitsklausel auf die Wahl der ehrenamtlichen Magistratsmitglieder durch die Stadtverordnetenversammlung für zulässig erachtet. 36 Dagegen bestehen weder im Hinblick auf Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG noch hinsichtlich Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken. 37 Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die von der Vorschrift erfassten Wahlen in den Ländern, Kreisen und Gemeinden allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein müssen, bezieht sich, wie oben in anderem Zusammenhang dargelegt, lediglich auf die Wahl der Volksvertretung (Landtag/Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung), nicht aber auf die Wahl oder Bestellung der Mitglieder der Verwaltungsorgane der Gemeinden. 38 Auch der Vorschrift des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen muss, lässt sich nicht entnehmen, dass es in den Bundesländern für die in den Gemeinden durchzuführenden Wahlen der ehrenamtlichen Mitglieder des Verwaltungsorgans Gemeindevorstand/Magistrat keine Regelungen geben darf, die sicherstellen, dass einem Wahlvorschlag, der die Mehrheit der abgegebenen Stimmen der wählenden Mitglieder der Gemeindevertretung erhalten hat, auf der Grundlage von § 55 Abs. 4 HGO i.V.m. § 22 Abs. 4 KWG („Mehrheitsklausel“) vorab ein Sitz im ehrenamtlichen Teil des Magistrats zugeteilt wird, damit ein solcher Wahlvorschlag auch die Mehrheit der zu verteilenden Sitze erhält. Der demokratische Charakter der Wahl der Mitglieder des Gemeindevorstands (Magistrats) wird dadurch nicht in Frage gestellt. Es ist Sache des jeweiligen Landesgesetzgebers, in welcher Weise er insoweit die in seinem Bundesland geltende Kommunalverfassung ausgestaltet. Es steht ihm frei, eine „Mehrheitsregel“ wie in § 55 Abs. 4 HGO i.V.m. § 22 Abs. 4 KWG zu schaffen oder davon Abstand zu nehmen. 39 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2014-69
26.11.2014
Pressemitteilung Nr. 69/2014 vom 26.11.2014 EN Hessische Bedarfsgewerbeverordnung teilweise nichtig Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute auf Normenkontrollanträge einer Gewerkschaft und zweier evangelischer Gemeindeverbände entschieden, dass die Hessische Bedarfsgewerbeverordnung insoweit nichtig ist, als sie eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen in den Bereichen Videotheken und öffentliche Bibliotheken, Callcentern und Lotto- und Totogesellschaften zulässt. Soweit die Verordnung eine solche Beschäftigung in den Bereichen Brauereien, Betriebe zur Herstellung von alkoholfreien Getränken oder Schaumwein, Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis zulässt, hat das Bundesverwaltungsgericht keine abschließende Entscheidung über die Gültigkeit der Verordnung getroffen, weil es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz fehlte. Hingegen hat das Bundesverwaltungsgericht die Verordnung für wirksam befunden, soweit sie eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen in dem Bereich des Buchmachergewerbes zulässt. Nach dem Arbeitszeitgesetz dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen grundsätzlich nicht beschäftigt werden. Das Arbeitszeitgesetz sieht hiervon zahlreiche Ausnahmen vor und ermächtigt u. a. die Landesregierungen, weitere Ausnahmen zur Vermeidung erheblicher Schäden unter Berücksichtigung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Sonn- und Feiertagsruhe für Betriebe zuzulassen, in denen die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- oder Feiertagen zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist, sofern die Arbeiten nicht an Werktagen vorgenommen werden können. Die Hessische Landesregierung hat gestützt auf diese Ermächtigung durch eine Rechtsverordnung (Hessische Bedarfsgewerbeverordnung) die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zeitlich beschränkt zugelassen, u. a. in den Bereichen: Videotheken und öffentliche Bibliotheken, Getränkeindustrie und -großhandel, Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis und Großhandel damit, Buchmachergewerbe, Callcenter sowie Lotto- und Totogesellschaften. Auf Normenkontrollanträge einer Gewerkschaft und von zwei evangelischen Gemeindeverbänden hat der Verwaltungsgerichtshof Kassel die Verordnung insoweit für nichtig erklärt. Auf die Revision des Landes Hessen hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Urteil teilweise bestätigt. Das Bundesverwaltungsgericht hat neben Religionsgemeinschaften auch Gewerkschaften die Befugnis zuerkannt, verwaltungsgerichtliche Normenkontrollanträge zu stellen, die sich gegen untergesetzliche Rechtsnormen, wie Rechtsverordnungen der Landesregierungen, richten, welche dem Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe dienen sollen, nach Auffassung der Gewerkschaft aber hinter dem gesetzlich gebotenen Schutzniveau zurückbleiben. In der Sache ist die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Videotheken und öffentlichen Bibliotheken an Sonn- oder Feiertagen zur Befriedigung an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung nach einer Freizeitgestaltung nicht erforderlich, weil DVDs, Computerspiele oder Bücher für eine Nutzung am Sonn- oder Feiertag vorausschauend schon an Werktagen ausgeliehen werden können. Es stellt keinen erheblichen Schaden i.S.d. des Gesetzes dar, wenn der Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe nicht hinter den Wunsch zurücktreten muss, spontan auftretende Bedürfnisse auch sofort erfüllt zu bekommen. Aus den gleichen Gründen ist eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Lotto- und Totogesellschaften zur elektronischen Geschäftsabwicklung nicht erforderlich. Soweit die Verordnung eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Callcentern zulässt, ist sie mit der gesetzlichen Ermächtigung nicht vereinbar, weil sie eine solche Beschäftigung in allen gegenwärtig und künftig vorhandenen Callcentern zulässt, gleichgültig für Unternehmen welcher Branche oder für welchen Tätigkeitsbereich das Callcenter tätig wird. Dass der Betrieb von Callcentern in diesem Umfang erforderlich ist, um tägliche oder an Sonn- und Feiertagen besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, lässt sich nicht feststellen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist die Zulassung einer Beschäftigung von Arbeitnehmern in den Bereichen der Getränkeindustrie und den Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis sowie dem damit zusammenhängenden Großhandel nicht schon deshalb nichtig, weil derartige Ausnahmen wegen ihrer Wesentlichkeit für den Sonn- und Feiertagsschutz nur durch den parlamentarischen (Bundes-)Gesetzgeber, nicht aber durch eine bloße Rechtsverordnung einer Landesregierung hätte zugelassen werden dürfen. Die Produktion in diesen Betrieben ist allerdings nur dann auch an Sonn- und Feiertagen zur Deckung täglicher Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich, wenn die Kapazitäten der Hersteller nicht ausreichen, um ohne eine Produktion rund um die Woche auch in Spitzenzeiten der Nachfrage, also insbesondere im Sommer bei länger anhaltenden Hitzeperioden, einen dann gegebenen erhöhten Bedarf täglich decken zu können. Hierzu fehlen bisher tatsächliche Feststellungen. Deshalb hat das Bundesverwaltungsgericht insoweit die Sache zur weiteren Klärung des Sachverhalts an den Verwaltungsgerichtshof zurückverweisen. Die Beschäftigung im Buchmachergewerbe durfte an Sonn- und Feiertagen zugelassen werden. Sie bezieht sich nach der Verordnung nur auf die Entgegennahme von Wetten für Veranstaltungen, die an diesen Tagen stattfinden und für die sich deshalb aus anderen Vorschriften ergeben muss, dass sie an diesen Tagen etwa aus Gründen der Freizeitgestaltung der Bevölkerung auch stattfinden dürfen. Ferner dürfen die Wetten nur an der Stätte der Veranstaltung entgegen genommen werden. Erfasst werden damit insbesondere Rennsportveranstaltungen, etwa auf Pferderennbahnen. Insoweit handelt es sich bei der Annahme von Wetten um einen spezifischen Sonn- und Feiertagsbedarf, der als Bestandteil des Freizeiterlebnisses, um nicht den Freizeitgenuss insgesamt zu gefährden, nur an Ort und Stelle befriedigt werden kann. BVerwG 6 CN 1.13 - Urteil vom 26. November 2014 Vorinstanz: VGH Kassel, 8 C 1776/12.N - Urteil vom 12. September 2013 -
Urteil vom 26.11.2014 - BVerwG 6 CN 1.13ECLI:DE:BVerwG:2014:261114U6CN1.13.0 EN Leitsätze: 1. Eine Gewerkschaft ist nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO antragsbefugt für einen Normenkontrollantrag gegen eine Rechtsverordnung, die in ihrem Tätigkeitsbereich gestützt auf § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zulässt. 2. Der Vorbehalt des Gesetzes erfordert nicht, dass die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in der Getränkeindustrie, in Eisfabriken und im Großhandel mit deren Erzeugnissen sowie in Callcentern wegen der Wesentlichkeit dieser Ausnahmen vom Sonn- und Feiertagsschutz nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber, nicht aber auf der Grundlage der Ermächtigung in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG durch den Verordnungsgeber zugelassen wird. 3. Die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Videotheken und die nicht weiter eingegrenzte Beschäftigung in Callcentern sind nicht im Sinne des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich, um erhebliche Schäden zu vermeiden. Rechtsquellen GG Art. 4 Abs. 1 und 2; Art. 9 Abs. 1 und 3; Art. 140 WRV Art. 139 VwGO § 47 Abs. 2 Satz 1; § 61; § 138 Nr. 6 ArbZG § 9, 10, 13 BedGewV § 1 Nr. 1, 4, 5, 8, 9, 10 Instanzenzug VGH Kassel - 12.09.2013 - AZ: VGH 8 C 1776/12.N Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 26.11.2014 - 6 CN 1.13 - [ECLI:DE:BVerwG:2014:261114U6CN1.13.0] Urteil BVerwG 6 CN 1.13 VGH Kassel - 12.09.2013 - AZ: VGH 8 C 1776/12.N In der Normenkontrollsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 26. November 2014 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Graulich, Dr. Möller, Hahn und Prof. Dr. Hecker für Recht erkannt: Soweit der Hessische Verwaltungsgerichtshof § 1 Abs. 1 Nr. 8 der Verordnung über die Zulassung der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen (Bedarfsgewerbeverordnung - BedGewV) vom 12. Oktober 2011 (GVBl I S. 664) für unwirksam erklärt hat, wird sein Urteil vom 12. September 2013 geändert. Insoweit werden die Normenkontrollanträge der Antragsteller abgelehnt. Soweit der Hessische Verwaltungsgerichtshof § 1 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 BedGewV für unwirksam erklärt hat, wird sein Urteil aufgehoben. In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Revision des Antragsgegners gegen das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. September 2013 zurückgewiesen. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gründe I 1 Die Antragsteller wenden sich mit ihren Normenkontrollanträgen gegen Bestimmungen der Hessischen Bedarfsgewerbeverordnung. 2 Gestützt auf § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und Abs. 2 Satz 1 ArbZG erließ die Hessische Landesregierung am 12. Oktober 2011 die Verordnung über die Zulassung der Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen (Bedarfsgewerbeverordnung - BedGewV), die im Gesetz- und Verordnungsblatt vom 1. November 2011 bekannt gemacht wurde (GVBl I S. 664). Die Verordnung regelt, dass abweichend von dem generellen Verbot des § 9 Abs. 1 ArbZG an Sonn- und Feiertagen in bestimmten Bereichen mit je unterschiedlichen zeitlichen Beschränkungen Arbeitnehmer beschäftigt werden dürfen, soweit die Arbeiten nicht an Werktagen durchgeführt werden können. Zu diesen Bereichen gehören Videotheken und öffentliche Bibliotheken (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 BedGewV), Brauereien, Betriebe zur Herstellung von alkoholfreien Getränken oder Schaumwein und Betriebe des Großhandels mit Erzeugnissen dieser Betriebe (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 BedGewV), Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis sowie Betriebe des Großhandels mit diesen Erzeugnissen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 BedGewV), Buchmachergewerbe zur Annahme von Wetten für Veranstaltungen (§ 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV), Dienstleistungsunternehmen mit der Entgegennahme von Aufträgen, der Auskunftserteilung und der Beratung per Telekommunikation (§ 1 Abs. 1 Nr. 9 BedGewV) sowie Lotto- und Totogesellschaften mit der elektronischen Geschäftsabwicklung (§ 1 Abs. 1 Nr. 10 BedGewV). 3 Die Antragstellerin zu 1, die ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, hat nach ihren Angaben in Hessen ca. 168 000 Mitglieder, von denen ca. 6 700 in Dienstleistungsunternehmen beschäftigt sind. Der Antragsteller zu 2, das Evangelische Dekanat Darmstadt-Stadt, ist aus den 20 Evangelischen Kirchengemeinden im Gebiet der Stadt Darmstadt gebildet. Es gehört wie der Antragsteller zu 3, das Evangelische Dekanat Vorderer Odenwald, zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Der Antragsteller zu 3 ist aus insgesamt 40 Evangelischen Kirchengemeinden gebildet. 4 Die Antragstellerin zu 1 hat am 3. September 2012, die Antragsteller zu 2 und zu 3 haben am 29. Oktober 2012 beim Verwaltungsgerichtshof Normenkontrollanträge gegen die Bedarfsgewerbeverordnung eingereicht und beantragt, § 1 Abs. 1 Nr. 1, 4, 5, 8, 9 und 10 BedGewV für unwirksam zu erklären. Die Antragsteller zu 2 und 3 haben Genehmigungen der Kirchenverwaltung der Landeskirche jeweils vom 23. August 2013 zur Erhebung der Klage im Verwaltungsstreitverfahren nachgereicht. Die Antragsteller haben geltend gemacht: Die Verordnung sei in dem angegriffenen Umfang rechtswidrig. Insoweit lägen die Voraussetzungen für Ausnahmen nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG nicht vor. Die Beschäftigung von Arbeitnehmern in diesen Bereichen diene nicht dazu, besondere Bedürfnisse in einem wesentlichen Teil der Bevölkerung zu decken, um dadurch erhebliche Schäden zu vermeiden. 5 Der Antragsgegner ist den Normenkontrollanträgen entgegengetreten und hat vorgetragen: Der Antrag der Antragstellerin zu 1 sei bereits unzulässig. Sie sei nicht antragsbefugt. Der Antrag sei unbegründet. Die angegriffenen Vorschriften der Verordnung dienten der Vermeidung erheblicher Schäden, die darin lägen, dass Bedürfnisse der Bevölkerung, namentlich solche der Freizeitgestaltung und der saisonalen Versorgung mit Eis und Getränken, nicht befriedigt würden. Er habe sich insbesondere daran orientiert, dass sich seit dem Inkrafttreten des Arbeitszeitgesetzes das Freizeit- und Verbraucherverhalten der Bevölkerung sowie die ökonomischen Rahmenbedingungen gravierend verändert hätten. 6 Der Verwaltungsgerichtshof hat durch das angefochtene Urteil die Ausnahmeregelungen in § 1 Abs. 1 Nr. 1, 4, 5, 8, 9 und 10 BedGewV für unwirksam erklärt: Die Normenkontrollanträge seien zulässig. Die Antragstellerin zu 1 könne geltend machen, durch die angegriffene Verordnung in ihrem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 139 WRV verletzt zu werden. Ob die Antragsteller zu 2 und zu 3 im Zeitpunkt ihrer Antragstellung berechtigt und fähig gewesen seien, ihre Rechte vor einem staatlichen Gericht ohne die nach der Dekanatssynodalordnung erforderliche Genehmigung der Kirchenleitung geltend zu machen, könne offenbleiben, weil die Kirchenleitung die erforderlichen Genehmigungen nachträglich erteilt habe. Die Normenkontrollanträge seien begründet. § 1 Abs. 1 Nr. 4 BedGewV (Getränkeindustrie und -großhandel), § 1 Abs. 1 Nr. 5 BedGewV (Fabriken für Roh- und Speiseeis sowie entsprechender Großhandel) und § 1 Abs. 1 Nr. 9 BedGewV (Callcenter) seien ohne hinreichende Ermächtigungsgrundlage ergangen. Der Verordnungsgeber habe hier im grundrechtsrelevanten Bereich wesentliche Grundentscheidungen getroffen, die nicht ihm zustünden, sondern dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten seien. Die Ausnahme in § 1 Abs. 1 Nr. 1 BedGewV zugunsten von Videotheken und öffentlichen Bibliotheken diene nicht der Vermeidung erheblicher Schäden. Die Nutzer dieser Einrichtungen könnten sich auf deren Schließung an Sonn- und Feiertagen einstellen, indem sie ihre Vorbereitungen für die Gestaltung dieser Tage schon am Samstag oder einem anderen arbeitsfreien Tag träfen. Auch die Ausnahme in § 1 Abs. 1 Nr. 10 BedGewV für Toto- und Lottogesellschaften diene nicht der Vermeidung erheblicher Schäden. Würden Gewinner und Gewinnquoten um einen Tag verzögert ermittelt und mitgeteilt, liege darin kein solcher Schaden. Die Ausnahme in § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV zugunsten des Buchmachergewerbes sei nicht hinreichend bestimmt. Nach der Begründung für die Bedarfsgewerbeverordnung habe diese Ausnahme offenbar nur Pferderennen erfassen sollen. Die Regelung sei jedoch nicht auf zertifizierte bzw. konzessionierte Buchmacher beschränkt, die ausschließlich Pferdewetten abschließen und vermitteln dürften. 7 Mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt der Antragsgegner sein Begehren weiter, die Normenkontrollanträge abzulehnen: Die Anträge seien unzulässig. Die Antragstellerin zu 1 sei nicht antragsbefugt. Es sei ausgeschlossen, dass sie durch die angegriffenen Vorschriften in eigenen Rechten, namentlich in ihrem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 140 GG, Art. 139 WRV verletzt werde. Der Sonn- und Feiertagsschutz nach diesen Bestimmungen sei nicht funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit angelegt. Den Antragstellern zu 2 und zu 3 fehle die Prozessführungsbefugnis. Ihnen seien kirchenrechtlich keine Aufgaben und damit korrespondierende Rechte zugewiesen, die sich auf den Sonntagsschutz bezögen. Bis zum Ablauf der Antragsfrist habe keine für die Antragstellung erforderliche Genehmigung der Kirchenleitung vorgelegen. Eine Heilung dieses Mangels durch eine nachträgliche Genehmigung scheide aus. Das angefochtene Urteil sei nicht mit Gründen versehen, soweit der Verwaltungsgerichtshof angenommen habe, die Ausnahme zugunsten des Buchmachergewerbes in § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV sei zu unbestimmt und deshalb unwirksam. Worin der Grund für die Unbestimmtheit liegen solle, sei nicht verständlich. In der Sache habe der Verwaltungsgerichtshof zu Unrecht angenommen, die Ausnahmen in § 1 Abs. 1 Nr. 4, 5 und 9 BedGewV verstießen gegen den Parlamentsvorbehalt. Der Gesetzgeber habe in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG alles Wesentliche für die Beantwortung der Frage geregelt, wann Ausnahmen vom Sonn- und Feiertagsschutz in Betracht kämen. Die Ausnahmen zugunsten der Videotheken, öffentlichen Bibliotheken und Lotto- und Totogesellschaften dienten der Vermeidung erheblicher Schäden für die Belange der Verbraucher. 8 Die Antragsteller wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen, namentlich ihre Ausführungen zu ihrer Antragsbefugnis. 9 Der Vertreter des Bundesinteresses hebt hervor: Der Verwaltungsgerichtshof überdehne die Anforderungen, die sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes ergäben. Der Gesetzgeber habe in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG alle abwägungserheblichen Gesichtspunkte sowie deren generelle Gewichtung klar benannt und damit alles Wesentliche für die Zulassung weiterer Ausnahmen von dem grundsätzlichen Verbot einer Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen selbst geregelt. II 10 Die Revision des Antragsgegners ist nur zum Teil begründet. 11 Der Verwaltungsgerichtshof hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht die Normenkontrollanträge aller Antragsteller für zulässig gehalten. In der Sache ist das angefochtene Urteil mit Bundesrecht vereinbar, soweit der Verwaltungsgerichtshof § 1 Abs. 1 Nr. 1 (Videotheken und öffentliche Bibliotheken) sowie § 1 Abs. 1 Nr. 10 BedGewV (Lotto- und Totogesellschaften) für ungültig erklärt hat. Das angefochtene Urteil verletzt aber Bundesrecht, soweit der Verwaltungsgerichtshof § 1 Abs. 1 Nr. 4 BedGewV (Brauereien und Betriebe zur Herstellung von alkoholfreien Getränken oder Schaumwein sowie Betriebe des Großhandels), § 1 Abs. 1 Nr. 5 BedGewV (Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis sowie Betriebe des Großhandels), § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV (Buchmachergewerbe) und § 1 Abs. 1 Nr. 9 BedGewV (Dienstleistungsunternehmen zur Entgegennahme von Aufträgen, Auskunftserteilung und Beratung per Telekommunikation - Callcenter) für ungültig erklärt hat. Hinsichtlich § 1 Abs. 1 Nr. 9 BedGewV ist das Urteil jedoch aus anderen Gründen im Ergebnis richtig. Ob dies hinsichtlich § 1 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 BedGewV ebenfalls zutrifft, lässt sich auf der Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht beurteilen. Dagegen erweist sich das angefochtene Urteil hinsichtlich § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig, ohne dass insoweit weitere tatsächliche Feststellungen erforderlich wären. 12 1. Die Anträge sind zulässig. 13 a) Der Antragstellerin zu 1, der ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, fehlt weder die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO noch das Rechtsschutzinteresse. 14 aa) Die Antragstellerin kann geltend machen, durch die angegriffenen Bestimmungen der Bedarfsgewerbeverordnung in ihren Rechten verletzt zu sein. Hierfür reicht ihr Vortrag aus, dass diese Bestimmungen mit der Ermächtigungsgrundlage in § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) vom 6. Juni 1994 (BGBl I S. 1170) nicht vereinbar sind. § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG ist auch den Interessen von Vereinen und Gewerkschaften zu dienen bestimmt. Die dort geregelten Voraussetzungen für den Erlass einer Rechtsverordnung sind in diesem Sinne drittschützend. Die begünstigte Gewerkschaft kann sich darauf berufen, die Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung hätten nicht vorgelegen und die Verordnung verstoße dadurch gegen eine auch sie schützende Rechtsnorm. 15 § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG konkretisiert mit den Voraussetzungen, unter denen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen ausnahmsweise beschäftigt werden dürfen, auf der Ebene des einfachen Rechts den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag, der sich für den Gesetzgeber aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV ergibt. Nach Art. 139 WRV bleiben der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Die Gewährleistung von Tagen der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung ist auch darauf ausgerichtet, den Grundrechtsschutz zu stärken; sie konkretisiert insofern die aus den jeweils einschlägigen Grundrechten folgenden staatlichen Schutzpflichten (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 - 1 BvR 2857, 2858/07 - BVerfGE 125, 39 <80 f.>). Der zeitliche Gleichklang einer für alle Bereiche regelmäßigen Arbeitsruhe ist ein grundlegendes Element für die Wahrnehmung der verschiedenen Formen sozialen Lebens. Die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen ist dabei auch für die Rahmenbedingungen des Wirkens der politischen Parteien, der Gewerkschaften und sonstiger Vereinigungen bedeutsam (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 a.a.O. S. 83). Der objektivrechtliche Schutzauftrag, der in der Sonn- und Feiertagsgarantie begründet ist (Art. 139 WRV), ist mithin auf die Stärkung des Schutzes derjenigen Grundrechte angelegt, die in besonderem Maße auf Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung angewiesen sind (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 a.a.O. S. 84). Mit der Gewährleistung rhythmisch wiederkehrender Tage der Arbeitsruhe fördert und schützt die Sonn- und Feiertagsgarantie dabei nicht nur die Ausübung der Religionsfreiheit, sondern dient neben weiteren Grundrechten ebenso der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), auch in Gestalt der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), die sich so effektiver wahrnehmen lassen (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 a.a.O. S. 82). 16 Rhythmisch wiederkehrende Tage der Arbeitsruhe und eine damit einhergehende regelmäßige Arbeitsruhe für alle fördern und erleichtern die Möglichkeit des Einzelnen, sich in einem Verein oder einer Koalition zu gemeinsamem Tun zusammenzufinden. Spiegelbildlich wird zugleich die Möglichkeit der Vereinigung selbst gefördert und erleichtert, ihren Zweck zu verwirklichen, der gerade in der Organisation von gemeinschaftlich wahrzunehmenden Interessen besteht. Wenn der Vereinigung abgeleitet aus der Vereinigungsfreiheit eine Antragsbefugnis zugebilligt wird, wird ihr mithin, anders als der Antragsgegner meint, nicht etwa erlaubt, die Rechte ihrer Mitglieder als eigene wahrzunehmen. Sie nimmt vielmehr ein Recht wahr, das ihr selbst als Vereinigung zusteht. 17 Zwar muss darüber hinaus die Vereinigung oder die Gewerkschaft durch die angegriffene Rechtsnorm in ihrem Tätigkeitsbereich betroffen sein. Sie kann eine Rechtsnorm nicht angreifen, wenn deren Anwendung sich nicht negativ auf die Verwirklichung gerade ihrer Vereinigungsfreiheit auswirken kann. An dieser Einschränkung scheitert die Antragsbefugnis der Antragstellerin indes nicht. Die Bedarfsgewerbeverordnung gestaltet den Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe im Dienstleistungsbereich aus, in dem die Antragstellerin tätig ist. 18 bb) Der Antragstellerin fehlt nicht das Rechtsschutzinteresse. 19 Das Erfordernis eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses neben der Antragsbefugnis soll nur vermeiden, dass die Gerichte in eine Normprüfung eintreten müssen, deren Ergebnis für den Antragsteller wertlos ist. Maßgeblich ist, ob der Antragsteller durch die von ihm angestrebte Nichtigerklärung der Norm seine Rechtsstellung verbessern kann (Urteil vom 23. April 2002 - BVerwG 4 CN 3.01 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 156). Dies ist hier schon deshalb der Fall, weil mit der Nichtigerklärung der angegriffenen Normen ein Eingriff in die Grundrechte der Antragstellerin unterbliebe. 20 b) Auch die Anträge der Antragsteller zu 2 und zu 3, der Evangelischen Dekanate Darmstadt-Stadt und Vorderer Odenwald, sind zulässig. 21 aa) Die Antragsteller zu 2 und zu 3 sind antragsbefugt. Sie können ebenfalls geltend machen, die angegriffenen Normen verstießen gegen den auch für sie drittschützenden § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG, der auf der Ebene des einfachen Rechts den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag konkretisiert, der sich für sie aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergibt. 22 Entgegen den insoweit geäußerten Zweifeln des Antragsgegners sind die Dekanate nicht bloße übergeordnete Verwaltungsinstanzen oder Dachverbände, die an dem eigentlichen religiösen Auftrag nicht teilhaben. Sie sind vielmehr in ihrem Bereich Religionsgemeinschaften und Träger des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Nach Art. 17 der Ordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Kirchenordnung - KO) in der Fassung vom 20. Februar 2010, Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (ABl) 2010 S. 118, hat das Dekanat den Auftrag, das kirchliche Leben in der Region zu gestalten und so das Evangelium in seinem Bereich zu bezeugen. Es dient der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben, der Förderung der Zusammenarbeit und dem missionarischen Wirken in der Welt. Das Dekanat trägt Verantwortung für die Entwicklung der kirchlichen Handlungsfelder in seinem Gebiet und fördert neue kirchliche Arbeit in seinem Gebiet. 23 bb) Die Antragsteller zu 2 und zu 3 sind nach § 61 Nr. 1 VwGO fähig, am Verfahren beteiligt zu sein. Sie sind juristische Personen in der Gestalt von Körperschaften des öffentlichen Rechts. 24 Dies hat der Verwaltungsgerichtshof in Auslegung und Anwendung irrevisiblen Rechts festgestellt. Nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes zu dem Vertrag des Landes Hessen mit den Evangelischen Kirchen in Hessen vom 10. Juni 1960 (GVBl I S. 54) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 4 dieses Vertrages sind die Kirchen, die Kirchengemeinden und die aus ihnen gebildeten Verbände Körperschaften des öffentlichen Rechts. Nach Art. 16 Satz 1 KO werden die Dekanate aus den Kirchengemeinden eines zusammengehörenden Gebietes gebildet. Hieraus hat der Verwaltungsgerichtshof geschlossen, dass die Dekanate Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. An die Auslegung irrevisiblen Rechts durch den Verwaltungsgerichtshof ist das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht auch dann gemäß § 173 Satz 1 VwGO, § 560 ZPO gebunden, wenn das irrevisible Recht Normen der Verwaltungsprozessordnung ergänzt, welche von Amts wegen zu prüfende Sachurteilsvoraussetzungen regeln (Urteil vom 1. Juli 1988 - BVerwG 4 C 15.85 - Buchholz 11 Art. 28 GG Nr. 69). 25 cc) Die Antragsteller zu 2 und zu 3 sind prozessführungsbefugt. 26 Die Prozessführungsbefugnis setzt voraus, dass der Antragsteller prozessual berechtigt ist, im eigenen Namen (also nicht als Vertreter eines anderen) den von ihm geltend gemachten Anspruch alleine (als alleiniger potentieller Rechtsinhaber) geltend zu machen. Die Prozessführungsbefugnis kann fehlen, wenn jemand ein Recht im eigenen Namen geltend macht, das nicht ihm oder ihm nur gemeinsam mit anderen zusteht. 27 Die Antragsteller zu 2 und zu 3 sind befugt, über das von ihnen behauptete Recht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einen Prozess im eigenen Namen zu führen. Daran ändert sich nichts dadurch, dass Beschlüsse des Dekanatssynodalvorstands über die Erhebung einer Klage vor einem staatlichen Gericht nach § 26 Abs. 3 Buchst. b der Dekanatssynodalordnung (DSO) vom 26. November 2003 (ABl 2004, 87) der Genehmigung durch die Kirchenverwaltung bedürfen und erst mit deren Erteilung wirksam werden. Die Vorschrift beschränkt nicht die Befugnis des Dekanatssynodalvorstands, das Dekanat nach außen wirksam zu vertreten. Diese Befugnis ist anderweit in § 24 DSO geregelt. Ebenso wie die weiteren Genehmigungsvorbehalte in § 26 Abs. 3 DSO räumt die Vorschrift der Kirchenverwaltung als Aufsichtsbehörde ein Kontrollrecht bei als wichtig angesehenen Vorgängen ein. Sie betrifft damit nur die interne Willensbildung. Das gerichtlich geltend gemachte Recht steht aber weiterhin allein den Antragstellern zu. Dass ihre interne Willensbildung vor Antragstellung an einem Mangel litt, nimmt ihnen nicht die Prozessführungsbefugnis. 28 Aus diesem Grund kann offenbleiben, ob eine Genehmigung, die erst nach Ablauf der Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO erteilt wird, sich noch auf die Zulässigkeit des Antrags auswirken könnte oder ob dies ausgeschlossen ist, weil die Antragsfrist eine Ausschlussfrist ist. 29 2. Die Normenkontrollanträge sind begründet, soweit § 1 Abs. 1 Nr. 1 BedGewV die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Videotheken und öffentlichen Bibliotheken zulässt. Insoweit ist die Verordnung von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG nicht gedeckt. 30 a) Entgegen der Auffassung der Antragsteller folgt dies allerdings (weder hier noch bei den weiteren Bestimmungen der Verordnung) nicht bereits daraus, dass § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG Ausnahmen nur für Betriebe zulasse, der Antragsgegner aber Ausnahmen für Bereiche zugelassen habe. 31 § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG ermächtigt zum Erlass einer Rechtsverordnung und damit zum Erlass genereller Regelungen. Der Verordnungsgeber soll nicht für einzelne konkrete Betriebe Ausnahmen zulassen, sondern muss die Betriebe nach Branchen oder Tätigkeitsfeldern abstrakt umschreiben. Wenn er dabei von „Bereichen“ spricht, weicht er mit dieser Wortwahl nicht von der Ermächtigungsgrundlage ab. 32 b) Jedoch liegen die Voraussetzungen der Ermächtigung nicht vor. Nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und Abs. 2 Satz 1 ArbZG können die Landesregierungen über die Ausnahmen in § 10 ArbZG hinaus durch Rechtsverordnung weitere Ausnahmen von dem Verbot einer Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zur Vermeidung erheblicher Schäden unter Berücksichtigung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Sonn- und Feiertagsruhe für Betriebe zulassen, in denen eine solche Beschäftigung zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist. 33 Die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Videotheken und öffentlichen Bibliotheken an Sonn- und Feiertagen ist nicht erforderlich, um an diesen Tagen besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen und anderenfalls eintretende erhebliche Schäden zu vermeiden. 34 aa) Es besteht ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen einerseits den Gründen, aus denen eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen ausnahmsweise zugelassen werden darf, und andererseits den Schäden, deren Vermeidung die Zulassung einer Ausnahme dienen soll. Die Schäden bestehen darin, dass Bedürfnisse der Bevölkerung nur unzureichend befriedigt werden. Zu diesen Bedürfnissen gehören auch solche, welche die Möglichkeit betreffen, die Freizeit an Sonn- und Feiertagen nach eigenen Vorstellungen zu nutzen. Wird die Freizeitgestaltung jedenfalls für beachtliche Teile der Bevölkerung beeinträchtigt, kann dies einen Schaden darstellen, zu dessen Vermeidung eine Ausnahme zugelassen werden kann. Dass von der Ermächtigung (nur) zur Vermeidung erheblicher Schäden Gebrauch gemacht werden darf, steuert dabei ebenso wie die vorgeschriebene Berücksichtigung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Sonn- und Feiertagsruhe die Anforderungen, die an Bedeutung und Gewicht des Bedürfnisses zu stellen sind, dessen sonst unterbleibende Befriedigung die Zulassung einer Ausnahme vom Beschäftigungsverbot rechtfertigen soll. Im Sinne des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG „erforderlich“ ist die Befriedigung täglich oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung nur, wenn ihr Unterbleiben einen erheblichen Schaden darstellt. Insoweit hat der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers bei der Auswahl der Bedürfnisse eingeschränkt, deren Befriedigung eine Ausnahme rechtfertigen soll. 35 bb) Bedürfnisse der Bevölkerung, die an Sonn- und Feiertagen besonders hervortreten, sind insbesondere solche, die der Freizeitgestaltung dienen. Der Schutz der Sonn- und Feiertage nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV ist nicht auf einen religiösen oder weltanschaulichen Sinngehalt der Sonn- und Feiertage beschränkt. Die Regelung zielt in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung auch auf die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung. An den Sonn- und Feiertagen soll grundsätzlich die Geschäftstätigkeit in Form der Erwerbsarbeit, insbesondere der Verrichtung abhängiger Arbeit, ruhen, damit der Einzelne diese Tage allein oder in Gemeinschaft mit anderen ungehindert von werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen nutzen kann. Die Bürger sollen sich an Sonn- und Feiertagen von der beruflichen Tätigkeit erholen und das tun können, was sie individuell für die Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele und als Ausgleich für den Alltag als wichtig ansehen (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 a.a.O. S. 85 f.). 36 Videotheken ermöglichen der Bevölkerung, die Freizeit zu gestalten, indem sie Bildträger, wie Videokassetten und DVD, aber auch Computerspiele vermieten. Sonn- und Feiertage bieten die nötige Zeit und Muße, um sich Filme eigener Wahl, also unabhängig vom jeweiligen Angebot der Lichtspieltheater und des Fernsehens, anzusehen. Jedoch ist es nicht erforderlich, Videotheken auch an Sonn- und Feiertagen offenzuhalten, damit dieses Bedürfnis befriedigt werden kann. 37 Bildträger, wie DVD, können ebenso wie Computerspiele werktags zum Gebrauch an Sonn- oder Feiertagen gemietet werden. Wer an Sonn- und Feiertagen eine DVD oder ein Computerspiel verwenden will, muss seinen Bedarf an einem der vorangehenden Werktage decken oder etwa von der Vorführung von Filmen an dem folgenden Sonntag oder Feiertag absehen (vgl. hierzu bereits: (Urteil vom 19. April 1988 - BVerwG 1 C 50.86 - BVerwGE 79, 236 <242>). 38 Der Verordnungsgeber kann zwar bei dem Ausgleich gegenläufiger Schutzgüter im Rahmen seines Gestaltungsspielraums auf eine geänderte soziale Wirklichkeit, insbesondere auf Änderungen im Freizeitverhalten, Rücksicht nehmen. Es mag sein, dass es inzwischen in weiten Kreisen der Bevölkerung als ein Mangel empfunden wird, wenn der spontane Wunsch, sich einen bestimmten Film anzusehen, nicht sogleich erfüllt werden kann. Insbesondere über das Internet lassen sich solche Wünsche ohne Aufschub realisieren. Dadurch mag die Einstellung der Bevölkerung weithin geprägt sein, die eine sofortige Verfügbarkeit von Angeboten voraussetzt und erwartet (so im Ergebnis: SächsVerfGH, Urteil vom 21. Juni 2012 - Vf. 77-II-11 A - NVwZ-RR 2012, 873 <879>). 39 Ein alltäglich zu befriedigendes Erwerbsinteresse potenzieller Kunden genügt jedoch grundsätzlich nicht, um Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Sonn- und Feiertage zu rechtfertigen. Er muss nicht allein deshalb zurückstehen, weil die Kunden ihren an Sonn- oder Feiertagen bestehenden Bedarf etwa an DVD-Filmen zwar an Werktagen decken könnten, ihn aber nicht an diesen Tagen, sondern aufgrund eines spontanen Entschlusses an Sonn- oder Feiertagen decken wollen. Es tritt unter Berücksichtigung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Sonn- und Feiertagsruhe kein erheblicher Schaden im Sinne der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ein, wenn Wünsche nach einer bestimmten Freizeitgestaltung nur durch vorausschauende Planung realisiert werden können. 40 cc) Aus denselben Gründen ist die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in öffentlichen Bibliotheken nicht erforderlich, um an diesen Tagen besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Für wissenschaftliche Präsenzbibliotheken gilt ohnedies eine Ausnahme bereits aufgrund von § 10 Abs. 1 Nr. 7 ArbZG. 41 3. Die Normenkontrollanträge sind ferner begründet, soweit § 1 Abs. 1 Nr. 10 BedGewV die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Lotto- und Totogesellschaften mit der elektronischen Geschäftsabwicklung zulässt. Auch insoweit ist die Verordnung von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG nicht gedeckt. 42 Lotto- und Totospielen mag als Freizeitaktivität den Sonn- und Feiertagen zugeordnet werden können. Die Entgegennahme von Spielscheinen ist jedoch nicht erfasst. Abwicklung meint die Arbeiten nach der Ermittlung des Ergebnisses. Die Kabinettsvorlage begründet die Regelung damit, in der Bevölkerung bestehe ein dringendes Informationsbedürfnis für die zeitnahe Auswertung von Lotto- und Totoergebnissen. Allerdings ist nicht erkennbar, dass ein Aufschub der Abwicklung des Spiels, also die Mitteilung des Ergebnisses einschließlich einer Gewinnquote, nicht auch auf die folgenden Werktage verschoben werden kann. Auch insoweit ist die sofortige Befriedigung des Informationsbedürfnisses nicht in einer Weise dringend, dass durch seinen Aufschub das Freizeitvergnügen erheblichen Schaden nimmt. 43 4. Die Normenkontrollanträge sind begründet, soweit § 1 Abs. 1 Nr. 9 BedGewV die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Dienstleistungsunternehmen mit der Entgegennahme von Aufträgen, der Auskunftserteilung und der Beratung per Telekommunikation (Callcentern) zulässt. 44 a) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist diese Ausnahme allerdings nicht schon deshalb von der Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt, weil sie wegen ihrer Wesentlichkeit nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber hätte getroffen werden dürfen. Mit dieser Begründung verletzt das angefochtene Urteil vielmehr Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). 45 aa) Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen. Im grundrechtsrelevanten Bereich bedeutet wesentlich in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“ (vgl. im Einzelnen: BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <251>). 46 bb) Gemessen hieran hatte nicht der (Bundes-)Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob für die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Callcentern eine Ausnahme zugelassen werden soll. Er durfte diese Entscheidung vielmehr dem Verordnungsgeber überlassen. Was für die Wahrung des Sonn- und Feiertagsschutzes und die Schutzpflichten für dadurch konkretisierte Grundrechte wesentlich ist, hat der Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz geregelt. Er hat festgelegt, dass das Verbot einer Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen die Regel ist, eine solche Beschäftigung nur als Ausnahme zugelassen werden kann. Er hat in § 13 Abs. 1 ArbZG festgelegt, welche gegenläufigen Belange hinreichendes Gewicht haben, um eine Ausnahme zu rechtfertigen, in Nr. 2 Buchst. a die Befriedigung von täglichen oder an Sonn- und Feiertagen besonders hervortretenden Bedürfnissen der Bevölkerung. Er hat hierzu weitere Voraussetzungen festgelegt, welche die Durchbrechung des Sonn- und Feiertagsschutzes als Ausnahme sichern. 47 Auf die Zahl der Betroffenen allein kommt es dabei nicht an. Maßgeblich ist, ob das mit der Ausnahme verfolgte Ziel ein solches Gewicht hat, das auch die Beschäftigung einer großen Zahl von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen gerechtfertigt erscheint, und ob die Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen ihren Ausnahmecharakter behält. Die hierfür notwendigen Vorgaben hat der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber durch die begrenzenden Voraussetzungen der Ermächtigung gemacht. 48 cc) Unzutreffend ist die weitere Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, die Ermächtigung zu Gunsten der Landesregierung lasse nur Annahmen zu, durch welche einem Regelungsbedürfnis regionaler Art Rechnung getragen werden solle. 49 Zwar enthält die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zu § 13 Abs. 2 ArbZG die Bemerkung, eine Landesverordnung komme insbesondere dann in Frage, wenn das Regelungsbedürfnis regionaler Art sei (BTDrucks 12/5888 S. 30). Schon diese Bemerkung bringt nicht zum Ausdruck, dass der Bundesgesetzgeber die Ermächtigung zu Gunsten der Landesregierungen auf Regelungsbedürfnisse regionaler Art hat begrenzen wollen. Erst Recht hat eine solche Begrenzung im Normtext keinen Anhalt gefunden. Der Gesetzgeber hat in erster Linie die Bundesregierung zum Erlass der Rechtsverordnung nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG ermächtigt und die Landesregierungen nur, soweit die Bundesregierung von dieser Ermächtigung keinen Gebrauch macht. In diesem Fall können die Landesregierungen „entsprechende Bestimmungen“ erlassen. Daraus ergibt sich, dass die Regelungskompetenz der Landesregierungen inhaltlich nicht eingeschränkt ist, sondern sie ihnen in demselben Umfang übertragen wird, wie sie der Bundesregierung zusteht. 50 dd) Eine fehlende Regelungsbefugnis des Verordnungsgebers kann ferner nicht daraus hergeleitet werden, dass dem Gesetzgeber - wie der Verwaltungsgerichtshof meint - bei der Neufassung des Arbeitszeitgesetzes, jedenfalls bei späteren Änderungen dieses Gesetzes, bekannt war, dass Callcenter auch an Sonn- und Feiertagen auf unterschiedlichen - nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs: zweifelhaften - Grundlagen tätig waren. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs trägt die Schlussfolgerung nicht, wenn der Gesetzgeber gleichwohl in den Katalog des § 10 ArbZG keine Ausnahme zu Gunsten von Callcentern aufgenommen habe, habe er damit zugleich die Wertung getroffen, insoweit überwiege der Sonntagsschutz die Belange der Betriebe und der Bevölkerung, die ihre Dienstleistungen nachfrage. 51 Dass der Gesetzgeber in möglicher Kenntnis der Verhältnisse Callcenter nicht mit einer eigenen gesetzlichen Ausnahme bedacht hat, stellt kein beredtes Schweigen dar. Der Gesetzgeber kann von einer gesetzlichen Regelung allein deshalb Abstand genommen haben, weil er die Regelung dieses Sachverhalts beispielsweise wegen dessen geringerer Bedeutung dem Verordnungsgeber überlassen wollte. 52 b) Das angefochtene Urteil erweist sich jedoch aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG für die Zulassung einer Ausnahme sind nicht erfüllt. Weitere tatsächliche Feststellungen sind hierfür nicht erforderlich. Der Senat kann deshalb insoweit in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). 53 § 1 Abs. 1 Nr. 9 BedGewV erfasst zum einen Dienstleistungsunternehmen, die als Dienstleister für andere Unternehmen per Telekommunikation Aufträge entgegennehmen, Auskünfte erteilen und beraten. Er erfasst zum anderen Dienstleistungsunternehmen, die durch eigene Beschäftigte bezogen auf ihre eigenen Dienstleistungen solche Leistungen anbieten. In beiden Fällen ist nicht weiter eingegrenzt, in welchen Branchen oder Tätigkeitsfeldern diese Leistungen sollen erbracht werden dürfen. 54 Mit diesem Inhalt ist die Norm mit der Ermächtigungsgrundlage nicht vereinbar. Ob die engen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage erfüllt sind, lässt sich angesichts der Weite der Ausnahme und der damit einhergehenden mangelnden Voraussehbarkeit der erfassten Branchen und Tätigkeitsfelder nicht prüfen. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass der Betrieb von Callcentern gleichgültig in welcher Branche oder für welche Tätigkeitsfelder stets erforderlich ist, um tägliche oder an Sonn- und Feiertagen besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. 55 Unter den Branchen, für die Callcenter tätig sind, sind auch solche, bei denen eine Ausnahme vom Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen mit der Ermächtigungsgrundlage nicht vereinbar ist. Dazu gehört namentlich der Versandhandel, für den insbesondere der Antragsgegner aufgrund eines gewandelten Verbraucherverhaltens ein Bedürfnis der Bevölkerung an der Entgegennahme von Aufträgen, der Auskunftserteilung und der Beratung an Sonn- und Feiertagen per Telekommunikation annehmen möchte. Zwar mag die Muße eines Sonn- und Feiertags vermehrt auch dazu genutzt werden, die Angebote des Versandhandels in Ruhe zu sichten und überlegte Kaufentscheidungen vorzubereiten. Jedoch ist die Erfüllung eines Erwerbswunsches durch Abgabe eines Auftrags, gegebenenfalls nach vorheriger Einholung zusätzlicher Auskünfte oder weiterer Beratung auch an den folgenden Werktagen ohne Weiteres möglich. Das Bedürfnis nach weiteren Auskünften, nach Beratung oder Erteilung eines Auftrags muss nicht sofort befriedigt werden. Diese Tätigkeiten sind eng der werktäglichen Geschäftigkeit und den alltäglichen Erwerbswünschen zuzurechnen. Ihr Aufschub ist hinzunehmen; eine erhebliche Einbuße des Freizeitwerts ist mit ihm nicht verbunden. 56 Allenfalls für einzelne Branchen mag es vorstellbar sein, dass angesichts eines gewandelten Verbraucherverhaltens oder aus anderen Gründen an Sonn- und Feiertagen ein Bedürfnis nach Entgegennahme von Aufträgen, nach Auskunftserteilung und Beratung per Telekommunikation besteht, welches auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Sonn- und Feiertagsruhe eine Beschäftigung von Arbeitnehmern in Callcentern als erforderlich erscheinen lässt. Mangels jeden Anhaltspunktes im Normtext ist es den Gerichten aber verwehrt, selbst einen eigenen Katalog zulässiger Felder für eine Betätigung von Callcentern an Sonn- und Feiertagen aufzustellen, um die Norm zumindest teilweise aufrechtzuerhalten. Soweit über Callcenter Dienste abgewickelt werden, die an Sonn- und Feiertagen erreichbar sein müssen, um sonst eintretende erhebliche Schäden an Rechtsgütern zu verhindern, bedarf es einer übergangsweisen Aufrechterhaltung der Norm nicht. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG dürfen Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen in Notdiensten beschäftigt werden. Die Vorschrift ist weit auszulegen. Sie erfasst alle Dienstleistungen und Tätigkeiten zur Hilfeleistung, wie Schlüsseldienste, Reparaturnotdienste und Sperrannahmedienste der Banken und Kreditkartenunternehmen. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Dienste in den Unternehmen selbst oder über ausgelagerte Callcenter erreichbar sind. 57 5. Ob die Normenkontrollanträge begründet sind, soweit § 1 Abs. 1 Nr. 4 BedGewV die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Brauereien, Betrieben zur Herstellung von alkoholfreien Getränken oder Schaumwein sowie in Betrieben des Großhandels zulässt, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. 58 a) Insoweit verletzt der Verwaltungsgerichtshof aus den dargelegten Gründen mit seiner Annahme Bundesrecht, diese Ausnahme sei schon deshalb nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt, weil sie wegen ihrer Wesentlichkeit nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber hätte getroffen werden dürfen. 59 b) Das angefochtene Urteil erweist sich nicht schon deshalb aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig, weil - wie die Antragsteller geltend gemacht haben - die Verordnung (insgesamt und deshalb auch bezogen auf diese Regelung) dem Abwägungsgebot nicht genügt und aus diesem Grund unabhängig davon ungültig ist, ob die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG für die in Rede stehende Ausnahme vorgelegen haben. 60 Die Gültigkeit einer untergesetzlichen Norm kann in der Regel nicht aus Mängeln im Abwägungsvorgang hergeleitet werden. Der parlamentarische Gesetzgeber leitet im Rahmen seiner Verordnungsermächtigung eigene Gestaltungsfreiräume an den Verordnungsgeber weiter. Mit der Rechtssetzung durch Verordnung sind vorbehaltlich gesetzlicher Beschränkungen die Bewertungsspielräume verbunden, die sonst dem parlamentarischen Gesetzgeber selbst zustehen. Eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung des Abwägungsvorgangs des Normgebers setzt daher bei untergesetzlichen Normen eine besonders ausgestaltete Bindung des Normgebers an gesetzlich formulierte Abwägungsdirektiven voraus, wie sie etwa im Bauplanungsrecht vorgegeben sind. Sind solche - wie hier - nicht vorhanden, kann die Rechtswidrigkeit einer Norm mit Mängeln im Abwägungsvorgang nicht begründet werden. Entscheidend ist allein, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspricht (Urteil vom 26. April 2006 - BVerwG 6 C 19.05 - BVerwGE 125, 384 Rn. 16). 61 c) Ob das angefochtene Urteil sich deshalb aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist, weil die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG für die Zulassung einer Ausnahme nicht erfüllt sind, kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht beurteilen. Insoweit muss die Sache zur weiteren Klärung des Sachverhalts an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). 62 Auf der bisherigen Tatsachengrundlage lässt sich weder feststellen noch ausschließen, dass die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Brauereien, Betrieben zur Herstellung von alkoholfreien Getränken oder Schaumwein sowie in Betrieben des Großhandels erforderlich ist, um tägliche oder an diesen Tagen besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. 63 aa) Allerdings liegt auf der Hand, dass Getränke nicht erst an Sonn- und Feiertagen produziert werden und zur Verfügung stehen, um Bedürfnisse der Endverbraucher noch am selben Tag zu befriedigen. Soweit es um Brauereien und Betriebe zur Herstellung von alkoholfreien Getränken und Schaumwein geht, kann nur die Tatbestandsvariante in Betracht kommen, dass die Beschäftigung der Arbeitnehmer (auch) an Sonn- und Feiertagen für die Befriedigung täglicher Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist. § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG verlangt in dieser Variante („täglicher Bedarf“) nicht, dass durch die Beschäftigung an dem Sonntag ein Bedarf an demselben Sonntag befriedigt wird. 64 Dabei kann unterstellt werden, dass ein tägliches Bedürfnis an Brauereierzeugnissen und alkoholfreien Getränken vorhanden ist. Regelmäßig wird allerdings die Befriedigung dieses Bedürfnisses keine Produktion auch an Sonn- und Feiertagen erfordern, sondern durch den Ausstoß an Getränken an den übrigen Tagen gedeckt werden können. Soweit § 1 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a und b BedGewV eine Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen nur in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober des Jahres zulässt, darf die Vorschrift ferner nicht dahin missverstanden werden, dass in dieser Zeit durchgängig an jedem Sonn- und Feiertag die Beschäftigung von Arbeitnehmern zulässig ist. Die Inanspruchnahme dieser Ausnahme steht unter dem allgemeinen Vorbehalt in § 1 Abs. 1 BedGewV, dass die Arbeiten nicht an Werktagen durchgeführt werden können. Dies kann allenfalls in Spitzenzeiten der Nachfrage zutreffen, also insbesondere im Sommer bei länger anhaltenden Hitzeperioden, wenn etwa die Produktion aus den Zeiten geringerer Nachfrage und eine insoweit mögliche Lagerhaltung nicht mehr ausreicht, auch den jetzt erhöhten Bedarf zu decken, und die Kapazitäten der Getränkehersteller aus nachvollziehbaren wirtschaftlichen Gründen nicht auf einen solchen Spitzenbedarf ausgerichtet sind. Sie könnten deshalb in derartigen Spitzenzeiten auf eine Produktion rund um die Woche angewiesen sein, um den dann täglich gegebenen erhöhten Bedarf auch (zeitversetzt zur Produktion) täglich decken zu können. 65 bb) Soweit die Ausnahme sich auf Betriebe des Großhandels bezieht (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c BedGewV), kommt als Grundlage der Regelung nur die Tatbestandsalternative in Betracht, dass die Belieferung der Kundschaft zur Befriedigung von Bedürfnissen dient, die an Sonn- und Feiertagen besonders hervortreten. 66 Für die Befriedigung der täglichen Bedürfnisse ist eine Ausnahme nicht erforderlich. Außerhalb der Sonn- und Feiertage werden die Bedürfnisse der Bevölkerung nach einer Versorgung mit Getränken in erster Linie über Verkaufsstellen befriedigt. Für ihre Belieferung ist der Großhandel nicht auf die Sonn- und Feiertage angewiesen. Selbst ein größerer Absatz von Getränken am Wochenende kann durch eine Belieferung am frühen Montag ausgeglichen werden. 67 An Sonn- und Feiertagen treten Bedürfnisse der Bevölkerung an Erzeugnissen der Brauereien, an alkoholfreien (Erfrischungs-)Getränken und an Schaumwein besonders hervor in Restaurants, Ausflugslokalen und an diesen Tagen geöffneten Vergnügungsstätten. Restaurants können sich grundsätzlich an Werktagen ausreichend eindecken. Die Ermächtigung des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG dient nicht dazu, Fehldispositionen einzelner Unternehmen auszugleichen (zutreffend: Richardi/Annuß, NZA 1999, 953 <956>). Dass eine Belieferung dieser Kunden des Großhandels an Sonn- und Feiertagen über den Ausgleich von Fehldispositionen hinaus erforderlich ist, die Bedürfnisse der Bevölkerung dort zu befriedigen, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht festgestellt. Auch insoweit ist dem Senat eine abschließende Entscheidung nicht möglich. 68 6. Ob die Normenkontrollanträge begründet sind, soweit § 1 Abs. 1 Nr. 5 BedGewV die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in Fabriken zur Herstellung von Roh- und Speiseeis sowie in Betrieben des Großhandels mit diesen Erzeugnissen zulässt, kann der Senat ebenfalls nicht abschließend entscheiden. 69 Auch insoweit verletzt der Verwaltungsgerichtshof aus den dargelegten Gründen mit seiner Annahme Bundesrecht, diese Ausnahme sei schon deshalb nicht von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt, weil sie wegen ihrer Wesentlichkeit nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber hätte getroffen werden dürfen. Ob die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG für die Zulassung dieser Ausnahme erfüllt sind und das angefochtene Urteil sich deshalb aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist, kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht entscheiden. Insoweit muss die Sache aus den ebenfalls bereits dargelegten Gründen zur weiteren Klärung des Sachverhalts an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen werden. 70 7. Die Normenkontrollanträge sind unbegründet, soweit § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen im Buchmachergewerbe zur Annahme von Wetten für Veranstaltungen zulässt. Insoweit ist die Verordnung von der Ermächtigungsgrundlage des § 13 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a ArbZG gedeckt. 71 a) Mit seiner gegenteiligen Annahme verletzt der Verwaltungsgerichtshof Bundesrecht. 72 aa) Entgegen der Rüge des Antragsgegners leidet das angefochtene Urteil insoweit nicht an einem Verfahrensfehler im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs genügen dem formalen Begründungserfordernis (zu ihm etwa: Beschluss vom 4. Dezember 1998 - BVerwG 8 B 187.98 - Buchholz 310 § 6 VwGO Nr. 1). Es ist erkennbar, mit welchen Überlegungen der Verwaltungsgerichtshof zu seiner Annahme gelangt ist, § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV sei zu unbestimmt. Er hat der Begründung des Entwurfs der Rechtsverordnung entnommen, der Verordnungsgeber habe mit dieser Norm eine Ausnahme zu Gunsten der Buchmacher auf Pferderennbahnen für Rennen an Sonn- und Feiertagen schaffen wollen. Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Wortlaut der Norm eine so eingeschränkte Ausnahme aber nicht entnehmen können und deshalb gemeint, der Verordnungsgeber habe seinen Regelungswillen nicht hinreichend bestimmt zum Ausdruck gebracht. Aus diesen Überlegungen mag sich eine Unbestimmtheit der Norm nicht ergeben können. Das begründet aber keinen formalen Mangel im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO. 73 bb) Bundesrecht verletzt aber die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV sei nicht hinreichend bestimmt. Die Norm mag auslegungsbedürftig sein, sie ist aber auch auslegungsfähig. 74 Nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV dürfen Arbeitnehmer im Buchmachergewerbe nicht schlechthin an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden, sondern nur zur Entgegennahme von Wetten für Veranstaltungen. Dabei kann es sich nur um solche Veranstaltungen handeln, die an diesem Tage stattfinden und für die sich deshalb aus anderen Vorschriften ergeben muss, dass sie an diesen Tagen etwa aus Gründen der Freizeitgestaltung der Bevölkerung auch stattfinden dürfen (hierzu: § 10 Abs. 1 Nr. 7 ArbZG). Ferner ergibt sich aus der Bezugnahme auf Veranstaltungen zugleich, dass die Wetten nur an der Stätte der Veranstaltung entgegen genommen werden dürfen. Erfasst werden damit insbesondere Rennsportveranstaltungen, etwa auf Pferderennbahnen. 75 b) In dieser Auslegung ist § 1 Abs. 1 Nr. 8 BedGewV von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Bei der Annahme von Wetten für Veranstaltungen am Veranstaltungsort handelt es sich um einen spezifischen Sonn- und Feiertagsbedarf, der als Bestandteil des Freizeiterlebnisses aus der Situation geboren ist und, um nicht den Freizeitgenuss insgesamt zu gefährden, nur an Ort und Stelle befriedigt werden kann (zutreffend: Richardi/Annuß, a.a.O.).
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2009-8
20.02.2009
Pressemitteilung Nr. 8/2009 vom 20.02.2009 EN Mangelhafte Regelung der Höchstaltersgrenze für Lehrerlaufbahnen in NRW Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat über mehrere Verfahren von angestellten Lehrern entschieden, die ihre Übernahme in ein Beamtenverhältnis auf Probe im Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen anstreben. Das beklagte Bundesland hat eine Verbeamtung abgelehnt, weil die Kläger bei ihrer Einstellung die laufbahnrechtliche Höchstaltersgrenze von 35 Jahren überschritten hatten. Die Klagen der Lehrer sind vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht erfolglos geblieben. Mit der Revision haben die Kläger geltend gemacht, die Höchstaltersgrenze verstoße gegen Verfassungsrecht und gegen das im Jahr 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz; die Höchstaltersgrenze bedeute eine Diskriminierung wegen des Alters. Außerdem haben sie gerügt, dass das beklagte Land durch verschiedene Verwaltungserlasse bei bestimmten Bewerbergruppen mit Mangelfächern Überschreitungen der Höchstaltersgrenze ermöglicht habe. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und das beklagte Land zu einer erneuten Entscheidung über die Verbeamtung der Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet. Höchstaltersgrenzen für die Übernahme in ein Beamtenverhältnis seien grundsätzlich nicht zu beanstanden. Sie dienten der Herbeiführung eines angemessenen Verhältnisses zwischen der aktiven Dienstzeit als Beamter und den späteren Versorgungsansprüchen, einer ausgewogenen Altersstruktur in den Laufbahnen und der Absicherung des für das Berufsbeamtentum prägenden Lebenszeitprinzips. Eine Höchstaltersgrenze von 35 Jahren für die Einstellung in eine Lehrerlaufbahn sei ferner mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vereinbar, weil sie legitimen Zielen diene und die Bewerber nicht unangemessen beeinträchtige. Mangelhaft sei jedoch die konkrete Ausgestaltung der hier maßgeblichen Höchstaltersgrenze durch die Laufbahnverordnung des beklagten Landes. Das führe zu ihrer Unwirksamkeit. Der vom Gesetzgeber zu einer Regelung der Laufbahnbestimmungen ermächtigte Verordnungsgeber müsse die wesentlichen Voraussetzungen für Überschreitungen der Altersgrenze selbst regeln und dürfe dies nicht voraussetzungslos der Verwaltung überlassen. Durch die an keine Vorgaben gebundene Ausnahmebefugnis in der Laufbahnverordnung habe er jedoch zugelassen, dass die Höchstaltersgrenze für Lehrerlaufbahnen in weitreichendem Umfang durch Verwaltungserlasse und nicht mehr durch die Verordnung selbst bestimmt werde. Bei den Ausnahmen für Bewerbergruppen mit Mangelfächern sei zudem der für den Zugang zu jedem öffentlichen Amt entscheidende Leistungsgrundsatz außer Acht gelassen worden. Zusätzlich hat das Bundesverwaltungsgericht in einzelnen Fällen eine unzureichende Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, von Grundwehrdienstzeiten und von Schwerbehinderungen beanstandet. BVerwG 2 C 18.07 - Urteil vom 19.02.2009
Urteil vom 19.02.2009 - BVerwG 2 C 18.07ECLI:DE:BVerwG:2009:190209U2C18.07.0 EN Leitsätze: 1. Altersgrenzen für die Einstellung in eine Beamtenlaufbahn bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Altersgrenzen für die Einstellung und Übernahme in eine Beamtenlaufbahn werden nicht durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ausgeschlossen. 2. Der von dem Gesetzgeber zu einer Regelung von Altersgrenzen ermächtigte Verordnungsgeber muss diese Regelung einschließlich der Ausnahmetatbestände selbst treffen; er darf die Ausnahmen nicht der Verwaltungspraxis überlassen. Urteil BVerwG 2 C 18.07 OVG Münster - 15.03.2007 - AZ: OVG 6 A 4625/04 - OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 15.03.2007 - AZ: OVG 6 A 4625/04 In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. Februar 2009 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kugele und Dr. Heitz, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Buchheister für Recht erkannt: Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2007 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 14. Oktober 2004 werden aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 13. September 2001 und des Widerspruchsbescheids vom 21. Dezember 2001 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Kläger und der Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte. Gründe I 1 Der am ... 1961 geborene Kläger legte nach Studium und Vorbereitungsdienst im Jahr 1999 die Zweite Staatsprüfung für die Lehrämter der Sekundarstufe I und II in den Fächern Biologie und Geografie ab. Nach mehreren befristeten Arbeitsverträgen als Lehrkraft stellte der Beklagte ihn mit Wirkung vom 1. Februar 2001 auf unbestimmte Dauer als vollbeschäftigte Lehrkraft in den Schuldienst des Landes ein. 2 Mit Anträgen vom 18. Januar und 5. Juni 2001 begehrte der Kläger die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe und bezog sich auf den sogenannten Mangelfacherlass des Beklagten vom 22. Dezember 2000, der Ausnahmen von der Altersgrenze für Bewerber mit bestimmten Mangelfächern vorsah. Der Beklagte lehnte die Übernahme in das Beamtenverhältnis mit Bescheid vom 13. September 2001 ab, weil der Kläger die laufbahnrechtliche Altersgrenze von 35 Jahren überschritten habe. Eine Ausnahme nach dem Mangelfacherlass komme nicht in Betracht, weil der Kläger über keine Lehramtsbefähigung in einem Mangelfach verfüge. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Dezember 2001 zurück. 3 Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 15. März 2007 im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Übernahme in das Beamtenverhältnis an der laufbahnrechtlichen Altersgrenze von 35 Jahren scheitere, die mit höherrangigem Recht, insbesondere dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, vereinbar sei. Die Ungleichbehandlung wegen des Alters sei objektiv und angemessen sowie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt. Die Altersgrenze solle ein angemessenes Verhältnis zwischen der Beschäftigungszeit als Beamter und dem Anspruch auf Versorgung herstellen und eine ausgewogene Altersstruktur gewährleisten. Sie sei zur Erreichung dieser Ziele erforderlich und angemessen. Dem Gesetzgeber stehe ein Gestaltungsspielraum zu, bei dem er das öffentliche Interesse an einer möglichst niedrigen Altersgrenze sowie das private Interesse des Bewerbers an einer Verbeamtung auch noch im fortgeschrittenen Alter zu berücksichtigen habe, ferner das öffentliche Interesse an der Gewinnung qualifizierter Lehrkräfte. Hinzu träten tatsächliche Umstände wie etwa die Entwicklung der Versorgungslasten. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers oder des ermächtigten Verordnungsgebers, den sich daraus ergebenden Wertungsspielraum auszufüllen. Die gerichtliche Überprüfung beschränke sich darauf, ob die Grenzen des Gestaltungsspielraums eingehalten worden seien. Danach sei eine Altersgrenze von 35 Jahren für den höheren Dienst nicht zu beanstanden. Die berufliche Ausbildung könne in aller Regel bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres abgeschlossen werden. Zudem werde bestimmten Verzögerungsgründen Rechnung getragen. Eine andere Altersgrenze in anderen Bundesländern begründe angesichts des Gestaltungsspielraums und der länderspezifischen Besonderheiten keine Unangemessenheit der hier festgesetzten Altersgrenze. Die Altersgrenze stehe ferner im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht. Die Richtlinie 2000/78/EG sehe keine anderen Rechtfertigungsgründe vor als die nationale Regelung. Eine Ausnahme durch Verwaltungserlass bestehe zugunsten des Klägers nicht. 4 Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der er einen Verstoß der laufbahnrechtlichen Altersgrenze gegen höherrangiges Recht sowie eine rechtswidrige Ermessenspraxis des Beklagten bei der Zulassung von Ausnahmen geltend macht. Er beantragt, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. März 2007 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 14. Oktober 2004 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 13. September 2001 und des Widerspruchsbescheids vom 21. Dezember 2001 zu verpflichten, ihn in ein Beamtenverhältnis auf Probe zu übernehmen. 5 Der Beklagte verteidigt das angegriffene Berufungsurteil. Er beantragt, die Revision zurückzuweisen. 6 Der Vertreter des Bundesinteresses tritt der Revision ebenfalls entgegen. II 7 Die Revision hat teilweise Erfolg. Zwar kann der Kläger keine Verpflichtung des Beklagten erreichen, ihn in ein Beamtenverhältnis zu übernehmen. Der Beklagte ist aber verpflichtet, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Begehren des Klägers eine laufbahnrechtliche Altersgrenze entgegensteht. 8 Nach § 52 Abs. 1 der Verordnung über die Laufbahnen der Beamten im Lande Nordrhein-Westfalen - LVO - vom 23. November 1995 (GV. NW 1996 S. 1) in der Fassung des Gesetzes vom 3. Mai 2005 (GV. NW S. 498) darf in die Lehrerlaufbahnen als Laufbahnbewerber in ein Beamtenverhältnis auf Probe nur eingestellt oder übernommen werden, wer das 35. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LVO können auf Antrag der obersten Dienstbehörde durch Entscheidung des Innenministeriums und des Finanzministeriums Ausnahmen von dem Höchstalter zugelassen werden. Diese Bestimmungen sind unwirksam. 9 1. Die Bestimmung einer Altersgrenze für die Übernahme in ein öffentliches Amt bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Denn Altersgrenzen schränken den Leistungsgrundsatz ein, dessen Geltung durch Art. 33 Abs. 2 GG für den Zugang zu jedem öffentlichen Amt unbeschränkt und vorbehaltlos gewährleistet wird. Bewerber dürfen nur aus Gründen zurückgewiesen werden, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung betreffen (Urteile vom 28. Oktober 2004 - BVerwG 2 C 23.03 - BVerwGE 122, 147 <150> = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 30 und vom 17. August 2005 - BVerwG 2 C 37.04 - BVerwGE 124, 99 <102> = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 32). Das Alter kann nur dann ein Eignungsmerkmal im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG darstellen, wenn daraus geschlossen werden kann, dass Bewerber typischerweise den Anforderungen des Amtes nicht mehr genügen, wenn sie ein bestimmtes Alter überschritten haben. 10 Durch Altersgrenzen für die Einstellung und Übernahme in ein Beamtenverhältnis kann der Leistungsgrundsatz gemäß Art. 33 Abs. 2 GG eingeschränkt werden, weil sie im Lebenszeitprinzip als einem durch Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums angelegt sind (Urteil vom 28. Oktober 2004 a.a.O. S. 153). Die Gewichtung der beiden gegenläufigen Verfassungsgrundsätze, wie sie in der Festsetzung von Altersgrenzen zum Ausdruck kommt, erfordert eine normative Regelung. Sie darf nicht der Verwaltungspraxis überlassen werden. Soweit in der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts teilweise eine Bestimmung von Altersgrenzen durch Verwaltungserlasse für ausreichend erachtet wurde (Urteile vom 31. Januar 1980 - BVerwG 2 C 15.78 - Buchholz 232 § 15 BBG Nr. 11 und vom 23. Oktober 1980 - BVerwG 2 C 22.79 - Buchholz 238.4 § 37 SG Nr. 2), hält der Senat daran nicht fest. 11 Die Verordnungsermächtigung in § 15 Abs. 1 Satz 1 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - LBG - bildet eine ausreichende gesetzliche Grundlage zur Regelung von laufbahnrechtlichen Altersgrenzen durch den Verordnungsgeber (Urteile vom 18. Juni 1998 - BVerwG 2 C 20.97 - Buchholz 237.7 § 15 NWLBG Nr. 2, vom 18. Juni 1998 - BVerwG 2 C 6.98 - Buchholz 237.7 § 15 NWLBG Nr. 3, vom 20. Januar 2000 - BVerwG 2 C 13.99 - Buchholz 237.7 § 15 NWLBG Nr. 4 und vom 13. Juli 2000 - BVerwG 2 C 21.99 - Buchholz 237.7 § 15 NWLBG Nr. 5). Die Vorschrift ermächtigt dazu, unter Beachtung der Erfordernisse der einzelnen Laufbahnen durch Rechtsverordnung Regelungen über die Laufbahnen der Beamten zu erlassen. Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung sind auch in Bezug auf Altersgrenzen für die Einstellung hinreichend bestimmt. Es ist unschädlich, dass die Ermächtigung die Bestimmung von Altersgrenzen nicht ausdrücklich erwähnt. Die Befugnis des Verordnungsgebers, bei der Regelung der Laufbahnen auch Altersgrenzen für die Einstellung vorzusehen, lässt sich aus dem Gesetz ermitteln. Eine Ermächtigung zum Erlass von Vorschriften über die Laufbahnen der Beamten befugt den Verordnungsgeber zum Erlass derjenigen Vorschriften, durch die herkömmlicherweise das Laufbahnwesen der Beamten gestaltet wird (vgl. Lemhöfer, in: Plog/Wiedow, BBG, § 15 BBG Rn. 1a; Zängl, in: GKÖD, § 15 BBG Rn. 3; Kathke, in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht, Teil C § 15 LBG Rn. 88). Hierzu gehören auch Altersgrenzen für die Einstellung in ein Beamtenverhältnis (vgl. Urteil vom 31. Januar 1980 a.a.O.). 12 Die vom Verordnungsgeber zu beachtenden Maßstäbe zur Bestimmung einer Altersgrenze für eine konkrete Laufbahn sind durch ihren Zweck vorgegeben. Dieser besteht vor allem darin, in Anbetracht der Dauerhaftigkeit des Beamtenverhältnisses ein angemessenes Verhältnis von Arbeitsleistung und Versorgungsansprüchen sicherzustellen. Daneben kann dem Interesse des Dienstherrn an ausgewogenen Altersstrukturen Bedeutung beigemessen werden (Urteil vom 28. Oktober 2004 a.a.O. S. 153). 13 2. Laufbahnrechtliche Altersgrenzen für Einstellung und Übernahme in das Beamtenverhältnis werden durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz - AGG - vom 14. August 2006 (BGBl I S. 1897), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Dezember 2007 (BGBl I S. 2840), nicht ausgeschlossen. Mit dem Gesetz wurden die Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl Nr. L 303 S. 16) in nationales Recht umgesetzt. 14 a) Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist auf Bewerber für den Beamtenstatus anwendbar. Nach § 24 Nr. 1 AGG gelten die Vorschriften des Gesetzes entsprechend für Beamte unter Berücksichtigung ihrer besonderen Rechtsstellung. Der Begriff der Beschäftigten im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes schließt die Bewerber um ein Beschäftigungsverhältnis ein (§ 6 Abs. 1 Satz 2 AGG). Die Altersgrenzen für die Einstellung oder Übernahme in ein Beamtenverhältnis unterfallen auch dem sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes. Es handelt sich, selbst wenn der Bewerber bei Überschreiten der Altersgrenze nicht abgewiesen, sondern als Angestellter beschäftigt wird, jedenfalls um eine unterschiedliche Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG. Denn Beamten- und Angestelltenverhältnisse weisen grundlegende Strukturunterschiede auf. 15 b) Eine Altersgrenze für die Einstellung bedeutet eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund des Alters im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG, die jedoch nach § 10 AGG gerechtfertigt sein kann. Ungleichbehandlungen wegen des Alters unterliegen anders als Diskriminierungen aufgrund der weiteren in § 1 AGG aufgeführten Merkmale nicht einem strikten Verbot, sondern können unter den Voraussetzungen des § 10 AGG gerechtfertigt sein. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein (§ 10 Satz 1 und 2 AGG). Die Vorschrift ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips (EuGH, Urteil vom 22. November 2005 - Rs. C-144/04, Mangold - NJW 2005, 3695 ff. Rn. 65). 16 Die unterschiedliche Behandlung der Laufbahnbewerber aufgrund ihres Alters verfolgt ein legitimes Ziel im Sinne von § 10 Satz 1 AGG. Dazu zählen jedenfalls gesetzlich gefasste oder aus dem Kontext der Maßnahme ableitbare Gemeinwohlinteressen, denen die Maßnahme dienen soll (EuGH, Urteile vom 22. November 2005 a.a.O. Rn. 60 und vom 16. Oktober 2007 - Rs. C-411/05, Palacios - NZA 2007, 1219 Rn. 56 f.; Brors, in: Däubler/Bertzbach, AGG, 2008, § 10 Rn. 21). Die Ziele sind, wie bereits durch Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG klargestellt wird („insbesondere“), nicht auf die Bereiche Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung beschränkt. Die Altersgrenzen für die Einstellung und Übernahme als Beamter soll in erster Linie gewährleisten, dass die Dienstzeit des Beamten mit dem Anspruch auf Versorgung während des Ruhestandes in ein angemessenes Verhältnis gebracht wird. Sie sichert zudem das Lebenszeitprinzip als ein wesentliches Strukturelement des Berufsbeamtentums. Dadurch wird von Verfassungs wegen dem Umstand Rechnung getragen, dass dem Beamtenverhältnis im Regelfall eine Dauerhaftigkeit wesensgemäß ist und die Erfüllung der im Gemeinwohlinteresse liegenden öffentlichen Aufgaben ein bestimmtes Maß an personeller Kontinuität erfordert (vgl. Beschluss vom 16. Dezember 1970 - BVerwG 2 B 35.70 - Buchholz 232 § 15 BBG Nr. 7). Das somit durch Altersgrenzen verfolgte Ziel einer sparsamen Haushaltsführung ist legitim im Sinne des § 10 Satz 1 AGG (vgl. EuGH, Urteile vom 22. November 2005 a.a.O. Rn. 61 und vom 16. Oktober 2007 a.a.O. Rn. 66). Entsprechendes kann für das Interesse an ausgewogenen Altersstrukturen gelten. Objektivität im Sinne des § 10 Satz 1 AGG bedeutet nicht, dass das Ziel exakt in Zahlen definierbar sein müsste, sondern erfordert das Vorliegen eines zusätzlichen sachlichen Differenzierungsgrundes, der eben nicht nur im Alter besteht (Brors, a.a.O. Rn. 31). Dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung einer übermäßigen Belastung durch Versorgungspflichten und schließlich ganz allgemein an einer ausgewogenen Relation zwischen erfahrenen älteren Beamten und jüngeren Beamten kann eine solche Objektivität nicht abgesprochen werden. 17 Die Bestimmung einer Altersgrenze zur Erreichung dieser Ziele kann erforderlich und angemessen im Sinne des § 10 Satz 2 AGG sein. Einer Prüfung an diesem Maßstab steht nicht bereits entgegen, dass § 10 Satz 3 Nr. 3 AGG als (eine) Möglichkeit der zulässigen unterschiedlichen Behandlung nach dem Alter die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand nennt. Die Vorschrift zielt auf ältere Beschäftigte, deren Rentenalter bereits absehbar ist, und bei denen einer aufwändigen Einarbeitung am Arbeitsplatz eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Mindestdauer einer produktiven Arbeitsleistung gegenüberstehen soll (BTDrucks 16/1780 S. 36). Das schließt die Rechtfertigung einer Altersgrenze aus anderen Gründen nicht aus. Der Katalog des § 10 Satz 3 AGG nennt lediglich Regelbeispiele („insbesondere“). Soweit sie nicht einschlägig sind, kann sich eine Rechtfertigung aus § 10 Satz 2 AGG ergeben, der entgegen der Revision keine geringeren Anforderungen stellt. 18 Dem Normgeber und den einzelnen Mitgliedstaaten ist nicht nur bei der Bestimmung der Ziele, sondern auch bei der Wahl der Mittel, mit denen sie ein legitimes Ziel erreichen wollen, ein Gestaltungsspielraum für einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen eingeräumt, bei dem politische, wirtschaftliche, soziale, demografische und auch haushaltsbezogene Erwägungen Berücksichtigung finden können (EuGH, Urteil vom 16. Oktober 2007 a.a.O. Rn. 68 ff.). 19 Der Einwand der Revision, zu hohen Versorgungslasten dürfe nicht durch eine Altersgrenze begegnet werden, sondern allenfalls durch eine Änderung des Versorgungsrechts, geht aus zwei Gründen fehl. Zum einen entspricht die dahinter stehende Vorstellung, eine Ungleichbehandlung wegen des Alters sei nicht erforderlich, solange der Gesetzgeber nicht alle Maßnahmen ergriffen habe, um sie auf andere Weise zu vermeiden, von vornherein nicht dem Regelungsmodell des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und der Richtlinie 2000/78/EG. Die Vermeidung einer Ungleichbehandlung wegen des Alters hat keinen absoluten Vorrang, der sich unbeschadet gegenläufiger Belange stets durchsetzen könnte. Es geht vielmehr um einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen, der auf der Ebene der Angemessenheit der Maßnahme stattzufinden hat. Zum anderen würde eine Änderung des Versorgungsrechts derart, dass die Versorgung bei erst in höherem Alter eingestellten Beamten unter das bisherige Maß abgesenkt würde, ihrerseits eine Ungleichbehandlung wegen des Alters bedeuten und außerdem daran scheitern, dass die angemessene Versorgung des Beamten ein unlösbarer Bestandteil des wechselseitigen Treueverhältnisses ist und rechtlich geschütztes Äquivalent der Arbeitsleistung. Darin liegt keine Privilegierung der Beamtenversorgung. Die Versorgungslasten der pensionierten Beamten werden im Gegensatz zu dem umlagefinanzierten Rentenversicherungssystem in vollem Umfang aus dem Haushalt der Anstellungskörperschaft finanziert. Ein angemessenes Verhältnis zwischen aktiver Dienstzeit und den Versorgungslasten hat deshalb für das Einstellungsalter bei einem Beamten ein gänzlich anderes Gewicht als bei einem Tarifbeschäftigten. 20 Ebenso wenig ist eine Altersgrenze von weniger als 45 Jahren bereits deshalb ausgeschlossen, weil die nach einer Dienstzeit von fünf Jahren gewährte Mindestversorgung von 35% der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge nach rund 20 Dienstjahren ohnehin erdient ist. Entscheidend ist nicht die Relation zwischen aktiver Dienstzeit und Ruhegehaltsatz, sondern ein angemessenes Verhältnis zu den gesamten Versorgungslasten. Das fiskalische Interesse des Dienstherrn kann deshalb nur dahin gehen, eine möglichst lange aktive Dienstzeit seiner Beamten sicherzustellen. 21 Ob die Altersgrenze von 35 Jahren für die Einstellung als Lehrer im Beamtenverhältnis angemessen im Sinne von § 10 Satz 2 AGG ist, kann hier dahingestellt bleiben. Der Verordnungsgeber wird einerseits vor allem die Bedeutung der Altersgrenze für das Lebenszeitprinzip, insbesondere das Interesse an möglichst langen aktiven Dienstzeiten zu gewichten haben. Das Interesse an ausgewogenen Altersstrukturen kann allerdings nur auf der Grundlage einer plausiblen und nachvollziehbaren Planung berücksichtigt werden. Es darf sich nicht in formelhaften Behauptungen erschöpfen, ohne dass tatsächliche Grundlagen ersichtlich sind (Beschluss vom 11. Dezember 2008 - BVerwG 2 C 121.07 - Rn. 46, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts vorgesehen). Zweifel sind insbesondere angebracht, wenn die Schulverwaltung Bewerber um eine Anstellung als Lehrer ohne Rücksicht auf ihr Alter als Teilzeitbeschäftigte einstellt. 22 Demgegenüber wird der Verordnungsgeber in seine Überlegungen einzubeziehen haben, dass Altersgrenzen eine empfindliche Beeinträchtigung des durch Art. 33 Abs. 2 GG gewährleisteten Leistungsgrundsatzes darstellen. Weiterhin wird die Angemessenheit der (neu) festzusetzenden Altersgrenze auch davon abhängen, in welchem Umfang Ausnahmen vorgesehen werden. Diese können etwa Verzögerungen wegen Kindererziehungszeiten, Zeiten des Wehr- oder Wehrersatzdienstes oder des Erwerbs der erforderlichen Vor- und Ausbildung im sogenannten zweiten Bildungsweg betreffen. Je weiterreichend die Ausnahmeregelung, desto niedriger kann die Altersgrenze gesetzt werden. 23 3. Aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt sich nichts Abweichendes. Maßstab ist insoweit allein die Richtlinie 2000/78/EG. Da Vorschriften über eine Altersgrenze für die Einstellung in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, besteht der notwendige gemeinschaftsrechtliche Bezug. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird ein gemeinschaftsrechtlicher Bezug weder durch Art. 13 EG hergestellt noch durch die Richtlinie 2000/78/EG vor Ablauf der dem betreffenden Mitgliedstaat für die Umsetzung dieser Richtlinie gesetzten Frist. Im Umkehrschluss ist daraus zu folgern, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Bezug unter anderem dann besteht, wenn eine Maßnahme in den Rahmen der Richtlinie 2000/78/EG nach Ablauf der Umsetzungsfrist fällt (vgl. EuGH, Entscheidung vom 23. September 2008 - Rs. C-427/06, Bartsch - NJW 2008, 3417 Rn. 18; Bauer/Arnold, NJW 2008, 3377 <3379>). Das ist hier der Fall. In der Sache folgt aus der Richtlinie aber nichts anderes als aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Soweit eine Benachteiligung wegen des Alters grundsätzlich unzulässig ist, ergibt sich eine Rechtfertigung der Altersgrenze aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Richtlinie. Die Vorschrift stimmt mit der nahezu wortgleichen Regelung des § 10 Satz 1 und 2 AGG inhaltlich überein und rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. 24 4. Dem Kläger kann eine Überschreitung der laufbahnrechtlichen Altersgrenze gleichwohl nicht entgegengehalten werden. Denn die Regelungen in § 52 Abs. 1, § 84 Abs. 1 Satz 1 LVO sind unwirksam, weil sie von der Verordnungsermächtigung nicht gedeckt sind. Dem steht nicht entgegen, dass die Laufbahnverordnung wiederholt durch Parlamentsgesetz geändert worden ist und diese Änderungen auch Vorschriften über Altersgrenzen betreffen (s. etwa Gesetz vom 3. Mai 2005, GV. NW S. 498). Die Kompetenz der Verwaltungsgerichte zur inzidenten Kontrolle und Verwerfung von Verordnungen wird dadurch nicht eingeschränkt. Auch eine durch den Gesetzgeber geänderte Verordnung ist insgesamt als Rechtsverordnung zu qualifizieren (BVerfG, Beschluss vom 13. September 2005 - 2 BvF 2/03 - BVerfGE 114, 196 <233 ff., 239 f.>). 25 Da es erforderlich ist, die Altersgrenze und ihre Ausnahmetatbestände normativ zu regeln (vgl. oben 1.), darf es der Verordnungsgeber nicht der Verwaltung überlassen, unter welchen Voraussetzungen sie an der Altersgrenze festhalten will. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltung, eigenverantwortlich zu bestimmen, wann der Leistungsgrundsatz gemäß Art. 33 Abs. 2 GG durch eine Altersgrenze eingeschränkt wird. Das lässt die Laufbahnverordnung jedoch zu. 26 Der Verordnungsgeber hat in § 52 Abs. 1 LVO eine Altersgrenze von 35 Jahren für die Übernahme in eine Lehrerlaufbahn normiert und daneben in § 6 LVO für alle Altersgrenzen der Laufbahnverordnung eng begrenzte Ausnahmen vorgesehen. Alle weiteren möglichen Ausnahmen hat er voraussetzungslos durch § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LVO in das Ermessen der Verwaltung gestellt. Dies betrifft zum einen rechtlich gebotene Ausnahmen für weitere Verzögerungsgründe, zu denen insbesondere Dienstverpflichtungen nach Art. 12a GG zählen, und zum anderen gerade bezogen auf die Lehrerlaufbahnen die in diesem Bereich praktisch relevante Zulassung einer Überschreitung der Altersgrenze bei Bedarfssituationen, also die Übernahme von Bewerbern mit einer Ausbildung in Mangelfächern als Beamte auf Probe trotz Überschreitung der laufbahnrechtlichen Altersgrenze. 27 Aus diesem Grund hat sich ein für die Bewerber schwer durchschaubares Erlasswesen der Verwaltung zur Einhaltung der Altersgrenze entwickelt. Durch den sogenannten Mangelfacherlass des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung vom 22. Dezember 2000, weitere Erlasse zur Begründung von Ausnahmen und Gegenausnahmen etwa für sogenannte Vorgriffseinstellungen oder Weiterqualifizierungen, verschiedene Erlasse zur Verlängerung und Ausweitung des Mangelfacherlasses und zu sonstigen Sonderregelungen für bestimmte Laufbahnen, etwa für Grundschullehrer, bis hin zu Dispensen für bestimmte Einstellungskampagnen („1000-Stellen-Aktion“) ist die verordnungsrechtliche Altersgrenze in weitem Umfang und für einen erheblichen Bewerberkreis durch Behördenentscheidungen überlagert worden. Das entspricht nicht dem Gebot der Normklarheit und begegnet mit Blick auf Art. 33 Abs. 2 GG erheblichen Bedenken. So verbietet es sich, Bewerber um Beamtenstellen bereits deshalb abzulehnen, weil sie bereits als Tarifbeschäftigte im Schuldienst tätig sind. 28 Die dargestellten Mängel beschränken sich nicht auf die Verwaltungspraxis, sondern betreffen die Verordnung selbst, weil sie durch die an keinerlei Vorgaben gebundene Ausnahmemöglichkeit des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LVO den Weg zu dieser Verwaltungspraxis eröffnet hat. Die Ausnahmeregelung steht ihrerseits in einem inneren Zusammenhang mit der Bestimmung der Altersgrenze für die Lehrerlaufbahnen in § 52 Abs. 1 LVO. Der rechtliche Mangel erfasst deshalb nicht nur § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LVO, sondern die Regelung über die Altersgrenzen für Lehrerlaufbahnen insgesamt, also auch die Grundnorm des § 52 Abs. 1 LVO. Der Verordnungsgeber ist ersichtlich davon ausgegangen, dass über Ausnahmen von der Altersgrenze die Verwaltung auf der Grundlage des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 LVO entscheiden kann und hat sich deshalb, abgesehen von den allgemeinen Ausnahmetatbeständen des § 6 LVO, auf die Festlegung der Altersgrenze beschränkt. 29 Der Kläger kann deshalb verlangen, dass über seinen Antrag auf Übernahme in ein Beamtenverhältnis auf Probe ohne Berücksichtigung der laufbahnrechtlichen Altersgrenze entschieden wird. Da mit Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung (einschließlich der gesundheitlichen Eignung) weitere Voraussetzungen durch den Beklagten zu beurteilen sind, kommt nur eine Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der vorstehenden Rechtsauffassung des Gerichts in Betracht. 30 Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2012-121
13.12.2012
Pressemitteilung Nr. 121/2012 vom 13.12.2012 EN Ausweisung des sog. "Zementmörders von Stuttgart" rechtskräftig Die Ausweisung des sog. "Zementmörders von Stuttgart" ist bestandskräftig, nachdem der Kläger seine Klage während des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht insoweit zurückgenommen hat. Das Verfahren betrifft den Fall eines 25-jährigen türkischen Staatsangehörigen, der insbesondere in Baden-Württemberg besondere öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat. Der in Deutschland geborene und aufgewachsene Kläger tötete im August 2007 aus Eifersucht den angeblichen Ex-Freund seiner Freundin auf besonders grausame Weise. Das Landgericht Stuttgart verurteilte ihn im März 2008 wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren, die er derzeit verbüßt. Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Kläger im Mai 2009 aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Die gegen die Ausweisung und Abschiebungsandrohung gerichtete Klage blieb vor dem Verwaltungsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ohne Erfolg. Der Kläger hat die Klage während des Revisionsverfahrens zurückgenommen, begehrt aber, das mit der Ausweisung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von sieben Jahren zu befristen. Auf der Grundlage der für die tatsächliche Beurteilung maßgeblichen Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs hat der Senat die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes verpflichtet, die Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von zehn Jahren ab Ausreise zu befristen. Zwar ist der Kläger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs geht von ihm aber nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben seiner Mitmenschen aus, so dass eine Frist von zehn Jahren angemessen erscheint. BVerwG 1 C 14.12 - Urteil vom 13. Dezember 2012 Vorinstanzen: VGH Mannheim, 11 S 4/12 - Urteil vom 16. April 2012 - VG Stuttgart, 8 K 2123/09 - Urteil vom 21. Oktober 2009 -
Urteil vom 13.12.2012 - BVerwG 1 C 14.12ECLI:DE:BVerwG:2012:131212U1C14.12.0 EN Leitsatz: Seit Inkrafttreten der Änderung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) haben Ausländer einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit Erlass einer Ausweisung zugleich deren in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 genannte Wirkungen (Einreise- und Aufenthaltsverbot, Titelerteilungssperre) befristet (wie Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 ). Rechtsquellen AufenthG §§ 11, 55 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1 und 2 ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1 EMRK Art. 8 GG Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GRCh Art. 7 Richtlinie 2008/115/EG Art.11 Abs. 1 und 2 Instanzenzug VG Stuttgart - 21.10.2009 - AZ: VG 8 K 2123/09 VGH Baden-Württemberg - 16.04.2012 - AZ: VGH 11 S 4/12 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 13.12.2012 - 1 C 14.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:131212U1C14.12.0] Urteil BVerwG 1 C 14.12 VG Stuttgart - 21.10.2009 - AZ: VG 8 K 2123/09 VGH Baden-Württemberg - 16.04.2012 - AZ: VGH 11 S 4/12 In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2012 durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke sowie den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Maidowski für Recht erkannt: Das gegen die Ausweisung und Abschiebungsandrohung gerichtete Verfahren wird eingestellt. Insoweit sind die Urteile des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. Oktober 2009 und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. April 2012 wirkungslos. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. April 2012 geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung auf die Dauer von 10 Jahren zu befristen. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht in vollem Umfang sowie 4/5 der Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens; der Beklagte trägt 1/5 der Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, begehrt die Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung. 2 Der Kläger ist 1988 in Stuttgart geboren und war zuletzt im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Sein Vater besitzt die türkische, seine Mutter die kroatische Staatsangehörigkeit. Der Kläger erreichte nach mehrfachen Schulwechseln 2006 den Hauptschulabschluss. Danach bemühte er sich weder um einen Ausbildungsplatz noch um eine Arbeitsstelle, sondern lebte von finanziellen Zuwendungen seiner Eltern. Seit seinem 15. Lebensjahr konsumiert er regelmäßig Marihuana. 3 Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 5. März 2008 wurde er wegen Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 10 Jahren verurteilt; gleichzeitig wurde die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Der Kläger hatte im August 2007 aus Eifersucht zusammen mit zwei von ihm angestifteten Mittätern den angeblichen Ex-Freund seiner Freundin auf besonders grausame Weise ermordet. Das Landgericht ging in seinem Urteil von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Klägers im Tatzeitpunkt aus. Für die Annahme einer akuten psychotischen Störung spreche, dass der Kläger nach der Tat wieder lachen konnte und wie befreit wirkte. Er habe keinerlei Reue gezeigt. Bei ihm lägen erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel vor, die in seiner leichten Erregbarkeit und Aggressivität zum Ausdruck kämen. Dem Führungsbericht vom Januar 2009 ist zu entnehmen, dass eine Auseinandersetzung mit der Straftat und deren Aufarbeitung bislang nicht stattgefunden hat; von einer Verantwortungsübernahme sei der Kläger noch weit entfernt. 4 Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Kläger mit Bescheid vom 25. Mai 2009 aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Die dagegen erhobene Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Zurückweisung der Berufung darauf gestützt, dass die Ausweisung mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht zu beanstanden sei. Bislang habe sich der Kläger nicht grundlegend mit der von ihm begangenen Tat und seiner gesamten Lebenssituation auseinander gesetzt. Beim ihm liege eine ausgeprägte therapiebedürftige Persönlichkeitsstörung vor; einer Therapie habe sich der Kläger aber bislang nicht geöffnet. Das komme auch in seiner in der mündlichen Verhandlung bestätigten Entscheidung zum Ausdruck, sich baldmöglichst in die Türkei abschieben lassen zu wollen. Daher gehe vom Kläger nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben anderer Mitmenschen aus. 5 Während des Revisionsverfahrens hat der Kläger die Klage gegen die Ausweisung und Abschiebungsandrohung zurückgenommen. Er begehrt nur noch die Verpflichtung des Beklagten, die Wirkungen der Ausweisung auf sieben Jahre ab Ausreise zu befristen. 6 Der Beklagte erachtet wegen der unverändert hohen Gefahr, dass der Kläger erneut ein Gewalt- und Tötungsdelikt begeht, eine Frist von zwölf Jahren auch im Hinblick auf seine Bindungen an das Bundesgebiet für angemessen. 7 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt. Er ist der Auffassung, die Wirkungen einer Ausweisung seien nur auf Antrag zu befristen. Eine generelle Verpflichtung, eine Befristungsentscheidung zusammen mit der Ausweisung zu treffen, lasse sich weder der Rückführungsrichtlinie noch dem Aufenthaltsgesetz entnehmen. II 8 Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen; die angegriffenen Urteile sind gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO in diesem Umfang für wirkungslos zu erklären. Im Übrigen hat die Revision des Klägers nur teilweise Erfolg. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), weil es keine Verpflichtungsentscheidung zur Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. enthält. Da das Berufungsgericht alle dafür notwendigen tatsächlichen Feststellungen im Zusammenhang mit der Ausweisung getroffen hat, kann der Senat - bezogen auf den Zeitpunkt der Berufungsverhandlung - in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). 9 1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Befristungsbegehrens ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am 16. April 2012 (Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - Rn. 12 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union vom 1. Juni 2012 (BGBl I S. 1224). Hierdurch hat sich die Rechtslage hinsichtlich der hier maßgeblichen Bestimmungen aber nicht geändert. 10 2. Der Verpflichtungsantrag, die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG genannten Wirkungen der Ausweisung auf sieben Jahre zu befristen, ist nur teilweise begründet. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. darf ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird nach Satz 2 der Vorschrift auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Satz 3 der Vorschrift ordnet an, dass diese kraft Gesetzes eintretenden Wirkungen auf Antrag befristet werden. Die Frist ist gemäß Satz 4 unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist (Satz 5). Die Frist beginnt nach Satz 6 mit der Ausreise. Nach Satz 7 erfolgt keine Befristung, wenn ein Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG aus dem Bundesgebiet abgeschoben wurde. 11 2.1 Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 (BGBl I S. 2258) haben Ausländer - vorbehaltlich der Ausnahmen in Satz 7 der Vorschrift - einen uneingeschränkten, auch hinsichtlich der Dauer der Befristung voller gerichtlicher Überprüfung unterliegenden Befristungsanspruch (Urteil vom 14. Februar 2012 - BVerwG 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 32 f.). Zugleich ist hinsichtlich der Dauer der Frist geregelt, dass diese unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen ist und fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F.). Diese Änderungen des § 11 AufenthG dienen der Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - Rückführungsrichtlinie (ABl EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98). Dabei geht die Begründung des Gesetzentwurfs zum Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 davon aus, dass große Teile der in der Rückführungsrichtlinie enthaltenen Vorgaben durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes zur Aufenthaltsbeendigung bereits erfüllt werden. Die erforderlichen punktuellen gesetzlichen Anpassungen erfolgten innerhalb der geltenden Systematik, indem sie an den die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsakt (z.B. Ausweisung) oder an die Abschiebungsandrohung nach § 59 des Aufenthaltsgesetzes geknüpft würden. Die Umsetzung der Rückführungsrichtlinie erfordere darüber hinaus die Einführung einer Regelobergrenze von fünf Jahren für die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG (BTDrucks 17/5470 S. 17). Das macht deutlich, dass sich der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 11 AufenthG auch hinsichtlich der in Absatz 1 Satz 1 und 2 der Vorschrift genannten gesetzlichen Folgen der Ausweisung und deren Befristung an den unionsrechtlichen Vorgaben für eine Rückkehrentscheidung orientiert hat. Im Regelungsmodell der Richtlinie ist das Einreiseverbot jedoch als antragsunabhängige, von Amts wegen mit einer Rückkehrentscheidung einhergehende Einzelfallentscheidung ausgestaltet, in der die Dauer der befristeten Untersagung des Aufenthalts in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird (Art. 3 Nr. 6 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Richtlinie). Aus der Absicht des Gesetzgebers, dieses Modell trotz der beibehaltenen systematischen Trennung von Ausweisung und Befristung nachzuvollziehen, ergeben sich zwei Konsequenzen: Zum einen gebietet § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. den gleichzeitigen Erlass von Ausweisung und Befristung. Zum anderen genügt für den in dieser Vorschrift vorgesehenen Antrag jede Form der Willensbekundung des Betroffenen, mit der dieser sich gegen eine Ausweisung wendet (anders noch zu § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990: Beschluss vom 14. Juli 2000 - BVerwG 1 B 40.00 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG Nr. 18). Dieser Auslegungsbefund des einfachen Rechts trägt zugleich der besonderen Bedeutung der Befristung für die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK Rechnung. Das hat der Senat im Urteil vom 10. Juli 2012 (BVerwG 1 C 19.11 a.a.O. Rn. 30 ff.) näher dargelegt; darauf wird Bezug genommen. 12 Fehlt die notwendige Befristung der Wirkungen der Ausweisung, hat das auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die - als solche rechtmäßige - Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr kann der Ausländer zugleich mit Anfechtung der Ausweisung seinen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gerichtlich durchsetzen. Damit wird dem Anspruch des Betroffenen auf gleichzeitige Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen Rechnung getragen und die Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis gewährleistet. Diese verfahrensrechtliche Ausgestaltung entspricht der gesetzlichen Systematik, die nach wie vor zwei getrennte Verwaltungsakte - die Ausweisung einerseits und die Befristung ihrer Wirkungen andererseits - vorsieht. Prozessual wird dieses Ergebnis dadurch sichergestellt, dass in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen gesehen wird, sofern eine solche nicht bereits von der Ausländerbehörde verfügt worden ist. Das Prozessrecht muss gewährleisten, dass der Ausländer gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. nicht auf ein eigenständiges neues Verfahren verwiesen wird. Daher ist im Fall der gerichtlichen Bestätigung der Ausweisung auf den Hilfsantrag zugleich eine Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu treffen (Urteile vom 14. Februar 2012 a.a.O. Rn. 30 und vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 39 f.). 13 2.2 Der Senat hält im vorliegenden Fall - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts und auf der Grundlage von dessen tatsächlichen Feststellungen - eine Frist von zehn Jahren für angemessen. 14 Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorliegen, geht der Senat davon aus, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal 10 Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischerweise noch gestellt werden kann. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung - insbesondere jüngerer Menschen - kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Leitet sich diese regelmäßige Höchstdauer für die Befristung von 10 Jahren aus dem Umstand ab, dass mit zunehmender Zeit die Fähigkeit zur Vorhersage zukünftiger persönlicher Entwicklungen abnimmt, bedeutet ihr Ablauf nicht, dass bei einem Fortbestehen des Ausweisungsgrundes oder der Verwirklichung neuer Ausweisungsgründe eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden müsste (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). 15 Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK, messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen (vgl. Urteile vom 11. August 2000 - BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 <373> und vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 21.07 - BVerwGE 129, 243 Rn. 19 ff.). Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts vollumfänglich zu überprüfen. Fehlt - wie hier - die behördliche Befristungsentscheidung, ist sie vom Gericht durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 42 f.). 16 Nach diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG enthaltene Fristgrenze von fünf Jahren ohne Bedeutung, da von dem Kläger im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Das ergibt sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die es zu den Ausweisungsvoraussetzungen getroffen hat. Wegen des hohen Gewichts der erheblich gefährdeten Rechtsgüter von Leib und Leben erachtet der Senat trotz der Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einen Zeitraum von zehn Jahren für erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential in seiner Person Rechnung tragen zu können. Angesichts seines Alters, des sich durch äußerste Brutalität auszeichnenden (Nach-)Tatverhaltens, das eine erschreckende Gleichgültigkeit und Gefühlskälte offenbart, der fehlenden Auf- und Verarbeitung des Geschehens sowie des familiären Umfelds, das wenig stabilisierenden Einfluss verspricht, ist nicht zu erwarten, dass er die maßgebliche Gefahrenschwelle vor Ablauf der festgesetzten Frist unterschreiten wird. Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass der Beklagte auf einen Antrag des Klägers hin auf aktueller Tatsachengrundlage zu prüfen haben wird, ob sich aus der Entwicklung des Klägers seit der Berufungsverhandlung am 16. April 2012 Anhaltspunkte für eine Verkürzung der Frist ergeben. 17 3. Die Frage, ob die Befristung der Wirkungen der Ausweisung an den Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie zu messen sind, kann auch im vorliegenden Fall offen bleiben (vgl. Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O. Rn. 45). Selbst wenn man die intertemporale Geltung und die sachliche Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie auf die Wirkungen der Ausweisung unterstellt, verhilft das der Revision im vorliegenden Fall nicht in weitergehendem Umfang zum Erfolg. Da der Kläger mit seinem Hilfsantrag die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG n.F. gebotene Befristung der Wirkungen seiner Ausweisung vor seiner Abschiebung aus dem Bundesgebiet durchzusetzen vermag, wird den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie im Ergebnis Genüge getan. In dem hier vorliegenden Fall konnte die Dauer des Einreiseverbots auch die Regelfrist von fünf Jahren überschreiten, da der Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG darstellt. 18 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 VwGO. Der Senat gewichtet den gegen die Ausweisung sowie die Abschiebungsandrohung gerichteten, im Revisionsverfahren zurückgenommenen Anfechtungsantrag mit 4/5 und den auf Befristung zielenden Verpflichtungsantrag mit 1/5. Nachdem der Beklagte auch nach Inkrafttreten des § 11 AufenthG n.F. nicht über die Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung entschieden hat und der Kläger mit seinem Antrag insoweit nur zu einem geringen Teil unterlegen ist, hat er 4/5 und der Beklagte 1/5 der Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu tragen.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2001-4
16.01.2001
Pressemitteilung Nr. 4/2001 vom 16.01.2001 EN Asyl für Kurden aus dem Nordirak? Das Bundesverwaltungsgericht hat heute über mehrere Asylbegehren von Kurden aus dem Nordirak entschieden. Der Verwaltungsgerichtshof München hatte den Kurden Abschiebungsschutz wegen politischer Verfolgung zugesprochen, weil sie bei einer Rückkehr in den (Zentral-)Irak wegen ungenehmigter Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland politisch verfolgt würden. Zwar seien sie in den kurdischen Provinzen des Nordirak vor dieser Verfolgung sicher (sog. inländische Fluchtalternative). Das schließe grundsätzlich die Gewährung von Asyl aus. Anders sei es, wenn das verfolgungsfreie Gebiet tatsächlich nicht erreicht werden könne. So verhalte es sich in den vorliegenden Fällen. Die Asylbewerber könnten in den Nordirak nicht zurückreisen, weil sie keine gültigen irakischen Reisedokumente besäßen und ihnen deswegen ein Transit durch Syrien, die Türkei oder den Iran nicht möglich sei. Die Beantragung neuer Reisepässe bei der irakischen Auslandsvertretung in Deutschland sei ihnen nicht zumutbar, da die irakischen Behörden dadurch von den Asylanträgen Kenntnis erhalten könnten. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidungen aufgehoben und die Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Es hat im Ausgangspunkt in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass der Asylbewerber auf verfolgungsfreie Gebiete im Heimatstaat nur verwiesen werden darf, wenn er diese in zumutbarer Weise tatsächlich erreichen kann. Nur dann ist es gerechtfertigt, dem Ausländer asylrechtlichen Schutz in Deutschland zu versagen. Wer bei einer Rückkehr in den Heimatstaat die sicheren Landesteile vom Ausland aus erreichen kann, bedarf des asylrechtlichen Schutzes nicht. Asylrechtlich unbeachtlich ist auch die nur vorübergehende Nichterreichbarkeit der sicheren Gebiete, etwa infolge unterbrochener Verkehrsverbindungen oder behebbarer Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa. Der Verwaltungsgerichtshof hat in den Ausgangsverfahren aber nicht ausreichend untersucht, ob die Asylbewerber ohne Inanspruchnahme irakischer Stellen von deutschen Behörden Reisedokumente erhalten können, aufgrund derer ihnen namentlich die Türkei die Durchreise erlaubt. Diese Prüfung muss der Verwaltungsgerichtshof nachholen. In neueren Entscheidungen hat der Verwaltungsgerichtshof aufgrund zusätzlicher Auskünfte inzwischen festgestellt, dass Kurden aus dem Nordirak mit Hilfe deutscher Reisedokumente als Passersatz ein Transitvisum durch die Türkei erlangen und auf diesem Wege in den Nordirak zurückreisen können. BVerwG 9 C 15.00 - Urteil vom 16.01.2001
Bundesverwaltungsgericht Urt. v. 16.01.2001, Az.: BVerwG 9 C 15.00 Voraussetzungen für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge; Gewährung von Abschiebungsschutz für den Ausländer; Gerechtfertigung der Anerkennung des Asylbewerbers als politischer Flüchtling; Verstoß gegen die richterliche SachaufklärungspflichtIn der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 16. Januar 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Hund und Richter, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eichbergerfür Recht erkannt: Tenor: Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2000 in der Fassung vom 31. Mai 2000 wird aufgehoben.Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.Gründe1I.Der 1974 im Nordirak geborene Beigeladene ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im Mai 1997 nach Deutschland ein. Zur Begründung seines Asylantrags berief er sich im Wesentlichen darauf, er sei Angehöriger der "Geheimpolizei des Parlamentes" gewesen. Nach der Eroberung des Polizeigefängnisses von Sulaimanya durch die Islamisten und der Ermordung eines Kollegen habe er Angst gehabt, dasselbe Schicksal zu erleiden. Bei einer Rückkehr würden die Iraker ihn töten, weil er 1992 in einem gegen das Regime von Saddam Hussein gerichteten Film die Hauptrolle gespielt habe.2Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Asylantrag des Beigeladenen ab, stellte aber fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorliegen (Nr. 2 des Bescheides), und dass er nicht in den Irak abgeschoben werden darf sowie von einer Abschiebung in ein anderes Land abzusehen ist (Nr. 3 des Bescheides).3Das Verwaltungsgericht hat die hiergegen gerichtete Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) abgewiesen. Auf die Berufung des Bundesbeauftragten hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Nrn. 2 und 3 des Bescheides des Bundesamts aufgehoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, Schutz nach § 51 Abs. 1 AuslG stehe dem Beigeladenen schon deshalb nicht zu, weil im kurdisch beherrschten Nordirak, aus dem er stamme, gegenwärtig weder staatliche Gewalt des Irak noch staatsähnliche Gewalt der Kurden bestehe. Auch Gewalt durch Agenten des zentralirakischen Regimes könne in diesem Gebiet keine politische Verfolgung darstellen.4Auf die Revision des Beigeladenen hat das Bundesverwaltungsgericht den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben, weil er die hier anzuwendenden Grundsätze einer inländischen Fluchtalternative nicht berücksichtigt hat, und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.5Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat daraufhin die Berufung des Bundesbeauftragten zurückgewiesen und damit die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugunsten des Beigeladenen bestätigt. Zwar habe der Beigeladene den Irak nicht wegen erlittener oder unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung verlassen. Es sei nicht glaubhaft, dass er als Oppositioneller in das Blickfeld der zentralirakischen Staatsmacht gelangt sei. Eine Gruppenverfolgung gegenüber den Kurden bestehe im Irak nicht. Wegen seiner ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung im westlichen Ausland habe der Beigeladene jedoch bei einer Rückkehr im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen insbesondere in Form einer übermäßigen Bestrafung zu befürchten. Grundsätzlich könne der Beigeladene allerdings auf den kurdisch beherrschten Nordirak verwiesen werden. Dort sei er, da er sich nicht politisch exponiert habe, hinreichend sicher. Weil Herkunftsort und Ort der inländischen Fluchtalternative identisch seien, drohten dem Beigeladenen dort auch keine anderen unzumutbaren Nachteile. Allerdings könne einem vernünftig denkenden, besonnenen Iraker aus dem Nordirak eine wohlbegründete Furcht vor einem jederzeit möglichen Wiedereinmarsch der Streitkräfte des irakischen Staates und vor einer Wiederinbesitznahme der drei kurdischen Provinzen nicht abgesprochen werden. Selbst bei einem solchen Wiedereinmarsch habe er indes keine asylrelevanten Maßnahmen zu befürchten, da nichts dafür spreche, dass den irakischen Machthabern dann seine Ausreise und Asylantragstellung bekannt würden. Der dem Beigeladenen danach grundsätzlich offen stehende Schutz vor politischer Verfolgung im Nordirak scheitere jedoch letztlich daran, dass er diese sichere Fluchtalternative nicht freiwillig zumutbar erreichen könne. Er sei nicht im Besitz gültiger irakischer Reisepapiere. Ohne solche Reisedokumente sei eine Durchreise durch Syrien, die Türkei oder den Iran in den sicheren Nordirak nicht möglich. Dem Beigeladenen könne auch nicht zugemutet werden, bei der irakischen Auslandsvertretung in der Bundesrepublik Deutschland Pass oder Rückreisepapiere zu beantragen, da so seine ungenehmigte Ausreise bekannt und zwangsläufig auch die Asylantragstellung im westlichen Ausland vermutet würde. Dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die für die Türkei auch als Grundlage für ein Transit-Visum genügten, seien konkrete Anhaltspunkte weder vorgetragen noch ersichtlich.6Der Bundesbeauftragte macht mit der Revision geltend, das Berufungsgericht habe unter Verstoß gegen Bundesrecht die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG von der Nichterreichbarkeit des Gebiets einer inländischen Fluchtalternative abhängig gemacht. Dem Berufungsgericht hätten sich außerdem weitere Aufklärungsmaßnahmen zu der Frage aufdrängen müssen, ob der Beigeladene für eine Rückreise unmittelbar in den Nordirak die erforderlichen Reisepapiere erlangen könne.7II.Die Revision ist zulässig und begründet. Die Zurückweisung der Berufung des Bundesbeauftragten verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). 8Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts, dass dem Beigeladenen wegen seiner ungenehmigten Ausreise und Asylantragstellung in Deutschland bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen drohen, ihm im kurdisch beherrschten Nordirak jedoch grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Der Beigeladene darf indes - wie das Berufungsgericht gleichfalls im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat - nur dann auf das Gebiet der inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn er es, sei es auch nur freiwillig, in zumutbarer Weise erreichen kann. Asylrechtlich unbeachtlich ist für den im Ausland befindlichen Asylbewerber dabei die nur vorübergehende Nichterreichbarkeit der sicheren Gebiete, etwa infolge unterbrochener Verkehrsverbindungen oder typischerweise behebbarer Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa. Die Anerkennung des Asylbewerbers als politischer Flüchtling nach Art. 16 a GG und § 51 Abs. 1 AuslG in Verbindung mit Art. 1 A GFK ist in solchen Fällen mithin erst gerechtfertigt, wenn feststeht, dass ihm die Rückkehr in eine sichere Region des Heimatstaates, die auch sonst alle Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative erfüllt, dauerhaft nicht zumutbar möglich ist. Dies hat der Senat mit dem gleichzeitig in der Sache BVerwG 9 C 16.00 ergangenen Urteil (zu Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) entschieden. Hierauf wird verwiesen. 9Es mag dahinstehen, ob die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu den grundsätzlich in Frage kommenden Rückreisewegen in den Nordirak durch Syrien, den Iran oder die Türkei die rechtliche Schlussfolgerung des Berufungsgerichts tragen, der Beigeladene könne das sichere Gebiet nicht freiwillig zumutbar erreichen und ob das Berufungsgericht damit die dauerhafte Nichterreichbarkeit gemeint hat. Das Berufungsurteil kann jedenfalls deshalb keinen Bestand haben, weil diese auch aus der Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblichen Feststellungen vom Bundesbeauftragten erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen werden. Die Sache ist daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Denn dessen Feststellungen reichen nicht aus, um in der Sache selbst zu entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), und das Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). 10Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht einen Verstoß gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Zur Klärung der Frage, ob der Beigeladene ohne gültige irakische Reisepapiere vor allem über die Türkei in den Nordirak einreisen kann, hätte sich das Berufungsgericht nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Beigeladenen von deutschen Behörden Rückreise-Ersatzpapiere ausgestellt würden, die der Türkei als Grundlage für ein Transitvisum genügten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Gerade vor dem Hintergrund des auch vom Berufungsgericht gewürdigten Erlasses des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 31. Oktober 1997 an die nachgeordneten Ausländerbehörden, wonach ausreisepflichtigen (passlosen) irakischen Staatsangehörigen bis zu einer gegenteiligen Erfahrung zur Ausreise in den Irak ein Reisedokument auszustellen und Gelegenheit zum Eintrag eines türkischen Visums zu geben sei, hätten sich dem Berufungsgericht auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag des Bundesbeauftragten weitere Erkundigungen beim Staatsministerium des Innern und beim Auswärtigen Amt dazu aufdrängen müssen, ob und inwieweit auf der angesprochenen Grundlage die freiwillige Rückkehr in den Nordirak möglich ist, insbesondere ob und in welchem Umfang solche Reisepapiere und Transitvisa bereits erteilt worden sind. 11Das Berufungsgericht muss die unterlassene Aufklärung nunmehr nachholen. Entsprechende Auskünfte hat das Berufungsgericht im Übrigen ausweislich der vom Bundesbeauftragten im Revisionsverfahren vorgelegten Unterlagen, die hier als neue Tatsachen allerdings nicht berücksichtigt werden können, zwischenzeitlich eingeholt und gestützt darauf in jüngeren Entscheidungen die Erreichbarkeit des Nordirak über die Türkei angenommen.Dr. Paetow Hund Richter Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck ist wegen Erkrankung gehindert zu unterschreiben. Dr. Paetow Dr. Eichberger
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2007-33
21.05.2007
Pressemitteilung Nr. 33/2007 vom 21.05.2007 EN Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für die Vergabe von Aufträgen unterhalb der Schwellenwerte des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Öffentliche Auftraggeber beschaffen Waren, Bau- und Dienstleistungen im Wettbewerb und im Wege offener Vergabeverfahren. Für Aufträge, die bestimmte, durch Verordnung festgelegte Schwellenwerte erreichen oder überschreiten (diese betragen z.B. für Bauaufträge zurzeit 5 Millionen €), ist im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen eine Nachprüfung der Vergabepraxis durch Vergabekammern und auf sofortige Beschwerde hin durch das für die Vergabekammer zuständige Oberlandesgericht im ordentlichen Rechtsweg vorgesehen. In letzter Zeit war streitig geworden, in welchem Rechtsweg die Vergabe von Aufträgen unterhalb der Schwellenwerte überprüft werden kann. In einem Vergaberechtsstreit hatten die angerufenen Verwaltungsgerichte den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten für gegeben erachtet. Das schließlich als letztinstanzliches Gericht angerufene Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat entschieden, dass auch für die gerichtliche Kontrolle der Vergabe von so genannten unterschwelligen Aufträgen die ordentlichen Gerichte zuständig sind. Tragend für die Entscheidung ist der Umstand, dass auch öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe von Aufträgen unbeschadet ihrer öffentlich-rechtlichen Bindungen wie jeder andere Auftraggeber als Nachfrager am Markt auftreten. Die öffentliche Hand bewegt sich bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in aller Regel auf dem Boden des Privatrechts, so dass für Streitigkeiten über die hierbei vorzunehmende Auswahl unter den Bietern nicht der Verwaltungsrechtsweg, sondern der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gegeben ist. BVerwG 6 B 10.07 - Beschluss vom 02.05.2007
BundesverwaltungsgerichtBeschwerde; weitere Beschwerde; sofortige weitere Beschwerde; "unterschwelliges" Vergabeverfahren; Rechtsweg; öffentlich-rechtliche Streitigkeit; bürgerlich-rechtliche Streitigkeit; Verweisung.GVG § 17a Abs. 4, § 17b Abs. 2; VwGO § 40 Abs. 1Für Streitigkeiten über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen mit einem Auftragswert unterhalb der in der Vergabeverordnung genannten Schwellenwerte ist nicht der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten, sondern der ordentliche Rechtsweg gegeben.BVerwG, Beschluss vom 2. 5. 2007 – 6 B 10.07; OVG Münster (lexetius.com/2007,1056)[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 2. Mai 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hahn und Dr. Graulich beschlossen:[2] Die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 2007 und des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 19. Dezember 2006 werden aufgehoben.[3] Der Verwaltungsrechtsweg ist unzulässig.[4] Der Rechtsstreit wird an das Landgericht Essen verwiesen.[5] Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.[6] Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.[7] Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.[8] Gründe: I Die Beklagte schrieb im Juni 2006 das Vorhaben "Neubau, Erneuerung, Änderung und Unterhaltung von Straßenbeleuchtungs-, Verkehrsbeleuchtungs- und Verkehrssignalanlagen" in ihrem Stadtgebiet für eine Laufzeit von 12 Monaten öffentlich aus. Die Klägerin und die Beigeladene gaben hierauf bis zum Ablauf der Angebotsfrist jeweils ein Angebot ab. Nachfolgend teilte die Beklagte der Klägerin mit, ihr Angebot könne nicht gewertet werden. Dagegen hat die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht erhoben mit dem Begehren, der Beklagten aufzugeben, unter Beachtung der Auffassung des Gerichts erneut über die Erteilung des Zuschlags in dem Vergabeverfahren zu entscheiden. Die Beklagte hat geltend gemacht, der Verwaltungsrechtsweg sei nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht hat den Verwaltungsrechtsweg für zulässig erklärt. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die sofortige weitere Beschwerde der Beklagten.[9] II 1. Die gemäß § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG zulässige sofortige weitere Beschwerde ist begründet. Für die Klage ist der Verwaltungsrechtsweg nicht gegeben. Es handelt sich nicht um eine der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte unterliegende öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO.[10] Vielmehr liegt eine bürgerlich-rechtliche Streitigkeit vor, für die nach § 13 GVG der ordentliche Rechtsweg eröffnet ist.[11] a) Der Rechtsstreit unterfällt nicht der Sonderzuweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit gemäß § 104 Abs. 2 Satz 1 GWB. Nach dieser Vorschrift können Rechte aus § 97 Abs. 7 GWB sowie sonstige Ansprüche gegen öffentliche Auftraggeber, die auf die Vornahme oder Unterlassung einer Handlung in einem Vergabeverfahren gerichtet sind, außer vor den Vergabeprüfstellen nur vor den Vergabekammern und dem Beschwerdegericht (Oberlandesgericht) geltend gemacht werden. Diese Regelung gilt gemäß § 100 Abs. 1 GWB nur für Aufträge, welche die Schwellenwerte des § 2 der Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (Vergabeverordnung – VgV) in der Fassung vom 11. Februar 2003 (BGBl I S. 170) erreichen oder übersteigen. Das ist hier nicht der Fall.[12] b) Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich oder bürgerlich-rechtlich ist, richtet sich nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird (GmS-OGB, Beschlüsse vom 10. April 1986 – GmS-OGB 1/85 – BGHZ 97, 312 [313 f.], vom 29. Oktober 1987 – GmS-OGB 1/86 – BGHZ 102, 280 [283] und vom 10. Juli 1989 – GmS-OGB 1/88 – BGHZ 108, 284 [286]; BVerwG, Urteil vom 19. Mai 1994 – BVerwG 5 C 33.91 – BVerwGE 96, 71 [73] = Buchholz 436. 0 § 12 BSHG Nr. 24 S. 2 f.; Beschluss vom 30. Mai 2006 – BVerwG 3 B 78.05 – NJW 2006, 2568; BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 – XI ZB 7/99 – NJW 2000, 1042). Dabei kommt es regelmäßig darauf an, ob die Beteiligten zueinander in einem hoheitlichen Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen und sich der Träger hoheitlicher Gewalt der besonderen Rechtssätze des öffentlichen Rechts bedient (GmS-OGB, Beschlüsse vom 10. April 1986 a. a. O. S. 314 und vom 29. Oktober 1987 a. a. O.; BVerwG, Beschluss vom 30. Mai 2006 a. a. O.). Eine öffentlichrechtliche Streitigkeit kann aber auch auf einem Gleichordnungsverhältnis beruhen. Gleichordnungsverhältnisse sind öffentlich-rechtlich, wenn die das Rechtsverhältnis beherrschenden Rechtsnormen nicht für jedermann gelten, sondern Sonderrecht des Staates oder sonstiger Träger öffentlicher Aufgaben sind, das sich zumindest auf einer Seite nur an Hoheitsträger wendet (GmS-OGB, Beschluss vom 10. Juli 1989 a. a. O. S. 286 f.; BVerwG, Beschluss vom 30. Mai 2006 a. a. O.).[13] c) Nach diesen Grundsätzen ist (auch) für Streitigkeiten in Vergabeverfahren, die nicht in den Anwendungsbereich der §§ 97 ff. GWB fallen, weil sie Aufträge unterhalb der Schwellenwerte betreffen, der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet (so zu Recht OVG Schleswig, Beschlüsse vom 25. August 1999 – 2 L 153/98 – NordÖR 1999, 512 und vom 8. September 2006 – 3 O 24/06 – juris; OVG Lüneburg, Beschlüsse vom 19. Januar 2006 – 7 OA 168/05 – NVwZ-RR 2006, 845 und vom 14. Juli 2006 – 7 OB 105/06 – NVwZ-RR 2006, 843; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Juli 2006 – 1 L 59. 06 – DVBl 2006, 1250; VGH Mannheim, Beschluss vom 30. Oktober 2006 – 6 S 1522/06 – juris; VG Leipzig, Beschluss vom 6. September 2005 – 5 K 1018/05 – SächsVBl 2005, 301; VG Potsdam, Beschluss vom 20. September 2005 – 3 L 627/05 – WuW 2006, 218; VG Osnabrück, Beschluss vom 21. April 2006 – 1 B 26/06 – n. v.; VG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Juni 2006 – 8 K 1437/06 – WuW 2006, 862; Dabringhausen, VergabeR 2006, 462 [464 ff.]; Dörr, DÖV 2001, 1014 [1024]; Gröning, ZWeR 2005, 276 [280 ff.]; Heilshorn/Tanneberger, BWGZ 2006, 813 [817]; Irmer, VergabeR 2006, 159 [163 ff.]; Jaeger, ZWeR 2006, 366 [380 ff.]; Kanther, HGZ 2007, 9 [10]; Köster, NZBau 2006, 540 [542 f.]; Losch, VergabeR 2006, 298 [306 f.]; Pietzcker, NVwZ 1983, 121 [124 f.]; ders., NJW 2005, 2881 [2882]; ders., ZfBR 2007, 131 [134 f.]; Ruthig, NZBau 2005, 497 [499 ff.]; Schneider/Häfner, AbfallR 2005, 181 [182 f.]; dies., DVBl 2005, 989 [990 f.]; Tomerius/Kiser, VergabeR 2005, 551 [556 ff.]; Wilke, NordÖR 2006, 481 [485]). Diese Rechtsauffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, wonach sich die öffentliche Hand bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in aller Regel auf dem Boden des Privatrechts bewegt, so dass für Streitigkeiten über die hierbei vorzunehmende Auswahl des Vertragspartners nicht der Verwaltungsrechtsweg, sondern der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gegeben ist (GmS-OGB, Beschluss vom 10. April 1986 – GmS-OGB 1/85 – a. a. O. S. 316 f.; BVerwG, Urteile vom 7. November 1957 – BVerwG 2 C 109.55 – BVerwGE 5, 325 [326 f.], vom 6. Juni 1958 – BVerwG 7 C 227.57 – BVerwGE 7, 89 [90 f.], vom 8. März 1962 – BVerwG 8 C 160.60 – BVerwGE 14, 65 [71 f.] = Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 42 S. 76, vom 13. März 1970 – BVerwG 7 C 80.67 – BVerwGE 35, 103 [104 f.] = Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 88 S. 11 f. und vom 10. November 1972 – BVerwG 7 C 37.70 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 122 S. 54 f.; BGH, Urteil vom 6. Juni 1967 – VI ZR 214/65 – NJW 1967, 1911). Dies gilt jedenfalls dann, wenn bei der Entscheidung über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags keine gesetzliche Verpflichtung zu bevorzugter Berücksichtigung eines bestimmten Personenkreises zu beachten ist. Der in der neueren Rechtsprechung und Literatur vertretenen Gegenauffassung (OVG Koblenz, Beschlüsse vom 25. Mai 2005 – 7 B 10356/05 – DVBl 2005, 988 und vom 14. September 2006 – 2 B 11024/06 – DÖV 2007, 39; OVG Münster, Beschlüsse vom 20. September 2005 – 15 E 1188/05 – NVwZ-RR 2006, 223, vom 4. Mai 2006 – 15 E 453/06 – NVwZ 2006, 1083 und vom 11. August 2006 – 15 E 880/06 – NVwZ-RR 2006, 842; OVG Bautzen, Beschluss vom 13. April 2006 – 2 E 270/05 – ZfBR 2006, 511; VG Koblenz, Beschluss vom 31. Januar 2005 – 6 L 2617/04 – ZfBR 2005, 504; VG Trier, Beschluss vom 12. August 2005 – 2 L 794/05. TR – juris; VG Neustadt, Beschlüsse vom 19. Oktober 2005 – 4 L 1715/05. NW – WuW 2006, 456 und vom 20. Februar 2006 – 4 L 210/06. NW – juris; VG Münster, Beschluss vom 14. Juni 2006 – 1 L 349/06 – NWVBl 2006, 470; VG Dessau, Beschluss vom 4. September 2006 – 1 B 187/06 – juris; VG Meiningen, Beschluss vom 16. Januar 2007 – 2 E 613/06 Me – juris; Braun, SächsVBl 2006, 249 [256 ff.]; Bungenberg, WuW 2005, 899 [902 ff.]; Frenz, VergabeR 2007, 1 [14]; Hermes, JZ 1997, 909 [915]; Hölzl/Gabriel, AbfallR 2005, 259 [262 f.]; Huber, JZ 2000, 877 [882]; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 40 Rn. 25a; Niestedt/Hölzl, NJW 2006, 3680 [3682]; Niestedt/Hellriegel, VergabeR 2005, 479 [480 f.]; Prieß/Hölzl, ZfBR 2005, 593; Pünder, VerwArch 95 [2004], 38 [57]; Rennert, DVBl 2006, 1252 f.; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 40 Rn. 339 f.; U. Stelkens, Verwaltungsprivatrecht, 2005, S. 1024 ff. [S. 1035]) folgt der Senat aus den nachstehenden Gründen nicht:[14] aa) Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wird der Staat als Nachfrager am Markt tätig, um einen Bedarf an bestimmten Gütern und Dienstleistungen zu decken. In dieser Rolle als Nachfrager unterscheidet er sich nicht grundlegend von anderen Marktteilnehmern (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 – 1 BvR 1160/03 – NJW 2006, 3701 [3702 Rn. 52]). Die von der öffentlichen Hand abgeschlossenen Werk- und Dienstverträge gehören ausschließlich dem Privatrecht an (Urteile vom 7. November 1957 a. a. O. S. 326, vom 8. März 1962 a. a. O. S. 72 bzw. S. 76 und vom 13. März 1970 a. a. O. S. 105 bzw. S. 12; BGH, Urteile vom 26. Oktober 1961 – KZR 1/61 – BGHZ 36, 91 [96], vom 6. Juni 1967 a. a. O. und vom 14. Dezember 1976 – VI ZR 251/73 – NJW 1977, 628 [629]; OVG Lüneburg, Beschluss vom 14. Juli 2006 a. a. O. S. 844; Gröning, a. a. O. S. 280; Gurlit, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, § 29 Rn. 6; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 17 Rn. 31; Sodan, in: Sodan/Ziekow, a. a. O., § 40 Rn. 334; Vygen, in: Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B, 15. Aufl. 2006, Einl. Rn. 10). Das gleiche gilt für das dem Abschluss des Vertrages vorausgehende Vergabeverfahren, das der Auswahl der öffentlichen Hand zwischen mehreren Bietern dient.[15] Mit der Aufnahme der Vertragsverhandlungen entsteht zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und den Bietern ein privatrechtliches Rechtsverhältnis, welches bis zur Auftragsvergabe an einen der Bieter andauert. Die öffentliche Hand trifft in diesem Vergabeverfahren eine Entscheidung über die Abgabe einer privatrechtlichen Willenserklärung, die die Rechtsnatur des beabsichtigten bürgerlich-rechtlichen Rechtsgeschäfts teilt. Die Vergabe öffentlicher Aufträge ist als einheitlicher Vorgang insgesamt dem Privatrecht zuzuordnen (Urteil vom 8. März 1962 a. a. O. S. 72 bzw. S. 77; BGH, Urteil vom 16. November 1967 – III ZR 12/67 – BGHZ 49, 77 [80]; Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 40 Rn. 250; ders., in: Erichsen/Ehlers, a. a. O., § 3 Rn. 47; Gurlit, in: Erichsen/Ehlers, a. a. O., § 29 Rn. 6; Jaeger, a. a. O. S. 381; Maurer, a. a. O. § 17 Rn. 31; Siegel, DÖV 2007, 237 [241 f.]; Ziekow/Siegel, ZfBR 2004, 30 [32 f.]).[16] bb) Die privatrechtliche Einordnung der Vergabe öffentlicher Aufträge entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Grundsätzen der Haftung bei einer öffentlichen Ausschreibung. Danach kommt mit der Ausschreibung und der Beteiligung des Bieters am Ausschreibungsverfahren ein vertragsähnliches Vertrauensverhältnis zu Stande, das die Parteien zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet und auf beiden Seiten Sorgfaltspflichten begründet, deren Verletzung Schadensersatzansprüche auslösen kann, etwa wenn der öffentliche Auftraggeber im weiteren Verlauf des Ausschreibungs- und Vergabeverfahrens die Vorschriften des öffentlichen Vergaberechts zum Nachteil des Bieters nicht einhält (BGH, Urteile vom 8. September 1998 – X ZR 48/97 – BGHZ 139, 259 [260 ff.], vom 16. Dezember 2003 – X ZR 282/02 – NJW 2004, 2165 und vom 1. August 2006 – X ZR 115/04 – ZfBR 2007, 40 [41]). Der Bundesgerichtshof ordnet das im Vergabeverfahren bestehende vertragsähnliche Vertrauensverhältnis und einen hieraus entstehenden Schadensersatzanspruch – zu Recht – ersichtlich dem Privatrecht zu. Nichts anderes gilt für den hier geltend gemachten (Primär-) Anspruch auf ordnungsgemäße Auswahl im Vergabeverfahren.[17] cc) Für die Bestimmung des Rechtswegs ist es unerheblich, dass die öffentliche Hand bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auch – zumindest mittelbar – öffentliche Aufgaben wahrnimmt und dass die Abgrenzung zur Wirtschaftsförderung und -lenkung im Einzelfall fließend sein kann (vgl. hierzu Kopp, BayVBl 1980, 609 [611]; Sodan, in: Sodan/Ziekow, a. a. O., § 40 Rn. 334 f.). Aus der Tatsache, dass staatliche Maßnahmen der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienen, kann nicht ohne Weiteres der Schluss gezogen werden, dass die öffentliche Hand sich auch öffentlich-rechtlicher Mittel zur Erreichung dieser Ziele bedient (Urteile vom 13. März 1970 a. a. O. S. 105 bzw. S. 12 und vom 19. Mai 1994 a. a. O. S. 74 bzw. S. 4; Beschluss vom 18. Oktober 1993 – BVerwG 5 B 26.93 – BVerwGE 94, 229 [232] = Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 267 S. 53). Die öffentliche Verwaltung kann die ihr anvertrauten öffentlichen Aufgaben, wenn und soweit keine öffentlich-rechtlichen Normen oder Rechtsgrundsätze entgegenstehen, auch in der Form und mit den Mitteln des Privatrechts erfüllen (Urteile vom 11. Februar 1993 – BVerwG 4 C 18.91 – BVerwGE 92, 56 [64 f.] = Buchholz 406. 11 § 1 BauGB Nr. 61 S. 55 und vom 19. Mai 1994 a. a. O. S. 74 bzw. S. 4; Beschlüsse vom 18. Oktober 1993 a. a. O. S. 231 f. bzw. S. 53 f. und vom 15. November 2000 – BVerwG 3 B 10.00 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 286 S. 3; BGH, Urteil vom 5. April 1984 – III ZR 12/83 – BGHZ 91, 84 [95 f.]). Maßgeblich für die Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zum öffentlichen Recht oder zum Privatrecht ist nicht das Ziel, sondern die Rechtsform staatlichen Handelns; ist diese – wie hier – privatrechtlich, so ist es grundsätzlich auch die betreffende Streitigkeit (Sodan, in: Sodan/Ziekow, a. a. O., § 40 Rn. 316).[18] dd) Für den Rechtsweg ebenfalls nicht entscheidend ist der Umstand, dass die öffentliche Hand im Vergabeverfahren öffentlich-rechtlichen Bindungen unterliegt, die für Privatpersonen nicht in entsprechender Weise gelten. Ob und in welchem Umfang bei der Auswahl eines Vertragspartners durch die öffentliche Hand eine derartige Bindung besteht, ist keine Frage des Rechtswegs, sondern der zu treffenden Sachentscheidung (GmS-OGB, Beschluss vom 10. April 1986 a. a. O. S. 316 f.). Das Zivilrecht wird insoweit als "Basisrecht" von den einschlägigen öffentlich-rechtlichen Bindungen überlagert (Pietzcker, NVwZ 1983, 121 [122 und 124 f.]; ders., ZfBR 2007, 131 [134 f.]). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs wird dort, wo sich der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben privater Gestaltungsformen bedient, die Privatrechtsordnung lediglich in einzelnen Punkten durch öffentlichrechtliche Bindungen ergänzt, modifiziert und überlagert, ohne dass darum das Verwaltungshandeln selbst dem öffentlichen Recht zuzuordnen wäre (sog. Verwaltungsprivatrecht); infolgedessen haben über derartige öffentlich-rechtliche Bindungen des privatrechtlichen Verwaltungshandelns die ordentlichen Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeit mit zu entscheiden (Beschlüsse vom 6. März 1990 – BVerwG 7 B 120.89 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 244 = NVwZ 1990, 754 und vom 29. Mai 1990 – BVerwG 7 B 30.90 – Buchholz 415. 1 AllgKommR Nr. 103 = NVwZ 1991, 59; BGH, Urteile vom 5. April 1984 a. a. O. S. 96 f., vom 17. Juni 2003 – XI ZR 195/02 – BGHZ 155, 166 [173 ff.] und vom 21. Juli 2006 – V ZR 158/05 – NVwZ 2007, 246; Beschluss vom 7. Dezember 1999 a. a. O. S. 1043). Die Frage, welcher Rechtsweg für Streitigkeiten bei der "unterschwelligen" Vergabe öffentlicher Aufträge gegeben ist, hängt vor diesem Hintergrund nicht entscheidend davon ab, ob Vergaberecht öffentliches Recht ist (vgl. zu Letzterem Rennert, DVBl 2006, 1252 ff.; U. Stelkens, a. a. O., S. 414 ff.).[19] Insbesondere die Bindung der im Vergabeverfahren vorzunehmenden Auswahl an das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG führt nicht dazu, dass das Rechtsverhältnis zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und den Bietern als öffentlich-rechtlich anzusehen ist. Jede staatliche Stelle hat unabhängig von der Handlungsform den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu beachten (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 a. a. O. S. 3703 Rn. 64). Diese Bindung kann daher für die Qualifizierung eines Rechtsverhältnisses als öffentlichrechtlich oder privatrechtlich nicht entscheidend sein. Andernfalls wäre nahezu jedes Rechtsverhältnis zwischen der öffentlichen Verwaltung und dem Bürger angesichts der umfassenden Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG als öffentlichrechtlich anzusehen; für die Annahme privatrechtlichen Handelns der öffentlichen Hand bliebe letztlich kein Raum mehr (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Juli 2006 a. a. O. S. 1252; Dörr, a. a. O. S. 1024). Öffentlichrechtliche Bindungen der Verwaltung, die im Kern nur aus der Bindung an den Gleichheitssatz bestehen, führen nicht dazu, deren Handeln als öffentlichrechtlich einzustufen und den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten zu bejahen. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge besteht die Bindung der öffentlichen Hand im Kern aber allein in der Bindung an den Gleichheitssatz, welcher verlangt, dass jeder Bewerber eine faire Chance erlangt, nach Maßgabe der für den jeweiligen Auftrag wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 a. a. O. S. 3703 Rn. 65). Diese Anforderungen an die Wettbewerbsgleichheit der Bieter berühren indes nicht die privatrechtlichen Grundlagen des Rechtsverhältnisses zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und den Bietern und machen die Streitigkeit zwischen dem unterlegenen Bieter und dem öffentlichen Auftraggeber deshalb nicht zu einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies alles gilt auch mit Blick auf die dem europäischen Gemeinschaftsrecht zu entnehmenden Gebote der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, denen der Europäische Gerichtshof bestimmte Anforderungen an das bei der Vergabe von binnenmarktrelevanten Aufträgen einzuhaltende Verfahren (Transparenz, Unparteilichkeit) entnimmt (vgl. dazu die Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinie fallen, vom 1. August 2006, ABl Nr. C 179, S. 2, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs).[20] Etwas anderes folgt auch nicht aus den haushaltsrechtlichen Bindungen der öffentlichen Hand bei der Vergabe von Aufträgen. Das Oberverwaltungsgericht hat auf § 25 Abs. 1 der Gemeindehaushaltsverordnung NRW (GemHVO NRW) hingewiesen, wonach der Vergabe von Aufträgen eine öffentliche Ausschreibung vorausgehen muss, soweit nicht die Natur des Geschäfts oder besondere Umstände eine beschränkte Ausschreibung oder eine freihändige Vergabe rechtfertigen. Nach § 25 Abs. 2 GemHVO NRW sind bei der Vergabe von Aufträgen in einer finanziellen Größenordnung unterhalb der durch die Europäische Union festgelegten Schwellenwerte die Vergabebestimmungen anzuwenden, die das Innenministerium bekannt gibt. Nach Nr. 4 der insoweit einschlägigen "Vergabegrundsätze für Gemeinden (GV) nach § 25 Gemeindehaushaltsverordnung (GemHVO) (Kommunale Vergabegrundsätze)" (RdErl. d. Innenministeriums vom 22. März 2006, MBl NRW 2006, 222) sollen bei Aufträgen über Bauleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte grundsätzlich die Teile A (Abschnitt 1), B und C der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) in der jeweils geltenden Fassung angewendet werden. Derartige haushaltsrechtliche Regelungen – wie auch § 55 der Bundeshaushaltsordnung (BHO) – sind reines Innenrecht und binden den öffentlichen Auftraggeber allein im Innenverhältnis, nicht aber im Außenverhältnis gegenüber den Bietern. Das Haushaltsrecht dient nicht der Sicherung des Wettbewerbs oder der Einrichtung einer bestimmten Wettbewerbsordnung für das Nachfrageverhalten des Staates. Ziel der haushaltsrechtlichen Vorgaben ist vielmehr ein wirtschaftlicher und sparsamer Umgang mit Haushaltsmitteln, der im öffentlichen Interesse liegt.[21] Der Wettbewerb der Anbieter um einen ausgeschriebenen Auftrag wird als Mittel genutzt, um dieses Ziel zu erreichen, ist aber nicht selbst Ziel der haushaltsrechtlichen Normen (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 a. a. O. S. 3703 Rn. 62).[22] Die Einordnung des allgemeinen Haushaltsrechts als Innenrecht wird durch die Gesetzgebungsmaterialien zum Vergaberechtsänderungsgesetz (VgRÄG) vom 26. August 1998 (BGBl I S. 2512) bestätigt, mit dem das sog. Kartellvergaberecht der §§ 106 ff. GWB a. F. (jetzt: §§ 97 ff. GWB) für die Vergabe oberhalb der Schwellenwerte in das GWB eingefügt wurde. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollten die Bieter mit § 106 Abs. 7 GWB a. F. (jetzt: § 97 Abs. 7 GWB) erstmals ein subjektives Recht auf Einhaltung der Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe erhalten (BTDrucks 13/9340 S. 1 f.). Der Gesetzgeber ist also davon ausgegangen, dass es sich bei den haushaltsrechtlichen Vorschriften über die Vergabe von Aufträgen allein um Innenrecht handelt.[23] Ist der Geltungsanspruch der einschlägigen haushaltsrechtlichen Vorschriften mithin auf den staatlichen Innenbereich beschränkt, so können diese Vorschriften allenfalls mittelbar in der Weise in das Außenverhältnis zwischen den staatlichen Auftraggebern und den Bietern hineinwirken, dass sie eine entsprechende Verwaltungspraxis nach sich ziehen, welche ihrerseits Grundlage von Ansprüchen der Bieter auf Gleichbehandlung ist. Allein mit einer auf dem Gleichheitssatz beruhenden Bindung der öffentlichen Hand kann jedoch, wie bereits ausgeführt, die Qualifizierung des betroffenen Rechtsverhältnisses als öffentlich-rechtlich nicht begründet werden, weil die öffentliche Hand umfassend – und damit auch bei privatrechtlichem Handeln – an den Gleichheitssatz gebunden ist.[24] Aus demselben Grund kommt es auch nicht auf den Umstand an, dass der Vergabe öffentlicher Aufträge im Bausektor regelmäßig die VOB/A zu Grunde gelegt wird. Die VOB/A ist – jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 97 ff. GWB (vgl. Vygen, in: Ingenstau/Korbion, a. a. O., Einl. Rn. 37) – nicht wie eine Rechtsnorm anzuwenden (vgl. BGH, Urteil vom 21. November 1991 – VII ZR 203/90 – BGHZ 116, 149 [151]; OLG Stuttgart, Urteil vom 11. April 2002 – 2 U 240/01 – juris). Eine Bindung der öffentlichen Auftraggeber an die VOB/A im Außenverhältnis gegenüber den Bietern wird demzufolge ebenfalls nur über Art. 3 Abs. 1 GG und den hieraus abzuleitenden Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung bewirkt (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 a. a. O. S. 3703 Rn. 65; BGH, Urteil vom 21. November 1991 a. a. O. S. 152).[25] ee) Eine öffentlich-rechtliche Einordnung der Beziehungen zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und den Bietern lässt sich schließlich auch nicht durch Heranziehung der so genannten Zweistufentheorie (vgl. dazu bereits Urteile vom 6. Juni 1958 a. a. O. S. 90 ff. und vom 8. März 1962 a. a. O. S. 67 f. bzw. S. 73) erreichen. Die Zweistufentheorie ist nur dann zur rechtlichen Bewertung eines Vorgangs angemessen, wenn dieser durch eine Mehrphasigkeit der Aufgabenwahrnehmung gekennzeichnet ist (vgl. Beschluss vom 15. November 2000 a. a. O. S. 4). Das ist typischerweise dann der Fall, wenn die Entscheidung über das "Ob" einer öffentlichen Leistung – etwa die Gewährung einer Subvention – durch Verwaltungsakt erfolgt, während deren Abwicklung – das "Wie" – mittels eines privatrechtlichen Vertrages durchgeführt wird (vgl. Urteil vom 8. März 1962 a. a. O. S. 68 bzw. 73; Sodan, in: Sodan/Ziekow, a. a. O., § 40 Rn. 327). Die Entscheidung über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags unterscheidet sich hiervon jedoch wesentlich. Das Vergabeverfahren ist nämlich seiner Struktur nach gerade nicht zweistufig; vielmehr erfolgt die Entscheidung über die Auswahl zwischen mehreren Bietern im Regelfall unmittelbar durch den Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages mit einem der Bieter durch Zuschlag (vgl. § 28 Nr. 2 Abs. 1 VOB/A). Hiernach fehlt es an einem Anknüpfungspunkt für eine "erste Stufe", auf der eine – nach öffentlichem Recht zu beurteilende – selbstständige "Vergabeentscheidung" fallen könnte. Durch die Anwendung der Zweistufentheorie auf die Vergabe öffentlicher Aufträge würde vielmehr ein einheitlicher Vorgang künstlich in zwei Teile aufgespalten. Die öffentlich-rechtlichen Bindungen, vor allem die Bindung an den Gleichheitssatz, denen die öffentliche Hand bei der Vergabe öffentlicher Aufträge unterliegt, zwingen nicht zur Annahme einer "ersten Stufe" bei der Auftragsvergabe in Form einer gesonderten "Vergabeentscheidung". Die öffentlich-rechtliche Überlagerung der privatrechtlichen Auftragsvergabe kann vielmehr ohne Weiteres nach den Grundsätzen des Verwaltungsprivatrechts bewältigt werden, indem die ordentlichen Gerichte über die Ergänzungen, Modifizierungen und Überlagerungen des Privatrechts durch öffentlich-rechtliche Bindungen mit zu entscheiden haben.[26] ff) Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG fordert ebenfalls kein anderes Ergebnis, denn ihr Normbereich ist für den Rechtsschutz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nicht einschlägig. Öffentliche Aufträge werden nicht in Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Vorschrift vergeben (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2006 a. a. O. S. 3702 Rn. 50 ff.). Zudem ist anerkannt, dass der Zivilrechtsweg und der Verwaltungsrechtsweg, wie sich schon aus der Auffangzuständigkeit der ordentlichen Gerichte nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG ergibt, unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes prinzipiell gleichwertig sind (Beschluss vom 29. Mai 1990 a. a. O.). Soweit in der Rechtsprechung auf Art. 19 Abs. 4 GG als Argument für den Verwaltungsrechtsweg hingewiesen wird, kann dem daher nicht gefolgt werden. Ebenso unergiebig ist Art. 19 Abs. 4 GG für die Frage, ob von einer Zweistufigkeit des Vergabeverfahrens auszugehen ist. Entscheidend für die Effektivität des Rechtsschutzes bei der "unterschwelligen" Vergabe öffentlicher Aufträge ist – sofern man entsprechend den Regelungen im sog. Kartellvergaberecht (vgl. § 114 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 123 Satz 4 GWB) auch hier von einem Ausschluss des Primärrechtsschutzes nach Erteilung des Zuschlags ausgeht – nicht die Zweistufigkeit des Verfahrens, sondern die rechtzeitige Information der Mitbieter über die beabsichtigte Auswahlentscheidung (vgl. Sauer/Hollands, NZBau 2006, 763 [765]).[27] 2. Der Rechtsstreit ist hiernach an das im Zivilrechtsweg sachlich und örtlich zuständige Landgericht Essen zu verweisen (§ 17a Abs. 2, § 71 Abs. 1, § 23 Nr. 1 GVG, § 17 Abs. 1 ZPO).[28] 3. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Eine Kostenentscheidung ist hier nicht gemäß § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG entbehrlich. § 17b Abs. 2 Satz 1 GVG gilt im Fall der Verweisung durch das Beschwerdegericht nicht, denn die Kosten im "Verfahren vor dem angegangenen Gericht" sind nur die Kosten des erstinstanzlichen Gerichts. Das Beschwerdegericht hat daher über die Kosten eines Beschwerdeverfahrens nach § 17a Abs. 4 Satz 3 und 4 GVG selbst eine Kostenentscheidung zu treffen (vgl. Beschluss vom 15. Oktober 1993 – BVerwG 1 DB 34.92 – BVerwGE 103, 26 [32]; BGH, Beschluss vom 17. Juni 1993 – V ZB 31/92 – NJW 1993, 2541; M. Wolf, in: MünchKomm, ZPO, 2. Aufl. 2001, § 17b GVG Rn. 10; a. A. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 41 [§§ 17 – 17b GVG] Rn. 45).[29] 4. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2013-89
17.12.2013
Pressemitteilung Nr. 89/2013 vom 17.12.2013 EN Haar- und Barterlass der Bundeswehr ist rechtmäßig Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass der sogenannte Haar- und Barterlass, der die Haar- und Barttracht der Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr regelt, rechtmäßig ist. Der Antragsteller leistete ab Januar 2009 als Wehrpflichtiger Grundwehrdienst in einem Ausbildungsregiment. Er trug bei Antritt des Wehrdienstes rund 40 cm lange Haare, die offen getragen auf den Rücken fielen. Im Dienst sicherte er die Haare zunächst mit mehreren Haargummis, so dass sie einen langen, über den Uniformkragen hinaus bis zu den Schulterblättern reichenden Pferdeschwanz ergaben; später trug er die Haare hochgebunden. Seine Disziplinarvorgesetzten befahlen dem Antragsteller mehrfach, sich mit einer Frisur zum Dienst zu melden, die den Bestimmungen des Haar- und Barterlasses entspricht. Dieser sieht für männliche Soldaten vor, dass das Haar am Kopf anliegen oder so kurz geschnitten sein muss, dass Ohren und Augen nicht bedeckt werden; das Haar muss so getragen werden, dass bei aufrechter Kopfhaltung Uniform- und Hemdkragen nicht berührt werden. Der Antragsteller befolgte die Befehle nicht und erhob gegen zwei dieser Befehle Beschwerde nach der Wehrbeschwerdeordnung. Er sah sich in seinem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt und verlangte Gleichbehandlung mit Soldatinnen, denen das Tragen längerer Haare, ggf. mit einem Haarnetz, gestattet sei. Sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde vom Truppendienstgericht zurückgewiesen. Auch die wegen Divergenz zugelassene Rechtsbeschwerde zum Bundesverwaltungsgericht blieb ohne Erfolg. Der 1. Wehrdienstsenat hat entschieden, dass der Bundesminister der Verteidigung befugt ist, im Zusammenhang mit der Uniform der Soldaten auch deren Haar- und Barttracht zu regeln. Mit dem geltenden Erlass hat er dabei den ihm zustehenden Einschätzungsspielraum nicht überschritten. Der spezifische Auftrag und die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte sind unverändert in einem hohen Maß durch ein nach außen einheitliches Auftreten und einen nach innen engen Zusammenhalt ihrer Angehörigen geprägt. Einschränkungen der Soldaten in der freien Gestaltung ihrer Haartracht sind deshalb durch das Regelungsziel eines - für das Selbstverständnis und die öffentliche Wahrnehmung bestimmenden - einheitlichen äußeren Erscheinungsbilds der Bundeswehr bei der Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags im In- und Ausland gerechtfertigt. Im Hinblick auf die auch den Soldaten in weitem Umfang gewährleisteten Freiheiten zur individuellen Lebensgestaltung stellt die im Äußerlichen bleibende Regelung der Haartracht ein verhältnismäßiges Mittel dar, zumal keine „Einheitsfrisur“ verordnet, sondern lediglich äußere Grenzen gesetzt werden. Eine Ausnahme für Grundwehrdienstleistende (im Rahmen der bis zum 30. Juni 2011 geltenden allgemeinen Wehrpflicht) war nicht geboten, weil diese wegen ihrer großen Zahl und ihrer Verteilung auf nahezu sämtliche Truppengattungen und Tätigkeitsbereiche das Gesamtbild der Bundeswehr maßgeblich mitprägten. Die Regelung über die Haartracht von Soldatinnen, die diesen auch das Tragen längerer Haare gestattet, stellt eine zulässige Maßnahme zur Förderung von Frauen in der Bundeswehr dar, die die striktere Regelung der Haartracht für männliche Soldaten nicht in Frage stellt. Im Anschluss an die allgemeine Öffnung der Bundeswehr für Frauen im Januar 2001 und bei einem Anteil der Frauen in den Streitkräften von derzeit rund 10 % hat sich für das äußere Erscheinungsbild von Soldatinnen noch keine Tradition oder Erwartungshaltung innerhalb der Bundeswehr und in der Öffentlichkeit verfestigt. Fußnote: Der Haar- und Barterlass (Anlage 1 zu der Zentralen Dienstvorschrift 10/5) lautet wie folgt:  „Die Haar- und Barttracht der Soldaten  Die Erfordernisse des militärischen Dienstes hinsichtlich Funktionsfähigkeit, Unfallverhütung, Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit, Disziplin und Hygiene stellen grundsätzliche Anforderungen an die Haartracht der Soldatinnen sowie die Haar- und Barttracht der Soldaten. 1. Die Haar- und Barttracht muss sauber und gepflegt sein. Modische Frisuren sind erlaubt; ausgenommen sind Frisuren, die in Farbe, Schnitt und Form besonders auffällig sind (z. B. Punkerfrisuren, Irokesenschnitte, grell gefärbte Haarsträhnen, Ornamentschnitte). 2. Das Haar von Soldaten muss am Kopf anliegen oder so kurz geschnitten sein, dass Ohren und Augen nicht bedeckt werden. Es ist so zu tragen, dass bei aufrechter Kopfhaltung Uniform- und Hemdkragen nicht berührt werden. Nicht erlaubt sind besonders ausgefallene Haarschnitte (z. B. Pferdeschwänze, gezopfte Frisuren). Bärte und Koteletten müssen kurz geschnitten sein. Wenn sich der Soldat einen Bart wachsen lassen will, muss er dies während seines Urlaubs tun. Die oder der Disziplinarvorgesetzte kann Ausnahmen genehmigen. 3. Die Haartracht von Soldatinnen darf den vorschriftsmäßigen Sitz der militärischen Kopfbedeckung nicht behindern. Zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen und bei bestimmten Diensten (z. B. Gefechtsausbildung, Sportausbildung, Teilnahme an Einsätzen und Übungen) kann die oder der Disziplinarvorgesetzte bei langen Haaren das Tragen eines Haarnetzes befehlen. 4. Auch für Angehörige der Reserve , die Wehrübungen leisten, muss die Haar- und Barttracht sauber und gepflegt sein. Unabhängig davon soll die bzw. der Disziplinarvorgesetzte das Tragen eines Haarnetzes befehlen, wenn das Haar in Farbe, Schnitt und Form den vorgenannten Forderungen nicht entspricht. Soweit besondere Verhältnisse Abweichungen von den o.a. Bestimmungen erforderlich machen oder für bestimmte Personengruppen (z.B. Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen, fliegendes Personal, Soldatinnen und Soldaten im protokollarischen Dienst, Pflegepersonal in Bundeswehrkrankenhäusern) Sonderregelungen erforderlich sind, sind diese zu befehlen. Zuständig sind die Inspekteure der Teilstreitkräfte, der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und der Inspekteur der Streitkräftebasis. Die Befugnis kann delegiert werden“. BVerwG 1 WRB 2.12 - Beschluss vom 17. Dezember 2013 Vorinstanz: Truppendienstgericht Nord, N 6 BLa 3/09 - Beschluss vom 21. Juni 2012 - BVerwG 1 WRB 3.12 - Beschluss vom 17. Dezember 2013 Vorinstanz: Truppendienstgericht Nord, N 6 BLa 4/09 - Beschluss vom 21. Juni 2012 -
BundesverwaltungsgerichtHaar- und Barttracht; Uniform; Vorbehalt des Gesetzes; Einschätzungsspielraum; Erfordernisse des militärischen Dienstes; einheitliches äußeres Erscheinungsbild; Wehrpflichtiger; Gleichberechtigung von Männern und Frauen; Förderung von Frauen; Zustellung von Beschlüssen der Wehrdienstgerichte; Zustellung an Bevollmächtigten.GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3; SG § 4 Abs. 3, § 6; SGleiG § 1, § 4; WBO § 18 Abs. 2 Satz 5; WDO § 91 Abs. 1; Anlage 1 (Die Haar- und Barttracht der Soldaten) zur Zentralen Dienstvorschrift 10/5 (Leben in der militärischen Gemeinschaft)1. Dem Wehrdienstgericht steht ein Wahlrecht zu, Beschlüsse in gerichtlichen Verfahren nach der Wehrbeschwerdeordnung dem Beschwerdeführer persönlich oder seinem Bevollmächtigten zuzustellen. Wird der Beschluss sowohl dem Beschwerdeführer als auch dem Bevollmächtigten zugestellt, so richtet sich die Berechnung der Rechtsmittelfrist nach der zuletzt bewirkten Zustellung.2. Der Bundesminister der Verteidigung hat bei der Ausübung seiner Befugnis, die Haar- und Barttracht der Soldaten durch Verwaltungsvorschriften zu regeln, einen Einschätzungsspielraum. Einschränkungen der freien Gestaltung der Haartracht können durch das Regelungsziel eines – für das Selbstverständnis und die öffentliche Wahrnehmung bestimmenden – einheitlichen äußeren Erscheinungsbilds und Auftretens der deutschen Streitkräfte im In- und Ausland bei der Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags gerechtfertigt sein.3. Der Erlass über die Haar- und Barttracht der Soldaten (Anlage 1 zur Zentralen Dienstvorschrift 10/5) ist rechtmäßig. Die – von der Regelung für männliche Soldaten abweichende – Regelung über die Haartracht von Soldatinnen ist eine zulässige Maßnahme zur Förderung von Frauen in der Bundeswehr.BVerwG, Beschluss vom 17. 12. 2013 – 1 WRB 2.12; TDG Nord (lexetius.com/2013,6356)In den Wehrbeschwerdeverfahren hat der 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer, den ehrenamtlichen Richter Oberstleutnant Schneider und den ehrenamtlichen Richter Oberstabsgefreiter Dilly am 17. Dezember 2013 beschlossen:Die Verfahren BVerwG 1 WRB 2.12 und BVerwG 1 WRB 3.12 werden zu gemeinsamer Beratung und Entscheidung verbunden.Die Rechtsbeschwerden des Antragstellers gegen die Beschlüsse des Truppendienstgerichts Nord vom 21. Juni 2012 werden zurückgewiesen.Der Antragsteller trägt die Kosten der Rechtsbeschwerdeverfahren.Gründe:[1] 1 I. Der Antragsteller begehrt die Feststellung, dass zwei ihm am 3. März 2009 (BVerwG 1 WRB 3.12) und am 25. März 2009 (BVerwG 1 WRB 2.12) erteilte Befehle, sich mit einer dem Haar- und Barterlass entsprechenden Frisur zu melden, rechtswidrig gewesen sind.[2] 2 Der 1990 geborene Antragsteller leistete ab dem 1. Januar 2009 als Wehrpflichtiger Grundwehrdienst bei der 17/. in S.; seine Dienstzeit hätte mit Ablauf des 30. September 2009 geendet. Mit Verfügung vom 3. April 2009 entließ der Kommandeur des … kommandos den Antragsteller gemäß § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG vorzeitig aus der Bundeswehr. Zur Begründung führte er aus, dass der Antragsteller wiederholt die Ausführung von Befehlen, sich mit vorschriftsgemäßem Haarschnitt zu melden, nicht befolgt habe. Gegen den Antragsteller sei deswegen bereits eine Disziplinarbuße von 150 € sowie drei Disziplinararreste von insgesamt 43 Tagen verhängt und vollstreckt worden. Da eine Verhaltensänderung nicht zu erwarten sei, würde ein Verbleiben des Antragstellers im Dienstverhältnis die militärische Ordnung ernstlich gefährden.[3] 3 Der Antragsteller trug nach seiner Darstellung bereits seit etwa acht Jahren lange Haare, die bei Antritt des Wehrdienstes rund 40 cm lang gewesen seien und offen getragen auf den Rücken fielen. Er habe seine Haare zunächst mit mehreren Haargummis in der Weise gesichert, dass sie einen langen, über den Uniformkragen hinaus bis zu den Schulterblättern reichenden Pferdeschwanz ergeben hätten. Zur Zeit der hier strittigen Befehle habe er die Haare hochgebunden getragen.[4] 4 Am 3. März 2009 befahl der Kompaniechef dem Antragsteller, sich am 4. März 2009 um 7: 30 Uhr mit einer Frisur zu melden, die den Bestimmungen der ZDv 10/5, Anlage 1 (Die Haar- und Barttracht der Soldaten), entspreche. Der Antragsteller befolgte diesen Befehl nicht.[5] 5 Am 25. März 2009 befahl der Stellvertreter des Kompaniechefs dem Antragsteller, sich am 26. März 2009 um 14: 30 Uhr mit einer Frisur zu melden, die den Bestimmungen der ZDv 10/5, Anlage 1, entspreche. Nach dem Vortrag des Antragstellers habe der Befehl wörtlich gelautet: "Ich erteile Ihnen hiermit den Befehl, sich die Haare schneiden zu lassen, so dass sie offen getragen den Hemdkragen nicht berühren, gemäß Haar- und Barterlass. Melden Sie sich morgen bei mir mit neuer Frisur um 14: 30 Uhr!". Der Antragsteller befolgte auch diesen Befehl nicht.[6] 6 Der sogenannte Haar- und Barterlass (Anlage 1 zu ZDv 10/5) lautet wie folgt:"Die Haar- und Barttracht der SoldatenDie Erfordernisse des militärischen Dienstes hinsichtlich Funktionsfähigkeit, Unfallverhütung, Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit, Disziplin und Hygiene stellen grundsätzliche Anforderungen an die Haartracht der Soldatinnen sowie die Haar- und Barttracht der Soldaten.1. Die Haar- und Barttracht muss sauber und gepflegt sein. Modische Frisuren sind erlaubt; ausgenommen sind Frisuren, die in Farbe, Schnitt und Form besonders auffällig sind (z. B. Punkerfrisuren, Irokesenschnitte, grell gefärbte Haarsträhnen, Ornamentschnitte).2. Das Haar von Soldaten muss am Kopf anliegen oder so kurz geschnitten sein, dass Ohren und Augen nicht bedeckt werden. Es ist so zu tragen, dass bei aufrechter Kopfhaltung Uniform- und Hemdkragen nicht berührt werden. Nicht erlaubt sind besonders ausgefallene Haarschnitte (z. B. Pferdeschwänze, gezopfte Frisuren).Bärte und Koteletten müssen kurz geschnitten sein. Wenn sich der Soldat einen Bart wachsen lassen will, muss er dies während seines Urlaubs tun. Die oder der Disziplinarvorgesetzte kann Ausnahmen genehmigen.3. Die Haartracht von Soldatinnen darf den vorschriftsmäßigen Sitz der militärischen Kopfbedeckung nicht behindern. Zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen und bei bestimmten Diensten (z. B. Gefechtsausbildung, Sportausbildung, Teilnahme an Einsätzen und Übungen) kann die oder der Disziplinarvorgesetzte bei langen Haaren das Tragen eines Haarnetzes befehlen.4. Auch für Angehörige der Reserve, die Wehrübungen leisten, muss die Haar- und Barttracht sauber und gepflegt sein. Unabhängig davon soll die bzw. der Disziplinarvorgesetzte das Tragen eines Haarnetzes befehlen, wenn das Haar in Farbe, Schnitt und Form den vorgenannten Forderungen nicht entspricht.Soweit besondere Verhältnisse Abweichungen von den o. a. Bestimmungen erforderlich machen oder für bestimmte Personengruppen (z. B. Soldatinnen und Soldaten in Auslandsverwendungen, fliegendes Personal, Soldatinnen und Soldaten im protokollarischen Dienst, Pflegepersonal in Bundeswehrkrankenhäusern) Sonderregelungen erforderlich sind, sind diese zu befehlen. Zuständig sind die Inspekteure der Teilstreitkräfte, der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und der Inspekteur der Streitkräftebasis. Die Befugnis kann delegiert werden".[7] 7 Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 4. März 2009 und 27. März 2009 legte der Antragsteller Beschwerde gegen die Befehle vom 3. März 2009 und 25. März 2009 ein. Mit Bescheiden vom 10. März 2009 und 1. April 2009 wies der Kommandeur des … Bataillons … regiment die Beschwerden zurück. Die mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 24. März 2009 und 7. April 2009 erhobenen weiteren Beschwerden des Antragstellers wies der Kommandeur des … regiments mit Bescheiden vom 9. April 2009 zurück.[8] 8 Mit Schriftsätzen seiner Bevollmächtigten vom 14. Mai 2009 beantragte der Antragsteller hiergegen die Entscheidung des Truppendienstgerichts. Zur Begründung machte er geltend, dass der Haar- und Barterlass und die hierauf gestützten Befehle rechtswidrig seien und insbesondere gegen seine Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Unverletzlichkeit der Person (Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG) sowie gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), auch in seiner speziellen Ausprägung des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG, verstießen.[9] 9 Mit in den rechtlichen Erwägungen im Wesentlichen gleichlautenden Beschlüssen vom 21. Juni 2012 – N 6 BLa 3/09 und N 6 BLa 4/09 – wies das Truppendienstgericht Nord die Anträge auf gerichtliche Entscheidung zurück und ließ wegen der Abweichung seiner Entscheidungen von dem Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom 21. Dezember 2004 – S 4 BLc 18/04 – NZWehrr 2005, 257 – die Rechtsbeschwerde zu. Die dem Antragsteller erteilten Befehle, sich mit einer Frisur zu melden, die den Bestimmungen des Haar- und Barterlasses entspreche, seien rechtmäßig. Weder die Befehle noch der Erlass verstießen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz oder das Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen; sie verletzten den Antragsteller auch nicht in seinem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.[10] 10 Die Befehle und der Erlass dienten dienstlichen Zwecken. Bei vielen in den Streitkräften auszuübenden Tätigkeiten technischer Art seien Soldaten mit längeren Haaren in höherem Maße unfallgefährdet. Befehle und Erlasse, die einer Unfallgefährdung und Funktionsbehinderung entgegenwirkten, dienten unmittelbar militärischen Belangen. Sie entsprächen der besonderen Fürsorgepflicht des Vorgesetzten und seien für einen geordneten militärischen Dienstbetrieb unerlässlich.[11] 11 Die unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Soldaten verstoße nicht gegen Art. 3 GG. Da die Regelung der Haartracht für weibliche Soldaten sich als spezielle Regelung für einen besonderen, genau abgrenzbaren Personenkreis im Verhältnis zu den allgemeinen Bestimmungen über die Haartracht der Bundeswehr darstelle, sei diese Regelung – neben geschlechtsspezifischen Gründen – auch sachlich gerechtfertigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfahre der Grundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG eine Durchbrechung, wenn im Hinblick auf die objektiven biologischen oder funktionalen (arbeitsteiligen) Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses eine besondere Regelung erlaubt oder sogar geboten sei. Ein solcher Fall sei hier gegeben. Leitgedanke des Bundesministers der Verteidigung bei den weniger strengen Anforderungen an die Haartracht der Soldatinnen sei unverändert die Auffassung, dass Frauen das Tragen langer Haare als besonderen Ausdruck von Weiblichkeit empfänden; Frauen würden der Gestaltung ihres äußeren Erscheinungsbilds einschließlich der Möglichkeit, die Haare ohne Rücksicht auf Schwankungen der jeweiligen Mode kürzer oder länger zu tragen, allgemein und regelmäßig weit größere, möglicherweise grundlegende Bedeutung beimessen. Grundlage für die Regelungen des Haar- und Barterlasses sei deshalb eine tiefer gehende Rücksichtnahme auf allein Frauen betreffende Lebensumstände. Dass heute bei einem sich wandelnden modischen Geschmack auch Männer zum Teil lange Haare – wie etwa Zöpfe oder Pferdeschwänze – tragen und andererseits manche Frauen einen Kurzhaarschnitt bevorzugen würden, mache aus langen Haaren oder einem Pferdeschwanz keine typisch männliche Haartracht. Lange Haare oder ausgefallene Haarschnitte und Frisuren, wie zum Beispiel gezopfte Frisuren oder Pferdeschwänze, könnten auch in den Augen eines vernünftig urteilenden Dritten als Disziplinlosigkeit gewertet werden und demzufolge das Vertrauen der Bevölkerung beeinträchtigen, dass die Bundeswehr ihren verfassungsmäßigen Auftrag ordnungsgemäß erfüllen werde. In fast allen Streitkräften der Welt hätten männliche Soldaten die Haare kurz zu tragen, während dies für Frauen nicht gelte.[12] 12 Die angefochtenen Befehle und der Haar- und Barterlass verletzten den Antragsteller auch nicht in seinem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Zwar schränkten die Befehle und der Erlass dieses Grundrecht, das auch das Recht auf eigenverantwortliche Gestaltung des äußerlich erkennbaren Erscheinungsbilds umfasse, ein und stellten somit einen Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts dar. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit finde jedoch seine Schranke in der verfassungsmäßigen Ordnung, zu der aufgrund des mit Verfassungsrang ausgestatteten Verteidigungsauftrags gemäß Art. 87a GG auch das Wehrwesen gehöre. Demzufolge bestimme § 6 Satz 2 SG, dass die staatsbürgerlichen Rechte im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch die gesetzlich begründeten Soldatenpflichten beschränkt würden. Zu diesen Erfordernissen gehörten auch die Gesichtspunkte der Funktionsfähigkeit, Hygiene und Unfallverhütung.[13] 13 Die angefochtenen Befehle und der Haar- und Barterlass verletzten auch nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Schutzwürdigkeit eines Soldaten hänge nicht davon ab, ob dieser im Zivilleben Haare mit einer Länge von 10, 20, 30 oder 40 cm getragen habe. Die Länge der Haare, die Zeitdauer des Haarwuchses bis zum Erreichen dieser Länge und die erforderliche Zeit zum Nachwachsen nach dem Ausscheiden aus dem Wehrdienst seien keine Kriterien, die im Rahmen des Übermaßverbotes beachtlich seien. Auch der Status des betroffenen männlichen Soldaten (Grundwehrdienstleistender, freiwillig länger Wehrdienstleistender, Soldat auf Zeit oder Berufssoldat) habe keine Auswirkung darauf, ob ein Befehl zum Haareschneiden verhältnismäßig sei; die Erfordernisse des militärischen Dienstes wie Unfallverhütung, Vermeidung einer Funktionsbehinderung, Disziplin, Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit und Hygiene würden für jeden Soldaten gleichermaßen und unabhängig von seinem Status gelten. Es liege auch kein derartig tiefer Einschnitt in den Rechtsbereich des Antragstellers vor, dass die Bedeutung des verfolgten dienstlichen Zwecks außer Verhältnis zu Art und Tiefe des Eingriffs stünde.[14] 14 Die Beschlüsse des Truppendienstgerichts wurden dem Antragsteller am 30. Juni 2012 (Sonnabend) mit Postzustellungsurkunde und dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 2. Juli 2012 (Montag) gegen Empfangsbekenntnis zugestellt.[15] 15 Gegen diese Beschlüsse wendet sich der Antragsteller mit den mit Schriftsätzen seiner Bevollmächtigten vom 24. Juli 2012 eingelegten Rechtsbeschwerden, die er mit Schriftsätzen vom 3. September 2012 (Montag), eingegangen beim Truppendienstgericht Nord am selben Tage, begründete.[16] 16 Zur Begründung führt der Antragsteller insbesondere aus:Die Rechtsbeschwerden seien zulässig, insbesondere rechtzeitig begründet. Für die Fristberechnung komme es auf die Zustellung an den Bevollmächtigten, nicht auf die Zustellung an ihn, den Antragsteller, persönlich an.In der Sache stellten sich die angegriffenen Beschlüsse als rechtswidrig dar. Zweifelhaft sei bereits, ob die erteilten Befehle dienstlichen Zwecken dienten. Da mittlerweile sämtliche Laufbahnen der Bundeswehr auch für Frauen geöffnet seien, sei davon auszugehen, dass das für Frauen erlaubte Tragen eines Haarnetzes gleichermaßen Unfälle zu verhüten vermöge wie das Abschneiden langer Haare. Ebenso sei davon auszugehen, dass sonstige denkbare Behinderungen, etwa des Sichtvermögens, durch das Tragen eines Haarnetzes auszuschließen seien. Angesichts der heute überall – auch im Feldeinsatz – in Einrichtungen der Bundeswehr vorhandenen sanitären Einrichtungen spielten auch Aspekte der Hygiene keine Rolle mehr.[17] 17 Zweifelhaft sei ferner, ob die Länge der Haartracht ein geschlechtsspezifisches Merkmal darstelle, das die Ungleichbehandlung zwischen Soldatinnen und Soldaten rechtfertige. Im Gegenteil zeige die heutige Zivilgesellschaft mit ihren vielfältigen Frisuren, dass weder an der Länge noch an der Färbung der Haare Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht festgemacht werden könnten. Insofern würde ein Befehl, sich die Haare auf ein bestimmtes Maß zu kürzen, sowohl bei einer Frau als auch bei einem Mann gleichermaßen tief in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreifen. Es sei deswegen nicht nachvollziehbar, dass unterschiedliche Regelungen aus Rücksichtnahme auf allein Frauen betreffende Lebensumstände erforderlich seien. Fragen des Ansehens in der Welt seien jedenfalls nicht geeignet, die Grundrechtsbeeinträchtigung zu rechtfertigen. Besondere Vergünstigungen beanspruche er, der Antragsteller, nicht; er verlange lediglich, genauso eingriffslos gestellt zu werden, wie dies bei dienenden Frauen der Fall sei.[18] 18 Aus Art. 87a GG ergebe sich keine Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG. Gegenüber ihm als Wehrpflichtigen dürften gemäß Art. 17a Abs. 1 GG nur die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit sowie das Petitionsrecht eingeschränkt werden. Abgesehen davon regele Art. 87a GG nur die Befugnis des Bundes zum Aufstellen von Streitkräften, den Verteidigungsauftrag, die Einsatzbefugnis im Verteidigungs- und Spannungsfall sowie den Einsatz zur Gefahrenabwehr; von Grundrechtseinschränkungen sei nicht die Rede. Auch dem Soldaten- und dem Wehrpflichtgesetz sei diesbezüglich nichts zu entnehmen. Der Haar- und Barterlass könne sich daher nicht auf eine Ermächtigungsgrundlage stützen. Gerügt werde ferner eine Verletzung des Zitiergebots gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG.[19] 19 Art. 2 Abs. 1 GG könne vorliegend zudem auch durch eine Norm nicht verfassungsmäßig eingeschränkt werden, weil die Identität eines Menschen zum geschützten Kernbereich des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, der unantastbaren Sphäre privater Lebensgestaltung, gehöre. Die Haartracht eines Menschen habe eine im hohen Maße identitätsstiftende Wirkung, jeder Mensch fühle sich nur mit "seiner", der zu ihm passenden Frisur wohl. Nehme man dem Menschen sein diesbezügliches Ausdrucksvermögen, so nehme man ihm zugleich seine innere Würde und reduziere ihn auf einen Status als Objekt äußerer Vorstellung. Nicht geprüft worden sei ferner, ob die Befehle gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verstießen. Das Abschneiden von Haaren stelle einen Substanzeingriff dar, der den Tatbestand der Körperverletzung erfülle, wenn es gegen den Willen erfolge. Für die körperliche Misshandlung seien Schmerzen nicht von entscheidender Bedeutung. Es stehe außer Frage, dass das Abschneiden von rund 40 cm Haarlänge das äußere Erscheinungsbild eines Menschen tiefgreifend verändere und ihn seiner Identität berauben könne, was zwangsläufig seelische Schmerzen auslöse. Es spiele auch keine Rolle, ob eine solche Körperverletzung durch aktives Tun eines anderen oder durch den Zwang, sich einem entsprechenden Befehl zu beugen, bewirkt werde.[20] 20 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung beschränkten sich die angefochtenen Beschlüsse auf bloße Behauptungen. So bleibe das Kriterium der Disziplin völlig konturlos; es sei weder erläutert noch ersichtlich, weshalb ein männlicher Soldat mit langen Haaren weniger Disziplin aufweisen solle als ein weiblicher. Hinsichtlich der Kriterien der Funktionsfähigkeit, Hygiene und Unfallverhütung belege der Einsatz von Frauen in allen Laufbahnen der Bundeswehr mit der generellen Erlaubnis, lange Haare zu tragen, dass diese Kriterien nicht von Bedeutung sein könnten. Unabhängig davon sei die Regelung nicht erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne gewesen, weil es mildere Mittel als den Eingriff in Kernbereiche der Persönlichkeit gebe. Man habe ihn, den Antragsteller, gar nicht erst einziehen dürfen oder dort verwenden müssen, wo – wie bei Frauen – Beeinträchtigungen ausgeschlossen seien.[21] 21 Der Bundesminister der Verteidigung tritt den Rechtsbeschwerden entgegen. Er hält sie für nicht zulässig, weil sie verspätet begründet worden seien. Maßgeblich für den Lauf der Fristen für die Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde sei die Zustellung an den Antragsteller, weshalb die Begründungsfrist am 30. August 2012 abgelaufen und der Eingang beim Truppendienstgericht am 3. September 2012 verspätet sei. In der Sache seien die Rechtsbeschwerden unbegründet. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich wiederholt mit den Regelungen des Haar- und Barterlasses befasst und diese für rechtmäßig befunden (zuletzt Beschluss vom 26. Oktober 1999 – BVerwG 1 WB 24.99 -). Gründe für ein Abweichen von dieser Rechtsprechung seien nicht ersichtlich.[22] 22 Das Gericht hat den Bundesminister der Verteidigung um Auskunft unter anderem zu folgender Frage gebeten:"2. Welche Erwägungen liegen der geltenden Regelung über die Haartracht weiblicher Soldaten zugrunde?Insbesondere:a) Wurden auch Alternativen zu der möglichen Anordnung des Tragens eines Haarnetzes erwogen? Wenn ja: Um welche Alternativen handelt es sich und aus welchen Gründen wurden diese nicht in den Erlass aufgenommen?b) Handelt es sich aus Sicht des Erlassgebers bei Nr. 3 der Anlage 1 zur ZDv 10/5 um eine Maßnahme, die die Förderung von Frauen (im Sinne von § 1 SGleiG) bezweckt?"[23] 23 Der Bundesminister der Verteidigung – R II 2 – hat hierzu mit Schreiben vom 26. September 2013 folgendes erklärt:"Frage 2:Den unterschiedlichen Regelungen über die Haartracht von Soldatinnen und Soldaten lag und liegt nach wie vor die Erwägung zu Grunde, dass dem Tragen langer Haare für Frauen grundlegende Bedeutung für den Ausdruck von Weiblichkeit zugemessen wird. Anders als bei Männern ist das Tragen langer Haare damit nicht lediglich eine Modeerscheinung. Als geschlechtsspezifischer Unterschied sind die unterschiedlichen Regelungen für Soldatinnen und Soldaten daher nach hiesiger Auffassung gerechtfertigt. Dies haben u. a. der 1. Wehrdienstsenat (BVerwG 1 WB 64.93 vom 13. April 1994) und zuletzt das Truppendienstgericht Süd (S 5 BLb 001/11 vom 2. Februar 2011) mehrfach bestätigt.Allgemein gilt, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr durch ihr Auftreten in Uniform und ihr korrektes Aussehen das Bild der Bundeswehr in der Öffentlichkeit und das der Bundesrepublik Deutschland im Ausland bestimmen. Deshalb muss, anders als bei vielen anderen Berufen, die Freiheit zur individuellen Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes gegenüber der sichtbaren Einbindung in die militärische Gemeinschaft grundsätzlich zurücktreten. Da unverändert unsere verbündeten Nationen und große Teile der Bevölkerung aus dem Erscheinungsbild der Soldatinnen und Soldaten Rückschlüsse auf die militärische Disziplin und damit auf die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr ziehen, sind der Teilhabe an modischen Entwicklungen Grenzen gesetzt.Unfallverhütungsvorschriften, Bestimmungen des Arbeitsschutzes, der Hygiene und der Präventivmedizin beschränken die zulässige Gestaltung des persönlichen äußeren Erscheinungsbildes ebenfalls, sind aber nicht allein ausschlaggebend.Frage 2a)Ob Alternativen zu der möglichen Anordnung des Tragens eines Haarnetzes erwogen worden sind, lässt sich nicht mehr verbindlich nachvollziehen.Frage 2b)Die Zulässigkeit des Tragens langer Haare für Soldatinnen bezweckt auch die Förderung von Frauen im Sinne des § 1 SGleiG. Durch die Möglichkeit, die eigene Weiblichkeit durch das Tragen längerer Haare zum Ausdruck bringen zu können, soll der Dienst in den Streitkräften für Frauen attraktiver gestaltet werden. Auf diese Weise wird eine weitere Erhöhung des Anteils an Soldatinnen in der Bundeswehr, der derzeit bei rund 10 % liegt, angestrebt.Aktuelle Entwicklungen:Aktuell ist beabsichtigt, den Erlass, 'Die Haar- und Barttracht der Soldaten' aufzuheben und durch ein neues Kapitel in der ZDv 37/10 'Anzugordnung für die Soldaten der Bundeswehr' zur umfassenden Regelung des äußeren Erscheinungsbildes der Soldatinnen und Soldaten zu ersetzen. Hier fließen auch Regelungen über die Haar- und Barttracht mit ein. Nach dem derzeitigen Stand der Erarbeitung soll auch weiterhin nur Frauen das Tragen langer Haare erlaubt sein. Die Befugnis zur Anordnung des Tragens eines Haarnetzes soll jedoch ersatzlos gestrichen und ersetzt werden durch eine Regelung, wonach Soldatinnen, deren Haare bei aufrechter Körper- und Kopfhaltung die Schulter berühren würden, diese gezopft oder gesteckt zu tragen haben."[24] 24 Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten der Antrags- und der Rechtsbeschwerdeverfahren Bezug genommen. II[25] 25 Die Rechtsbeschwerden haben keinen Erfolg.[26] 26 1. Die Verfahren betreffen zwei Befehle mit im Wesentlichen gleichen Inhalt, deren Beurteilung dieselben Rechtsfragen aufwirft. Sie werden deshalb zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden (§ 23a Abs. 2 WBO i. V. m. § 93 Satz 1 VwGO).[27] 27 2. Die Rechtsbeschwerden sind zulässig.[28] 28 a) Die vom Truppendienstgericht mit bindender Wirkung (§ 22a Abs. 3 WBO) zugelassenen Rechtsbeschwerden wurden fristgerecht eingelegt und auch fristgerecht begründet.[29] 29 Gemäß § 22a Abs. 4 WBO ist die Rechtsbeschwerde bei dem Truppendienstgericht, dessen Beschluss angefochten wird, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses schriftlich einzulegen und innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Beschlusses schriftlich zu begründen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Wegen der erfolgten Doppelzustellung sowohl an den Antragsteller als auch an den Bevollmächtigten sind die zuletzt beim Bevollmächtigten am 2. Juli 2012 bewirkten Zustellungen für den Fristbeginn maßgeblich. Die Begründungsfrist endete damit am Montag, dem 3. September 2012, weshalb die an diesem Tage beim Truppendienstgericht eingegangenen Beschwerdebegründungen fristgerecht zugegangen sind (§ 18 Abs. 2 Satz 5, § 23a Abs. 1 WBO i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO sowie § 145a und § 37 Abs. 2 StPO). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:[30] 30 Nach § 18 Abs. 2 Satz 5 WBO ist der Beschluss des Truppendienstgerichts dem Beschwerdeführer sowie dem Bundesminister der Verteidigung nach den Vorschriften der Wehrdisziplinarordnung zuzustellen. Der Begriff des Beschwerdeführers bezeichnet im Verfahren nach der Wehrbeschwerdeordnung eine Beteiligtenstellung. Der Gesetzgeber lässt mit dieser Funktionsbezeichnung offen, ob ausschließlich an den Soldaten selbst (Naturalpartei) oder aber, wenn wie hier ein solcher bestellt ist, an dessen Bevollmächtigten als Vertreter zuzustellen ist oder zugestellt werden kann. Aus dem Wortlaut des § 18 Abs. 2 Satz 5 WBO folgt zumindest kein Verbot der Zustellung an einen Bevollmächtigten, dessen Bestellung in gerichtlichen Wehrbeschwerdeverfahren üblich, in Rechtsbeschwerdeverfahren sogar obligatorisch ist, soweit der Beschwerdeführer einen Antrag stellt (§ 22a Abs. 5 Satz 1 WBO).[31] 31 Dem Truppendienstgericht steht ein Wahlrecht zu, den Beschluss dem Beschwerdeführer persönlich oder seinem Bevollmächtigten zuzustellen. Wird der Beschluss – wie hier – sowohl dem Beschwerdeführer als auch dem Bevollmächtigten zugestellt, so richtet sich die Berechnung der Frist nach der zuletzt bewirkten Zustellung (§ 23a Abs. 1 WBO i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO sowie § 145a und § 37 Abs. 2 StPO).[32] 32 § 18 Abs. 2 Satz 5 WBO trifft keine Aussage zum Verhältnis der Zustellungsadressaten, insbesondere regelt er nicht, dass zwingend an den Soldaten oder an den Bevollmächtigten zuzustellen ist oder es dem Truppendienstgericht freisteht, die Zustellung wahlweise an den einen oder anderen mit fristauslösender Wirkung vorzunehmen. Soweit § 18 Abs. 2 Satz 5 WBO für die Zustellung auf die Vorschriften der Wehrdisziplinarordnung verweist, regelt der in Betracht kommende § 5 WDO lediglich die Art und Weise der Zustellung und trifft damit ebenfalls keine Aussage zu den Adressaten und zur Reihenfolge der Zustellungen. Auch § 111 Abs. 2 WDO, wonach Urteile in gerichtlichen Disziplinarverfahren zur Fristauslösung zwingend dem Soldaten persönlich zuzustellen sind (vgl. etwa Beschluss vom 24. Juni 2002 – BVerwG 2 WDB 5.02 – Buchholz 235. 0 § 91 WDO Nr. 1 = NZWehrr 2003, 35 m. w. N.), kann nicht herangezogen werden, weil es sich bei § 111 Abs. 2 WDO um eine lex specialis handelt, die ausschließlich die Zustellung von Urteilen in disziplinargerichtlichen Verfahren betrifft. Demgegenüber hat der Gesetzgeber auch in der Wehrdisziplinarordnung bei Beschlüssen den Zustellungsadressaten offen gelassen (vgl. z. B. § 114 Abs. 4 Satz 2 oder § 117 Satz 2 WDO).[33] 33 Gemäß § 23a Abs. 1 WBO i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO sind daher ergänzend die Vorschriften der Strafprozessordnung heranzuziehen. Die Anwendung von Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung über § 23a Abs. 2 WBO ist demgegenüber im Bereich der Zustellung in Beschwerdesachen versperrt. Das ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut, der dem Verweis in Absatz 1 auf die Wehrdisziplinarordnung den Vorrang einräumt ("darüber hinaus"), als auch aus dem aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen Willen des Gesetzgebers: Danach soll die Zustellung in Beschwerdesachen – im Unterschied zu § 23a Abs. 2 WBO – einheitlich nach den Regeln der Wehrdisziplinarordnung erfolgen (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften – Wehrrechtsänderungsgesetz 2007 – BTDrucks 16/7955, S. 35 zu cc).[34] 34 Gemäß § 145a Abs. 1 StPO gelten der gewählte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet, sowie der bestellte Verteidiger als ermächtigt, Zustellungen und sonstige Mitteilungen für den Beschuldigten in Empfang zu nehmen. Bei entsprechender Anwendung des § 145a Abs. 1 StPO war der Bevollmächtigte des Antragstellers damit befugt, die am 2. Juli 2012 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Ausfertigungen der angefochtenen Beschlüsse des Truppendienstgerichts in Empfang zu nehmen. Unerheblich ist, dass dem Antragsteller bereits am 30. Juni 2012 Ausfertigungen der Beschlüsse mit Postzustellungsurkunde zugestellt wurden. Denn gemäß § 23a Abs. 1 WBO i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO und § 37 Abs. 2 StPO richtet sich der Fristbeginn bei doppelter Zustellung nach der zuletzt bewirkten.[35] 35 Begann die Frist demnach am Tag nach der Zustellung an den Bevollmächtigten, so endete sie am 3. September 2012, einem Montag, weil das rechnerische Ende (2. September 2012) ein Sonntag war und daher die Frist erst um 24: 00 Uhr des darauffolgenden Werktags ablief (§ 23a Abs. 1 WBO i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO, § 43 Abs. 2 StPO). Innerhalb dieser Frist hat der Antragsteller die Rechtsbeschwerden begründet.[36] 36 b) Das Ausscheiden des Antragstellers aus dem Wehrdienstverhältnis durch seine (vorzeitige) Entlassung gemäß § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG steht einer Fortführung des Verfahrens nicht entgegen (§ 15 WBO).[37] 37 3. Die Rechtsbeschwerden sind jedoch unbegründet.[38] 38 Das Truppendienstgericht hat die zulässigen Fortsetzungsfeststellungsanträge (§ 19 Abs. 1 Satz 2 WBO) im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die dem Antragsteller am 3. März 2009 und 25. März 2009 durch den Kompaniechef bzw. dessen Stellvertreter erteilten Befehle, sich am jeweiligen Folgetag mit einer Frisur zu melden, die dem sog. Haar- und Barterlass (Anlage 1 zur ZDv 10/5) entspricht, waren rechtmäßig und verletzten den Antragsteller nicht in seinen Rechten.[39] 39 Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit den rechtlichen Erwägungen des Truppendienstgerichts im Einzelnen gefolgt werden kann. Insbesondere die vom Truppendienstgericht angeführte frühere Formel des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit einer Differenzierung nach dem Geschlecht in dem Urteil vom 28. Januar 1987 (- 1 BvR 455/82 – BVerfGE 74, 163 [179] m. w. N.) ist durch neuere Entscheidungen überholt und dabei wesentlich enger gefasst worden; differenzierende Regelungen sind danach (nur) zulässig, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – BVerfGE 85, 191 [207], Beschlüsse vom 24. Januar 1995 – 1 BvL 18/93 u. a. – BVerfGE 92, 91 [109] und vom 25. Oktober 2005 – 2 BvR 524/01 – BVerfGE 114, 357 [364]; vgl. übersichtlich Osterloh, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 272 ff.). Dass ein geschlechtsspezifischer Unterschied zwischen der Haartracht von Männern und von Frauen, wie ihn das Truppendienstgericht annimmt, auch in diesem engeren biologischen Sinne besteht, ist nicht erkennbar.[40] 40 Die Rechtsbeschwerden sind gleichwohl zurückzuweisen, weil sich die angefochtenen Beschlüsse im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig darstellen (§ 23a Abs. 2 WBO i. V. m. § 144 Abs. 4 VwGO).[41] 41 Die vom Antragsteller beanstandeten Befehle stützen sich auf den Haar- und Barterlass und nehmen diesen inhaltlich in Bezug. Die Anordnungen des Erlasses, dem selbst keine Befehlsqualität zukommt (vgl. Beschluss vom 30. November 2006 – BVerwG 1 WB 59.05 – BVerwGE 127, 203 = Buchholz 450. 1 § 19 WBO Nr. 1 = NZWehrr 2007, 160, jeweils Rn. 24), werden dabei in die Form eines an den Antragsteller adressierten, seine Rechtssphäre unmittelbar berührenden Befehls umgesetzt und konkretisiert. Inhaltlich entsprechen die Befehle den Vorgaben insbesondere von Nr. 2 Abs. 1 des Erlasses, wonach das Haar von (männlichen) Soldaten am Kopf anliegen oder so kurz geschnitten sein muss, dass Ohren und Augen nicht bedeckt werden, es – ferner – so zu tragen ist, dass bei aufrechter Kopfhaltung Uniform- und Hemdkragen nicht berührt werden, und – schließlich – besonders ausgefallene Haarschnitte (z. B. Pferdeschwänze, gezopfte Frisuren) nicht erlaubt sind.[42] 42 Der Haar- und Barterlass, soweit er den Antragsteller vorliegend betrifft, und die ihn umsetzenden Befehle stellen eine durch eine verfassungsmäßige normative Grundlage gerechtfertigte Einschränkung der dem Antragsteller auch als Soldat zustehenden Rechte (§ 6 SG), insbesondere seines Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), dar und verletzen auch keinen der Gleichheitssätze des Art. 3 GG.[43] 43 a) Die strittigen Befehle greifen in das Recht des Antragstellers auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ein. Sie beschränken sein von Art. 2 Abs. 1 GG umfasstes Recht, über die Gestaltung der äußeren Erscheinung auch im Dienst eigenverantwortlich zu bestimmen (vgl. für uniformierte Zoll- bzw. Polizeibeamte BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Januar 1991 – 2 BvR 550/90 – NJW 1991, 1477; BVerwG, Urteil vom 2. März 2006 – BVerwG 2 C 3.05 – BVerwGE 125, 85 = Buchholz 237. 8 § 84 RhPLBG Nr. 1, jeweils Rn. 15 m. w. N.).[44] 44 Dagegen wird das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht berührt. Dessen Schutzbereich erfasst körperliche Eingriffe, die entweder mit einer Zufügung von Schmerzen oder mit einer Gesundheitsbeschädigung verbunden sind oder sich als üble unangemessene Behandlung von nicht unbeträchtlichem Gewicht darstellen. Eine solche Behandlung kann in dem befohlenen Kürzen der Kopfhaare nur liegen, wenn dies zu einer Entstellung oder Verunstaltung führt (vgl. für uniformierte Polizeibeamte Urteil vom 2. März 2006 a. a. O. Rn. 16 m. w. N). Der Haar- und Barterlass, der modische Frisuren ausdrücklich gestattet (Nr. 1 Satz 2 Halbs. 1) und innerhalb der Vorgaben von Nr. 2 Abs. 1 individuell gewünschte Gestaltungen erlaubt, hat keine derartigen Folgen.[45] 45 b) Das Grundrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ist nur unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Es kann daher aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes entspricht und inhaltlich hinreichend bestimmt ist, wenn der Eingriff auf Gründe des Gemeinwohls gestützt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juni 1989 – 1 BvR 921/85 – BVerfGE 80, 137 [153] und vom 9. März 1994 – 2 BvL 43/92 u. a. – BVerfGE 90, 145 [171 f.]; stRspr). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.[46] 46 aa) Die hier gegenständlichen Befehle und Anordnungen des Haar- und Barterlasses finden ihre gesetzliche Grundlage in § 4 Abs. 3 Satz 2 SG.[47] 47 Nach § 4 Abs. 3 Satz 2 SG erlässt der Bundespräsident die Bestimmungen über die Uniform der Soldaten. Der Bundespräsident hat hiervon durch die Anordnung über die Dienstgradbezeichnungen und die Uniform der Soldaten vom 14. Juli 1978 (BGBl. I S. 1067, zuletzt geändert durch Anordnung vom 31. Mai 1996, BGBl. I S. 746) teilweise Gebrauch gemacht und im Übrigen gemäß § 4 Abs. 3 Satz 3 SG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 der Anordnung die Befugnis zur Bestimmung der Uniform des Soldaten dem Bundesminister der Verteidigung übertragen. Auf dieser Grundlage hat der Bundesminister der Verteidigung seinerseits die Anzugordnung der Bundeswehr (ZDv 37/10) und die Vorschriften über die Haar- und Barttracht der Soldaten als Anlage 1 zur ZDv 10/5 (Leben in der militärischen Gemeinschaft) erlassen.[48] 48 Ebenso wie die entsprechenden Vorschriften über die Dienstkleidung im Beamtenrecht enthält § 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 SG nicht nur eine Zuständigkeitsbestimmung, sondern ermächtigt den Bundespräsidenten bzw. (im Rahmen der Delegation) den Bundesminister der Verteidigung zu einer inhaltlichen Regelung, die die Pflicht von Soldaten, im Dienst Uniform zu tragen und dabei bestimmte Erscheinungsformen zu wahren (zur Uniformtragepflicht von Soldaten, die als Personalratsmitglied vom militärischen Dienst freigestellt sind, vgl. Beschluss vom 28. September 2010 – BVerwG 1 WB 41.09 – BVerwGE 138, 40 = Buchholz 449 § 7 SG Nr. 52, jeweils Rn. 33 ff.) durch konkrete Ge- und Verbote ausgestaltet und aktualisiert. Neben der Festlegung, welche Soldaten im Dienst oder bei bestimmten Anlässen Uniform zu tragen haben und wie diese im Einzelnen zusammengesetzt und beschaffen ist, können Uniformträgern dabei auch Vorgaben für die äußere Erscheinung, etwa für die Gestaltung der Haar- und Barttracht, für das Tragen von Schmuck oder für Tätowierungen gemacht werden, damit das durch die Uniform bezweckte einheitliche Erscheinungsbild nicht beeinträchtigt wird. Solche Regelungen können durch Verwaltungsvorschriften getroffen werden, weil es sich um eine Aufgabe der Organisations- und Geschäftsleitungsgewalt handelt (vgl. für uniformierte Polizeibeamte Urteil vom 2. März 2006 a. a. O. Rn. 18 m. w. N).[49] 49 Mit diesem Inhalt genügt § 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 SG den Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes (vgl. zu diesem Grundsatz eingehend Beschluss vom 26. Mai 2009 – BVerwG 1 WB 48.07 – BVerwGE 134, 59 = Buchholz 449. 2 § 2 SLV 2002 Nr. 14, jeweils Rn. 31 ff., m. w. N.; vgl. ferner – auch zum Folgenden – Urteil vom 2. März 2006 a. a. O. Rn. 19 m. w. N). Danach ist der parlamentarische Gesetzgeber im Hinblick auf Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichtet, in grundlegenden, insbesondere grundrechtlich relevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Die inhaltliche Reichweite des Gesetzesvorbehalts hängt von der Eigenart des jeweiligen Regelungsbereichs, insbesondere von Schwere und Intensität der Grundrechtseingriffe ab. Die in § 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 SG angelegte Grundpflicht von Soldaten bedarf dabei keiner weiteren inhaltlichen Konkretisierung durch den Gesetzgeber. Die gesetzliche Vorschrift legt die spezifischen Regelungsgegenstände und die Regelungszuständigkeit abschließend fest. Daraus folgt, dass jede Ausgestaltung der Grundpflicht zu einem konkreten Ge- und Verbot durch dienstliche Erfordernisse gerechtfertigt sein muss. Eine darüber hinausgehende Regelung durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber ist angesichts des ohnehin eng umgrenzten Regelungsgegenstands und seiner Vorprägung durch seit langem bestehende Regelungen über das äußere Erscheinungsbild von Soldaten nicht geboten.[50] 50 bb) Nicht verletzt ist auch das Gebot, dass ein Grundrechte einschränkendes Gesetz das betroffene Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen muss (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG). Das Zitiergebot gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht für das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, weil dieses von vornherein nur unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Juli 1959 – 1 BvR 394/56 – BVerfGE 10, 89 [99] und Beschluss vom 18. Februar 1970 – 2 BvR 531/68 – BVerfGE 28, 36 [46]). Der Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), auf das sich das Zitiergebot erstreckt, ist vorliegend nicht berührt (siehe oben II. 3. a).[51] 51 cc) Der Bundesminister der Verteidigung hat bei der Ausübung seiner Befugnis, die Uniform der Soldaten und im Zusammenhang damit das äußere Erscheinungsbild der Soldaten zu regeln, eine Einschätzungsprärogative und einen grundsätzlich weiten, gerichtlich nur begrenzt nachprüfbaren Einschätzungsspielraum, dessen inhaltliche Reichweite insbesondere von Schwere und Intensität des jeweiligen Eingriffs abhängt (vgl. – auch zum Folgenden – BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Januar 1991 a. a. O.; BVerwG, Urteil vom 2. März 2006 a. a. O. Rn. 21 f.). Die Einschätzung des Bundesministers der Verteidigung, eine Vorgabe für das äußere Erscheinungsbild diene militärischen Erfordernissen, ist regelmäßig nur auf offensichtliche Fehlerhaftigkeit zu überprüfen, wenn die Beschränkung nur für die Dienstzeit, nicht aber für das Erscheinungsbild außerhalb des Dienstes Bedeutung hat; denn der Eingriffsgehalt derartiger Regelungen ist zumeist schon deshalb gering, weil sie in der privaten Sphäre nicht fortwirken. Demgegenüber beeinflussen Regelungen für die Gestaltung der Haar- und Barttracht zwangsläufig die private Lebensführung; sie unterliegen deshalb einem strengeren Überprüfungsmaßstab. Daraus folgt, dass die Einschätzung des Bundesministers der Verteidigung, Vorgaben für die Haar- und Barttracht seien aus dienstlichen Gründen geeignet und erforderlich, auf plausible und nachvollziehbare Gründe gestützt sein muss.[52] 52 dd) Nach diesen Maßstäben hat der Bundesminister der Verteidigung mit der Regelung der Haartracht männlicher Soldaten seinen Einschätzungsspielraum nicht überschritten. Die hier gegenständlichen Befehle und die ihnen zugrunde liegenden Anordnungen des Haar- und Barterlasses (Nr. 2 Abs. 1) dienen legitimen Erfordernissen des militärischen Dienstes (§ 6 Satz 2 SG) und genügen den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.[53] 53 Der Bundesminister der Verteidigung hat zu den Motiven der aktuellen Regelung des Haar- und Barterlasses erklärt, es gelte allgemein, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr durch ihr Auftreten in Uniform und ihr korrektes Aussehen das Bild der Bundeswehr in der Öffentlichkeit und das der Bundesrepublik Deutschland im Ausland bestimmten. Deshalb müsse, anders als bei vielen anderen Berufen, die Freiheit zur individuellen Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes gegenüber der sichtbaren Einbindung in die militärische Gemeinschaft grundsätzlich zurücktreten. Da unverändert die mit Deutschland verbündeten Nationen und große Teile der Bevölkerung aus dem Erscheinungsbild der Soldatinnen und Soldaten Rückschlüsse auf die militärische Disziplin und damit auf die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zögen, seien der Teilhabe an modischen Entwicklungen Grenzen gesetzt. Unfallverhütungsvorschriften, Bestimmungen des Arbeitsschutzes, der Hygiene und der Präventivmedizin beschränkten die zulässige Gestaltung des persönlichen äußeren Erscheinungsbildes ebenfalls, seien aber nicht allein ausschlaggebend.[54] 54 (1) Die von dem Bundesminister der Verteidigung zuletzt genannten Gründe der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes (Unfallverhütung, Arbeitsschutz, Hygiene, Präventivmedizin) bilden als solche zweifelsfrei mögliche legitime Regelungszwecke. Vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs des Haar- und Barterlasses könnten sie jedoch den nur für männliche Soldaten allgemein angeordneten kurzen Haarschnitt nicht rechtfertigen. Denn entweder ist ein kurzer Haarschnitt im militärischen Dienst tatsächlich aus Gründen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes erforderlich. Dann müsste sich die für männliche Soldaten geltende Regelung auch auf Soldatinnen erstrecken, für die jedoch eine allgemeine Anordnung eines kurzen Haarschnitts gerade nicht besteht; für Soldatinnen gilt vielmehr (nur), dass ihre Haartracht den vorschriftsmäßigen Sitz der militärischen Kopfbedeckung nicht behindern darf und ihnen zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen und bei bestimmten Diensten (z. B. Gefechtsausbildung, Sportausbildung, Teilnahme an Einsätzen und Übungen) bei langen Haaren das Tragen eines Haarnetzes befohlen werden kann (Nr. 3 des Haar- und Barterlasses). Ist dagegen die generelle Anordnung eines kurzen Haarschnitts, worauf die Regelung für Soldatinnen mit ihrer geringeren Eingriffsintensität hindeutet, aus Gründen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes nicht geboten, so würde dies in gleicher Weise für männliche Soldaten gelten; in diesem Falle fehlte es auch für männliche Soldaten an der Erforderlichkeit des Eingriffs.[55] 55 Die unter dem Blickwinkel von Sicherheit und Gesundheitsschutz zu Tage tretenden Widersprüche in der allgemeinen Regelung der Haartracht männlicher und weiblicher Soldaten lassen sich auch nicht durch den Hinweis des Bundesministers der Verteidigung auflösen, wonach die Zulässigkeit des Tragens langer Haare auch die Förderung von Frauen im Sinne des § 1 SGleiG bezwecke. Es ist nicht davon auszugehen und daher hier auch nicht zu unterstellen, dass der Bundesminister der Verteidigung eine (vermeintliche) Förderung von Frauen in der Bundeswehr dadurch betreiben möchte, dass er sie von Schutzmaßnahmen ausnimmt, die aus Gründen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes geboten sind, sie also einer höheren Gefährdung als männliche Soldaten aussetzt.[56] 56 Im Einzelnen bedarf dies allerdings keiner weiteren Vertiefung oder ggf. Sachaufklärung durch das Truppendienstgericht, weil nach der Erklärung des Bundesministers der Verteidigung die Gründe der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes zwar ein zusätzliches Motiv darstellen, für die gegenständliche Regelung jedoch nicht allein ausschlaggebend, also nicht tragend sind.[57] 57 (2) Die Einschränkungen des Antragstellers in der freien Gestaltung seiner Haartracht sind durch das von dem Bundesminister der Verteidigung in erster Linie angeführte Regelungsziel eines – für deren Selbstverständnis und die öffentliche Wahrnehmung bestimmenden – einheitlichen äußeren Erscheinungsbilds und Auftretens der deutschen Streitkräfte im In- und Ausland bei der Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags gerechtfertigt.[58] 58 Dabei ist dem Hinweis des Antragstellers auf den historischen, gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Wandel, den die Streitkräfte und ihre Verankerung im politischen System vollzogen haben, im Ausgangspunkt durchaus zu folgen. Die Bundeswehr erhält einerseits durch die Normen und Werte der freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes ihre Ausrichtung. Zugleich haben die Soldaten der Bundeswehr als "Staatsbürger in Uniform" nicht nur, wie § 6 Satz 1 SG verkürzt formuliert, die gleichen staatsbürgerlichen Rechte, sondern grundsätzlich alle Grund- und sonstigen Rechte wie jeder andere Bürger, soweit diese nicht aufgrund von Erfordernissen des militärischen Dienstes durch gesetzlich begründete Pflichten eingeschränkt sind. Beide Gesichtspunkte finden ihre nicht abschließende, aber beispielhafte Umsetzung in den Grundsätzen der Inneren Führung (ZDv 10/1). Die materielle Verankerung in der freiheitlich demokratischen Grundordnung, insbesondere in den Grundrechten, bildet die Basis für die von den Soldaten geforderte Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln im Dienst, aber auch für die Möglichkeit einer weitgehenden individuellen und persönlichen Entfaltung des einzelnen Soldaten ungeachtet seiner Zugehörigkeit zur Bundeswehr. Nicht nur über die Rückbindung der Bundeswehr als "Parlamentsheer" in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung (BVerfG, Urteile vom 12. Juli 1994 – 2 BvE 3/92 u. a. – BVerfGE 90, 286 [382] und vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 – BVerfGE 121, 135 [154]), sondern auch über das persönliche Verhalten jedes einzelnen Soldaten findet deshalb der Pluralismus der heutigen Gesellschaft Eingang in die Bundeswehr.[59] 59 Neben – und nicht im Widerspruch zu – diesen materiellen Grundlagen und Werten steht die Tatsache, dass der spezifische Auftrag und die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte unverändert in einem hohen Maß durch ein nach außen einheitliches Auftreten und einen nach innen engen Zusammenhalt ihrer Angehörigen geprägt sind, in dem sich die Streitkräfte zugleich von anderen staatlichen Hoheitsträgern – wie etwa der Polizei – unterscheiden. Die Streitkräfte handeln nach außen typischerweise im geschlossenen Verband; auch dort, wo der einzelne Soldat in Erscheinung tritt, nimmt er stets die unmittelbare Einsatzbereitschaft des in seinem Rücken stehenden Verbands in Anspruch. Nach innen wird von Soldaten das Leben in der militärischen Gemeinschaft (so auch die Bezeichnung der ZDv 10/5) erwartet, die individuelle Verhaltenswünsche nicht ausschließt, aber sie unter einen deutlich begrenzenden Vorbehalt der Gemeinschaftsverträglichkeit und gegenseitiger Verlässlichkeit stellt. Ausdruck dieser gesteigerten Form der Einordnung in die militärische Organisation sind insbesondere die soldatenrechtlichen Pflichten zu Gehorsam (§ 11 SG) und Disziplin (§ 17 Abs. 1 SG) sowie die Fürsorgepflicht des Vorgesetzten (§ 10 Abs. 3 SG) und die Pflicht aller Soldaten zur Kameradschaft (§ 12 SG).[60] 60 Vor diesem Hintergrund ist auch die Legitimation der Anordnung eines einheitlichen äußeren Erscheinungsbilds der Soldaten zu sehen, das über die völkerrechtlich gebotene Kennzeichnung als Kombattant hinausgeht. Der "sichtbaren Einbindung in die militärische Gemeinschaft" (so die Formulierung in der Auskunft des Bundesministers der Verteidigung) kommt eine zwar nur dienende, insoweit aber nach wie vor unerlässliche Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte zu. Die Staatsführung und die Streitkräfte verbündeter ebenso wie nicht verbündeter Nationen, die Öffentlichkeit im In- und Ausland und nicht zuletzt auch die Akteure und die Bevölkerung in den Einsatzgebieten nehmen die Bundeswehr nicht in erster Linie über die Individualität der Soldaten, sondern vorrangig über das sichtbare Auftreten und die physische Präsenz eines einheitlichen Verbands wahr und gründen (auch) auf diesen Eindruck ihre Erwartungen und ihr Vertrauen in die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Der "Kredit", den die Bundeswehr hierdurch im Außenverhältnis genießt, bedeutet zugleich Stärkung und Schutz für den einzelnen Soldaten. Entsprechendes gilt für das Innenverhältnis der Streitkräfte. Die "sichtbare Einbindung in die militärische Gemeinschaft" bedeutet hier eine nicht zu unterschätzende symbolische Stütze für die gegenseitige Verlässlichkeit, dass jeder Soldat individuelle Belange hintanstellt, soweit Befehl und Gehorsam, Kameradschaft und Disziplin dies militärisch erfordern; sie entlastet jeden Soldaten dadurch nicht nur im Grenzfall, in dem es um den Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens geht, sondern auch im täglichen Betrieb. Das einheitliche äußere Erscheinungsbild ist insofern ein wesentlicher Beitrag zur Verhaltenssicherheit der Soldaten (siehe auch Nr. 101 Abs. 1 ZDv 37/10) ebenso wie zur Erwartungssicherheit im Außenverhältnis.[61] 61 Auf der Grundlage dieser Zwecksetzung hat der Bundesminister der Verteidigung mit der Anordnung eines kurzen Haarschnitts für männliche Soldaten – als Bestandteil des einheitlichen äußeren Erscheinungsbilds und Ausdruck der "sichtbaren Einbindung in die militärische Gemeinschaft" – den ihm zustehenden Einschätzungsspielraum nicht überschritten. Die Regelung des Haar- und Barterlasses folgt einem zwar traditionell geprägten, aber nach wie vor in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Streitkräfte verbreiteten und durch gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Entwicklungen nicht überholten Modell. Insbesondere wird die Eignung zur einheitsbildenden Identifikation nicht dadurch in Frage gestellt, dass in Deutschland seit geraumer Zeit auch bei Männern eine Haartracht in nahezu jeder Länge und Fasson gesellschaftlich akzeptiert wird; ein von allen Soldaten geforderter kurzer Haarschnitt unterliegt damit einer zwar deutlicheren Wahrnehmung (die ihre einheitsbildende Funktion eher verstärkt als vermindert), ohne andererseits ihre Träger aus dem Rahmen des gesellschaftlich Üblichen fallen zu lassen.[62] 62 Die Regelung des Haar- und Barterlasses verstößt auch im Übrigen nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, insbesondere nicht gegen die Gebote der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit des Eingriffs. Die materiellen Grundrechte des I. Abschnitts des Grundgesetzes (Art. 1 bis 19), die auch innerhalb des Wehrdienstverhältnisses Geltung beanspruchen, gewährleisten allen Soldaten der Bundeswehr Freiheiten und Chancen zur persönlichen Entfaltung, die sowohl in historischer Sicht als auch im internationalen Vergleich sehr weitreichend sind; gerade in den Kernbereichen der Lebensgestaltung, etwa der Religions- und Meinungsfreiheit oder von Ehe und Familie, respektiert die Bundeswehr in weitem Umfang eine Verwirklichung individueller Lebensvorstellungen, die auch in den Dienstbetrieb hineinwirkt. Diese – von den Soldaten auch genutzten – Möglichkeiten einer verstärkten Individualisierung begründen und rechtfertigen die fortbestehende Erforderlichkeit einer – gewissermaßen kompensatorischen – "sichtbaren Einbindung in die militärische Gemeinschaft". Der Blick auf die gewährleisteten materiellen Freiheiten der Soldaten verdeutlicht zugleich, dass die am äußeren Erscheinungsbild ansetzenden Regelungen des Haar- und Barterlasses ein milderes Mittel im Vergleich zu substantiellen Einschränkungen in der Lebensführung darstellen. Eine Verletzung des Übermaßverbots ist schließlich auch deshalb nicht gegeben, weil der Haar- und Barterlass keine "Einheitsfrisur" verordnet, sondern lediglich äußere Grenzen setzt, innerhalb derer individuelle Gestaltungen und "modische Frisuren" ausdrücklich erlaubt sind.[63] 63 (ee) Die hier gegenständlichen Befehle und die ihnen zugrunde liegenden Anordnungen des Haar- und Barterlasses für die Haartracht männlicher Soldaten stellen auch keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung dar.[64] 64 (1) Unter dem Blickwinkel des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu beanstanden ist zunächst, dass die Vorschriften der Nr. 2 Abs. 1 des Haar- und Barterlasses für alle Soldaten, also insbesondere nicht nur für Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit gelten, sondern sich bis zur Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht (bzw. deren Beschränkung auf den Spannungs- und Verteidigungsfall, § 2 WPflG) zum 1. Juli 2011 auch auf Grundwehrdienstleistende wie den Antragsteller erstreckten. § 1 Abs. 1 Satz 1 SG definiert einen einheitlichen Begriff des Soldaten, der unterschiedslos sowohl die aufgrund freiwilliger Verpflichtung als auch die aufgrund der Wehrpflicht in einem Wehrdienstverhältnis stehenden Soldaten umfasst. Diese einheitliche Definition gilt sowohl für den verfassungsrechtlichen Begriff der – aus den Soldaten gebildeten – Streitkräfte (Art. 87a GG) als auch für die einfachrechtlichen Vorschriften über die Rechte und Pflichten der Soldaten, soweit diese sich nicht ausdrücklich nur auf einzelne Statusgruppen beziehen. Auch in der Praxis gibt es in dem hier interessierenden Erscheinungsbild der Soldaten keine Unterscheidungsmerkmale, an denen sich die Zugehörigkeit etwa eines Mannschaftsdienstgrads, wie ihn der Antragsteller innehatte, zu der Statusgruppe der Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit oder aber Grundwehrdienstleistenden ablesen ließe. Im Hinblick auf ihre große Zahl und ihre Verteilung auf nahezu sämtliche Truppengattungen und Tätigkeitsbereiche bildeten die Grundwehrdienstleistenden auch keine vernachlässigbare oder abgrenzbare, sondern vielmehr eine das Gesamtbild der Bundeswehr maßgeblich mitprägende Gruppe. Der Bundesminister der Verteidigung war auch nicht wegen der begrenzten Dauer des Grundwehrdienstes gehalten, die Grundwehrdienstleistenden von der Geltung der Regelung über die Haartracht auszunehmen oder für sie Sonderregelungen zu treffen. Bei einer Dauer des Grundwehrdienstes von in der Vergangenheit 10 bis 18 Monaten und zur Zeit der Einberufung des Antragstellers noch neun Monaten ist die Eingliederung in die Bundeswehr so intensiv, dass der Bundesminister der Verteidigung den ihm zustehenden Einschätzungsspielraum nicht überschritten hat, wenn er auf eine zwischen Grundwehrdienstleistenden und Berufs- oder Zeitsoldaten differenzierende Regelung der Haartracht verzichtet hat.[65] 65 (2) Eine zulässige, vom Einschätzungsspielraum des Bundesministers der Verteidigung gedeckte Differenzierung (Art. 3 Abs. 1 GG) bildet andererseits die flexiblere Regelung der Haartracht für Angehörige der Reserve, die Wehrübungen leisten (Nr. 4 des Haar- und Barterlasses). Sie bezieht ihre sachliche Rechtfertigung aus der auf grundsätzlich maximal drei Monate begrenzten (§ 6 Abs. 1 WPflG), in der Praxis in aller Regel deutlich kürzeren Dauer von Wehrübungen (vgl. Steinlechner/Walz, WPflG, 7. Aufl. 2009, § 6 Rn. 7 f.) und der zumeist geringeren Eingliederung der Wehrübenden in den regelmäßigen Dienstbetrieb.[66] 66 (3) Der Antragsteller kann schließlich nicht unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG) eine Behandlung entsprechend der für Soldatinnen geltenden Vorschrift der Nr. 3 des Haar- und Barterlasses beanspruchen, wonach die Haartracht von Soldatinnen den vorschriftsmäßigen Sitz der militärischen Kopfbedeckung nicht behindern darf und zur Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen und bei bestimmten Diensten bei langen Haaren das Tragen eines Haarnetzes befohlen werden kann (siehe dazu bereits oben II. 3. b. dd. [1]). Die Regelung über die Haartracht von Soldatinnen stellt eine zulässige Maßnahme zur Förderung von Frauen in der Bundeswehr dar (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, § 1 SGleiG).[67] 67 Der Antragsteller unterfällt als männlicher Soldat nicht der Vorschrift der Nr. 3 des Haar- und Barterlasses. Eine Gleichbehandlung ist nach dem Zweck der Regelung nicht geboten.[68] 68 Der Haar- und Barterlass wurde erstmals unter dem 22. Dezember 1993 um eine – seitdem nur geringfügig redaktionell geänderte – Regelung über die Haartracht von Soldatinnen ergänzt, nachdem zum Ende des Jahres 1990 die Laufbahnen des Sanitäts- und Militärmusikdienstes allgemein für Frauen zugänglich gemacht worden waren. Das Anwendungsfeld der Regelung hat sich auf das gesamte Spektrum der Streitkräfte erweitert, seit im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Januar 2000 – Rs. C-285/98, Kreil – Slg. 2000, I-69, zum Januar 2001 sämtliche Verwendungsbereiche der Bundeswehr für Frauen geöffnet wurden. Nach der Erklärung des Bundesministers der Verteidigung bezweckt die Zulässigkeit des Tragens langer Haare für Soldatinnen auch die Förderung von Frauen im Sinne des § 1 SGleiG; sie soll den Dienst in den Streitkräften für Frauen attraktiver gestalten und so zu einer weiteren Erhöhung des Anteils an Soldatinnen in der Bundeswehr beitragen. Die Eignung der Haartrachtregelung für Soldatinnen, zu dieser Zielsetzung einen Beitrag zu leisten, lässt sich, auch vor dem Hintergrund einer deutlich geringeren Bereitschaft von Frauen als von Männern zum (freiwilligen) Dienst in der Bundeswehr (vgl. z. B. die in Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr [Hrsg.], Truppenbild mit Dame, 2008, S. 14 ff. referierten Erhebungen), nicht schlechterdings in Abrede stellen. Auch sind die Richtwerte des § 4 Abs. 5 Satz 1 SGleiG, die eine Unterrepräsentation von Soldatinnen indizieren sollen und bezogen auf die einzelnen Bereiche des § 4 Abs. 2 SGleiG (Laufbahngruppen, Laufbahnen, Besoldungsgruppen, Statusgruppen, militärische Organisationsbereiche) in der Laufbahn des Sanitätsdienstes bei 50 %, in allen anderen Laufbahnen bei 15 % liegen, mit einer Gesamtzahl von 18 494 Frauen in den Streitkräften und einem Prozentsatz von 9, 65 (Zahlenangaben zum 31. Dezember 2012 nach dem Jahresbericht 2012 des Wehrbeauftragten, BT-Drucks 17/12050, S. 27) erkennbar noch nicht erreicht.[69] 69 Die Vorschrift der Nr. 3 des Haar- und Barterlasses für Soldatinnen beeinträchtigt nicht die striktere Regelung der Haartracht für männliche Soldaten (Nr. 2 des Haar- und Barterlasses).[70] 70 Der Einsatz von Frauen in allen Verwendungsbereichen der Bundeswehr seit Januar 2001 stellt ein Novum in der Geschichte der Bundeswehr dar. Die Integration von Frauen in die Streitkräfte und in die Erfüllung des Verteidigungsauftrags hat – evident – das Erscheinungsbild der Bundeswehr verändert. Nichtsdestotrotz hat sich – schon im Hinblick auf den immer noch relativ kurzen Zeitraum, innerhalb dessen der Anteil der Frauen in der Truppe erst allmählich auf die genannten Zahlenwerte gestiegen ist – für das äußere Erscheinungsbild von Soldatinnen noch keine Tradition oder Erwartungshaltung innerhalb der Bundeswehr und in der Öffentlichkeit verfestigt, die etwa den an männliche Soldaten gerichteten Erwartungen vergleichbar wäre. Eine gewisse orientierende Wirkung kommt deshalb auch den Regelungen in Staaten mit einer vergleichbaren Staats- und Gesellschaftsordnung zu, die den Zugang zu ihren Streitkräften schon seit längerer Zeit für Frauen geöffnet haben. In der Mehrzahl finden sich dort Regelungen der Haartracht, die im Kern der deutschen Regelung ähnlich sind. Neben geschlechtsneutralen Grundanforderungen an eine "gepflegte" Haartracht (entsprechend Nr. 1 des Haar- und Barterlasses) und ebenfalls geschlechtsneutralen Sonderregelungen für bestimmte Soldatengruppen oder Verwendungen (entsprechend der Regelung nach Nr. 4 des Haar- und Barterlasses) finden sich ganz überwiegend Vorschriften, die entsprechend der Nr. 2 und Nr. 3 des Haar- und Barterlasses für männliche und für weibliche Soldaten unterschiedliche Regelungen der Haartracht treffen und dabei den Soldatinnen weiterreichende Gestaltungsmöglichkeiten als den männlichen Soldaten eröffnen, einschließlich der Möglichkeit des Tragens längerer Haare (siehe z. B. für die US-Streitkräfte sehr detailliert Nr. 1—8 der Army Regulation 670—1 vom 3. Februar 2005).[71] 71 Vor diesem Hintergrund hat der Bundesminister der Verteidigung nicht den ihm zustehenden Einschätzungsspielraum überschritten, wenn er die Soldatinnen in der Bundeswehr – jedenfalls in dem derzeitigen Stadium des allmählichen Ausbaus des Anteils und der Stellung von Frauen in den Streitkräften – nicht demselben Regime für das äußere Erscheinungsbild unterwirft wie männliche Soldaten. Es ist einerseits nicht erkennbar, dass der diesbezüglichen Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Soldaten ein so großes, den Förderzweck (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, § 1 SGleiG) überwiegendes Gewicht für die "sichtbare Einbindung in die militärische Gemeinschaft" zukäme, dass der Bundesminister der Verteidigung aus Rechtsgründen zu einer Angleichung gehalten wäre. Ebenso wenig ist auf der anderen Seite ersichtlich, dass die für männliche Soldaten geltende striktere Regelung des einheitlichen äußeren Erscheinungsbilds durch die flexiblere Regelung für Soldatinnen in ihrer geschilderten Bedeutung und Funktion im Selbstverständnis der Bundeswehr oder in der öffentlichen Wahrnehmung entwertet oder in Frage gestellt würde.[72] 72 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 23a WBO i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2001-11
28.02.2001
Pressemitteilung Nr. 11/2001 vom 28.02.2001 EN DDR-Spitzensportler beim Hauskauf zu Unrecht privilegiert Die Kläger waren in den achtziger Jahren bekannte Spitzensportler der DDR und Mitglieder des SC (Sportclub) Dynamo Berlin. Dieser Sportclub gehörte dem Dachverband SV (Sportvereinigung) Dynamo Berlin an, dessen Erster Vorsitzender der Minister für Staatssicherheit Mielke war. 1987 äußerten die Kläger gegenüber dem Leiter des Büros der Zentralen Leitung der SV Dynamo, einem Generalmajor des Ministeriums für Staatssicherheit, den Wunsch, ein Eigenheim zu kaufen, weil sie bislang nur eine kleine Wohnung bewohnten. Der Büroleiter gab den Erwerbswunsch an Erich Mielke weiter. Nachdem die Kläger erfahren hatten, dass das streitige Haus verkauft werden sollte, kauften sie dieses zum aktuellen Verkehrswert. Beurkundet wurde der Kaufvertrag von Rechtsanwalt und Notar Dr. Vogel, an den sich die Alteigentümer gewandt hatten, um ihre Ausreise aus der DDR zu erreichen. Mit dem angefochtenen Bescheid übertrug das zuständige Vermögensamt das Eigentum an dem Grundstück auf die Alteigentümer zurück. Der daraufhin erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben und den Rückübertragungsbescheid aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Alteigentümer hätten das Grundstück zwar durch eine schädigende Maßnahme im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG verloren; denn die Erteilung der Ausreisegenehmigung sei von dem Verkauf des Grundstücks abhängig gemacht worden. Die Rückübertragung sei aber ausgeschlossen, da die Kläger das Eigentum redlich erworben hätten. Greifbare Anhaltspunkte für eine Unredlichkeit des Erwerbs lägen nicht vor. Auf die Revision der beigeladenen Alteigentümer hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts mit Urteil vom heutigen Tag das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben, die Klage abgewiesen und damit den Rückübertragungsbescheid bestätigt: Der Erwerb durch die Kläger war unredlich im Sinne des § 4 Abs. 3 Buchst. a VermG. Er stand nicht im Einklang mit dem damals in der DDR geltenden Recht. Die für den Kauf erforderliche Grundstücksverkehrsgenehmigung wurde zu Unrecht erteilt. Denn der Erwerb eines Hauses mit fünf Zimmern durch ein kinderloses Ehepaar führte angesichts der Wohnungsknappheit in der DDR zu einer unangemessenen Überversorgung mit Wohnraum. Rechtsvorschriften, die eine Privilegierung der Kläger ermöglicht hätten, weil sie Spitzenleistungen auf dem Gebiet des Sports erbracht hatten, bestanden im Zeitpunkt des Kaufs nicht. Die Kläger hätten den Rechtsverstoß auch erkennen müssen. Dass eine Überversorgung mit Wohnraum vorlag, wenn zwei Personen ein Haus mit fünf Zimmern bewohnten, war in der DDR allgemein bekannt. Auch hatten die Kläger bewusst eine privilegierte Behandlung angestrebt. Dies ergibt sich insbesondere aus der eigenen Aussage des Klägers, er und seine Ehefrau hätten einen Antrag auf Hauskauf nicht bei der zuständigen Stelle der Stadt gestellt, weil dies von vornherein aussichtslos gewesen sei; als Leistungssportler hätten sie versucht, ihren Wunsch über den SV Dynamo Berlin zu realisieren. BVerwG 8 C 3.00 - Urteil vom 28.02.2001
BundesverwaltungsgerichtOffene VermögensfragenRedlicher Erwerb; greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine mögliche Unredlichkeit; Grundannahme der Redlichkeit; Erschüttern der Grundannahme durch das Bestehen greifbarer Anhaltspunkte; materielle Beweislast bei Unerweislichkeit der Redlichkeit; Grundstücksverkehrsgenehmigung; Wohnraumlenkung; Überversorgung mit WohnraumVermG § 4 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 Buchst. a1. Ob greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für die Unredlichkeit des Erwerbs vorliegen, ist nur zu prüfen, wenn Tatsachen, die für die Beurteilung der Redlichkeit (§ 4 Abs. 3 VermG) erheblich sind, trotz Ausschöpfens aller in Betracht kommenden Aufklärungsmöglichkeiten (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht abschließend aufklärbar sind.2. Die Überversorgung mit Wohnraum stellte keine gesellschaftlich effektive Nutzung im Sinne der Grundstücksverkehrsverordnung dar.BVerwG, Urteil vom 28. 2. 2001 – 8 C 3.00; VG Berlin (lexetius.com/2001,541)[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf, Krauß, Golze und Postier für Recht erkannt:[2] Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 10. September 1999 wird aufgehoben.[3] Die Klage wird abgewiesen.[4] Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.[5] Gründe: I. Die Kläger wenden sich gegen die Rückübertragung des Grundstücks … an die Beigeladenen.[6] 1987 beantragten die Beigeladenen, in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu dürfen. In einem Gespräch beim Rat des Stadtbezirks wurde ihnen erklärt, sie müssten vor einer Übersiedlung ihr Grundstück veräußern. Daraufhin wandten sie sich an das Büro von Rechtsanwalt …, von dem sie gehört hatten, dass er Ausreisewillige mit Grundbesitz gegenüber den staatlichen Stellen vertrat. Zur Vorbereitung des Verkaufs wurde ein Wertgutachten erstellt. Darin wird der Zeitwert des Grundstücks mit 98 800 M angegeben. Ausweislich einer damals von den Beigeladenen abgegebenen Erklärung verfügte das Haus über 5 Wohnräume und war mit Küche, Bad, Innen-WC und Zentralheizung ausgestattet.[7] Die Kläger waren in den achtziger Jahren bekannte Spitzensportler der DDR und Mitglieder des SC (Sportclub) Dynamo Berlin. Dieser Sportclub gehörte dem Dachverband SV (Sportvereinigung) Dynamo Berlin an, dessen Erster Vorsitzender der Minister für Staatssicherheit Mielke war. 1987 äußerten die Kläger gegenüber dem – vom Verwaltungsgericht als Zeugen vernommenen – Generalmajor des Ministeriums für Staatssicherheit und Leiter des Büros der Zentralen Leitung der SV Dynamo, Dr. P., den Wunsch, ein Eigenheim mit drei bis vier Zimmern zu kaufen, weil sie bislang nur eine kleine Wohnung bewohnten und Kinder bekommen wollten. Dr. P. empfahl den Klägern, ihre Wünsche schriftlich niederzulegen, damit er sie an den Ersten Vorsitzenden Mielke weitergeben könne.[8] Die Kläger wurden 1988 darauf hingewiesen, dass die Beigeladenen ihr Haus verkaufen wollten. Daraufhin kauften sie das Hausgrundstück zum Preis von 98 800 M von den Beigeladenen. Beurkundet wurde der Vertrag von Rechtsanwalt und Notar. … Noch 1988 wurde das Haus übergeben und die Kläger als Eigentümer in ehelicher Vermögensgemeinschaft in das Grundbuch eingetragen.[9] Auf Antrag der Beigeladenen übertrug das zuständige Amt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Bescheid vom 7. Juli 1994 das Eigentum an dem Grundstück auf die Beigeladenen als Miteigentümer zu je 1/2 zurück. Zur Begründung führte es aus: Das Grundstück sei den Beigeladenen durch eine unlautere Machenschaft im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG entzogen worden. Der Erwerb sei im Sinne des § 4 Abs. 3 Buchst. a VermG unredlich, da er gegen das damals geltende Recht der DDR verstoßen habe. Rechtsanwalt … habe in nahezu allen Fällen über den Verkauf und die Auswahl der Erwerber von Grundstücken Ausreisewilliger selbst entschieden. Auf diese Weise sei eine erhebliche Anzahl frei werdender hochwertiger Einfamilienhäuser fast ausschließlich an Privilegierte verkauft worden. Der Erwerb habe auch gegen materielles Recht verstoßen. Übergeordnetes Prinzip der Wohnraumlenkung sei die gesellschaftlich effektive Nutzung des Wohnraums und die Verteilung nach Bedürftigkeit gewesen. Zwar sei nach In-Kraft-Treten der Wohnraumlenkungsverordnung für den Bezug von Eigenheimen durch den Eigentümer keine Wohnraumzuweisung mehr erforderlich gewesen. Notwendig gewesen sei aber die Erteilung einer wohnungspolitischen Unbedenklichkeitsbescheinigung. Diese habe versagt werden können, wenn die effektive Nutzung des Grundstücks nicht gewährleistet gewesen wäre. Von einer effektiven Nutzung könne aber keine Rede sein. Dies hätten die Erwerber auch wissen müssen.[10] Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1995 zurück.[11] Der daraufhin erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 10. September 1999 stattgegeben und den Restitutionsbescheid insgesamt aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beigeladenen hätten das Grundstück durch eine schädigende Maßnahme im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG verloren. Die Rückübertragung sei jedoch ausgeschlossen, da die Kläger das Eigentum redlich erworben hätten. Greifbare Anhaltspunkte für eine Unredlichkeit des Erwerbs seien nicht zu erkennen: Die Kläger hätten nicht unter Ausnutzung einer persönlichen Machtstellung auf den Erwerbsvorgang eingewirkt (§ 4 Abs. 3 Buchst. b VermG). Die Voraussetzungen des Regelbeispiels aus § 4 Abs. 3 Buchst. a VermG lägen ebenfalls nicht vor. Die Grundstücksverkehrsgenehmigung habe versagt werden können, wenn "die gesellschaftlich effektive Nutzung des Grundstücks nicht gewährleistet wäre". Diese Genehmigung sei von der zuständigen Außenstelle des Liegenschaftsdienstes des Magistrats von Berlin erteilt worden. Dabei sei der Liegenschaftsdienst vom Vorliegen einer Unbedenklichkeitserklärung des Bereichs "Wohnungspolitik" ausgegangen. Ob die Abteilung Wohnungspolitik diese Erklärung tatsächlich abgegeben habe, könne dahingestellt bleiben. Ebenso könne dahinstehen, ob hierfür die Abteilung Wohnungspolitik des Rats des Stadtbezirks Hohenschönhausen zuständig gewesen sei. Jedenfalls sei für die juristisch nicht vorgebildeten und mit der konkreten Verfahrensweise bei der Erteilung der Grundstücksverkehrsgenehmigung nicht vertrauten Kläger ein eventueller Verfahrensverstoß nicht erkennbar gewesen. Dies gelte auch insoweit, als wegen der Größe des Hauses zweifelhaft sein könne, ob beim Verkauf an die Kläger eine gesellschaftlich effektive Nutzung gewährleistet gewesen sei. Auch wenn wegen der allgemeinen Wohnungsknappheit die Zuweisung einer Vier- oder Fünf-Zimmer-Wohnung an kinderlose Ehepaare regelmäßig ausgeschlossen und dies auch allgemein bekannt gewesen sein möge, bestehe damit kein greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkt dafür, dass den Klägern die etwaige Unzulässigkeit des Kaufs eines nicht der Wohnraumzuweisung unterliegenden Einfamilienhauses habe bekannt sein müssen. Die Kläger hätten auch nicht deshalb Verdacht schöpfen müssen, weil die dem Bereich des Ministeriums für Staatssicherheit zuzurechnende Leitung der Sportvereinigung Dynamo und der in Ausreisefällen mit diesem Ministerium zusammenarbeitende … beteiligt gewesen seien.[12] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beigeladenen, die die Verletzung materiellen und formellen Rechts rügen und beantragen, das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 10. September 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.[13] Die Kläger treten der Revision entgegen und beantragen, die Revision zurückzuweisen.[14] Der Beklagte verteidigt den angefochtenen Bescheid, ohne einen Antrag zu stellen.[15] Der Oberbundesanwalt beteiligt sich nicht am Verfahren.[16] II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Feststellung, dass die Beigeladenen Berechtigte i. S. d. Vermögensgesetzes sind (§ 2 Abs. 1 Satz 1 VermG) ist von den Klägern im Revisionsverfahren nicht angegriffen worden. Gegenstand der revisionsgerichtlichen Überprüfung ist deshalb allein die Frage, ob das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, die Kläger hätten in redlicher Weise an dem streitgegenständlichen Grundstück Eigentum erworben (§ 4 Abs. 2 Satz 1 VermG). Diese Frage ist zu verneinen, wobei es entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht in erster Linie darauf ankommt, ob greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für die Unredlichkeit der Kläger vorliegen.[17] 1. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Unerweislichkeit von Tatsachen im Vermögensrecht grundsätzlich zu Lasten dessen geht, der aus ihnen für sich günstige Rechtsfolgen herleitet (Urteile vom 24. März 1994 – BVerwG 7 C 11.93 – BVerwGE 95, 289 [294] = Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 20 S. 18 [22] und vom 30. November 2000 – BVerwG 7 C 87.99 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Die materielle Beweislast für die den Rückübertragungsausschluss begründende Redlichkeit des Erwerbs nach § 4 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 VermG trifft daher grundsätzlich den Erwerber (Beschluss vom 16. Oktober 1995 – BVerwG 7 B 163.95 – Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 22 und Urteil vom 30. November 2000 – BVerwG 7 C 87.99 -). Das bedeutet jedoch nicht, dass das Vermögensgesetz generell den Erwerber zwingen will, auf bloßes Bestreiten hin die Redlichkeit seines Erwerbs zu beweisen. Der von § 4 Abs. 2 Satz 1 VermG bezweckte Schutz des redlichen Erwerbs und damit der vom Vermögensgesetz angestrebte sozialverträgliche Ausgleich zwischen dem Restitutionsinteresse des Alteigentümers und dem Vertrauensschutzinteresse des Erwerbers würde nämlich verfehlt werden, wenn die Nichterweislichkeit des redlichen Erwerbs, die bei lange zurückliegenden Vorgängen keine Ausnahme ist, stets zu Lasten derer ginge, die in der DDR Eigentum erworben haben. Dieser Schutzzweck kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass das Vermögensgesetz die Redlichkeit des Erwerbs als Regelfall voraussetzt und demgemäß nur die Ausnahme, also die Unredlichkeit, durch die in § 4 Abs. 3 VermG enthaltenen Beispiele näher bezeichnet. Der Gesetzgeber geht damit von einer Grundannahme der Redlichkeit aus. Das materielle Recht sieht dementsprechend eine differenzierte Verteilung der Beweislast vor: Sind Tatsachen, die der Ausfüllung des Rechtsbegriffs der Redlichkeit dienen, nicht abschließend aufklärbar, ist zunächst zu prüfen, ob die Grundannahme der Redlichkeit des Erwerbs erschüttert ist, weil greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine mögliche Unredlichkeit bestehen. Nur in diesem Falle trifft die materielle Beweislast den Erwerber (vgl. Urteile vom 30. November 2000 – BVerwG 7 C 87.99 – [zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen] und – BVerwG 7 C 94.99 – sowie Beschlüsse vom 16. Oktober 1995 – BVerwG 7 B 163.95 –, a. a. O., und vom 2. November 1998 – BVerwG 8 B 211.98 – Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 59 S. 134).[18] Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist damit die Frage, ob greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für die Unredlichkeit des Erwerbs vorliegen, nur dann von Bedeutung, wenn Tatsachen, die für die Beurteilung der Redlichkeit erheblich sind, trotz Ausschöpfens aller in Betracht kommenden Aufklärungsmöglichkeiten (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht abschließend aufklärbar sind. Nur in diesem Falle ist eine materiellrechtliche Beweislastentscheidung zu treffen. Gelangt das Verwaltungsgericht mithin zu eindeutigen tatsächlichen Feststellungen, ist für die Prüfung greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkte kein Raum.[19] 2. Die vom Verwaltungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die in Bezug genommenen Akten ermöglichen eine abschließende Entscheidung des Senats. Der Rechtserwerb der Kläger ist als unredlich anzusehen. Er stand nicht in Einklang mit den zum Zeitpunkt des Erwerbs in der DDR geltenden allgemeinen Rechtsvorschriften. Dies mussten die Kläger auch wissen (§ 4 Abs. 3 Buchst. a VermG).[20] a) Die Grundstücksverkehrsgenehmigung wurde zu Unrecht erteilt: Die vertragliche Übertragung des Eigentums an dem Grundstück war genehmigungspflichtig (§ 2 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung über den Verkehr mit Grundstücken – Grundstücksverkehrsverordnung – vom 15. Dezember 1977 – GBl 1978 I S. 73 -). Die Genehmigung war zu versagen, wenn durch die Käufer die "gesellschaftlich effektive Nutzung des Grundstücks nicht gewährleistet wäre" (§ 3 Abs. 4 Buchst. a Grundstücksverkehrsverordnung). Hierzu legte üblicherweise die zuständige Abteilung für Wohnungspolitik dem für die Erteilung der Genehmigung zuständigen Liegenschaftsdienst eine wohnungspolitische Unbedenklichkeitserklärung vor. Ob diese Erklärung im vorliegenden Fall abgegeben wurde, steht nicht fest, ist aber unerheblich. Falls die Erklärung abgegeben wurde, geschah dies nämlich jedenfalls zu Unrecht. Denn die gesellschaftlich effektive Nutzung des Hausgrundstücks war – nach den damaligen Maßstäben – nicht gewährleistet. Die Kläger, ein kinderloses Ehepaar, erwarben ein Einfamilienhaus mit fünf Zimmern. Das Verwaltungsgericht hat zwar letztlich offen gelassen, ob dies noch mit den Bestimmungen der Grundstücksverkehrsverordnung vereinbar war. Im Revisionsverfahren kann diese Frage aber beantwortet werden, ohne dass es hierzu einer Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht bedarf. Dass der Bezug eines Einfamilienhauses mit fünf Zimmern durch ein kinderloses Ehepaar in Anbetracht des Wohnraummangels in der DDR im Allgemeinen und in Berlin (Ost) im Besonderen zu einer Überversorgung mit Wohnraum führte, ist offenkundig (§ 291 ZPO). Eine Überversorgung mit Wohnraum ist keine gesellschaftlich effektive Nutzung im Sinne der Grundstücksverkehrsverordnung.[21] Eine Privilegierung der Kläger aufgrund ihrer herausragenden Leistungen auf dem Gebiet des Sports war nach DDR-Recht nicht gerechtfertigt. Zwar konnten nach § 11 der Verordnung über die Lenkung des Wohnraums vom 15. November 1967 (GBl I S. 733) Personen, "die sich durch herausragende Leistungen bei der Stärkung, Festigung sowie zum Schutz der DDR verdient gemacht haben", bevorzugt mit Wohnraum versorgt werden (vgl. hierzu Urteil vom 27. Januar 2000 – BVerwG 7 C 39.98 – Buchholz 428 § 4 Abs. 3 VermG Nr. 2). Die im vorliegenden Fall anzuwendende Verordnung über die Lenkung von Wohnraum vom 28. Oktober 1985 (GBl I S. 301) enthielt eine derartige Prominenten-Regelung aber nicht mehr. Im Übrigen rechtfertigte auch die frühere Regelung keine unangemessene Überversorgung mit Wohnraum (vgl. Urteil vom 27. Januar 2000 – BVerwG 7 C 39.98 – a. a. O.).[22] b) Der Rechtsverstoß hatte auch manipulativen Charakter. Die Abweichung von allgemeinen Rechtsvorschriften der DDR lässt bei objektiver Betrachtung die Absicht erkennen, den Erwerbsvorgang gezielt zu beeinflussen; denn sie richtete sich darauf, den Klägern den Erwerb des Eigentums an dem Grundstück zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 19. Januar 1995 – BVerwG 7 C 42.93 – BVerwGE 97, 286 [290] = Buchholz 428 § 4 VermG Nr. 12 S. 21 [25]).[23] c) Die Kläger hätten auch wissen müssen, dass gegen Rechtsvorschriften der DDR verstoßen wurde. Offenkundig (§ 291 ZPO) war in der DDR allgemein bekannt, dass die Zuweisung von Wohnraum von dessen Größe und der Zahl der einziehenden Personen abhängig war (vgl. Urteil vom 27. Januar 2000 – BVerwG 7 C 39.98 – a. a. O.) und dass deswegen der Bezug eines Einfamilienhauses mit fünf Zimmern durch ein kinderloses Paar nicht genehmigt werden konnte. Dies mussten daher auch die Kläger wissen. Hinzu kommt, dass sie bewusst eine privilegierte Behandlung angestrebt haben. Dies ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Klägers als Zeuge im Strafverfahren gegen Rechtsanwalt. … Dort hatte der Kläger erklärt, bei der zuständigen Stelle der Stadt hätten er und seine Ehefrau, die Klägerin, einen Antrag auf Hauskauf nicht gestellt, weil dies von vornherein aussichtslos gewesen sei. Als Leistungssportler hätten sie versucht, ihren Wunsch über den SV Dynamo Berlin zu realisieren.[24] Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2007-7
14.02.2007
Pressemitteilung Nr. 7/2007 vom 14.02.2007 EN Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser: Klage gegen Widerruf von Regulierungsverpflichtungen abgewiesen Die Deutsche Telekom AG (DTAG) bietet ihren Wettbewerbern, darunter der Klägerin des vorliegenden Verfahrens (Arcor), seit 1997 Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung an. Diese führt als sogenannte „letzte Meile“ im Netz der DTAG vom Hauptverteiler zu den Teilnehmeranschlüssen der einzelnen Kunden. Herkömmlich wird diese Verbindung durch eine Kupferdoppelader hergestellt. Doch gibt es auch Teilnehmeranschlussleitungen aus reiner Glasfaser. Außerdem wurden Kombinationen von Kupfer- und Glasfaserleitungen (hybride Systeme) verlegt; dies geschah in größerem Umfang in den neuen Bundesländern. Die damalige Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, jetzt Bundesnetzagentur, ging davon aus, dass alle diese Varianten nach der früheren Rechtslage (Telekommunikationsgesetz vom 25. Juli 1996) der Regulierung unterlagen. Sie genehmigte noch im Jahr 2003 entsprechende Entgelte, die die DTAG für die Überlassung des Zugangs erhob. Nach Inkrafttreten des neuen Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 erließ die Behörde eine Regulierungsverfügung. Darin verpflichtete sie die DTAG, anderen Unternehmen Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der Kupferdoppelader einschließlich hybrider Varianten zu gewähren und unterwarf die diesbezüglichen Zugangsentgelte der Genehmigungspflicht. Dagegen widerrief die Behörde die Verpflichtung der DTAG, Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der reinen Glasfaserleitung zu gewähren, sowie die Genehmigungspflicht der darauf bezogenen Zugangsentgelte. Sie begründete dies damit, dass der betreffende Markt in Anbetracht der beträchtlichen Marktmacht der DTAG zwar grundsätzlich regulierungsbedürftig sei. Teilnehmeranschlussleitungen aus reiner Glasfaser, die nur für bestimmte Großkunden oder in eng abgegrenzten geografischen Gebieten wettbewerbsfähig seien, zählten zu diesem Markt aber nicht. Die Marktstruktur in Bezug auf die Glasfaser unterscheide sich von dem übrigen Teilnehmeranschlussmarkt auch dadurch, dass die Wettbewerber im Verhältnis zur DTAG bereits ein Vielfaches an eigenen Glasfaserleitungen nutzten. Deshalb sei der Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser nicht regulierungsbedürftig. Die Klägerin wandte sich mit ihrer Klage gegen den Widerruf der Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht, soweit sie sich auf die Glasfaser bezieht. Sie warf der Regulierungsbehörde eine unzureichende Marktanalyse vor und hielt den Teilnehmeranschlussmarkt für umfassend regulierungsbedürftig. Das Verwaltungsgericht Köln wies die Klage ab. Die Revision der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig stellte klar, dass auf dem früheren Rechtszustand beruhende gesetzliche Verpflichtungen wie die, umfassenden Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung zu gewähren und die betreffenden Entgelte vorab genehmigen zu lassen, unmittelbar kraft Gesetzes erlöschen, sobald sie durch eine Regulierungsverfügung nach neuem Recht ersetzt werden. Deshalb entspricht die angefochtene Regelung der Rechtslage. Über die Rechtmäßigkeit der nach neuem Recht durchgeführten Marktabgrenzung hatte der Senat nicht zu entscheiden. BVerwG 6 C 28.05 - Urteil vom 14.02.2007
Urteil vom 14.02.2007 - BVerwG 6 C 28.05ECLI:DE:BVerwG:2007:140207U6C28.05.0 EN Leitsatz: Widerruft die Regulierungsbehörde aus Anlass einer erstmaligen Marktregulierung nach den Vorschriften des TKG 2004 - hier: Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung - frühere gesetzliche Regulierungsverpflichtungen, lässt sich dieser Widerruf unter den Voraussetzungen des § 47 VwVfG in die Feststellung umdeuten, dass die betreffenden altrechtlichen Verpflichtungen durch den Erlass der neuen Regulierungsverfügung kraft Gesetzes erloschen sind. Zu einer solchen Feststellung kann die Regulierungsbehörde aus Gründen der Rechtssicherheit und Transparenz verpflichtet sein. Rechtsquellen TKG 1996 § 25 Abs. 1, §§ 29, 35 Abs. 1, § 39 TKG 2004 § 9 Abs. 1, §§ 10, 11, 12 Abs. 2, § 13 Abs. 1 und 3, § 150 Abs. 1 VwVfG §§ 43, 47, 49 Instanzenzug VG Köln - 17.11.2005 - AZ: VG 1 K 2924/05 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 14.02.2007 - 6 C 28.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:140207U6C28.05.0] Urteil BVerwG 6 C 28.05 VG Köln - 17.11.2005 - AZ: VG 1 K 2924/05 In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hahn, Dr. Graulich, Vormeier und Dr. Bier für Recht erkannt: Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 17. November 2005 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen. Gründe I 1 Die beigeladene Deutsche Telekom AG bietet Telekommunikationsdienstleistungen an und betreibt ein bundesweites Telekommunikationsnetz. Ihren Wettbewerbern, darunter der Klägerin, bietet sie seit 1997 Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung an. Diese führt im Netz der Beigeladenen vom Hauptverteiler über Kabelverzweiger und Endverzweiger zu den Teilnehmeranschlusseinheiten der Kunden. Die Teilnehmeranschlussleitung besteht herkömmlich aus einer Kupferdoppelader, jedoch gibt es auch Teilnehmeranschlussleitungen aus Glasfaser sowie Kombinationen von Kupfer- und Glasfaserleitungen (hybride Systeme). 2 Unter dem Datum vom 20. April 2005 erließ die damalige Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (im Folgenden: Regulierungsbehörde) gegenüber der Beigeladenen die hier umstrittene Regulierungsverfügung. Darin verpflichtete sie die Beigeladene, anderen Unternehmen vollständig entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der Kupferdoppelader, im erforderlichen Umfang gebündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der Kupferdoppelader einschließlich zweier hybrider Varianten sowie zu diesem Zeck Kollokation und näher bezeichnete Kooperationsmöglichkeiten zu gewähren (Nr. 1). Sie verpflichtete die Beigeladene dazu, dass Vereinbarungen über Zugänge nach Nr. 1 auf objektiven Maßstäben beruhen, nachvollziehbar sein, einen gleichwertigen Zugang gewähren und den Geboten der Chancengleichheit und Billigkeit genügen müssen (Nr. 2). Die Entgelte für die Gewährung des Zugangs und der Kollokation gemäß Nr. 1 unterwarf sie der Genehmigungspflicht (Nr. 3). Schließlich widerrief sie die Verpflichtung der Beigeladenen, Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der reinen Glasfaserleitung zu gewähren, sowie die Genehmigungspflicht der diesbezüglichen Zugangsentgelte (Nr. 4). 3 Zur Begründung der der Beigeladenen unter Nr. 1 bis 3 auferlegten Verpflichtungen führte die Regulierungsbehörde aus, nach dem Ergebnis einer auf der Grundlage der §§ 10 ff. TKG 2004 durchgeführten Marktdefinition und -analyse sei der bundesweite Markt für den Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung regulierungsbedürftig. Auf diesem Markt verfüge die Beigeladene über beträchtliche Marktmacht, was sich im Einzelnen aus einer von der Präsidentenkammer der Regulierungsbehörde beschlossenen Marktfestlegung ergebe, die Inhalt der Regulierungsverfügung sei und auf die Bezug genommen werde. Der Zugang zur reinen Glasfaserleitung zähle zu diesem regulierungsbedürftigen Markt allerdings nicht; eine Erstreckung der Maßnahmen hierauf komme aufgrund der vorangegangenen Überprüfung nicht in Betracht. Zur Begründung des unter Nr. 4 der Verfügung ausgesprochenen Widerrufs heißt es, die übergangsweise fortbestehende Verpflichtung der Beigeladenen, entbündelten Zugang zu ihren Glasfaserleitungen zu gewähren, sowie die Genehmigungspflicht der diesbezüglichen Zugangsentgelte sei infolge des Ergebnisses der Marktanalyse zu widerrufen. Das Ermessen der Beschlusskammer sei insoweit auf Null reduziert. 4 Mit der Klage hat die Klägerin beantragt, Nr. 4 der Verfügung der Regulierungsbehörde vom 20. April 2005 aufzuheben. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Soweit sich die Klage gegen den Widerruf der Entgeltgenehmigungspflicht für den Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser richte, sei sie unzulässig. Insoweit fehle der Klägerin das allgemeine Rechtsschutzinteresse, da die früher kraft Gesetzes bestehende Genehmigungspflicht schon vor Erlass der angefochtenen Verfügung mit Inkrafttreten des Telekommunikationsgesetzes 2004 erloschen sei. Dagegen sei die Klage zulässig, soweit sie sich gegen den Widerruf der Verpflichtung zur Zugangsgewährung beziehe. Diese sei der Beigeladenen durch eine Missbrauchsverfügung der Regulierungsbehörde vom 1. Juli 1997 auferlegt worden und nach § 150 Abs. 1 TKG 2004 wirksam geblieben. In diesem Umfang sei die Klage aber unbegründet, da der Widerruf der Zugangsverpflichtung die Klägerin nicht in ihren Rechten verletze. Zwar habe die Beschlusskammer der Regulierungsbehörde die mündliche Verhandlung nicht auf die umstrittene Marktdefinition erstreckt, sondern deren Ergebnis lediglich übernommen; das entspreche aber der eingeschränkten Aufgabenstellung der Beschlusskammer. Inhaltlich sei die der Regulierungsverfügung zugrunde liegende Marktdefinition, wonach der Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser weder im Zusammenhang mit den sonstigen Varianten der Teilnehmeranschlussleitung noch eigenständig der Regulierung bedürfe, nicht zu bestanden. 5 Die Klägerin hat ihre vom Verwaltungsgericht zugelassene Revision im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Klage sei insgesamt zulässig, denn § 150 Abs. 1 TKG 2004 ordne die Fortgeltung der an die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung anknüpfenden Zugangs- und Entgeltgenehmigungsverpflichtungen ohne Rücksicht darauf an, ob sie durch Verwaltungsakt auferlegt worden seien oder unmittelbar auf dem Gesetz beruhten. Soweit die widerrufenen altrechtlichen Verpflichtungen keiner förmlichen Aufhebung bedurft haben sollten, sei Nr. 4 der Regulierungsverfügung dahin auszulegen, dass die Regulierungsbehörde das gesetzliche Erlöschen der bisher bestehenden Verpflichtungen verbindlich festgestellt oder aber die künftige Freistellung der Beigeladenen von diesen Verpflichtungen geregelt habe. Die angegriffene Regelung sei schon wegen Verstoßes gegen das Gebot mündlicher Verhandlung aufzuheben, da über die in dem vorgelagerten Marktdefinitions- und Marktanalyseverfahren getroffenen Feststellungen nicht verhandelt worden sei. In der Sache sei die angegriffene Regelung deshalb rechtswidrig, weil sie auf einer fehlerhaften Marktabgrenzung beruhe. Die Präsidentenkammer habe bei der Frage, ob die reine Glasfaser zum sachlich relevanten Markt des Zugangs zur Teilnehmeranschlussleitung gehöre, keine eigenständige Marktabgrenzung durchgeführt, sondern sei der Marktempfehlung der Kommission gefolgt. Dabei habe sie übersehen, dass die Indizwirkung, die dieser Empfehlung zukomme, nicht gelte, wenn bisher einheitlich ex ante regulierte Zugangsvarianten nunmehr unterschiedlichen Märkten zugeordnet werden sollten. Aber selbst unter der Prämisse, dass die Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser nicht zu dem Markt des Teilnehmeranschlusses aus Kupferdoppelader gehören sollte, fehle es an einer sachgerechten anderweitigen Marktabgrenzung. Auf der Grundlage der einen wie der anderen Annahme leide das angefochtene Urteil im Übrigen jedenfalls an einer ungenügenden Sachverhaltsermittlung und -würdigung. 6 Die Klägerin beantragt, 1. unter Aufhebung des angefochtenen Urteils Nr. 4 der Verfügung der Beklagten vom 20. April 2005 aufzuheben, 2. hilfsweise: auch Nr. 1 bis 3 der Regulierungsverfügung aufzuheben, 3. weiter hilfsweise: die Beklagte zu verpflichten, über die Regulierungsbedürftigkeit des Marktes für die Teilnehmeranschlussleitungen aus Glasfaser erneut zu entscheiden, 4. äußerst hilfsweise: die Beklagte zu verpflichten, über die Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht für den genannten Markt erneut zu entscheiden. 7 Die Beklagte und die Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen. 8 Sie verteidigen das angefochtene Urteil. II 9 Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Das angefochtene Urteil stellt sich im Ergebnis als richtig dar, so dass die Revision zurückzuweisen ist (§ 144 Abs. 4 VwGO). 10 1. Die von der Klägerin gerügten Verfahrensfehler sind nicht den Anforderungen des § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO gemäß begründet worden. Den Voraussetzungen dieser Norm ist nur genügt, wenn sich aus der Revisionsbegründung der gerügte Verfahrensmangel schlüssig ergibt. Daran fehlt es hier. 11 a) Für die ordnungsgemäße Begründung einer Rüge mangelhafter Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO), wie die Klägerin sie erhoben hat, muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände, die für das Gericht entscheidungserheblich waren, Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern deren Berücksichtigung auf der Grundlage der Rechtsauffassung der Vorinstanz zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Beschlüsse vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 und vom 18. Juni 1998 - BVerwG 8 B 56.98 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 154; Urteil vom 21. Juni 2006 - BVerwG 6 C 19.06 - NVwZ 2006, 1175 <Rn. 25>). 12 Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe sich im Zusammenhang mit der Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes die tatsächlichen Annahmen der Beklagten ohne eigene weitergehende Sachverhaltsermittlungen zu eigen gemacht. Diese sei davon ausgegangen, dass Teilnehmeranschlussleitungen aus reiner Glasfaser lediglich punktuell bedarfsorientiert zur Anbindung von Großkunden verlegt worden seien und dass die Wettbewerber der Beigeladenen im Verhältnis zu den bei dieser nachgefragten Zugängen bereits ein Vielfaches an eigenen Glasfaserleitungen nutzten. Gegen beide Annahmen bestünden nach Aktenlage erhebliche Zweifel. Mit diesem Vorbringen kann der gerügte Verfahrensfehler schon deshalb nicht begründet werden, weil die Revision jeden Hinweis darauf vermissen lässt, welche Aufklärungsmaßnahmen ihrer Ansicht nach hätten eingesetzt werden müssen. Außerdem übersieht sie, dass die Aufklärungsrüge kein Mittel darstellt, um eigene Versäumnisse in der Tatsacheninstanz - insbesondere das Unterlassen von Beweisanträgen eines anwaltlich vertretenen Beteiligten - zu kompensieren. Die Klägerin hätte sachgerechte Beweisanträge hinsichtlich der tatsächlichen Verbreitung der Glasfaser-Teilnehmeranschlussleitung bei der Beigeladenen und deren Wettbewerbern auch dann stellen können, wenn ihr die Marktgegebenheiten im Einzelnen nicht bekannt waren. 13 b) Die Rüge eines Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Die Freiheit, die der Überzeugungsgrundsatz dem Tatsachengericht zugesteht, bezieht sich auf die Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände. Sie ist nach der einen Seite begrenzt durch die Rechtsauslegung und nach der anderen Seite dadurch, dass der Vorgang der Überzeugungsbildung nicht an einem Fehler leiden, insbesondere gesetzliche Beweisregeln nicht missachten und Tatsachen, die sich weder auf ein Beweisergebnis noch sonst auf den Akteninhalt stützen lassen, nicht berücksichtigen darf. Danach verstößt das Gericht gegen den Überzeugungsgrundsatz, wenn es von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen (Urteile vom 2. Februar 1984 - BVerwG 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 <339 f.> = Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 145 S. 36, vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.> = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 174 S. 27 ff. und vom 21. Juni 2006 - BVerwG 6 C 19.06 - a.a.O. Rn. 28). Nach diesem Maßstab ist die Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes hier ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Die Revision bemängelt auch unter diesem Gesichtspunkt lediglich, dass das Verwaltungsgericht eigene Ermittlungen über den Ausbau der Glasfaser-Teilnehmeranschlussleitung durch die Beigeladene und deren Wettbewerber unterlassen hat, obwohl sich ihm solche Ermittlungen angeblich aufdrängen mussten. Insoweit gelten die obigen Ausführungen zur Amtsermittlung und ihren Grenzen entsprechend. 14 2. Die Klage ist hinsichtlich des - in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat als Antrag zu 1) gestellten - Hauptantrages, mit dem die Klägerin isoliert die Aufhebung von Nr. 4 der Regulierungsverfügung vom 20. April 2005 begehrt, zulässig, im Übrigen aber unzulässig. 15 a) In Bezug auf den Hauptantrag besitzt die Klägerin, anders als das Verwaltungsgericht meint, insgesamt das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlt nur, sofern das prozessuale Vorgehen die Rechtsstellung der Klägerin nicht verbessern kann und daher nutzlos ist. Dies ist der Fall, wenn ein zu beseitigender Nachteil nicht vorliegt oder ein vorliegender Nachteil sich nicht beheben lässt; die Nutzlosigkeit muss außer Zweifel stehen (Urteil vom 29. April 2004 - BVerwG 3 C 25.03 - BVerwGE 121, 1 <3>). Die Klägerin meint, der Widerruf nach altem Recht entstandener und übergangsweise fortgeltender Zugangs- und Entgeltgenehmigungsverpflichtungen hinsichtlich der reinen Glasfaser-Teilnehmeranschlussleitung dürfe nur ausgesprochen und das etwaige Erlöschen solcher Verpflichtungen kraft Gesetzes dürfe nur festgestellt werden, wenn ein Marktdefinitions- und Marktanalyseverfahren nach neuem Recht insgesamt rechtmäßig durchgeführt worden sei; auf der Grundlage einer fehlerhaften Marktabgrenzung dürfe die in Bezug auf die Glasfaser bisher bestehende Regulierung nicht beendet werden. Folgerichtig ist die Klägerin der Auffassung, dass schon die (isolierte) Aufhebung des von der Regulierungsbehörde ausgesprochenen Widerrufs der die reine Glasfaser betreffenden Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht die diesbezüglichen altrechtlichen Verpflichtungen wieder aufleben lässt. Sie hat ein schutzwürdiges Interesse daran, die Richtigkeit dieses Rechtsstandpunkts im Rahmen des von ihr bereits in erster Instanz gestellten und in der Revisionsinstanz hauptsächlich weiterverfolgten Klageantrages klären zu lassen. 16 b) Dagegen sind die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gestellten Hilfsanträge unzulässig. Bei der Einführung dieser Anträge handelt es sich um eine Klageänderung im Sinne von § 91 VwGO, die gemäß § 142 Abs. 1 VwGO im Revisionsverfahren nicht zulässig ist. 17 Das gilt zunächst für das mit dem ersten Hilfsantrag zur Überprüfung gestellte Anfechtungsbegehren, mit dem die Klägerin abweichend von ihrem Hauptantrag die Regulierungsverfügung vom 20. April 2005 nicht nur teilweise, sondern insgesamt und damit auch insoweit angreift, als darin der Beigeladenen Verpflichtungen zugunsten ihrer Wettbewerber auferlegt worden sind. Da sich das Anfechtungsbegehren der Klägerin in der Vorinstanz, das sie im Revisionsverfahren mit ihrem Hauptantrag weiterverfolgt, ausdrücklich auf Nr. 4 der Regulierungsverfügung beschränkte und die weiteren Regelungen unter Nr. 1 bis 3 der Verfügung - weil für die Klägerin günstig - unangetastet ließ, kann der nunmehr beim Senat gestellte und die ganze Regulierungsverfügung umfassende erste Hilfsantrag nicht lediglich als eine Klarstellung dessen verstanden werden, was die Klägerin von Anfang an mit ihrer Klage im Sinne des § 88 VwGO erreichen wollte; vielmehr geht dieser Antrag wesentlich über den Gegenstand der ursprünglichen Klage hinaus. Das ist - auch in Anbetracht der Vertretung der Klägerin durch einen Rechtsanwalt bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht - eindeutig, so dass auch das bei der Auslegung und Anwendung des § 88 VwGO zu beachtende Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie das darin eingeschlossene Verbot, die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in unzumutbarer, aus Rechtsgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren, nicht zu einem anderen Ergebnis führen. 18 Die hilfsweise Anfechtung der gesamten Regulierungsverfügung stellt sich zudem nicht als eine unselbstständige, d.h. nicht mit einer Änderung des Klagegrundes verbundene Erweiterung des Klageantrages im Sinne von § 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO dar, die nach diesen Vorschriften nicht als eine Klageänderung anzusehen wäre und infolgedessen auch noch im Revisionsverfahren hätte vorgenommen werden dürfen. Denn die Anfechtung (auch) der Regelungen unter Nr. 1 bis 3 der Regulierungsverfügung betrifft einen anderen Streitgegenstand als die Anfechtung (nur) der Regelung unter Nr. 4. Die grundlegenden Unterschiede zwischen den Streitgegenständen des Hauptantrages und des ersten Hilfsantrages erschließen sich aus Aufbau und Inhalt der angefochtenen Regulierungsverfügung. In deren Nr. 1 bis 3 hat die Regulierungsbehörde der Beigeladenen im Einzelnen bezeichnete Verpflichtungen auferlegt. Mit ihnen befasst sich der Abschnitt II der Gründe der Regulierungsverfügung; darin heißt es, nach dem Ergebnis der gemäß §§ 10 ff. TKG 2004 durchgeführten Marktdefinition und -analyse sei der bundesweite Markt für den Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung regulierungsbedürftig; zu diesem Markt zähle der Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der reinen Glasfaser nicht. Dem in Nr. 4 der Regulierungsverfügung ausgesprochenen Widerruf der altrechtlichen Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht hinsichtlich der Glasfaserleitung ist der Abschnitt III der Gründe gewidmet. Dort ist ausgeführt, nachdem ein entbündelter Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der reinen Glasfaserleitung nicht für eine Regulierung in Betracht komme, sei die insoweit noch fortbestehende Verpflichtung der Beigeladenen zwingend zu widerrufen. Darin kommt zum Ausdruck, dass mit Nr. 4 der Verfügung lediglich - akzessorisch - die Schlussfolgerung aus dem Umfang der Regulierung gezogen werden sollte, der seinerseits abschließend in Nr. 1 bis 3 der Regulierungsverfügung definiert ist. Über die Berechtigung der auf das neue Recht gestützten Regulierungsverpflichtungen gemäß Nr. 1 bis 3 der Verfügung vom 20. April 2005 bestand zwischen den Beteiligten bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat kein Streit, sondern nur über die Berechtigung der den Fortbestand der altrechtlichen Verpflichtungen betreffenden Widerrufsentscheidung unter Nr. 4 der Verfügung, selbst wenn die Klägerin zur Begründung ihrer Klage gegen Nr. 4 der Verfügung die der Regulierung gemäß Nr. 1 bis 3 zugrunde liegende Marktdefinition und -analyse als fehlerhaft beanstandet hat. 19 Auch mit den beiden weiteren Hilfsanträgen, mit denen die Klägerin die Beklagte verpflichtet wissen will, über die Regulierungsbedürftigkeit des Marktes für Teilnehmeranschlussleitungen aus reiner Glasfaser bzw. die Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht für diesen Markt erneut zu entscheiden, hat die Klägerin entgegen § 142 Abs. 1 VwGO neue Streitgegenstände in das Revisionsverfahren eingeführt. Während diese Verpflichtungsbegehren auf eine Regulierung von Glasfaser-Teilnehmeranschlussleitungen nach neuem Recht zielen, ist das Rechtsschutzziel des ursprünglich erhobenen Anfechtungsbegehrens - wie erwähnt - auf ein Wiederaufleben der entsprechenden Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht nach altem Recht gerichtet. 20 3. Soweit die Klage zulässig ist, hat sie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Mit dem Hauptantrag ist sie unbegründet, denn die in Nr. 4 der Regulierungsverfügung vom 20. April 2005 getroffene Regelung erweist sich als rechtmäßig. 21 a) Als Widerruf im rechtstechnischen Sinne steht die angegriffene Regelung mit der Rechtsordnung allerdings nicht in Einklang. Insoweit findet sie entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts weder in unmittelbarer noch in entsprechender Anwendung des § 13 Abs. 1 Satz 1 des Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 (BGBl I S. 1190) - TKG 2004 - eine Rechtsgrundlage. 22 aa) Nach dieser Vorschrift kann neben der Auferlegung, Änderung oder Beibehaltung auch der Widerruf dort näher bezeichneter Verpflichtungen Gegenstand einer Regulierungsverfügung sein; als - gegebenenfalls zu widerrufende - Verpflichtungen führt § 13 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 u.a. solche nach § 21 TKG 2004 (Zugangsverpflichtung) und § 30 TKG 2004 (Entgeltregulierung) auf. Im Verhältnis zu der allgemeinen Widerrufsregelung des § 49 VwVfG ist § 13 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 die speziellere Norm. Denn wegen der Sperrwirkung, die § 9 Abs. 1 TKG 2004 im Hinblick auf die Marktregulierung nach Teil 2 dieses Gesetzes entfaltet, sind einem marktmächtigen Unternehmen in der Vergangenheit auferlegte Regulierungsverpflichtungen zu widerrufen, sobald festgestellt wird, dass eine beträchtliche Marktmacht auf einem regulierungsbedürftigen Markt nicht mehr vorliegt. Zu diesem Widerruf ist die Regulierungsbehörde verpflichtet; ein Ermessensspielraum, wie in § 49 VwVfG vorgesehen, besteht insoweit nicht (s.a. Korehnke, in: BeckTKG, 3. Aufl. 2006, § 13 Rn. 4). Unmittelbar ist § 13 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 im vorliegenden Fall schon deshalb nicht einschlägig, weil die widerrufene Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht hinsichtlich der reinen Glasfaser-Teilnehmeranschlussleitung sich nicht auf die in dieser Vorschrift genannten Bestimmungen des neuen Rechts stützte. Beruhte sie - wie hier - noch auf altem Recht, kommt als Rechtsgrundlage für den Widerruf allerdings § 13 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 in analoger Anwendung in Betracht. Dies kann im vorliegenden Fall aber auf sich beruhen. Denn sowohl in unmittelbarer als auch in entsprechender Anwendung setzt § 13 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 stets voraus, dass die widerrufene Verpflichtung ihrerseits durch Verwaltungsakt auferlegt worden ist. Demgegenüber können übergangsweise fortbestehende gesetzliche Gebote des früheren Rechts zwar als Folge einer Exekutiventscheidung unwirksam werden; einer förmlichen Aufhebung durch die Exekutive sind sie aber nicht zugänglich (vgl. Beschluss vom 17. Mai 2006 - BVerwG 6 C 14.05 - BVerwGE 126, 74 <Rn. 29, 44>). 23 bb) Weder die Zugangsverpflichtung zur Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser noch die diesbezügliche Entgeltgenehmigungspflicht wurde der Beigeladenen durch Verwaltungsakt auferlegt. 24 Das Verwaltungsgericht meint, die Zugangsverpflichtung sei der Beigeladenen durch eine missbrauchsaufsichtliche Verfügung der Regulierungsbehörde vom 1. Juli 1997 auferlegt worden: In der seinerzeit an die Beigeladene gerichteten Aufforderung, gegenüber bestimmten Wettbewerbern ein Angebot auf entbündelten Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung - einschließlich der Glasfaserleitung - abzugeben, sei die Regelung einer andauernden Zugangspflicht notwendig enthalten. Diese Auslegung bindet den Senat nicht. Auch wenn angenommen wird, dass die Feststellung des konkreten Inhalts eines Verwaltungsaktes als Tatsachenfeststellung im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO vom Revisionsgericht grundsätzlich nur eingeschränkt überprüft werden kann (vgl. Urteile vom 19. Februar 1982 - BVerwG 8 C 27.81 - BVerwGE 65, 61 <68 f.> = Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 45 S. 41 f.; vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 <279 f.> und vom 11. Mai 2006 - BVerwG 5 C 10.05 - BVerwGE 126, 33 <Rn. 20>), ist dem Revisionsgericht eine eigene Auslegung entsprechend den zu §§ 133, 157 BGB entwickelten Regeln jedenfalls dann möglich, wenn das Tatsachengericht in seiner Entscheidung nichts Näheres ausgeführt, insbesondere sein Auslegungsergebnis nicht näher begründet hat (Urteile vom 4. Dezember 2001 - BVerwG 4 C 2.00 - a.a.O., vom 21. Juni 2006 - BVerwG 6 C 19.06 - BVerwGE 126, 149 <Rn. 52> und vom 26. Juli 2006 - BVerwG 6 C 20.05 - NVwZ 2007, 210 <Rn. 79>). So verhält es sich hier. Das Verwaltungsgericht hat zwar behauptet, die andauernde Zugangspflicht sei „bei lebensnaher Betrachtung selbstverständlicher Regelungsbestandteil“ der missbrauchsaufsichtlichen Verfügung. Es hat sich aber nicht hinreichend substantiiert mit den zu jener Verfügung ergangenen Urteilen des Senats vom 25. April 2001 - BVerwG 6 C 6.00 (BVerwGE 114, 160) und BVerwG 6 C 7.00 - auseinandergesetzt, die der Verfügung den Charakter eines Dauerverwaltungsaktes insgesamt abgesprochen haben (a.a.O. S. 167). Mangels einer näheren substantiierten Begründung durch das Verwaltungsgericht ist der Senat an einer eigenen Auslegung nicht gehindert. 25 Das Verständnis des Verwaltungsgerichts vermag auch in der Sache nicht zu überzeugen. Konkret-individuell durch Verwaltungsakt auferlegt sind nur solche Verpflichtungen, die in dem - durch die Gründe eventuell auszulegenden - „Spruch“, d.h. dem Bescheid-Tenor, enthalten sind. Verpflichtungen, die lediglich in der Begründung eines Verwaltungsaktes als gegeben vorausgesetzt werden, wie dies bei der hier umstrittenen Zugangspflicht in der missbrauchsaufsichtlichen Verfügung vom 1. Juli 1997 der Fall war, sind nicht ihrerseits durch Verwaltungsakt auferlegt und darum als solche nicht der Bestandskraft fähig. 26 Aus denselben Überlegungen folgt - insoweit übereinstimmend mit dem angefochtenen Urteil -, dass der Beigeladenen weder die Zugangs- noch die Entgeltgenehmigungspflicht durch den Entgeltgenehmigungsbescheid der Regulierungsbehörde vom 29. April 2003 auferlegt wurde. Die Entgeltgenehmigung enthält, anders als die Klägerin meint, nicht zugleich die Feststellung der Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht, sondern setzt beide Pflichten als vorhanden voraus. 27 b) Kann somit die angefochtene Regelung in Nr. 4 der Regulierungsverfügung als Widerruf nicht rechtmäßig sein, so hat sie dennoch mit dem Inhalt Bestand, dass das Erlöschen einer zuvor kraft Gesetzes bestehenden Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht festgestellt wird. Einiges spricht dafür, dass der Widerruf unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizontes bereits in diesem Sinne ausgelegt werden kann. Jedenfalls ist er aber gemäß § 47 Abs. 1 VwVfG einer Umdeutung mit diesem Inhalt zugänglich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind unter den in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen auch die Verwaltungsgerichte ermächtigt, fehlerhafte Verwaltungsakte umzudeuten. Dies gilt auch im Revisionsverfahren unter den - hier sämtlich vorliegenden - Voraussetzungen, dass die das Revisionsgericht bindenden tatrichterlichen Feststellungen ausreichen, den Beteiligten rechtliches Gehör gewährt worden ist und sie in ihrer Rechtsverteidigung nicht beeinträchtigt sind (vgl. Urteile vom 23. November 1999 - BVerwG 9 C 16.99 - BVerwGE 110, 111 <114> = Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 5 S. 3 und vom 26. Juli 2006 - BVerwG 6 C 20.05 - a.a.O. Rn. 101). 28 aa) Die Feststellung, dass frühere Zugangs- und Entgeltgenehmigungsverpflichtungen kraft Gesetzes erloschen sind, ist, wenn der Widerruf nicht bereits in diesem Sinne auszulegen sein sollte, so doch jedenfalls gemäß § 47 Abs. 1 VwVfG auf das gleiche Ziel gerichtet wie dieser. Der erkennbare Zweck des Widerrufs besteht in der Regelung, dass nach Erlass der auf einer Marktdefinition und -analyse beruhenden Regulierungsverfügung vom 20. April 2005 (Nr. 1 bis 3) eine altrechtliche Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht hinsichtlich der Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser nicht mehr besteht. Insoweit sind die Wirkungen der Erlöschensfeststellungen mit denen des Widerrufs gleichartig und entsprechen auch der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwVfG), die diese im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich bestätigt hat. Auch sind die Rechtsfolgen der Erlöschensfeststellung für die Klägerin nicht ungünstiger als die des fehlerhaften Widerrufs (s. zum Ganzen auch VGH München, Urteil vom 12. Oktober 1989 - 26 B 86.02 944 - NVwZ-RR 1991, 117, für die Umdeutung des Widerrufs einer Baugenehmigung in einen feststellenden Verwaltungsakt, dass die Baugenehmigung kraft Gesetzes erloschen ist). 29 bb) Die in Rede stehende Feststellung hätte von der Regulierungsbehörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig erlassen werden können. Zwar fehlt hier für die Handlungsform des feststellenden Verwaltungsaktes eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung. Doch reicht es aus, wenn die Ermächtigungsgrundlage für eine Feststellung dem Gesetz im Wege der Auslegung unter Rückgriff auf den Normzweck entnommen werden kann (stRspr, s. Urteil vom 29. November 1985 - BVerwG 8 C 105.83 - BVerwGE 72, 265 <268>; Beschluss vom 2. Juli 1991 - BVerwG 1 B 64.91 - Buchholz 451.44 HeimG Nr. 6, Urteil vom 22. Oktober 2003 - BVerwG 6 C 23.02 - BVerwGE 119, 123 <124 f.> = Buchholz 442.066 § 90 TKG Nr. 1 S. 2); so liegt es hier. Der Senat hat - in Auslegung und Anwendung nationalen Rechts - entschieden, dass fortwirkende Verpflichtungen im Sinne von § 150 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 nicht nur solche an die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung anknüpfenden Gebote sind, die dem betroffenen Unternehmen durch Einzelmaßnahme auferlegt wurden; § 150 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 erfasst vielmehr auch Gebote, die unmittelbar aus dem Telekommunikationsgesetz vom 25. Juli 1996 (BGBl I S. 1120) - TKG 1996 - folgten (Beschluss vom 17. Mai 2006 a.a.O. Rn. 21). Da derartige Verpflichtungen, die einem Widerruf analog § 13 Abs. 1 TKG 2004 nicht zugänglich sind, kraft Gesetzes im Zeitpunkt ihrer Ersetzung durch Entscheidungen nach neuem Recht erlöschen, besteht aus Gründen der Rechtssicherheit und Transparenz ein praktisches Bedürfnis für eine verbindliche Feststellung des Erlöschens durch die Regulierungsbehörde. Die Erlöschensfeststellung entspricht in diesen Fällen dem Normzweck des § 150 Abs. 1 TKG 2004. 30 cc) Ebenso wenig wie eine etwaige berichtigende Auslegung scheitert die Umdeutung des Widerrufs in eine Erlöschensfeststellung daran, dass eine solche Feststellung grundsätzlich im Ermessen der Verwaltung steht, während sich die Regulierungsbehörde im Zusammenhang mit dem Widerruf ausdrücklich gebunden glaubte. Zwar kann eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, gemäß § 47 Abs. 3 VwVfG nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden. Doch war die Regulierungsbehörde jedenfalls unter den hier vorliegenden Umständen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, das Erlöschen der nach altem Recht entstandenen und übergangsweise fortgeltenden Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht festzustellen, ohne dass ihr insoweit ein Ermessensspielraum zustand. Dabei mag auf sich beruhen, ob die Regulierungsbehörde bei jeder Marktabgrenzung, die sie in Anwendung des neuen Rechts (§ 10 TKG 2004) erstmalig vornimmt, aus Gründen der Rechtssicherheit gehalten ist, von sich aus zu erforschen, inwieweit neu aufzuerlegende Regulierungsverpflichtungen frühere gesetzliche Pflichten zum Erlöschen bringen, und dies mit dem Anspruch auf Vollständigkeit klarstellend zu verlautbaren. Jedenfalls trifft sie diese Klarstellungspflicht dann, wenn sie bei der Abgrenzung des in Bezug auf eine Regulierung sachlich und räumlich relevanten Marktes selbst zu dem Ergebnis gelangt, dass ein bestimmtes, früher mitreguliertes Marktsegment - wie hier der Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung in Form der reinen Glasfaser - dem regulierungsbedürftigen Markt nicht (mehr) zugehörig ist. Im Interesse größtmöglicher Transparenz zugunsten der Marktteilnehmer ist sie unter solchen Umständen regelmäßig - und auch im vorliegenden Fall - verpflichtet, das Ergebnis ihrer Marktabgrenzung nicht nur in positiver, sondern auch in negativer Hinsicht durch eine zweckentsprechende Erlöschensfeststellung in den regelnden Teil der Verfügung aufzunehmen. 31 dd) Die Feststellung, dass die der Beigeladenen früher obliegende Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht hinsichtlich der Teilnehmeranschlussleitung aus reiner Glasfaser erloschen ist, steht inhaltlich mit der Rechtslage in Einklang. 32 (1) Die betreffenden Verpflichtungen haben nach altem Recht kraft Gesetzes bestanden. Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 TKG 1996 hatte der Betreiber eines Telekommunikationsnetzes, der Telekommunikationsdienstleistungen für die Öffentlichkeit anbietet und auf einem solchen Markt über eine marktbeherrschende Stellung verfügt, anderen Nutzern Zugang zu ermöglichen. Die Entgeltgenehmigungspflicht ergab sich für solche Fälle aus § 39 Alt. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1, § 29 TKG 1996. Die in diesen Vorschriften vorausgesetzte marktbeherrschende Stellung der Beigeladenen in Bezug auf den Zugang zur Teilnehmeranschlussleitung war bereits in der oben in anderem Zusammenhang erwähnten missbrauchsaufsichtlichen Verfügung der Regulierungsbehörde vom 1. Juli 1997 festgestellt worden; die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung lässt sich ferner aus der Begründung des Entgeltgenehmigungsbescheides vom 29. April 2003 entnehmen, der auch Überlassungsentgelte für reine Glasfaservarianten einschloss. Gemäß § 150 Abs. 1 Satz 1 und 2 TKG 2004 blieben die von der Regulierungsbehörde vor Inkrafttreten dieses Gesetzes getroffenen Feststellungen der marktbeherrschenden Stellung, auch soweit sie lediglich Bestandteil der Begründung der vorbezeichneten Verwaltungsakte waren, sowie die daran anknüpfenden Verpflichtungen wirksam, bis sie durch eine neue Entscheidung nach Teil 2 dieses Gesetzes ersetzt wurden. 33 (2) Die übergangsweise fortbestehenden gesetzlichen Verpflichtungen der Beigeladenen traten in dem Zeitpunkt außer Kraft, in welchem die in § 150 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 bezeichnete neue Regulierungsentscheidung ihr gegenüber wirksam wurde. Diese Wirksamkeit trat gemäß § 43 Abs. 1 VwVfG mit der Bekanntgabe der Regulierungsverfügung vom 20. April 2005 an die Beigeladene ein; sie entfiele nur, wenn die Regulierungsverfügung insgesamt, d.h. gerade auch in ihren von der Klägerin nicht in zulässiger Weise mitangefochtenen Teilen (Nr. 1 bis 3), nichtig wäre. Das würde gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG voraussetzen, dass die Regulierungsverfügung an einem besonders schwerwiegenden und bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlichen Fehler litte. Auch bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht gelten insoweit grundsätzlich keine anderen Anforderungen. Sofern - wie hier - keine speziellen gemeinschaftsrechtlichen Regelungen bestehen, sind die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsender Rechte gewährleisten sollen, im Rahmen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten von diesen unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsprinzips selbst zu regeln (s. auch EuGH, Urteil vom 19. September 2006 - Rs. C-392/04 und C-422/04 - NVwZ 2006, 1277 <Rn. 57>). Deshalb beantwortet sich die Frage nach der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes, auch soweit diese auf dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts beruhen sollte, nach den Maßstäben des § 44 Abs. 1 VwVfG (vgl. Beschluss vom 11. Mai 2000 - BVerwG 11 B 26.00 - Buchholz 316 § 44 VwVfG Nr. 12 m.w.N.). 34 Danach sind die Fehler, die die Klägerin der Regulierungsverfügung anlastet, weder so schwerwiegend noch so offensichtlich, dass diese nichtig wäre und damit die in § 150 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 vorgesehene Ersetzungswirkung in Bezug auf die altrechtliche Zugangs- und Entgeltgenehmigungspflicht der Beigeladenen verfehlen müsste. Dies gilt zunächst in Bezug auf einen möglichen Verstoß gegen das Gebot mündlicher Verhandlung gemäß § 135 Abs. 3 Satz 1 TKG 2004. Der Standpunkt der Beklagten, dass das Gesetz zwischen „Ergebnissen“ der Verfahren nach §§ 10 und 11 TKG 2004 und darauf beruhenden „Entscheidungen“ unterscheide (s. § 13 Abs. 3 TKG 2004) und das Gebot öffentlicher mündlicher Verhandlungen in § 135 Abs. 3 TKG 2004 nur auf die letzteren beziehe, mag sich nach näherer Prüfung als unrichtig herausstellen oder als richtig; er ist jedenfalls nicht evident unvertretbar. Auch die in der Regulierungsverfügung eingehend begründete Auffassung der Behörde, dass der Zugang zum Teilnehmeranschluss in Form der reinen Glasfaserleitung weder als Bestandteil des Marktes Nr. 11 der Empfehlung der Kommission vom 11. Februar 2003 (ABl EG Nr. L 114 S. 45) noch in anderem Zusammenhang der Regulierung bedürfe, leidet jedenfalls nicht an einem besonders schwerwiegenden und offensichtlichen Fehler. Daran ändern auch die Meinungsverschiedenheiten nichts, die zwischen der Regulierungsbehörde und der Kommission im Rahmen des Konsolidierungsverfahrens gemäß § 12 Abs. 2 TKG 2004 insoweit zutage getreten sind. Denn derartige Stellungnahmen der Kommission entfalten, auch wenn ihnen nach § 12 Abs. 2 Nr. 2 TKG 2004 weitestgehend Rechnung zu tragen ist, keine strikte Bindungswirkung; von dem Vetorecht gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 3 TKG 2004 hat die Kommission unstreitig keinen Gebrauch gemacht. 35 (3) Der Senat war in seinem schon mehrfach erwähnten Beschluss vom 17. Mai 2006 - BVerwG 6 C 14.05 - gehindert zu entscheiden, ob seine auf der Grundlage des nationalen Rechts gewonnene Rechtsüberzeugung, dass auch unmittelbar aus dem Telekommunikationsgesetz 1996 folgende Gebote gemäß § 150 Abs. 1 Satz 1 TKG 2004 übergangsweise fortgelten, mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Auf diese dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Vorabentscheidung vorgelegte und von ihm noch nicht beantwortete Frage kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Sollte Gemeinschaftsrecht der einstweiligen Aufrechterhaltung (nur) gesetzlich festgelegter Gebote entgegenstehen, wäre das Ergebnis hier dasselbe. Die vorgenannten gesetzlichen Verpflichtungen wären dann nämlich nach § 152 TKG 2004 bereits mit dem Außerkrafttreten des Telekommunikationsgesetzes 1996 weggefallen. Die Feststellung, dass die betreffenden Verpflichtungen erloschen sind, wäre auch unter dieser Prämisse zutreffend. 36 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese einen eigenen Antrag gestellt hat und damit selbst ein Kostenrisiko eingegangen ist.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2002-23
16.07.2002
Pressemitteilung Nr. 23/2002 vom 16.07.2002 EN „Mehmet“ darf nach Deutschland zurückkehren Das Bundesverwaltungsgericht hat heute die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Fall „Mehmet“ bestätigt. Danach darf der Ende 1998 im Alter von 14 Jahren in die Türkei abgeschobene und inzwischen volljährige „Mehmet“ nach Deutschland zurückkehren. Er hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Ausländergesetz (AuslG). „Mehmet“ ist 1984 in Deutschland geboren und in München aufgewachsen. Seine Eltern, die ebenso wie er selbst türkische Staatsangehörige sind, leben seit über 30 Jahren in Deutschland und sind im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung. Seit seinem 11. Lebensjahr hat „Mehmet“ zahlreiche Straftaten begangen, für die er aber als strafunmündiges Kind strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. Im Juli 1997 erhielt er nach zunächst genehmigungsfreiem Aufenthalt erstmals eine Aufenthaltserlaubnis. Sie wurde auf ein Jahr befristet und mit dem Hinweis erteilt, bei weiteren Straftaten werde sein Aufenthalt beendet. Nach neuen mit Gewaltanwendung verbundenen Straftaten wurde er im Mai 1998 ausgewiesen und ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht. Diese Ausweisung wurde später von der Widerspruchsbehörde aufgehoben. Als er nach Vollendung des 14. Lebensjahres im Juli 1998 erneut straffällig wurde, kam er in Untersuchungshaft. Daraufhin lehnte die Ausländerbehörde der Stadt München seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab. Im Oktober 1998 verurteilte ihn das Amtsgericht München zu einem Jahr Jugendstrafe wegen schweren Raubes und Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung; dagegen legten sowohl „Mehmet“ als auch die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel ein. Nach erfolglosen Eilanträgen gegen die drohende Abschiebung wurde er im November 1998 aus der Haft in die Türkei abgeschoben. Seine Klage gegen die Landeshauptstadt München wegen Versagung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis blieb in erster Instanz ohne Erfolg. Im Berufungsverfahren gab der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im November 2001 der Klage statt und verpflichtete die Landeshauptstadt München, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers zu verlängern. Der Verwaltungsgerichtshof vertrat die Ansicht, dass dem Kläger als Kind türkischer Arbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht in Deutschland auf Grund des Assoziationsratsbeschlusses 1/80 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei zustehe. Nach dem im Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten gehe derzeit angesichts der seitherigen Persönlichkeitsentwicklung und des straffreien Lebens in der Türkei keine erhebliche Gefahr erneuter Straftaten vom Kläger mehr aus; er bedürfe allerdings noch therapeutischer Hilfe und pädagogischer Betreuung. Gegen diese Entscheidung haben die Landeshauptstadt München und die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreterin des öffentlichen Interesses Revision zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Ergebnis bestätigt. Nach seiner Auffassung kann dabei offen bleiben, ob der Kläger nach Assoziationsrecht ein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat. Denn ihm steht bereits nach deutschem Ausländerrecht der geltend gemachte Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu. Als in Deutschland geborenem Kind türkischer Eltern, die über ein Daueraufenthaltsrecht in Deutschland verfügen, hätte ihm der weitere Aufenthalt nach § 21 Abs. 1 AuslG ermessensfehlerfrei nur unter ähnlich strengen Voraussetzungen versagt werden dürfen, wie sie für die Ausweisung von Minderjährigen aus dem Bundesgebiet vorgesehen sind. Nach der Bestimmung über den besonderen Ausweisungsschutz für Minderjährige (§ 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG) darf eine Ausweisung nur verfügt werden, wenn der Ausländer - wie es im Gesetz heißt - „wegen serienmäßiger Begehung nicht unerheblicher vorsätzlicher Straftaten, wegen schwerer Straftaten oder einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden“ ist. Diese vom Bundesgesetzgeber für die Aufenthaltsbeendigung durch Ausweisung getroffene Wertung konkretisiert den verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz der Familie, insbesondere der zwischen Eltern und minderjährigen Kindern bestehenden Lebensgemeinschaft (Art. 6 Grundgesetz, ebenso Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention). Sie ist bei sog. faktischen Inländern wie dem Kläger auch bei einer Aufenthaltsbeendigung durch Nichtverlängerung der bisherigen Aufenthaltserlaubnis zu beachten. Die besonders hohen Anforderungen an die Aufenthaltsbeendigung für Minderjährige in derartigen Fällen waren und sind bei dem Kläger trotz seines schwer wiegenden Fehlverhaltens seit Erteilung der letzten Aufenthaltserlaubnis im Juli 1997 aber nicht erfüllt. Insbesondere weist die einzige im strafmündigen Alter begangene Straftat nicht die erforderliche besondere Schwere auf. Dies hat die Ausländerbehörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Beendigung des Aufenthalts des Klägers nicht berücksichtigt. Der Kläger „Mehmet“ darf, da das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit der heutigen Entscheidung rechtskräftig wird, wieder nach Deutschland zurückkehren. BVerwG 1 C 8.02 - Urteil vom 16.07.2002
Urteil vom 16.07.2002 - BVerwG 1 C 8.02ECLI:DE:BVerwG:2002:160702U1C8.02.0 EN Leitsätze: 1. Eine Abschiebung, mit der die durch die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entstandene Ausreisepflicht während des noch laufenden Rechtsmittelverfahrens vollzogen worden ist, kann eine Sperrwirkung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG allenfalls dann entfalten, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig gewesen ist. 2. Die Entscheidung des Gesetzgebers für einen besonderen Ausweisungsschutz für Minderjährige nach § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG, mit dem der Auftrag zum Schutz der Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK konkretisiert wird, ist auch im Rahmen der nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu beachten. Einem im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen minderjährigen Ausländer, dessen Eltern sich hier erlaubt aufhalten, kann deshalb die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nur unter ähnlich strengen Voraussetzungen versagt werden, wie sie für die Ausweisung Minderjähriger gelten. Rechtsquellen GG Art. 6 EMRK Art. 8 AuslG § 8 Abs. 2 Satz 2; § 17 Abs. 1 und 5; § 21 Abs. 1; § 48 Abs. 2 Satz 1 Instanzenzug VGH München - 15.11.2001 - AZ: 10 B 00.1873 - Bayerischer VGH München - 15.11.2001 - AZ: VGH 10 B 00.1873 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 16.07.2002 - 1 C 8.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:160702U1C8.02.0] Urteil BVerwG 1 C 8.02 VGH München - 15.11.2001 - AZ: 10 B 00.1873 - Bayerischer VGH München - 15.11.2001 - AZ: VGH 10 B 00.1873 In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2002 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht E c k e r t z - H ö f e r , die Richter am Bundes-verwaltungsgericht Dr. M a l l m a n n und H u n d , die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. E i c h b e r g e r für Recht erkannt: Die Revisionen werden zurückgewiesen. Die Beklagte und die Beteiligte tragen die Kosten des Revisionsverfahrens je zur Hälfte. I Der im Juni 1984 in München geborene und aufgewachsene Kläger ist ebenso wie seine Eltern und seine beiden Brüder türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater kam 1968 im Alter von 30 Jahren aus der Türkei nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Zwei Jahre später holte er seine Ehefrau im Wege des Familiennachzuges nach. Beide Eltern leben seitdem in München und sind erwerbstätig. Seit mehr als zehn Jahren sind sie im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung. Die beiden 1976 und 1979 in Deutschland geborenen Brüder des Klägers sind inzwischen volljährig und besitzen jeweils eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Der Kläger selbst hielt sich als türkischer Staatsangehöriger unter 16 Jahren zunächst aufenthaltsgenehmigungsfrei in Deutschland auf. Ab 1995 fiel der damals elfjährige Kläger durch zahlreiche Verstöße gegen Strafvorschriften auf. Neben mehreren Diebstählen beging er immer wieder - oft gemeinsam mit anderen Jugendlichen - Gewalttaten wie räuberischen Diebstahl, Raub und Körperverletzung, wobei er gegen die zumeist jugendlichen Opfer besonders aggressiv vorging. Seine häufigen Fehlzeiten in der Schule und sein aggressives Verhalten führten zu verschiedenen schulischen Ordnungsmaßnahmen und zu mehrfachem Schulwechsel. Seit April 1995 bestand für ihn eine Erziehungsbeistandschaft des Stadtjugendamtes München. Nachdem der Kläger infolge der Änderung ausländerrechtlicher Vorschriften im Jahr 1997 aufenthaltsgenehmigungspflichtig geworden war, lud die Ausländerbehörde der Beklagten ihn und seine Eltern wegen der zahlreichen Delikte zur Anhörung vor. Sie erteilte dem Kläger im Juli 1997 auf seinen Antrag hin eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis und wies zugleich darauf hin, dass weitere Straftaten aufenthaltsbeendende Maßnahmen zur Folge hätten. Auch in der Folgezeit besuchte der Kläger die Schule nur unregelmäßig und wurde nach erneutem Schulwechsel wegen Gewalttätigkeiten gegenüber Mitschülern schließlich mit einem Schulausschluss belegt. Im Februar 1998 beging er kurz hintereinander drei weitere Gewalttaten, bei denen er andere Jugendliche massiv angriff und zusammenschlug. Die Ermittlungsverfahren wurden auch hier - wie bereits bei den vorangegangenen Taten - wegen der Strafunmündigkeit des Klägers eingestellt. Ab März 1998 wurde der Kläger vom Diakonischen Werk mit 30 Wochenstunden betreut und in diesem Rahmen einzeln beschult. Aufgrund der erneuten Verfehlungen wies die Beklagte im April 1998 zunächst die Eltern des Klägers aus, weil sie ihre Erziehungspflicht verletzt hätten. Anschließend verfügte sie mit Bescheid vom 22. Mai 1998 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auch die Ausweisung des Klägers und drohte ihm für den Fall, dass er das Bundesgebiet nicht bis zum 21. Juli 1998 verlassen sollte, die Abschiebung in die Türkei an. Die Ausweisung wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Kläger durch die Häufigkeit und die Gewichtigkeit seines rechtswidrigen Verhaltens eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die von Mal zu Mal bedrohlicher werde. Auf den besonderen Ausweisungsschutz für Minderjährige, deren Eltern sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten, könne sich der Kläger nicht berufen, weil seine Eltern sich aufgrund der gegen sie gerichteten Ausweisungsverfügungen nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten. Die gegen den Kläger und seine Eltern verfügten Ausweisungen wurden später - nach erfolgter Abschiebung des Klägers - im Widerspruchsverfahren aufgehoben. Nachdem der Kläger im Juni 1998 14 Jahre alt und damit strafmündig geworden war, beging er am 3. Juli 1998 eine weitere schwere Straftat. Zusammen mit drei anderen Jugendlichen warf er einen 19-jährigen Schüler zu Boden und trat mit den Füßen auf ihn ein, nachdem das Opfer sich geweigert hatte, Geld und Zigaretten herauszugeben. Außerdem schlug er diesem mit einer Zaunlatte über den Kopf, so dass das Opfer bewusstlos wurde und eine Gehirnerschütterung, Prellungen sowie Abschürfungen am ganzen Körper davontrug. Dem Bewusstlosen nahm er eine Geldbörse mit 80 DM sowie einen Walkman weg. Aufgrund des Haftbefehls vom 4. Juli 1998 wurde der Kläger am Tag darauf in Untersuchungshaft genommen. Die Beklagte ergänzte daraufhin mit Bescheid vom 8. Juli 1998 ihre im Ausweisungsbescheid gegen den Kläger enthaltene Abschiebungsandrohung dahingehend, dass seine Abschiebung aus der Haft angeordnet wurde. Nur insoweit, nämlich hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und –anordnung, wurde der Bescheid in dem Widerspruchsbescheid vom 13. April 1999 noch aufrechterhalten. Die im Juli 1998 vom Kläger beantragte Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis lehnte die Beklagte - ohne erneute Anordnung der Abschiebung - mit Bescheid vom 24. Juli 1998 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 7. August 1998 zurück. In der Begründung hieß es, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei auch unabhängig von den verfügten Ausweisungen abzulehnen. Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG könne die Aufenthaltserlaubnis versagt werden, wenn ein Ausweisungsgrund vorliege. Einen solchen Ausweisungsgrund habe der Kläger mit seinen Straftaten verwirklicht. Dabei genüge es, allein auf die nach Erteilung der vorangegangenen Aufenthaltserlaubnis, also nach dem 22. Juli 1997 begangenen Taten abzustellen. Bei der erforderlichen Ermessensabwägung überwiege das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts das private Interesse des Klägers und seiner Familie am Verbleib in der Bundesrepublik. Dies gelte trotz seines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts und der Tatsache, dass er erst 14 Jahre alt sei und seine Familie ihren Lebensmittelpunkt in München habe. Angesichts des vom Kläger ausgehenden Gefährdungspotentials sei es den Eltern auch unter Berücksichtigung des Schutzgebots des Art. 6 GG zuzumuten, dem Kläger in die Türkei zu folgen oder ggf. eine Trennung in Kauf zu nehmen. Am 9. Oktober 1998 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger aufgrund des Vorfalls vom 3. Juli 1998 wegen schweren Raubes, rechtlich zusammentreffend mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Diebstahl, zu einer Jugendstrafe von einem Jahr, wobei die erlittene Untersuchungshaft nicht angerechnet wurde. Das Urteil ist wegen der von beiden Seiten eingelegten Berufung nicht rechtskräftig geworden. Nachdem verschiedene Eilrechtsschutzanträge des Klägers gegen die drohende Aufenthaltsbeendigung erfolglos geblieben waren, wurde er am 14. November 1998 aus der Haft in die Türkei abgeschoben. Das Strafverfahren wurde nach der Ab- schiebung gemäß § 154 b Abs. 3 und 4 StPO vorläufig eingestellt. Die vom Kläger gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis und gegen die Androhung und Anordnung der Abschiebung erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht München abgewiesen. In der Urteilsbegründung heißt es im Wesentlichen: Der Kläger habe allein schon mit der schwerwiegenden Straftat vom 3. Juli 1998 einen Ausweisungsgrund nach § 46 Nr. 2 AuslG geschaffen. Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei daher nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG ermessensfehlerfrei abgelehnt worden. Die Widerspruchsbehörde habe alle ihr zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung bekannten Umstände in ihr Ermessen eingestellt. Sie habe nicht nur das vom Kläger ausgehende Gefährdungspotential berücksichtigt, das sich in der Vergangenheit durch zahlreiche rechtswidrige Taten offenbart habe. Sie habe vielmehr auch in ihre Erwägungen eingestellt, dass der Kläger aufgrund seines jugendlichen Alters und seiner Gewöhnung an hiesige Lebensverhältnisse erhebliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags in der Türkei haben dürfte; gleichwohl sei die Erwartung, dass einer der beiden Elternteile den Kläger in die Türkei begleiten oder dort zumindest zeitweise betreuen werde oder doch wenigstens die nahen Verwandten vor Ort ihn aufnehmen würden, berechtigt gewesen. Dass diese Erwartung sich bislang nicht erfüllt habe, lasse die Entscheidung der Beklagten nicht rückwirkend ermessensfehlerhaft werden. Die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der besondere Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 2 AuslG für Minderjährige gelte im Rahmen der Erteilung und Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nicht. Ebenso wenig verletze die angefochtene Entscheidung Art. 6 GG und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK -. Art. 6 GG vermittle ausländischen Familien grundsätzlich keinen Rechtsanspruch darauf, die Familieneinheit ausschließlich im Bundesgebiet verwirklichen zu können. Angesichts der ursprünglich aktenkundigen Absicht der Eltern, in einigen Jahren ohnehin in die Türkei überzusiedeln, sei es nicht unzumutbar, dass ein Elternteil mit dem Kläger bereits vorzeitig dorthin ziehe. Auch im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu Art. 8 EMRK habe die Beendigung des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet Bestand und sei nicht unverhältnismäßig. Schließlich habe sich der Kläger in seinem Elternhaus seit seiner Geburt auf türkisch verständigt und sich zu Urlaubszwecken bereits in der Türkei aufgehalten. Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 15. November 2001 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers antragsgemäß zu verlängern. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Es könne dahinstehen, ob dem Kläger nach nationalem Recht die Aufenthaltserlaubnis zu Recht versagt worden sei, denn er habe einen Rechtsanspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis jedenfalls nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 -. Diese Vorschrift verleihe den Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - bei Vorliegen der Voraussetzungen einen unmittelbaren Anspruch auf Bewerbung und Zugang zu einer Beschäftigung und damit zwangsläufig auch ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat. Der Kläger erfülle nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung diese Voraussetzungen. Der Anspruch aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sei auch nicht durch die Abschiebung des Klägers in die Türkei im November 1998 und seinen dortigen Aufenthalt seit der Abschiebung entfallen. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht könne nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung ferner nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 beschränkt werden. Denn es müsse derzeit nicht damit gerechnet werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr ins Bundesgebiet sein damaliges Verhalten fortsetze und weitere erhebliche Straftaten begehe. Dies ergebe sich sowohl aus dem im Berufungsverfahren eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten als auch aus dem persönlichen Eindruck, den der seither nicht mehr straffällig gewordene Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen habe. Auch wenn er noch weiterer therapeutischer Hilfe und pädagogischer Betreuung bedürfe, bestehe derzeit bei ihm keine den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 genügende konkrete Wiederholungsgefahr. Hiergegen richten sich die Revisionen der Beklagten und der beteiligten Landesanwaltschaft, die geltend machen, das Berufungsgericht habe Art. 7 Satz 1 und Art. 14 ARB 1/80 fehlerhaft ausgelegt und angewandt. Es habe deshalb zu Unrecht das Vorliegen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers bejaht. Insbesondere hätte es die nur eingeschränkt günstige Sozialprognose des Sachverständigengutachtens, die sich lediglich auf einen kurzen Zeitraum bezogen und außerdem eine kostenintensive pädagogische Betreuung aus öffentlichen Mitteln nach der Rückkehr des Klägers unterstellt habe, nicht ausreichen lassen dürfen, um eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach Art. 14 ARB 1/80 zu verneinen. II Die zulässigen Revisionen sind nicht begründet. Die Verpflichtung der Beklagten, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers antragsgemäß zu verlängern, und die Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide erweisen sich jedenfalls im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Kläger hat nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 AuslG einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Damit kann auch die Androhung und Anordnung der Abschiebung keinen Bestand haben. 1. Ob dem Kläger, wie das Berufungsgericht meint, ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - zusteht, weil er Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist, braucht nicht entschieden zu werden. Es kann daher auch offen bleiben, ob der Fall des Klägers im Hinblick auf Art. 7 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 noch nicht geklärte gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfragen aufwirft, die gegebenenfalls dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 234 Satz 3 EG zur Vorabentscheidung hätten vorgelegt werden müssen. Darauf kommt es nicht an, weil dem Kläger bereits nach nationalem Recht ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zusteht. 2. a) Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG. Bei Verpflichtungsklagen, die auf die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung gerichtet sind, ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung der Tatsacheninstanz maßgeblich, soweit es darum geht, ob die Aufenthaltsgenehmigung schon aus Rechtsgründen erteilt werden muss oder nicht erteilt werden darf (vgl. Urteil vom 22. Januar 2002 - BVerwG 1 C 6.01 - NVwZ 2002, 867 = InfAuslR 2002, 281, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen, und Urteil vom 15. Februar 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - BVerwGE 114, 9, 12, jeweils m.w.N.). Hierzu gehört auch der Fall, dass ein an sich bestehendes Ermessen der Ausländerbehörde "auf Null" reduziert ist, so dass nur entweder die Erteilung oder die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig erscheint (vgl. Beschluss vom 20. Mai 1985 - BVerwG 1 B 46.85 - Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 70). b) Nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG ist die Aufenthaltserlaubnis eines im Bundesgebiet geborenen Kindes nach Maßgabe des § 17 AuslG zu verlängern, solange die Mutter oder der allein personensorgeberechtigte Vater eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird in diesen Fällen abweichend von § 17 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AuslG erteilt, d.h. unabhängig davon, ob ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht und der Lebensunterhalt des Kindes aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln der Eltern gesichert ist (§ 21 Abs. 1 Satz 3 AuslG). Diese erleichterten Voraussetzungen für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gelten nicht nur in den Fällen, in denen dem im Bundesgebiet geborenen Kind nach der Geburt von Amts wegen gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist und darauf aufbauend eine (erste oder weitere) Verlängerung beantragt wird, sondern auch in Fällen wie dem des Klägers, der bezogen auf den Zeitpunkt seiner Geburt die Voraussetzungen des - später in Kraft getretenen - § 21 Abs. 1 Satz 1 AuslG erfüllt, aber wegen der Befreiung vom Erfordernis einer Aufenthaltsgenehmigung - nach altem Recht - seinerzeit keine Aufenthaltserlaubnis benötigte. Denn die nach der Geburt zunächst genehmigungsfrei im Bundesgebiet lebenden Kinder können nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes hinsichtlich ihres weiteren Aufenthalts nicht schlechter gestellt werden als die von ihrer Geburt an aufenthaltsgenehmigungspflichtigen Kinder (vgl. auch Nr. 21.1.7 AuslG-VwV vom 28. Juni 2000, GMBl S. 616 <668>; ebenso Igstadt in: Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht - GK AuslR - § 21 Rn. 39; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 21 AuslG Rn. 6). c) Zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung war die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Kläger nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG nicht bereits durch § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Diese sog. Sperrwirkung einer Ausweisung oder Abschiebung entfällt gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG erst durch eine Befristung seitens der Ausländerbehörde. Zwar ist der Kläger in Vollzug des Versagungsbescheides vom 24. Juli 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1998 während des Klageverfahrens in die Türkei abgeschoben worden. Diese Abschiebung hat aber nicht die Sperrwirkung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG ausgelöst. Der Senat kann dabei offen lassen, ob § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG überhaupt Anwendung findet, wenn der Ausländer mit seinem Rechtsbehelf in der Hauptsache die Erteilung derjenigen Aufenthaltsgenehmigung begehrt, deren Versagung die vollziehbare Ausreisepflicht begründet und zur Abschiebung geführt hat (vgl. Beschluss vom 4. Februar 1998 - BVerwG 1 B 9.98 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 15). Denn auch wenn § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG in derartigen Fällen gelten würde, stünde dieser Versagungsgrund vorliegend der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht entgegen. aa) Wie der Senat bereits in dem vorgenannten Beschluss ausgeführt hat, kann die bloße Tatsache der Abschiebung nicht dazu führen, dass die gerichtliche Überprüfung der Gründe für die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung entfällt. Dies folgt aus dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG. Die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG greift danach nur dann ein, wenn die in Streit stehende Versagung der Aufenthaltsgenehmigung nach der im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage rechtmäßig war und der Kläger deshalb seinerzeit auch zu Recht abgeschoben worden ist. Stand dem Kläger dagegen nach der damaligen Sach- und Rechtslage ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu, so war auch die Abschiebung mangels Ausreisepflicht des Klägers rechtswidrig und konnte deshalb nicht die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG auslösen. So liegt der Fall hier. bb) Dem Kläger hätte zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung am 7. August 1998 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht versagt werden dürfen. Bei ihm lagen - wovon auch die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden ausgegangen ist - seinerzeit die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG i.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG vor. Als minderjähriges, in Deutschland geborenes Kind (vgl. zum Erfordernis der Minderjährigkeit Urteil vom 22. Februar 1995 - BVerwG 1 C 11.94 - BVerwGE 98, 31, 47), dessen Mutter seit der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis und seit 1990 eine Aufenthaltsberechtigung besaß, hatte er grundsätzlich einen Anspruch auf Verlängerung seines Aufenthaltsrechts nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AuslG, sofern der Aufenthalt der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit der Mutter (und dem Vater) im Sinne von § 17 Abs. 1 AuslG diente. Dies war zum damaligen Zeitpunkt der Fall. Auch wenn der Kläger sich zwischenzeitlich vorübergehend in Heimen aufgehalten hatte und sich seit dem 5. Juli 1998 in Untersuchungshaft befand, hatte er weiterhin seinen alleinigen Wohnsitz bei seinen Eltern, welche auch das Personensorgerecht für den damals vierzehnjährigen Kläger ausübten. Die vorübergehende, erzwungene Abwesenheit des Klägers war unter den gegebenen Umständen nicht geeignet, das Fortbestehen einer familiären Lebensgemeinschaft in Frage zu stellen. cc) Dem daraus folgenden Anspruch des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis stand entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht ein Versagungsgrund nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG entgegen. Zwar lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift vor, weil der Kläger mit seiner Straftat vom 3. Juli 1998 einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen (vgl. § 46 Nr. 2 AuslG) und damit einen Ausweisungsgrund im Sinne von § 17 Abs. 5 1. Alternative AuslG verwirklicht hat. Hierfür genügt nach ständiger Rechtsprechung des Senats das Vorliegen eines abstrakten Ausweisungstatbestandes im Sinne der §§ 45, 46 AuslG, ohne dass es darauf ankommt, ob der Ausländer im konkreten Fall auch rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. In diesem Zusammenhang spielt der besondere Ausweisungsschutz nach § 48 AuslG deshalb keine Rolle (vgl. etwa Beschluss vom 15. September 1995 - BVerwG 1 PKH 20.05 - Buchholz 402.240 § 24 AuslG 1990 Nr. 2 m.w.N.; vgl. auch Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 125 ff.). dd) Die Beklagte hat das ihr nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG eröffnete Ermessen zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis fehlerhaft ausgeübt, weil sie die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG getroffene gesetzgeberische Entscheidung zugunsten eines besonderen Schutzes minderjähriger Ausländer nicht beachtet hat. Nach dieser Vorschrift kann ein minderjähriger Ausländer, dessen Eltern sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, nur unter engen Voraussetzungen ausgewiesen werden, nämlich wenn er wegen serienmäßiger Begehung nicht unerheblicher vorsätzlicher Straftaten, wegen schwerer Straftaten oder einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. Die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG für die Aufenthaltsbeendigung durch Ausweisung getroffene Wertung zugunsten minderjähriger Ausländer ist bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG vorzunehmenden Abwägung der gegen den weiteren Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen ausländischen Kindes sprechenden öffentlichen Interessen und der Interessen des Ausländers an der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft als Leitlinie zu berücksichtigen. Denn mit dem Ausweisungsschutz für Minderjährige in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG hat der Bundesgesetzgeber den verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz der Familie, insbesondere der Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Art. 6 GG, vgl. auch Art. 8 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK -) konkretisiert (vgl. Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 und Urteil vom 19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11 unter Hinweis auf BTDrucks 11/6321 S. 74). Dabei trägt § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG auch dem Gesichtspunkt Rechnung, dass jugendliche Straftäter in der Regel im besonderen Maße auf den Familienschutz angewiesen sind, um in ein Leben ohne Straftaten zurückzufinden (vgl. Urteil vom 28. Januar 1997, a.a.O. S. 45 f.). In eine mit der Ausweisung vergleichbare Situation gelangt ein im Bundesgebiet geborenes minderjähriges Kind sich hier erlaubt aufhaltender Ausländer, wenn ihm das nach Maßgabe des § 21 Abs. 1 AuslG von Geburt an eingeräumte und grundsätzlich auf Dauer angelegte Aufenthaltsrecht versagt wird. Die Trennung eines solchen Minderjährigen von den Eltern im Falle einer Beendigung des Aufenthalts aufgrund einer Versagung der Aufenthaltserlaubnis würde sich praktisch in nahezu gleicher Weise auswirken. Auch unter Berücksichtigung des ebenfalls an Art. 6 GG orientierten Normzwecks des § 21 Abs. 1 AuslG, der der besonderen Schutzbedürftigkeit im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer Rechnung tragen soll (vgl. auch Igstadt in: GK-AuslR § 21 AuslG Rn. 6; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 21 Rn. 2), ist die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG getroffene Wertung bei der in Rede stehenden Ermessensentscheiung heranzuziehen. Schließlich kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber minderjährigen Ausländern bei Begehung von Straftaten allgemein (unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts und dem Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft) einen derart qualifizierten Schutz vor Ausweisung gewähren, zugleich aber bei besonders schutzwürdigen Minderjährigen im Sinne des § 21 Abs. 1 AuslG - in Kenntnis der Tatsache, dass sie bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres regelmäßig nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis besitzen - die Aufenthaltsbeendigung durch Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auch bei Straftaten unterhalb dieser Schwelle zulassen wollte. Dabei kann im vorliegenden Verfahren dahingestellt bleiben, ob und inwieweit die einfachgesetzliche Regelung des § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG das nach Verfassungs- und Völkervertragsrecht unabdingbare Schutzniveau überschreitet oder für jede denkbare Fallgestaltung ausreichend sicherstellt. Entgegen den Erwägungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in seiner den Kläger betreffenden Eilentscheidung vom 19. Oktober 1998 - 10 ZS 98.25 37 - (NVwZ 1998, Beilage Nr. 11, 121) ist es nicht systemwidrig, sondern vielmehr aus den dargelegten Gründen geboten, die vom Gesetzgeber für die Aufenthaltsbeendigung Minderjähriger durch Ausweisung getroffene Wertung auch in den Fällen zu beachten, in denen im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Kindern, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten, (sog. faktische Inländer) zu befinden ist. Zwar hat der Senat wiederholt ausgeführt, dass die für eine bestimmte Problemlage in einem Abschnitt des Ausländergesetzes getroffenen Regelungen grundsätzlich nicht auf die Regelungen eines anderen Abschnitts übertragen werden können (so für die Heranziehung von Vorschriften über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Ausweisungsbestimmungen: Urteil vom 28. Januar 1997, a.a.O.). Dieser Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos; er schließt es nicht aus, die vom Gesetzgeber zur Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Schutzauftrages des Art. 6 GG für die Ausweisung getroffene Regelung in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG wegen der vergleichbaren Interessen- und Abwägungslage als Leitlinie für die Ermessenausübung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG heranzuziehen. ee) Demnach durfte dem Kläger der Aufenthalt ermessensfehlerfrei nur unter ähnlich strengen Voraussetzungen versagt werden, wie sie für die Ausweisung von Minderjährigen aus dem Bundesgebiet vorgesehen sind. Im Falle des Klägers lagen die besonderen Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG weder zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung über die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im August 1998 noch zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung vor. Die vom Kläger bis zur Vollendung seines 14. Lebensjahres begangenen Delikte können danach nicht als Grund für eine Aufenthaltsbeendigung herangezogen werden, da sie von vornherein nicht zu einer Verurteilung, wie sie diese Vorschrift verlangt, führen können (vgl. § 19 StGB). Nach Eintritt der Strafmündigkeit hat der Kläger nur noch eine festgestellte Straftat, nämlich die vom 3. Juli 1998, begangen. Nach dem vom Berufungsgericht in Bezug genommenen - noch nicht rechtskräftigen - Strafurteil des Amtsgerichts München vom 9. Oktober 1998 stellt sie aber keine besonders schwere Straftat im Sinne der hier allein in Betracht kommenden dritten Alternative des § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG dar. Auch wenn diese Tat vom Amtsgericht als schwerer Raub nach § 250 Abs. 2 Nr. 3 a StGB eingestuft wurde, der abstrakt mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bedroht ist, handelt es sich nicht allein schon deshalb um eine besonders schwere Straftat im Sinne dieser Vorschrift (vgl. auch Nr. 48.2.1.6 AuslG-VwV). Denn das Gewicht der Straftat ist nicht nach dem für jugendliche Straftäter ohnehin nicht maßgeblichen Strafrahmen (§ 18 Abs. 1 Satz 3 JGG), sondern nach den konkreten Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (vgl. auch Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 S. 43). Die vom Amtsgericht verhängte Jugendstrafe von einem Jahr ohne Bewährung und die angeführten Gründe belegen zwar einen schweren, aber noch keinen besonders schweren Unrechtsgehalt der Tat. Berücksichtigt man, dass § 47 Abs. 1 i.V.m. § 48 Abs. 1 AuslG als Voraussetzung für eine Aufenthaltsbeendigung privilegierter Ausländer aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - abgesehen von den Sonderfällen des § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG - grundsätzlich eine Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren voraussetzt (vgl. auch § 51 Abs. 3 AuslG), so wird deutlich, dass die Tat des Klägers im Hinblick auf die Höhe der hier verhängten Strafe nicht dem Bereich der besonders schweren Straftaten im Sinne von § 48 Abs. 2 AuslG zuzurechnen ist. Im Übrigen ist das Strafurteil auch noch nicht rechtskräftig geworden. Die Beklagte hätte deshalb nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung den Aufenthalt des Klägers nicht durch Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beenden dürfen. Das ihr nach § 17 Abs. 5 AuslG eingeräumte Ermessen war insoweit "auf Null" reduziert mit der Folge, dass dem Kläger ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zustand. Die Abschiebung konnte unter diesen Umständen nicht die Sperrwirkung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG auslösen. d) Im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung lagen auch die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 AuslG (weiterhin) vor. aa) Die Mutter des nach wie vor minderjährigen Klägers besaß noch immer eine Aufenthaltsberechtigung. Der Verlängerungsanspruch nach dieser Vorschrift setzt ferner voraus, dass es sich um die Fortsetzung eines durch die Geburt begründeten Aufenthaltsrechts nach Satz 1 der Vorschrift handelt. Er erfasst dagegen nicht den Fall, dass ein im Bundesgebiet geborenes Kind nach längerer Abwesenheit in die Bundesrepublik zurückkehren will (vgl. Urteil vom 18. November 1997 - BVerwG 1 C 22.96 - Buchholz 402.240 § 20 AuslG 1990 Nr. 4). Ein solcher Fall liegt hier trotz des zwischenzeitlichen Aufenthalts des Klägers in der Türkei ab November 1998 aber nicht vor. Da dem Kläger - wie ausgeführt - seinerzeit ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zustand und er deshalb nicht in die Türkei hätte abgeschoben werden dürfen, kann ihm die dadurch bedingte Abwesenheit vom Bundesgebiet nicht entgegengehalten werden. Die Tatsache, dass der Kläger sich gezwungenermaßen in der Türkei aufgehalten hat, schließt einen Verlängerungsanspruch daher nicht aus. bb) Wie sich aus der Bezugnahme des § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG auf § 17 AuslG ergibt, setzt der Verlängerungsanspruch ferner voraus, dass der Aufenthalt der Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 AuslG dient. Auch diese Voraussetzung war zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung (weiterhin) erfüllt. Die Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seinen Eltern ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben in der Berufungsverhandlung nicht mehr in den elterlichen Haushalt zurückkehren will. Abgesehen davon, dass das Berufungsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hat und die personensorgeberechtigten Eltern gegenüber dem minderjährigen Kläger nach wie vor das Recht zur Bestimmung seines Aufenthalts hatten, setzt die familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 AuslG nicht unter allen Umständen notwendig das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft voraus (vgl. etwa Urteil vom 27. Januar 1998 - BVerwG 1 C 28.06 - Buchholz 402.240 § 19 AuslG 1990 Nr. 4). Wenn auch die Erziehungs- und Beistandsgemeinschaft zwischen Eltern und minderjährigen Kindern sich regelmäßig durch ein Leben in häuslicher Gemeinschaft manifestiert, ist es je nach den Umständen des Einzelfalles und insbesondere mit zunehmendem Alter und wachsender Selbständigkeit der Kinder durchaus denkbar, dass trotz einer Unterbringung außerhalb des Elternhauses die bestehende familiäre Lebensgemeinschaft auch im Sinne einer Erziehungs- und Beistandsgemeinschaft fortbesteht. Erschöpft sich der persönliche Kontakt dagegen in Besuchen, fehlen aber darüber hinausgehende Beistandsleistungen oder andere Formen des familiären Kontakts, handelt es sich um eine bloße Begegnungsgemeinschaft (vgl. Urteil vom 27. Januar 1998, a.a.O.). Ob solche Begegnungsgemeinschaften von § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG unter keinen Umständen erfasst sein können, kann offen bleiben. Denn im vorliegenden Verfahren bestanden zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Eltern den damals siebzehnjährigen Kläger auch unabhängig von der (Wieder-)Aufnahme in ihren Haushalt nicht finanziell und durch persönlichen Beistand in wichtigen Lebensfragen weiterhin unterstützen und ständigen Kontakt mit ihm pflegen wollten. Ebenso ist auf der Grundlage des Berufungsurteils auszuschließen, dass der Kläger seine Beziehungen zum Elternhaus etwa abbrechen wollte. Es kommt hinzu, dass der vom Berufungsgericht bestellte Sachverständige wegen der besonderen Familiensituation und des tatsächlichen Umfelds eine Unterbringung des Klägers außerhalb seines Elternhauses im Rahmen eines sozialpädagogischen Gesamtkonzepts sogar empfohlen hatte. cc) Dem Anspruch des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stand schließlich auch zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung bei Beachtung der Schutzvorschrift des § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG ein Versagungsgrund nach § 17 Abs. 5 AuslG nicht entgegen. Die Beklagte konnte ihr Ermessen rechtsfehlerfrei nur dahingehend ausüben, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers zu verlängern. 3. Bestand demnach für den Kläger während des gesamten Zeitraums ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, ist auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohung bzw. -anordnung durch das Berufungsgericht revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2013-19
21.03.2013
Pressemitteilung Nr. 19/2013 vom 21.03.2013 EN Kein Rehabilitierungsinteresse allein wegen der Anforderung eines Fahreignungsgutachtens Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass sich derjenige, von dem die Fahrerlaubnisbehörde wegen des Verdachts auf Alkoholmissbrauch die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens gefordert hat, nur dann auf ein zur Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage führendes Rehabilitierungsinteresse berufen kann, wenn sich aus besonderen Umständen des Einzelfalls ausnahmsweise eine diskriminierende Wirkung ergibt. Der Kläger wurde im Mai 2005 wegen einer Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,32 Promille rechtskräftig verurteilt; ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen. Im Januar 2006 erhielt der Kläger wieder eine Fahrerlaubnis. Aus einem ärztlichen Fahreignungsgutachten ergaben sich Hinweise auf zeitweisen Alkoholmissbrauch. Daraufhin forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens auf. Nachdem der Kläger dieser Aufforderung nicht nachkam, entzog ihm die Fahrerlaubnisbehörde im Januar 2008 die Fahrerlaubnis. Der Kläger beantragte im März 2008 die Neuerteilung einer solchen Fahrerlaubnis. Die Fahrerlaubnisbehörde forderte ihn erneut zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf; auch dieser Aufforderung kam der Kläger nicht nach. Daraufhin lehnte die Behörde den Antrag des Klägers ab. Seine hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Während des Berufungsverfahrens erhielt der Kläger nach Vorlage eines positiven Fahreignungsgutachtens die beantragte Fahrerlaubnis. Er begehrt nun die Feststellung, dass die Behörde auch ohne ein solches Gutachten zur Fahrerlaubniserteilung verpflichtet gewesen wäre. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass der Kläger ein schutzwürdiges Interesse in Gestalt eines Rehabilitierungsinteresses an der beantragten Feststellung habe. Die Fahrerlaubnisbehörde habe die Fahrerlaubniserteilung zu Unrecht von der Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens abhängig gemacht. Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses Urteil geändert. Die auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellte Klage ist wegen des Fehlens eines berechtigten Interesses an der begehrten Feststellung unzulässig; das Berufungsgericht hat zu Unrecht ein Rehabilitierungsinteresse des Klägers bejaht. Ein solches Rehabilitierungsinteresse besteht bei der Anforderung eines Fahreignungsgutachtens wegen des Verdachts auf Alkoholmissbrauch nur dann, wenn die Anforderung wegen besonderer Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise eine diskriminierende Wirkung hat oder den Betroffenen sonst in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Solche Umstände sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Die Gutachtensanforderung war bei der gebotenen objektiven und vernünftigen Betrachtung weder in der Sache noch im Ton geeignet, den Kläger in seinen Persönlichkeitsrechten zu verletzen. Die Aufforderung, wegen des Verdachts auf Alkoholmissbrauch ein medizinisch-psychologisches Gutachten erstellen zu lassen, kann nicht dem in der Rechtsprechung anerkannten Fall gleichgesetzt werden, dass sich ein Beamter aufgrund dienstlicher Anordnung einer Untersuchung seiner Dienstfähigkeit durch einen Facharzt für Psychiatrie unterziehen soll und das den Kollegen bekannt wird. BVerwG 3 C 6.12 - Urteil vom 21. März 2013 Vorinstanzen: VGH München, 11 B 11.246 - Urteil vom 02. Dezember 2011 - VG Augsburg, Au 7 K 08.1449 - Urteil vom 04. Mai 2009 -
Urteil vom 21.03.2013 - BVerwG 3 C 6.12ECLI:DE:BVerwG:2013:210313U3C6.12.0 EN Leitsatz: Hat die Fahrerlaubnisbehörde für die Erteilung einer Fahrerlaubnis die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert und die Erteilung wegen Nichtvorlage des Gutachtens abgelehnt, kann sich der Betroffene nur dann auf ein Rehabilitierungsinteresse berufen, wenn die Beibringungsanordnung wegen besonderer Umstände des Einzelfalls eine diskriminierende Wirkung hat. Rechtsquellen VwGO § 113 Abs. 1 Satz 4 in entsprechender Anwendung FeV § 11 Abs. 8, § 13 Satz 1 Nr. 2 Anlage 4 Nummer 8.1 Instanzenzug Bayer. VG Augsburg - 04.05.2009 - AZ: VG Au 7 K 08.1449 Bayerischer VGH München - 02.12.2011 - AZ: VGH 11 B 11.246 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 21.03.2013 - 3 C 6.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:210313U3C6.12.0] Urteil BVerwG 3 C 6.12 Bayer. VG Augsburg - 04.05.2009 - AZ: VG Au 7 K 08.1449 Bayerischer VGH München - 02.12.2011 - AZ: VGH 11 B 11.246 In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Buchheister, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß für Recht erkannt: Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Dezember 2011 wird geändert. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 4. Mai 2009 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Gründe I 1 Der Kläger beantragt die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet war, ihm die beantragte Fahrerlaubnis ohne die vorherige Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu erteilen. 2 Im Mai 2005 wurde der Kläger wegen einer Trunkenheitsfahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,32 Promille rechtskräftig verurteilt; ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen. Im Januar 2006 wurde dem Kläger erneut eine Fahrerlaubnis erteilt. Im September desselben Jahres erhielt die Fahrerlaubnisbehörde von der Polizei die Mitteilung, dass der Kläger Cannabis konsumiere. In dem ärztlichen Gutachten, das der Kläger auf Anforderung der Fahrerlaubnisbehörde im Februar 2007 vorlegte, wird gelegentlicher Cannabiskonsum festgestellt und das Vorliegen von Betäubungsmittelabhängigkeit verneint; allerdings lägen Hinweise auf zeitweisen Alkoholmissbrauch vor. Aufgrund dessen forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger auf, ein medizinisch-psychologisches Fahreignungsgutachten beizubringen. Nachdem der Kläger dieser Aufforderung nicht nachkam, entzog ihm die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) mit bestandskräftigem Bescheid vom 22. Januar 2008 die Fahrerlaubnis. 3 Im März 2008 beantragte der Kläger deren Neuerteilung. Die Fahrerlaubnisbehörde forderte ihn unter Hinweis auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV wieder zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf. Dieses Gutachten ließ der Kläger zwar erstellen, legte es aber wiederum nicht vor. Mit Bescheid vom 18. September 2008 lehnte die Behörde seinen Antrag gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV mit der Begründung ab, er habe ein Fahreignungsgutachten nicht beigebracht; dessen Vorlage sei im Hinblick auf seine Trunkenheitsfahrt, die Hinweise auf Alkoholmissbrauch im ärztlichen Gutachten und die vorangegangene Fahrerlaubnisentziehung zu Recht gefordert worden. 4 Die vom Kläger hiergegen erhobene Verpflichtungsklage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Das Gutachten sei gemäß § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d FeV zu Recht angefordert worden, da dem Kläger die Fahrerlaubnis wegen Alkoholmissbrauchs bestandskräftig entzogen worden sei. Das Verlangen hätte auch auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV gestützt werden können, nachdem der Kläger bereits einmal alkoholbedingt im Straßenverkehr auffällig geworden sei und sich aus dem Gutachten vom 26. Januar 2007 Hinweise auf Alkoholmissbrauch ergeben hätten. 5 Mit der Berufung hat der Kläger seinen Neuerteilungsantrag zunächst weiterverfolgt. Im November 2010 hat er von der Fahrerlaubnisbehörde die beantragte Fahrerlaubnis erhalten, nachdem er ihr ein positives medizinisch-psychologisches Gutachten vorgelegt hatte. Der Kläger hat daraufhin die Fortführung des Verfahrens als Fortsetzungsfeststellungsklage beantragt. Sein Feststellungsinteresse ergebe sich aus der von ihm beabsichtigten Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, außerdem bestehe Wiederholungsgefahr. 6 Der Verwaltungsgerichtshof hat das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet war, den Antrag des Klägers auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis „positiv zu verbescheiden“. Zur Begründung heißt es: Die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig; der Kläger habe ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung. Ein solches Interesse ergebe sich zwar nicht aus der von ihm angekündigten Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, doch habe der Kläger ein Rehabilitierungsinteresse. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei anerkannt, dass die Aufforderung zu einer psychiatrischen Untersuchung ein solches Interesse begründen könne. Außerdem habe die Behauptung der Fahrerlaubnisbehörde, beim Kläger bestünden Fahreignungszweifel im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch, im Hinblick auf sein Persönlichkeitsrecht eine diskriminierende Wirkung. Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei auch begründet; vom Kläger habe die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens nicht gefordert werden dürfen. Diese Aufforderung lasse sich nicht auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d FeV stützen. Dem Kläger sei die Fahrerlaubnis nicht - wie dort vorausgesetzt - aus einem der in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c FeV genannten Gründe entzogen worden; die Fahrerlaubnisentziehung habe auf § 11 Abs. 8 FeV beruht. Die Tatbestandswirkung einer solchen Entziehung gehe nicht dahin, dass mangelnde Fahreignung aus dem in der Gutachtensanforderung genannten Grund vorliege. Auch § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV rechtfertige die Beibringungsanordnung nicht. Diese Regelung erlaube in Fällen, in denen - wie hier - nur eine einmalige Trunkenheitsfahrt mit einem Blutalkoholgehalt von unter 1,6 Promille vorliege, die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nur, wenn es zusätzlich konkrete Anzeichen für Alkoholmissbrauch im straßenverkehrsrechtlichen Sinn gebe. Hier sprächen zwar Anzeichen dafür, dass der Kläger zeitweise Alkohol in unzuträglichen Mengen konsumiert habe, es fehle aber ein zumindest mittelbarer Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr. 7 Zur Begründung seiner - vom Berufungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen - Revision macht der Beklagte geltend: Die Umstellung auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage sei unzulässig, weil der Kläger kein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung habe. Zwar könne nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Aufforderung zu einer psychiatrischen Untersuchung ein Rehabilitationsinteresse begründen. Doch habe hier zu keinem Zeitpunkt auch nur die Möglichkeit einer psychischen Störung des Klägers im Raume gestanden. Das Berufungsgericht verkenne außerdem, dass sich eine diskriminierende Wirkung nicht bereits aus Zweifeln am Gesundheitszustand, sondern erst aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergeben könne. Erst recht fehle eine diskriminierende Wirkung, wenn mit dem angeforderten Gutachten nur das Vorliegen von Alkoholmissbrauch abgeklärt werden solle. Besondere Umstände, die über das Äußern alkoholbedingter Fahreignungszweifel durch den Beklagten hinausgingen, lägen nicht vor. 8 Der Kläger tritt der Revision entgegen. Tatsachen im Sinne des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV, die bei ihm die Annahme von Alkoholmissbrauch begründeten, lägen nicht vor. Er habe ein Rehabilitierungsinteresse, nachdem die Behauptung des Beklagten im Raum stehe, er sei „ein Säufer, der regelmäßig Alkohol konsumiere und damit nicht mehr Herr seiner Sinne“ sei. Hilfsweise werde die Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur weiteren Aufklärung der Tatsachen beantragt. 9 Nach Auffassung des Vertreters des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht und des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist das Berufungsurteil unzutreffend. Bei der Vorgeschichte des Klägers sei die in den Raum gestellte Möglichkeit von Alkoholmissbrauch nicht diskriminierend. Zudem habe es Anhaltspunkte für einen Mehrfachmissbrauch von Cannabis und Alkohol gegeben. Die Begründung des Bescheides enthalte keinen gegen die Person des Klägers gerichteten Vorwurf. Dort werde nur festgestellt, dass die Frage eines Alkoholmissbrauchs durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten geklärt werden solle. Gegen ein Rehabilitierungsinteresse spreche schließlich, dass der Ablehnungsbescheid nach der Erteilung der Fahrerlaubnis nicht mehr fortwirke. II 10 Die Revision des Beklagten ist begründet. Die vom Kläger nach Erteilung der begehrten Fahrerlaubnis mit einem Fortsetzungsfeststellungsantrag weitergeführte Klage hätte in der Berufung ohne Erfolg bleiben müssen, weil dem Kläger das hierfür erforderliche berechtigte Interesse fehlt. Das Berufungsgericht hat die vom Kläger begehrte Feststellung daher schon aus prozessualen Gründen zu Unrecht getroffen. Dieser Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO) führt zur Änderung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung. 11 Während des Berufungsverfahrens hat sich, weil dem Kläger die begehrte Fahrerlaubnis erteilt wurde, sein ursprünglich verfolgtes Verpflichtungsbegehren erledigt. Der nun gestellte Feststellungsantrag ist nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, der auf die Fälle eines erledigten Verpflichtungsbegehrens entsprechend anwendbar ist (stRspr; vgl. u.a. Urteil vom 27. März 1998 - BVerwG 4 C 14.96 - BVerwGE 106, 295 <296> m.w.N.), nur dann zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern (stRspr; vgl. u.a. Beschluss vom 4. März 1976 - BVerwG 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134 <137>). Für die Beurteilung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses als Sachentscheidungsvoraussetzung kommt es nicht auf den Zeitpunkt des Eintritts der Erledigung, sondern im Regelfall auf den Schluss der letzten mündlichen Verhandlung oder bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf den Entscheidungszeitpunkt an (Urteil vom 27. März 1998 a.a.O. S. 299). 12 1. Ein berechtigtes Interesse im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO kann der Kläger nicht daraus herleiten, dass er - wie er beim Übergang auf den Feststellungsantrag vorgetragen hatte - einen Schadensersatzanspruch wegen der u.a. für die Begutachtung entstandenen Kosten geltend machen will. Ein möglicher Amtshaftungsanspruch würde schon daran scheitern, dass das Verwaltungsgericht in Kammerbesetzung - und damit ein Kollegialgericht - die Aufforderung des Klägers zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens für rechtmäßig gehalten hat. Damit kann der Kläger das Vorliegen einer schuldhaften Amtspflichtverletzung nicht dartun, der beabsichtigte Zivilprozess wäre offensichtlich aussichtslos. Sowohl vom Bundesverwaltungsgericht (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom 3. Juni 2003 - BVerwG 5 C 50.02 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 17 und vom 22. Januar 1998 - BVerwG 2 C 4.97 - Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 113) als auch von den für die Durchführung von Amtshaftungsprozessen zuständigen Zivilgerichten (vgl. etwa BGH, Urteil vom 28. November 2002 - III ZR 122/02 - NVwZ-RR 2003, 166) wird als Regel angenommen, dass einen Beamten kein Verschulden trifft, wenn ein mit mehreren Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat (sog. „Kollegialgerichts-Richtlinie“). Dass es sich hier um ein erstinstanzliches Gericht handelt und dessen Entscheidung im Berufungsverfahren keinen Bestand hatte, ist für die schuldausschließende Wirkung der Kollegialentscheidung unerheblich (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom 3. Juni 2003 a.a.O. Rn. 9 m.w.N.). Sonstige, verschuldensunabhängige Schadensersatzansprüche des Klägers sind nicht ersichtlich. 13 2. Es besteht auch kein Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr. Sie setzte voraus, dass auch in Zukunft die gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bestehen wie in dem für die Beurteilung der erledigten Maßnahme maßgeblichen Zeitpunkt (stRspr; vgl. u.a. Urteil vom 11. November 1999 - BVerwG 2 A 5.98 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 8 Rn. 15 m.w.N.). Eine solche unverändert fortbestehende Sachlage gibt es hier nicht. Nachdem der Kläger die begehrte Fahrerlaubnis erhalten hat, ist die erneute Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht zu erwarten, es sei denn, es sollten sich neue Anhaltspunkte für einen Eignungsmangel ergeben. 14 3. Schließlich kann der Kläger die Zulässigkeit seines Fortsetzungsfeststellungsantrags nicht mit einem Rehabilitierungsinteresse begründen. 15 Das Verlangen nach Rehabilitierung begründet nach ständiger Rechtsprechung ein Feststellungsinteresse nur dann, wenn es bei vernünftiger Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalls als schutzwürdig anzuerkennen ist. Dafür reicht es nicht aus, dass der Betroffene die von ihm beanstandete Maßnahme als diskriminierend empfunden hat. Maßgebend ist vielmehr, ob bei objektiver und vernünftiger Betrachtungsweise abträgliche Nachwirkungen der Maßnahme fortbestehen, denen durch eine gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns wirksam begegnet werden könnte (Urteil vom 11. November 1999 a.a.O. Rn. 16 f.). 16 Eine diskriminierende Wirkung ergibt sich regelmäßig nicht allein aus dem Umstand, dass ein Antrag auf Fahrerlaubniserteilung auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 FeV abgelehnt wurde. Voraussetzung für eine solche Ablehnung ist lediglich, dass ein zu Recht angefordertes Fahreignungsgutachten nicht beigebracht wurde. Die Prüfung des Vorliegens einer rehabilitierungsbedürftigen Diskriminierung verlagert sich damit im Wesentlichen auf die Gründe, aufgrund derer die Behörde vom Betroffenen die Beibringung eines Fahreignungsgutachtens fordert. Dabei ist insbesondere in den Blick zu nehmen, auf welche gesundheitlichen oder sonstigen fahreignungsrelevanten Mängel sich die Fahrerlaubnisbehörde dabei berufen hat und in welcher Art und Weise sowie in welcher Form das geschehen ist. Für die zu klärende Frage einer fortdauernden Beeinträchtigung des Betroffenen in seinen Persönlichkeitsrechten sowie eines daraus resultierenden Rehabilitierungsinteresses ist noch nicht zu prüfen, ob mit den von der Fahrerlaubnisbehörde für das Vorliegen von Eignungszweifeln aufgeführten Umständen auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Gutachtensanforderung erfüllt werden. Das ist, falls ein Rehabilitierungsinteresse anzuerkennen ist, dann erst eine Frage der Begründetheit des Feststellungsantrags. 17 Im Fall des Klägers waren nach der Einschätzung der Fahrerlaubnisbehörde Eignungszweifel wegen eines bei ihm möglicherweise vorliegenden Alkoholmissbrauchs abzuklären. Dieser Begriff ist, wie Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (Eignung und bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen) zu entnehmen ist, im Zusammenhang mit § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV dahingehend zu verstehen, dass das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Übermäßiger Alkoholgenuss ohne Bezug zum Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr genügt somit für die Annahme von Alkoholmissbrauch noch nicht. 18 Die Behauptung, beim Kläger liege Alkoholmissbrauch vor, hat die Fahrerlaubnisbehörde weder bei der Anforderung des Gutachtens noch in ihrem die Erteilung der Fahrerlaubnis ablehnenden Bescheid aufgestellt. Sie hat im Ablehnungsbescheid lediglich die Umstände aufgezählt, aus denen sich aus ihrer Sicht Zweifel an der Fahreignung des Klägers im Hinblick auf den Eignungsmangel des Alkoholmissbrauchs ergeben. Aufgeführt werden in diesem Zusammenhang seine Trunkenheitsfahrt vom 30. Januar 2005 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,32 Promille, das ärztliche Gutachten vom 26. Januar 2007, in dem die Gutachterin zu dem Ergebnis kommt, dass ein Hinweis auf zumindest passageren Missbrauch von Alkohol vorliege, der Umstand, dass der Kläger bereits einmal ein wegen des Verdachts auf Alkoholmissbrauch angefordertes Gutachten nicht vorgelegt habe sowie schließlich die Angabe des Klägers bei der Erstellung des genannten ärztlichen Gutachtens, er habe zeitweise Alkohol und Cannabis gleichzeitig konsumiert. Ob danach die Legaldefinition des Alkoholmissbrauchs erfüllt sei, sei - so der Bescheid weiter - durch Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu klären. Die bloße Benennung der zu dieser Schlussfolgerung führenden Tatsachen lässt schon deswegen keinen unzulässigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Klägers erkennen, weil sie unstreitig sind. Eine rehabilitationsbedürftige Diskriminierung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Fahrerlaubnisbehörde aus einer Zusammenschau dieser Tatsachen Eignungszweifel im Hinblick auf einen möglicherweise vorliegenden Alkoholmissbrauch herleitet; denn dieser Schluss liegt keineswegs so fern, dass er den Verdacht auf eine unsachgemäße oder gar willkürliche, die persönlichen Belange des Klägers missachtende Sachbehandlung begründen könnte. Auch im Ton ist der Bescheid nicht etwa beleidigend, sondern sachlich gehalten. Davon, dass der Kläger „ein Säufer“ sei, ist - entgegen seiner Revisionserwiderung - im angegriffenen Bescheid und ebenso in der Aufforderung zur Beibringung des Fahreignungsgutachtens weder ausdrücklich noch sinngemäß die Rede. 19 Ebenso wenig ist ersichtlich, dass durch die Anforderung des Fahreignungsgutachtens und den auf dessen Nichtvorlage gestützten Ablehnungsbescheid die Gefahr einer Herabsetzung des Klägers in der Öffentlichkeit besteht (vgl. zu diesem Aspekt Urteil vom 11. November 1999 a.a.O. Rn. 18). Adressat der Beibringungsanordnung und des Ablehnungsbescheides mit den dort geäußerten Eignungszweifeln war allein der Kläger. Es fehlt an einer auf die Fahrerlaubnisbehörde zurückgehenden Bekanntgabe oder Verbreitung des Verdachts des Alkoholmissbrauchs, die zu einer Ausgrenzung des Klägers in der Öffentlichkeit führen könnte. Dem kann der Kläger nicht entgegenhalten, es sei nach außen aber erkennbar gewesen, dass er über eine längere Zeit keine Fahrerlaubnis mehr gehabt habe. Dieser Umstand ist in erster Linie auf die dem Ablehnungsbescheid vorangegangene Fahrerlaubnisentziehung zurückzuführen, die der Kläger bestandskräftig werden ließ. 20 Zu Unrecht beruft sich der Verwaltungsgerichtshof für ein Rehabilitierungsinteresse des Klägers auf das Urteil des 2. Senats vom 23. Oktober 1980 - BVerwG 2 A 4.78 - (Buchholz 232 § 42 BBG Nr.14). In jener Entscheidung ist das Rehabilitierungsinteresse eines Beamten anerkannt worden, der sich aufgrund einer dienstlichen Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung seiner Dienstfähigkeit unterziehen musste, wobei dieser Umstand anderen Kollegen bekannt geworden war. Es liegt auf der Hand, dass der damit geäußerte Verdacht einer tiefgreifenden psychischen Erkrankung mit weitreichenden Folgen für das Berufsleben insbesondere dann die Gefahr einer wiedergutmachungsbedürftigen Herabwürdigung begründen kann, wenn das Wissen darüber nicht auf die unmittelbar Verfahrensbeteiligten beschränkt bleibt. So verhält es sich hier gerade nicht. Abgesehen davon, dass nach außen nicht mehr erkennbar geworden ist, als dass die Neuerteilung der Fahrerlaubnis einige Jahre in Anspruch nahm, ist das sachlich begründete Verlangen, eine medizinisch-psychologische Klärung der Fahreignung vornehmen zu lassen, in seiner Wirkung für die Persönlichkeit des Betroffenen nicht vergleichbar. Hinzu kommt, dass der Kläger selbst den Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis gestellt und sich damit - anders als der genannte Beamte - aus freien Stücken einem Verfahren unterzogen hat, in dem er aufgrund seiner Vorgeschichte damit rechnen musste, dass die Behörde auf die aus ihrer Sicht bislang nicht geklärten Zweifel an seiner Fahreignung zurückkommen würde. 21 4. Für die vom Kläger angeregte Zurückverweisung an das Berufungsgericht wegen vermeintlich ungenügender tatsächlicher Feststellungen der Vorinstanz ist kein Raum. Beim berechtigten Interesse im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO handelt es sich um eine Sachentscheidungsvoraussetzung, so dass das Revisionsgericht, sollte ein - im vorliegenden Fall nicht ersichtliches - Aufklärungsdefizit bestehen, die erforderlichen Feststellungen selbst zu treffen hätte. 22 5. Nicht mehr zu entscheiden ist daher, ob der Fortsetzungsfeststellungsantrag des Klägers in der Sache begründet ist, die beantragte Fahrerlaubnis also ohne die vorherige Anforderung eines Fahreignungsgutachtens zu erteilen gewesen wäre. Der Senat neigt allerdings zu der Auffassung, dass der durch § 11 Abs. 8 FeV erlaubte Schluss auf die Nichteignung, der zur Entziehung der Fahrerlaubnis geführt hat, zugleich bedeutet, dass auch im Neuerteilungsverfahren ein medizinisch-psychologischen Gutachten angefordert werden durfte, sei es nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d, sei es nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. e FeV. 23 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2009-51
25.08.2009
Pressemitteilung Nr. 51/2009 vom 25.08.2009 EN Europäischer Gerichtshof soll klären, ob assoziationsberechtigte Türken den gleichen Ausweisungsschutz wie Unionsbürger genießen Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute in einem Rechtsstreit wegen der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg angerufen. Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage* betrifft die Übertragbarkeit des in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates der Europäischen Union (Unionsbürgerrichtlinie) geregelten Ausweisungsschutzes von Unionsbürgern auf assoziationsberechtigte und damit privilegierte türkische Staatsangehörige. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein 1964 geborener Türke, zog mit 12 Jahren zu seinen Eltern in das Bundesgebiet und erhielt 1987 eine Aufenthaltsberechtigung. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Im November 2000 wurde er wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt. Seit Oktober 2005 verbüßt er eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs seiner älteren Tochter. Klage und Berufung gegen die von der Ausländerbehörde angeordnete Ausweisung hatten in den Vorinstanzen u.a. wegen der erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers keinen Erfolg. Auf die Revision des Klägers ist das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Ausweisung nach bisher geltendem Recht nicht zu beanstanden ist. Zweifelhaft ist jedoch, ob nunmehr Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Unionsbürgerrichtlinie zu berücksichtigen ist. Danach dürfen Unionsbürger, die sich in den letzten zehn Jahren in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden. Zwingende Gründe können gem. § 6 Abs. 4 des nationalen Freizügigkeitsgesetzes/EU nur dann vorliegen, wenn der Betroffene u.a. wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH sollen die Grundsätze, die für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten gelten, soweit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen werden. Deshalb bedarf es der Klärung, ob er Kläger sich auf den in der nunmehr geltenden Unionsbürgerrichtlinie geregelten gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz berufen kann. Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat das Bundesverwaltungsgericht das Revisionsverfahren ausgesetzt. BVerwG 1 C 25.08 - Beschluss vom 25.08.2009
BundesverwaltungsgerichtAssoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Ausweisung, Ausweisungsschutz, türkische Staatsangehörige, Unionsbürgerrichtlinie, Vorabentscheidungsersuchen.AufenthG § 11, § 55, § 56; Assoziierungsabkommen EWG/Türkei – AssAbk – Art. 2 Abs. 3, Art. 6, Art. 12; Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation – ARB 1/80 – Art. 6, Art. 7, Art. 14 Abs. 1; EG-Vertrag – EG – Art. 39, Art. 40, Art. 41, Art. 234 Abs. 1, 3; EMRK Art. 8; FreizügG/EU § 6 Abs. 5; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 6; Richtlinie 64/221/EWG Art. 3, Art. 8, Art. 9; Richtlinie 2003/109/EG Art. 12; Richtlinie 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3, Art. 31, Art. 38 Abs. 2, Art. 40; Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei – ZP – Art. 36Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Klärung der Frage, ob der Ausweisungsschutz eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 hat, sich nach zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG richtet.BVerwG, Beschluss vom 25. 8. 2009 – 1 C 25.08; OVG Nordrhein-Westfalen (lexetius.com/2009,3424)[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. August 2009 durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer, die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig, Richter und Prof. Dr. Kraft sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke beschlossen:[2] Das Verfahren wird ausgesetzt.[3] Es wird gemäß Art. 234 Abs. 1 und 3 EG eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu folgender Frage eingeholt:[4] Richtet sich der Schutz vor Ausweisung gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zugunsten eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 gegenüber dem Mitgliedstaat besitzt, in dem er seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren gehabt hat, nach Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG, so dass eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässig ist, die von dem Mitgliedstaat festgelegt worden sind?Gründe:[5] 1 I Der im Jahr 1964 geborene Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.[6] 2 Er reiste 1976 in das Bundesgebiet ein und wohnte bis zum Erwachsenenalter bei seinen Eltern. Seine Mutter war von 1969 bis 1982 als Arbeitnehmerin beschäftigt. Nach dem Besuch der Hauptschule schloss er eine Lehre als Elektrokaufmann ab. Im Dezember 1987 erhielt er eine Aufenthaltsberechtigung. Aus der im März 1988 geschlossenen Ehe mit einer türkischen Staatsangehörigen sind zwei Töchter hervorgegangen, die 1988 geborene F. und die 1996 geborene B. Der Kläger betreibt seit 1995 mit seiner Ehefrau einen Kiosk.[7] 3 Der Kläger ist mehrfach strafrechtlich aufgefallen: Mit Strafbefehl vom 20. Dezember 1995 setzte das Amtsgericht Krefeld gegen ihn eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 DM wegen Hehlerei fest. Wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau verurteilte ihn das Amtsgericht Krefeld am 23. November 2000 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung. Das Landgericht Krefeld verurteilte den Kläger am 20. Oktober 2005 wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 11 Fällen und wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Dem Strafurteil ist zu entnehmen, dass der Kläger ab Januar 2004 Zeiten berufsbedingter Abwesenheit seiner Ehefrau zur Vornahme sexueller Handlungen an seiner älteren Tochter ausnutzte. Als er bemerkte, dass seine Tochter F. trotz des elterlichen Verbots Kontakt zu einem Jungen hatte, schlug er sie mit der Hand und der Faust ins Gesicht, so dass sie starke Schwellungen und Prellungen erlitt.[8] 4 Der Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 2. Mai 2006 aus und drohte ihm für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Bescheid wurde im Wesentlichen wie folgt begründet: Über die Ausweisung des nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 (ARB 1/80) aufenthaltsberechtigten Klägers sei im Ermessenswege zu entscheiden. Wegen der als Niederlassungserlaubnis fortgeltenden Aufenthaltsberechtigung genieße der Kläger besonderen Ausweisungsschutz, so dass er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden könne. Schwerwiegende Gründe lägen in spezialpräventiver Ausprägung vor, denn der Schutz von Kindern vor Sexualdelikten und gewalttätigen Übergriffen sei eine überragend wichtige Aufgabe der Gemeinschaft und berühre ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die den Ausweisungsanlass bildende Tat sei schwerwiegend und schadensträchtig; besonders falle die Ausnutzung der Vertrauensstellung, die Wehrlosigkeit des Opfers und die Intensität der Tatbegehung ins Gewicht. Die Wiederholungsgefahr sei angesichts der Gesamtpersönlichkeit des Klägers und seines bisherigen Verhaltens hoch. Er sei einschlägig vorverurteilt und habe weder Einsicht in das begangene Unrecht gezeigt noch sei eine Aufarbeitung der Geschehnisse und der Versuch einer Überwindung seiner manifestierten Neigungen erkennbar. Aus dem im Jahr 2000 erstellten psychiatrisch/psychologischen Gutachten ergebe sich neben der hohen affektiven Labilität eine erhöhte Kränkbarkeit und ein stark ausgeprägtes Verlangen nach Bestätigung. An der schubweise festgestellten Aggressivität habe sich nichts geändert. Trotz der Verwurzelung in den hiesigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und der familiären Bindungen sei die Ausweisung angesichts der Schwere der Straftaten und der künftig vom Kläger ausgehenden Gefahren für elementare Rechtsgüter gerechtfertigt. Die Ausweisung sei auch mit Art. 8 EMRK vereinbar. Sie werde zunächst auf unbefristete Zeit ausgesprochen, denn gerade angesichts der im Raum stehenden Straftaten gebiete es die staatliche Schutzfunktion, über eine Befristung und die Fristbemessung nach den ggf. eintretenden Veränderungen der Umstände zu entscheiden. Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Düsseldorf am 25. August 2006 zurück.[9] 5 Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2007 ab. Den Entscheidungsgründen ist zu entnehmen, dass die auf § 55 AufenthG und Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 gestützte Ermessensausweisung nicht zu beanstanden sei, weil der weitere Aufenthalt des Klägers zu einer tatsächlichen und hinreichend schweren, das Grundinteresse der Gesellschaft berührenden Gefährdung führe. Die Ausweisung stütze sich nicht allein auf den Umstand der strafrechtlichen Verurteilung, denn es bestünden Anhaltspunkte dafür, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch neue Verfehlungen des Klägers drohe, wenn er zu seiner Familie und damit auch zu seiner minderjährigen Tochter B. in das Umfeld komme, das seine Straftaten ermöglicht habe. Die Ausweisungsverfügung sei rein spezialpräventiv begründet. Sie verstoße nicht gegen Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG, weil diese Vorschrift auf nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatangehörige keine Anwendung finde. Art. 8 EMRK und Art. 6 GG würden nicht verletzt, da bei der Abwägung die Art und Schwere der begangenen Straftaten sowie die Wiederholungsgefahr erheblich zulasten des Klägers ins Gewicht fielen.[10] 6 Während des Berufungsverfahrens hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Krefeld mit Beschluss vom 7. März 2008 die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe wegen erhöhter Rückfallgefährdung des Klägers abgelehnt. Die dagegen erhobene sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 13. Mai 2008 verworfen.[11] 7 Mit Beschluss vom 5. September 2008 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat sich die Begründung des Verwaltungsgerichts zu Eigen gemacht und darüber hinaus ausgeführt, dass das Ausweisungsverfahren nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens nicht zu beanstanden sei. Die Ausweisung sei auch materiell rechtmäßig, denn die Gefahrenprognose habe – bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts – weiterhin Bestand. Dies verdeutlichten die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer sowie des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Die Ausweisung unterliege nicht den Beschränkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG, denn diese Bestimmung der Unionsbürgerrichtlinie sei auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besäßen, nicht anzuwenden.[12] 8 Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Er beruft sich im Wesentlichen darauf, dass die Ausweisung verfahrensrechtlich gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verstoße. Materiellrechtlich sei Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG entsprechend anzuwenden, denn er verfüge über eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80. Das Übermaßverbot sowie der Schutz des Familienlebens (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) würden durch die unbefristete Ausweisung verletzt.[13] 9 Der Kläger beantragt, unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 16. Januar 2007 und des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 2008 den Bescheid des Beklagten vom 2. Mai 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Düsseldorf vom 25. August 2006 aufzuheben.[14] 10 Der Beklagte tritt der Revision entgegen. Er ist der Auffassung, das Ausweisungsverfahren sei fehlerfrei, da ein Widerspruchsverfahren stattgefunden habe und damit das "Vier Augen Prinzip" der Richtlinie 64/221/EWG entgegen der Annahme des Klägers gewahrt sei. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG könne nicht auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige angewendet werden und Art. 41 ZP vermittle keinen über Art. 14 ARB 1/80 hinausgehenden Ausweisungsschutz. In dem angefochtenen Bescheid seien alle Belange des Betroffenen in einer umfänglichen Ermessensentscheidung gewürdigt und abgewogen worden.[15] 11 Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich am Verfahren beteiligt. Er hält die Revision für unbegründet, weil die Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie auf nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige keine Anwendung fänden.[16] 12 II Der Rechtsstreit ist auszusetzen und es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: Gerichtshof) zur Auslegung des Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ARB 1/80) einzuholen (Art. 234 Abs. 1 und 3 EG). Da es um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die vorgelegte Frage zur Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei ist entscheidungserheblich und bedarf einer Klärung durch den Gerichtshof.[17] 13 1. Folgende nationale Vorschriften bilden den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits:[18] 14 a) Aus dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl I S. 2034) – GG – sind Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 relevant:Art. 2(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.(2) …Art. 6(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.[19] 15 b) Aus dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) sind folgende Vorschriften von Bedeutung:§ 11. Einreise- und Aufenthaltsverbot(1) Ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, darf nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die in den Sätzen 1 und 2 bezeichneten Wirkungen werden auf Antrag in der Regel befristet. Die Frist beginnt mit der Ausreise. …(2) …§ 55. Ermessensausweisung(1) Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.(2) Ein Ausländer kann nach Absatz 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er1. …,2. einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist,3. – 11. …(3) Bei der Entscheidung über die Ausweisung sind zu berücksichtigen1. die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet,2. die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben,3. die in § 60a Abs. 2 genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung.§ 56. Besonderer Ausweisungsschutz(1) Ein Ausländer, der1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,1. a -5. …,genießt besonderen Ausweisungsschutz. Er wird nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 vor. Liegen die Voraussetzungen des § 53 vor, so wird der Ausländer in der Regel ausgewiesen. Liegen die Voraussetzungen des § 54 vor, so wird über seine Ausweisung nach Ermessen entschieden.(2) – (4) …[20] 16 c) Das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) lautet auszugsweise:§ 1. AnwendungsbereichDieses Gesetz regelt die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen.§ 2. Recht auf Einreise und Aufenthalt(1) Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.(2) – (6) …§ 6. Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt(1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39 Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft) festgestellt und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht oder über den Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte widerrufen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden. Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise auftritt.(2) – (4) …(5) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.[21] 17 2. Der Gerichtshof ist für die Entscheidung über die vorgelegte Frage zuständig. Die Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Gegenstand einer Vorabentscheidung nach Art. 234 EG gemacht werden (vgl. Urteil vom 20. September 1990 – RS. C-192/89, Sevince – Slg. 1990, I-3461).[22] 18 3. Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Die Ausweisungsverfügung verstößt – einschließlich der darin getroffenen Ermessensentscheidung – weder gegen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts noch gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in seiner bisher maßgeblichen Bedeutung (a bis d). Wäre jedoch der nunmehr in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelte erhöhte Ausweisungsschutz für Unionsbürger auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen, lägen die in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU – vom deutschen Gesetzgeber in Ausfüllung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG – festgelegten zwingenden Gründe beim Kläger nicht vor (e). Dann wäre die Ausweisung rechtswidrig.[23] 19 a) Prüfungsmaßstab für die angefochtene Ausweisung ist § 55 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Der Kläger besitzt eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80: Er ist als Minderjähriger im Alter von 12 Jahren zum Zweck der Familienzusammenführung erlaubt in das Bundesgebiet eingereist. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass seine Mutter von 1969 bis 1982 dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat. Der Kläger hat bei seinen Eltern gelebt und die Mindestaufenthaltszeiten des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erfüllt. Nach Abschluss der Lehre zum Elektrokaufmann greift auch Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 zu seinen Gunsten.[24] 20 b) Demzufolge kann der Kläger nach bisherigem Verständnis des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 – RS. C 349/06, Polat – NVwZ 2008, 59). Das ist der Fall, so dass auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i. S. d. § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben sind.[25] 21 Die Vergewaltigung seiner Ehefrau und der mehrfache sexuelle Missbrauch seiner Tochter bilden einen Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht. Das strafrechtlich geahndete persönliche Verhalten des Klägers begründet eine – über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinausgehende – tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die betroffenen Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und lösen – insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen – staatliche Schutzpflichten aus, die sich auch gegen die Eltern richten.[26] 22 Bei Rechtsgütern dieser Bedeutung gelten für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. Dem genügt die von dem Beklagten gestellte und den Vorinstanzen bestätigte Prognose einer konkreten Wiederholungsgefahr beim Kläger. Beklagter und Verwaltungsgericht haben die Tatumstände, die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, bei dem Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen fehlen sowie die mangelnde Überwindung seiner Neigungen durch therapeutische Unterstützung umfassend gewürdigt. Das Berufungsgericht hat darüber hinaus darauf abgestellt, dass die Strafvollstreckungskammer wegen der erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt hat. Auf der Grundlage dieser den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) ist nicht zu erkennen, dass das Berufungsgericht seiner Prognose zulasten des Klägers einen zu niedrigen und damit unzutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat. Die ausführliche Würdigung der Persönlichkeit des Klägers und die daraus konkret abgeleitete Wiederholungsgefahr belegen, dass der Beklagte nicht allein die strafrechtliche Verurteilung zum Anlass für die ausschließlich spezialpräventiv motivierte Ausweisung genommen, sondern die zukünftig vom Kläger ausgehende Gefahr in den Blick genommen hat.[27] 23 c) Da der Kläger ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht besitzt, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Bei deren gerichtlicher Überprüfung ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (Urteil vom 3. August 2004 BVerwG 1 C 29.02 BVerwGE 121, 315 [320 f.]). Die Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde über den Erlass einer Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Ausreise mit den privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet. Zugunsten des Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56 AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und hier aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn diese über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen.[28] 24 Mit Blick auf diese Vorgaben ist die Ermessensausübung des Beklagten nicht zu beanstanden. Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens werden angesichts der vom Kläger ausgehenden konkreten Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung sowie der körperlichen Integrität seiner Ehefrau und seiner minderjährigen Tochter B. nicht überschritten. Es begegnet keinen Bedenken, dass der Beklagte das durch den Rechtsgüterschutz geprägte und durch grundrechtliche Schutzpflichten zusätzlich verstärkte öffentliche Interesse an einer Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet höher gewichtet hat als dessen Interesse an einem Verbleib in Deutschland. Zwar schlägt sein über dreißigjähriger rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu seinen Gunsten zu Buche. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass er über ausreichende persönliche Bindungen in die Türkei verfügt, so dass ihm die Ausreise dorthin zumutbar ist. Der Schutz des Familienlebens genießt hohe Bedeutung zugunsten des Klägers, nachdem die über zwanzig Jahre verheirateten Eheleute an der Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft festhalten. Dieser Belang verliert indes an Gewicht, wenn man das Kindeswohl der minderjährigen Tochter B. mitberücksichtigt. Denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zur erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers in seinem familiären Umfeld stellt der Schutz dieses Kindes einen gewichtigen legitimen Belang dar, so dass die Ausweisung in der Gesamtabwägung aller gegenläufigen Belange nicht unverhältnismäßig erscheint.[29] 25 Die Wirkungen der Ausweisung mussten auch nicht bereits bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids befristet werden. Nach der Rechtsprechung des Senats hängt es von den gesamten Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der von dem Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen und seiner Angehörigen ab, ob eine Befristung schon bei der Ausweisung von Amts wegen geboten ist oder eine nachträgliche Befristung auf Antrag gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausreicht (Urteile vom 15. März 2005 BVerwG 1 C 2.04 Buchholz 451. 901 Assoziationsrecht Nr. 42 und vom 23. Oktober 2007 BVerwG 1 C 10.07 BVerwGE 129, 367 [371 Rn. 18] sowie Beschluss vom 20. August 2009 BVerwG 1 B 13.09 zur Veröffentlichung vorgesehen). Wegen der erhöhten Rückfallgefährdung des Klägers und der von ihm ausgehenden, auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts noch nicht kalkulierbaren Sicherheitsrisiken brauchten die Wirkungen der spezialpräventiv motivierten Ausweisung nicht bereits mit Erlass befristet zu werden. Vielmehr ist der Kläger angesichts der negativen Prognose und der Bedeutung der betroffenen Schutzgüter trotz seiner persönlichen und familiären Bindungen an das Bundesgebiet auf das Befristungsverfahren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu verweisen. Der in dieser Vorschrift niedergelegte Regelanspruch auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der Ausweisung nach Wegfall der gefahrbegründenden Umstände erweist sich für ihn auch im Hinblick auf eine spätere Einreise in das Bundesgebiet als praktisch wirksam, denn seine Familie bietet dem Kläger einen Anknüpfungspunkt für die Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet.[30] 26 d) Die weiteren Rügen der Revision sind unbegründet; insbesondere ist das Ausweisungsverfahren fehlerfrei durchgeführt worden. Zwar war das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene "Vier-Augen-Prinzip" auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige zu übertragen (Urteil vom 13. September 2005 BVerwG 1 C 7.04 BVerwGE 124, 217 [221 f.] im Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 – Rs. C-136/03, Dörr und Ünal – InfAuslR 2005, 289). In dem hier vorliegenden Fall wurde der Bescheid am 2. Mai 2006 und damit erst nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zum 30. April 2006 (Art. 38 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG) erlassen, so dass die Richtlinie 64/221/EWG sich selbst zu diesem Zeitpunkt keine Geltung mehr beimaß. Sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein, stellt sich die Frage, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG auf diesen Personenkreis gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das "Vier-Augen-Prinzip" abgelöst haben. Dieser Frage ist hier aber nicht nachzugehen, da im vorliegenden Fall ein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden ist und das Vorverfahren nach §§ 68 ff. VwGO den in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltenen Verfahrensgarantien entspricht (Urteil vom 13. September 2005 BVerwG 1 C 7.04 a. a. O.).[31] 27 e) Die streitgegenständliche Ausweisung wurde nach Ablauf der in Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG niedergelegten Umsetzungsfrist (30. April 2006) erlassen, so dass sie intertemporal vom Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie erfasst wird (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 – Rs. C-349/06, Polat – NVwZ 2008, 59). Da der Kläger nicht zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist, keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht betroffen ist und keine terroristische Gefahr von ihm ausgeht, liegen die in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU festgelegten zwingenden Gründe nicht vor. Daher wäre die ansonsten nicht zu beanstandende Ausweisung rechtswidrig, wenn der nunmehr in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelte gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz auf türkische Staatsangehörige zu übertragen wäre, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen.[32] 28 4. Die vorgelegte Frage zur Auslegung des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bedarf einer Klärung durch den Gerichtshof.[33] 29 a) Für eine Übertragung des in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelten Ausweisungsschutzes auf nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige könnte sprechen, dass es der Gerichtshof als unabdingbar angesehen hat, die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (nunmehr: Art. 39, 40 und 41 EG) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, zu übertragen (EuGH, Urteile vom 6. Juni 1995 – Rs. C-434/93, Bozkurt – NVwZ 1995, 1093; vom 23. Januar 1997 – Rs. C-171/95, Tetik – Slg. 1997, I-329; vom 30. September 1997 – Rs. C-36/96, Günaydin – Slg. 1997, I-5143; vom 30. September 1997 – Rs. C-98/96, Ertanir – Slg. 1997, I-5179 – und vom 26. November 1998 – Rs. C-1/97, Birden – Slg. 1998, I-7747). Diesen zu den rechtsbegründenden Voraussetzungen der Art. 6 und 7 ARB 1/80 entwickelten Gedanken hat der Gerichtshof auch bei der Auslegung der Schranke des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 herangezogen, zumal die Vorschrift nahezu denselben Wortlaut wie Art. 48 Abs. 3 EGV (nunmehr: Art. 39 Abs. 3 EG) hat (EuGH, Urteile vom 10. Februar 2000 – Rs. C-340/97, Nazli – Slg. 2000, I-957; vom 11. November 2004 – Rs. C-467/02, Cetinkaya – Slg. 2004, I-10895 – und vom 2. Juni 2005 – Rs. C-136/03, Dörr und Ünal – Slg. 2005, I-4759). Für eine Übertragung des nunmehr für Unionsbürger geltenden Ausweisungsschutzes auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige wird ferner angeführt, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Rat mit der Richtlinie 2004/38/EG über seine Befugnisse aus Art. 40 EG hinausgegangen sei, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 herzustellen. Die Stufenfolge in Art. 28 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/38/EG sei als Ausprägung des der Vorschrift des Art. 39 Abs. 3 EG immanenten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehen (so VGH Kassel, Beschluss vom 12. Juli 2006 – 12 TG 494/06 – InfAuslR 2006, 393 f.; Urteil vom 25. Juni 2007 – 11 UE 52/07 – ESVGH 57, 233; OVG Koblenz, Urteil vom 5. Dezember 2006 – 7 A 10924/06 – InfAuslR 2007, 148 [149 ff.]; Gutmann, InfAuslR 2005, 401 [402]; Marx, ZAR 2007, 142 [147 f.]).[34] 30 b) Diese Ansicht teilt der beschließende Senat nicht. Er ist vielmehr der Auffassung, dass das Schutzniveau des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 durch Orientierung an den Regelungen zu bestimmen ist, die bei Erlass der Vorschrift für freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten galten (so auch die Kommission in ihren Stellungnahmen vom 15. Dezember 2006 – JURM (2006) 12099 – im Verfahren Rs. C-349/06 (Polat) und vom 2. Dezember 2008 – JURM (08) 12077 – im Verfahren Rs. C-371/08 (Örnek); vgl. ferner OVG Münster, Beschluss vom 15. Mai 2007 – 18 B 2389/06 – NVwZ 2007, 1445; BayVGH, Urteil vom 8. Januar 2008 – 10 B 07.304 – DÖV 2008, 970; OVG Lüneburg, Urteil vom 27. März 2008 – 11 LB 26/08 – InfAuslR 2008, 285; OVG Saarlouis, Beschluss vom 9. Juli 2008 – 2 B 212/08; VGH Mannheim, Vorlagebeschluss vom 22. Juli 2008 – 13 S 1917/07 – NVwZ-RR 2009, 82). Dafür spricht die mehrphasig angelegte Assoziation, bestehend aus Vorbereitungs-, Übergangs- und Endphase (Art. 2 Abs. 3 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 – Assoziierungsabkommen, BGBl 1964 II S. 509 – AssAbk). Die Vorstellung der Vertragsparteien von einer sukzessiven Realisierung der Assoziation zeigt sich auch in Art. 12 AssAbk, demzufolge die Vertragsparteien vereinbart haben, sich von den Artikeln 48, 49, 50 des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft (jetzt: Art. 39, 40, 41 EG) leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen. Schließlich wurde die Festlegung der Regeln, die zur schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer erforderlich sind, in Art. 36 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II, S. 385) – ZP – dem Assoziationsrat überantwortet.[35] 31 Die in Art. 36 ZP vereinbarte Delegierung der Normsetzung auf ein spezielles, in Art. 6 AssAbk institutionalisiertes und in Art. 22 ff. AssAbk näher ausgestaltetes Organ, das sich aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates und der Kommission der Gemeinschaft einerseits sowie Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits zusammensetzt und nur einstimmig handeln kann (Art. 23 Abs. 1 und 3 AssAbk), deutet auf eine dem Assoziationsrat von den Vertragsparteien übertragene Gestaltungskompetenz. Diese hat der Assoziationsrat mit seinem Beschluss Nr. 1/80 vom 19. September 1980 (ANBA 1981, S. 4) ausgeübt, um im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen gegenüber den im Beschluss Nr. 2/76 getroffenen Regelungen zu verbessern (3. Erwägungsgrund). In Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 wurden Beschränkungen der im 1. Abschnitt des Kapitel II geregelten Beschäftigungs- und Freizügigkeitsrechte der Arbeitnehmer daran gebunden, dass sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 stimmt nahezu wörtlich mit Art. 48 Abs. 3 EGV überein, so dass es der Gerichtshof als gerechtfertigt angesehen hat, die Auslegung zu der Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizügigkeit der Gemeinschaftsangehörigen auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 – Rs. C-340/97, Nazli – Slg. 2000, I-957). Darauf aufbauend hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG auch bei der Ausweisung von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen heranzuziehen ist (EuGH, Urteil vom 11. November 2004 – Rs. C-467/02, Cetinkaya – Slg. 2004, I-10895). Mit der Vorstellung einer dem Assoziationsrat konstitutiv überantworteten Gestaltungskompetenz, die dieser auch tatsächlich sukzessiv ausgeübt hat, wäre es nur schwer zu vereinbaren, das Schutzniveau des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 von dem bei seiner Beschlussfassung für freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten geltenden Maßstab abzulösen und die Schranke als dynamische Verweisung zu verstehen. Eine derartige Annahme ließe sich schwerlich in das dem Assoziationsabkommen immanente Konzept einer durch den Assoziationsrat gesteuerten schrittweisen Entwicklung der Assoziation einpassen (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 – Rs. C-434/93, Bozkurt – Slg. 1995, I-1475); sie würde beim Ausweisungsschutz vielmehr zu einer automatischen Rechtsangleichung führen, die allein von den ohne Beteiligung des Assoziationsrates erlassenen Regelungen der Europäischen Union abhinge (vgl. auch Beschluss vom 24. April 2008 BVerwG 1 C 20.07 Buchholz 451. 901 Assoziationsrecht Nr. 51 Rn. 26).[36] 32 Des Weiteren ergibt sich aus der Stellung des Art. 14 ARB 1/80 im "Abschnitt 1. Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer", dass das Ziel der Herstellung von Freizügigkeit auf den Personenkreis der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen beschränkt ist. Wegen des als unerlässlich angesehenen Zusammenhangs von Beschäftigung und Aufenthalt hat der Gerichtshof den in Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80 geregelten Beschäftigungsrechten korrespondierende implizite Aufenthaltsrechte entnommen (grundlegend EuGH, Urteil vom 20. September 1990 – Rs. C-192/89, Sevince – Slg. 1990, I-3461). Dieser Bezug zum regulären Arbeitsmarkt bleibt bei dem Aufenthaltsrecht des Arbeitnehmers aus Art. 6 ARB 1/80 immer erhalten (EuGH, Urteil vom 6. Juni 1995 – Rs. C-434/93, Bozkurt – Slg. 1995, I-1475), während er sich bei den abgeleitet berechtigten Familienangehörigen nach Ablauf der in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 vorausgesetzten Zeiten des tatsächlichen Zusammenlebens mit dem Stammberechtigten verliert (EuGH, Urteil vom 7. Juli 2005 – Rs. C-373/03, Aydinli – Slg. 2005, I-6181). Das ändert aber nichts daran, dass selbst das implizite Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 während der Entstehung eine beschäftigungsbezogene Wurzel hat.[37] 33 Demgegenüber verfolgt die Unionsbürgerrichtlinie – wie sich aus ihrer Bezugnahme u. a. auf die Ermächtigungsgrundlage des Art. 18 EG und insbesondere aus ihrem 4. Erwägungsgrund ergibt – einen systematischen Neuansatz. Mit den Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG sollen die bisher erwerbswirtschaftlich motivierten, bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts überwunden werden. Der Anknüpfungspunkt für Freizügigkeitsrechte liegt nicht mehr punktuell in der Ausübung einzelner Grundfreiheiten, sondern in der Unionsbürgerschaft als grundsätzlichem Status (3. Erwägungsgrund). Auf dieser Konzeption beruht auch das neu geschaffene Recht auf Daueraufenthalt in Kapitel IV der Richtlinie (17. Erwägungsgrund). Dieses knüpft – anders als das in Kapitel III geregelte Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG) – nicht an ein durch Grundfreiheiten vermitteltes Aufenthaltsrecht an, sondern ausschließlich an die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Richtlinie 2004/38/EG).[38] 34 Der Neuansatz der Richtlinie 2004/38/EG schlägt sich auch in der abgestuften Regelung des Ausweisungsschutzes in Art. 28 nieder, die keinen spezifischen Bezug zur Arbeitnehmerfreizügigkeit mehr aufweist, sondern für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt. Das belegt die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift: Nach dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Kommission sollte zur Stärkung der Unionsbürgerschaft die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die das Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Unionsbürgerrichtlinie erlangt haben, völlig ausgeschlossen sein (Art. 26 Abs. 2 und die Erläuterung dazu im Richtlinienvorschlag der Kommission vom 23. Mai 2001 KOM/2001/257 endgültig – ABl. Nr. C 270 E vom 25. September 2001, S. 150). Das Recht auf Daueraufenthalt wurde dabei ausdrücklich als "logische und zwingende Folge des persönlichen Grundrechts" angesehen, das der EG-Vertrag jedem Unionsbürger zuerkenne (Ziffer 2. 2 des Richtlinienvorschlags der Kommission a. a. O.). Erst nachdem die Mitgliedstaaten im Rat nahezu einstimmig einen solchen absoluten Ausweisungsschutz für daueraufenthaltsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen abgelehnt hatten, kam im Wege eines Kompromisses die endgültige Fassung von Art. 28 Abs. 2 und 3 der Richtlinie zustande (Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 5. Dezember 2003, ABl. 2004 Nr. C 54 E vom 2. März 2004, S. 12 [32] und die darauf Bezug nehmende Stellungnahme der Kommission vom 30. Dezember 2003 – SEK/2003/1293 endg. – Nr. 3. 3. 2 zu Art. 28 Abs. 2).[39] 35 Ist der gestufte Ausweisungsschutz in Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG aber nicht als Ausprägung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern vielmehr als Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft anzusehen, kommt eine Übertragung des darin verankerten Schutzniveaus auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht in Betracht (Hailbronner, Ausländerrecht, D 5.2 Art. 14 ARB 1/80 Rn. 13 ff.). Es fehlt eine vergleichbare Grundlage und Zwecksetzung der Vorschriften. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, genießen assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige im Gegensatz zu den Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten keine Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft, sondern besitzen nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 – Rs. C-325/05, Derin – Slg. 2007, I-6495 – m. w. N.).[40] 36 Schließlich lässt sich der gestufte Ausweisungsschutz des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG auch nicht als allgemeingültige, für Unionsbürger wie Drittstaatsangehörige gebotene Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begreifen. Dagegen spricht, dass der Ausweisungsschutz in der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. L 16 vom 23. Januar 2004 S. 44) wesentlich schwächer ausgestaltet worden ist (vgl. Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG) und der hohe Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG nur Unionsbürger, nicht jedoch ihre Familienangehörigen erfasst.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2013-66
12.09.2013
Pressemitteilung Nr. 66/2013 vom 12.09.2013 EN Aufwendungsersatz für selbstbeschafften Krippenplatz Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass ein Kind, dessen Rechtsanspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes nicht erfüllt wird, unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch darauf hat, dass die Aufwendungen der Eltern für seine Unterbringung in einer privaten Kindertagesstätte ersetzt werden. Im Streitfall ging es um den Ersatz der Aufwendungen, die durch die Unterbringung der damals zweijährigen Tochter in der Kinderkrippe einer privaten Elterninitiative von April bis Oktober 2011 entstanden sind. Die Eltern ließen die Tochter dort betreuen, weil die beklagte Stadt während dieser Zeit keinen Krippenplatz zur Verfügung stellen konnte. Das hier anwendbare Kindertagesstättengesetz Rheinland-Pfalz sieht vor, dass Kinder vom vollendeten zweiten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf Erziehung, Bildung und Betreuung im Kindergarten haben. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet, die in dem genannten Zeitraum entstandenen Aufwendungen für die private Kinderkrippe in Höhe von ca. 2 200 € zu erstatten. Dieses Urteil hat das Oberverwaltungsgericht im Ergebnis bestätigt. Die Beklagte habe den nach Landesrecht bestehenden und von der Mutter rechtzeitig geltend gemachten Anspruch auf einen Kindergartenplatz nicht erfüllt. Deshalb müsse sie die Kosten des selbst beschafften Ersatzplatzes in einer privaten Kinderkrippe übernehmen. Die hiergegen eingelegte Revision der Beklagten hat das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass im Fall der Nichterfüllung des landesrechtlichen Anspruchs auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen für einen selbstbeschafften Platz besteht. Soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen ist, das Bundesrecht sehe einen entsprechenden Anspruch vor und das Landesrecht folge dem, ist dies nicht zu beanstanden. Der bundesrechtliche Anspruch ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 36a Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch. Dieser verleiht einen Anspruch auf Aufwendungsersatz, wenn bestimmte Ansprüche auf Jugendhilfeleistungen nicht erfüllt werden. Der Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen setzt voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Bedarf rechtzeitig in Kenntnis gesetzt hat, die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung vorgelegen haben und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Ob im vorliegenden Einzelfall die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs vorliegen, entzieht sich der revisionsgerichtlichen Kontrolle, weil es sich insoweit um die Anwendung von Landesrecht handelt. BVerwG 5 C 35.12 - Urteil vom 12. September 2013 Vorinstanzen: OVG Koblenz, 7 A 10671/12 - Urteil vom 25. Oktober 2012 - VG Mainz, 1 K 981/11.MZ - Urteil vom 10. Mai 2012 -
Urteil vom 12.09.2013 - BVerwG 5 C 35.12ECLI:DE:BVerwG:2013:120913U5C35.12.0 EN Leitsatz: Ein Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für einen selbstbeschafften Kinderbetreuungsplatz ergibt sich aus dem Bundesrecht entsprechend § 36a Abs. 3 SGB VIII, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung rechtzeitig über den Bedarf in Kenntnis gesetzt hat, die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung vorgelegen haben und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Rechtsquellen SGB VIII § 36a Abs. 1 und 3, § 90 Abs. 3 SGB V § 13 Abs. 3 SGB IX § 15 Abs. 1 Instanzenzug VG Mainz - 10.05.2012 - AZ: VG 1 K 981/11.MZ OVG Koblenz - 25.10.2012 - AZ: OVG 7 A 10671/12 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 12.09.2013 - 5 C 35.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:120913U5C35.12.0] Urteil BVerwG 5 C 35.12 VG Mainz - 10.05.2012 - AZ: VG 1 K 981/11.MZ OVG Koblenz - 25.10.2012 - AZ: OVG 7 A 10671/12 In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Vormeier, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer, Dr. Häußler und Dr. Fleuß für Recht erkannt: Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. Oktober 2012 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe I 1 Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für die Unterbringung der Klägerin zu 2 in der Kinderkrippe einer privaten Elterninitiative in der Zeit vom 8. April bis zum 15. Oktober 2011. 2 Die Klägerin zu 1 ist die Mutter der am 8. April 2009 geborenen Klägerin zu 2. Anfang Dezember 2009 beantragte die Klägerin zu 1 erstmals bei der beklagten Stadt als Trägerin der Jugendhilfe, ihrer Tochter einen Krippen- bzw. Kindergartenplatz zuzuteilen. Weil die Beklagte hierauf nicht reagierte, brachte die Klägerin zu 1 ihr Kind ab Juli 2010 in der genannten privaten Einrichtung unter. Ein im Oktober 2010 gestellter Antrag der Klägerin zu 1 auf Übernahme des Elternbeitrags für die Unterbringung in der privaten Krippe blieb ohne Erfolg. Mit Schreiben vom 26. Februar und 1. März 2011 machte die Klägerin zu 1 bei der Beklagten erneut den Anspruch geltend, ihrer Tochter einen Kindergartenplatz zur Verfügung zu stellen. 3 Am 22. September 2011 hat die Klägerin zu 1 Klage auf Zuweisung eines Kindergartenplatzes sowie auf Kostenerstattung für die ab 8. April 2011 aufgewendeten Kosten für die Unterbringung in der privaten Elterninitiative erhoben. Die Beklagte stellte der Klägerin zu 2 ab dem 16. Oktober 2011 einen Kindergartenplatz zur Verfügung. Daraufhin hat die Klägerin zu 1 ihr Begehren auf die Kostenübernahme beschränkt. Mit Einverständnis der Beklagten ist die Klage ferner um die Klägerin zu 2 erweitert worden. 4 Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerinnen einen Betrag in Höhe von 2 187,77 € zu zahlen. 5 Die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Nach dem rheinland-pfälzischen Kindertagesstättengesetz habe das Jugendamt der Beklagten zu gewährleisten, dass für jedes Kind vom vollendeten zweiten Lebensjahr ein Platz in einer Kindertagesstätte beitragsfrei zur Verfügung stehe. Diesen Anspruch habe die Beklagte nicht erfüllen können. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Jugendhilferecht sei seit jeher anerkannt, dass die Kostenübernahme vom Jugendhilfeträger verlangt werden könne, wenn die Leistung zu Recht begehrt worden sei und ohne Vermittlung des Jugendhilfeträgers in Anspruch genommen werden musste. Nach dieser Rechtsprechung setze sich die „Primärverantwortung“ des für die Gewährleistung verantwortlichen Jugendhilfeträgers sekundär in der Verantwortung für die Übernahme der Kosten fort, wenn die geschuldete Leistung anderweitig beschafft werden musste. Diese Rechtsgrundsätze seien auch durch die Schaffung des § 36a Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) im Jahre 2005 nicht in Zweifel gezogen oder ausgeschlossen worden. Die Voraussetzungen eines solchen Übernahmeanspruchs seien hier erfüllt. Neben der Klägerin zu 2 könne auch die sorgeberechtigte Klägerin zu 1 Kostenerstattung beanspruchen. Denn nach der gesetzlichen Konzeption stehe der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz auch den Sorgeberechtigten zu. Maßgeblich dafür sei ihre gesetzlich bezweckte Begünstigung, eine durch öffentliche Mittel hoch subventionierte Einrichtung in Anspruch nehmen zu können. 6 Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend, die Klägerin zu 1 sei bereits nicht aktivlegitimiert, weil der Primäranspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes nach den klaren gesetzlichen Regelungen nur dem Kind zustehe und nicht den sorgeberechtigten Personen. Für einen Anspruch der Klägerin zu 2 auf Erstattung der Kosten des selbstbeschafften Kindergartenplatzes gebe es keine Rechtsgrundlage. Eine Ausdehnung des richterrechtlichen Haftungsinstituts für selbstbeschaffte Leistungen bei Systemversagen auf die vorliegende Fallgruppe der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen sei nicht zulässig. Das Haftungsinstitut zum Kostenersatz für selbstbeschaffte Hilfen bei Systemversagen sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur im Rahmen der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe anwendbar. Mit § 90 Abs. 3 SGB VIII bestehe eine selbständige und abschließende Sonderregelung zur Kostentragung für das Kindergartenrecht. Zudem sei der Rückgriff auf das richterrechtliche Haftungsinstitut ausgeschlossen, weil § 36a Abs. 3 SGB VIII eine abschließende Spezialregelung über den Kostenersatz für selbstbeschaffte Hilfe bei Systemversagen für das SGB VIII darstelle. Insbesondere die systematische Ausgestaltung dieser Vorschrift sowie ihre Regelungshistorie belegten die Annahme des Gesetzgebers, dass sich die richterrechtlichen Grundsätze mit ihrer Einführung erledigt hätten und nicht mehr ergänzend herangezogen werden könnten. Das Berufungsgericht habe auch deshalb Bundesrecht verletzt, weil es zu Unrecht angenommen habe, dass die Voraussetzungen des richterrechtlichen Haftungsinstituts vorlägen. Dieser Anspruch sei schon wegen der fehlenden Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes ausgeschlossen. Es sei den Klägerinnen zuzumuten gewesen, ihren Verschaffungsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO durchzusetzen. Ein Anspruch der Klägerinnen auf Kostenerstattung scheitere weiter daran, dass Elterninitiativen nach den Vorgaben des rheinland-pfälzischen Kindertagesstättengesetzes nicht in rechtmäßiger Weise den Primäranspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes erfüllen könnten, weil sie nicht Träger einer Kindertagesstätte im Sinne des Gesetzes seien. 7 Die Klägerinnen verteidigen das angegriffene Urteil. 8 Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich an dem Verfahren und unterstützt die Rechtsauffassung der Beklagten. II 9 Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat den Klägerinnen den im Streit stehenden Aufwendungsersatzanspruch zugesprochen, ohne dass dies im Sinne des § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Bundesrecht verletzt. 10 Soweit das Oberverwaltungsgericht die Existenz des aus dem Landesrecht folgenden Aufwendungsersatzanspruchs vom Verständnis bundesrechtlicher Grundsätze abhängig macht, ist dies einer revisionsgerichtlichen Überprüfung zugänglich (1.). Der vom Oberverwaltungsgericht angenommene Rechtssatz, dass nach Bundesrecht unter bestimmten Voraussetzungen ein Sekundäranspruch auf Ersatz von Aufwendungen besteht, wenn der Primäranspruch auf Verschaffung eines Kinderbetreuungsplatzes nicht erfüllt oder in rechtswidriger Weise verweigert wird, und das rheinland-pfälzische Landesrecht dem folgt, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden (2.). Eine Verletzung von Bundesrecht liegt auch im Übrigen nicht vor (3.). 11 1. Obgleich der von den Klägerinnen geltend gemachte und vom Oberverwaltungsgericht bejahte Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz seine Grundlage im irrevisiblen Landesrechts findet (a), sind die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zu der Frage, ob es im Bundesrecht einen entsprechenden Anspruch auf Aufwendungsersatz für selbstbeschaffte Kinderbetreuungsplätze gibt, im Revisionsverfahren zu überprüfen (b). 12 a) Der Anspruch der Klägerinnen auf Aufwendungsersatz ist ein Sekundäranspruch, der seiner Rechtsnatur nach dem Landesrecht angehört. Dies beruht darauf, dass der diesem zugrunde liegende (primäre) Leistungsanspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes auf einen Gesetzesbefehl des Landesrechts zurückgeht. Nach § 5 Abs. 1 des Kindertagesstättengesetzes des Landes Rheinland-Pfalz - KitaG - vom 15. März 1991 (GVBl S. 79) in der Fassung der Änderung durch das Gesetz vom 16. Dezember 2005 (GVBl S. 502) haben Kinder vom vollendeten zweiten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf Erziehung, Bildung und Betreuung im Kindergarten (Satz 1), wobei das Jugendamt zu gewährleisten hat, dass für jedes Kind rechtzeitig ein Kindergartenplatz in zumutbarer Entfernung zur Verfügung steht (Satz 2). Mit dem Wirksamwerden des Satzes 1 dieser Vorschrift ab dem 1. August 2010 ist in Rheinland-Pfalz ein Rechtsanspruch bereits für zweijährige Kinder eingeräumt worden, der nach der bundesrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des Oberverwaltungsgerichts nicht an weitere Voraussetzungen (wie etwa die Erwerbstätigkeit der Eltern) geknüpft ist. 13 Dem Bundesrecht ließ sich im hier maßgeblichen Zeitraum von April bis Oktober 2011, für den die Klägerinnen Aufwendungsersatz begehren, kein entsprechender Betreuungsanspruch für zweijährige Kinder entnehmen. Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch - SGB VIII - (Art. 1 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 <BGBl I S. 1163> in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Dezember 2006 <BGBl I S. 3134>, zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. Dezember 2008 <BGBl I S. 2403>) sah in § 24 Abs. 1 SGB VIII (a.F.) einen (unbedingten) Rechtsanspruch nur für Kinder ab dem vollendeten dritten Lebensjahr vor. Für Kinder unter drei Jahren enthielt das Bundesrecht lediglich eine Verpflichtung der Jugendhilfeträger, ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen vorzuhalten (§ 24 Abs. 2 SGB VIII a.F.), und begründete eine Förderungsverpflichtung nur unter bestimmten Voraussetzungen, wie etwa der Erwerbstätigkeit der Erziehungsberechtigten (§ 24 Abs. 3, § 24a Abs. 3 und 4 SGB VIII). Die Neuregelung des § 24 Abs. 3 SGB VIII (in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 <BGBl I S. 2022>), die ab dem 1. August 2013 einen Rechtsanspruch für Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, gewährt, ist hier noch nicht anwendbar. 14 Ist der maßgebliche Primäranspruch - hier auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes - landesrechtlicher Natur, so folgt daraus, dass auch die an seine Verletzung oder Nichterfüllung geknüpften sekundärrechtlichen Folgen dem Landesrecht zuzuordnen sind. Der Sekundäranspruch - hier auf Aufwendungsersatz gerichtet - teilt in aller Regel und so auch hier die Rechtsnatur des ihm zugrunde liegenden Leistungsanspruchs (vgl. etwa zum öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch und zum Anspruch aus öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag: Urteile vom 16. Mai 2000 - BVerwG 4 C 4.99 - BVerwGE 111, 162 <172> = Buchholz 316 § 56 VwVfG Nr. 13 S. 10 und vom 6. Oktober 1989 - BVerwG 8 C 52.87 - BVerwGE 82, 350 <351>; vgl. ferner Beschluss vom 3. Januar 1992 - BVerwG 6 B 20.91 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 240). 15 b) Soweit das Berufungsgericht Landesrecht ausgelegt und angewendet hat, ist das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich daran gebunden (§ 137 Abs. 1 VwGO, § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO). Es hat aber nachzuprüfen, ob die Vorinstanz eine irrevisible Norm des Landesrechts unter Verkennung von oder im Widerspruch zu Bundesrecht ausgelegt hat (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1987 - BVerwG 4 C 9.86 - BVerwGE 78, 347 <351> = Buchholz 310 § 42 VwGO Nr. 151 S. 9, vom 23. August 1994 - BVerwG 1 C 18.91 - BVerwGE 96, 293 <294 f.> = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 230 S. 15 und vom 21. September 2005 - BVerwG 6 C 16.04 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 40). Zudem ist eine revisionsgerichtliche Überprüfung auch dann eröffnet, wenn die Vorinstanz die Auslegung des irrevisiblen Rechts wesentlich vom Verständnis des Bundesrechts abhängig gemacht hat (vgl. Urteil vom 6. September 1984 - BVerwG 3 C 16.84 - BVerwGE 70, 64 <65> = Buchholz 415.16 § 28 BJagdG Nr. 1 S. 2 f.; Neumann, in: Sodan/Ziekow <Hrsg.>, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 137 Rn. 106). So liegt es hier. 16 Das Oberverwaltungsgericht hat sich bei seiner Prüfung des dem Landesrecht zuzuordnenden Sekundäranspruchs auf Aufwendungsersatz im Wesentlichen davon leiten lassen, wie dieser Anspruch im Bundesrecht entwickelt und konturiert wird. Daran anknüpfend ist es der Sache nach davon ausgegangen, dass das Landesrecht dem folge. Es hat sich mithin bei der Konkretisierung des landesrechtlichen Sekundäranspruchs wesentlich vom Verständnis des Bundesrechts abhängig gemacht. Dies erschließt sich insbesondere daraus, dass es im Hinblick auf den im Streit stehenden Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz keine spezifisch landesrechtlichen Erwägungen angestellt, sondern maßgeblich auf die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts herausgebildeten Grundsätze zum Jugendhilferecht des Bundes abgestellt und sich an diesen ausgerichtet hat. Soweit die Erwägungen des Berufungsgerichts Inhalt und Grenzen eines bundesrechtlichen Sekundäranspruchs betreffen, unterliegen sie der revisionsgerichtlichen Kontrolle. 17 2. Der vom Oberverwaltungsgericht angenommene Rechtssatz, dass aus dem Bundesrecht ein Sekundäranspruch abzuleiten ist, wonach unter bestimmten Voraussetzungen Aufwendungsersatz für selbstbeschaffte Leistungen der Jugendhilfe verlangt werden kann, wenn der Primäranspruch - hier auf Verschaffung eines Kinderbetreuungsplatzes - nicht erfüllt oder in rechtswidriger Weise verweigert wird, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Er beruht auf einer analogen Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. 18 a) Dem Oberverwaltungsgericht ist darin zuzustimmen, dass ein solcher bundesrechtlicher Rechtssatz ursprünglich in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt worden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Rechtsprechung sowohl zum Jugendwohlfahrts- und Jugendhilferecht als auch zum Sozialhilferecht stets angenommen, dass der Jugendhilfe- bzw. Sozialhilfeträger zur Übernahme der Kosten bereits durchgeführter selbstbeschaffter Hilfemaßnahmen verpflichtet sein kann (Beschluss vom 25. August 1987 - BVerwG 5 B 50.87 - Buchholz 436.51 § 5 JWG Nr. 2 = NVwZ-RR 1989, 252 m.w.N.). Besondere praktische Bedeutung erlangte dieser Anspruch auf Kostenübernahme für selbstbeschaffte Leistungen im Jugendhilferecht namentlich im Bereich der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Erziehung (vgl. Urteil vom 13. Juni 1991 - BVerwG 5 C 27.88 - Buchholz 436.51 § 6 JWG Nr. 13). Er war aber nicht darauf beschränkt, sondern erstreckte sich grundsätzlich auf alle Leistungen der Jugendhilfe. 19 Dies und die Voraussetzungen eines entsprechenden Sekundäranspruchs hat das Bundesverwaltungsgericht mit den Worten zum Ausdruck gebracht, „dass dann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Jugendhilfe vorlagen, erforderliche Maßnahmen aber nicht vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe, sondern von Dritten durchgeführt wurden, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe Jugendhilfe noch nachträglich leisten könne und müsse, indem er die Kosten der bereits durchgeführten Maßnahme übernimmt“ (Urteil vom 28. September 2000 - BVerwG 5 C 29.99 - BVerwGE 112, 98 <100> = Buchholz 436.511 § 35a KJHG/SGB VIII Nr. 3 S. 2). Der Jugendhilfeträger hat für diese Kosten aber nur dann aufkommen müssen, wenn der Hilfebedarf rechtzeitig an ihn herangetragen worden ist (Urteil vom 28. September 2000 a.a.O. <103> bzw. S. 5; bestätigt durch Urteil vom 11. August 2005 - BVerwG 5 C 18.04 - BVerwGE 124, 83 <86> = Buchholz 436.511 § 35a KJHG/SGB VIII Nr. 4 S. 10). Die Notwendigkeit, den Träger von Anfang an mit einzubeziehen, hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich daraus hergeleitet, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur in diesem Fall ihre aus § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben wie auch ihre Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB VIII nicht nur institutionell, sondern auch durch die Hilfegestaltung im individuellen Einzelfall wahrnehmen (Urteil vom 28. September a.a.O. <103> bzw. S. 4 f. unter Hinweis auf das Urteil vom 27. Januar 2000 - BVerwG 5 C 19.99 - BVerwGE 110, 320 = Buchholz 436.511 § 90 KJHG/SGB VIII Nr. 7 - Selbstbeschaffung eines Kinderkrippenplatzes). 20 Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Fachschrifttum wie auch von Berufungsgerichten zu Recht dahin verstanden worden, dass damit ein richterrechtliches Haftungsinstitut für das Jugendhilferecht konkretisiert worden ist. Danach ist eine Selbstbeschaffung mit der Folge eines (Sekundär-)Anspruchs auf Ersatz von Aufwendungen gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe grundsätzlich nur zulässig, wenn ein (Primär-)Anspruch auf die beschaffte Leistung bestanden hat, diese Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt worden ist (mithin ein „Systemversagen“ bei der Leistungsgewährung zu verzeichnen war) und es dem Leistungsberechtigten wegen der Dringlichkeit seines Bedarfs nicht zuzumuten war, die Bedarfsdeckung aufzuschieben (vgl. insbes. die Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 „Grund- und Strukturfragen“ des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., ZfJ 2003, 61 ff.; OVG Münster, Urteil vom 14. März 2003 - 12 A 1193/01 - NVwZ-RR 2003, 864 m.w.N.). Der Anwendungsbereich dieser Grundsätze ist im Fachschrifttum teilweise auch ausdrücklich und zu Recht auf die Selbstbeschaffung von Leistungen der Kinderbetreuung nach § 24 SGB VIII erstreckt worden (Fischer, JAmt 2002, 492 <493>). 21 b) Dem Oberverwaltungsgericht ist nicht darin beizupflichten, dass der Anspruch der Klägerinnen seine Grundlage in dem dargestellten richterrechtlichen Haftungsinstitut bei zulässiger Selbstbeschaffung findet. Dies folgt daraus, dass der Anspruch auf Aufwendungsersatz für selbstbeschaffte Leistungen im Jugendhilferecht nunmehr durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729) mit Wirkung zum 1. Oktober 2005 in § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII geregelt worden ist. Damit hat der Gesetzgeber der Sache nach im Wesentlichen den zuvor richterrechtlich begründeten Anspruch auf Aufwendungsersatz kodifiziert. In der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung wird ausdrücklich auf die zuvor genannte Rechtsprechung und Literatur Bezug genommen (nämlich auf das Urteil des Senats vom 28. September 2000 a.a.O., die Stellungnahme der Ständigen Fachkonferenz 1 a.a.O. und das Urteil des OVG Münster vom 14. März 2003 a.a.O.) und dazu ausgeführt, diese Rechtsprechung solle nunmehr im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit eine positiv-rechtliche Grundlage erfahren (BRDrucks 586/04 S. 45 und BTDrucks 15/3676 S. 26). 22 Die nunmehr geschaffene gesetzliche Grundlage geht dem richterrechtlichen Haftungsinstitut vor. Zwar ist § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hier nicht unmittelbar anzuwenden (aa). Jedoch liegen die Voraussetzungen einer analogen Anwendung vor (bb). Da die gesetzesübersteigende richterliche Rechtsfortbildung nur dann als zulässig erachtet werden kann, wenn die Lösung nicht im Wege der Auslegung oder der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung (etwa der Analogie) gefunden werden kann (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 426), haben ihr gegenüber die Formen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung Vorrang. 23 aa) Eine unmittelbare Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auf die Fälle der Selbstbeschaffung von Kindergartenplätzen scheidet aus. 24 Dies erschließt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII bezieht sich auf „Hilfen“ und erfasst damit nicht alle der in § 2 Abs. 2 SGB VIII aufgelisteten Leistungen der Jugendhilfe, sondern nur solche, die sich als Hilfen im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 4 bis 6 SGB VIII darstellen, also nicht zu der Leistungsform der Angebote (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 SGB VIII) gehören. Bei den Regelungen über die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (§ 22 ff. SGB VIII) handelt es sich um die zuletzt genannte Kategorie (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII). 25 Auch die systematische Stellung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII im Vierten Abschnitt des Gesetzes spricht in gewichtiger Weise dafür, dass diese Vorschrift unmittelbar nur die in diesem Abschnitt geregelten Hilfen, nicht aber die im Dritten Abschnitt normierten Angebote erfasst. Zudem lassen die Gesetzesmaterialien erkennen, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 36a SGB VIII die Hilfen im Auge hatte und insbesondere die Selbstbeschaffung von Leistungen der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) begrenzen wollte (BTDrucks 15/3676 S. 36). 26 bb) § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist jedoch auf jugendhilferechtliche Leistungen, welche die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege betreffen, entsprechend anzuwenden. Die Voraussetzungen eines Analogieschlusses sind erfüllt. 27 Jede Art der gesetzesimmanenten richterlichen Rechtsfortbildung - hier die Analogie - setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (vgl. Urteile vom 18. April 2013 - BVerwG 5 C 18.12 - NJW 2013, 2457 Rn. 22 und zur Veröffentlichung in Buchholz vorgesehen, vom 15. November 2012 - BVerwG 3 C 12.12 - LKV 2013, 78 Rn. 19 und vom 20. Mai 1999 - BVerwG 3 C 3.98 - Buchholz 451.512 MGVO Nr. 134 S. 5). Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen. Ob eine Gesetzeslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den gesetzlichen Vorschriften tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut der Vorschrift nicht alle Fälle erfasst, die nach dem Sinn und Zweck der Regelung erfasst sein sollten (vgl. Urteil vom 18. April 2013 a.a.O. Rn. 22 m.w.N.). 28 (1) Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch weist die danach vorausgesetzte Gesetzeslücke auf. Der in Rede stehende Sachverhalt, ob und welche Rechtsfolgen das Bundesrecht daran knüpft, wenn ein Rechtsanspruch auf Verschaffung eines Kinderbetreuungsplatzes nicht erfüllt und die Leistung selbst beschafft wird, wird weder unmittelbar von § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII noch von einer sonstigen gesetzlichen Bestimmung des Kinder- und Jugendhilferechts erfasst. 29 (a) Der Einwand der Beklagten, dass mit § 90 Abs. 3 SGB VIII eine selbständige und abschließende Sonderregelung zur Kostentragung für das Kindergartenrecht bestehe, verfängt insoweit nicht. Nach dieser Vorschrift soll im Falle des Abs. 1 Nr. 3 (der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege nach den §§ 22 bis 24 SGB VIII) der Kostenbeitrag auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder ein Teilnahmebeitrag auf Antrag ganz oder teilweise vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Für die Feststellung der zumutbaren Belastung kommt es auf das maßgebliche Einkommen an (§ 90 Abs. 4 SGB VIII). 30 Diese Regelung ist nicht auf die Fälle der Selbstbeschaffung von Kinderbetreuungsplätzen wegen Systemversagens zugeschnitten. Vielmehr bezieht sich der Übernahmeanspruch nach § 90 Abs. 3 SGB VIII auf eine andere Sachlage. Er setzt im Wesentlichen die Unzumutbarkeit der Belastung voraus und ist neben der sozialen Staffelung (§ 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) eine weitere soziale Komponente der Ausgestaltung der Kostenbeteiligung der Eltern (vgl. etwa Wiesner, in: ders. <Hrsg.>, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 90 Rn. 20). 31 Soweit das Bundesverwaltungsgericht - worauf die Beklagte hinweist - im Urteil vom 25. April 2002 (- BVerwG 5 C 16.01 - Buchholz 436.511 § 90 KJHG/SGB VIII Nr. 9) ausgeführt hat, dass nach der Systematik des Gesetzes die Kostenbeteiligung für die in § 90 SGB VIII bezeichnete Inanspruchnahme von Angeboten der Jugendhilfe abschließend in dieser Vorschrift geregelt sei, beziehen sich diese Ausführungen allein auf die Kostenbeteiligung der Eltern und damit auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Eltern einen Kostenbeitrag zu zahlen oder Anspruch auf Erlass dieses Beitrags haben bzw. seine Übernahme durch den Jugendhilfeträger beanspruchen können. Für die hier in Rede stehende Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Aufwendungsersatzanspruch daran geknüpft ist, wenn der Primäranspruch des Kindes auf Verschaffung eines Betreuungsplatzes von dem Träger der Jugendhilfe nicht erfüllt worden ist, ist damit keine Aussage getroffen worden. 32 (b) Dies gilt auch für die gesetzlich normierten Erstattungsansprüche für selbstbeschaffte Leistungen bei Systemversagen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 13 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V -) und im Schwerbehindertenrecht (§ 15 Abs. 1 Satz 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX -). Diese betreffen andere Regelungsbereiche und bieten keine Anhaltspunkte dafür, dass ihnen für den Bereich des Jugendhilferechts Aussagekraft zukommen soll. 33 (c) Eine gesetzliche Regelungslücke kann schließlich auch nicht deshalb abgelehnt werden, weil - wie die Beklagte meint - das Staatshaftungsrecht allgemeine Haftungsinstitute wie den Folgenbeseitigungsanspruch und die Amtshaftung vorsieht. Aus der Existenz des Amtshaftungsanspruchs (Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB), der ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten eines Amtswalters voraussetzt und nicht nur Aufwendungs-, sondern weiterreichenden Schadensersatz gewährt, ist wegen dieser Unterschiede für die Frage, ob eine gesetzliche Regelungslücke im Hinblick auf einen verschuldensunabhängigen, an ein Systemversagen bei der Erfüllung von Kinderbetreuungsplätzen anknüpfenden Sekundäranspruch besteht, nichts herzuleiten. Auch die Existenz von ungeschriebenen allgemeinen Haftungsinstituten wie des Folgenbeseitigungsanspruchs gibt keine Antwort auf die Frage, ob das Gesetz in einem bestimmten Bereich - wie hier im Bereich der Nichterfüllung von jugendhilferechtlichen Ansprüchen auf Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen - Unvollständigkeiten aufweist. 34 (2) Die festgestellte Gesetzeslücke stellt sich auch als planwidrig dar. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist § 36a Abs. 3 SGB VIII nicht als abschließende Spezialregelung für das gesamte Jugendhilferecht zu begreifen, die eine Ausdehnung des Erstattungsanspruchs auf Leistungen des Kinder- und Jugendhilferechts, die nicht unmittelbar Gegenstand der Vorschrift sind, ausschließt. Vielmehr entspricht es dem Plan des Gesetzgebers, den Erstattungsanspruch auch auf die Fälle der Nichterfüllung eines Anspruchs auf Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege anzuwenden. Dies erschließt sich vor allem aus den in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Intentionen. 35 Der Gesetzgeber verfolgte mit der Schaffung des § 36a Abs. 3 SGB VIII - wie oben aufgezeigt - das Ziel, die Rechtsprechung zum Anspruch auf Aufwendungsersatz im Fall der Selbstbeschaffung von Leistungen im Jugendhilferecht zu kodifizieren. Mit dem Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen hat der Gesetzgeber im Vergleich zur früheren Rechtslage keine Schlechterstellung der Berechtigten bezweckt (Urteil vom 1. März 2012 - BVerwG 5 C 12.11 - BVerwGE 142, 115 = Buchholz 436.511 § 33 SGB VIII Nr. 2 jeweils Rn. 23). Da das richterliche Haftungsinstitut - wie oben ebenfalls dargelegt - auch die sekundärrechtlichen Folgen eines enttäuschten (Primär-)Anspruchs auf Kinderbetreuung umfasste, bleibt § 36a Abs. 3 SGB VIII insoweit hinter dem Plan des Gesetzgebers zurück. 36 (3) Die planwidrige Lücke ist durch analoge Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu schließen. Die Rechtsfolge des Aufwendungsersatzanspruchs ist auf den hier zur Beurteilung stehenden Sachverhalt übertragbar, weil eine vergleichbare Sach- und Interessenlage zu den geregelten Fällen besteht. 37 Kennzeichnend für die in § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII normierten Fälle ist, dass ein gesetzlicher Primäranspruch, der keine bloße Geldleistung, sondern eine Sach- und Dienstleistung zum Gegenstand hat (nämlich insbesondere der Anspruch auf Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Erziehung) nicht erfüllt wird und diejenigen, die sich die unaufschiebbar notwendige Leistung, deren Gewährung der Jugendhilfeträger zu Unrecht abgelehnt oder über die er nicht rechtzeitig entschieden hat, selbstbeschaffen, nicht schlechter stehen sollen als diejenigen, deren Leistungsbegehren rechtzeitig erfüllt worden ist (vgl. Urteil vom 1. März 2012 a.a.O. Rn. 23). Weil der Anspruch (etwa auf Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Erziehung) mit Zeitablauf nicht mehr erfüllt werden kann, verhindert der Betroffene durch die Selbstbeschaffung den Verlust der Leistung. Es würde gegen die gesetzliche Gewährung des Rechtsanspruchs verstoßen, wenn der Hilfebedürftige seinen Anspruch allein deshalb verlieren würde, weil er die ihm zustehende Hilfe nicht rechtzeitig vom Leistungsträger erhalten hat (vgl. bereits die Rechtsprechung des Senats zum Sozialhilferecht: Urteil vom 23. Juni 1994 - BVerwG 5 C 26.92 - BVerwGE 96, 152 <155> = Buchholz 436.0 § 5 BSHG Nr. 12 S. 4). 38 Die Sach- und Interessenlage, die besteht, wenn der Jugendhilfeträger einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt, ist der zuvor beschriebenen ähnlich und mit ihr wertungsmäßig vergleichbar. Die Kinderbetreuung, die - trotz Rechtsanspruchs - nicht für den Zeitraum gewährt wird, für den sie begehrt wird, lässt sich nicht verschieben, sondern bleibt für diesen Zeitraum in irreversibler Weise unerfüllt; der Anspruch auf Zuweisung eines real verfügbaren Platzes erledigt sich durch Zeitablauf (vgl. Rixen, NJW 2012, 2839 <2841>; Schübel-Pfister, NVwZ 2013, 385 <390>). Soweit der Primäranspruch auf einen Betreuungsplatz nicht auf andere Weise rechtzeitig durchgesetzt werden kann, ist der Betroffene - wenn er den endgültigen Anspruchsverlust verhindern will - auf eine Selbstbeschaffung verwiesen, die es ihm dann noch ermöglicht, den Bedarf zu decken und zumindest die erforderlichen Aufwendungen hierfür erstattet zu bekommen. 39 Wegen der ähnlichen Sach- und Interessenlage ist der Analogieschluss auch auf alle Tatbestandsmerkmale, die 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII an die Rechtsfolge des Aufwendungsersatzanspruchs knüpft, sinngemäß zu erstrecken. Das gilt insbesondere für das Merkmal, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Bedarf in Kenntnis gesetzt haben muss (Nr. 1). Die Bedeutung dieses Merkmals und seine Notwendigkeit, es als Voraussetzung für einen entsprechend hergeleiteten Aufwendungsersatzanspruch anzusehen, erschließt sich aus dem systematischen Zusammenhang des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu Absatz 1 dieser Vorschrift. Gesetzlicher Leitgedanke des § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist die Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers. Nach dieser Regelung hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann zu tragen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Der Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass es nicht dem gesetzlichen Auftrag des Jugendhilfeträgers entspricht, nur „Zahlstelle“ und nicht Leistungsträger zu sein. Das Jugendhilferecht zielt auf eine partnerschaftliche Hilfe unter Achtung familiärer Autonomie und auf kooperative pädagogische Entscheidungsprozesse. Nur wenn die Eltern bzw. der Hilfeempfänger grundsätzlich den Träger der Jugendhilfe von Anfang an in den Entscheidungsprozess einbeziehen, kann er seine aus § 36a Abs. 1, § 79 Abs. 1 SGB VIII folgende Gesamtverantwortung für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben und die Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGB VIII wahrnehmen (Urteil vom 18. Oktober 2012 - BVerwG 5 C 21.11 - BVerwGE 145, 1 = Buchholz 436.511 § 36a SGB VIII Nr. 2 jeweils Rn. 31; Beschluss vom 22. Mai 2008 - BVerwG 5 B 130.07 - JAmt 2008, 600). 40 Der genannte Gedanke, dass eine Vorbefassung des Trägers der Jugendhilfe erforderlich ist, bevor ein Bedarf im Wege der Selbstbeschaffung gedeckt wird, greift auch für die Ansprüche auf Kinderbetreuung. Auch im Hinblick auf die Verpflichtung zur Erfüllung dieser Rechtsansprüche hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe - unabhängig davon, ob der Anspruch im Bundesrecht oder wie hier im Landesrecht (§ 5 Abs. 1 KitaG) wurzelt - seine Gewährleistungspflicht zunächst durch eine bedarfsgerechte Planung entsprechend den objektivrechtlichen Vorgaben der §§ 79, 80 SGB VIII zu erfüllen und dabei bereits das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern zu berücksichtigen. Der Jugendhilfeträger trägt so für die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots die Gesamtverantwortung, der er etwa durch die Finanzierung von Betreuungsplätzen kommunaler Träger und durch finanzielle Förderung nichtstaatlicher (freier) Träger nachkommt. 41 3. Das angefochtene Urteil ist auch im Übrigen revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. 42 a) Soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgeht, dass der an die Nichterfüllung des landesrechtlichen Verschaffungsanspruchs anknüpfende Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz dem bundesrechtlichen Maßstab folgt, unterliegt dies ebenso wenig der revisionsgerichtlichen Kontrolle wie seine Prüfung, ob im konkreten Fall die Voraussetzungen des landesrechtlichen Aufwendungsersatzanspruchs erfüllt sind. Dies entzieht sich grundsätzlich der revisionsgerichtlichen Überprüfung, weil es sich insoweit um die Anwendung von Landesrecht handelt. 43 b) Der Einwand der Beklagten, das Oberverwaltungsgericht habe jedenfalls der Klägerin zu 1 zu Unrecht einen Aufwendungsersatzanspruch zugebilligt, weil der Primäranspruch auf Verschaffung eines Kindergartenplatzes nach den gesetzlichen Regelungen nur dem Kind und nicht den sorgeberechtigten Personen zustehe, begründet ebenfalls nicht die Annahme eines Bundesrechtsverstoßes. 44 aa) Die auf der Auslegung und Anwendung des § 5 Abs. 1 KitaG beruhende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, dass auch die Klägerin zu 1 als Sorgeberechtigte nach dieser Vorschrift anspruchsberechtigt sei, ist als Auslegung irrevisiblen Landesrechts für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend, § 137 Abs. 1 VwGO, § 173 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO (Urteil vom 21. September 2005 - BVerwG 6 C 16.04 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 40). 45 Das Oberverwaltungsgericht hat die Anspruchsberechtigung der Sorgeberechtigten vorrangig auf landesrechtliche Erwägungen gestützt. Es hat dazu in den Urteilsgründen ausgeführt, zwar ergebe sich aus dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 KitaG, dass der Rechtsanspruch auf einen Kindertagesstättenplatz zunächst dem Kind eingeräumt sei. Er stehe nach der gesetzlichen Konzeption aber ebenso den Sorgeberechtigten zu. Maßgeblich dafür sei nicht ihre Befreiung von dem verhältnismäßig geringen Anteil an den Personalkosten in der Form des Elternbeitrags (§ 13 Abs. 2 KitaG), sondern die Begünstigung durch die Inanspruchnahme einer durch öffentliche Mittel hoch subventionierten Einrichtung. 46 bb) Eine revisionsgerichtliche Prüfung ist auch nicht deshalb eröffnet, weil sich das Oberverwaltungsgericht für seine Auslegung des Landesrechts im Wesentlichen vom Bundesrecht hätte leiten lassen (vgl. Urteil vom 6. September 1984 - BVerwG 3 C 16.84 - BVerwGE 70, 64 = Buchholz 415.16 § 28 BJagdG Nr. 1) oder weil es von der Annahme ausgegangen wäre, es sei an Bundesrecht gebunden und müsse aufgrund eines bundesrechtlichen Rechtsanwendungsbefehls § 5 Abs. 1 KitaG im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung genauso auslegen wie eine bundesrechtliche Vorschrift (vgl. Urteile vom 18. Mai 1977 - BVerwG 8 C 44.76 - BVerwGE 54, 54 <56 f.> = Buchholz 454.51 MRVerbG Nr. 1 S. 2 f. und vom 16. Januar 2003 - BVerwG 4 CN 8.01 - BVerwGE 117, 313 <317> = Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 160 S. 96). 47 Zwar hat das Oberverwaltungsgericht auch eine im entscheidungserheblichen Zeitraum geltende bundesrechtliche Regelung ausgelegt und dabei zu Unrecht angenommen, dass Anspruchsinhaber nach § 24 Abs. 1 SGB VIII a.F. nicht nur das Kind, sondern auch die sorgeberechtigte Person gewesen sei. Letzteres trifft nicht zu, weil nach dem unmissverständlichen Wortlaut dieser Vorschrift ausdrücklich und allein das Kind als Berechtigter genannt wird. Dies lässt sich auch im Hinblick auf die Systematik des SGB VIII, Rechtsansprüche entweder dem Kind bzw. Jugendlichen (wie etwa bei Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII) oder den personensorgeberechtigten Eltern (wie etwa bei der Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII) zuzuweisen, nur als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers interpretieren, allein dem Kind den Anspruch nach § 24 Abs. 1 SGB VIII a.F. auf Verschaffung eines Betreuungsplatzes zu vermitteln. Soweit das Oberverwaltungsgericht diese bundesrechtliche Anspruchsberechtigung verkannt hat, wirkt sich dies hier jedoch nicht aus. 48 Das Oberverwaltungsgericht gelangt zu der in Rede stehenden Anspruchsberechtigung eigenständig tragend auch durch rein landesrechtlich ausgerichtete Erwägungen. Maßgeblich sei die Begünstigung der Eltern durch die Inanspruchnahme einer durch öffentliche Mittel hoch subventionierten Einrichtung. Das Oberverwaltungsgericht legt insoweit sowohl die bundesrechtliche als auch die landesrechtliche Anspruchsgrundlage - mit gleichem Ergebnis - parallel aus. 49 cc) Schließlich ist die Auslegung des § 5 Abs. 1 KitaG auch nicht deswegen revisionsgerichtlich zu beanstanden, weil das Bundesrecht ein anderes als das vom Oberverwaltungsgericht vertretene Ergebnis gebieten würde (vgl. Urteil vom 23. August 1994 - BVerwG 1 C 18.91 - BVerwGE 96, 293 <294 f.> = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 230 S. 15). Denn eine einschränkende bundesrechtskonforme Auslegung war weder im Hinblick auf einfaches noch auf Verfassungsrecht des Bundes erforderlich. Vielmehr ist der Landesgesetzgeber gemäß § 24 Abs. 6 SGB VIII frei darin, weitergehende Begünstigungen als der Bund zu gewähren. Denn nach dieser Vorschrift bleibt weitergehendes Landesrecht unberührt. 50 c) Ein Bundesrechtsverstoß ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses auf einen Grundsatz vom Vorrang des verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes verweisen und dazu geltend machen, ein Aufwendungsersatzanspruch sei hier ausgeschlossen, weil es die Klägerinnen versäumt hätten, den Verschaffungsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO durchzusetzen. 51 Ob die Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes eine Voraussetzung des landesrechtlichen Sekundäranspruchs auf Aufwendungsersatz darstellt und ob diese etwaige Voraussetzung im konkreten Fall erfüllt ist, ist als Auslegung und Anwendung von Landesrecht der revisionsgerichtlichen Überprüfung grundsätzlich nicht zugänglich. Darüber hinaus ist es zweifelhaft, ob im Rahmen des Anspruchs auf Aufwendungsersatz nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die vorherige Inanspruchnahme von Eilrechtsschutz geboten ist. Im Wortlaut des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, der nur verlangt, dass die Deckung des Bedarfs durch die selbstbeschaffte Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet haben darf und der dabei zwischen dem Fall der Bedarfsdeckung bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung (Buchst. a) und dem Fall bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung (Buchst. b) unterscheidet, hat das Erfordernis des Eilrechtsschutzes keinen Ausdruck gefunden. 52 Diese Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung, weil jedenfalls gegen die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass das Nachsuchen um vorläufigen Rechtsschutz nur dann verlangt werden kann, wenn es dem Betroffenen zumutbar ist, bundesrechtlich nichts zu erinnern ist. Selbst beim Amtshaftungsanspruch, bei dem der grundsätzliche Vorrang des primären gerichtlichen Rechtsschutzes in deutlicher Form in § 839 Abs. 3 BGB niedergelegt ist, wird die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz nur verlangt, wenn durch diese eine rechtzeitige Abhilfe überhaupt erwartet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 1995 - III ZR 71/93 - BGHZ 128, 346 <358>; s. auch BVerwG, Urteil vom 28. Mai 1998 - BVerwG 2 C 29.97 - BVerwGE 107, 29 <32 f.> = Buchholz 232 § 23 BBG Nr. 40 S. 3). Dies war jedoch nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht der Fall. Es hat dazu ausgeführt, dass eine Abhilfe auch dann nicht zu erwarten gewesen wäre, wenn die Sorgeberechtigten von Anfang an versucht hätten, den Primäranspruch im Verwaltungsrechtsweg durchzusetzen. 53 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2011-42
26.05.2011
Pressemitteilung Nr. 42/2011 vom 26.05.2011 EN Gerichtlicher Vergleichsvorschlag im Verfahren über das Verbot des Vereins Internationale Humanitäre Hilfsorganisation beschlossen Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das in erster und letzter Instanz für nach dem Vereinsgesetz erlassene Verbote des Bundesministeriums des Innern zuständig ist, hat in der mündlichen Verhandlung über die Klage des Vereins Internationale Humanitäre Hilfsorganisation (IHH) gegen das von dem Bundesministerium unter dem 23. Juni 2010 erlassene Vereinsverbot den Beteiligten einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Der Kläger ist ein in Deutschland ansässiger Verein, der seinen Zweck darin sieht, weltweit humanitäre Hilfe zu leisten; unter anderem unterstützt er Projekte in Palästina. Nach Einschätzung des Bundesministeriums des Innern richtet sich der Kläger gegen den Gedanken der Völkerverständigung und erfüllt dadurch einen vereinsrechtlichen Verbotsgrund. Denn er verwirkliche die Projekte in Palästina mit Hilfe dort ansässiger Sozialvereine, die der HAMAS zuzuordnen seien. Dadurch unterstütze er mittelbar die von HAMAS gegen Israel ausgeübte Gewalt. Der Kläger hält dem unter anderem entgegen, dass er ausschließlich humanitäre Zwecke verfolge und sich mit den Gewalttaten der HAMAS nicht identifiziere. Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beteiligten folgenden Vergleich vorgeschlagen: 1. Der Kläger verpflichtet sich, bis zum 30. Juni 2014 keine für die palästinensischen Gebiete im Gazastreifen und im Westjordanland (Westbank) bestimmten Hilfeleistungen zu erbringen. Der Kläger verpflichtet sich weiter, bis zum 31. Januar eines jeden Jahres eine Aufstellung seiner Einnahmen und Ausgaben des Vorjahres bei dem Bundesministerium des Innern vorzulegen. 2. Die Beklagte setzt die Verfügung vom 23. Juni 2010 außer Vollzug, solange der Kläger seine Verpflichtungen aus Ziffer 1 des Vergleichs einhält. 3. Die Verfügung vom 23. Juni 2010 tritt am 30. Juni 2014 außer Kraft, wenn der Kläger bis dahin seine Verpflichtungen aus Ziffer 1 des Vergleichs eingehalten hat. Für den Fall, dass die Beteiligten den Vergleich nicht annehmen, hat das Bundesverwaltungsgericht Termin zur Verkündung einer Entscheidung in der Sache auf Mittwoch, den 22. Juni 2011, 9.30 Uhr festgesetzt. BVerwG 6 A 2.10 - Beschluss vom 25.05.2011
BundesverwaltungsgerichtBVerwG, Beschluss vom 25. 5. 2011 – 6 A 2.10 (lexetius.com/2011,2598)[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 25. Mai 2011 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Graulich, Vormeier, Dr. Bier und Dr. Möller beschlossen:[2] I. Der Senat schlägt den Beteiligten gemäß § 106 Satz 2 VwGO zur Erledigung des Rechtsstreits folgenden Vergleich vor:1. Der Kläger verpflichtet sich, bis zum 30. Juni 2014 keine für die palästinensischen Gebiete im Gazastreifen und im Westjordanland (Westbank) bestimmten Hilfeleistungen zu erbringen. Der Kläger verpflichtet sich weiter, bis zum 31. Januar eines jeden Jahres eine Aufstellung seiner Einnahmen und Ausgaben des Vorjahres bei dem Bundesministerium des Innern vorzulegen.2. Die Beklagte setzt die Verfügung vom 23. Juni 2010 außer Vollzug, solange der Kläger seine Verpflichtungen aus Ziffer 1 des Vergleichs einhält.3. Die Verfügung vom 23. Juni 2010 tritt am 30. Juni 2014 außer Kraft, wenn der Kläger bis dahin seine Verpflichtungen aus Ziffer 1 des Vergleichs eingehalten hat.4. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass mit dem Wirksamwerden des Vergleichs das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes BVerwG 6 VR 4.10 in der Hauptsache erledigt ist.5. Die Beteiligten stellen die Entscheidung über die Kosten des Klageverfahrens und des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens in das Ermessen des Gerichts.[3] II. Der Vergleich wird wirksam, wenn er bis zum 21. Juni 2011 durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Gericht angenommen wird.[4] III. Für den Fall, dass der Vergleich nicht angenommen wird, wird Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf Mittwoch, den 22. Juni 2011, 9. 30 Uhr im Sitzungssaal III festgesetzt.[5] Gründe: 1. Die Beklagte hat sich zur Begründung des Vereinsverbots maßgeblich auf die Grundsätze des Urteils des Senats vom 3. Dezember 2004 – BVerwG 6 A 10.02 – (Buchholz 402. 45 VereinsG Nr. 41 = NVwZ 2005, 1435) gestützt. In diesem Urteil hat der Senat festgestellt: Zahlreiche der in den palästinensischen Gebieten des Gazastreifens und der Westbank (Westjordanland) tätigen Sozialvereine – unter ihnen die Islamic Society im Gazastreifen und die Islamic Charitable Society Hebron in der Westbank – sind Teil des Gesamtgefüges der HAMAS. Die HAMAS übt Gewalttaten gegenüber Israel und israelischen Staatsbürgern aus, beeinträchtigt die friedliche Verständigung des israelischen und des palästinensischen Volkes und richtet sich deshalb gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Durch Zuwendungen an die Sozialvereine der HAMAS werden auch bei einer der sozialen Zwecksetzung entsprechenden Verwendung der Hilfeleistungen unmittelbar die HAMAS und mittelbar ihre terroristischen Aktivitäten und die von ihr in das Verhältnis zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk hineingetragene Gewalt unterstützt. Findet diese Unterstützung seitens einer Vereinigung über einen langen Zeitraum und in beträchtlichem Umfang statt, liegt darin eine schwerwiegende, ernste und nachhaltige Beeinträchtigung des Gedankens der Völkerverständigung, die die objektiven Voraussetzungen des Vereinsverbots gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 VereinsG i. V. m. Art. 9 Abs. 2 Alt. 3 GG erfüllt. Die subjektiven Voraussetzungen sind gegeben, wenn bei der unterstützenden Vereinigung die den objektiven Verbotstatbestand begründenden Umstände bekannt sind und die Vereinigung sich mit der HAMAS einschließlich der von dieser Organisation ausgehenden Gewalttaten identifiziert und die gewalttätigen Handlungen nicht nur in Kauf nimmt.[6] 2. Nach diesen Maßstäben hat der Kläger den objektiven Tatbestand des Verbotsgrunds aus § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 VereinsG i. V. m. Art. 9 Abs. 2 Alt. 3 GG nicht durch seine Unterstützung der Al-Khidmat Foundation in Pakistan, der Charitable Society for Social Welfare im Jemen, der Islamic Dawa Association im Sudan und des Vereins Cansuyu in der Türkei verwirklicht. Die Beklagte hat nicht festgestellt, dass diese Gruppierungen Teile der HAMAS sind. Wenn die Gruppierungen, wie die Beklagte annimmt, die HAMAS unterstützen, wäre eine in ihrer Förderung durch den Kläger enthaltene Unterstützung der HAMAS mittelbar nicht nur hinsichtlich der terroristischen Aktivitäten der HAMAS, sondern auch im Hinblick auf die HAMAS selbst. Es bestehen keine geeigneten Anhaltspunkte dafür, dass gleichwohl die Unterstützung der HAMAS durch jene Gruppierungen dem Kläger als eigener hinreichend gewichtiger Beitrag zur Beeinträchtigung des Gedankens der Völkerverständigung zugerechnet werden könnte.[7] 3. Zweifelhaft ist, ob der Kläger durch seine Unterstützung der in der Westbank tätigen Islamic Charitable Society Hebron bzw. die Zusammenarbeit mit dieser die objektiven Voraussetzungen für ein auf § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 VereinsG i. V. m. Art. 9 Abs. 2 Alt. 3 GG gestütztes Verbot im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verbotsverfügung noch erfüllt hat.[8] Der Kläger hat den Indizien, die die Beklagte zum Beleg für ihre Einschätzung beigebracht hat, dass die von dem Senat in seinem Urteil vom 3. Dezember 2004 festgestellte Verbindung zwischen der Islamic Charitable Society Hebron und der HAMAS nach wie vor bestehe, beachtliche Einwände entgegengehalten. Ein besonders gewichtiger Einwand betrifft den Umstand, dass sich an der Spitze der Islamic Charitable Society Hebron seit dem Jahr 2008 der Richter Hatim al-Bakri befindet und es belastbare Hinweise dafür gibt, dass dieser Vorsitzende dem palästinensischen Präsidenten Mahmut Abbas und der in der Westbank regierenden Fatah, nicht hingegen der mit der Fatah seit dem Jahr 2007 und bis vor kurzem verfeindeten HAMAS nahesteht. Auch die Beklagte hat vorgetragen, dass die israelische Armee und die Palästinensische Autonomiebehörde vor allem im Jahr 2008 Maßnahmen ergriffen haben, deren Ziel darin bestanden habe, die Kontrolle der HAMAS über die Islamic Charitable Society Hebron zu brechen und HAMAS-Mitglieder aus führenden Positionen des Vereins herauszudrängen. Es spricht einiges dafür, dass diese Maßnahmen im Sinne ihrer Urheber Erfolg hatten. Fraglich ist, ob die Beklagte das Verbot des Klägers unabhängig hiervon auch deshalb auf die Förderung der Islamic Charitable Society Hebron durch den Kläger stützen kann, weil sie ihm vorwirft, bereits seit dem Jahr 2001 und damit auch während der Zeit mit der Islamic Charitable Society Hebron zusammengearbeitet zu haben, zu der hochrangige HAMAS-Funktionäre den Vorsitz innehatten. Denn der Kläger hat jedenfalls seine Unterstützung des Sozialvereins nicht wegen eines dort eingetretenen Machtwechsels eingestellt.[9] 4. Hingegen spricht Überwiegendes dafür, mit der Beklagten eine objektive Beeinträchtigung des Gedankens der Völkerverständigung darin zu sehen, dass der Kläger die Islamic Society im Gazastreifen bzw. eine Nachfolgeorganisation unterstützt und zusammen mit diesen projektbezogene Hilfeleistungen erbracht hat.[10] Die Zugehörigkeit der Islamic Society zur Hamas hat der Senat in seinem Urteil vom 3. Dezember 2004 festgestellt. Die Annahme, diese Verbindung habe sich aufgelöst, ist im Ergebnis nicht gerechtfertigt.[11] Allerdings hatte der Kläger, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verbotsverfügung vom 23. Juni 2010 seine Kooperation mit der Islamic Society bereits seit ca. drei Monaten beendet und in Gestalt des Vereins Salam einen neuen Partner gewonnen. Bezogen auf diesen Zeitraum hätte der Kläger nur dann noch einen Sozialverein der HAMAS unterstützt, wenn Salam die Funktion einer Tarn- bzw. Ersatzorganisation für die Islamic Society erfüllt hätte. Dass dies der Fall war, könnte vorbehaltlich einer abschließenden Beurteilung etwa aus personellen Verknüpfungen zwischen der Islamic Society und Salam sowie dem binnen kurzer Frist bewerkstelligten Aufgabenübergang von der einen auf die andere Organisation geschlossen werden.[12] 5. Gemessen an den in dem Urteil des Senats vom 3. Dezember 2004 niedergelegten Grundsätzen ist zweifelhaft, ob der Kläger die subjektiven Voraussetzungen des Verbotstatbestands insgesamt erfüllt. Die Erfüllung des objektiven Verbotstatbestands und die grundsätzliche Erforderlichkeit subjektiver Verbotsvoraussetzungen unterstellt, bestehen zwar gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger um die den Vorwurf einer Unterstützung der HAMAS begründenden Umstände wusste (a)). Hingegen ist fraglich, ob sich der Kläger mit der HAMAS einschließlich der von ihr ausgehenden Gewalttaten identifiziert hat (b)).[13] a) Die Annahme, das Führungspersonal des Klägers sei sich darüber im Klaren gewesen, dass die Islamic Society Jabaliya nur eine Zweigstelle der im gesamten Gazastreifen operierenden Islamic Society ist, liegt nahe. Dieser Status ergibt sich hinreichend deutlich aus einer Vielzahl von Unterlagen, die den für den Kläger handelnden Personen und hier insbesondere seinem Vorstand bekannt waren und in der Mehrzahl von dem Kläger selbst im Gerichtsverfahren vorgelegt worden sind.[14] Weiter wird die Zugehörigkeit der Islamic Society und der Islamic Charitable Society Hebron zur HAMAS in dem Urteil des Senats vom 3. Dezember 2004 ausführlich begründet. Es gibt konkrete Hinweise darauf, dass dieses Urteil mit seinen wesentlichen Begründungsstrukturen dem Vorsitzenden des Klägers bekannt war. Auch wäre voraussichtlich jedenfalls in diesem Zusammenhang zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen, dass sich in seinem Kuratorium rechtskundige Funktionäre der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs befinden.[15] Schließlich dürfte im Ansatz wenig dafür sprechen, dass sich der Kläger durch den Verweis auf Kooperationen anderer Organisationen mit den in Rede stehenden Sozialvereinen entlasten kann. Dies gilt auch für seinen Einwand, nach der Machtübernahme der HAMAS im Gazastreifen habe die Möglichkeit, Hilfeleistungen in Kooperation mit einer nicht dem Herrschaftsbereich der HAMAS zuzuordnenden Organisation zu erbringen, nicht mehr bestanden. Dieser Einwand dürfte zudem der Sache nach fehl gehen. Denn im Gazastreifen sind nach wie vor auch internationale Organisationen mit eigenen Mitarbeiterstäben – insbesondere UNRWA – tätig. Eine etwaige Kooperation deutscher und europäischer öffentlicher Stellen mit Verwaltungsstellen im Gazastreifen, die unter Umständen mit HAMAS-Mitgliedern besetzt, jedoch nicht Teil der HAMAS sind, dürfte nicht mit einer direkten Unterstützung der HAMAS durch einen privaten Verein wie den Kläger vergleichbar sein.[16] b) Indizien für eine Identifikation der verbotenen Vereinigung mit der HAMAS und der von ihr ausgehenden Gewalttaten in einer dem Urteil des Senats vom 3. Dezember 2004 vergleichbaren Fülle und Gewichtigkeit bietet der zur Entscheidung stehende Fall nicht. Zu prüfen wird sein, ob insoweit darauf abgestellt werden kann, dass der Kläger mit den Sozialvereinen in den palästinensischen Gebieten lang andauernd und auch in – an dieser Stelle unterstellter – Kenntnis des Urteils des Senats vom 3. Dezember 2004 zusammengearbeitet hat. Gegen die beschriebene Identifikation lässt sich vor allem anführen, dass die Hilfeleistungen in den palästinensischen Gebieten nur einen Teil der weltweit ausgerichteten Hilfstätigkeit des Klägers ausmachen. Gleich gewichtig käme für den Fall, dass die Kontrolle der HAMAS über die Islamic Charitable Society Hebron seit dem Jahr 2008 gebrochen gewesen sein sollte, der Umstand hinzu, dass der Kläger ungeachtet dessen diesen Sozialverein weiter unterstützt hat.[17] 6. Der Senat wird sich allerdings vergewissern, ob gewichtige Gründe dafür sprechen, das nach seinem Urteil vom 3. Dezember 2004 gebotene Erfordernis der Erfüllung subjektiver Voraussetzungen des Verbotsgrunds aufzugeben. Diesen Voraussetzungen kommt vor allem die Funktion zu, das tatbestandliche Merkmal des Sich-Richtens gegen den Gedanken der Völkerverständigung auszufüllen und gegebenenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit als Korrektiv für den objektiven Verbotstatbestand zu wirken. Diese Ausfüllung durch die eigene Identifikation mit der Gewaltanwendung der HAMAS hat der Senat insbesondere deshalb für erforderlich gehalten, weil das eigene Verhalten des unterstützenden Vereins sich zwar äußerlich als humanitäre Hilfeleistung darstelle, aber dennoch gegen den Gedanken der Völkerverständigung "gerichtet" sein könne, wenn der Verein sich die Gewaltanwendung der HAMAS zu eigen mache.[18] Indes sind die Ermächtigungen des Gefahrenabwehrrechts, dem das Vereinsgesetz zuzurechnen ist, im Allgemeinen grundsätzlich an objektiven Kriterien orientiert. Deshalb ist zu erwägen, ob die Funktion der subjektiven Verbotsvoraussetzungen bei der Interpretation des objektiven Verbotstatbestands berücksichtigt werden kann.[19] 7. Das Verbot und die Auflösung des Klägers wegen der nur einen Teil seiner gesamten – hier im Übrigen nicht beanstandeten – Aktivitäten ausmachenden Palästinahilfe könnte die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Verfügung nicht nur für die Tatbestandsseite, sondern auch für die Rechtsfolgenseite der Verbotsnorm aufwerfen. Allerdings ist nach der neueren Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 5. August 2009 – BVerwG 6 A 3.08 – BVerwGE 134, 275 = Buchholz 402. 45 VereinsG Nr. 50 Rn. 87) für Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Rechtsfolgen allenfalls in Ausnahmefällen Raum.[20] 8. Zum Ausgleich der Risiken, die nach alledem für beide Beteiligte mit einem streitigen Prozessausgang verbunden sind, hält es der Senat daher für sachgerecht, dass der Kläger während eines angemessenen Zeitraums von etwa drei Jahren außerhalb der palästinensischen Gebiete weiter tätig sein kann, falls er so lange die Palästinahilfe nachprüfbar unterlässt. Verhält sich der Kläger während dieser drei Jahre vereinbarungsgemäß, sollte die bis dahin außer Vollzug gesetzte Verbotsverfügung endgültig außer Kraft treten. Die Beklagte kann dann die Lage unter Berücksichtigung der bis dahin in den palästinensischen Gebieten eingetretenen Veränderungen neu bewerten.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2013-91
19.12.2013
Pressemitteilung Nr. 91/2013 vom 19.12.2013 EN Klage der Grünen Liga Sachsen gegen die Festlegung von Flugrouten über Leipziger Naturschutzgebiete zulässig Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die Grüne Liga Sachsen, ein in Sachsen anerkannter Naturschutzverein, die festgelegten Flugrouten zur sog. kurzen Südabkurvung für den Flughafen Leipzig/Halle gerichtlich überprüfen lassen kann, und eine gegenteilige Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bautzen aufgehoben. Die Flugrouten, die das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung festgesetzt hatte, ohne den Kläger zu beteiligen, führen über das Vogelschutzgebiet „Leipziger Auwald“ und das Landschaftsschutzgebiet „Leipziger Auensystem“. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts müssen Flugrouten vor ihrer Festlegung darauf geprüft werden, ob ihre Benutzung geeignet ist, Gebiete zum Schutz von Natur und Landschaft erheblich zu beeinträchtigen. Ist dies im Planfeststellungsbeschluss für den Flughafen nicht erfolgt und ergibt die spätere Prüfung, dass die Nutzung der Routen zu einer erheblichen Beeinträchtigung führen kann, ist ihre Festlegung unzulässig, wenn nicht eine Abweichungsentscheidung ergehen kann. An dieser Entscheidung sind anerkannte Naturschutzvereine zu beteiligen. Ihr Beteiligungsrecht ist nicht nur verletzt, wenn eine Abweichungsentscheidung ohne ihre Beteiligung getroffen wird, sondern auch dann, wenn - was hier in Betracht kommt - eine Abweichungsentscheidung unterbleibt, weil die Behörde ihre Erforderlichkeit zu Unrecht verneint hat. Die hier mögliche Verletzung des Beteiligungsrechts eröffnet die Klage gegen die Flugroutenfestlegung. Ob die Klage begründet ist, hängt davon ab, ob die Routen nur auf der Grundlage einer Abweichungsentscheidung hätten zugelassen werden dürfen. Die Frage kann erst beantwortet werden, wenn die Auswirkungen der Flugrouten auf die betroffenen Schutzgebiete ermittelt worden sind. Diese Aufgabe muss das Oberverwaltungsgericht erfüllen, an das die Sache deshalb zurückverwiesen worden ist. Der Ausgang des Rechtsstreits ist offen. BVerwG 4 C 14.12 - Urteil vom 19. Dezember 2013 Vorinstanz: OVG Bautzen, 1 C 20/08 - Urteil vom 09. Mai 2012 -
Urteil vom 19.12.2013 - BVerwG 4 C 14.12ECLI:DE:BVerwG:2013:191213U4C14.12.0 EN Leitsatz: Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vermittelt anerkannten Naturschutzvereinigungen keine Klagemöglichkeit gegen die Festlegung von Flugverfahren in einer Rechtsverordnung nach § 27a Abs. 2 Satz 1 LuftVO. Eine Klagemöglichkeit kann sich aber aus § 64 BNatSchG ergeben. Rechtsquellen Aarhus-Konvention Art. 9 Abs. 3 BNatSchG § 34, § 63 Abs. 2 Nr. 5, § 64 Abs. 1 LuftVG § 6 Abs. 1 Satz 1, § 8 Abs. 1 LuftVO § 27a Abs. 2 Satz 1 UmwRG § 1 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 1, § 5 Abs. 4 Satz 1 UVPG § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3, § 3b Abs. 1 Satz 1, § 3e Abs. 1 Nr. 2 UVP-RL Art. 1 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1, Art. 4 VwGO § 42 Abs. 2 Instanzenzug OVG Bautzen - 09.05.2012 - AZ: OVG 1 C 20/08 Zitiervorschlag BVerwG, Urteil vom 19.12.2013 - 4 C 14.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:191213U4C14.12.0] Urteil BVerwG 4 C 14.12 OVG Bautzen - 09.05.2012 - AZ: OVG 1 C 20/08 In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 19. Dezember 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz, Petz, Dr. Decker und Dr. Külpmann für Recht erkannt: Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. Mai 2012 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Gründe I 1 Der Kläger, ein in Sachsen anerkannter Naturschutzverein, wendet sich gegen An- und Abflugverfahren („Flugrouten“) zur sogenannten kurzen Südabkurvung für den Flughafen Leipzig/Halle, der aufgrund eines bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlusses vom 4. November 2004 zu einem Knotenpunkt für den Luftfrachtverkehr ausgebaut worden ist. Die Flugverfahren sind ohne Beteiligung des Klägers in der 19. Verordnung zur Änderung der 198. Durchführungsverordnung zur Luftverkehrs-Ordnung vom 14. August 2009 als Flugverfahren NAMUB 2 E und NAMUB 2 Q festgelegt worden. Sie führen u.a. über mehrere Natura 2000-Gebiete. 2 Der Kläger verlangte zunächst von der Planfeststellungsbehörde, dem ehemaligen Regierungspräsidium Leipzig, die FFH-Verträglichkeitsprüfungen für die betroffenen Schutzgebiete nachzuholen. Die Prüfungen seien geboten, weil sich die Flugverfahren gegenüber den Festlegungen im Planfeststellungsbeschluss vom 4. November 2004 deutlich geändert hätten und veränderte Auswirkungen auf Natur und Landschaft nach sich zögen. Die Planfeststellungsbehörde antwortete dem Kläger, dass sie für die Festsetzung von Flugverfahren nicht zuständig sei und keine erneute Prüfung der FFH-Verträglichkeit infolge der veränderten Flugrouten vornehmen werde. Richtig sei, dass bei der im Planfeststellungsbeschluss erfolgten Prüfung der Verträglichkeit des Flughafenausbaus nur jene Flugverfahren betrachtet worden seien, die nach dem damaligen Verfahrensstand ersichtlich gewesen seien. Die nachträgliche Änderung der Verfahren führe aber nicht dazu, deren Umweltverträglichkeit einschließlich FFH-Verträglichkeit einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen. Ein Wiederaufgreifen des Planfeststellungsverfahrens wegen geänderter Sach- oder Rechtslage sei gesetzlich nicht vorgesehen. 3 Der Kläger hat daraufhin Klage auf Feststellung erhoben, dass die Festlegung von An- und Abflugverfahren über die betroffenen Gebiete nichtig sei. Zur Begründung hat er geltend gemacht, dass die Flugverfahren die von den Überflügen betroffenen Schutzgebiete wesentlich beeinträchtigten und vor deren Festlegung eine Umweltverträglichkeits- und eine FFH-Verträglichkeitsprüfung erforderlich gewesen sei, an der er hätte beteiligt werden müssen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen, weil dem Kläger die nach § 42 Abs. 2 VwGO analog erforderliche Klagebefugnis fehle. Es gebe keine Bestimmung, die dem Kläger Klagerechte in Bezug auf drittschützende Vorschriften oder die hoheitliche Verletzung von objektiv-rechtlichen Normen vermittele. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision. Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil. II 4 Die Revision des Klägers ist begründet. Die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger könne die Festlegung der von ihm beanstandeten Flugverfahren nicht im Klagewege angreifen, verstößt gegen Bundesrecht. Für eine abschließende Entscheidung bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen. Das macht eine Zurückverweisung an das Ausgangsgericht erforderlich (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). 5 1. Die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts, dass die Klage nicht nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz - UmwRG - zulässig ist, steht mit Bundesrecht im Einklang. 6 Nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 5 Abs. 4 Satz 1 UmwRG kann eine nach § 3 UmwRG anerkannte Vereinigung, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG oder deren Unterlassen einlegen, wenn sie - neben anderen Voraussetzungen - geltend macht, dass eine Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen und für die Entscheidung von Bedeutung sein können, widerspricht. Vorliegend fehlt es an einer Entscheidung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG, weil die Voraussetzungen des einzig in Betracht kommenden Buchstabens a nicht vorliegen. Für die Festlegung von Flugverfahren kann nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung keine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen. 7 a) Das Vorliegen einer solchen Entscheidung ist eine Sachurteilsvoraussetzung. Sie lässt sich nicht mit der Erwägung bejahen, es sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass für die Festlegung von Flugrouten eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen könne (a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Juni 2013 - 11 A 10.13 - LKV 2013, 513 = juris Rn. 18 f.). 8 Diese der sogenannten Möglichkeitstheorie zur Klagebefugnis entlehnte Formulierung verfehlt den rechtlichen Maßstab. Das Gesetz fordert für einen Rechtsbehelf nach § 2 Abs. 1 UmwRG einen tauglichen Gegenstand, allein die Möglichkeit dessen Vorliegens reicht schon nach seinem Wortlaut nicht aus. Für die Möglichkeitstheorie ist im Rahmen des § 2 Abs. 1 UmwRG nur Raum, wo das Gesetz eine „Geltendmachung“ durch den Kläger fordert und ausreichen lässt. Dies bestätigt der Vergleich mit § 42 Abs. 2 VwGO. Die Vorschrift lässt es genügen, wenn ein Kläger „geltend macht“, in eigenen Rechten verletzt zu sein. An diese Formulierung knüpft die Möglichkeitstheorie an und beschränkt die Zulässigkeit auf Klagen, bei denen eine Verletzung eigener Rechte nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist (vgl. etwa Urteil vom 20. April 1994 - BVerwG 11 C 17.93 - BVerwGE 95, 333 <334 f.> und Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 42 Rn. 378 ff.). 9 b) Die Unzulässigkeit der Klage folgt nicht bereits daraus, dass die Festlegung von Flugverfahren keine Entscheidung im Sinne von § 2 Abs. 3 UVPG wäre. Nach § 2 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 UVPG sind Entscheidungen über die Zulässigkeit von Vorhaben Bewilligung, Erlaubnis, Genehmigung, Planfeststellungsbeschluss und sonstige behördliche Entscheidungen, die in einem Verwaltungsverfahren getroffen werden, mit Ausnahme von Anzeigeverfahren. Entscheidungen, die in einem Verwaltungsverfahren getroffen werden, sind nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur solche, die ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG abschließen, sondern auch welche, die - wie die Festlegung von Flugverfahren in einer Rechtsverordnung nach § 27a Abs. 2 Satz 1 Luftverkehrs-Ordnung - das Ergebnis eines Normsetzungsverfahrens sind (BTDrucks 11/3919 S. 21). 10 c) § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 UmwRG eröffnet den Zugang zu verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz jedoch deshalb nicht, weil die Festlegung von Flugverfahren nicht zu den Entscheidungen gehört, für die nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bestehen kann. 11 aa) Eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung folgt nicht aus § 3b Abs. 1 Satz 1 UVPG. Die Festlegung eines Flugverfahrens ist keine Entscheidung über den Bau eines Flugplatzes im Sinne der Begriffsbestimmungen des Abkommens von Chicago von 1944 zur Errichtung der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (Anhang 14) (Anlage 1 Nummer 14.12 zum UVPG). 12 Hiervon zu trennen ist die in der Rechtsprechung des Senats geklärte Frage, inwieweit die Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Planfeststellung eines Flughafens Flugverfahren einbeziehen muss: Der Kreis der Umweltauswirkungen, auf die sich die Umweltverträglichkeitsprüfung zu erstrecken hat, geht nicht über die Umweltbelange hinaus, denen im Rahmen des Abwägungsgebots Rechnung zu tragen ist (Urteil vom 25. Januar 1996 - BVerwG 4 C 5.95 - BVerwGE 100, 238 <247>). Dementsprechend bestimmen sich Inhalt und Umfang der vorzulegenden Unterlagen gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 UVPG nach den Rechtsvorschriften, die für die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens maßgebend sind. Der Planfeststellungsbeschluss für den Bau eines Flughafens muss die in seiner räumlichen Umgebung aufgeworfenen Probleme bewältigen. Hierzu ist er nur in der Lage, wenn die prognostische Flugroutenplanung Art und Ausmaß der zu erwartenden Betroffenheiten in der für die Abwägung relevanten Größenordnung realistisch abbildet (Urteil vom 31. Juli 2012 - BVerwG 4 A 7001.11 u.a. - BVerwGE 144, 44 Rn. 66). Die Umweltverträglichkeitsprüfung aus Anlass des Baus eines Flughafens darf sich dabei nicht auf die Betrachtung bestimmter, für die Lärmbetroffenheiten repräsentativer Flugverfahren beschränken; sie muss sich vielmehr räumlich auf den gesamten Einwirkungsbereich des Flughafens erstrecken, in dem abwägungserhebliche Auswirkungen des Vorhabens möglich sind. Eine detaillierte Ermittlung und Beschreibung der betriebsbedingten Auswirkungen des Vorhabens ist in der Regel aber nur für die der Planfeststellung zugrunde gelegte, mit dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) oder der Deutschen Flugsicherung GmbH (DFS), die die Festlegung von Flugverfahren durch das BAF vorbereitet (Kämper, ZLW 2013, 599 <606>), abgestimmte Grobplanung der Flugrouten erforderlich. Darüber hinaus ist es notwendig, regelmäßig aber auch ausreichend, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung die im Rahmen der Abwägung zu treffende Entscheidung vorbereitet, ob sich die Zulassung des Vorhabens nur rechtfertigen lässt, wenn bestimmte Gebiete von erheblichen Beeinträchtigungen durch Fluglärm verschont bleiben (Urteil vom 31. Juli 2012 - BVerwG 4 A 7001.11 u.a. - a.a.O. Rn. 44). Dass damit eine Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Planfeststellung ausgehend von bestimmten Flugverfahren die Umweltauswirkungen des Flughafenbetriebs betrachten muss, folgt aus der Pflicht der Planfeststellungsbehörde, eine Abwägungsentscheidung zu treffen, macht aber die Festlegung der Flugverfahren nicht selbst zum Anlass einer Umweltverträglichkeitsprüfung. 13 bb) Die Festlegung eines Flugverfahrens ist auch keine Änderung eines Vorhabens, für das als solches eine UVP-Pflicht besteht, die nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 UVPG zur Durchführung einer allgemeinen Vorprüfung des Einzelfalls verpflichtet. 14 Bezugspunkt und Maßstab für das Vorliegen einer Änderung ist der bisherige Gestattungszustand. Ob ein Änderungsvorhaben vorliegt, hängt also nicht davon ab, welche Umweltauswirkungen entstehen, ob etwa - wie der Kläger hier geltend macht - das geplante Flugverfahren bisher in der Umweltverträglichkeitsprüfung nicht beschriebene Umweltauswirkungen hat, sondern muss abhängig vom Inhalt bestandskräftiger Zulassungsentscheidungen beantwortet werden (Urteil vom 7. Dezember 2006 - BVerwG 4 C 16.04 - BVerwGE 127, 208 Rn. 31 ff.). Diese Sichtweise teilt das Unionsrecht (Urteil vom 7. Dezember 2006 a.a.O. Rn. 34). Da die Festlegung von Flugverfahren weder Gegenstand der Planfeststellung nach § 8 Abs. 1 LuftVG noch der Betriebsgenehmigung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 LuftVG ist, kann die Festlegung von Flugverfahren auch keine Änderung im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 UVPG sein. 15 cc) Der Kläger hält es für denkbar, dass im Planfeststellungsverfahren gewichtige Umweltauswirkungen eines bestimmten Flugverfahrens nicht in den Blick genommen werden, weil die Planfeststellungsbehörde mit der Festsetzung dieses Verfahrens nicht rechnet, und das Flugverfahren später ohne Betrachtung seiner Umweltauswirkungen festgesetzt wird. Er sieht darin eine nicht hinzunehmende Lücke im Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung. Sein Einwand führt nicht dazu, dass die Festlegung des Flugverfahrens ihrerseits einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegt. 16 (1) Dem Planfeststellungsbeschluss obliegt es, die in der räumlichen Umgebung eines Flughafens aufgeworfenen Probleme abwägend zu bewältigen. Ist nach seinem planerischen Konzept Grundlage für die Zulassung des Vorhabens an dem gewählten Standort beispielsweise, dass bestimmte, besonders schutzwürdige Gebiete von Verlärmung verschont bleiben, kann er dies mit bindender Wirkung für die spätere Festlegung von Flugverfahren feststellen (Urteil vom 31. Juli 2012 - BVerwG 4 A 5000.10 u.a. - BVerwGE 144, 1 Rn. 51). Schweigt der regelnde Teil des Planfeststellungsbeschlusses insoweit, ist es eine Frage der Auslegung, ob der Planfeststellungsbeschluss eine solche Festlegung treffen wollte. 17 (2) Ergibt die Auslegung des Planfeststellungsbeschlusses, dass er das hier angegriffene Flugverfahren zulässt, so richtet sich die Rüge des Klägers insoweit dagegen, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung vor dem Erlass des Planfeststellungsbeschlusses bestimmte Umweltauswirkungen nicht ausreichend in den Blick genommen hat. Der Kläger muss sich dann aber entgegenhalten lassen, dass es ihm offen gestanden hätte, insoweit den Planfeststellungsbeschluss mit der Begründung anzugreifen, dessen Maßnahmen reichten nicht aus, um die Ausgewogenheit der Standortentscheidung für den Fall von der Grobplanung abweichender Flugverfahren sicherzustellen (vgl. Urteil vom 31. Juli 2012 - 4 A 5000.10 u.a. - a.a.O. Rn. 51 a.E.). Mit Bestandskraft des Planfeststellungsbeschlusses kann der Kläger eine solche Korrektur nicht mehr fordern. Einer Nachholung der Umweltverträglichkeitsprüfung bei Festlegung des Flugverfahrens stände aber auch entgegen, dass das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung einen projektbezogenen Vorhabenbegriff verwendet, der nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 UVPG an seine Anlage 1 anknüpft, die indes nicht einschlägig ist (s.o.). Über diese gesetzgeberische Einschätzung kann sich der Senat nicht hinwegsetzen. 18 Ein Nachholen einer Umweltverträglichkeitsprüfung verfehlte ferner Sinn und Zweck dieses Verfahrensschritts. Die Umweltverträglichkeitsprüfung schafft die Voraussetzung dafür, die Umweltbelange so herauszuarbeiten, dass sie in die Abwägung in gebündelter Form eingehen. Diese Verfahrensweise verhindert, dass diese Belange in einer atomistischen Betrachtungsweise nicht mit dem Gewicht zur Geltung kommen, das ihnen in Wahrheit bei einer Gesamtschau gebührt (Urteil vom 18. November 2004 - BVerwG 4 CN 11.03 - BVerwGE 122, 207 <211>). Die Umweltverträglichkeitsprüfung dient also der gesamthaften Vorbereitung einer bestimmten Verwaltungsentscheidung. Mit dieser Sichtweise ist die Forderung nicht vereinbar, (behauptete) Mängel einer solchen Umweltverträglichkeitsprüfung zu einem späteren Zeitpunkt anlässlich einer anderen Verwaltungsentscheidung einer Behörde eines anderen Rechtsträgers zu heilen. 19 (3) Ergibt die Auslegung des Planfeststellungsbeschlusses, dass er das von der Beklagten festgelegte Flugverfahren nicht zulässt, ist die Festlegung dieses Verfahrens rechtswidrig. Dies folgt aus der insoweit eingetretenen Bindung durch den Planfeststellungsbeschluss. Es liegt nicht in der Hand der Beklagten, diese Bindungswirkung durch Vornahme einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu beseitigen. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung ein Verfahrensschritt, aber keine materielle Entscheidung über die von ihr beschriebenen Umweltbelange ist (vgl. Urteil vom 25. Januar 1996 - BVerwG 4 C 5.95 - BVerwGE 100, 238 <243 f.>; stRspr). 20 (4) Der Anwendungsbereich des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes kann auch nicht im Wege der Analogie erweitert werden, etwa um (möglichen) Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Konvention) vom 25. Juni 1998 (Zustimmungsgesetz vom 9. Dezember 2006, BGBl II S. 1251) zu genügen. Es fehlt an einer planwidrigen Regelungslücke, weil sich das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung als seinen Anwendungsbereich abschließend umschreibende Regelung verstanden hat (Urteil vom 5. September 2013 - BVerwG 7 C 21.12 - NVwZ 2014, 64 Rn. 30 f., zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen). 21 d) Dass nach innerstaatlichem Recht die Festlegung von Flugverfahren nicht der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegt oder unterliegen kann, ist unionsrechtlich unbedenklich. Nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl EG Nr. L 175 S. 40), neu kodifiziert durch die Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl EU Nr. L 26 S. 1 - UVP-RL), werden Projekte des Anhangs I grundsätzlich einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen, bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten anhand einer Einzelfalluntersuchung oder von ihnen festgelegter Schwellenwerte bzw. Kriterien, ob das Projekt einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muss. Der Begriff des Projekts wird in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a UVP-RL definiert als die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen und sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft. Durch Anhang I Nr. 7a und Anhang II Nr. 10 der UVP-RL erfährt er eine Beschränkung auf die Errichtung baulicher Anlagen, weil lediglich der Bau eines Flughafens der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterworfen ist oder sein kann. Diesem Projektbegriff entspricht eine Tätigkeit nur, wenn sie mit Arbeiten oder Eingriffen zur Anlegung oder Änderung des materiellen Zustands des Flughafens einhergeht (EuGH, Urteil vom 17. März 2011 - Rs. C-275/09 - Slg. 2011, I-1753 Rn. 24 und 30). Flugkorridore und ihre Zuordnung zu bestehenden Start- und Landebahnen sind nicht erfasst (vgl. die Antwort der Kommission vom 2. August 2002 auf die schriftlichen Anfragen E-2022/02 und E-2023/02 - ABl EU Nr. C 52 E S. 122). 22 Der Europäische Gerichtshof hat allerdings wiederholt festgestellt, dass die Richtlinie 85/337/EWG einen ausgedehnten Anwendungsbereich sowie einen sehr weit reichenden Zweck hat (EuGH, Urteile vom 24. Oktober 1996 - Rs. C-72/95 - Slg. 1996, I-5403 Rn. 31, vom 16. September 1999 - Rs. C-435/97 - Slg. 1999, I-5613 Rn. 40 und vom 28. Februar 2008 - Rs. C-2/07 - Slg. 2008, I-1197 Rn. 32) und an eine Gesamtbewertung der Auswirkungen von Projekten oder deren Änderung auf die Umwelt anknüpft. Es stellte eine Vereinfachung dar und liefe diesem Ansatz zuwider, wenn im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung eines Projekts oder seiner Änderung nur die unmittelbaren Wirkungen der geplanten Arbeiten selbst berücksichtigt würden, nicht aber die Auswirkungen auf die Umwelt, die durch die Benutzung und den Betrieb der aus diesen Arbeiten hervorgegangenen Anlagen hervorgerufen werden können (EuGH, Urteil vom 28. Februar 2008 a.a.O. Rn. 43). Die Pflicht, bei der Planung eines Flughafens die mit der Benutzung und dem Betrieb verbundenen Umweltauswirkungen in den Blick zu nehmen, erstreckt sich indes nicht auf alle realistischerweise in Betracht kommenden An- und Abflugverfahren. Art. 2 Abs. 1 UVP-RL verlangt, dass ein Projekt „vor Erteilung der Genehmigung“ einer Prüfung unterzogen werden muss. Die Festlegung von Flugverfahren gehört nach innerstaatlichem Recht nicht zur Genehmigung des Projekts „Bau von Flugplätzen“. Sie ist auch nicht Teil eines gestuften Genehmigungsverfahrens in dem Sinne, dass zunächst eine Grundsatzentscheidung (über den Bau des Flughafens) und dann eine oder mehrere Durchführungsentscheidungen getroffen werden, und in dem die Auswirkungen, die ein Projekt möglicherweise auf die Umwelt hat, im Verfahren des Erlasses der Grundsatzentscheidung zu ermitteln und zu prüfen sind (vgl. zur Umweltverträglichkeitsprüfung in einem gestuften Genehmigungsverfahren EuGH, Urteil vom 4. Mai 2006 - Rs. C-508/03 - Slg. 2006, I-3969 Rn. 104). An- und Abflugverfahren sind nicht Bestandteil der Zulassungsentscheidung, sondern Verkehrsregeln zur sicheren Abwicklung des Flugverkehrs von und zu einem Flughafen. 23 Der Senat hat zur Kenntnis genommen, dass die Europäische Kommission im Mai 2013 ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 Abs. 1 AEUV eingeleitet hat, weil die bundesdeutsche Rechtslage, nach der die Festlegung von Flugverfahren keiner vorherigen Umweltverträglichkeitsprüfung bedarf, mit der Richtlinie 85/337/EWG nicht vereinbar sei, und der Bundesrepublik Deutschland Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Welchen Verlauf das Verfahren nehmen wird, ist offen. In der Sache ist die innerstaatliche Rechtslage unionsrechtskonform. Das ergibt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. März 2011 (a.a.O.). Einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 AEUV bedarf es deshalb nicht (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. C-283/81 - Slg. 1982, I-3415 Rn. 14.) 24 2. Die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts, dass die Klage auch nicht nach § 61 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG in der Fassung vom 25. März 2002 (BGBl I S. 1193) oder nach § 64 Abs. 1 BNatSchG in der seit 1. März 2010 geltenden Fassung (BGBl I S. 2542) zulässig ist, verstößt gegen Bundesrecht. Dabei kann offenbleiben, welche Fassung des Bundesnaturschutzgesetzes maßgeblich ist; denn die hier einschlägigen Regelungen sind inhaltlich identisch. 25 Nach § 64 Abs. 1 BNatSchG 2010 kann eine anerkannte Naturschutzvereinigung unter den in den Nummern 1 bis 3 genannten Voraussetzungen gegen Entscheidungen nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 und Abs. 2 Nr. 5 bis 7 BNatSchG Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung einlegen. Die Voraussetzungen des § 64 Abs. 1 BNatSchG sind erfüllt. Der Kläger war namentlich zur Mitwirkung berechtigt. Einschlägige Vorschrift ist § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG. Danach ist einer nach § 3 UmwRG von einem Land anerkannten, landesweit tätigen Naturschutzvereinigung u.a. vor der Erteilung von Befreiungen von Geboten und Verboten zum Schutz von Natura 2000-Gebieten, auch wenn diese durch eine andere Entscheidung eingeschlossen oder ersetzt werden, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. 26 a) Das Oberverwaltungsgericht hat einen Mitwirkungsanspruch verneint, weil dem Normsetzungsverfahren keine Befreiung von einem Ver- oder Gebot zum Schutz von Natura 2000-Gebieten zugrunde liege (UA Rn. 35). Seine Sichtweise verkürzt unzulässig die den Verbänden zugestandenen Klagerechte und ist daher bundesrechtswidrig. Ein anerkannter Verein ist nicht nur zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt, wenn eine Befreiung erteilt worden ist, sondern auch dann, wenn die zuständige Behörde unter Verkennung der Rechtslage eine Befreiungsentscheidung nicht für erforderlich gehalten hat. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu sogenannten Verletztenklagen ist anerkannt, dass ein Naturschutzverein ein Recht auf Beteiligung im Wege der Anfechtungsklage gegen eine Genehmigung verfolgen kann, wenn die Behörde seiner Ansicht nach fehlerhaft ein Verfahren gewählt hat, in dem ihm kein Beteiligungsrecht zur Seite steht (Urteile vom 14. Mai 1997 - BVerwG 11 A 43.96 - BVerwGE 104, 367 <372> und vom 7. Dezember 2006 - BVerwG 4 C 16.04 - BVerwGE 127, 208 Rn. 10). Der Grundgedanke dieser Rechtsprechung kann auf die Vereitelung einer altruistischen Verbandsklage nach § 64 Abs. 1 BNatSchG übertragen werden. Der Beklagten ist es verwehrt, das Klagerecht nach § 64 Abs. 1 BNatSchG zu unterlaufen, indem sie eine an sich gebotene Entscheidung nach § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG unterlässt. 27 b) Der Anwendungsbereich des § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG ist eröffnet. Zu den Befreiungen im Sinne der Vorschrift gehört auch die hier möglicherweise notwendige Abweichungsentscheidung nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG (vgl. Urteil vom 10. April 2013 - BVerwG 4 C 3.12 - NVwZ 2013, 1346 Rn. 22, zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen). 28 Der Anwendbarkeit des § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG steht nicht entgegen, dass die Festlegung von Flugverfahren kein Projekt wäre, das nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG vor seiner Zulassung oder Durchführung auf seine Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines Natura 2000-Gebiets zu überprüfen wäre. Der Projektbegriff des § 34 BNatSchG unterliegt nicht vergleichbaren Einschränkungen, wie sie der Projektbegriff im Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung in Art. 1 Abs. 2 UVP-RL über Art. 4 Abs. 1 und 2 UVP-RL in Verbindung mit den Anhängen I und II erfährt, sondern ist generell bei sonstigen Eingriffen in Natur und Landschaft erfüllt, d.h. auch bei der Ausübung schutzgebietsgefährdender Tätigkeiten, die nicht zwingend mit baulichen Veränderungen einhergehen. Er ist wirkungsbezogen (Urteil vom 10. April 2013 a.a.O. Rn. 29), nicht vorhabenbezogen. Ein Projekt im Sinne des § 34 BNatSchG ist hiernach jedenfalls die Festlegung von Flugkorridoren, in denen Überflüge über Schutzgebiete in bestimmter Regelmäßigkeit und Intensität stattfinden (vgl. Urteil vom 10. April 2013 a.a.O. Rn. 30). Zu solchen Überflügen gehören An- und Abflüge zu einem Flughafen, deren Verfahren in der Rechtsform der Verordnung nach § 27a Abs. 2 Satz 1 LuftVO antizipiert und standardisiert sind. Dass die Festlegung der Flugverfahren nach § 27a Abs. 1 LuftVO nicht verbindlich ist, wenn im Einzelfall eine Flugverkehrskontrollfreigabe nach § 26 Abs. 2 Satz 2 LuftVO erfolgt ist, ändert daran nichts. 29 c) Es ist nicht von Rechts wegen ausgeschlossen, dass hier der Beklagten eine naturschutzrechtliche Verträglichkeits- und Abweichungsprüfung oblag. Ob dies der Fall war, bedarf weiterer tatsächlicher Aufklärung. 30 Der Beklagten ist allerdings darin zuzustimmen, dass die naturschutzrechtliche Verträglichkeits- und Abweichungsprüfung in Betracht kommender An- und Abflugverfahren zu und von einem Flughafen im Planfeststellungsverfahren durchzuführen ist und grundsätzlich nicht im Verfahren zum Erlass einer Verordnung nach § 27a Abs. 2 Satz 1 LuftVO. Da es Aufgabe des Planfeststellungsbeschlusses ist, die vom Planvorhaben in seiner räumlichen Umgebung aufgeworfenen Probleme zu bewältigen, ist es ihm möglich, bestimmte An- und Abflugrouten auch aus naturschutzrechtlichen Gründen für unzulässig zu erklären und so für die Beklagte zu sperren. Auch die gerichtliche Prüfung des Planfeststellungsbeschlusses erstreckt sich auf dessen Übereinstimmung mit unionsrechtlich begründetem Naturschutzrecht (vgl. Urteil vom 16. März 2006 - BVerwG 4 A 1075.04 - BVerwGE 125, 116 Rn. 544 ff.). 31 Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich, dass die Planfeststellungsbehörde im Planfeststellungsverfahren für den Ausbau des Verkehrsflughafens Leipzig/Halle die naturschutzrechtliche Verträglichkeit prognostizierter Flugverfahren geprüft hat (UA Rn. 6). Wie sich aus ihrer Antwort an den Kläger ergibt, gehören die umstrittenen Verfahren dazu nicht. Es erscheint daher denkbar, dass der Planfeststellungsbeschluss die Verfahren weder verbietet noch gestattet, sondern sich einer Entscheidung enthält. Hierzu Feststellungen zu treffen, ist indes Aufgabe des Tatsachengerichts. 32 Fehlt im Planfeststellungsbeschluss eine Entscheidung, hat dies entgegen der Ansicht der Beklagten nicht zur Folge, dass dem Kläger, demgegenüber der Planfeststellungsbeschluss bestandskräftig geworden ist, die Anfechtung der Festlegung so lange verwehrt wäre, bis die Prüfung der naturschutzrechtlichen Verträglichkeit der Flugverfahren von der Planfeststellungsbehörde nachgeholt worden ist. Das BAF darf nur Flugverfahren festlegen, für die im Planfeststellungsbeschluss eine positive Entscheidung getroffen worden ist, die mithin im Planfeststellungsbeschluss „freigegeben“ worden sind. Dies sind nicht nur diejenigen, die im Planfeststellungsverfahren detailliert betrachtet worden sind, sondern auch solche, die in ihren Auswirkungen „vergleichbar“ sind (Urteil vom 31. Juli 2012 - BVerwG 4 A 5000.10 u.a. - BVerwGE 144, 1 Rn. 50). Auf die Durchführung einer Verträglichkeits- und ggf. nachfolgenden Abweichungsprüfung könnte daher verzichtet werden und wären Mitwirkungsrechte des Klägers nicht verletzt, wenn die Ergebnisse der Untersuchungen, die die Verträglichkeit der prognostizierten Flugverfahren mit den Erhaltungszielen der seinerzeit betrachteten Natura 2000-Gebiete attestiert haben, auf die durch die kurze Südabkurvung berührten Natura 2000-Gebiete übertragbar wären (Urteil vom 31. Juli 2012 a.a.O. Rn. 50). Zu dieser Möglichkeit hat das Oberverwaltungsgericht nichts festgestellt. 33 Nachträglich zu Tage tretende Lücken im Planfeststellungsbeschluss bei der Abarbeitung der FFH-Problematik gehen zu Lasten der Beklagten und nicht zu Lasten des jeweiligen Klägers. Das BAF ist dafür verantwortlich, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Festlegung eines Flugverfahrens eingehalten sind. Unmögliches oder Unzumutbares wird ihm nicht abverlangt. Da es selbst oder die DFS am Planfeststellungsverfahren beteiligt ist, kann es darauf hinwirken, dass alle Flugverfahren auf ihre Vereinbarkeit mit geltendem Recht geprüft werden, die aus seiner fachlichen Sicht für eine spätere Festlegung in Betracht kommen; die Flugroutenkonzeption kann zwischen ihm und der Planfeststellungsbehörde einvernehmlich definiert werden (Giemulla, ZLW 2013, 579 <597 f.>). Stellt es nur einen Teil der möglichen Flugverfahren auf den Prüfstand der Planfeststellung, fällt ein Versäumnis in seine Risikosphäre. Es ist nicht die Aufgabe einer Naturschutzvereinigung, im Planfeststellungsverfahren ein Flugroutenszenario zu entwerfen und die Planfeststellungsbehörde zu dessen Prüfung anzuhalten oder einen eventuell später entstehenden Untersuchungsbedarf bei der Planfeststellungsbehörde zu reklamieren. 34 Dass der Kläger gegenüber der Beklagten die Feststellung der Unwirksamkeit der Festlegung von Flugverfahren verlangen kann, liegt daran, dass das BAF eine im Planfeststellungsverfahren unterbliebene FFH-Verträglichkeitsprüfung nachholen darf. Während die Umweltverträglichkeitsprüfung als unselbständiger Teil des Planfeststellungsverfahrens (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 UVPG) die Aufgabe hat, die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu ermitteln, zu beschreiben und zu bewerten (nach § 1 Abs. 1 UVPG) und so die Abwägungsentscheidung der Planfeststellungsbehörde vorzubereiten, hängt die naturschutzrechtliche Zulässigkeit eines Projekts von dem Ergebnis der FFH-Verträglichkeitsprüfung unmittelbar ab. Die Entscheidung nach § 34 BNatSchG ist eine eigenständige Entscheidung neben den fachplanungsrechtlichen Abwägungsentscheidungen nach § 8 Abs. 1 Satz 2 LuftVG. Zwar ist auch für sie die Planfeststellungsbehörde zuständig, die Zuständigkeit ist aber nicht originär, sondern wird der Planfeststellungsbehörde von § 34 BNatSchG aufgedrängt (vgl. Urteil vom 10. April 2013 - BVerwG 4 C 3.12 - NVwZ 2013, 1346 Rn. 11). § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG verlangt die Beteiligung von Naturschutzverbänden vor der Erteilung von Befreiungen von Geboten und Verboten zum Schutz von Natura 2000-Gebieten, auch wenn diese durch eine andere Entscheidung eingeschlossen oder ersetzt werden. Aus dem Konditionalsatz lässt sich der Wille des Gesetzgebers herleiten, die Entstehung von Mitwirkungs- und Klagerechten nicht von der Verfahrensgestaltung des Fachrechts abhängig zu machen. Der Senat hält es für geboten, in der (unterstellt) rechtswidrigen Festlegung der Flugverfahren eine Befreiung im Sinne des § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG zu sehen. Der Europäische Gerichtshof hat die nationalen Gerichte nämlich in seinem Urteil vom 8. März 2011 (- Rs. C-240/09 - Slg. 2011, I-1255) verpflichtet, ihr Verfahrensrecht in Bezug auf die Voraussetzungen, die für die Einleitung eines gerichtlichen Überprüfungsverfahrens vorliegen müssen, so weit wie möglich mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auszulegen, um es einer Umweltschutzorganisation zu ermöglichen, eine Entscheidung vor einem Gericht anzufechten, die möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union steht. 35 d) Einer Abweichungsentscheidung nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG bedarf es, wenn Veranlassung für eine Prüfung der Verträglichkeit des Projekts mit den Erhaltungszielen eines Natura 2000-Gebiets besteht - das ist nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG der Fall, wenn das Projekt einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten oder Plänen geeignet ist, das Gebiet erheblich zu beeinträchtigen - und die Verträglichkeitsprüfung ergibt, dass das Projekt zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen kann, und deshalb nach § 34 Abs. 2 BNatSchG unzulässig ist. Dem angefochtenen Urteil ist zu entnehmen, dass der Kläger im Klageverfahren durch die Behauptung entsprechender Tatsachen im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG geltend gemacht hat, dass eine wesentliche Beeinträchtigung der in Flughafennähe gelegenen Schutzgebiete durch die Befolgung der umstrittenen Flugverfahren zu erwarten sei (UA Rn. 9). Ob das der Fall ist, muss das Oberverwaltungsgericht als Tatsachengericht klären (vgl. Urteil vom 10. April 2013 a.a.O. Rn. 31). 36 3. Aus dem Vorgesagten folgt zugleich, dass die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, bei der Festlegung von Flugverfahren bestehe von vornherein kein Anhörungs- oder Beteiligungsrecht von Naturschutz- oder Umweltverbänden (UA Rn. 25), mit Bundesrecht nicht in Einklang steht. Die auf das Luftverkehrsgesetz und die Luftverkehrsordnung beschränkte Sichtweise des Oberverwaltungsgerichts nimmt die Möglichkeit eines Beteiligungsrechts aus § 63 Abs. 2 Nr. 5 BNatSchG 2010 bzw. aus § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 BNatSchG 2002 nicht in den Blick. Aus dieser Möglichkeit der Verletzung eines Mitwirkungsrechts des Klägers folgt die Klagebefugnis des Klägers nach § 42 Abs. 2 VwGO (Urteil vom 7. Dezember 2006 - BVerwG 4 C 16.04 - BVerwGE 127, 208 Rn. 26 ff.). Ob tatsächlich ein Mitwirkungsrecht des Klägers verletzt worden ist, hängt davon ab, ob es vor der Festsetzung der angegriffenen Flugverfahren einer Abweichungsentscheidung nach § 34 Abs. 3 bis 5 BNatSchG bedurft hätte. Hierzu gilt das Vorgesagte.
bundesverwaltungsgericht
bverwg_2004-21
15.04.2004
Pressemitteilung Nr. 21/2004 vom 15.04.2004 EN Vorläufig grünes Licht für die geplante Anschlussstelle der A 38 bei Großpösna In einem Eilverfahren ist der Betreiber des Einkaufszentrums "Pösna-Park" mit seiner Forderung nach einer Verschiebung der Anschlussstelle der A 38 bei Großpösna gescheitert. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass nach vorläufiger Prüfung der vom Regierungspräsidium Leipzig genehmigte Standort der Anschlussstelle nicht zu beanstanden ist. Der Pösna-Park liegt an der Ortsdurchfahrt Großpösna der Staatsstraße 38. Diese Straße wird zwischen Leipzig-Liebertwolkwitz und Großpösna von der künftigen A 38 gekreuzt werden. Eine Anschlussstelle ist dort nicht vorgesehen. Diese soll etwa 1,8 km weiter westlich an der Stelle gebaut werden, an der die künftige Ortsumgehung Liebertwolkwitz, die S 38a, die A 38 quert. Dagegen hat sich der Betreiber des Pösna-Parks mit der Begründung zur Wehr gesetzt, die Planung führe zu einer Existenz vernichtenden Umlenkung der Verkehrsströme, die geschaffenen 600 Arbeitsplätze gingen verloren. Verhindert werden könne dies nur, wenn die S 38a weiter als bisher geplant um Liebertwolkwitz herumgeführt würde und die Anschlussstelle näher an den Pösna-Park heranrücke. Das Bundesverwaltungsgericht teilt den Standpunkt des Betroffenen nicht. Falls im Hauptsacheverfahren nicht noch anderweitige Erkenntnisse gewonnen werden, ist davon auszugehen, dass die Umsatzeinbußen nach der Änderung des Straßennetzes nicht die befürchteten Ausmaße annehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hat anhand des ihm zugänglichen Kartenmaterials abgeschätzt, wie sich der Kundenverkehr auf das künftige Verkehrsnetz verteilen wird, und ist zu der Auffassung gelangt, dass die neuen Verbindungen für die Stammkunden, die 97 % der Kundschaft ausmachen und von denen der Pösna-Park lebt, nicht so attraktiv sind, dass sie diesem in nennenswerter Anzahl den Rücken kehren. BVerwG 4 VR 1.04 - Beschluss vom 06.04.2004
BundesverwaltungsgerichtBVerwG, Beschluss vom 6. 4. 2004 – 4 VR 1.04 (lexetius.com/2004,1760)[1] In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts am 6. April 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht – Dr. Paetow und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Halama – und Gatz beschlossen:[2] Der Antrag wird abgelehnt.[3] Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Anordnungsverfahrens je zur Hälfte.[4] Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Anordnungsverfahren auf 25 000 € festgesetzt.[5] Gründe: I. Die Antragstellerinnen wenden sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Leipzig vom 19. Dezember 2003 für den Bau der Bundesautobahn A 38 – Südumgehung Leipzig – 3. Bauabschnitt zwischen der Bundesstraße 2 und der Staatsstraße 38.[6] Die Antragstellerin zu 1. ist Eigentümerin der Grundstücke …, … und … in der Gemarkung … Die Antragstellerin zu 2. betreibt auf den Grundstücken seit dem Jahr 1993 das Einkaufszentrum "Pösna-Park", in dem über 60 Einzelhandelsgeschäfte untergebracht sind. Es befindet sich an der S 38 (Leipzig-Grimma), die durch die Ortschaft Großpösna hindurchführt und zusammen mit der von ihr abzweigenden S 43 auch als Autobahnzubringer zur Anschlussstelle Naunhof der BAB A 14 dient.[7] Die BAB A 38 verbindet u. a. die BAB A 9 (Berlin Nürnberg) mit der BAB A 14 (Magdeburg Dresden). Sie wird südlich von Leipzig um das Stadtgebiet herumgeführt. Der Abschnitt zwischen der BAB A 9 und der BAB A 14 ist in vier Planungsabschnitte unterteilt. Der dritte Planungsabschnitt beginnt an der B 2 bei Gaschwitz und endet an der künftigen S 38a bei Leipzig Liebertwolkwitz. Die S 38a soll im Ortsteil Meusdorf der Stadt Leipzig von der S 38 in Richtung Süden abzweigen, südlich der Wiesengrundsiedlung einen Anschluss an die querende BAB A 38 erhalten und zwischen Güldengossa und Großpösna auf die künftige S 43n stoßen, die, in West Ost Richtung verlaufend, als Ersatz für die Kreisstraße 7923 die S 38a mit der 1, 8 km entfernten S 38 verbinden soll. In Richtung Süden findet die S 38a ihre Fortsetzung in der vorhandenen Kreisstraße 7925, die bei Espenhain auf die B 95 (Leipzig-Borna) trifft.[8] Die Antragstellerinnen haben am 12. Februar 2004 Klage erhoben und den vorliegenden Eilantrag gestellt. Sie sind mit dem Standort der Anschlussstelle A 38/S 38a nicht einverstanden: Er führe zu einer Umlenkung der Verkehrsströme mit der Folge eines Kunden- und Umsatzrückgangs zwischen 20 und 23 v. H. Diese Einbuße werde kurz bis mittelfristig zum Ruin des Pösna-Parks führen. Sie, die Antragstellerinnen, hätten im Rahmen der Anhörung einen Alternativvorschlag des Stadtplaners und Architekten T. vorgestellt, der eine Verschiebung der Anschlussstelle um ca. 1, 3 km in östliche Richtung vorsehe, die wirtschaftlichen Risiken für den Fortbestand des Einkaufszentrums mindestens reduziere und gleichzeitig die Vorteile der geplanten Variante sichere. Die Alternative habe sich der Planfeststellungsbehörde als vorzugswürdig aufdrängen müssen.[9] II. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat keinen Erfolg. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses überwiegt das private Interesse der Antragstellerinnen, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens von Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben. Nach summarischer Prüfung der Sach und Rechtslage bietet die erhobene Anfechtungsklage keine begründete Aussicht auf Erfolg. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand des Gerichts verletzt der Planfeststellungsbeschluss die Antragstellerinnen nicht in ihren Rechten. Insbesondere leidet er nicht zu ihren Lasten an einem erheblichen (vgl. § 17 Abs. 6c Satz 1 FStrG) Abwägungsfehler. In dieser Situation würde es dem mit § 5 Abs. 2 Satz 1 VerkPBG verfolgten Beschleunigungszweck zuwiderlaufen, der Planfeststellungsbehörde die ihr vom Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit der sofortigen Vollziehung allein mit Rücksicht darauf zu entziehen, dass sich die Antragstellerinnen im Klagewege gegen das Vorhaben zur Wehr setzen.[10] Den Antragstellerinnen steht keine gefestigte Rechtsposition auf eine ihren Vorstellungen entsprechende Anordnung der Anschlussstelle A 38/S 38a zu. Sie müssen es im Grundsatz hinnehmen, wenn die umstrittene Planung eine Verschlechterung der für den Pösna Park bestehenden Verkehrslage herbeiführt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ein etwaiges Vertrauen in den Bestand oder Fortbestand einer bestimmten Markt- oder Verkehrslage regelmäßig kein für die Fachplanung unüberwindlicher Belang (vgl. Beschluss vom 9. November 1979 – BVerwG 4 N 1. 78, 4 N 2 4. 79 – BVerwGE 59, 87; Beschluss vom 11. Mai 1999 – BVerwG 4 VR 7.99 – Buchholz 407. 4 § 8a FStrG Nr. 11; Urteil vom 28. Januar 2004 – BVerwG 9 A 27.03 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).[11] Dies bedeutet nicht, dass die Anliegerinteressen der Antragstellerinnen rechtlich nicht zu Buche schlagen. Sie sind, sofern sie nicht als geringfügig ausnahmsweise außer Betracht zu bleiben haben, in die Abwägung einzustellen. Die Planfeststellungsbehörde hat dies in einer Weise getan, die jedenfalls im Eilverfahren zu Beanstandungen keinen Anlass gibt.[12] Die Antragstellerinnen machen als Abwägungsfehler geltend, dass die Planfeststellungsbehörde die wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Betrieb des Einkaufszentrums "Pösna Park" unterschätzt habe. Die Behörde habe verkannt, dass der geplante Standort der Anschlussstelle A 38/S 38a eine Existenz vernichtende Umlenkung der Verkehrsströme zur Folge haben werde. Die Annahme im Planfeststellungsbeschluss, die Verminderung des Verkehrsaufkommens auf der S 38 führe nur zu einem Rückgang in der Kundenzahl, der keine Existenz gefährdenden Ausmaße annehme, sei unzutreffend. Nach der von ihnen bei Prof. M. in Auftrag gegebenen Verkehrsuntersuchung vom 30. Mai 2003 sei mit einer Reduzierung des Kundenstroms und einem entsprechenden Umsatzrückgang von mindestens 23 v. H. an Wochentagen und 21 v. H. an Sonnabenden zu rechnen. Existenz gefährdend seien bereits Umsatzverluste von 10 bis 20 v. H.[13] Die von den Antragstellerinnen befürchteten Einbußen an Kundschaft und Einnahmen erscheinen in der behaupteten Dimension nicht plausibel. Für eine Abnahme des Zielverkehrs sieht der Senat keinen greifbaren Anhalt. Der Begriff des Zielverkehrs erfasst die Gruppe derjenigen Kunden, die den Pösna Park ansteuern und nach einer mehr oder minder langen Verweildauer wieder in die Ausgangsrichtung zurückfahren. Für den Zielverkehr ändert sich durch den Bau der geplanten Anschlussstelle nichts. Das sieht Prof. M. für den Verkehr aus Richtung Grimma genauso, gilt entgegen seiner Einschätzung aber auch für den Verkehr aus Richtung Leipzig. Die Teilnehmer an diesem Verkehr können nach wie vor die S 38 benutzen und sind nicht auf den längeren und angeblich etwas zeitraubenderen Umweg über die S 38a/43n angewiesen. Die Erwartung, für sie werde sich auch die Fahrzeit auf der S 38 mit der Folge verlängern, dass andere Einkaufsmöglichkeiten bevorzugt würden, beruht auf der Prämisse von Prof. M., nach Inbetriebnahme der S 38a werde der Abschnitt der S 38 in der Ortslage Liebertwolkwitz verkehrsberuhigenden Maßnahmen zugeführt. Im Planfeststellungsbeschluss heißt es dazu, es gebe für solche Maßnahmen keine Anhaltspunkte. Dem treten die Antragstellerinnen nicht entgegen.[14] Ein nennenswerter Rückgang des Kundenaufkommens ist nach derzeitiger Einschätzung auch nicht im Bereich des gebrochenen Durchgangsverkehrs zu erwarten. Mit dem Begriff des gebrochenen Durchgangsverkehrs wird die Gruppe derjenigen Kunden (namentlich Pendler) beschrieben, die ihre Fahrt für einen Besuch des Pösna Parks unterbrechen und anschließend ihre Fahrt zu ihrem Ziel fortsetzen. Der Kundenstrom auf der S 38 aus dem Raum Grimma wird durch die vorgesehene Anschlussstelle nicht beeinflusst. Gleiches gilt für Kunden aus Richtung Leipzig, die hinter Großpösna weiterhin die S 38 befahren und nicht in die S 43 einbiegen, um zur Anschlussstelle Naunhof der A 14 zu gelangen. Dass Kunden verloren gehen können, die, aus Leipzig kommend, bislang die S 38 und S 43 als Zubringer zur A 14 nutzen, ist vom Antragsgegner in Rechnung gestellt worden. Für sie ist die neue Verbindung in der Tat eine Alternative. Es ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass sich bisherige Kunden in einer signifikanten Anzahl davon abhalten lassen, an Tagen, an denen Einkäufe anstehen, ihre alte Route zur A 14 zu nehmen und auf ihrer Fahrt einen Abstecher in den Pösna Park zu machen; denn da die Verbindungen zur A 14 über die S 38a/A 38 einerseits und die S 38/S 43 andererseits in etwa die gleiche Streckenlänge aufweisen, kann die Wahl des neuen Zubringers nur einen Zeitgewinn mit sich bringen. Dass dieser nicht zu einer nachhaltigen Verlagerung der Verkehrsströme führt, leitet der Senat aus der Äußerung in der Verkehrsuntersuchung von Prof. M. ab, "die Probleme (lägen) nicht bei der A 38". Prof. M. sieht die wirtschaftlichen Nachteile für den Pösna-Park primär in der Verlagerung des Nord-Süd-Verkehrs auf die S 38a/K 7925. Seine Befürchtung, die bisherige Laufkundschaft werde "weiträumig" am Pösna-Park vorbeigeleitet, liegt freilich eher fern. Die S 38a stellt zusammen mit der K 7925 eine relativ gradlinige Verbindung zwischen Leipzig und der B 95 bei Espenhain her. Sie dürfte keinen Kraftfahrzeugverkehr binden, der bislang auf der S 38 am Pösna-Park vorbeiführt. Kraftfahrer aus Leipzig, die den Raum Grimma ansteuern wollen, werden weiterhin den direkten Weg über die S 38 und nicht den Umweg über die S 38a und diverse Kreisstraßen wählen; Kraftfahrer aus Leipzig mit dem Fahrziel Espenhain/B 95 (und umgekehrt) werden, wenn sie nicht ohnehin die gut ausgebaute B 2 nutzen, sich schon jetzt für Straßenverbindungen abseits des Pösna Parks entscheiden, nämlich entweder für die Route K 6523/K 7923/K 7925 oder für die Strecke K 6525/K 7925. Im Übrigen würde die von den Antragstellerinnen gewünschte Verschiebung der Anschlussstelle in östliche Richtung nicht verhindern können, dass Kraftfahrer zwischen Leipzig und Espenhain/B 95 die S 38 meiden; denn auch das Konzept des Architekten und Stadtplaners T. sieht eine Verknüpfung der S 38a mit der K 7925 südlich der Wiesengrundsiedlung vor.[15] Nach Angaben der Antragstellerinnen handelt es sich bei den Kunden, die dem Zielverkehr und dem gebrochenen Durchgangsverkehr zuzurechnen sind, um Stammkunden. Ihren Anteil am gesamten Kundenaufkommen beziffern die Antragstellerinnen mit 97 v. H. Das bedeutet, dass nur ein geringer Prozentsatz der Kundschaft aus "Zufallskunden" besteht. Soweit es sich dabei nicht um Personen handelt, die ohnehin die S 38 als Fahrtweg wählen, werden diese Kunden im Wesentlichen Durchreisende sein, die auf dem Weg von oder zur Anschlussstelle Naunhof der A 14 das Gelände des Pösna Parks passieren. Mit diesem Kundenkreis wird der Pösna Park zukünftig nicht mehr rechnen können. Das dürfte aber mehr an der Existenz der A 38 und weniger am Standort der Anschlussstelle liegen. Deren von den Antragstellerinnen favorisierte Lage mag allenfalls Kraftfahrer ansprechen, die, von der A 14 kommend, im Vorbeifahren auf den Pösna Park aufmerksam werden, und ihre Entscheidung für einen Besuch von der Entfernung der nächsten Abfahrt abhängig machen. Ihre Anzahl wird gering sein.[16] Vorbehaltlich anderweitiger Erkenntnisse im Verfahren zur Hauptsache geht der Senat mit der Planfeststellungsbehörde davon aus, dass die Verortung der Anschlussstelle A 38/S 38a keinen wesentlichen Einfluss auf die für den wirtschaftlichen Erfolg des Pösna Parks maßgeblichen Verkehrsströme hat und die im Planfeststellungsbeschluss als wahr unterstellten Umsatzeinbußen keine Existenz gefährdenden Ausmaße annehmen. Der Verzicht auf die Verschiebung der Anschlussstelle zur Verringerung der Verluste in einer realistischen Größenordnung begründet keinen Abwägungsfehler. Im Planfeststellungsbeschluss sind die Gesichtspunkte, die für und gegen die in das Verwaltungsverfahren eingebrachte Alternativplanung der Antragstellerinnen sprechen, mit vertretbarem Ergebnis gewichtet und gegeneinander abgewogen worden (S. 295 f.). Mit der erst im Eilverfahren vorgestellten weiteren Planungsvariante lässt sich die Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses nicht in Frage stellen.[17] Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO und die Streitwertentscheidung auf § 13 Abs. 1 Satz 1, § 20 Abs. 3 GKG.
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